12
1 IRR-Spektren von Gläsern - Interpretation und Modellierung unter Berücksichtigung der Ordnung mittlerer Reichweite Thomas Mayerhöfer, Institut für Physikalische Chemie, Friedrich-Schiller- Universität Jena 12. September 2002 Zusammenfassung: Basierend auf der Ähnlichkeit von Glasspektren und Spektren polykristalliner Materialien gleicher Zusammensetzung sowie einer neuen Theorie hinsichtlich der optischen Eigenschaf- ten letzterer wird ein neuer Ansatz zur Modellierung der optischen Eigenschaften von Gläsern im infraroten Spektralbereich vorgestellt. Von besonderer Bedeutung ist hierbei das Vorhan- densein von geordneten Bereichen im polykristallinen Material (Kristallite) wie auch im Glas (medium range order). 1. Quantitative Spektreninterpretation – Konventionelle Methode Obwohl die Infrarot-Reflexionsspektroskopie (IRRS) seit über fünfzig Jahren zur Strukturbe- stimmung von Gläsern angewendet wird, ist die Basis der optischen Eigenschaften der Gläser im infraroten Spektralbereich bislang nur unzureichend verstanden. Als Konsequenz ist eine zufrieden stellende quantitative Spektreninterpretation bislang nicht möglich. Im Folgenden wird eine kurze Einführung in die notwendigen Grundlagen der konventionel- len quantitativen Spektrenauswertung optisch isotroper Materialien gegeben. Ist das interessierende Medium mit einer (skalaren) dielektrischen Funktion charakterisierbar, ergibt sich folgender Zusammenhang zwischen dielektrischer Funktion und der Reflexion [1]: ( ) ( ) ( ) ( ) ( ) ( ) ( ) ( ) ( ) 1 2 1 2 1 2 1 2 1 1 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 cos sin cos sin cos sin cos sin s p s p R R R n R n n n R n n n = + = + = + = α α α α α α α α α α α α α ε (1)

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1

IRR-Spektren von Gläsern - Interpretation und Modellierung unter

Berücksichtigung der Ordnung mittlerer Reichweite

Thomas Mayerhöfer, Institut für Physikalische Chemie, Friedrich-Schiller-

Universität Jena

12. September 2002

Zusammenfassung: Basierend auf der Ähnlichkeit von Glasspektren und Spektren polykristalliner Materialien gleicher Zusammensetzung sowie einer neuen Theorie hinsichtlich der optischen Eigenschaf-ten letzterer wird ein neuer Ansatz zur Modellierung der optischen Eigenschaften von Gläsern im infraroten Spektralbereich vorgestellt. Von besonderer Bedeutung ist hierbei das Vorhan-densein von geordneten Bereichen im polykristallinen Material (Kristallite) wie auch im Glas (medium range order).

1. Quantitative Spektreninterpretation – Konventionelle Methode Obwohl die Infrarot-Reflexionsspektroskopie (IRRS) seit über fünfzig Jahren zur Strukturbe-stimmung von Gläsern angewendet wird, ist die Basis der optischen Eigenschaften der Gläser im infraroten Spektralbereich bislang nur unzureichend verstanden. Als Konsequenz ist eine zufrieden stellende quantitative Spektreninterpretation bislang nicht möglich. Im Folgenden wird eine kurze Einführung in die notwendigen Grundlagen der konventionel-len quantitativen Spektrenauswertung optisch isotroper Materialien gegeben. Ist das interessierende Medium mit einer (skalaren) dielektrischen Funktion charakterisierbar, ergibt sich folgender Zusammenhang zwischen dielektrischer Funktion und der Reflexion [1]:

( ) ( ) ( )

( ) ( )( )

( ) ( )( )

12

12

12

12

1 12 2

22 2

2 2

22 2 2

2 2 2

2

cos sin

cos sin

cos sin

cos sin

s p

s

p

R R R

nR

n

n nR

n n

n

= +

− −=

+ −

− −=

+ −

=

α α α

α αα

α α

α αα

α α

ε

(1)

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2

Dabei ist R(α) die Reflexion in Abhängigkeit vom Einfallswinkel α und n (= n + i k) der komplexe Brechungsindex des interessierenden Mediums. Der Wert des Brechungsindexes

des Einfallsmediums wurde wellenzahlenunabhängig mit 1 gleichgesetzt ( Vakuum). Für den Fall, dass das interessierende Medium ein Einkristall oder ein polykristallines Materi-al mit kubischer Kristallstruktur ist, lässt sich die Wellenzahlenabhängigkeit der dielektri-schen Funktion gemäß Lorentz mit folgender Gleichung charakterisieren [2]:

( )2

i2 2

i 1 i i

N Si

ε ε ∞=

ν = +ν − ν − ν γ∑ (2)

Hierbei ist Si die Oszillatorstärke des i-ten Oszillators, iν seine Wellenzahl und iγ die Dämp-

fung. ε ∞ gleicht dem Quadrat des Brechungsindex im Sichtbaren.

Da in der Literatur im Allgemeinen optische Isotropie und kubische Symmetrie gleichgesetzt werden, d. h. es wird nicht zwischen lokaler und globaler Symmetrie unterschieden, wird obi-ger Formalismus (Gleichung (1)) unverändert auf Gläser angewandt. Weil aber die breiten Reststrahlbanden von Gläsern mit dem Lorentz-Modell nicht optimal modelliert werden kön-nen, werden für Gläser oftmals modifizierte Modelle eingesetzt. Neben dem semi-empirischen 4-Parameter Produktansatz nach Berreman und Unterwald wird vor allem das folgende, erweiterte Oszillatormodell verwendet [2]:

( )( )( )2

2 i ii2 2

i 1 ii

exp 2d

N xS xx i

σε ε

πσ

+∞

∞= −∞

− − νν = +

− ν − ν γ2∑ ∫ (3)

Die Standardabweichung iσ tritt hier als zusätzlicher Parameter auf. Sie soll der Varianz der

Bindungswinkel und Bindungslängen in Gläsern Rechnung tragen, aus der sich eine Varianz der Oszillatorposition ergibt. Bei obigem Oszillatormodell wird eine Gaußsche Normalvertei-lung hinsichtlich dieser Oszillatorpositionen angenommen. Im Gegensatz zum Lorentz-Modell wird also im Fall des erweiterten Modells eine Verbreiterung der Banden nicht nur durch die Vergrößerung des Wertes der Dämpfung γ, sondern auch durch eine Vergrößerung

der Standardabweichung σ erreicht, wie in Abb. 1 ver-anschaulicht.

Abb. 1: Varianz der Refle-xion unter Annahme eines Modelloszillators (S = 500 cm-1, γ = 10 cm-1, iν =

1000 cm-1) für verschiedene Vielfache von γ bzw. für verschiedene Werte von σ.

850 1000 11500.0

0.2

0.4

0.6

0.8

850 1000 1150

Lorentz-Modell

Ref

lexi

on (2

0°, s

)

Wellenzahl (cm-1)

Lorentz-Modell σ = 5 σ = 10 σ = 20 σ = 30

Erweitertes Modell

Lorentz-Modell γ*2 γ*3 γ*4 γ*5

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3

Abb. 2: Gemessene und

berechnete (bester theoreti-

scher Fit) Reflexion von

Fresnoit-Glas. Dispersi-

onsanalyse nach dem Lo-

rentz-Modell (unterer Teil)

bzw. nach dem erweiterten

Oszillatormodell. Die er-

haltenen Oszillatorwellen-

zahlen iν sind durch verti-

kale, gestrichelte Linien

veranschaulicht.

Wie aus Abb. 2 ersichtlich ist, erlaubt das erweiterte Oszillatormodell eine deutliche bessere

Anpassung an der Flanke der Reststrahlbanden zu höheren Wellenzahlen (um 1100 cm-1).

Insgesamt ist die Modellierung allerdings nicht wesentlich besser. Erhebliche Unterschiede

ergeben sich hingegen bezüglich der ermittelten Oszillatorpositionen: Wie aus Abb. 1 ersicht-

lich ist, führen höhere Werte der Standardabweichung zu einer Verschiebung des Maximums

der Reflexionsbande zu höheren Wellenzahlen. Dies wiederum ist die Ursache für die teilwei-

se erheblich verminderten Oszillatorwellenzahlen bei einer Modellierung mit Hilfe des erwei-

terten Oszillatormodells. Insgesamt ergeben sich drei wichtige Kritikpunkte am erweiterten

Oszillatormodell in Verbindung mit der Gleichung 2 =n ε :

1. Die Lage der Reflexionsbanden ist stark abhängig von σ.

2. Es existiert eine große Mannigfaltigkeit adäquater Modellierungen mit teilweise stark

unterschiedlichen Oszillatorparametern, da eine Erhöhung sowohl der Dämpfung als

auch der Standardabweichung zu einer „Verbreiterung“ der Reflexionsbande führen

kann.

3. Die Werte für σ, die zu einer wahrnehmbaren Veränderung (Intensitätsabnah-

me/Verbreiterung) führen sind physikalisch unrealistisch. Beispielsweise bedeutet σ =

35 cm-1 (ein Standardwert für σ in Gläsern [2]), dass sich 99.6% aller Oszillatorpositi-

onen in einem Intervall der Breite 6 σ (± 3 σ um den Μittelwert iν ), also 210 cm-1,

befinden. Eine solch starke Varianz der Oszillatorpositionen ist allerdings gemäß den

Varianzen der Bindungslängen und Bindungswinkel in Gläsern nicht wahrscheinlich,

insbesondere für Valenzschwingungen.

0.00

0.15

0.30

0.45

100 300 500 700 900 1100 13000.00

0.15

0.30

Glas Fit

(Erweiterung)

Glas Fit

(Lorentz)

Ref

lexi

on (2

0°, s

)

Wellenzahl (cm-1)

Fresnoit-Glas (Ba2TiSi2O8)

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500≈d nm

Daher ist das erweiterte Modell in seiner gegenwärtigen Verwendung trotz plausibler Ba-

sis nicht realistisch. Eine quantitative Interpretation von Glasspektren ist mit diesem Mo-

dell daher mehrdeutig.

2. Qualitative Spektreninterpretation – Vergleich mit Spektren polykri-

stalliner Proben

Spektren von Gläsern mit der Zusammensetzung einer existenten kristallinen Verbindung

weisen oft eine große Ähnlichkeit zu den Spektren des entsprechenden polykristallinen

Materials bzgl. der Bandenpositionen und der relativen Intensitäten der Banden auf. Al-

lerdings sind die Intensitäten zugunsten der relativen Bandenbreite im Vergleich zu den

Spektren der polykristallinen Spezies vermindert.

Dies wird dahingehend interpretiert, dass Glas und polykristalline Probe gleiche Struktur-

elemente enthalten. Ähneln sich die Bandenpositionen und relativen Intensitäten nicht

sonderlich, lässt sich daraus aber nicht automatisch das Gegenteil ableiten.

Ursächlich ist ein bislang praktisch unbekannter Kristallit-Größeneffekt, der nur bei ani-

sotroper Kristallstruktur auftritt. Dieser wird in Abb. 3 an Hand von polykristallinem

Fresnoit veranschaulicht.

Abb. 3: Gemessene Spektren von

polykristallinem Fresnoit mit

optisch kleinen (d < λ/10) und

optisch großen Kristalliten (d >

λ/10) im Vergleich mit dem

Glasspektrum.

5≈d mµ

100 300 500 700 900 1100 13000.0

0.2

0.4

0.6 Glas polykristalline Probe (⟨d⟩ ≈ 500 nm) polykristalline Probe (⟨d⟩ ≈ 5 µm)

Ref

lexi

on (2

0°, s

)

Wellenzahl (cm-1)

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Woraus resultiert dieser Größeneffekt und welches Spektrum ist mit dem Spektrum des Gla-

ses zu vergleichen? Da das Verständnis der optischen Eigenschaften der polykristallinen Pro-

ben möglicherweise einen Weg zum Verständnis der Spektren von Gläsern ebnet, wird im

folgenden Abschnitt ausführlich auf diese eingegangen.

3. Modellierung der Spektren polykristalliner Proben aus Einkristalldaten

Eine sinnvolle Interpretation der Spektren polykristalliner Materialien („inverses“ Problem)

setzt die Lösung des wesentlich einfacheren, aber bislang ungelösten „direkten“ Problems

voraus. Dieses besteht darin bei Kenntnis der Einkristalldaten mit deren Hilfe die Spektren

polykristalliner Proben vorauszuberechnen. Eine mögliche Lösung des direkten Problems soll

im Folgenden am Beispiel des Fresnoits aufgezeigt werden.

Fresnoit gehört zur Raumgruppe P4bm und ist damit optisch einachsig. Daraus folgt, dass der

dielektrische Tensor des Fresnoits zwei prinzipielle dielektrische Funktionen aε und cε bein-

haltet ( a bε ε= ). Beide prinzipiellen dielektrischen Funktionen lassen sich in Form der Glei-

chung (2) darstellen, bzw. mit Hilfe einer Dispersionsanalyse gemäß Gleichung (2) aus Refle-

xionsspektren modellieren. Dazu ist es vorteilhaft, senkrecht polarisiertes Licht zu benützen

und die Probe so auszurichten, dass der Polarisationsvektor einmal parallel zur kristal-

lographischen a-Achse (E ll a) und einmal parallel zur c-Achse (E ll c) ausgerichtet ist. Abb. 4

zeigt die so gemessenen Spektren des Einkristalls zusammen mit den berechneten Spektren

(bester theoretischer Fit gemäß Gleichung (2)).

Abb. 4: Gemesse-

ne und berechnete

(bester theoreti-

scher Fit) Spekt-

ren des Fresnoit-

Einkristalls.

100 300 500 700 900 1100 13000.0

0.2

0.4

0.6

0.8

1.0

FitE ll cE ll a

Ref

lexi

on (2

0°, s

)

Wellenzahl (cm-1)

aa

εa

εc

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Bemerkenswert ist die starke optische Anisotropie des Fresnoits, abgesehen von den spektra-len Regionen um 860 und oberhalb von 1200 cm-1. Dies macht Fresnoit zu einem idealen Kandidaten zum Studium des optischen Kristallitgrößeneffekts. Dieser dürfte gemäß den Lehrbüchern der Optik (z. B. Referenz [1]) nicht existieren. Denn für den Fall, dass keine (Vorzugs-)Orientierung vorliegt, soll eine (direkte) Reduktion des die-lektrischen Tensors zum Skalar erfolgen:

0 0

0 00 0

apolykristallin

b

c

εε ε

ε

(4)

Grundsätzlich nicht erwähnt in den Lehrbüchern ist jedoch, wie diese Reduktion vonstatten geht. Im Prinzip existierten dafür bislang zwei Theorien. Die erste Theorie, die so genannte Effektiv-Medien-Approximation (EMA), kommt aus der Elektrostatik und wird in der Haupt-sache bei anorganischen Materialien angewendet:

1 1 13 3 3 0

2 2 2a b c

a b c

ε ε ε ε ε εε ε ε ε ε ε

− − −+ + =

+ + + (5)

Die zweite Theorie mittelt über die Quadrate der Übergangsmomente. Als Resultat ergibt sich, dass der Absorptionsindex k proportional dem arithmetischen Mittel der Quadrate der drei prinzipiellen Übergangsmomente Ma, Mb und Mc ist:

2 2 21 1 13 3 3a b cM M M∝ + +k (6)

Diese Theorie wird hauptsächlich für organische Materialien wie z. B. verstreckte Polymere benutzt. Erweitert man diese Theorie unter Berücksichtigung von n = n + i k so ergibt sich Gleichung (7):

1 1 13 3 3a b cn n n n= + + (7)

Gleichung (7) steht im Widerspruch zum EMA-Ansatz, da hier über die prinzipiellen Bre-chungsindices und nicht über deren Quadrate, den prinzipiellen dielektrischen Funktionen gemittelt wird. Von beiden Theorien kann der Kristallitgrößeneffekt nicht erfasst werden, da sie entweder nur für Kristallitgrößen deutlich kleiner als die Wellenlänge gültig sind (EMA) oder aber kein Größenparameter enthalten ist (statistische Theorie gemäß den Gleichungen (6) und (7)). Der Größeneffekt wurde zuerst an Hand der Spektren der damals neuartigen Hochtemperatur-supraleiter bemerkt, welche für ihre starke optische Anisotropie bekannt sind. Da anfangs keine Einkristalle zur Verfügung standen, konnten nur polykristalline Proben spektroskopiert werden. Je nach Kristallitgröße (und Kristallitgrößenverteilung) unterschieden sich die Spekt-ren deutlich. Zur Erklärung dieses Effekts und zur Modellierung der Spektren wurden verschiedene Theo-rien aufgestellt, die sich aber insofern glichen, als man für die Spektren der Proben mit klei-nen Kristalliten die EMA zur Modellierung benützte, wohingegen für die Spektren der Proben

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mit großen Kristalliten in mehr oder weniger geeigneter Weise über die Reflektivitäten in Abhängigkeit der Kristallitorientierung gemittelt wurde. Diese Theorien wurden nicht mehr verfeinert nachdem Einkristalle verfügbar waren und sind weitgehend unbekannt. Die Verwendung beider Theorien nebeneinander führt zu Inhomogenität und Inkonsequenz:

1. Für große Kristallite wird die Reflexion und damit letztlich Welleneigenschaften ge-mittelt, wohingegen bei kleinen Kristalliten die Mittelung über eine Materialeigen-schaft, nämlich dem dielektrische Tensor, vorgenommen wird.

2. Im Fall großer Kristallite wird über alle Orientierungen gemittelt, während für kleine Kristallite nur prinzipielle Orientierungen berücksichtigt werden.

3. Die elektrostatischen Wechselwirkungen, die die EMA unterstellt, werden durch die Mittelung über die Reflexion nicht berücksichtigt.

4. Die EMA ist eine elektrostatische Theorie. Ihr Gültigkeitsbereich bezüglich der Kristallitgröße basiert auf Empirie.

Diese Kritikpunkte werden in der im Folgenden vorgestellten Theorie berücksichtigt. Diese geht von einer Mittelung über optische Größen, nämlich Reflexion / Transmission bzw. Bre-chungsindex für große bzw. kleine Kristallite aus. Ursache für den Größeneffekt ist hier, dass für Kristallite, die kleiner als das theoretische Auflösungsvermögen des Lichts sind, die Ani-sotropie nicht mehr aufgelöst wird und deshalb ein gemittelter Brechungsindex resultiert, wo-hingegen bei großen Kristalliten die Anisotropie sehr wohl zum Ausdruck kommt und durch

die Mittelung über die Reflexion und die Transmission mit ein-bezogen werden muss. Darüber hinaus wird sowohl für große als auch für kleine Kristallite über alle Kristallitorientierungen Ω gemittelt, um auch gemischte TO-LO-Moden zu berücksichtigen. Die folgenden Modellvorstellungen gehen in die Theorie ein: Über die Probe wird ein Gitternetz gelegt mit einer Gitterkon-

stante c = λ/10. Die mittlere Reflexion R ergibt sich dann durch eine Mittelung über alle

Einzelreflektivitäten Rj der einzelnen Quadrate ge-mäß Gleichung (8).

jj

R N R= ∑ (8)

Hier und im Folgenden ist N jeweils ein Normierungsfaktor. Es lassen sich prinzipiell vier verschiedene Grenzfäl-le unterscheiden:

jR

z

yx

c = λ10

d)

a) b)

c)

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a) Die Kristallitdimension bzw. die Größe des orientierten Bereiches d ist deutlich kleiner als die Gitterkonstante. In diesem Fall liegt eine kontinuierliche Verteilung von Kristallitorientie-

rungen Ω innerhalb von c2 vor. Folglich wird über den Brechungsindex gemittelt (average refractive index theory, ARIT) und die Einzelreflektivitäten Rj entsprechen der mittleren Re-

flexion R gemäß:

( ) ( )(3)

1 2(3)

2 2 jj

n nn N d R R

Ω

Ω Ω = + Ω ⇒ =

∫ (9)

Pro Orientierung ergeben sich zwei Brechungsindizes über die zusätzlich zu mitteln ist.

b) d ist nur wenig kleiner als c, so dass eine diskrete Anzahl von Orientierungen Ω innerhalb c2 zu berücksichtigen ist. Damit ergibt sich:

( ) ( )1 2 2

ki i

ji

n nn N

=

Ω Ω = +

∑ 1 2 (10)

In der Praxis zeigt sich, dass sich die so berechneten Spektren nur wenig von den nach a) be-rechneten unterscheiden und für den Fall, dass k > 5 praktisch kein Unterschied mehr erkenn-bar ist.

c) d ist größer als c. Damit ergibt sich eine kontinuierliche Verteilung der Kristallitorientie-

rungen Ω bezüglich der gesamten Probe. Daraus folgt für die mittlere Reflexion R :

( ) ( )(3)

(3)

2 2ps RR

R N dΩ

Ω Ω= + Ω

∫ (11)

d) Alle Kristallite oder geordneten Bereiche sind gleich ausgerichtet. Unabhängig von der Größe der Kristallite entspricht das Spektrum dem des Einkristalls mit gleicher Orientierung.

( );j j jR R R R= = Ω (12)

Abb. 5: Gemessene und be-

rechnete Spektren für poly-

kristallinen Fresnoit mit

optisch großen Kristalliten

(d > λ/10). 100 300 500 700 900 1100 1300

0.00

0.15

0.30

0.45

0.60

0.00

0.15

0.30

0.45

0.60

0.75

p-polarisierts-polarisiert

gemessen berechnet

Ref

lexi

on (2

0°)

Wellenzahl (cm-1)

gemessen berechnet

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Die Fresnoit-Probe mit einem durchschnittlichen Kristallitdurchmesser von 5 µm entspricht

von höheren Wellenzahlen her kommend bis etwa 200 cm-1 dem Fall c). Der Vergleich zwi-

schen berechneten und gemessenen Spektren findet sich in Abb. 5. Offensichtlich stimmen

Bandenform und Lage ebenso wie die relativen Intensitäten der einzelnen Banden gut überein.

Die gemessene Reflexion ist insgesamt geringer als die berechnete aufgrund der Oberflächen-

rauhigkeit der Probe. Für die Mittelung wurden insgesamt 912 verschiedene Orientierungen

berücksichtigt. Eine besondere Eigenschaft dieser Proben ist, dass sie basierend auf Gleichung

(11) eine nicht verschwindende Kreuzpolarisation aufweisen sollten, trotz ihrer optischen Iso-

tropie [4]. Der Nachweis derselben ist experimentell erbracht.

Für die Probe mit optisch kleinen Kristalliten hat die Berechnung gemäß Gleichung (9) zu

erfolgen (Fall a)). Das entsprechend berechnete Spektrum wird mit dem gemessenen Spekt-

rum in Abb. 6 verglichen.

Abb. 6: Gemessenes und berechnetes

Spektrum für polykristallinen Fresnoit

mit optisch kleinen Kristalliten (d <

λ/10).

Die Übereinstimmung zwischen gemessenen und berechneten Spektrum ist ausgezeichnet.

Die Abweichung oberhalb 1000 cm-1 liegt wahrscheinlich darin begründet, dass die Probe in

diesem Bereich dem Fall b) zuzuordnen ist. Alle weiteren Abweichungen sind darauf zurück-

zuführen, dass die Dämpfungskonstanten mit kleiner werdenden Kristallitdurchmessern grö-

ßer werden. Eine besondere Leistung der oben präsentierten Theorie ist, dass sich hier alle

Dämpfungskonstanten des Einkristalls im Gegensatz zur EMA mit einem gemeinsamen Fak-

tor f zu den Dämpfungskonstanten des polykristallinen Materials in Relation setzen lassen,

wie aus Abb. 7 ersichtlich. Dies ist von Bedeutung für die Modellierung von Glasspektren.

100 300 500 700 900 1100 13000.0

0.1

0.2

0.3

0.4

0.5

0.6 gemessen berechnet

Ref

lexi

on (2

0°, s

)

Wellenzahl (cm-1)

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Abb. 7: Vergleich der

Imaginärteile der di-

elektrischen Funktionen

der polykristallinen Pro-

be mit kleinen Kristalli-

ten berechnet aus dem

gemessenen Spektrum

mittels Dispersionsana-

lyse (DA) und berechnet

aus Einkristalldaten mit

EMA und ARIT.

Als Konsequenz für die Interpretation der Spektren polykristalliner Materialien ergibt sich, dass die Proben, welche aus großen Kristalliten bestehen, nicht mit einer gemittelten dielektri-schen Funktion charakterisiert werden können. Damit verbietet sich die Anwendung der Kra-mers-Kronig-Relation und auch eine herkömmliche Dispersionsanalyse (via Lorentz-Modell und ε = n2) ist nicht sinnvoll. Im Gegensatz dazu lassen sich für Proben, die aus optisch kleinen Kristalliten bestehen, ein gemittelter Brechungsindex und damit indirekt eine gemittelte dielektrische Funktion ange-ben. Jedoch folgen aus der herkömmlichen Dispersionsanalyse fehlerhafte Oszillatorparame-

ter, da die gemittelte dielektrische Funktion ε nicht mit dem Lorentz-Modell beschreibbar

ist. Insbesondere werden bei beiden Typen von polykristallinen Proben auch gemischte TO-LO-Moden angeregt (unmöglich bei kubischer Kristallsymmetrie). Damit existieren neben der optischen Isotropie, die sich aus der kubischen Kristallsymmetrie ergibt, zwei weitere „Ty-pen“ optischer Isotropie mit stark abweichenden Eigenschaften, da für die optischen Eigen-schaften die Symmetrie sowohl der geordneten Bereiche als auch die der Probe als Ganzes ausschlaggebend ist.

4. Der Übergang vom polykristallinen Material zum Glas Ausgehend von der Ähnlichkeit der Spektren polykristalliner und glasiger Materialien, dürfte entscheidend für die optischen Eigenschaften von Gläsern die Existenz einer Ordnung mittle-rer Reichweite (MRO) sein, welche im Allgemeinen sicherlich keine kubische Symmetrie

0

10

20

30

40

0

10

20

30

100 300 500 700 900 1100 13000

10

20

30

ε2,DA

ε2,EMA

ε2,DA

ε2,ARIT

ε 2

ε2,DA

ε2,ARIT(γ∗1.3)

Wellenzahl (cm-1)

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aufweist. Diese Ähnlichkeit legt nahe, die optischen Eigenschaften von Gläsern und polykri-stallinen Materialien mit kleinen Kristalliten analog zu modellieren. Daraus ergibt sich, dass die optischen Eigenschaften eines Glases nicht direkt mit der Disper-sionsrelation aus Kap. 1 beschreibbar sind, sondern nur in Verbindung mit der Mittelung ge-mäß Gleichung (9). Das Problem besteht nun darin die Verbreiterung der Banden im Glas zu deuten. Einen An-satz hierzu bietet die Beobachtung, dass sich die Dämpfungskonstanten der Oszillatoren in polykristallinen Materialien und Einkristall nur um einen gemeinsamen Faktor unterscheiden. Der größere Faktor für das polykristalline Material kann damit erklärt werden, dass die Dämpfung umgekehrt proportional zur Phononlebensdauer und damit zur Größe des geordne-ten Bereichs ist. Weitere Einflüsse durch Variation der Bindungslänge und Bindungswinkel können durch das erweiterte Oszillatormodell beschrieben werden, dass in diesem Fall die prinzipiellen dielektrischen Funktionen der MROs beschreibt. Allerdings sind die Symmetrien der MROs und ihre prinzipiellen dielektrischen Funktionen

nicht von vornherein bekannt. Deshalb müssen für konkrete Rechnungen die Symmetrie und

die prinzipiellen dielektrischen Funktionen eines entsprechenden Einkristalls benutzt werden,

eventuell unter Einbeziehung des erweiterten Oszillatormodells. Eine Variation des gemein-

samen Faktors f und der Standardabweichung σ ermöglicht es dann ein hypothetisches Spekt-

rums des assoziierten Glases zu modellieren. Am Beispiel des Modell-Oszillators aus Abb. 1

soll zuerst einmal die Variation der Spektren mit den Parametern f und σ sichtbar gemacht

werden unter Annahme einer optisch einachsigen MRO. Zu beachten ist hier, dass die Entar-

tung des Oszillators aufgehoben wird und er nun entweder εa oder εc zuzurechnen ist.

Abb. 8: Varianz der Refle-

xion unter Annahme eines

Modelloszillators (S = 500

cm-1, γ = 10 cm-1, iν =

1000 cm-1) und optischer

Einachsigkeit der MRO für

verschiedene Vielfache von

γ bzw. für verschiedene

Werte von σ.

850 1000 11500.0

0.1

0.2

0.3

0.4

0.5

0.6

0.7

0.8

850 1000 1150

εc εa

kubisch

Lorentz-Modell σ = 5 σ = 10 σ = 20 σ = 30

Ref

lexi

on (2

0°, s

)

Wellenzahl (cm-1)

εc εa

kubisch

Lorentz-Modell γ*2 γ*3 γ*4 γ*5

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Durch die Mittelung gemäß Gleichung (9) sind die Banden von Anfang in der Intensität ver-mindert und verbreitert. Die Standardabweichung σ hat hier relativ gesehen wenig Einfluss auf die Bandenlage. Für kleine σ und f besitzen die Banden ein scharfes Maximum nahe der TO-Wellenzahl, wohingegen sich für große σ und f die Bandenform derjenigen für einen Os-zillator in kubischer Symmetrie wieder annähert.

Abb. 9: Gemessenes Spekt-rum und modellierte Spekt-ren des Fresnoit-Glases.

Auf Basis der Einkristalldaten modellierte Glasspektren und das gemessene Glas-Spektrum des Fresnoits werden in Abb. 9 verglichen. Die Ähnlichkeit ist relativ groß, obwohl nur eine Symmetrie (nur eine MRO) zugrunde gelegt wurde. Es ist allerdings zu bedenken, dass nur 60% des Ti4+ im Fresnoit-Glas fünffach koordiniert ist. Deshalb kann Fresnoit nicht als idea-les Modellsystem angesehen werden.

5. Ausblick Aufgrund der vielen frei variierbaren Parameter erscheint eine quantitative Auswertung von Glas-Spektren jetzt und für die Zukunft wenig sinnvoll. Eventuell werden quantitative Struk-turaussagen durch die Einbeziehung der MRO mittels der Überlagerung der optischen Eigen-schaften geeigneter Modellkristalle (z.B. Tridymit, Quarz, Coesit für Kieselglas) möglich werden. Diese Methode könnte auch für Gläser anwendbar sein, deren Stöchiometrien nicht der eines Kristalls entsprechen. [1] Born M und Wolf E, 1999, Principles of Optics (Oxford: Pergamon). [2] Efimov A. M., 1995, Optical Constants of Inorganic Glasses (New York: CRC Press, Inc.). [3] G.L. Doll, J. Steinbeck, G. Dresselhaus, M.S. Dresselhaus, 1987, Phys. Rev. B 36,

8884. [4] Thomas G. Mayerhöfer, 2002, J. Opt. A: Pure Appl. Opt. 4, 540. [5] Thomas G. Mayerhöfer, 2002, Appl. Spectrosc. 56.

100 300 500 700 900 1100 13000.00

0.15

0.30

0.45 gemessen berechnet (f = 7) berechnet (σs,M= 10 cm-1σb= 30 cm-1, σs,A= 15 cm-1, f = 4)

Ref

lexi

on (2

0°, s

)

Wellenzahl (cm-1)