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Harrassowitz Verlag BALKANOLOGISCHE VERÖFFENTLICHUNGEN 64 Islam in Europa Transformation, religiöse Erneuerung und innere Diversifizierung am Beispiel Bulgariens Jordanka Telbizova-Sack

Islam in Europa Transformation, religi¶se Erneuerung und innere Diversifizierung am Beispiel

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Page 1: Islam in Europa Transformation, religi¶se Erneuerung und innere Diversifizierung am Beispiel

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BALKANOLOGISCHE VERÖFFENTLICHUNGEN 64

Europa erlebt ein intensives Interesse an Religion. Islam-Debatten sorgen für Kon-troversen und spalten große Teile der Öffentlichkeit. Während sich die internationale Forschung intensiv mit muslimischen Einwanderern nach Westeuropa beschäftigt, wird häufig übersehen, dass der Islam in Südosteuropa seit Jahrhunderten Teil der europäischen Geschichte ist.In ihrer Studie analysiert Jordanka Telbizova-Sack das Verhältnis von Tradition und Innovation im bulgarischen Islam. Sie bietet empirische Einblicke in das religiöse Leben der ethnisch und sprachlich heterogenen Muslime und erörtert das Vorkom-men islamischer Reformdiskurse. Untersucht wird zum einen die Neuausrichtung islamischer Institutionen, zum anderen stehen Prozesse interner Diversifizierung, transnationaler An- und Einbindung des bulgarischen Islam sowie das komplexe Verhältnis zwischen Staat und muslimischen Bevölkerungsgruppen im Mittelpunkt der Untersuchung. Besondere Aufmerksamkeit wird dem religiösen Feld gewidmet, das aufgrund seiner zahlreichen Akteure und durch den Generationenwechsel an Dy-namik gewinnt. Welche Akteure und Gruppen sind am Prozess der Neuausrichtung islamischer Traditionen beteiligt? Wo liegen die Unterschiede zu den muslimischen Gemeinschaften in Westeuropa, wo die Gemeinsamkeiten? Welchen Beitrag kön-nen die Balkanmuslime zum Entstehen eines europäischen Islam leisten? Es zeigt sich, dass Modernisierung hier ebenso wenig als Säkularisierung beschrieben werden kann, wie die aktuelle Rolle von Traditionen oder deren Wiederaufnahme nur als fundamentalistische Revitalisierung zu verstehen sind.

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Islam in EuropaTransformation, religiöse Erneuerung

und innere Diversifizierung am Beispiel Bulgariens

Jordanka Telbizova-Sack

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Jordanka Telbizova-SackIslam in Europa

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Page 3: Islam in Europa Transformation, religi¶se Erneuerung und innere Diversifizierung am Beispiel

Balkanologische VeröffentlichungenGeschichte, Gesellschaft und Kultur

in Südosteuropa

Herausgegeben vonHannes Grandits und Wolfgang Höpken

Band 64

2017

Harrassowitz Verlag · Wiesbaden

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2017

Harrassowitz Verlag · Wiesbaden

Jordanka Telbizova-Sack

Islam in EuropaTransformation, religiöse Erneuerung

und innere Diversifizierungam Beispiel Bulgariens

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Page 5: Islam in Europa Transformation, religi¶se Erneuerung und innere Diversifizierung am Beispiel

Die Reihe Balkanologische Veröffentlichungen. Geschichte, Gesellschaft und Kultur in Südosteuropa setzt dieSerie Balkanologische Veröffentlichungen. Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin fort.

Umschlagabbildungen: li.: „Muslimische Frau, Rudozem“, re.: „Die Moschee von Čepelare“.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.dnb.de abrufbar.

Bibliographic information published by the Deutsche NationalbibliothekThe Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the DeutscheNationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internetat http://dnb.dnb.de .

Informationen zum Verlagsprogramm finden Sie unterhttp://www.harrassowitz-verlag.de

© Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2017Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesonderefür Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen undfür die Einspeicherung in elektronische Systeme.Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.Druck und Verarbeitung: Memminger MedienCentrum AGPrinted in GermanyISSN 0170-1533ISBN 978-3-447-10922-2e-ISBN 978-3-447-19678-9

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Inhalt

Verzeichnis der Abbildungen, Grafiken und Tabellen ......................................... VII

Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................ IX

Hinweis zur Transliteration .................................................................................. XI

Danksagung .......................................................................................................... XIII

I. Einleitung .......................................................................................................... 11. Transformation und religiöse Erneuerung nach 1989 ................................. 12. Quellen und Methoden................................................................................ 83. Theoretischer Rahmen, Fundamentalismusbegriff und Analyseansatz....... 114. Stand der Forschung ................................................................................... 235. Zum Inhalt .................................................................................................. 29

II. Islam, gesellschaftlicher Wandel und der Kampf ums Selbstbestimmungsrecht .. 321. Historische Entwicklung und Diversität ..................................................... 32

Muslime im modernen bulgarischen Staat (1878–1944)........................... 32Die Muslime nach 1945 ............................................................................ 38Demographische und ethno-religiöse Aspekte .......................................... 41

2. Struktur der muslimischen Glaubensgemeinschaft nach 1989.................... 443. Der Kampf um das Muftiamt ...................................................................... 50

Das umstrittene Gesetz über die Konfessionen ......................................... 58Gespalten durch die Vereinigung? Die Union der Muslime Bulgariens ... 60Organisation für islamische Entwicklung und Kultur ............................... 66Wir wollen keine Almosen, sondern unsere Rechte.................................. 70Schlussbetrachtung.................................................................................... 79

III. Das Muftiamt: Aktivitäten und Kernbereiche ................................................ 821. Betreuung der religiösen Praxis .................................................................. 822. Kommission für Fatwa................................................................................ 833. Mediale Präsentation und Publikationstätigkeit.......................................... 864. Islamische Bildung und Erziehung ............................................................. 90

Oberstes Islamisches Institut ..................................................................... 90Islamische Mittelschulen........................................................................... 100Schulen für Prediger und Vorbeter............................................................ 104Schule für Hafuzen, Korankurse und islamische Seminare....................... 106Islamische Bildungseinrichtungen: Schlussbetrachtung............................ 111

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Page 7: Islam in Europa Transformation, religi¶se Erneuerung und innere Diversifizierung am Beispiel

InhaltVI

IV. Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen ............................................ 1151. Islamischer Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen ..................... 1152. Religionsunterricht: Konzepte, Kontroversen, Kompromisse..................... 119

Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen – ein Pflichtfach............ 121Religion im öffentlichen Bildungswesen – unerwünscht?......................... 128Die Gründe ................................................................................................ 131

3. Religiosität in Bulgarien: Die Revitalisierung der Religionen .................... 1354. Schlussbetrachtung...................................................................................... 148

V. Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen ................................................... 1511. Islamische Vereine und Hilfsorganisationen............................................... 1512. Die Reaktionen............................................................................................ 1623. Das türkische Präsidium für Religionsangelegenheiten .............................. 1664. Bulgarische Muslime und islamische Mehrheitsregionen: .........................Zwischenbetrachtung ...................................................................................... 1695. Die Unterstützung der Umma – vergleichende Perspektive........................ 1736. Die Da'wa.................................................................................................... 1787. Zwischen Da'wa und islamischer Emanzipation ......................................... 188

VI. Türkische Präsenz auf dem Balkan................................................................. 1961. Paradigmenwechsel in der türkischen Außenpolitik ................................... 1962. TIKA, Diyanet und türkische NGOs ........................................................... 2023. Neo-bruderschaftliche türkische Netzwerke in Südosteuropa..................... 2064. Neo-bruderschaftliche türkische Netzwerke in Bulgarien........................... 213

Süleymanci und Nurcus............................................................................. 213Reaktionen in der Presse............................................................................ 216Hakikat ...................................................................................................... 218Die Gülen-Bewegung in Bulgarien............................................................ 221Neo-bruderschaftliche türkische Netzwerke in Bulgarien: .......................Zwischenbetrachtung................................................................................. 224

5. Der türkische Faktor auf dem Balkan: Schlussbetrachtung......................... 229

VII. Zwischen religiöser Erneuerung und innerer Diversifizierung...................... 2361. Islam in Bulgarien – Tradition und Neubestimmung .................................. 2362. Die neuen Generationen .............................................................................. 2383. Das Recht auf Differenz und Sichtbarkeit. Die Frauengruppen .................. 2454. Die rituelle Praxis........................................................................................ 2585. Dynamik und Diversität des religiösen Feldes ............................................ 2696. Fazit: Wiedererwachen des Islam?.............................................................. 274

Literaturverzeichnis .............................................................................................. 285Primärquellen........................................................................................................ 285Sekundärliteratur................................................................................................... 292

Karten ................................................................................................................... 305

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Verzeichnis der Abbildungen, Grafiken und Tabellen

Abbildungen

Abb. 1: Stellvertretender Obermufti Birali Birali .............................................................. 87Abb. 2: Schule für Hafuzen ............................................................................................... 107Abb. 3: Dorf Bărčevo. Rechts in der Mitte befindet sich die Anna................................... 110Abb. 4: VMRO: Wir wollen keine türkische Universität. ................................................. 226Abb. 5: Rudozem, Juni 2009 ............................................................................................. 248Abb. 6: Frauen in der Moschee von Rudozem, Juni 2009................................................. 248Abb. 7: Frauen in der Moschee von Smoljan, September 2011. ....................................... 249Abb. 8: Smoljan, September 2011..................................................................................... 249Abb. 9: Madan, September 2011....................................................................................... 250Abb. 10: Smoljan, September 2011 ................................................................................... 250Abb. 11: Bestattung im Dorf Gradežnica (Teteven Gemeinde)......................................... 266Abb. 12: Brauch devir. Der Imam berechnet die „Sünden“............................................... 267Abb. 13: Brauch devir. Dorf Gradežnica. .......................................................................... 267Abb. 14: Warum ich geboren wurde. Das war eine Magie................................................ 268

Tabellen

Tabelle 1: Curricula an dem Islamischen Hochschulinstitut in Sofia ................................ 92Tabelle 2: Absolventen der islamischen Sekundärschulen ................................................ 102Tabelle 3: Teilnahme an den Korankursen ........................................................................ 109Tabelle 4: Islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ................................. 116Tabelle 5: Religionsunterricht an öffentlichen Schulen..................................................... 121Tabelle 6: Subjektive Religiosität in Bulgarien ................................................................. 139Tabelle 7: Wandel des Kirchgangs in Osteuropa............................................................... 141Tabelle 8: Gottesdienst bei besonderen Anlässen.............................................................. 142Tabelle 9: Erwartungen an die Kirche ............................................................................... 144Tabelle 10: Bedeutung der Religion in Bulgarien ............................................................. 145Tabelle 11: Zuwendungen aus dem Ausland an das Muftiamt (1997-2000) ..................... 160Tabelle 12: Stipendien für ein theologisches Studium im Ausland (1997-2000) .............. 160

Grafiken

Grafik 1: Religionsüberzeugungen im europäischen Vergleich ....................................... 138Grafik 2: Religiöser Glaube in Bulgarien .......................................................................... 140Grafik 3: Vertrauen zu religiösen Institutionen in Bulgarien ............................................ 143Grafik 4: Glaube an Gott/ höhere Macht ........................................................................... 143Grafik 5 Bedeutung von Gott seit 1990 ............................................................................. 145

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Abkürzungsverzeichnis

AAIIL Ahmadiyya Anjuman-e Isha’at-e Islam -Lahore

AKP Adalet ve Kalkınma Partisi Partei für Gerechtigkeit und EntwicklungAMJ Ahmadiyya Muslim Jama‘at -BKP Bălgarska komunističeska partija Bulgarische Kommunistische ParteiBNT Bălgarska nacionalna televizija Bulgarisches nationales FernsehenBRF Dviženie za prava i svobodi Bewegung für Rechte und FreiheitenBSP Bălgarska socialističeska partija Bulgarische Sozialistische ParteiDANS Dăržavna agenura Staatliche Agentur für Nationale Sicherheit

„Nacionalna sigurnost“DIB Diyanet Isleri Baskanligi Präsidium für ReligionsangelegenheitenDV dăržaven vestnik Bulgarisches GesetzblattEMRK Evropeiska konvencija za pravata Europäische Menschenrechtskonvention

na čovekaEVS European Values Study -FIOE Federation of Islamic Organizations Föderation Islamischer Organisationen in

in Europe EuropaHSC Saudi High Commission for Relief -

of Bosnia-HerzegovinaIIRO International Islamic Relief Organization -IRCICA Research Centre for Islamic History, Forschungszentrum für islamische

Art and Culture Geschichte, Kunst und KulturIRW Islamic Relief Wordwide -IsDB Islamic Development Bank Islamische BankNMK Nacionalna mjusjulmanska konferencija Nationale Muslimische KonferenzOIC Organisation of Islamic Cooperation Organisation für Islamische ZusammenarbeitOII Visš Islamski Institut Oberstes Islamisches InstitutOIRK Organizacija za isljamsko razvitie Organisation für islamische Entwicklung

i kultura und KulturOMGR Visš mjusjulmanski duhoven săvet Oberster Geistlicher Muslimischer Rat

(Nedim Gendžev) (Nedim Gendžev)OMR Visš mjusjulmanski săvet Oberster Muslimischer RatSDS Săjuz na demokratičnite sili Vereinigung der Demokratischen KräfteTIKA Türk İşbirliği ve Koordinasyon Agentur für Zusammenarbeit und

Ajansı Başkanlığı EntwicklungTJ Tablighi Jama’at -TWRA Third World Relief Agency -UMB Săjuz na mjusjulmanite v Bălgarija Union der Muslime in BulgarienWAMY World Assembly of Muslim Youth Weltversammlung der Islamischen JugendWVS World Values Survey -

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X

ZK der BKP Zentralen Komitet na Bălgarskata Zentrales Komitee der Bulgarischenkomunističeska partija Kommunistischen Partei

Für Archivbestände:CDIA Zentrales Historisches Staatsarchivf. – fond Abteilungop. – opis Registera.e. – arhivna edenica Einzelzugang

Abkürzungsverzeichnis

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Hinweis zur Transliteration

Die Transliteration folgt durchgehend den wissenschaftlichen Standards gemäß der ISO-Norm. Ausnahmen wurden bei Orts- und Personennamen gemacht, die im Deutschen be-reits eine andere Schreibweise haben, wie zum Beispiel Sofia (statt Sofija) oder Namenausländischer Politiker und muslimischer Autoren (z.B. Recep Tayyip Erdoğan oder SayyidQutb). Alle Übersetzungen der Originalzitate wurden von der Verfasserin vorgenommen.

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Danksagung

Diesem Buch liegt meine Habilitationsschrift an der Universität Erfurt (2015) zugrunde, diefür diese Publikation überarbeitet und ergänzt wurde. Seit meinen ersten Forschungsaufent-halten in Bulgarien bis zur Veröffentlichung der Arbeit sind einige Jahre vergangen. Alljenen, die mich auf unterschiedliche Weise auf dem Weg von der Konzeption bis zur Reali-sierung der Studie begleitet haben, sei herzlich gedankt.

Meinen Kolleginnen und Kollegen der Graduiertenschule „Religion in Modernisie-rungsprozessen“ an der Universität Erfurt, in deren Rahmen diese Arbeit entstand, dankeich für die anregenden Impulse, Diskussionen und den vielseitigen wissenschaftlichen Aus-tausch. Jamal Malik möchte ich für seine fachkundige Betreuung danken. Kathari-na Waldner und Jörg Rüpke für die Unterstützung während meiner Erfurter Jahre, nichtzuletzt bei der ungeklärten Frage des Habilitationsfaches. Danken möchte ich auch denweiteren Gutachtern meiner Habilitationsschrift, Wolfgang Höpken, Maurus Reinkowskiund Markus Koller, für die wertvollen Anregungen sowie dem gesamten Team des Har-rassowitz Verlags für den zügigen und engagierten Einsatz bei der Publikation. GroßerDank gilt ferner dem Herausgeber der Reihe, Hannes Grandits, der nicht nur die Durchsichtder aktuellen Fassung übernahm, sondern durch seine Kollegialität und professionellenEinsatz das Erscheinen meines Manuskriptes in diesem Jahr ermöglichte. Aus der Koopera-tion mit Christian Voß und Armina Omerika sind zwei gemeinsame Tagungen zum Themaentstanden, bei denen es zu wichtigem Austausch und spannenden Diskussionen kam undderen Erkenntnisse mich in meiner wissenschaftlichen Arbeit weiter begleiten.

Ein ganz besonderer Dank geht an all die Informantinnen und Informanten, die mir be-reitwillig Rede und Antwort standen. Ohne ihr Vertrauen und die Gastfreundschaft, die siemir entgegen gebracht haben, wäre diese Studie nicht möglich gewesen. Es können nichtalle genannt werden, insbesondere richtet sich mein Dank an Hadžer und Sabri F., an BiraliBilari, Vedat Ahmed, Hedžmi Dabov und Ali Hairaddin, aber auch an die weiteren Frauenund Männer, die mir während der Forschungsaufenthalte begegnet sind.

Meinem Mann, dem dieses Buch gewidmet ist, danke ich für seine liebevolle Unterstüt-zung und sein Verständnis in den vergangenen Jahren, in denen die Arbeit immer wiederdem Privatleben vorging. Er hat mir nicht nur Unterstützung und Geduld entgegengebracht,sondern galt als der erste und treueste Korrekturleser meines Manuskriptes. Er und meinSohn haben immer wieder für erfrischende Distanz zum Schreibtischdasein gesorgt undsind mir Quelle für Kraft, kritische Reflexion und Lebensfreude. Danke.

Berlin, September 2017 Jordanka Telbizova-Sack

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I Einleitung

1. Transformation und religiöse Erneuerung nach 1989

„Ich komme aus einer christlichen Familie“ – erzählte die 25 jährige Hadžer bei ei-nem Treffen in der Moschee in Sofia an einem Sommertag 2010. – „Schon als klei-nes Mädchen war ich gläubig, wusste aber noch nicht, an was ich glaube. Das Chris-tentum konnte meine Fragen nicht beantworten. Ich suchte nach dem richtigen Weg.Nach dem Abschluss meines Studiums ging ich nach Dubai, um dort zu arbeiten. Inden Jahren nach der politischen Wende gab es in Bulgarien nicht einmal ausreichendLebensmittel zu kaufen. In Dubai fand ich Arbeit in einem Restaurant, die gut be-zahlt war. Bei der Abreise hatte ich große Angst – ‚Muslime, Blutsauger‘, dachteich. Bereits in den ersten Tagen revidierte ich meine Meinung. Wir fuhren mit demAuto an einer Moschee vorbei und sie war so schön und geheimnisvoll. Viele bulga-rische Frauen, die sich in Dubai aufhalten, konvertieren zum Islam. Ich habe ange-fangen, die Menschen zu beobachten. Meine Erwartung war, dass sie ungebildet undkonservativ sind. Das war aber nicht der Fall. In das Restaurant, in dem ich arbeite-te, kamen Menschen mit guter Ausbildung, es gab sogar solche, die in Cambridgestudiert hatten. Es gab auch Frauen-Partys. Die Frauen kamen verschleiert und alsdie Männer weg waren, zogen sie ihre Schleier aus – sie waren gut gelaunt und tru-gen modische Kleidung. Ich fragte mich: Was ist das für eine Religion? Bald wuss-ten alle Bescheid, dass ich mich für den Islam interessiere. Eines Tages kam eineandere Bulgarin zu mir und sie brachte mir islamische Literatur in russischer Spra-che. Ich las und ich wusste: Es ist der Islam. Der Islam ist meine Religion.

Nachdem ich zum Islam konvertiert war, kehrte ich nach Bulgarien zurück. Alsmeine Tanten mich mit dem Schleier sahen, verfielen sie in Hysterie. Sie sagten mir,ich solle ins Irrenhaus gehen. Meine Mutter lebte zu der Zeit in Italien. Sie telefo-nierten mit ihr: sie solle sofort kommen, da ich meinen Verstand verloren hätte. Undsie, meine arme Mutter, kam, sah mich und konnte sich selbst überzeugen, dass ichverrückt geworden bin. Vorher war ich ziemlich dickköpfig, hatte immer meine ei-gene Meinung und mochte es nicht, dass man mir Ratschläge erteilt. Der Islam ver-langt jedoch Respekt vor den Eltern. Meine Mutter wunderte sich. Sie fing an, michzu beleidigen. Stundenlang beleidigte sie mich, nur um zu sehen, wie ich reagierenwürde. Ich habe zugehört und geweint. Das hat sie vollkommen verwirrt. Mir waroffensichtlich nicht mehr zu helfen. Sie ging nach Italien zurück. Anschließend habeich geheiratet, einen bulgarischen Muslim aus Rudozem. Er studierte in Jordanien is-lamische Theologie und ich ging mit ihm.“

„Meine Eltern haben sich inzwischen daran gewöhnt, dass ich jeden Tag bete. Ichwar zu Hause und keiner sah mich.“ – erzählte auch die 21.-jährige Neli, eine Poma-kin [slawische Muslimin; J.T.-S.] aus Smoljan. – „Als ich jedoch den Hidžab ange-zogen habe, wurde es schlimm. Sie wollten das nicht akzeptieren. Das sei etwas, für

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Einleitung2

was man sich schämen solle. Ich sei altmodisch und würde keine Arbeit finden. Ichsei eine Sektiererin. Geweint habe ich, viel geweint. Meine Eltern sind Muslime,aber sie haben sich für die Religion nie richtig interessiert. Früher bin ich auch in dieKirche gegangen. Dort habe ich ab und zu eine Kerze angezündet. Von meiner Omawusste ich, wie man das islamische Gebet verrichtet. Den Islam habe ich jedoch erstim Jahr 1998 für mich entdeckt. Der Anlass war der Tod eines mir nahe stehendenMenschen, einer Cousine. Der Imam kam, um im Angesicht des Todes den Hinter-bliebenen Mut zu geben. Ich war beim Gespräch dabei und ich habe es verstanden:Das ist es, wonach ich suchte – Glaube und Menschlichkeit. Meine ersten Kenntnis-se über den Islam habe ich in der örtlichen Moschee erworben. Zwar hat mir meineOma vorher einiges über den Islam erzählt, aber sie hatte nie etwas Herzliches ge-sagt. In der Moschee habe ich gelernt, den Koran zu lesen. Der Imam war jung undmotiviert. Meine Eltern haben auch vorher Kurban-Bairam gefeiert, Tiere geopfertund Almosen an Bedürftige gegeben. Sie haben aber auch Ostern und Weihnachtengefeiert. Ostern half ich meiner Mutter, Ostereier zu färben. Auch jetzt wird in denNachbardörfern [Rudozem und Smoljan, J.T.-S.] Weihnachten gefeiert. Im Dezem-ber gibt es überall Weihnachtsbäume. Dies alles ist eine Folge des Sozialismus. Die-se Zeit hat die Menschen zu Ungläubigen gemacht.“

Neli erzählte weiter: „Also, ich habe den Islam für mich gefunden, habe angefangenzu fasten und das Gebet zu verrichten. Und dies alles war ein großes Problem fürmeine Familie. Meine Eltern glaubten, ich sei irgendeiner Sekte beigetreten. Daswas ihnen unbekannt war, konnten sie – und wollten sie – nicht verstehen. ‚Wir sindso, und Du hast auch so zu sein‘, sagten sie. Es hat vier Jahre gedauert, bis sie sichdamit abfanden, dass ich das Gebet verrichte und meine eigenen Freunde habe. Mei-ne Schwester hatte einen Freund, der Ohrringe trug und einen anderen Lebensstil(Richtung Punk) hatte. Meine Mutter beklagte sich – ‚Die eine Tochter ist mit einemSektierer, die andere mit einem Hooligan zusammen, was sind dies für Zeiten.‘ Ichhabe danach geheiratet. Bevor wir uns kennenlernten, hatte mein Mann eine Schulefür Imame in der Türkei besucht. Die Ausbildung dort hat ihm aber nicht gefallenund er ging nach Saudi-Arabien, um dort weiter zu studieren. Jetzt beherrscht erTürkisch und Arabisch.“

Während des Gesprächs kam der Buchhalter der Moschee vorbei und wollte das Wort nichtnur den Frauen überlassen:

„Der Islam begrenzt sich nicht auf die Moschee“. – führte er aus – „Der Islam ist einganzer Lebensstil. Egal wo sich ein Mensch befindet, hat er Verpflichtungen, auchgegenüber anderen Religionen. Zumindest die anderen Menschen als Menschen zurespektieren. Bei uns gibt es viele Legenden, die von heiligen Männern erzählen, diein der Vergangenheit Wundertaten vollbrachten. Sie sollen gute und fromme Männergewesen sein. Wenn wir jedoch in der Gegenwart fromme Muslime sein wollen,dann gibt es Probleme. Man bezeichnet uns als Radikale.“

„Meine Mutter hat das Kopftuch auch während des Sozialismus nicht abgenom-men.“ schloss sich die junge Türkin Sakine aus der Razgrad-Gemeinde (Nordbulga-rien) dem Gespräch an – „Beleidigt und bestraft wurde sie deshalb. Sie gab aber

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Transformation und religiöse Erneuerung nach 1989 3

nicht nach. Eines Tages verbot ihr der Leiter unserer landwirtschaftlichen Koopera-tive, zur Arbeit zu kommen, falls sie den Schleier nicht abnehmen würde. Sie tat dasnicht und man entließ sie. Mein Vater sagte zu ihr: ‚Du brauchst nicht zur Arbeit zugehen. Ich werde für dich sorgen.‘ Es waren jedoch nur einige Tage vergangen unddann kam der Leiter der Kooperative selbst und bot ihr an, wieder zur Arbeit zukommen: Es sei Erntezeit und man bräuchte sie. Ich selber habe wenige Erinnerun-gen an diese Zeit. Nur schwach – man erzählte uns, dass Religion ein Aberglaubesei. Ich wollte jedoch schon immer mehr über den Islam wissen. Momentan studiereich im sechsten Semester am islamischen Institut in Sofia. Danach könnte ich Lehre-rin werden oder beim Muftiamt Arbeit finden. Mein Wunsch ist aber, in die Türkeizu gehen, um dort weiter zu studieren.“ „Seit ich den Hidžab trage“ – fuhr sie fort –„sorge ich ständig für Aufsehen und alle drehen sich nach mir um. Einige von ihnensind einfach nur neugierig. Sie fragen mich, ob mich jemand dazu gezwungen hatund warum ich dies täte. Andere dagegen sind bösartig. Meine Freundin wurde so-gar bedroht, beschimpft und sie bekam ein Glas Bier über den Kopf geschüttet“.„Seit ich in Rudozem lebe, ist das Tragen des Hidžab kein großes Problem mehr.“ –fügte auch Hadžer hinzu – „Aber als ich noch in Pleven lebte, wo es keine Muslimegibt, war ich die Sensation. Die Autos blieben auf der Straße stehen, um nach mir zuschauen. So, als ob ich eine Außerirdische wäre“.

Drei Geschichten von muslimischen Frauen, die aus unterschiedlichem ethnischem wieauch sozialem Hintergrund kommen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie jung und gut ausgebil-det sind sowie mit ihrer Kleidung und ihrem sozialen Verhalten die islamischen Normenbeachten. Das Tragen des Hidžab ist nicht die einzige neuartige Symbolsetzung, die mannach 1989 in den Städten wie auch in ländlichen Gebieten Bulgariens antrifft. So wurden anvielen Orten die Moscheen renoviert oder neu errichtet. Die Moschee ist ein zentraler Ort,an dem sich die Menschen der Umgebung zum gemeinsamen Gebet treffen, Informationenaustauschen sowie soziale Kontakte pflegen. Während der beiden großen islamischen Feste,Ramadan- und Kurban-Bayram, werden hier rituell geopfertes Fleisch sowie Gebäck undSüßigkeiten verteilt. Die Moschee ist auch ein Ort, an dem Informationen über Studium,Arbeit und Politik zirkulieren, Korankurse angeboten werden sowie islamische Literaturverteilt wird. Viele der Geschäftsleute versammeln sich dort, um lokale Angelegenheiten zubesprechen. Nicht zuletzt ist dieser sonst durch Männer dominierte Ort in den letzten Jahrenauch ein Treffpunkt von Frauen geworden.

Nachdem während der sozialistischen Zeit religiöse Bindungen als konkurrierende Lo-yalitäten galten und die Religion infolge der autoritären Modernisierungspolitik des kom-munistischen Regimes weitgehend auf den privaten Bereich beschränkt war, wird seit demEnde der kommunistischen Herrschaft auch in Bulgarien über eine „Rückkehr des Religiö-sen“ diskutiert. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung konnten sich wieder religiöse Institu-tionen entwickeln und die Glaubensgemeinschaften traten in den Mittelpunkt der Öffent-lichkeit. Die Mehrheit der bulgarischen Bevölkerung ist christlich-orthodox. Bulgarien stehtaber auch für einen historischen Raum, in dem der Islam seit dem 14. Jahrhundert ein Teilder Geschichte Europas ist. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind die bulgarischenMuslime, die ethnisch und sprachlich heterogen sind, ein Erbe der osmanischen Herrschaft.Eine Zeit, die im kollektiven Gedächtnis der Mehrheit der Bulgaren als „schwarze Seite der

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Geschichte“ bewahrt wurde und nicht selten mit „Unterdrückung“ und „Rückständigkeit“assoziiert wird. So definierten seit dem 19. Jahrhundert die bulgarischen Eliten ihre natio-nale und europäische Identität in Abgrenzung zum Islam und den orientalischen „Türken“.Sie wollten einen Platz in den „Reihen der zivilisierten europäischen Nationen“ einnehmenund am Fortschritt teilhaben, welcher für sie gleichbedeutend mit der Zugehörigkeit zuEuropa war. „Modernisierung“ und „Europäisierung“ bedeuteten zugleich eine Entosmani-sierung und Entislamisierung. Die Muslime wurden als eine unerwünschte Hinterlassen-schaft wahrgenommen, sie galten als „uneuropäisch“ und “orientalisch“. In dem neu ge-gründeten bulgarischen Staat erlebten die hier hinterbliebenen Türken, Pomaken, Roma undTataren eine wechselhafte Geschichte: Statuswechsel nach dem Zerfall des OsmanischenReiches, erzwungene wie auch freiwillige Auswanderung in die Türkei, Modernisierungs-,Säkularisierungs- und teilweise Homogenisierungszwänge während der sozialistischenDiktatur. Phasen staatlich verordneter Säkularisierung wechselten mit Phasen einer Re-Islamisierung.

2011 bezeichneten sich in Bulgarien 577.139 Personen als Muslime.1 Das sind 10% derGesamtbevölkerung. Zehn Jahre zuvor (2001) waren es allerdings noch 967.000 Personen(12% der Gesamtbevölkerung) – ein Rückgang, der auf Migrationsprozesse, ein insgesamtzurückgehendes Wachstum der Bevölkerung aber auch auf fehlende Angaben zur konfessi-onellen Zugehörigkeit zurückzuführen ist. Die bulgarischen Muslime sind nicht homogen,sondern setzen sich aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammen. Mit 588.318 Perso-nen (von denen sich 444.430 als Muslime bezeichneten) bilden die Türken die größteGruppe. Daneben gibt es 67.350 Personen, die sich als Bulgaren und Muslime bestimmenund die der schätzungsweise 200.000 bis 250.000 Personen starken Gruppe der sogenann-ten Pomaken zuzurechnen sind, 42.200 muslimische Roma (18% der bulgarischen Roma)sowie 24.000 sonstige Muslime, zu denen einheimische Tataren sowie arabische, iranischeund kurdische Einwanderer gehören. 546.004 der Befragten bezeichneten sich als Sunniten,weitere 27.407 als Schiiten und 3.727 einfach als Muslime. Seit 2007 ist Bulgarien inner-halb der erweiterten EU das Land mit dem prozentual höchsten muslimischen Bevölke-rungsanteil.

Die politischen Veränderungen der 1990er Jahre brachten eine allgemeine Lockerungder staatlichen Kontrolle des Marktes, der Zivilgesellschaft und auch der Religion. DieTransformationsprozesse verliefen jedoch langsam und mühsam und sie waren mit erhebli-chen sozialen Kosten für weite Teile der Bevölkerung verbunden.2 Korruption und politi-sche Skandale waren an der Tagesordnung. Mit dem Ende der kommunistischen Herrschaftbegann auch für die ethnisch differenzierten Muslime Bulgariens eine Zeit der Veränderun-gen. Die Wende brachte einerseits politische Partizipation, andererseits Religionsfreiheitund eine Diversifizierung der in- und ausländischen religiösen Akteure. Im Zuge der Neu-orientierung wurden religiöse Schulen und ein islamisches Hochschulinstitut in Sofia eröff-

1 Zu den Ergebnissen der Volkszählung von 2011 siehe: Census of the Population and Housing in Bulgar-ia in 2011, National Statistical Institute, Republic of Bulgaria, Final Data, unter<http://www.nsi.bg/EPDOCS/Census2011final.pdf> (21.03.2013). Im Verlauf der Erhebungen machten7,1% der Gesamtbevölkerung (409.898 Personen) keine Angaben zu ihrer konfessionellen Zugehörig-keit und 4,7% (272.264 Personen) gaben an, dass sie keiner Konfession angehören.

2 Siehe stellvertretend Ulf Brunnbauer/ Wolfgang Höpken (Hg.), Transformationsprobleme Bulgariensaus historischer und anthropologischer Perspektive, München: Kubon und Sagner, 2007.

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net. Religiöse Stiftungen, offizielle religiöse Institutionen und private Initiativen sorgtendafür, dass die alten Moscheen restauriert und neue errichtet wurden. In der sich neu etab-lierten muslimischen Presse spiegelte sich ein gewachsenes Selbstbewusstsein der Muslimeund die Produktion islamischer Literatur stieg deutlich an. Im Kontext der Liberalisierungwar es zudem wieder möglich, Kontakte zu den islamischen Mehrheitsregionen aufzuneh-men, Pilger nach Mekka zu senden und junge Vertreter der Ulemas (Rechts- und Religi-onsgelehrte) an islamischen Universitäten überregionaler Bedeutung ausbilden zu lassen.Parallel dazu ließen sich islamische NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen), religiös mo-tivierte Organisationen wie auch Ableger transnationaler Netzwerke in Bulgarien nieder.Die islamisch-religiöse Szene wurde dadurch pluralisiert und stärker als bisher durch neueFormen des Islam geprägt.

Ähnlich wie im gesamten südosteuropäischen Raum kam es nach Ende des Realsozia-lismus auch in Bulgarien zu einer erfolgreichen politischen Partizipation von Bevölke-rungsgruppen, die einen muslimischen Hintergrund hatten. 1990 wurde die politische ParteiBewegung für Rechte und Freiheiten (BRF) gegründet, die sich überwiegend auf türkischeund muslimische Wähler stützte und deren Interessen vertrat. Schlüsselfigur wurde derSozialwissenschaftler Ahmed Dogan, der wegen seines Widerstandes gegen die Assimilie-rungspolitik des Živkov-Regimes zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wordenwar. Die Partei (BRF) ließ andere türkische Parteien weit hinter sich und etablierte sich alsein fester Bestandteil des politischen Spektrums Bulgariens.

Die wiedergewonnenen religiösen Freiheiten sowie die aktive Beteiligung der Muslimeam politischen Leben im Lande konnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieRegionen, in denen größere Teile von muslimischen Minderheitengruppen lebten, durch dieUmgestaltung der Wirtschaft negativ betroffen wurden. Insbesondere die südlichen Gebietein den Zentral- und Ostrhodopen sowie der Nordosten Bulgariens waren erheblich vonMigrationsbewegungen als Folge der Wirtschaftskrise und des Einkommensverlustes derBevölkerung betroffen. Viele der bulgarischen Türken, Pomaken und Roma bewohntenländliche Gebiete, die von Armut geprägt waren. So lebten 2011 77,5% der ethnischenBulgaren in den Städten und 22,5% auf dem Land. Bei den Türken waren es 37,7%, die inStädten und 62,3% die auf dem Land lebten. Bei den Roma erreichte der Anteil entspre-chend 55,4% (Stadt) und 44,6% (Land).3 Ähnliches ließ sich hinsichtlich der Pomakenfeststellen, die vorwiegend in ländlichen Gebieten im Süden des Landes siedeln. Das Bil-dungsniveau von Minderheitengruppen sank in den letzten Jahren beunruhigend. Während2011 47,7% der Bulgaren das Abitur erlangten und 19,1% eine Hochschulausbildung ab-schlossen, lag der Anteil der Türken, die über eine Hochhochschulausbildung verfügten bei2,4% und derjenigen, die das Abitur erlangt hatten, bei 21,9%. Bei den Roma hatten nur0,2% eine Hochhochschulausbildung und 6,5% das Abitur.4 Es gab erhebliche Unterschiedebezüglich des Anteils der Analphabeten bei den drei größeren ethnischen Gruppen. So gabes statistisch bei den Bulgaren 0,5%, bei den Türken 4,7% und bei den Roma 11,8% Anal-phabeten.5 Die Bezirke, in denen eine höhere Arbeitslosenquote gemessen wurde, warenebenfalls überdurchschnittlich von Minderheitengruppen bewohnt. Dazu gehörten im Feb-

3 Census of the Population and Housing in Bulgaria in 2011.4 Census of the Population and Housing in Bulgaria in 2011.5 Ebda.

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ruar 2011 die Gemeinden in Sliven (23,8% Arbeitslose), Targovište (22,6%), Montana undSilistra (22,1%) sowie Smoljan und Vidin (21,8%).

Die Politik des bulgarischen Staates gegenüber der muslimischen Bevölkerung kannzumindest als ambivalent bezeichnet werden. Einerseits wurden die Diskriminierungsmaß-nahmen aus der Zeit der sozialistischen Diktatur rückgängig gemacht und im Vergleich zuden Nachbarländern gab es hier keine offenen Konflikte. Andererseits ist auf einigeRechtsvorschriften – so auf das Ende 2002 verabschiedete Religionsgesetz – hinzuweisen,die den staatlichen Behörden die Möglichkeit einräumen, in die interne Organisation derReligionsgemeinschaften einzugreifen. Vor dem Hintergrund der Annäherung an die Euro-päische Union wurden Konzepte wie Demokratisierung und Verwirklichung von Men-schenrechten zu wichtigen Bestandteilen der öffentlichen Debatten um die Stellung derMinderheiten im Land. Die Unterzeichnung von internationalen Konventionen wie derEuropäischen Menschenrechtskonvention oder des Rahmenabkommens zum Schutz natio-naler Minderheiten konnten jedoch nichts daran ändern, dass die bulgarischen Pomakennach wie vor nicht als eine Minderheit anerkannt sind. Auch an anti-muslimischen Ressen-timents unter Teilen der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung fehlt es nicht. Der prominen-teste Vertreter dieser islamophoben Tendenzen ist die seit 2005 parlamentarisch vertretenePartei Ataka, deren Mitglieder und Anhänger mit Minderheitenfeindlichkeit, einem radika-len Nationalismus und EU-kritischer Haltung mehr oder weniger erfolgreich an Feindbilderappellieren.

Die politischen Veränderungen der 1990er Jahre brachten nicht zuletzt eine Reihe vonKonflikten und Spaltungen innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaft mit sich. Soführte ein sich über achtzehn Jahre hinziehender Gerichtsstreit dazu, dass die bulgarischenMuslime teilweise nicht mehr wussten, wer nun der legitime Vertreter ihrer Gemeinschaftwar. Die Gründe für diese Auseinandersetzungen sind vielfältig, zu erwähnen wären eineproblematische Vermischung von Politik und Religion sowie Machtkonflikte innerhalb dermuslimischen Gemeinschaft selbst. Die allgemein verstärkte öffentliche Sichtbarkeit vonReligion und die Revitalisierung der religiösen Institutionen seit den 1990er Jahren – einPhänomen, das auch in den benachbarten südosteuropäischen Staaten zu beobachten ist –wird somit durch neue Herausforderungen auf die Probe gestellt. Dazu gehören neben is-lamfeindlichen Narrativen im öffentlichen Raum auch Konflikte zwischen religiösen Füh-rern aber auch die Entstehung neuer Generationen, die auf den „religiösen Markt“ drängen.

Ziel dieser Studie ist es, der Dynamik dieser Umgestaltungsprozesse nachzugehen undderen gesellschaftlichen und historischen Hintergründe zu analysieren. Zum einen wird esum institutionelle und konzeptionelle Vergesellschaftungsprozesse muslimischer Akteuregehen. Zum anderen werden Prozesse interner Diversifizierung, transnationaler An- undEinbindung des bulgarischen Islam, sowie das komplexe Verhältnis zwischen Staat undmuslimischen Bevölkerungsgruppen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. BesondereAufmerksamkeit wird dem religiösen Feld gewidmet, das aufgrund der zahlreichen (in- undausländischen) Akteure sowie durch den Generationenwechsel an Dynamik gewinnt. DieUntersuchung will dabei gesellschaftliche Spannungsfelder ins Blickfeld nehmen, die durchdie Präsenz islamischer Reformdiskurse unter Teilen der bulgarischen Muslimen entstandensind. Es soll untersucht werden, inwieweit islamische Reformdiskurse aus einem transloka-len Spannungsverhältnis heraus für einen bestimmten regionalen Kontext adaptiert, re-formuliert, und auch lokalisiert werden. Welche Modalitäten religiöser Erneuerung lassen

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Transformation und religiöse Erneuerung nach 1989 7

sich in der veränderten Situation nach 1989 unter Teilen der bulgarischen Muslimen be-obachten? Welche Akteure sind am Prozess der Neuausrichtung des Islam in Bulgarienbeteiligt? Wie lauten die Motive dieser Akteure und welcher Mittel bedienen sie sich, umein breiteres Publikum zu erreichen? Welche Rolle kommt der Unterstützung durch dasislamische Ausland zu? Wieweit konnten sich neuere oder bis Anfang der 1990er Jahre nurselten vertretene Deutungen des Islam unter Teilen der muslimischen Jugend oder Vertre-tern der bulgarischen Ulema verbreiten? Kann man von einem Re-Islamisierungsprozess imbulgarischen Kontext sprechen, oder handelt es sich nicht vielmehr um einen Aushand-lungsprozess, bei dem islamische Traditionen an die veränderten Rahmenbedingungen nach1989 angepasst und neu definiert werden?

Die Arbeit will aufzeigen, wie sich die soziale Bedeutung des Islam in einem ehemali-gen kommunistischen Land nach 45 Jahren verordneten Atheismus verändert hat. Sie willdanach fragen, welche lokal definierten Gründe dafür verantwortlich sind, dass sich Teileder bulgarischen Muslime wieder der Religion zuwenden und dabei neue Formen des Islamannehmen. Sicher teilen muslimische Bevölkerungsgruppen in Bulgarien mit solchen inWesteuropa strukturelle Gemeinsamkeiten. Neben der geopolitischen Lage gehören dazuProzesse der Globalisierung, die finanzielle Dominanz Saudi-Arabiens – und zunehmendder Türkei – bei internationalen islamischen karitativen Einrichtungen, aber auch eineweltweit wachsende Islamophobie. Retraditionalisierungsprozesse der Religionen, insbe-sondere in ihrer neofundamentalistischen Prägung, sind ein globales Phänomen der Post-moderne. Die modernitätsspezifischen Transformationsprozesse der Religionen gehen da-bei häufig weg vom einfachen Bekenntnis hin zu spiritueller Erfahrung und moralischerGemeinschaft.6 Aber diese Makro-Faktoren interagieren mit den spezifischen kulturellen,politischen, historischen und wirtschaftlichen Bedingungen vor Ort, die die Kulissen fürTransformation und Weitergabe islamischer Tradition im bulgarischen Kontext darstellen.

In der Situation der Transformation stellen zunehmende soziale Fragmentierungen so-wie der Verlust an Vertrauen die lange Zeit gültigen moralischen Orientierungen in Frage.Die Rückwendung zur Religion sowie die Annahme neuer Formen des Islam können Men-schen dabei helfen, auf die Herausforderungen der Zeit Antworten zu finden: auf dieSchwierigkeiten der gesellschaftlichen Transformation nach 1989, auf die Privilegien dervon den einfachen Menschen immer mehr entfernten Eliten, auf die Erfahrung des kapita-listischen Postsozialismus sowie auf das rapide gesunkene Vertrauen in staatliche Instituti-onen. Was auch immer Kapitalismus und Demokratie in den frühen 1990er Jahren in Bul-garien versprachen, sie haben zunächst eine andere Realität von Korruption, Unterschla-gung, Geld- und Machtgier skrupelloser politischer und wirtschaftlicher Eliten geschaffen.Durch die neuen islamischen Diskurse ergibt sich für die beteiligten muslimischen Akteuredie Möglichkeit, Kritik am Neoliberalismus, an übermäßigem Konsum und ausbeuterischenProduktionsverhältnissen zu üben. Indem sie sich einer Sprache der Moral und der Enthalt-samkeit bedienen, decken sie den entmenschlichten Materialismus des freien Marktes auf.Im aktuellen polarisierenden geopolitischen Klima, in dem Autoren wie Samuel Huntingtoneinen apokalyptischen Kampf der Kulturen des Islam gegen den Westen prophezeien, istdie Frage nach den Gründen und Kontexten von Prozessen religiöser Erneuerung von be-

6 David Martin, Pentecostalism: The World Their Parish, Oxford: Blackwell, 2002; Steve Bruce, Religionin the Modern World. From Cathedrals to Cults, Oxford: Oxford University Press, 1997.

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sonderer Bedeutung. Denn was wirklich für viele Menschen mit muslimischem Hintergrundin Bulgarien zählt, ist, wie man die negativen sozialen Folgen, die durch die unsichtbareHand des Marktes geschaffen wurden, abmildern kann. Nicht zuletzt kann das BeispielBulgarien zeigen, dass Prozesse islamischer Erneuerung und Reformismus keineswegs alsmonolithische Bewegung zu verstehen sind. Vielmehr handelt es sich um einen diffusen,auf verschiedenen Ebenen stattfindenden Prozess, bei dem sich die Kategorien des Lokalen,Regionalen und Translokalen überschneiden. Eine solche Perspektive kann dazu beitragen,sich von den stereotypen Bildern eines „einheimischen, synkretischen, ruralen und friedfer-tigen“ Islam einerseits und eines „importierten, fundamentalistischen und radikalen“ Islamzu lösen.

2. Quellen und Methoden

Die Forschungen für diese Studie wurden zwischen 2009 und 2013 durchgeführt, ein Zeit-raum, in dem ich wiederholt mehrmonatige Forschungsaufenthalte in der bulgarischenHauptstadt Sofia sowie in muslimisch besiedelten Ortschaften im Süden sowie im Nordos-ten Bulgariens verbrachte. Es handelt sich um Ergebnisse eines Forschungsprojekts, das ichim Rahmen der Graduiertenschule „Religion in Modernisierungsprozessen“ an der Univer-sität Erfurt zum Thema „Islam und Muslime im postkommunistischen Bulgarien“ durchge-führt habe. In die Untersuchung fließen aber auch empirische Daten und Eindrücke ausfrüheren Forschungsaufenthalten, die ich im Zusammenhang mit anderen Projekten – sounter anderem zum Thema „Religion und Konstituierung von Identitäten. Zum Erbe mus-limischer Minderheiten im Balkanraum“ am Osteuropa-Institut der Freien Universität Ber-lin – gewonnen habe. Diese dadurch zeitlich ausgedehnten Einblicke in das Thema sowiedie wiederholt hergestellten Kontakte zu Vertretern der bulgarischen Muslime erlaubtenmir zugleich die Veränderungen in den einzelnen Biographien muslimischer Akteure wieauch die interne Dynamik lokaler muslimischen Gemeinden verfolgen zu können.

Methodisch beruhen die Erkenntnisse auf Text- und Diskursanalyse (Auswertung mus-limischer Presse‚ Inhalt islamischer Bücher und Lehrbücher, ‚grauer’ Literatur, Internetver-öffentlichungen und Programmdokumente), auf teilnehmender Beobachtung, Expertenin-terviews und anderen Standardverfahren der Feldforschung sowie auf der Auswertunghistorischer Quellen und der Fachliteratur.7 Als schriftliche Quellen wurden zunächst aus-gewählte muslimische Zeitungen und Zeitschriften herangezogen. Zu erwähnen sind dieseit 1989 vom Muftiamt in Sofia herausgegebene monatliche Zeitschrift Mjusjulma-ni/Müslümanlar (bis 2005 als Zeitung), die monatliche Zeitschrift für Religion, Wissen-schaft und Kultur Selam sowie die Zeitschriften Mjusjulmansko obštestvo und IKRA. DieseZeitschriften gehörten – zumindest in der Zeit der Erhebung der Daten – zu den meist gele-

7 Einen guten Überblick über die Methoden der Feldforschung, die bei der Arbeit angewandt wurden,geben Bettina Beer, Methoden und Techniken der Feldforschung, Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 2003;Gerhard Kleining, Qualitative Sozialforschung, Teil 2: Der Forschungsprozeß, Hagen: Fernuniversität,1998; Uwe Flick/ Ernst von Kardorff/ Ines Steinke (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, 2.Aufl., Reinbek: Rowohlt Taschenbuchverlag, 2003 sowie Peter Antes/ Armin Geertz/ Randi Warne(Hg.), New Approaches to the Study of Religion, 2 Bde, Berlin: De Gruyter, 2008.

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Quellen und Methoden 9

senen unter den bulgarischen Muslimen und behandeln ein weites Spektrum an Themen:von aktuellen Ereignissen aus dem Leben der bulgarischen Muslime über theologischeDebatten, Frömmigkeitsgeschichten, historische und biografische Berichte bis hin zur Fragenach der Stellung der Religion in der Gesellschaft. Daneben wurden publizierte Werkemuslimischer Autoren, Programmdokumente islamischer Institutionen sowie in privatenNetzwerken verbreitete Bücher, Broschüren, Audio-Aufzeichnungen und CDs, auf denenreligiöse Vorträge und Veranstaltungen der bulgarischen Muslime aufgenommen wurden,gesichtet und ausgewertet. Diese Bücher, Broschüren, Newsletter und Zeitschriften warenin der Regel in lokalen Moscheen erhältlich und nur wenige von ihnen konnten in Buch-handlungen oder Bibliotheken gefunden werden. Die Schwierigkeit war zu Projektbeginndas Auffinden dieser Quellen. Mittlerweile ist eine Reihe von Informationen – Berichte,Aufzeichnungen von religiösen Vorträgen und Veranstaltungen sowie die Zeitschrift Mjus-julmani – auf der Homepage des Muftiamtes (www.grandmufti.bg) sowie durch verschie-dene muslimische Webseiten8 virtuell erhältlich, so dass sie problemlos ausgewertet werdenkönnen. Die Verwendung von Internetseiten ist aber nicht unproblematisch, da sie oft nurfür einen eingeschränkten Zeitraum zur Verfügung stehen. Deshalb ist im Quellenverzeich-nis bei jeder Webseite das Datum angegeben, an dem sie abgerufen wurde.

Einen weiteren Schwerpunkt der Untersuchung stellten Interviews und teilnehmendeBeobachtung dar. Interviews wurden mit Vertretern des Muftiamtes und islamischen Geist-lichen aber auch mit Mitgliedern islamischer Vereine und lokaler Netzwerke, die nicht zuden zentralen Strukturen der muslimischen Glaubensgemeinschaft gehören, durchgeführt.Besondere Aufmerksamkeit während der Forschungsaufenthalte war dem Obersten Muf-tiamt in Sofia (der Verwaltungsbehörde der Muslime) gewidmet. Diese Institution fungiertnicht nur als oberstes Verwaltungsorgan, ihr sind Moscheen und religiöse Schulen unter-stellt und sie agiert als die höchste islamische Autorität in Fragen der Lehre und Praxis.Nicht zuletzt übernimmt das Muftiamt die Funktion als Kontaktvermittler zum Staat und zuausländischen Partnern. Hier wurden neben der Erhebung relevanten schriftlichen Materialsauch Interviews mit dem Obermufti und seinen Vertretern, mit Mitgliedern des OberstenMuslimischen Rates, mit dem Sekretär dieser Behörde sowie Leitern verschiedener Abtei-lungen durchgeführt. Parallel dazu erfolgten mehrere Besuche beim Obersten IslamischenInstitut in Sofia, wo Gespräche mit Lehrern und Studierenden durchgeführt und Lehrmate-rial gesichtet wurden. Ein Problem bei der Arbeit im Muftiamt ergab sich daraus, dass esdort kein Archiv im engeren Sinne gab. Vielmehr handelte es sich um einzelne Berichte,Informationshefte, Broschüren, Dokumentationen und Statistiken, die in den einzelnenAbteilungen des Muftiamtes gesammelt und aufbewahrt werden. Als hilfreich erwies sichin diesem Zusammenhang der Kontakt zu zwei der stellvertretenden Obermuftis – demLeiter des Medienzentrums des Muftiamtes, Birali Birali, und dem Leiter der Abteilung„Islamische Bildung“, Vedat Ahmed, – die mir nicht nur schriftliches Material, CDs undmündliche Informationen zur Verfügung stellten, sondern auch durch ihre Kontakte denZugang zu anderen Abteilungen ermöglichten.

8 Dazu gehören u.a.: <www.Islam-bg.net>, <http://islam.forumup.com>, <http://ikra.ucoz.net/>,<http://islqmrudozem.ovo.bg/>, <www.dobraduma.com>, <www.muslimabg.com>,<http://islam.start.bg/> (Juni 2014).

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Einleitung10

Im Verlauf der Forschungsaufenthalte war insbesondere das Jahr 2010 durch Spannun-gen gezeichnet, die Einfluss auf die vorliegende Arbeit genommen haben. Zu erwähnen istdie Entscheidung des bulgarischen Obersten Kassationsgerichtshofes vom 12. Mai 2010,durch die der von den bulgarischen Muslimen gewählte Obermufti (das religiöse Oberhauptder bulgarischen Muslime), Mustafa Hadži, abgesetzt wurde und an seiner Stelle der ehe-malige Obermufti, Nedim Gendžev (von 1986 bis 1992 Obermufti), in das Amt zurück-kehrte. Er stammte aus der Zeit des kommunistischen Diktators Todor Živkov und warunter anderem in der damaligen Staatssicherheit tätig. Bulgarische Muslime und Geistlichekritisierten das Gerichtsurteil heftig. Die umstrittene Entscheidung löste nicht nur eineProtestwelle unter weiten Teilen der Muslime aus, sondern hatte zur Folge, dass das Obers-te Muftiamt in Sofia für mehr als sechs Monate geschlossen blieb. Das war wiederrum miterheblichen Schwierigkeiten verbunden, die geplanten Gespräche mit Vertretern dieserBehörde zu führen. Schließlich wurde am 6. Oktober 2010 eine Razzia durch die General-staatsanwaltschaft und die Staatliche Agentur für Nationale Sicherheit in Bulgarien durch-geführt, in deren Verlauf bulgarische Imame, Muftis und islamische Lehrer verhaftet sowieihre Wohnungen und Büros durchsucht wurden. Vorgeworfen wurde ihnen „das Verbreitenanti-demokratischer Ideologie“ sowie „religiöse Hasspredigen“.9 Für meine Forschunghatte dies zur Folge, dass weitere schriftliche Quellen – islamische Bücher, Broschüren,Berichte und CDs – nicht mehr eingesehen werden konnten, da sie sich als „Beweismateri-al“ bei der Staatsanwaltschaft befanden. Darüber hinaus waren viele meiner Gesprächs-partner durch die Ereignisse verunsichert, so dass es schwierig war, andere Themen, als dasaktuelle Geschehen anzusprechen. Zugleich konnte ich aber auch unmittelbar erleben, wieleicht empirisch ungeprüfte Behauptungen in die bulgarische Öffentlichkeit gelangten. AmVorabend der Aktion der Staatssicherheit verbrachte ich den Nachmittag (5. Oktober 2010)im Medienzentrum des Muftiamtes, der einzigen Abteilung, die zu dieser Zeit nicht ge-schlossen war. Zur selben Zeit hielt sich dort auch der Regionalmufti von Smoljan, NedžmiDabov, auf. Er war nach Sofia gekommen, um die Gehälter für die Imame seiner Regionabzuholen. Da wegen des Gerichtsstreits um die Führung der bulgarischen Muslime nichtnur das Muftiamt geschlossen blieb, sondern auch dessen Konten gesperrt waren, war diesfür ihn der einzige Weg, Auszahlungen für das Personal zu erhalten. Am nächsten Tagwurde Dabov zusammen mit 12 weiteren Personen bei der Razzia verhaftet. Als ich dann inder Presse las, dass eine „bedeutende Summe“ bei ihm aufgefunden wurde, die (wie auchsonst) von „radikalen ausländischen Organisationen“ käme,10 konnte ich hautnah erleben,wie verantwortungslos Vermutungen als Tatsachen in den Medien verbreitet wurden, ohnedass sie vorher irgendwelcher kritischer Überprüfung unterzogen wurden.

9 Siehe dazu Okrăžen săd Pazardžik, Predstojašti za razgleždane nakazatelni dela, NOHD [Strafverfah-ren] Nr.330/2012, 26. September 2012, ersichtlich unter: <www.court-pz.info/press/2409-2909n.doc>(14.08.2013). Zu der Aktion der Staatssicherheit siehe „Wir wollen keine Almosen, sondern unsereRechte“ (Kapitel II).

10 Siehe stellvertretend: DANS udari radikalni isljmisti, in: 24 časa vom 06. Oktober 2010; Razbiha isl-jamistka kletka v Bălgarija, in: Ataka, 06. Oktober 2010; MVR i DANS pretarsiha rodopski sela v akcijasreštu radikalnija isljam, in: Dnevnik, 06. Oktober 2010; Kletka na radikalni isljamisti dejstvala u nas,in: Dnes, 06. Oktober 2010; V Smoljansko se izvaršva specializirana operacija sreštu neregistriranijabălgarski klon na isljamiska organizacija, in: Fokus, 06. Oktober 2010.

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Theoretischer Rahmen, Fundamentalismusbegriff und Analyseansatz 11

Ein weiterer Schwerpunkt der Untersuchung lag auf den lokalen islamischen Vereinenund muslimischen Netzwerken, die sich um einige örtliche Moscheen gruppierten. Zu die-sem Zweck besuchte ich muslimische Siedlungen in den Gemeinden Sofia, Smoljan, Ma-dan, Rudozem, Razgrad und Kardžali, wo ich Kontakte zu Vertretern der Stiftung fürFreundschaft und Bruderschaft Ahmed Davudoglu (Sofia), der muslimischen OrganisationIkra (Madan), zur Union der Muslime Bulgariens (Sofia, Velingrad) sowie zu den Mitglie-dern der 2008 aufgelösten Organisation für islamische Entwicklung und Kultur (Smojan,Rudozem) knüpfte. Diese Kontakte ermöglichten mir den weiteren Zugang zu lokalen mus-limischen Netzwerken und vermittelten wichtige Eindrücke in die dynamisch verlaufendenProzesse der inneren Differenzierung in den einzelnen muslimischen Gemeinden. Besonde-rer Dank gilt hier der Redakteurin der Zeitschrift Mjusjulmansko obštestvo, Hadžer F. (Ru-dozem), die mir nicht nur mit großer Gastfreundschaft begegnete, sondern auch Verbindun-gen zu Frauennetzwerken in Rudozem, Madan und Smoljan ermöglichte, an deren Treffenin der Moschee ich gelegentlich teilnahm.

Informationen über Ausländerkontakte der bulgarischen Muslime sowie über die inBulgarien etablierten islamischen NGOs ergaben sich ferner aus Berichten des Muftiamtessowie Interviews mit Mitgliedern islamischer Hilfsorganisationen. Überprüfen konnte icheinen Teil dieser Informationen durch Angaben der Direktion für religiöse Angelegenheitenbeim Ministerrat, die für die Aufsicht und (bis 2003) die Registrierung religiöser Institutio-nen und NGOs in Bulgarien zuständig war. Auch hier waren die vorhandenen Informatio-nen nicht in Archiven gesammelt worden, so dass sie nur als einzelne Berichte oder münd-liche Mitteilungen zitiert werden können. Nicht zuletzt waren Informationen über die inBulgarien tätigen ausländischen wie auch einheimischen Vereine aus dem amtlichen Regis-ter des Justizministeriums zu entnehmen, in dem zugelassene Handelsunternehmen undgemeinnützige Organisationen (seit 2003) eingetragen werden.

Um mir ein Bild über die Verbreitung islamischer karitativer Einrichtungen in den be-nachbarten Balkanländern machen zu können, benutzte ich zudem sekundäre Literatursowie Berichte und Internetseiten internationaler Hilfsorganisationen und NGOs, die in derBalkanregion nach dem Bosnien-Krieg (1992-1995) tätig waren. Schriftliche Quellen wieBeschlüsse bulgarischer Gerichte und des Europäischen Gerichtshofes sowie Ergebnisseinternationaler Umfragen zur Religiosität im östlichen Europa (u.a. World Values Surveyund European Values Study) wurden ebenfalls berücksichtigt. Besonders für aktuelle Er-eignisse und Islam-bezogene Debatten in der Öffentlichkeit waren Printmedien wie Wo-chen- oder Tageszeitungen ergiebig und hilfreich. Obwohl die Untersuchung sich vorwie-gend auf die muslimische Elite in Bulgarien fokussierte, ermöglichten die Begegnungen,Gespräche und Beobachtungen im dörflichen Milieu, auch unterschiedliche Facetten religi-öser Alltagspraxis fernab vom urbanen Treiben kennenzulernen.

3. Theoretischer Rahmen, Fundamentalismusbegriff und Analyseansatz

Die Untersuchung von Prozessen religiöser Erneuerung im postkommunistischen Bulgariensowie die Beantwortung der Frage, ob im bulgarischen Kontext von „salafistischen“, „fun-damentalistischen“ oder „islamistischen“ Tendenzen unter Teilen der muslimischen Bevöl-kerung gesprochen werden kann, bedarf einer theoretischen Auseinandersetzung mit diesen

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Einleitung12

Begriffen. Die Begriffsbestimmung bringt aber zugleich eine Reihe methodologischerProbleme mit sich. Dabei ist festzustellen, dass das Thema von verschiedenen Autoren(Muslime wie Nichtmuslime, innerhalb wie außerhalb der Region) häufig instrumentalisiertwird, indem selektierte oder missinterpretierte Daten vermittelt werden. In den meistenFällen geht es darum, einen „Gegner“ zum „Islamisten“ oder zum „Radikalen“ zu stempeln,da diese Begriffe eine negative Bewertung beinhalten. Ein anderes Problem besteht darin,dass jene Gruppierungen und Individuen, die den Islam zu einer auf Abgrenzung und Into-leranz gerichteten Ideologie erhoben haben, abgeschlossen wirken und daher nur schwer zuerreichen sind. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Definition der Begriffe selbst.Sowohl „Fundamentalismus“ als auch „Islamismus“ haben verschiedentlich Kritik erfahrenund es ist legitim zu fragen, worauf sie sich beziehen.11

So entstand der Begriff des „Fundamentalismus“ im Kontext des protestantischen Ame-rikas des frühen 20. Jahrhunderts und suggeriert eine Analogie zum christlichen Fundamen-talismus in seiner protestantischen Form. Diese Bewegung, die zum Teil den Fundamenta-lismusbegriff als Selbstbezeichnung übernahm, bekämpfte eine Reihe moderner Phänome-ne, wie etwa die Bibelkritik, den Evolutionismus, die Frauenemanzipation, den Sozialismusund generell die Kultur moderner Großstädte. Dagegen vertrat sie eine buchstabentreueLesart der Bibel.12 Heute wird der Fundamentalismusbegriff als Fremdbezeichnung auchauf Bewegungen außerhalb der protestantischen Tradition angewandt. Als typische Attribu-te des Fundamentalismus werden unter anderem der Glaube an die strenge, wortgetreueGültigkeit von Überlieferungen, die Ablehnung des modernen Säkularismus, der Wille zurBildung einer alternativen Gesellschaft und die Dichotomisierung der Welt genannt. DerFundamentalismus hat sich aber zugleich zu einem negativen politischen Schlagwort ent-wickelt, das häufig zur Delegitimierung und Stigmatisierung religiöser Gruppen und Bewe-gungen eingesetzt wird.13

In Bezug auf islamische Bewegungen wird der Fundamentalismus allgemein als dieRückkehr zu den Fundamenten der Religion, zu einer angeblich unverfälschten Auslegungder Quellen des Islam, vor allem des Korans angesehen. Die heiligen Schriften werdenwörtlich ausgelegt und als rigide Richtlinien für Verhaltensweisen in jedem Bereichmenschlichen Lebens verstanden. Unter dieser Prämisse wurde häufig eine Bewegung odereine Geisteshaltung verstanden, die sich gegen die Moderne und ihre Folgen richtet. Bei

11 Siehe exemplarisch zu den beiden Begriffen: Marty, Martin/ Scott Appleby (Hg.), The FundamentalismProject, 5. Bde, Chicago (u. a.): The Univ. of Chicago Press, 1991–1995; Scott Appelby, The Ambiva-lence of the Sacred: Religion, Violence, and Reconciliation, Carnegie Commission on PreventingDeadly Conflict, Lanham [u.a.]: Rowman & Littlefield Publishers 1999; David Zeidan, The Resurgenceof Religion, A Comparative Study of Selected Themes in Christian and Islamic FundamentalistDiscourses, Leiden [u.a.]: Brill, 2003; Martin Riesebrodt, Die fundamentalistische Erneuerung derModerne, in: Kilian Kindelberger (Hg.), Fundamentalismus. Politisierte Religionen, Potsdam:Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, 2004; Emmanuel Sivan, Radical Islam.Medieval Theology and Modern Politics, New Haven/ London: Yale University Press, 1990.

12 Riesebrodt, Die fundamentalistische Erneuerung, 12.13 Siehe dazu: Mark Juergensmeyer, Antifundamentalism, in: Martin E. Marty/ R. Scott Appleby (Hg.),

Fundamentalisms Comprehended, Chicago: University of Chicago Press, 1995, 353-366; GabrielAlmond/ Scott Appleby/ Emmanuel Sivan, Strong Religion: The Rise of Fundamentalism around theWorld, Chicago: Chicago University Press, 2003 sowie Jamal Malik, Islamischer Fundamentalismusoder politischer Islam, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 11-12 (2001), 686-693.

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Fundamentalisten handelt es sich jedoch nicht einfach um Traditionalisten oder „Gegnerder Moderne“, sondern um Menschen, die ihre religiöse Tradition unter dem Einfluss einerdramatisch empfundenen Krise in Auseinandersetzung mit Aspekten der westlichen Mo-derne neu definieren.14 Fundamentalistische Bewegungen sind demzufolge durchaus einBestandteil der Moderne. Sie reagieren auf deren Auswirkungen, vor allem auf die Säkula-risierung und eine zunehmende soziokulturelle Orientierungslosigkeit. Sie richten sich auchauf die Zukunft. Martin Riesebrodt unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Be-wegungen, die restaurativ-fundamentalistisch sind und solchen, die reformistisch oder sozi-al-revolutionär sind.15 Während die Reformer die Gesellschaft „renovieren“ wollen unddeshalb als „utopisch” zu bezeichnen sind, wollen die Fundamentalisten die Gesellschaftrestaurieren, indem sie die Urgemeinde und die Gebote ihres Stifters wortwörtlich verwirk-lichen. Ihr Denken bezeichnet Riesebrodt als „mythisch”, im Sinne des Glaubens an einekonkrete, unwandelbare ewige Wahrheit. Der Hinweis auf eine Rückkehr zu den Funda-menten des Islam ist aber so allgemein, dass die Existenz unterschiedlicher Auslegungs-und Lebensformen des Islam dadurch nicht ausreichend berücksichtigt werden können. Mitden klassischen Quellen des Islam, dem Koran und den hadith (Propheten-Traditionen)lassen sich ja sehr unterschiedliche Strategien ausmachen, die sich besonders in ihrem Ver-hältnis zu Andersdenkenden und Nichtgläubigen wesentlich unterscheiden können. Ausdiesem Grund und wegen seiner politischen Instrumentalisierung ist es nicht unproblema-tisch, den Begriff Fundamentalismus als analytische Kategorie zu benutzen.

In der wissenschaftlichen Literatur werden für islamischen Fundamentalismus auch an-dere Begriffe, wie Salafismus und Wahhabismus, verwendet. Salafismus ist in der Gegen-wart der am meisten benutzte Ausdruck.16 Als Salafismus wird eine Strömung in der isla-mischen Geistesgeschichte bezeichnet, deren Anhänger sich die frommen Altvorderen(arab. as-salaf as-salih, die Gründungsgeneration des Islam) zum Vorbild genommen ha-ben, deren idealisierte Lebensweise nachgeahmt werden sollte. Der Begriff wurde zunächstauf eine Richtung des Reformislam angewandt, welche sich um die Wende zum 20. Jahr-hundert in islamischen Mehrheitsgebieten als Antwort auf die westliche koloniale Expansi-on herausgebildet hatte. Den islamischen Reformisten (Muhammed Abduh, Jamal ad-Dinal-Afghani und Rashid Rida) ging es vor allem darum, durch den Rückgriff auf den Korandie zivilisatorische Krise, in der sie die islamischen Gesellschaften sahen, zu überwindenund dem Islam den Weg in die Moderne zu öffnen. Im Verlauf der Geschichte hat sich dieBedeutung des Begriffs jedoch enorm erweitert, so dass der Salafismus der Gegenwartkaum noch Ähnlichkeiten mit dem reformistischen Salafismus des 19. Jahrhunderts hat. Imheutigen Kontext bezeichnet der Salafismus ein heterogenes Spektrum entterritorialisierterneofundamentalistischer Bewegungen, das von konservativen bis zu militanten Gruppie-

14 Vgl. in diesem Zusammenhang noch das Durkheims Anomie-Konzept. Émile Durkheim, DerSelbstmord, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990 [Orig. 1897]; Ders., Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurta. M.: Suhrkamp, 1992 [Orig. 1893].

15 Riesebrodt, Die fundamentalistische Erneuerung, 14.16 Siehe dazu u.a. Werner Ende, Salafiyya, in: Encyclopaedia of Islam, Leiden [u.a.]: Brill, Bd. 8, 1995,

900-909; Behnam Said/ Hazim Fouad (Hg.), Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam,Freiburg im Breisgau: Verlag Herder, 2014; Rüdiger Lohlker/ Amr El Hadad/ Philipp Holtmann u.a.,Transnationale Aspekte von Salafismus und Dschihadismus, HSFK-Report Nr. 5(2016), Frankfurt/M.

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Einleitung14

rungen reicht. Gemeinsam sind ihnen die Ablehnung historisch entwickelter islamischerTraditionen und die Forderung nach einem entkulturalisierten Islam.

Der Salafismus ist nicht zuletzt vom saudi-arabischen Wahhabismus beeinflusst wor-den, einer konservativ-puritanischen sunnitischen Richtung des Islam, die im 18. Jh. auf derArabischen Halbinsel entstandenen ist und sich an den Schriften des Gelehrten MuhammedIbn ‘Abdalwahhab (1703–1792) orientiert. Kennzeichnend für ihre Ideologie ist eine schar-fe Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Als gläubig gilt derjenige, der dieVerhaltensvorschriften der Wahhabismus minutiös befolgt und ihre theologischen Ansich-ten vorbehaltlos teilt. Die Wahhabiten geben ebenso wie die Salafisten vor, dem Musterbildeiner muslimischen Ur- und Idealgesellschaft nachzueifern, wie sie im 7. und 8. Jahrhun-dert bestand. In Saudi-Arabien ist der Wahhabismus Staatsdoktrin.17

Da der Salafismus gegenwärtig nicht mehr als ein globales Projekt zur Reform und Mo-dernisierung muslimischer Gesellschaften verstanden werden kann, hat Oliver Roy, denBegriff des „Neofundamentalismus“ vorgeschlagen, um somit die neueren Entwicklungenberücksichtigen zu können.18 „Warum ‚neo‘?“ – fragt Roy in seiner Studie „Der islamischeWeg nach Westen“. Der Ruf nach einer Rückkehr zu den wahren Lehren des Islam sei nichtneu und die Ablehnung sektiererischer Gruppen und der verschiedenen Rechts- und theolo-gischen Schulen zugunsten einer starken Rückkehr zum Koran und zur Sunna sei eine stän-dige Charakteristik des islamischen Fundamentalismus.19 Es gäbe jedoch einige Kompo-nenten, die für den Begriff des Neofundamentalismus spezifisch seien. Dazu gehöre nebeneiner Entterritorialisierung des Islam auch die extreme Kulturfeindlichkeit neofundamenta-listischer Bewegungen. Der Islam sei nicht mehr in einer konkreten Gesellschaft eingebettetund deshalb offen für eine Reform.20

Für Roy stellt der Neofundamentalismus (ein Synonym für den heutigen Salafismus)keine strukturierte Bewegung dar, die über eine kohärente Doktrin verfügt; sie ist vielmehreine Form der Religiosität, die sich in ganz unterschiedlichen Milieus ausbreitet und auchverschiedene politische Verhaltensweisen zeigen kann.21 Neofundamentalismus ist dennochdurch einige Merkmale gekennzeichnet, die ihn von anderen Bewegungen abgrenzen. Soweisen Neofundamentalisten die Vorstellung zurück, dass es verschiedene Rechtsschulenim Islam geben könne, sie lehnen jegliche Formen des „lokalen“ Islam ab und halten sichfür die einzigen „wahren Muslime“.22 Neofundamentalisten betonen die EinzigartigkeitGottes (tawhid), bekämpfen alle Arten von Neuerungen im Glauben (bida’) und die „Bei-gesellung“, womit gemeint ist, Gott etwas gleichwertig zur Seite stellen zu wollen (shirk).

17 Wahhabismus ist eine Fremdbezeichnung. Die Anhänger von Muhammad Ibn ‘Abdalwahhab sebstbezeichnen sich als Muwahhidun (Einheitsbekenner). Siehe u.a. Ende, Salafiyya, 900-909; Olivier Roy,Globalized Islam. The Search for a New Ummah, New York: Columbia University Press, 2004 sowieAhmad Moussalli, Wahhabism, Salafism and Islamism, Beirut/London/Washington: AmericanUniversity of Beirut, 2009.

18 Olivier Roy, Der islamische Weg nach Westen: Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung,München: Pantheon-Verlag, 2006, 230.

19 Roy, Der islamische Weg, 230ff.20 Olivier Roy, Religiöse Erneuerung und politischer Radikalismus, in: Krzysztof Michalski (Hg), Woran

glaubt Europa?, Wien: Passagen-Verlag, 2007, 155-170.21 Roy, Der islamische Weg, 229.22 Ebda.

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Sie stellen sich gegen jede „blinde Nachahmung“ (taqlid) und lehnen insgesamt alle Zusät-ze zu einer strikten und buchstäblichen Lesart des Koran und der Sunna ab. Die Bekämp-fung der bida’ (unlautere Neuerungen im Glauben) ist ein zentraler Aspekt des Neofunda-mentalismus. Roy weist darauf hin, dass Anhänger des Neofundamentalismus vom Konzeptder bida’, der „unzulässigen Erneuerung“, die sie mit Häresie gleichsetzen, regelrecht „be-sessen“ sind.23 Dies führt unter anderem dazu, dass dauerhafte Debatten zu den kleinstenDingen des Alltages, wie zum Beispiel zu Kleidungs- und Körperpflegefragen, in geradezuobsessiver Weise stattfinden. Ein weiterer Aspekt ist die Debatte über takfir, die Erklärungzum Ungläubigen: reicht das Glaubensbekenntnis (shahada) aus, um als Muslim gelten zukönnen? Oder führen Sünden dazu, dass der durch sie ungläubig Gewordene aus der Ge-meinschaft der Muslime ausgeschlossen wird (takfir)? Viele der Neofundamentalisten leh-nen das takfir ab und bevorzugen stattdessen das Konzept der da`wa, des „Rufs zum Glau-ben“, um „irrende“ Muslime auf den wahren Weg zurückzuführen. Neofundamentalistenwenden sich in der Regel gegen politische Aktivitäten und betrachten es als unzulässig,einer Partei beizutreten (dies unterscheidet sie von den Islamisten). Sie treten für eine strik-te Umsetzung der Scharia ein, ohne Konzessionen an die von Menschen geschaffenen Ge-setze zu machen. Hauptziel der Neofundamentalisten ist die Wiederherstellung der „Rein-heit“ muslimischer Kulturen. Für sie ist der Islam eine „bloße“ Religion, die ihre Reinheitverlöre, wenn man sie in eine spezifische Kultur einbetten würde.24 Neofundamentalistenführen deshalb einen Kampf gegen volkstümliche Bräuche und traditionelle Überlieferun-gen. So wenden sie sich unter anderem gegen „Heiligenkulte“ und lehnen spezielle Begräb-nisriten ab.

Salafismus ist aber auch eine sehr heterogene Strömung. Zwar lehnen die meisten Sa-lafisten eine politische Vertretung ab. Indem sie die Gesellschaft verändern wollen undandere Weltanschauungen abwerten, verfolgen sie zugleich eine politische Agenda. Dar-über hinaus gibt es inzwischen Vertreter dieser Strömung, die offen gegen muslimischeHerrscher opponieren (etwa in Saudi-Arabien) und sich aktiv in die Politik einbringen. Diesgeschieht auf parlamentarischem oder auch außerparlamentarischem Weg (z.B. in Ägyptenoder in Kuwait). Um diese Vielfalt zu operationalisieren, hat der US-PolitikwissenschaftlerQuintan Wiktorowicz eine dreiteilige Kategorisierung erarbeitet.25 Es lassen sich dreiHaupttypen salafistischer Gruppierungen unterscheiden: Die Puristen, die politischen Sala-fisten und die salafistischen Dschihadisten. Während die puristischen Salafisten in ersterLinie Missionierungsarbeit betreiben und deshalb als „apolitisch“ gelten, stellen die politi-schen Salafisten, auch Mainstream-Salafisten genannt, die demokratische Grundordnung inFrage. Sie zielen darauf ab, ihre extremistische Ideologie maßgeblich auf dem Weg derpolitischen und gesellschaftlichen Einflussnahme zu verbreiten. Besonders gefährlich sinddie salafistischen Dschihadisten, die Gewaltanwendung im Namen Gottes befürworten. Dergrößte Teil der Salafisten ist aber gewaltfrei.

Auch wenn die Grenze zwischen Neofundamentalismus und Islamismus fließend ist,handelt es sich beim Islamismus um eine Herrschaftstheorie. Der Islamismus tritt nicht

23 Roy, Der islamische Weg, 240.24 Roy, Der islamische Weg, 254.25 Quintan Wiktorowicz, Anatomy of the Salafi Movement, in: Studies in Conflict & Terrorism, Vol. 29,

Issue 3, 2006, 207-239. Diese Teilung wird nicht von allen Wissenschaftlern akzeptiert.

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durch besondere Buchstabengläubigkeit hervor, sondern agiert eher offen politisch. DieIslamisten vertreten die These, dass die von Gott vorgegebene Lebensführung nur im Rah-men einer „islamischen Ordnung“ verwirklicht werden kann. Der Islam verlangt zwingenddie Anwendung der Scharia. Im Gegensatz zu den Neofundamentalisten, die alle Demokra-tie- und Freiheitskonzepte verdammen, möchten die Islamisten beweisen, dass der Islamwegen seines Konzepts der „Schura“ (Beratung) eine Form der Demokratie darstelle. Is-lamismus bezeichnet eine (islamisch gefärbte) politische Ideologie.26 Als Begründer desIslamismus gelten Hasan al-Bannā´ (1906–1949), der 1928 die Vereinigung der Muslim-brüder gründete, und Sayyid Abu l-Ala Maududi (1903–1979). Eine weitere Person, derengeistiger Einfluss bis heute insbesondere bei radikalen Gruppen nicht zu unterschätzen ist,ist der Ägypter Sayyid Qutb (1906–1966).27

Nicht alle Islamisten sind dem radikalen Spektrum zuzurechnen. An ihrer Spitze stehenjedoch radikale Vertreter dieser Strömung, die nicht davor zurückschrecken, Gewalt anzu-wenden. Zu berücksichtigen ist zudem, dass es verschiedene Umstände, zu denen äußeresoziale und politische Bedingungen gehören, gibt, die dazu beitragen, dass eine islamischeBewegung sich dem Radikalismus zuwendet.28 Eine radikale Strömung, die zur Anwen-dung militärischer Gewalt bereit ist und Gewalt als wichtigstes Merkmal ihrer Identitätversteht, ist der Dschihadismus.29

Diese theoretischen Abgrenzungen reichen jedoch noch nicht aus, um die im Rahmeneiner konkreten Untersuchung beobachteten Phänomene in den vorgegebenen theoretischenRahmen einzuordnen. Die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer stellt fest, dass in derRealität die Grenzen zwischen den „normalen“ Gläubigen und den „Fundamentalisten“ –gerade wenn es nicht um Gewalt geht – nicht immer einfach zu erkennen sind.30 Mit Aus-nahme erklärter Atheisten bemühen sich gläubige Muslime in der Regel, ihre Haltung „is-lamisch“ zu begründen, indem sie ihre Auffassungen auf Koran und Sunna stützen. Sie allegehen davon aus, dass der Islam eine bestimmte Lebensführung begründet. Die Neofunda-mentalisten, ähnlich wie die Islamisten, gehen jedoch einen Schritt weiter, indem sie alsFundament aller Normen und Werte einzig und allein Koran und Sunna gelten lassen. Das

26 Die Unterscheidung zwischen dem Islamismus einerseits und dem Neofundamentalismus andererseitswird u.a. von Oliver Roy getroffen. Islamismus ist demnach eine Variante des politischen Aktivismus,die nach politischer Macht strebt und auf die Errichtung eines islamischen Staates abzielt. Neofunda-mentalismus (oder Salafismus) bezeichnet hingegen den Versuch, islamische Idealgesellschaften nachdem Muster der Frühzeit der Muslime zu schaffen, dies aber nicht durch die Machtübernahme, sonderndurch einen Wandel des sozialen, kulturellen und ökonomischen Lebens. Roy, Der islamische, 244ff.

27 Spätestens seit Sayyid Qutb propagieren radikale Islamisten einen offensiven kämpferischen Dschihad,den sie zu einer individuellen Pflicht erklären. Dieser sollte sich zunächst gegen die unmoralisch han-delnden arabischen Herrscher richten und zielt aktuell auch auf die kulturelle, wirtschaftliche und politi-sche Vorherrschaft des Westens, die die Muslime in die Defensive gebracht habe.

28 Lisa Anderson, Fulfilling Prophecies: State Policy and Islamist Radicalism, in: John Esposito (Hg.),Political Islam: Revolution, Radicalism, or Reform?, London: Boulder, 1997, 17-31.

29 Zu einer globalen Bewegung wurde der Dschihadismus erst durch den Afghanistankonflikt in den1980er Jahren. Siehe mehr dazu Rüdiger Lohlker, Dschihadismus – eine religiös legitimierte Subkulturder Moderne, in: Religionen unterwegs Nr 1/ Jg 21 (2015).

30 Gudrun Krämer, Wettstreit der Werte: Anmerkungen zum zeitgenössischen islamischen Diskurs, in:Hans Joas Klaus Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt am Main: Fischer, 2005,469-493.

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richtet sich nicht zuletzt gegen Muslime. Sie erkennen einen Fundus gemeinsamer mensch-licher Werte nicht an. Das beleuchtet das Radikale und zugleich das Utopische ihres Ansat-zes31 und dieser totale Ausschluss Andersdenkender kann als Abgrenzungskriterium bei derAnalyse dienen. Die Neofundamentalisten sind nicht mit den „Traditionalisten“ oder „Or-thodoxen“ gleichzusetzen, die sich ebenfalls auf die möglichst genaue Einhaltung und An-wendung des Korans und der Prophetentraditionen konzentrieren. Die bida’ (Innovation)wird von allen Fundamentalisten verabscheut.

Mit Ausnahme des „Islamismus“ und des „Dschihadismus“ werden in der vorliegendenArbeit all die oben erwähnten Begriffe angewandt, wobei in jedem einzelnen Fall differen-ziert vorzugehen ist. Ich bevorzuge von Fundamentalisten (ohne „neo“), Reformern odereinfach religiösen Erneuerern zu sprechen, da diese Bezeichnungen nicht auf das obenerwähnte Abgrenzungskriterium abzielen. So habe ich im Verlauf meiner Forschungsauf-enthalte bulgarische Muslime getroffen, die als „Fundamentalisten“ oder als konservativ-orthodoxe Muslime bezeichnet werden können, aber weit davon entfernt sind, als Neofun-damentalisten oder Salafisten eingestuft zu werden. Reicht die Ablehnung eines bulgari-schen Imams, einen Verstorbenen mit einem Sarg oder mit einem nichtmuslimischen Na-men zu bestatten, um ihn als „Neofundamentalisten“ zu bezeichnen? Diese Haltung trägtsicher fundamentalistische Züge in sich, da der Imam sich bei seiner Entscheidung nachislamischen Quellen richtet. Ihr fehlen jedoch der o.g. totale Ausschluss Andersdenkendersowie die Ablehnung aller anderen Quellen von Normativität. Ähnliches lässt sich in Bezugauf solche Muslime feststellen, die das Mitfeiern nichtmuslimischer Feiertage wie Weih-nachten und des Neuen Jahres, des christlichen Georgstags oder des am 8. März gefeiertenFrauentages ablehnen. Soweit sich diese Muslime zu der hanafitischen Schule bekennenund andere Religionen wie auch Menschen, die nicht religiös sind, respektieren, können sienicht als Salafisten bezeichnet werden. Zu berücksichtigen ist zudem, dass eine Reihe reli-giöser Innovationen (bida’) in Bulgarien infolge diskriminierender und religionsfeindlicherMaßnahmen des kommunistischen Regimes entstanden ist. In einzelnen Fällen, wie zumBeispiel der Annahme oder der Ablehnung eines nichtmuslimischen Namens oder der Ver-wendung von Särgen bei einem Begräbnis, hat dies eher mit identitären als mit religiösenFaktoren zu tun.

Die Verwendung des Begriffs des Neofundamentalismus in Bezug auf konkrete Perso-nen oder Gruppierungen ist daher vorsichtig zu handhaben. Ist ein Muslim, der die Recht-schulen im Islam verneint und sich gegen „lokale“ Formen des Islam wendet, automatischein Salafist? Der Leiter der Union der Muslime in Bulgarien, Ali Hairaddin, um den es imKapitel II. (Gespalten durch die Vereinigung) gehen wird, hat sich zugleich an der Grün-dung einer politischen Partei beteiligt und anschließend einen Verein ins Leben gerufen, dersich für die Integration der Muslime sowie für den Dialog in der bulgarischen Gesellschafteinsetzt. Einerseits hebt er die Bedeutung des Korans für das Leben der Muslime hervor,andererseits lehnt er jedoch eine buchstäbliche Lesart islamischer Quellen ab und setzt sichfür säkulare Bildung ein. Auch hier fehlt die Überzeugung, dass die besagte Person deneinzig „wahren“ Islam vertritt und weitere Handlungsoptionen, die für Muslime wie auchNicht-Muslime offen stehen, ablehnt.

31 Krämer, Wettstreit der Werte, 476.

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Wenn im Folgenden von Neofundamentalismus die Rede sein wird, dann handelt essich vorwiegend um Tendenzen beziehungsweise um Teilkomponenten, die der neofunda-mentalistischen Lehre zugeordnet werden können. Die einzige „echte“ Salafistin, die ich„virtuell“ in einem islamischen Forum (www.Islam-bg.net) im Internet traf, war eine bulga-rische Muslimin in der Diaspora (England), die die anderen Teilnehmer des Forums mitunzähligen Ausführungen über tawhid (die Einzigartigkeit Gottes), bida’, shirk (Polytheis-mus) und vor allem takfir (die Erklärung zum Ungläubigen) buchstäblich überschüttete, bissie gebeten wurde – zunächst höflich und dann ausdrücklich – die Webseite zu verlassen.

Dass der Zugang zu neofundamentalistischen Gruppierungen nicht einfach ist, bedeutetnoch nicht, dass es keine „Salafisten“ gibt. Andere Muslime nannten mir im Verlauf derForschungsaufenthalte die Namen von fünf Mitgliedern ihrer Gemeinden, die sie als „Sa-lafisten“ einstuften. Ich konnte mit zwei von ihnen Kontakt aufnehmen, wobei nach meinerEinschätzung auch in diesen Fällen nur partiell von „Salafisten“ gesprochen werden kann.Bei einem der benannten Muslime handelte es sich allerdings um einen Vaiz (Prediger, alsojemand, der über Einfluss in seiner Gemeinde verfügt), der sich unter anderem gegen „allzuenge Beziehungen zu Nicht-Muslimen“ stellte. Eine Position, die für bulgarische Muslimerelativ ungewöhnlich ist. Die zweite Person war ein Konvertit, für den der Islam eine indi-viduelle und spirituelle Bedeutung hatte. Zu erwähnen sei noch das Roma-Viertel Iztok inPazardžik (Stadt in Südbulgarien), der einzige zumindest der Autorin bekannte Ort Bulgari-ens, in dem Frauen eine Burka tragen. Hier hat sich eine relativ kleine Gruppe von Anhä-ngern um den charismatischen Anführer Achmed Mussa geschart, die partiell die Zügeeiner salafistischen Subkultur aufweist. Gegen Achmed Mussa wurden zwei Verurteilungenwegen „Mitgliedschaft in der islamistischen Gruppierung Kalifatstaat“ (Kapitel V, 1) so-wie wegen der „Verbreitung antidemokratischer Ideologie“ (Kapitel VII, 6) ausgesprochen.Die Gründe für diese Entwicklung gehen vorwiegend auf die soziale Marginalisierung derBewohner dieses Roma-Viertels zurück und können nicht als symptomatisch für die bulga-rischen Muslime gelten.

In der veränderten Situation nach 1989 lässt sich in Bulgarien viel mehr die Entstehungeiner neuen Generation von Muslimen beobachten, die eine andere Vorstellung davon ha-ben, was es heißt, ein Muslim zu sein, als noch ihre Eltern. „Was ist der Islam?“, „Wasbedeutet der Islam für mich?“, „Was sagt der Islam über …“ sind häufige Fragen, die eineneuartige Reflexion über die eigene Religion vermitteln. Ein Prozess, für den Eickelmanund Piscatori das Konzept der „Objektivierung des Islam“ entworfen haben.32 Die Fähigkeitden Islam zu definieren, wird somit zu einem wesentlichen Aspekt für jeden praktizieren-den Gläubigen. Solche Muslime stellen in Bulgarien nur eine kleine Minderheit dar. Siesind eine relativ neue Erscheinung und ihre Netzwerke sind auf einer freiwilligen Basiskonstituiert. Religiöse Erneuerung vollzieht sich dabei häufig als ein Generationskonflikt.Diese jungen Muslime beklagen die religiöse Unwissenheit ihrer Eltern sowie die Folgenfolkloristischer Traditionen und religiöser Neurungen (bida’), die – nach ihrer Überzeugung– von den „Türken“ geerbt oder während der sozialistischen Zeit aufgedrängt wurden. Mankehrt zur Religion zurück, nicht um die religiöse Tradition der Eltern fortzusetzen, sondernum eigene Interpretationen zu finden. Die Träger solcher Tendenzen nennen sich selbst „dieNeuen“, „die Jungen“, in seltenen Fällen auch „die Eisernen“. Kennzeichnend für sie ist,

32 Dale Eickelman/ James Piscatori, Muslim Politics, Princeton: Princeton Univ. Press, 1996, 38.

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dass sie im Islam nicht nur das bloße Ritual sehen, sondern ihn als eine Gesamtheit vonGesetzen, Normen und Werten verstehen. Der Glaube verlangt nach Taten, was sich inihrem Engagement für Bildung, soziales Wesen oder in anderen Bereichen äußert.33

Der Bedeutungszuwachs der Selbstreflexion und der aktive Einsatz für den Islam istnicht zuletzt auf das Heranwachsen einer jungen Generation von muslimischen Frauen inBulgarien zurückzuführen. Die eingangs der Darstellung zitierten Interviews mit den dreimuslimischen Frauen sind hier beispielhaft. Diese Frauen sind nicht nur jung und fromm,sie fordern auch ihr Recht auf „anderssein“ und möchten ihre Religiosität nicht als Stigmaerleben. Auf lokaler Ebene pflegen sie gute Kontakte zu den örtlichen Imamen und zumBezirksmufti. Bei ihren wöchentlichen Treffen in der Moschee brauchen sie jedoch keineislamischen Autoritäten, um die schriftliche Quellen des Islam zu deuten und selber zuentscheiden, welche islamischen Themen für sie relevant sind. Es scheint, dass diese jungenMusliminnen, die zu kleineren lokalen Netzwerken gehören, einen zweifachen Kampf umAnerkennung führen. Einerseits werden sie mit Misstrauen seitens der säkularen Umgebungkonfrontiert. Andererseits bemühen sie sich um eine bessere Stellung in der muslimischenGemeinde und nicht selten auch innerhalb der eigenen Familie. Dies tun sie insbesonderemit wachsendem religiösem Wissen. Dabei dient der Rückgriff auf die „richtige“ Lesart derreligiösen Quellen dazu, die Ungleichbehandlung von Frauen als kulturbedingte Abwei-chung von Islam zu verurteilen und für eine Gleichstellung vor Gott einzutreten. Religiöszu sein ist in diesem Fall eine Angelegenheit der freien Wahl und zunehmend vom Druckreligiöser Autoritäten entkoppelt. Gerade anhand der Erfahrungen Kopftuch tragenderFrauen lässt sich gut darstellen, wie muslimische Traditionen in säkularisierten Gesellschaf-ten interpretiert, re-interpretiert und modifiziert werden.

Hier ergeben sich durchaus Parallelen zu Entwicklungen in westeuropäischen Gesell-schaften, wie sie von Eickelman, Piscatori und Roy beschrieben wurden. Immer mehr Mus-lime sehen sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, neu zu erfinden und zu definieren, wasdie Religion für sie bedeutet.34 Das neue Verhältnis zur Religion entwickelt sich individuellund generationsabhängig, wobei Religion mehr als das bloße Bekenntnis zu dem „einenGott“ ist. Erhöhte Mobilität von Personen und die Verfügbarmachung islamischen Wissensdurch neue Informationstechnologien verändern den Autoritätsbegriff im Islam und führenzur Laisierung. Bei allen Ähnlichkeiten, die sich zwischen westeuropäischen Gesellschaftenund dem bulgarischen Kontext ergeben – zu denen individuelle Sinngebung, neue Kommu-nikationswege sowie die Stärkung der Partizipationsrechte der Laien gehören – , lassen sichaber auch deutliche Unterschiede feststellen. So sind muslimische Gemeinden in Westeuro-pa infolge der Migration sowie durch eine Loslösung vom angestammten Gebiet und derangestammten Kultur entstanden. Durch Migrationsprozesse kommt es zu einer abruptenTrennung von Religion und Gesellschaft, ein Entwicklungstrend, den Roy als „eines derzentralen Phänomene unserer von wachsenden Migrationsströmen geprägten Zeiten“ be-zeichnet. Nach Roy heißt „Globalisierung“, sich aus bestimmten kulturellen Zusammen-

33 Der Begriff `amal (Tat) hat eine lange Genealogie und ist konstitutiv auch für Salafisten. Siehe dazuBarbara H.E. Zollner, The Muslim Brotherhood. Hasan al-Hudaybi and ideology, London: Routledge2009.

34 Roy, Religiöse Erneuerung, 163.

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Einleitung20

hängen zu lösen und Denkweisen zu entwickeln, die nicht länger an eine bestimmte Kulturgebunden sind.35

In Bulgarien dagegen ist diese Art der totalen Entkoppelung von Religion und Kultur,wie dies in Westeuropa zeitweise infolge der Migration und der Entwurzelung entstandenist, nicht gegeben. Zwar wird auch unter bulgarischen Muslimen – infolge Globalisierungund erweiterter Kommunikationsräume – ein Bezug zu einer imaginären Gemeinschaft derumma36 hergestellt und die Pluralisierung auf der Anbieterseite islamischer Interpretationenbeschleunigt die Individualisierung religiösen Partizipationsverhaltens. Religiöse Praktiken,seien sie gelegentlich oder regelmäßig, finden jedoch weiterhin in einem gesellschaftlichenUmfeld statt, das bekannt und durch soziale Netzwerke geprägt ist. Trotz der religions-feindlichen Diskriminierungsmaßnahmen, die während der sozialistischen Zeit durchge-führt wurden, und der partiellen Erosion traditioneller religiöser Selbstdeutungen, ist derIslam in der sozialen Praxis verwurzelt und stellt auch für nichtpraktizierende Muslime einewichtige Quelle der Identitätsfindung dar. Die Zugehörigkeit zu einer lokalen religiösenGemeinde sorgt zugleich für Solidarität und schafft die Basis für gemeinsam geteilte Wer-te.37 Das Handeln und Positionieren frommer Muslime in Bulgarien findet daher nicht iso-liert statt, es wird durch das soziale Umfeld beobachtet und tagtäglich mit positiven odernegativen Bewertungen konfrontiert. Am Ende des Fastenmonats Ramadan ist es selbstver-ständlich, dass dies der wichtigste Feiertag der lokalen Gemeinde ist. Deshalb nehmen auchviele Mitbewohner an der gemeinsamen Mahlzeit in der Moschee teil, die nicht unbedingtals praktizierende Gläubige bezeichnet werden können. Der Tag des Fastenbrechens, derRamadan-Bairam, ist auch ein Tag, an dem sich die Gemeinde sozial neu konstituiert, andem sich Verwandte gegenseitig besuchen und Streitereien vergessen werden.

Diese soziale, gelebte Bedeutung des Islam darf jedoch nicht mit einer breiten Reislami-sierung der bulgarischen Muslime gleichgesetzt werden. Blickt man auf die individuellenÜberzeugungen, so lässt sich erkennen, dass die Entstehung neuer Formen religiöser Ver-gemeinschaftung nur auf ein kleines Segment beschränkt ist und die Prozesse religiöserErneuerung nicht auf die Gesamtheit der bulgarischen Muslime übertragen werden können.Viele der Muslime, soweit sie überhaupt praktizieren, sind konservativ und gegenüberVeränderungen unaufgeschlossen. Die Mehrheit von ihnen ist einfach dankbar, ihre be-kannten Bräuche und ihre Religion – nach 45 Jahren Atheismus – wieder ausüben zu kön-nen und sie nimmt insbesondere gegenüber einer fundamentalistischen Auslegung der isla-mischen Schrifttradition eine reservierte Stellung ein. Obwohl viele der tätigen Imameinzwischen über eine theologische Bildung verfügen und durchaus wissen, welche Hand-lungen als islamisch „korrekt“ anzusehen sind, halten sie sich lieber an die lokalen traditio-nellen Formen des praktizierten Islam. Mevlid, spezifische Begräbnisriten, „Heiligenkulte“und das Tragen von Amuletten sind nach wie vor unter bulgarischen Muslimen weit ver-breitet. Die Vermittlung islamischer Traditionen im bulgarischen Kontext erweist sich

35 Ebda., 155ff. Dies trifft für die dritte Migrantengeneration aber nicht mehr zu, die eher einen neo-territorialen Diskurs verfolgt. Siehe dazu Jamal Malik, Integration of Muslim Migrants and the Politics ofDialogue: The Case of Germany, in: Journal of Muslim Minority Affairs 33/4 (2013), 495-506.

36 Nilüfer Göle, Islam und europäische Öffentlichkeit“, in: Transit 26 (2003), 158.37 Dies kann aber auch dazu führen, dass „Abweichler“ – auch solche, die nicht religiös sind – unter Druck

gesetzt werden und somit in eine marginale Position gedrängt werden.

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somit keineswegs als ein einseitiger Prozess. Vielmehr lässt sich ein komplexer Aushand-lungsprozess sozialer Wirklichkeit beobachten, bei dem religiöse Spezialisten und Mitglie-der der muslimischen lokalen Gemeinden in einem dialektischen, ja konkurrierenden Ver-hältnis zueinander stehen. Kritik an „volkstümlichen“ Glaubenselementen seitens einzelnerVertreter der Gemeinschaft bedeutet demnach nicht, dass diese Praktiken aus dem Lebender Gemeinden verschwinden.

Um diese Dynamik des religiösen Feldes nachvollziehen zu können, verwende ich beimeiner Untersuchung zwei weitere analytische Konzepte. Zu nennen ist zunächst die Un-tersuchung Pierre Bourdieus über das „religiöse Feld“.38 Dabei beschäftigt Bourdieu insbe-sondere die Frage nach der Struktur des religiösen Feldes in Hinblick auf die Positionen derdort handelnden religiösen Akteure zueinander – aufgrund vorherrschender Macht- undKonkurrenzverhältnisse – sowie die Auswirkung dieser Konstellation auf die Heilsgüter.Unter dem religiösen Feld versteht Bourdieu ein Kräftefeld, das sich zwischen den Inhabernverschiedener religiöser Positionen entspannt.39 Die Akteure konkurrierten darum, die reli-giösen Bedürfnisse bestimmter Laiengruppen zu bedienen und dadurch eine privilegiertePosition im Feld einzunehmen. Sein Konzept berücksichtigt aber auch die „einfachenGläubigen“, die durch ihre Nachfrage religiöse Spezialisten unter Druck setzen. Es sindletztendlich die praktizierenden Muslime, die durch ihre Forderung nach religiösen Hand-lungen und Heilsgütern sowohl islamische Autorität als auch die Formen, welche die religi-ösen Praktiken und Glaubensinhalte zu einem bestimmten Zeitpunkt annehmen, legitimie-ren.40 So entsteht eine umkämpfte Sphäre heterogener und widerstreitender Diskurse, Prak-tiken und Institutionen, die in unterschiedlichen raum-zeitlichen Arenen ausgehandelt wer-den.

Ein weiterer Ansatz zur analytischen Erfassung muslimischer Diversität wurde von Ro-bert Redfield angeboten. Bereits 1956 beschrieb er religiöse Phänomene in einem Verhält-nis von Great und Little Tradition. Die „große Tradition“, so argumentiert er, ist reflektie-rend, orthodox, schriftbezogen sowie bewusst an wichtigen Bildungseinrichtungen derreligiösen Lehre kultiviert, während die „kleine Tradition“ peripher, lokal, populär undunreflektiert sei.41 Die letztere wird vorwiegend von der Landbevölkerung im Alltag prakti-ziert und enthält vielfach Elemente von lokaler Praxis und Tradition. Von Bedeutung istdabei nicht nach einer möglichen Dichotomie zwischen den beiden Traditionen zu suchen,sondern Redfields Hinweis zu folgen, dass zwischen Great und Little Tradition ein kon-stanter Austausch stattfindet. Great Tradition muss vermittelt werden, um zu einer LittleTradition zu werden. Je mehr sich Great Tradition auf die unterschiedlichen Forderungender alltäglichen Praxis einlässt, mit dem Ziel, die Laien an sich zu binden, desto mehr Platzwird es auch für abweichende Sitten und Kulte geben.

Abschließend ist auf die vom amerikanischen Kultur- und Sozialanthropologen TalalAsad entworfenen Konzepte der „diskursiven Tradition“ und „islamischer Orthodoxie“ zu

38 Pierre Bourdieu, Das religiöse Feld, Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz: UVKUniversitätsverlag, 2000, 11-38.

39 Bourdieu, Das religiöse Feld, 19.40 Ebda., 15.41 Siehe Gregory Starrett, Putting Islam to Work: Education, Politics, and Religious Transformation in

Egypt and Richard Eaton, India’s Islamic Traditions, Oxford: Oxford University Press, 2003.

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verweisen, die ebenfalls ein analytisches Instrumentarium für meine Forschungen darstell-ten. Laut Asad besteht der Islam aus Diskursen, die im historischen und gesellschaftlichenKontext eingebettet und nur aus diesem zu verstehen sind. Diese Diskurse, die er als dis-kursive Tradition bezeichnet, haben zum Ziel, ihren Anhängern Leitlinien zu geben, um diekorrekte (und die unkorrekte) Form einer bestimmten religiösen Handlung zu erkennen. Diediskursive Tradition beinhaltet und bezieht sich auf die Gründungstexte des Korans und derhadithe, sie unterliegt aber zugleich einer konstanten Modifikation durch eine sich wan-delnde Umwelt. „Islam ist weder eine einzigartige soziale Struktur, noch eine heterogeneAnsammlung von Glaubenssätzen, Gegenständen, Gebräuchen und Gepflogenheiten. Islamist eine Tradition.“ – so Asad.42 Tradition steht nicht im Gegensatz zur Moderne, sondernwird als ein Konzept verstanden, in dem die Praktiken der Gegenwart über einen Bezug zueiner (imaginierten) Vergangenheit ausgehandelt werden. Die diskursive Tradition ist im-mer eine Tradition im Wandel. Um zu klären, wie im Diskurs entschieden wird, was „kor-rekt“ und „unkorrekt“, was islamisch und nicht-islamisch ist, liefert Asad seine Definitionvon „islamischer Orthodoxie“. Orthodoxie ist für ihn eine besondere Beziehung, eine Be-ziehung der Macht. Überall dort, wo Muslime die Macht haben, die „korrekten“ Praktikenzu bestimmen und durchzusetzen und die „falschen“ zu verurteilen und auszuschließen, istdas – laut Asad – „ein Gebiet der Orthodoxie.“43 Orthodoxie ist nach ihm ein Endproduktlokaler Machtverhältnisse und erhält je nach regionaler Ausprägung verschiedene Bedeu-tungen.

An dieser Stelle möchte ich mich von der Anthropologin Kristen Ghodsee, die sich mitAspekten religiöser Erneuerung unter slawischen Muslimen in Südbulgarien befasst undsich ebenfalls auf Asads Begriff der „Orthodoxie“ bezieht, abgrenzen.44 In ihrer Studie„Muslim Lives in Eastern Europe. Gender, Ethnicity, and the Transformation of Islam inPostsocialist Bulgaria“ untersucht sie muslimische Gemeinden in den Zentralrhodopen(Madan, Rudozem und Smoljan) unter besonderer Berücksichtigung islamischer NGOs undHilfsorganisationen. Sie vertritt die Meinung, dass die neuen Formen des Islam, die sie imRahmen der lokalen Gemeinden beobachtet habe, ein „fremder“ „orthodoxer“ Islam sei, derhauptsächlich von Saudi-Arabien inspiriert und durch islamische Hilfsorganisationen ver-mittelt wurde.45 Ghodsee setzt „Orthodoxie“ mit „Wahhabismus“ gleich und spricht voneinem „arabischen“ Islam, der durch saudi-arabische NGOs und die jordanischen Muslim-brüder unter pomakischen Gemeinden in den Zentralrhodopen gefördert werde und sichgegen spezifische lokale muslimische Traditionen wende.46 Die neuen Interpretationen desIslam sollen deshalb sogar als der „wahre Islam“ von den bulgarischen Muslimen bezeich-net werden, weil sie – so Ghodsee – angeblich von der arabischen Halbinsel, wo der Pro-phet lebte und starb, kämen.47

42 Talal Asad, The Idea of an Anthropology of Islam, in: Occasional Papers Series, Washington, D.C.:Center for Contemporary Arab Studies, 1986, 14.

43 Ebda., 15.44 Kristen Ghodsee, Muslim Lives in Eastern Europe. Gender, Ethnicity, and the Transformation of Islam

in Postsocialist Bulgaria, Princeton: Princeton University Press 2009.45 Ghodsee, Muslim Lives, 14-15.46 Ebda., 15.47 Ebda., 15.

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Im Gegensatz dazu verstehe ich unter islamischer „Orthodoxie“ nicht einen „importier-ten“ Islam saudi-arabischer Prägung, sondern einen Aushandlungsprozess, an dem ver-schiedene Akteure beteiligt sind und bei dem wahhabitischer Einfluss nur einen unterge-ordneten (und eher marginalen) Teilaspekt der Gesamtentwicklung darstellt. NGOs undHilfsorganisationen aus den arabischen Ländern haben eine nicht unbedeutende Rolle beimAnschluss der bulgarischen Muslime an die internationale islamische Szene gespielt. Siehaben auch den Prozess der internen Pluralisierung der Gemeinden beschleunigt. Ihr Ein-fluss ist jedoch begrenzt und es sind vor allem andere islamische Akteure, wie türkischeNetzwerke oder lokale Aktivisten, die eine wichtigere Rolle bei den Prozessen religiöserErneuerung unter bulgarischen Muslimen einnahmen. Wie in der folgenden Untersuchungnoch zu sehen sein wird, konzentrierten sich karitative und missionarische Aktivitäten sau-di-arabischer, sudanischer und kuwaitischer Organisationen vor allem auf die 1990er Jahreund sind im Verlauf des letzten Jahrzehnts immer weniger und immer unbedeutender ge-worden. Dies geschah nicht nur aufgrund restriktiver Maßnahmen staatlicher Behörden(nicht zuletzt auf Druck amerikanischer Politik), sondern auch deshalb, weil diese ausländi-schen Organisationen nur wenig Anhänger unter lokalen Bevölkerungsgruppen gewinnenkonnten. Bis in die Gegenwart findet man zwar auf verschiedenen islamischen WebseitenPredigten saudi-arabischer Missionare, die sich an die bulgarischen Muslime wenden undüber „Sünden und die Qualen der Hölle“ sprechen. Die entscheidende Frage, die sich stellt,ist jedoch: Wer hört auf sie? Welche Plausibilität konnte ihre Botschaft erreichen? Ist esihnen gelungen, durch ihre Forderungen nach einer Purifizierung des bulgarischen Islam,Einfluss auf die lokalen Gemeinden zu nehmen? Darüber hinaus zeichnen sich Revitalisie-rungsbemühungen häufig dadurch aus, dass sie lokale islamische Traditionen angreifen undsie als unislamische Verirrungen kritisierten. Der Prozess einer „Reinigung“ volkstümlicherTraditionen im Islam kann aber nicht automatisch mit Wahhabismus gleichgesetzt werden.Es wäre falsch davon auszugehen, dass die Orthodoxie wahhabitischer Reformer Saudi-Arabiens (auch wenn sie sich ebenfalls gegen Heiligenverehrung, spezielle Begräbnisritenetc. wendet)48 dieselbe ist, als die, die unter bulgarischen Muslimen ausgehandelt wird.

Es muss noch kritisch angemerkt werden, dass der Begriff „Orthodoxie im Islam“ nichtunproblematisch ist, da es im sunnitischen Islam keinen Klerus und keine Hierarchie (wiein der Kirche) gibt. Es hat aber immer eine Körperschaft von Gelehrten gegeben, die U-lema, die eine Hegemoniestellung in der Diskussion um Religion innehatte. Bei aller Kritikliegt die Stärke des Begriffes auch gerade darin, dass er den konkreten gesellschaftlichenKontext ins Zentrum der Betrachtung rückt. Dies ermöglicht sowohl die institutionellen,sozialen und historischen Bedingungen, in denen der Islam praktiziert wird, zu berücksich-tigen als auch danach zu fragen, wie, warum und von wem islamische Tradition ausverhan-delt wird.

4. Stand der Forschung

Durch ihren interdisziplinären Ansatz ist die Arbeit an der Schnittstelle verschiedener For-schungsbereiche situiert. Vom Untersuchungsgegenstand her knüpft sie an die Literatur zu

48 Ebda., 14ff.

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muslimischen Bevölkerungsgruppen im Balkan-Raum allgemein und speziell in Bulgarienan. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa und infolge derkriegerischen Auflösung Ex-Jugoslawiens ließ sich hier eine deutliche Intensivierung derForschung feststellen, auch wenn sie gegenüber der an Integration und Sicherheit orientier-ten Forschung zu Islam und Muslimen in Westeuropa deutlich unterrepräsentiert blieb. DieSonderausgaben der Islamic Studies (1997), Nationalities Papers (2000), Ost-West-Gegeninformationen (2002), der Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit (2005) so-wie der Südosteuropa-Zeitschrift (2007), in denen eine Reihe von Autoren sich unter histo-rischen, anthropologischen oder politologischen Gesichtspunkten mit dem Thema befass-ten, zeigten deutlich dieses erweiterte Interesse.49 Im Mittelpunkt des wissenschaftlichenInteresses standen Aspekte der Re-Definierung ethnisch und religiös begründeter Identitä-ten, Instrumentalisierung und Politisierung religiöser Differenzen, nicht zuletzt in den post-jugoslawischen Kriegen der 1990er Jahre sowie die politische Situation und der Minderhei-tenstatus einzelner muslimischer Bevölkerungsgruppen.50 Insbesondere historische undanthropologische Arbeiten haben den Schwerpunkt auf die autoritäre Politik der Regime inder zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie das Verhältnis zwischen nationalen undreligiösen Identitäten gelegt.51 Die Auflösung des ehemaligen Jugoslawiens und der Aus-

49 Vgl. Islam in the Balkans, Islamic Studies, Special issue, Islamabad, Vol. 36, 2-3 (1997); Islam in theBalkans, Journal of Islamic Studies, Special issue, Oxford, Vol. 5, 2 (July 1994); Nationalities Papers,Special issue, Muslim Minorities in the Balkans, New York, 28, 1 (March 2000); Allah statt Marx?Islamismus in Südosteuropa und Zentralasien, Ost-West-Gegeninformationen, Graz Jg. 14, 2(2002);Xavier Bougarel (Hg.), Balkan Muslims and Islam in Europe, Südosteuropa-Zeitschrift des Südost-Instituts, 4 (2007).

50 Zu verweisen wäre unter anderem auf Harry Norris, Islam in the Balkans. Religion and Society BetweenEuropa and the Arab World, London: Hurst, 1993; Aleksandre Popovic, The Balkan Muslimcommunities in the post-communist period, in: Vertovec, Steven/ Peach, Ceri (Hg.), Islam in Europe.The Politics of Religion and Community, London: Macmillan, 1997; Hugh Poulton, The Balkans –Minorities and States in Conflict, Minority Rights Group Publications, London: Minority Rights Group,1994; Hugh Poulton/ Tajl-Farouki, Suha (Hg.), Muslim Identity and the Balkan State, London: Hurst,1997; Xavier Bougarel/ Nathalie Clayer (Hg.), Le nouvel islam balkanique. Les musulmans, acteurs dupost-communisme (1990-2000), Paris: Maisonneuve & Larose 2001. Aufgrund der Vielzahl von Arbei-ten zu diesem Thema wird hier auf eine ausführliche Literaturangabe verzichtet. Eine detaillierte Bibli-ographie wird zu jedem einzelnen Kapitel bzw. zu jeder neu eingeführten Thematik dargestellt.

51 Polemiken über die nationale Vereinnahmung der Konfession in der Geschichte und Gegenwart Südost-europas sind nicht neu. Insbesondere historische Arbeiten haben die Vereinnahmung der Religion alsMerkmal der Nation in vielfältiger Weise dokumentiert. Mit Ausnahme der albanischen Nationsbildunghat sich die islamische Religionszugehörigkeit im Rahmen der verschiedenen Identitäts- undNationsbildung als ein ganz entscheidender Faktor erwiesen. Siehe beispielhaft: Martin Schulze Wessel(Hg.), Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation in Ostmittel, Südost und Osteuropaim 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2006; Ludwig Steindorff, Religion undNationswerdung: Das Beispiel der Bosniaken (Muslime), Kroaten und Serben in Bosnien-Herzegowina,in: Südosteuropa-Mitteilungen, 47. Jg., 5-6 (2007), 102-113; Srećko Matko Džaja, Die politische Reali-tät des Jugoslawismus (1918–1991) mit besonderer Berücksichtigung Bosnien-Herzegowinas,Munchen: Oldenbourg, 2002; Wolfgang Höpken, Konfession, territoriale Identität und nationales Be-wusstsein: Die Muslime in Bosnien zwischen österreichisch-ungarischer Herrschaft und zweitem Welt-krieg, in: Schmidt-Hartmann (Hg.), Formen des nationalen Bewusstseins im Lichte zeitgenössischer Na-tionalismustheorien, München: Oldenbourg, 1994, 233-253; Bogdan Szajkowski, Muslim People inEastern Europe: Ethnicity and Religion, in: Journal of the Institute of Muslim Minority Affairs, IX, Nr.1(January 1988), 103-118; Poulton, The Balkans – Minorities and States in Conflict; Nathalie Clayer,

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bruch von Konflikten und Gewalt in den frühen 1990er Jahren, in die muslimische Bevöl-kerungsgruppen involviert waren, haben dabei eine besondere Aufmerksamkeit auf sichgezogen.52 Aber auch nach dem Ende der Kriege im ehemaligen Jugoslawien blieb dasSpannungsfeld von Religion, Politik und ethnonationalen Identitäten in der interdisziplinärbesetzten südosteuropäischen Forschung deutlich präsent. Diese ungebrochene Aktualitätzeigt, dass die Religion weiterhin eine gewaltige politische und soziale Realität in den eth-nisch und religiös gemischten Gebieten des Balkans besitzt.53

Während sich in den 1990er Jahren die Forschung über den Balkan-Islam vorwiegendauf die Behandlung muslimischer Bevölkerungsgruppen und die Rolle ihrer politischenFührer bei der Auslösung ethnischer Gewalt konzentrierte, richten neuere Untersuchungenihr Interesse zunehmend aber auch auf den Wandel der islamisch-religiösen Szene. DasNachwachsen neuer Generationen von Muslimen, Fragen islamischer Autorität und derVermittlung islamischen Wissens, der Islam als Glaube, Alltagspraxis und Lebensführung,sowie transnationale Vernetzungen der Muslime und islamfeindliche Narrative in den süd-osteuropäischen Ländern stellen die Forschung vor neue Herausforderungen und rücken inden Mittelpunkt der Betrachtung. Islamische Phänomene werden nicht nur als Träger natio-naler und kollektiver Identität betrachtet, sondern auch als Symptom alternativer Formender Zugehörigkeit in einer Vielzahl von lokalen, nationalen oder grenzüberschreitendenZusammenhängen.54

Aux origines du nationalisme albanais: la naissance d'une nation majoritairement musulmane en Euro-pe, Paris: Karthala, 2007; Ger Duijzings, Religion and the Politics of Identity in Kosovo, London: Hurstand Company 2000; Cecilie Endresen, Is the Albanian’s religion really „Albanianism“? Religion andnation according to Muslim and Christian leaders in Albania, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2012.

52 Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund der Kriege während des Zerfalls Jugoslawiens vgl.: PaulMojzes (Hg.), Religion and the War in Bosnia, Atlanta: Scholars Press, 1998; Perica Vjekoslav, BalkanIdols. Religion and Nationalism in Yugoslav States, New York/Oxford: Oxford University Press 2002;Sabrina Petra Ramet, Balkan Babel: Politics, Culture, and Religion in Yugoslavia, Westview Press:Boulder, 1992; Dies., Balkan Babel: The Disintegration of Yugoslavia from the Death of Tito to the Fallof Milosevic, Boulder, Colo.: Westview Press 2002; Dies., Thinking about Yugoslavia: Scholarly De-bates about the Yugoslav Breakup and the Wars in Bosnia and Kosovo, Cambridge: Cambridge Univer-sity Press, 2005; Thomas Bremer (Hg.), Religion und Nation im Krieg auf dem Balkan, Bonn 1996.

53 Siehe beispielweise: Branislav Radeljić/ Martina Topić (Hg.), Religion in the Post-Yugoslav Context,Lanham: Lexington Books, 2015; Ksenija Petrović, Nationale Identität und Religion in Serbien undKroatien im Vergleich, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2012; Oliver Joachim Rolofs, Bosnien-Herzegowina: Kein Licht am Ende des Tunnels, in: Sudosteuropa Mitteilungen, 50 (2010), 1, 42-59;Hannes Grandits/ Nathalie Clayer/ Robert Pichler (Hg.), Conflicting loyalties in the Balkans. The GreatPowers, the Ottoman Empire, and Nation-Building, London: Tauris, 2011; Oliver Jens Schmitt (Hg.),Religion und Kultur im albanischsprachigen Südosteuropa, Frankfurt/M. u. a.: Verlag Peter Lang, 2010(Schriftenreihe der Kommission für südosteuropäische Geschichte, 4); Ulf Brunnbauer/ HannesGrandits (Hg.), The Ambiguous Nation. Case Studies from Southeastern Europe in the 20th Century,München: Oldenbourg, 2013 (= Südosteuropäische Arbeiten, Bd. 151), dort insbesondere die Beiträgevon Husnija Kamberovič, Dženita Rujanac und Iva Lučić; Xavier Bougarel/ Elissa Helms/ GerDuijzings, The New Bosnian Mosaic. Identities, Memories and Moral Claims in a Post-War Society,Aldershot: Ashgate, 2007.

54 Siehe beispielhaft: Xavier Bougarel, Balkan Islam as ‚European Islam‘: Historical Background andPresent Challenges, in: Christian Voß/ Telbizova-Sack (Hg.), Islam in (Südost)Europa. Kontinuität undWandel im Kontext von Transformation und EU-Erweiterung, München/Berlin: Verlag Otto Sagner,2010, 15-33; Ders., (Hg.), Balkan Muslims and Islam in Europe, Südosteuropa-Zeitschrift 4 (2007);

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Die Fachliteratur zu den Muslimen in Bulgarien ist in diesem Kontext vergleichsweiserar und die vorliegenden Veröffentlichungen geben entweder Informationen zur Lage derMuslime und zur Minderheitenpolitik des bulgarischen Staates – so u.a. Eminov 1997;Höpken 1994, 1997, 2013; Željazkova 1998; Neuburger 200455 – oder sie richten sich aufeinzelne Bevölkerungsgruppen, so beispielhaft die Pomaken.56 Die dynamisch verlaufendenProzesse der Pluralisierung innerhalb der muslimischen Gemeinschaften im Kontext post-kommunistischer Transformation sind mit wenigen Ausnahmen57 kaum thematisiert wor-

Ders., Islam in the Post-Communist Balkans: Understanding a Decade of Change, in: HolmSundhaussen (Hg.), Religionen und Kulturen in Südosteuropa, Berlin: FES, 2003, 32-52; Bougarel/Clayer (Hg.), Le nouvel islam balkanique; Nathalie Clayer/ Eric Germain (Hg.), Islam in Inter-War Eu-rope, London: Hurst 2008; Dies., Der Balkan, Europa und der Islam, in: Kaser, Karl/ Gramshammer-Hohl, Dagmar/ Pichler, Robert (Hg.), Europa und die Grenzen im Kopf, Klagenfurt: Wieser 2003, 303-327; Dies., Der albanische Raum. Politischer Islam im Entstehen?, in: Ost-West-Gegeninformationen 2(2002), 20-27; Cecilie Endresen, The nation and the nun: Mother Teresa, Albania’s Muslim Majorityand the Secular State, in: Islam and Christian-Muslim Relations 1(2015), 53-74; Voß/ Telbizova-Sack(Hg.), Islam in (Südost)Europa; Armina Omerika, Islam in Bosnien-Herzegowina und die Netzwerkeder Jungmuslime (1918-1919), Balkanologische Veröffentlichungen Bd. 54, Wiesbaden: Harrasowitz2014; Dies., Islam und Säkularität in Bosnien und Herzegowina, in: Südost-Europa Mitteilungen 6/53(2013), 6-19; Harun Karcic, Globalization and Islam in Bosnia: Foreign Influences and their Effects, in:Totalitarian Movements and Political Religions 11, Nr. 2 (2010), 151-66; Kerem Öktem, Between Emi-gration, De-Islamization and the Nation-State: Muslim Communities in the Balkans Today, in: Sou-theast European and Black Sea Studies 11, Nr. 2(2011), 155-171; Ders., New Islamic actors after theWahhabi intermezzo: Turkey’s return to the Muslim Balkans, Oxford 2010, unter<http://www.balkanmuslims.com/pdf/Oktem-Balkan-Muslims.pdf> (14.09.2014); Ina Merdjanova, Re-discovering the Umma. Muslims in the Balkans between Nationalism and Transnationalism, Oxford,New York: Oxford University Press, 2013; Arolda Elbasani/ Beken Saatçioğlu, Muslims’ Support forEuropean Integration: The Role of Organizational Capacities, in: Democratization 21 Nr. 3(2014), 458-480; Isa Blumi, Political Islam among the Albanians: Are the Taliban Coming to the Balkans?, KosovoInstitute for Policy Research and Development, Policy Research Series 2, Prishtina 2005; David Henig/Karolina Bielenin-Lenczowska, Recasting Anthropological Perspectives on Vernacular Islam in South-east Europe, in: Anthropological Journal of European Cultures 22, Nr. 2 (2013) 1-11. Eine differenzier-te Behandlung des Themas “Islam auf dem Balkan” bietet der von Olivier Roy und Arolda Elbasani2015 herausgegebene Band The Revival of Islam in the Balkans. From Identity to Religiosity,Basingstoke: Palgrave Macmillan. Die Arbeit bietet empirische Einblicke in die vielfältigen Formen dergelebten Religiosität unter den Balkan-Muslimen und verschiebt den Fokus vom ethno-nationalen An-satz auf personalisierte Praktiken der Muslime. Er erschien erst nach Redaktionsschluss der vorliegen-den Arbeit und konnte keine inhaltliche Berücksichtigung in der Darstellung finden.

55 Ali Eminov, Turkish and Other Muslim Minorities in Bulgaria, London: Hurst & Company, 1997;Wolfgang Höpken, Zwischen Kulturkonflikt und Repression. Die türkische Minderheit in Bulgarien1944–1991, in: Valeria Heuberger/ Othmar Kolar (Hg.), Nationen, Nationalitäten, Minderheiten, Verlagfür Geschichte und Politik, Wien 1994, 179-202; Wolfgang Höpken, From Religious Identity to EthnicMobilization: The Turks of Bulgaria before, under and since Communism, in: Poulton /Tajl-Farouki,Muslim Identity and the Balkan State, 255-280; Ders., Der Exodus: Muslimische Emigration aus Bulga-rien im 19. und 20. Jahrhundert, in: Reinhard Lauer/ Hans Georg Majer (Hg.), Osmanen und Islam inSüdosteuropa, Göttingen 2013, 303-432; Antonina Željazkova, Bulgaria’s Muslim Minorities, in: JohnBell (Hg.), Bulgaria in Transition. Politics, Economics, Society and Culture after Communism, Boulder,Colo: Westview Pres; Mary Neuburger, The Orient Within: Muslim Minorities and the Negotation ofNationalhood in Modern Bulgaria, Ithaca: Cornell University Press 2004.

56 Vgl. dazu die Bibliografie in Kapitel II., „Demographische und ethno-religiöse Aspekte“.57 Die oben erwähnte Studie von Ghodsee steht fast isoliert dar. Zu erwähnen sind noch: Evgenija

Ivanova, Identičnost i identičnosti na Pomacite v Bălgarija, in: Spisanie na institut za modernostta, 6.

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Stand der Forschung 27

den. Aber auch diese Studien richten ihre Aufmerksamkeit vorwiegend auf einzelne Bevöl-kerungsgruppen, so dass die Analyse gruppenübergreifender Prozesse religiöser Erneue-rung weitgehend ausbleibt. Es sind inzwischen auch Arbeiten erschienen, die die starkeFokussierung auf die Minderheiten- und Diskriminierungspolitik des bulgarischen Staatesrelativieren und Informationen über die Entstehung und Entwicklung islamischer Institutio-nen in Bulgarien vermitteln.58 Nachdem es vor wenigen Jahren kaum möglich war, Unter-suchungen zu diesem Thema zu finden, liefern diese Veröffentlichungen einen wesentli-chen Beitrag dazu, um diese Forschungslücke zu schließen.

Für die vorliegende Arbeit sind auch Studien von Bedeutung, die sich der Frage nachdem Verhältnis von Religion, Staat und Politik sowie einer allgemeinen Revitalisierung desReligiösen in den ehemaligen sozialistischen Ländern Ost- und Südosteuropas widmen.Hier dominieren religionssoziologische Arbeiten.59 Ohne spezifischen Bezug auf Bulgarien

März 2012; Simeon Evstatiev, Public Islam on the Balkans in a Wider Europe Context, Budpest: Cen-tral European University, 2006; Jordanka Telbizova-Sack, Gibt es einen ‚radikalen Islam‘ in Bulgarien?Instrumentalisierung vs. Realität, in: Bálint Balla/ Wolfgang Dahmen/ Anton Sterbling (Hg.), Demokra-tische Entwicklungen in der Krise?, Krämer Verlag, Hamburg 2015, 241-267; Dies., Zwischen religiö-ser Erneuerung und innerer Diversifizierung. Islam und Muslime im postkommunistischen Bulgarien,in: Klaus Roth/ Wolfgang Höpken/ Gabriella Schubert (Hg.), Europäisierung - Globalisierung -Tradition. Herrschaft und Alltag in Südosteuropa, München 2015, 171-197; Dies. Die AlevitenBulgariens – Tradition und Neubestimmungen im Kontext gesellschaftlichen Wandels, in: ChristianVoß/ Jordanka Telbizova-Sack (Hg.), Islam in (Südost)Europa. Kontinuität und Wandel im Kontext vonTransformation und EU-Erweiterung, München, Berlin: Verlag Otto Sagner, 2010, 173-195; SonjaHinkova, Vanšni vlijanija pri nasarčenata religioznost na mjusjulmanite v Bălgarija, in: Političeskiizsledvanija, Nr. 1-2 (2015); Dies., Savremenni vanšni faktori i vlijanija varhu religioznite naglasi namjusjulmanite v Bălgarija, Naučen elektronen arhiv na NBU, Sofia 2014; Laura Olson Osterman,Movements for Islamic Revival and Ethnic Consciousness among Rural Bulgarian Muslims in the Post-Communist Period, in: National Council for Eurasian and East European Research 2014, unter<http://www.ucis.pitt.edu/nceeer/2014_828-10g_Osterman.pdf>. Zu Transformationsprozessen in Bul-gariens siehe noch: Brunnbauer/ Höpken, Transformationsprobleme Bulgariens.

58 Zu dieser Thematik vgl.: Ibrahim Jalamov, Formirane i razvitie na mjusjulmanskata obšnost v Bălgarija,in: Proceeding of the International Symposium on Islamic Civilisation in the Balkans, IRCICA Istanbul2002, 289-301; Ders., Kemalizmat i otraženieto mu v Bălgarija, Avangard Prima, Sofia 2005; MustafaHadži, Glavno mjuftijstvo sled demokratičnite promeni, in: Godišnik na visš isljamski institut, Nr.2,Sofia 2010; Jordanka Bibina, Mjusjulmanskite družestva i organisacii v Bălgarija (1878-1944) v băl-garskite arhivni fondove, in: Proceeding of the International Symposium on Islamic Civilisation in theBalkans, IRCICA Istanbul 2002, 139-151.

59 Siehe beispielweise Gert Pickel/ Kornelia Sammet (Hg.), Transformations of Religiosity. Religion andReligiosity in Eastern Europe 1989–2010, Wiesbaden: Springer Verlag 2012; Gert Pickel/ Olaf Müller(Hg.), Church and Religion in Contemporary Europe. Results from Empirical and Comparative Rese-arch, Wiesbaden: VS Verlag 2009; Detlef Pollack, Religiöser Wandel in den postkommunistischenLändern Ost- und Mitteleuropas, Würzburg: Ergon Verlag, 1998; Ders., Religion und Politik in denpostkommunistischen Staaten Ostmittel- und Osteuropas, Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 42-43(2002), 15-22; Detlef Pollack, Renaissance des Religiösen? Veränderungen auf dem religiösen Feld inausgewählten Ländern Ost- und Ostmitteleuropas, in: Archiv für Sozialgeschichte Nr. 51 (2011), 109-140; Detlef Pollack/ Olaf Müller/ Gert Pickel (Hg.), Democratic Values in Central and Eastern Europe.Research Report, Frankfurt (Oder): Frankfurter Institut für Transformationsstudien 2004; WillfriedSpohn, Politik und Religion in einer sich globalisierenden Welt, Verlag für Sozialwissenschaften,Wiesbaden 2008. Bzgl. der Rolle der Religion in Osteuropa in der Gegenwart vgl. auch: ThomasBremer/ Manfred Sapper u.a. (Hg.), Glaubenssache. Kirche und Politik im Osten Europas, Berlin:Berliner Wissenschafts-Verlag, 2009; Thomas Bremer, Religion and the Conceptual Boundary in

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Einleitung28

zu nehmen, versuchen diese Arbeiten anhand quantitativ und qualitativ gestützter Analysen,den Wandel auf dem religiösen Feld in den post-kommunistischen Ländern Ost- und Süd-osteuropas zu erfassen. Die Entwicklung der Religion wird in zwei Zeitperioden eingeteilt:die Zeit während des Sozialismus und die postsozialistische Zeit. In der Zeit des Staatssozi-alismus waren die Kirchen und Religionsgemeinschaften Ost- und Südosteuropas politischunterdrückt und ideologisch stigmatisiert. Im Prozess des politischen Umbruchs erlebten sieeine Phase des Aufbruchs und der unmittelbaren politischen Relevanz. Heute gestaltet sichdas Verhältnis von Kirche und Staat beziehungsweise Religion und Politik in vielen Regio-nen Osteuropas jedoch widersprüchlich. Umstritten in der Forschung ist daher, inwieweit esbei den Revitalisierungsergebnissen um langfristige Entwicklungen, Nachholeffekte oderum eine Entwicklung in Richtung religiöser Individualisierung handelt. Diese Forschungs-fragen stehen parallel zu neueren Entwicklungen in der Religionssoziologie, soweit dort dieSäkularisierung nicht als Resultat evolutionärer Prozesse der Differenzierung, Privatisie-rung und Auflösung von Religion gesehen wird, sondern die Existenz divergenter Säkulari-sierungsmuster betont wird (Casanova 1994, 2006; Davie 1996, 2000; Davie/Hervieu-Léger1996; Hervieu-Léger 2003; Martin 1978, 2003).60 So wird der west-europäische Fall nichtals universales Modell weltweit konvergierender Säkularisierungsprozesse vorausgesetzt,sondern als komplexes Ergebnis religions- und kulturspezifisch oft unterschiedlich verlau-fener Religionsentwicklungen interpretiert.61 Zu verweisen ist zudem auf das von JoséCasanova als „Deprivatisierung der Religion“ bezeichnete Phänomen eines verstärktenöffentlichen Engagements von Kirchen und religiösen Organisationen in der Politik undeiner damit zusammenhängenden Politisierung des Religiösen auch in Bezug auf Europa.62

Die Vertreter der Individualisierungsthese betonen ihrerseits die Differenz zwischen Kirch-lichkeit (belonging) und Glauben (believing).63 Von einem Rückgang der Kirchlichkeitsollte dementsprechend nicht auf ein Verschwinden der Religiosität geschlossen werden.

Central and Eastern Europe. Encounters of Faiths (Hg.), Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2008; JuliaGerlach/ Jochen Töpfer (Hg.), The Role of Religion in Eastern Europe Today, Springer 2015.

60 Vgl. Jose Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago University of Chicago Press, 1994;Ders., Rethinking Secularization: A Global Comparative Perspective, in: The Hedgehog Review 2006;Grace Davie, Religion in Modern Europe: A Memory Mutates. Oxford: Oxford University Press 2000;Grace Davie/ Danièle Hervieu-Léger, Identités religieuses en Europe, Paris: La Decouverte 1996;Danièle Hervieu-Léger, Individualism, the Validation of Faith, and the Social Nature of Religion inModernity, in: Richard Fenn (Hg.), The Blackwell Companion to Sociology of Religion, Malden:Blackwell Publishing, 2001, 161-175; David Martin, A General Theory of Secularization, Oxford:Gregg Revivals, 1978; Ders., Integration und Fragmentierung. Religionsmuster in Europa, in: Transit 26(2003), 120-143.

61 Jose Casanova, Rethinking Secularization: A Global Comparative Perspective, in: The HedgehogReview 8 (2006); Jose Casanova/ Hans Joas (Hg.): Religion und die umstrittene Moderne, Kohlhammer,Stuttgart (Globale Solidarität - Schritte zu einer neuen Weltkultur, Bd 19) 2010; Otto Kallscheuer (Hg.),Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus, Frankfurtam Main: Fischer; David Martin, On Secularization: Towards a Revised General Theory, Aldershot[u.a.]: Ashgate 2005.

62 Vgl. Casanova, Public Religions.63 Grace Davie, Religion in Britain since 1945: Believing without Belonging, [u.a.]: Blackwell, 1994;

Dies., From Believing without Belonging to Vicarious Religion. Understanding the Patterns of Religionin Modern Europe, in: Detlef Pollack/ Daniel Olson, V.A. (Hg.), The Role of Religion in ModernSocieties, New York [u.a.]: Routledge, 2008.

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Zum Inhalt 29

Vielmehr zieht der individualisierte Umgang mit Religion unterschiedliche Formen subjek-tiver Religiosität nach sich. Die Revitalisierung von Religion ist aber auch eng mit denFragen nach erhöhter Mobilität und Globalisierungstendenzen verbunden – Entwicklungen,die in den letzten Jahren ebenfalls Gegenstand der Religionsforschung geworden sind. Aufjeden Fall bleibt die Region Ost- und Südosteuropas ein spannendes Untersuchungsfeld, umdie analytische Reichweite von bekannten religionssoziologischen Theorien zur Säkulari-sierung zu überprüfen.

Nicht zuletzt schließt die Arbeit an aktuelle Debatten zum Thema „Islam in Europa“ an.Hier ist die Literatur fast unübersichtlich und es sind vielfältige Aspekte – so unter anderemdie Neudefinition islamischer Traditionen, die Vielfalt muslimischer Lebensformen, öffent-liche Islampolitik, Islam und Globalisierung, aber auch fundamentalistische Ausprägungendes Islam und die Zunahme von Islamfeindlichkeit in Europa – , die besondere Berücksich-tigung in der Forschung finden. Die Debatte verfolgt seit längerem die Frage, ob es zurEntstehung eines „europäischen Islams“ kommt und wie dieser aussehen könnte.64 Sie wirftferner die kontroverse Frage nach einer möglicher Rückkehr des Religiösen in Form fun-damentalistischer Bewegungen auf, die durch die Globalisierung und die Entkoppelung vonReligion und Kultur eine eigene Dynamik erfährt.65

5. Zum Inhalt

In dieser Arbeit geht es keineswegs nur um neue Formen der Religiosität oder möglicheTendenzen islamischen Fundamentalismus. Nach 45 Jahren kommunistischer Herrschaft istein zentrales Anliegen der bulgarischen Muslime, ihre religiösen Institutionen wiederherzu-stellen und für eine Normalität im religiösen Bereich zu sorgen. Heute findet man in Bulga-

64 Siehe zum Beispiel: Jørgen Nielsen, Towards a European Islam, Basingstoke: Macmillan Press, 1999;Nezar Al-Sayyad /Manuel Castells (Hg.), Muslim Europe or Euro-Islam: Plitics, Cutlure and Citizen-ship in the Age of Globalisation, New York: Lexington Books 2002; Bassam Tibi, Euro-Islam: dieLösung eines Zivilisationskonfliktes, Darmstadt: Primus, 2009; Tariq Ramadan, Muslimsein in Europa,Marburg: MSV, 2001; Ders., To be a European Muslim: a study of Islamic sources in the Europeancontext. Front Cover, Islamic Foundation 1999; Thierry Chervel/ Anja Seeliger (Hg.), Islam in Europa,Eine internationale Debatte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007.Über die mögliche Rolle der Balkan-Muslime beim Entstehen eines europäischen Islam vgl. u.a. XavierBougarel, The Role of Balkan Muslims in Building European Islam, EPC Issue paper 43 (2005); XavierBougarel, Bosnian Islam as European Islam: Limits and Shifts of a Concept, in: Aziz Al-Azmeh/ EffieFokas (Hg.), Islam in Europe. Diversity, Identity and Influence, Cambridge University Press,Cambridge, 2007, 96-124; Ders., Balkan Muslim Diasporas and the Idea of a ‘European Islam’, in:Tomislav Dulić (Hg.), Balkan Currents. Essays in Honour of Kjell Magnusson, Uppsala MultiethnicPapers, Uppsala, 2005, 147-165; Ders., Balkan Islam as ‚European Islam‘; Christian Moe, A Sultan inBrussels? European Hopes and Fears of Bosnian Muslims, in: Südosteuropa, 4 (2007), 374-394; EnesKaric, Is ‘Euro- Islam’ a Myth, Challenge or a Real Opportunity for Muslims in Europe?, in: Journal ofMuslim Minority Affairs 22, Nr. 2 (2002), 435-42.Über den Islam in West- und Osteuropa vgl.: Brigitte Marechal /Stefano Allievi /Felice Dassetto /JorgenNielsen (Hg.), Muslims in the Enlarged Europe: Religion and Society, Leiden [u.a.]: Brill, 2003; Clayer/Germain (Hg.), Islam in Inter-War Europe; Tim Niblock/ Gerd Nonnenman/ Bogdan Szajkowski (Hg.),Muslim Communities in the New Europe, Berkshire: Ithaca Press 1996.

65 Roy, Globalized Islam.

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Einleitung30

rien ein sehr heterogenes islamisches Spektrum, zu dem säkulare Muslime, Atheisten, zumChristentum konvertierte Muslime, aber auch kulturelle Muslime und die „neuen From-men“ gehören.

Nach einem historischen Überblick werden im Kapitel II. die Verwaltungsstrukturen dermuslimischen Glaubensgemeinschaft sowie die zentrale Behörde der bulgarischen Musli-me, das Muftiamt, vorgestellt. Auch unter den Bedingungen nach 1989 konnte sich diesehistorisch etablierte Institution als die höchste islamische Autorität im Lande behaupten.Zentralisierungsbestrebungen, Konservatismus sowie die Nähe zu der politischen ParteiBewegung für Rechte und Freiheiten sorgen zugleich dafür, dass andere lokale Akteure sichals Alternative auf zivilgesellschaftlicher Ebene zu positionieren versuchen. Ein verbitter-ter, sich über achtzehn Jahre hinziehender Gerichtsprozess um das Amt des obersten Geist-lichen, des Obermuftis, macht deutlich, wie geradezu absurd – und hier lassen sich durch-aus Parallelen zu der politischen Realität im post-kommunistischen Bulgarien erkennen –Machtkonflikte unter religiösen Elitenfraktionen ausgetragen werden können.

Kapitel III. ist den wichtigsten Tätigkeitsfeldern des Muftiamtes gewidmet. Neben derBetreuung der religiösen Praxis wird es hier um islamische Bildung und Erziehung gehen.Es werden zunächst islamische Bildungseinrichtungen, auch in ihrer gesellschaftlichenRelevanz, vorgestellt und anschließend im Kapitel IV. die Einführung des islamischenReligionsunterrichts an öffentlichen Schulen in den Mittelpunkt der Analyse gerückt. An-hand der Debatte um das Etablieren des Religionsunterrichts an den öffentlichen Schulenkonnte zudem gezeigt werden, dass es verschiedene gesellschaftliche Akteure gibt, die sichfür die schulische Integration von Religion einsetzen. In ihren Motiven und Zielsetzungenunterscheiden sie sich jedoch deutlich voneinander. Durch die Auswertung internationalerUmfragen wird nach dem Grad der Religiosität sowie dem Stellenwert der Religion in derbulgarischen Gesellschaft gefragt.

Beim Prozess der neu aufgenommenen beziehungsweise intensivierten Kontakte zumweltweiten Islam, um die es im Kapitel V. geht, stellen die bulgarischen Muslime keineAusnahme dar. Die festzustellenden Tendenzen ließen sich auch in den anderen muslimi-schen Gebieten des Balkans erkennen. Insbesondere nach dem Kriegsbeginn in Bosnien-Herzegowina Anfang der 1990er Jahre hat sich in den einzelnen Balkan-Ländern eine Rei-he von islamischen NGOs und karitativen Hilfsorganisationen niedergelassen. Die Kontak-te, die die Balkan-Muslime zu den islamischen Mehrheitsregionen aufnahmen, waren je-doch nicht nur kontextabhängig, sie waren auch zeitlich begrenzt und von den Interessender beteiligten Akteure bestimmt. Waren es in den 1990er Jahren vorwiegend arabischeLänder und „Ölstaaten“ wie Saudi-Arabien, Kuwait und Jordanien, die durch die in deneinzelnen Länder tätigen Hilfsorganisationen und NGOs finanzielle Unterstützung leisteten,sind es seit Anfang der 2000er Jahre türkische Akteure, die sich besonders aktiv am Wie-deraufbau islamischer Institutionen in den einzelnen Balkan-Ländern beteiligen. Paralleldazu werden verschiedene Aspekte der islamischen Mission (da'wa) angesprochen undnach deren Bedeutung und Resonanz im südosteuropäischen Kontext gefragt. Was bedeutetda’wa? Welche institutionelle Ebene und welche Ausrichtungen der da'wa-Aktivitätenlassen sich analytisch voneinander unterscheiden? Das Beispiel der Balkan-Muslime lässterkennen, dass islamische da'wa nicht nur eine Methode zur Verbreitung islamischer Kon-zepte ist; sie kann auch als Erneuerungsbestrebung unter den lokalen Eliten und frommen

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Zum Inhalt 31

muslimischen Jugendlichen verstanden werden, deren Ziel die Belebung des Islam in denüberlieferten lokalen Traditionen ist und dabei emanzipatorische Züge annehmen kann.

Anliegen des Kapitels VI. ist es, der wachsenden Präsenz der Türkei im Balkan-Raumnach dem Ende des Kalten Krieges in ihrer religionspolitischen Dimension nachzugehen.So konnten sich seit Anfang der 2000 Jahre nicht nur staatlich gestützte islamische Institu-tionen, sondern auch religiös begründete Organisationen sowie neo-bruderschaftlicheNetzwerke aus der Türkei in allen südosteuropäischen Ländern positionieren. Das Engage-ment einer Vielzahl von türkisch-islamischen Akteuren in dieser Region lässt sich nur miteinem Bündel verschiedener Faktoren erklären. Historische Nähe zu den Balkan-Länderngehört ebenso dazu wie die Neuausrichtung türkischer Außenpolitik, eine Neubewertungosmanischer Geschichte aber auch die stark veränderte Situation nach dem Zusammen-bruch des Ostblocks.

Kapitel VII. befasst sich schließlich mit Aspekten religiöser Erneuerung unter bulgari-schen Muslimen und setzt sich mit Legitimationsprozessen muslimischer Eliten unter denBedingungen neu entstehender Generationen auseinander. Die Fragmentierung religiöserAutorität findet im Wechselspiel mit der Pluralisierung sozialer Kräfte sowie einer einher-gehenden Liberalisierung der religiösen Szene statt. Was macht den traditionellen bulgari-schen Islam aus? Kann man von einer breiten Re-Islamisierung unter muslimischen Bevöl-kerungsgruppen sprechen oder lässt sich eine Tendenz zu religiöser Individualisierungfeststellen? Was bedeutet islamische Reform im bulgarischen Kontext? Beschreiten dieMuslime Bulgariens – ähnlich wie die Muslime Südosteuropas – einen Sonderweg? WelcheReaktionen seitens der Politik und der Medien gibt es auf diese neuartigen Entwicklungen?

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II Islam, gesellschaftlicher Wandel und der Kampf umsSelbstbestimmungsrecht

1. Historische Entwicklung und Diversität

Muslime im modernen bulgarischen Staat (1878"1944)Von allen EU-Ländern, in denen eine wachsende Präsenz des Islam sichtbar wird, ist Bul-garien das unbekannteste. Zugleich ist Bulgarien ein faszinierender Ort, um die Dynamikdes Islam zu beobachten. Als Teil des südöstlichen Europas ist das Land durch ein vielfälti-ges Nebeneinander von Religionen und Ethnien geprägt. Christliche Orthodoxie, Islam,Katholizismus, Protestantismus und Judentum haben hier ihre Spuren hinterlassen. Über einhalbes Jahrhundert war der Islam die Religion der Herrschenden. Nach dem Zerfall desOsmanischen Reiches und der Gründung des jungen bulgarischen Staates im Jahr 1878verblieben zahlreiche muslimische Bevölkerungsgruppen, zu denen Türken, slawischeMuslime (Pomaken), Tataren und Roma gehörten. Ein Großteil von ihnen wanderte nochwährend des russisch-türkischen Krieges und unmittelbar nach der Befreiung von Bulgarien(1877-1878) aus.1 Später wurde dieser Prozess während der neuesten und jüngsten Ge-schichte Bulgariens fortgesetzt. Im Jahr 1887 machten zum Beispiel die Türken fast 20%der Bevölkerung Bulgariens aus, im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts waren es noch etwa12%, in den 1940er Jahren – weniger als 10% und in den 1950er Jahren – 8,6%.2 Die Mus-lime, die sich an der Massenauswanderung nach Kleinasien nicht beteiligten, mussten sichim neu gegründeten bulgarischen Staat mit einer neuen Situation zurechtfinden. Aus vor-mals politisch dominierenden Gruppen wurden sie zu Minderheiten. Dieser Rollenwechselmachte sie zugleich zu vielfach verachteten Bürgern, die in der Wahrnehmung ihrer Umge-bung als „Türken“ und unerwünschte Hinterlassenschaft galten.3 Für die folgenden Jahr-zehnte der postosmanischen Zeit blieben sie eine sozial marginalisierte, von den Regierun-gen des bulgarischen Staates mit Misstrauen oder Gleichgültigkeit behandelte Teilbevölke-rung, deren weitere Entwicklung durch eine hohe Analphabetenrate und niedriges Bil-dungsniveau gekennzeichnet war.

1 Zu Migrationsbewegungen unter muslimischen Bevölkerungsgruppen siehe „Paradigmenwechsel in dertürkischen Außenpolitik“ (Kapitel VI) dort insb. Anm. 2 sowie Antonina Željazkova, Dăržavata,mjusjulmanskata institucija i obštesvoto v Bălgarija, in: Obštestvo, Helzinski komitet, 08 Januar 2011.

2 Sravnitelni tablici po godini na prebrojavanijata, in: National Statistical Institute, Republic of Bulgaria,unter <http://censusresults.nsi.bg/Census/Reports/1/2/R7.aspx>.

3 Zum Prozess der Ent-Osmanisierung im postosmanischen Bulgarien, der von den politischen Eliten mit„Europäisierung“ und „Modernisierung“ nach westeuropäischem Muster gleichgesetzt wurde, siehe:Bernard Lory, Le sort de l’heritage ottoman en Bulgarie: L‘exemple des Villes Bulgares 1878-1900,Istanbul: Éditions Isis, 1985; Mary Neuburger, The Orient Within: Muslim Minorities and theNegotation of Nationalhood in Modern Bulgaria, Ithaca: Cornell University Press, 2004. Vgl. ferner dieÜberblicksdarstellung von Nathalie Clayer, Der Balkan, Europa und der Islam, in: Kaser, Karl/Gramshammer-Hohl, Dagmar/ Pichler, Robert (Hg.), Europa und die Grenzen im Kopf, Klagenfurt2003, 303-327.

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Historische Entwicklung und Diversität 33

Obwohl die zurückgebliebenen ethnischen und religiösen Minderheiten als Störfaktorim angestrebten Nationalstaat galten, war ihre rechtliche Stellung doch relativ gut gesichertund gewährte ihnen eine religiöse und kulturelle Autonomie.4 In der ersten bulgarischenTărnovo-Verfassung vom 16. April 1879, die bis zur kommunistischen Machtergreifung inKraft blieb, wurde die christliche Orthodoxie zwar als die „dominierende Religion“ be-stimmt. Ethnische Minderheiten und religiöse Gruppen wurden aber auch als gleichberech-tigte Bürger anerkannt und genossen alle Rechte, die bulgarischen Bürgern gewährt wurden(Art. 86). Die Verfassung beschränkte sich nicht nur auf die Garantie der Rechtsgleichheitunabhängig vom ethnischen Hintergrund (Art. 57), sondern räumte den Minderheiten imreligiösen Bereich elementare Selbstverwaltungsrechte ein (Art. 42). Die islamischen Reli-gionsgemeinschaften genossen Körperschaftsstatus und sie behielten ihre Scharia-Gerichtebei. Die Gerichte verfügten über drei Stufen und umfassten zwanzig bis fünfundzwanzigerstinstanzliche Scharia-Gerichte, drei Scharia-Berufungsgerichte und einen sogenanntenObersten Scharia-Rat, die allersamt Zuständigkeiten vor allem im Familien- und Erbrechtbesaßen.5 Rechtsstellung, Aufgaben und Befugnisse dieser Gerichte wurden durch die Zi-vilprozessordnung vom 15. Dezember 1891 sowie durch das Gesetz über den Aufbau derGerichte vom 19. Dezember 1898 weiter geregelt.6 Im Jahr 1885 war zudem ein Gesetzüber die öffentlichen und privaten Schulen verabschiedet worden, das bulgarischen Türkenund Muslimen Schulautonomie eingeräumt hatte. Die muslimischen Schulen wurden zumTeil aus den vakuf-Einnahmen sowie Abgaben der muslimischen Gemeinden finanziert, siebekamen aber auch staatliche Unterstützung.7 Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es mehrals 1.300 solcher Minderheitenschulen in Bulgarien.

In religiös-administrativer Hinsicht wurden die Muslime in Bulgarien durch die Muf-tibehörden und Muftivertretungen verwaltet. Die erste Rechtsgrundlage, die die Verwal-tungsstrukturen der muslimischen Glaubensgemeinschaft anlegte, waren die vorläufigen„Regeln für die Verwaltung der Christen, Muslime und Juden“, die am 9. Juli 1880 verab-schiedet wurden. Laut ihnen waren bulgarische Muslime dazu berechtigt, in den von ihnenbewohnten Bezirken zehn eigene Muftis zu wählen.8 Um als Mufti ernannt zu werden, wares zugleich notwendig, eine Bestätigung oder menšure (türk. menşur = Investitur) durchden Scheich-ul-Islam (türk. şeyhülislam = Islam-Oberhaupt) in Istanbul (Art.32) zu erhal-

4 Dies geschah sowohl durch die bulgarische Gesetzgebung als auch eine Reihe von bilateralen undinternationalen Verträgen, zu denen der Berliner-Vertrag (1878), der türkisch-bulgarische Vertrag von1909, die Friedensverträge von 1913 und 1919 und der Ankara-Vertrag von 1925 gehörten. Mehr dazu:Dimitar Gjudurov, Religioznata politika na Bălgarija i mjusjulmanite, in: Godišnik na departamentIstorija na NBU, Т. ІІ, Sofia 2007; Wolfgang Höpken, Türkische Minderheiten in Südosteuropa.Aspekte ihrer politischen und sozialen Enticklung in Bulgarien und Jugoslawien; in: Majer, Hans-Georg (Hg.), Die Staaten Südosteuropas und die Osmanen, Südosteuropa-Jahrbuch, Bd. 19,München1989, 223-250, 231f; Bogdan Kesjakov, Prinus kam diplomatičeskata istirija na Bălgarija1878-1925, Tom I, Sofia 1925, 31f und 61 f.

5 Gjudurov, Religioznata politika, 20; Herbert Küpper, Minderheitenschutz im östlichen Europa.Bulgarien, 2003, 9, unter <http://www.uni-koeln.de/jur-fak/ostrecht/minderheitenschutz/>.

6 Dăržaven vestnik, Nr.7 vom 12 Januar 1899.7 Vgl. Höpken, Türkische Minderheiten, 233; Küpper, Minderheitenschutz 9.8 Gjudurov, Religioznata politika, 4; Krasimir Kanev, Zakonodatelstvo i politika kam etničeskite i

religiozni malcinstva v Bălgarija, in: Anna Krasteva (Hg.), Obšnosti i identičnosti v Bălgarija, Sofia:Petekson, 1998, 67-117.

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Islam, gesellschaftlicher Wandel und der Kampf ums Selbstbestimmungsrecht34

ten.9 Die Muftis waren für die Scharia-Gerichte, für die Erstellung von fatwas (Rechtsgut-achten) sowie für die Beaufsichtigung der Moscheen zuständig.10

Ein weiterer Schritt in der bulgarischen Gesetzgebung waren die ebenfalls vorläufigen„Regeln für die geistige Verwaltung der Muslime“ aus dem Jahr 1895.11 Sie regelten dieOrganisationsstruktur der Muslime, die aus Bezirksmuftiämtern, Muftivertretungen undeinem Obermufti bestehen sollte. Der Obermufti agierte jedoch nur als ein Vermittler zwi-schen den Bezirksmuftiämtern und dem Scheich-ul-Islam in Istanbul. Er galt noch nicht alsoffizielles geistliches Oberhaupt der bulgarischen Muslime. Der Obermufti sollte durch alleMuftis im Lande gewählt werden, eingestellt wurde er jedoch per Dekret des bulgarischenFürsten und dadurch das Selbstbestimmungsrecht der Muslime eingeschränkt. Zudem warauch die Zustimmung des Scheich-ul-Islams im Osmanischen Reich notwendig. Die Muftiswurden ihrerseits von allen bulgarischen Muslimen, die Stimmrechte besaßen, gewählt. Diemuslimischen Roma waren jedoch nicht wahlberechtigt (Art. 4).12 Bis zur Unabhängig-keitserklärung Bulgariens (22. September 1908) wurde die muslimische Glaubensgemein-schaft in Bulgarien durch diese Regelungen organisiert, wobei es zur gleichen Zeit aucheine enge Verbindung zum Scheich-ul-Islam im Osmanischen Reich gab.

Auf bilateraler Ebene wurden die religiösen und kulturellen Rechte der bulgarischenMuslime durch die Istanbuler-Konvention garantiert, die am 19. April 1909 zwischen demOsmanischen Reich und Bulgarien abgeschlossen wurde.13 Die Konvention enthielt „eineVereinbarung zur Mufti-Frage“, durch die die vakuf-Angelegenheiten geregelt wurden14

sowie die kulturell-religiöse Autonomie der muslimischen Gemeinde erweitert wurde. Inreligiösen und rechtlichen Fragen richteten sich die bulgarischen Muftis weiterhin an diefatwas des Scheich-ul-Islam in Istanbul. Zugleich sah die Vereinbarung vor, dass einObermufti an die Spitze der Hierarchie gestellt wird, der in der Hauptstadt Sofia residiert.Er sollte von den Muftis im Lande gewählt werden und sofern er die erforderliche Geneh-migung vom Scheich-ul-Islam erhielt, war er dazu berechtigt, seine Funktionen auszu-üben.15 Damit hob der Istanbuler-Vertrag die Befugnisse des Ministeriums für auswärtigeund religiöse Angelegenheiten auf, das bis dahin für die Einstellung und Entlassung vonMuftis zuständig war. Mit der Unterzeichnung der Vereinbarung bestätigte Bulgarien nichtnur die bereits durch die Gesetzgebung festgelegte Religionsfreiheit, sondern verpflichtete

9 Dăržaven vestnik, Nr. 56 vom 9 Juli 1880.10 Ein Mufti ist ein Rechtsgelehrter, der ein islamrechtliches Gutachten (fatwa) über eine Rechtsfrage nach

Maßstäben des islamischen Rechts (fiqh) abgibt und dies gemäß der von ihm befolgten islamischenRechtsschule begründet. Im Osmanischen Reich stellte der Großmufti (Scheich-ul-Islam) bis 1924 diehöchste religiös-rechtliche Autorität dar.

11 Dăržaven vestnik, Nr. 210 vom 26 September 1895.12 Siehe mehr dazu Ismail Džambazov, Stremežat na totalitarnija režim da razedini mjusjulmanite na

etničeska osnova, in: Godišik na visšija mjusjulmanski institut, Nr. 3, Sofia 2011, 167-184, 171.13 Bogdan Kesjakov, Prinus kam diplomatičeskata istirija na Bălgarija 1878-1925, Tom I, Sofia 1925, 31.14 Vakuf (arab. waqf, Plural awqāf) ist eine fromme Stiftung. Im Osmanischen Reich spielten die vakufs

für die Finanzierung der Geistlichkeit eine zentrale Rolle. Das Stiftungsgut wurde von Privatleuten ge-stiftet, um religiösen und wohltätigen Einrichtungen zu dienen oder solche zu finanzieren. Das konntenMoscheen, religiöse Schulen (Medresen), Sufi-Konvente (Tekken) und Mausoleen (Türbe) aber auchkaritative und gemeinnützige Einrichtungen, darunter Armenküchen, Herbergen, Kranken- und Bade-häuser sowie Brücken und öffentliche Brunnen sein.

15 Kesjakov, Prinus kam, 32ff.

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sich, die religiösen Institutionen der Muslime finanziell zu unterstützen.16 Da die Muftis indieser Zeit die Funktion von Richtern ausübten, wurden sie zu Staatsbeamten erklärt.17 Eswar ferner vorgesehen, den Namen des jeweiligen Sultans des Osmanischen Reiches imFreitagsgebet zu erwähnen.18 Auf dieser rechtlichen Grundlage wurde am 8. Dezember1910 das Oberste Muftiamt – die wichtigste Religionsbehörde der bulgarischen Muslime –gegründet. Am selben Tag wurde der Regionalmufti von Sofia, Hodžazade MehmedMuhyiddin, als erster Obermufti der bulgarischen Muslime gewählt. Dieses Datum giltseither als das offizielle Gründungsdatum der Verwaltungsbehörde der bulgarischen Mus-lime.

Trotz der gewährten Minderheitenrechte und unterzeichneter bilateraler Abkommenwurden während der Balkankriege (1912-1913) Zwangsbekehrungsmaßnahmen unter Tei-len der bulgarischen Muslime durchgeführt.19 Betroffen waren durch diese Maßnahmen diePomaken (slawische Muslime), die entlang der bulgarisch-griechischen Grenze lebten.20 Anden Bekehrungen, die parallel zu der Besetzung der Rhodopen und der südlich gelegenenEbene an der Ägäis stattfanden, beteiligten sich Truppen der bulgarischen Armee, die bul-garische Orthodoxe Kirche sowie paramilitärische Einheiten. Die Kampagne fand die Un-terstützung der Regierung. Nach der Niederlage Bulgariens im Zweiten Balkankrieg wur-den die Christianisierungsmaßnahmen rückgängig gemacht.21 Durch die Bestimmungen destürkisch-bulgarischen Friedensvertrags vom 16./29. September 1913 wurden anschließenddie primär religiösen Diskriminierungsverbote wiederhergestellt. Sie sicherten allen inBulgarien lebenden muslimischen Bevölkerungsgruppen und Minderheiten (auch denPomaken) Rechtsgleichheit und Glaubensfreiheit zu.22 Am 27. November 1919 folgte derFriedensvertrag von Neuilly, der ebenfalls umfangreiche Schutzrechte für die Minderheitenin Bulgarien enthielt. Dazu gehörten neben dem Gleichheitsgrundsatz und dem Diskrimi-nierungsverbot (Art. 50 Abs. 1, 53 Abs. 1-2, 54) die Religionsfreiheit (Art. 50 Abs. 2), dasRecht auf die bulgarische Staatsangehörigkeit (Art. 51-52), der freie Gebrauch der Mutter-sprache im privaten und öffentlichen Bereich (Art. 53 Abs. 3-4), die minderheitenspezifi-

16 Ibrahim Jalamov, Formirane i razvitie na mjusjulmanskata obšnost v Bălgarija, in: Proceeding of theInternational Symposium on Islamic Civilisation in the Balkans, IRCICA Istanbul 2002, 289-301, hier293; Kalina Peeva, Bălgaro-turski dogovori i spogodbi i reguliraneto na dvustrannite otnošenija 1908-1938, in: Studia balcanica, 23 (2001), 700-714, hier 702; Gjudurov, Religioznata, 7.

17 Mustafa Hadži, Glavno mjuftijstvo sled demokratičnite promeni, in: Godišnik na visš isljamski institut,Nr.2, Sofia 2010, 5-21, hier 5.

18 Kesjakov, Prinus kam, 30.19 Eine Sammlung von Originaldokumenten zu diesem Ereignis findet sich in: Veličko Georgiev/ Stajko

Trifonov, Pokrastvaneto na balgarite Mohamedani 1912-1913, dokumenti, Sofia 1995.20 Bis zu den Balkankriegen war die Anzahl der Pomaken in Bulgarien relativ gering. Dies änderte sich im

Verlauf des Ersten Balkankrieges (1912), als die Rhodopen zu bulgarischem Staatsgebiet wurden. Dieüber 100.000 dort ansässigen Pomaken wurden nun als Risikofaktor für die nationalstaatliche Einheitempfunden. Armee, Kirche und paramilitärische Einheiten der MVORO (Innere Makedonisch-Thrakische Revolutionäre Organisation) starteten die ersten Versuche, die Pomaken für die „bulgarischeNation“ zu vereinnahmen. Vgl. Georgiev/ Trifonov, Pokrastvaneto sowie Alexander Velinov, ReligiöseIdentität im Zeitalter des Nationalismus. Die Pomakenfrage in Bulgarien, Köln 2001, 92.

21 Georgiev/ Trifonov, Pokrastvaneto; Velinov, Religiöse Identität, 92f.22 Höpken, Türkische Minderheiten, 231; Kesjakov, Prinus kam, Tom II, 92.

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sche Vereinigungsfreiheit (Art. 54) und das Recht auf muttersprachliche Schulen in denSiedlungsgebieten sprachlicher Minderheiten (Art. 55).23

Parallel dazu wurde am 19. Mai 1919 das erste „Statut für die geistliche Führung derMuslime im Königreich Bulgarien“ durch die Nationalversammlung verabschiedet.24 Die-ser Rechtsakt kodifizierte die Rechte und Pflichten sowohl der muslimischen Glaubensge-meinschaft als auch der staatlichen Institutionen. Der Obermufti agierte einerseits als Ver-mittler zwischen dem Scheich-ul-Islam in Istanbul und den regionalen Muftis in Bulgarien,andererseits zwischen der bulgarischen Regierung und der muslimischen Religionsgemein-schaft. Er wurde indirekt durch die Muslime gewählt, war jedoch von der Direktion fürreligiöse Angelegenheiten des Außenministeriums in Sofia abhängig, die seine Wahl bestä-tigen musste. Wenn es die Umstände erforderten, konnte sie dies auch verweigern.25

Dadurch wurde das Prinzip der freien Wahlen wieder eingeschränkt. Nach wie vor fandeine Diskriminierung der muslimischen Roma statt. Sie waren zwar Mitglieder der lokalenmuslimischen Gemeinden, ihnen wurden jedoch jegliche Wahlrechte sowie die Beteiligungan der Verwaltung verwehrt.26 Nach dem Putsch vom 9. Juni 1923 wurde das Statut derMuslime nach und nach außer Kraft gesetzt, so dass nach 1928 alle Obermuftis durch kö-nigliches Dekret ernannt wurden. Dasselbe galt für die regionalen Muftis und die Mufti-Vertretungen, die durch die bulgarische Regierung eingestellt wurden.27

In der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg muss der größte Teil der bulgarischen Muslimeals konservativ bezeichnet werden und sie begegneten den gesellschaftlichen Neuerungeneher mit Skepsis und Zurückhaltung. Die Abwanderung von städtischen Schichten undsonstigen Angehörigen der Oberschicht, die dem Zusammenbruch des Osmanischen Rei-ches folgte, verhinderte, dass sich eine moderne städtische Führungsschicht unter ihnenetablieren konnte.28 Die dörflichen Strukturen wurden so konserviert und die Mehrheit derMuslime verblieb in ihrer religiös geprägten Alltagskultur. Auch die Minderheitenschulenblieben theologisch ausgerichtet, vermittelten weder bulgarische Sprache noch säkulareFächer, weshalb sie ihren Absolventen in dem sich modernisierenden Bulgarien immerweniger Aufstiegschancen boten. Ab Ende der 1920er Jahre zeichneten sich unter Teilender muslimisch-türkischen Bevölkerung Ansätze einer Reformbewegung ab, die durch dierepublikanische Umgestaltung in der Türkei in Richtung Laizismus und Verwestlichungbeeinflusst war.29 Träger dieser Entwicklung waren türkische Intellektuelle und Lehrer,sowie Teile der städtischen Bevölkerung türkischer Herkunft.30 Als Gegner erwies sich die

23 Vgl. Küpper, Minderheitenschutz, 10.24 Statut der geistlichen Führung der Muslime im Königreich Bulgarien, [Ustav za duhovnoto ustrojstvo i

upravlenie na mjusjulmanite v carstvo Bălgarija], in: Dăržaven vestnik, Nr.63 vom 26 Juni 1919.25 Ibrahim Jalamov, Kemalizmat i otraženieto mu v Bălgarija, Avangard Prima, Sofia 2005, 187-235;

Željazkova, Daržavata.26 Statut der geistlichen Führung, 1919.27 Željazkova, Daržavata; Jalamov, Formirane, 295.28 Höpken, Türkische Minderheiten, 230.29 Zum Kemalismus in der Zwischenkriegszeit siehe: Ibrahim Jalamov, Kemalismat i otraženieto mu v

Bălgarija, Sofia 2005, 206; Jordanka Bibina, Mjusjulmanskite družestva i organisacii v Bălgarija (1878-1944) v bălgarskite arhivni fondove, in: Proceeding of the International Symposium on Islamic Civilisa-tion in the Balkans, IRCICA Istanbul 2002,139-151.

30 Vereinzelt gab es einige Vertreter der Geistlichkeit, wie den Scheriats-Sekretär bei der Muftibehörde inPlovdiv, Adil Aliev, die mit den neuen Ideen sympathisierten oder ihnen zumindest nicht ablehnend ge-

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Mehrheit der konservativen Ulemas, die ihr Hauptinteresse in der Wahrung religiöser Au-tonomie sah. Unter dem Einfluss kemalistischer Ideen wollten türkische Intellektuelle dieMinderheitenschulen reformieren und sie setzten sich dafür ein, dass Fächer wie bulgari-sche Sprache, Geographie, Geschichte und andere säkulare Unterrichtseinheiten eingeführtwurden.31 Parallel dazu gründeten sie einige Bildungs-, Kultur- und Sportvereine, wieTuran, Alp Arslan, Dzemieti Hajrie, Altan Ordu und Şefkat Hajrie, und versuchten ihreÜberzeugungen auf den Seiten der sich langsam pluralisierenden türkisch-muslimischenPresse Ausdruck zu verleihen.32 1929 fand in Šumen ein Kongress der türkischen Lehrer inBulgarien statt, bei dem Bekir Sadk (ein ehemaliger Abgeordneter) als Leiter der Bewe-gung gewählt wurde. Im selben Jahr wurde die Organisation Divana Rijaset gegründet,deren Ziel die „kulturelle Entwicklung der bulgarischen Türken, die Festigung ihren Be-wusstseins und die Propagierung der nationalen Ideen von Mustafa Kemal sowie der Schutzder Minderheitenrechte“ war.33

Ende der 1920er Jahre begann unter türkisch-muslimischen Intellektuellen eine Debatteüber die Notwendigkeit, die Scheriatsgerichte zu reformieren und es wurden Forderungenlaut, sie durch säkulare Gerichte zu ersetzen. Nicht zuletzt waren es praktische Gründe, dieeine Rolle spielten. Da die Scharia-Richter kaum Kenntnisse des bulgarischen Zivilrechtshatten, soll dies zu erheblichen Verzögerungen bei Beschlüssen geführt haben.34 Die bulga-rische Regierung kam diesen Forderungen entgegen und das Parlament verabschiedete am15 Juli 1938 ein neues Gesetz, gemäß dem die Tätigkeitsbereiche der Scheriatsgerichtebegrenzt wurden. Ehe- und Familienangelegenheiten blieben weiterhin ihnen überlassen.35

Abgesehen von dieser Entscheidung verfolgte die bulgarische Regierung die neuen Ent-wicklungen mit großem Misstrauen. Da kemalistische Ideen als Träger des türkischen Nati-onalismus und des Republikanismus angesehen wurden, galten sie als Gefahr für den bulga-rischen monarchischen Staat. Deshalb unterstützte die Regierung die konservativen Ule-mas, die sich gegen kemalistische Ideen wendeten. So musste Sjulejman Faik, ein Befür-worter von Reformen, der 1927 als Obermufti gewählt wurde, auf Druck der Regierungzurücktreten und der konservative Hjusein Hjusnju wurde als Obermufti eingesetzt.36

Nachdem 1928 die Lateinschrift in den Minderheitenschulen eingeführt wurde, musstediese Reform wegen des Widerstandes der konservativen muslimischen Geistlichkeit rück-gängig gemacht werden und die alte arabische Schrift wurde (bis 1938) wieder eingeführt.37

Zahlreiche Berichte und Resolutionen aus der Zeit zwischen 1929-1939 zeigen, dass ver-schiedene Organisationen, unten denen sich auch Turan sowie mehrere türkische Schulenbefanden, durch Sicherheitskräfte und Einheiten des Ministeriums für Bildung überwacht

genüber standen. Sie waren jedoch Ausnahmen. Siehe dazu Jalamov, Kemalismat, 206.31 Željazkova, Sadbata.32 Mehr dazu Krastjo Mančev/ Elena Doičinova, Mjusjulmanskoto naselenie ot severoiztočna Bălgarija v

bălgarskata i turskata politika (1919-1939), in: Istoričeski pregled Nr. 5. Sofia 1991, 57-73.33 Jalamov, Kemalismat, 296.34 Ebda.35 Ebda.36 Ibrahim Jalamov, Trudnorešimite problemi na Glavno Mjuftiistvo, in: Mjusjulmani, November 2010, 8-

10.37 Željazkova, Daržavata; Jalamov, Kemalismat, 204.

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wurden.38 Als 1934 infolge des Militärputsches ein autoritäres System in Bulgarien errich-tet wurde, und die letzten Reste des demokratischen Nachkriegssystems beseitigt wurden,wurde eine Reihe von türkischen Schulen geschlossen, reformorientierte Lehrer entlassenund türkische Zeitschriften in ihrer Tätigkeit eingeschränkt. Politische Parteien und alleArten von Organisationen auf ethnischer Basis wurden aufgelöst.39

Die Muslime nach 1945Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Kommunisten an die Macht kamen, versuchten dieneuen Machthaber die muslimischen Bevölkerungsgruppen in Modernisierungsmaßnahmenmiteinzubeziehen und ihnen wurden neue Möglichkeiten für sozialen Ausstieg geboten.Parallel dazu wurde das religiöse Leben immer mehr eingeschränkt. In den späten 1940erund frühen 1950er Jahren wurden ethnische Besonderheiten zunächst toleriert, indem türki-sche Schulen, Zeitungen und Theater etabliert wurden.40 Auch Bildungsmaßnahmen fürPomaken und Roma wurden verabschiedet.41 Diese Schulen verloren allerdings ihren Statusals autonom verwaltete Privatschulen und wurden staatlicher Kontrolle unterworfen. DasZiel, das dadurch verfolgt wurde, war, eine neue säkulare Elite zu fördern, die sich zurmarxistischen Ideologie und Regierung loyal verhielt. Atheistische Propaganda und Unter-drückung der religiösen Identifikation waren die Folgen dieser Politik. Der Islam wurdezum Aberglauben, einem Überrest der Vergangenheit, degradiert. Islamische Sitten, religiö-se Bräuche und Alltagskultur wurden einer säkularisierten Vereinheitlichung unterworfen,in der Hoffnung, so auch das Bewusstsein kultureller Eigenständigkeit zu eliminieren. AlsErgebnis der „kulturellen Revolution“ sollte unter den neuen politischen Führungen einneues soziales Kollektiv entstehen; auf der Basis der marxistisch-leninistischen Ideologiesollte entsprechend eine neue Identität begründet werden.

Bereits Anfang 1945 kam es nach einer Entscheidung des Politbüros der BulgarischenArbeiterpartei (Kommunisten) vom 12. Februar 1945 zu einer „Säuberung“ der Mufti-Behörde.42 Diese Aktion betraf nicht nur diejenigen Geistlichen, die mit der früheren Re-gierung kooperierten, sondern auch Hodžas und einfache Muslime, die sich für die Bewah-rung religiöser Rechte einsetzten. 1945 wurden einige Lehrer der Medrese Nüvvab in Šu-men sowie weitere Geistliche verhaftet. Es fanden Prozesse in Šumen, Russe und anderenStädten statt und es wurden Gefängnisstrafen gegen Geistliche verhängt.43 Laut „Gesetzüber die Volksbildung“ von 1946 wurden religiöse Fächer nur noch fakultativ angeboten.Zur selben Zeit begann die stufenweise Schließung der vorhandenen Medresen. 1945 gab esin Nordbulgarien nur noch die Medresen in Šumen und Ljuljakovo (Ajtovo-Bezierk). 1947wurde die geistliche Schule Nüvvab in Šumen säkularisiert. Weitere Maßnahmen, mit demZiel, die Tätigkeit der Muftiämter einzuschränken, wurden durchgeführt. Die Zahl der Muf-tiämter wurde von 38 (im Jahr 1943) auf 17 im Jahr 1947 reduziert.44

38 Jalamov, Kemalizmat; Bibina, Mjusjulmanskite družestva.39 Höpken, Türkische Minderheiten, 236f; Jalamov, Kemalismat, 199f.40 Željazkova, Sădbata na turskoto malcinstvo.41 Džambazov, Stremežat na totalitarnija, 178f.42 Jalamov, Formirane i razvitie, 296;43 Ebda.; Osman Kiliç, Kader Kurbanlari, Ankara 1989, 504.44 Jalamov, Formirane i razvitie, 296.

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Mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Konfessionen am 24. Februar 1949 wur-de die Selbstverwaltung der Muslime praktisch beendet. Das eingeführte System der Re-gistrierung erlaubte dabei der politischen Führung, starken Einfluss bei der Wahl der Muftisund der Mufti-Vertretungen auszuüben. Nach Art.12 des Gesetzes war die Direktion fürreligiöse Angelegenheiten dazu berechtigt, Geistliche zu entlassen.45 Das Gesetz begrenztenoch die Möglichkeit der internationalen Beziehungen islamischer Geistlichen. JeglicheKontaktaufnahme mit ausländischen islamischen Institutionen und deren Vertretern war nurmit der Erlaubnis der Direktion für religiöse Angelegenheiten möglich. Noch im Jahr 1945verloren die Scheriat-Gerichte das Recht, sich um Familienangelegenheiten (Eheschließun-gen und Scheidungen) zu kümmern. Ihre Tätigkeit wurde auf Disziplinarverfahren gegen-über muslimischen Geistlichen begrenzt.46

Am 22. Mai 1951 wurde ein neues Statut der Verwaltung der Muslime in der RepublikBulgarien verabschiedet.47 Der Obermufti sowie die Mitglieder des Muslimischen Ratessollten nunmehr durch die muslimische Gemeinschaft gewählt werden. Dies blieb jedochbis zum Ende der kommunistischen Diktatur „ein guter Wunsch“. Obermufti konnte nurderjenige werden, der durch die Partei dafür bestimmt wurde.48 Darüber hinaus verpflichte-ten sich der Obermufti und die restlichen Muftis „Maßnahmen der Kommunistischen Parteizu unterstützen und zu popularisieren“.49 Das Oberste Muftiamt sollte jährliche Berichteüber Einnahmen und Spenden, die den Moscheen zugutegekommen waren, beim Ministeri-um vorlegen (Art. 134). Bereits bei der Vorbereitung des Statutes wurde zudem deutlich,dass eine Trennung zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen im Lande angestrebtwurde. So wurde der Entwurf des Statutes, nachdem er beim Ministerium für innere Ange-legenheiten eingereicht worden war, mit der Forderung zurückgewiesen, dass es sich absofort nur noch an die bulgarischen Türken richten sollte.50 Daraufhin wurde das Statutüberarbeitet, indem Pomaken, Roma und Tataren aus ihm ausgeschlossen wurden. Es han-delte sich dabei um die erste Maßnahme des „sozialistischen Bulgariens“, die die bulgari-schen Muslime im religiösen Bereich nach ethnischem Prinzip differenzierte. Im selbenJahr (1951) wurde die regionale Muftibehörde in Smoljan (Pomaken) aus dem Obermuf-tiamt in Sofia ausgegliedert.51 Alle muslimischen Gemeinden in den rhodopischen Gebieten(Pomaken) wurden unter die Leitung der Verwaltung in Smoljan gestellt. Türkische Imame,Hodžas und Lehrer, die in den von Pomaken bewohnten Rhodopen-Gebieten tätig waren,wurden abgesetzt.52 Pomakischen Kindern wurde verboten, türkische Schulen zu besuchen.Während der Amtszeit des Obermuftis der bulgarischen Türken, Hasan Ademov (1964-1976), wurde schließlich ein Oberstes Muftiamt der Pomaken in Velingrad gegründet. Die-se Trennung blieb bis 1989 erhalten.

Nach dem Oktober-Plenum des ZK der BKP im Jahr 1958 verstärkte sich der Druck aufbulgarische Türken und andere Minderheitengruppen auch in Richtung der nationalen In-

45 Ebda., 297.46 Ibrahim Jalamov, Islam i demokratija, Sofia 2008, 199.47 Zbornik ot normativni dokumenti, otnasjašti se do veroizpovedanijata, Sofia 1982.48 Istorija na institucijata, unter <http://www.grandmufti.bg/bg/aboutus/history.html> (07.04.2011).49 Jalamov, Formirane i razvitie, 297.50 Gžambazov, Stremežat na totalitarnija, 168f.51 Džambazov, Stremežat 181.52 Ebda., 179.

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tegration.53 Die Zielvorstellung einer „einheitlichen sozialistischen Nation“ sollte durch dieÜberwindung nicht nur religiöser, sondern auch ethnischer Spezifika erreicht werden. Eskam zu zunehmendem Abbau nationaler Identifikationsmöglichkeiten. So wurden ab 1958die türkischen Schulen aufgelöst und Türkisch wurde nur noch als Wahlfach unterrichtet;die Zahl der türkischsprachigen Publikationen ging kontinuierlich zurück.54 Da sich vielePomaken und Türken nach wie vor religiös definierten, wurde der Islam auch weiterhin alsHaupthindernis auf dem Weg zur „Annäherung der Arbeiter aller Nationalitäten in Bulgari-en“ angesehen. Deshalb wurden weitere Maßnahmen verabschiedet, um die konfessionellenUnterschiede zu überwinden. Die lokalen Parteikomitees übernahmen die Verpflichtung,„systematische atheistische Propaganda unter der türkischen und muslimischen Bevölke-rung durchzuführen“.55 Während einer Sondersitzung des Politbüros am 25. März 1960mussten die Machthaber sich jedoch eingestehen, dass die „Lage bezüglich der atheisti-schen Propaganda unter der türkischen Bevölkerung“ beunruhigend sei. Während der Sit-zung wurde darauf hingewiesen, dass laut innerparteilicher Informationen zwei Drittel derTürken weiterhin an ihrem Glauben festhielten, 95% schlossen religiöse Ehen und 99% derJungen wurden beschnitten.56 Deshalb wurden weitere administrative und propagandisti-sche Maßnahmen verabschiedet, um die „Rolle der Religion in der Öffentlichkeit wie auchin der Familie zu unterbinden und an deren Stelle sozialistische Rituale einzuführen“.57 ImDezember 1959 beschloss das Ministerium für Gesundheit und soziale Fürsorge, dass Be-schneidungen nur durch einen Arzt durchgeführt werden dürften, „bis dieser Brauch frei-willig aufgegeben wird“.58 Im selben Jahr begann eine „Entschleierungskampagne“. Türki-sche und muslimische Frauen mit Kopftuchbedeckung und Pluderhosen wurden nicht mehrzur Arbeit in Betrieben und auf dem Feld zugelassen. Durch Entscheidung des ZK der BKPwurde die Zahl der muslimischen lokalen Gemeinden in den Gebieten mit türkischer Be-völkerung auf 500 und in pomakischen Ortschaften auf 80 reduziert. Die Zahl der Hodžaswurde entsprechend von 3.200 auf 580 Personen reduziert. Allein in den pomakisch besie-delten Gebieten mussten 124 Moscheen schließen. Als Imame und Muftis wurden fortannur der „Volksmacht“ loyale Personen eingestellt.59 Im Jahr 1960 waren es schließlich nurnoch sieben Muftiämter, die in Sofia, Plovdiv, Kardžali, Ajtos, Šumen, Razgrad, und Smol-jan übrig blieben.60

Die erzwungenen Namensänderungen gegenüber muslimischen Minderheitengruppenstellten schließlich die radikalsten Schritte dar, um die ethnischen Minderheiten in die „ein-heitliche sozialistische Nation“ zu „integrieren“. Bereits 1962 wurden die türkisch-arabischen Namen der muslimischen Roma durch bulgarische ersetzt. Nachdem eine ähnli-

53 Während des Plenums stellte das Politbüro des ZK der BKP seine „Thesen zur weiteren Arbeit unter dertürkischen Bevölkerung“ vor. Als Hauptziel wurde eine „Annährung der Arbeiter aller Nationalitäten inBulgarien und die Festigung der Einheit des bulgarischen Volkes“ bekundet. Centralen dăržaven isto-ričeski arhiv, f.1, op.5, a.e. 353, l. 442, 470.

54 Höpken, Türkische Minderheiten, 242.55 Jalamov, Formirane, 298.56 Ebda.57 Ebda.58 Ebda.59 Zentralen Dăržaven Arhiv, f.1, op.5, a.s. 420, l. 29.60 Dzambazov, Stremežat, 182.

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che Kampagne gegenüber den Pomaken wegen deren Widerstand 1964 abgebrochen wurde,fand eine weitere Kampagne zwischen 1971 und 1972 statt. 1984-1989 wurde eine Na-mensänderungs- und Zwangsbulgarisierungskampagne gegenüber den Türken durchge-führt. Es wurde erklärt, dass es in Bulgarien keine Türken gibt, es handele sich bei ihnenum Nachfolger von Bulgaren, die während des Osmanischen Reiches mit Gewalt islami-siert wurden. Neben der erzwungenen Namensänderung wurden strenge Maßnahmen gegenden öffentlichen Gebrauch der türkischen Sprache und die Ausübung religiöser Praktikenunternommen. Man sprach von einem „Wiedergeburtsprozess“, ein Begriff, der aus derGeschichte entnommen wurde und sich auf den Nationsbildungsprozess der bulgarischenMehrheitsgesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts bezog. Im Frühjahr und Sommer 1989fanden Massenproteste der bulgarischen Türken und Pomaken statt. Nachdem am 29. Mai1989 die Auswanderungsbeschränkungen aufgehoben worden waren, verließen innerhalbweniger Wochen 300.000 Türken das Land in Richtung Türkei.

Die Ära des Sozialismus mit seinem verordneten Atheismus trug wesentlich dazu bei,dass der Kreis der Gläubigen unter den Türken, Pomaken und Roma reduziert wurde. Ob-wohl ein bis zwei Generationen atheistisch erzogen wurden, lässt sich heute jedoch nichtkonstatieren, dass größere Teile von ihnen der Religion ablehnend gegenüberstehen. Reli-gionszugehörigkeiten sind flexibel und fragmentierter geworden, sie sind aber nicht ver-schwunden. Dies gilt häufig selbst für Personen, die nicht als gläubig zu bezeichnen sind.Die Religion hat über das Sakrale hinaus auch eine eminent profane Funktion als kultur-und identitätsstiftendes Merkmal.

Demographische und ethno-religiöse Aspekte2011 betrug die Gesamtbevölkerung Bulgariens 7.364.570 Einwohner. 4.374.135 von ihnenhaben sich als christlich-orthodox, 48.945 als Katholiken, 64.476 als Protestanten und577.139 als Muslime bezeichnet.61 Die ethnischen Türken bilden dabei nach wie vor diegrößte Gruppe, die sich zum Islam bekennt – 588.318 Personen nach der Volkszählung von2011. Von ihnen haben sich 444.430 Personen oder 87,6% als Muslime bezeichnet. Dietürkische Minderheit siedelt relativ kompakt im Südosten und im Nordosten und erreichteine höhere Konzentration in den Gebieten Kardžali (66%), Razgrad (50%), Targovište(36%), Silistra (36%) und Šumen (30%) (Anhang, Karte 4).62 Diese Minderheit ist nicht nurdie größte, sondern auch die im öffentlichen Bewusstsein problematischste, erinnert siedoch an die fünfhundertjährige „Türkenherrschaft“. Den ethnischen Türken wird nicht sel-ten unterstellt, ihre Loyalität gelte mehr dem türkischen als dem bulgarischen Staat. Seit derGründung des modernen bulgarischen Staates (1878) gab es eine kontinuierliche Auswan-derung von Türken, die sich während der neuesten und jüngsten Geschichte Bulgariensfortsetzte.

61 Census of the Population and Housing in Bulgaria in 2011.62 Naselenie po mestoživeene i etničeska grupa, in: Census of the Population and Housing in Bulgaria in

2011, National Statistical Institute, Republic of Bulgaria, unter<http://censusresults.nsi.bg/Census/Reports/2/2/R7.aspx>. Zur administrativen Gliederung Bulgarienssiehe Anhang (Karte 2).

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Wenig bekannt unter den bulgarischen Türken sind die Aleviten.63 Diese türkischspra-chige muslimische Bevölkerungsgruppe, die noch unter den Namen Kizilbašen (türk. Kizil-baş, „Rotköpfe“) oder Alianen bekannt ist, siedelt im Norden zwischen den Städten Raz-grad und Silistra, in der mittelbulgarischen Region in der Gemeinde Kotel sowie im Südenin den Bezirken Haskovo und Kardžali in den Ostrhodopen (s. Anhang, Karte 5). Da es beiden Volkszählungen keine eigenständige Kategorie „Aleviten“ gibt, haben sich die Vertre-ter dieser Gemeinschaft vorwiegend als Schiiten deklariert. Waren es im Jahr 1992 83.500Personen, die sich als solche bezeichneten, sank ihre Zahl im Jahr 2001 auf 53.000 und imJahr 2011 auf 27.407 Personen – ein erheblicher Rückgang, der in erster Linie auf die mas-sive Migration zurückzuführen ist. Die Mehrheit der Aleviten wanderte in der ersten Hälftedes 16. Jahrhunderts aus Anatolien ein und siedelte im Nordosten des heutigen Bulgari-ens.64 Wegen der zentralen Rolle, die Ali, der Schwiegersohn des Propheten Mohammeds,in ihrer Lehre annimmt, werden sie oft dem schiitischen Islam zugerechnet. Aufgrund einerReihe eigenständiger religiöser und sozialer Traditionen wäre es jedoch zutreffender, sie alseigenständiges Phänomen innerhalb des islamischen kulturellen Feldes zu bezeichnen. Seitdem 17. Jahrhundert verband sich ein Teil der Gemeinschaft organisatorisch mit dem Der-wischorden der Bektaschi. Die Aleviten wurden von der Mehrheit der Sunniten als Häreti-ker angesehen und deshalb wiederholt verfolgt. Nach 1945 kam es unter ihnen zu einersozialen und religiösen Umgestaltung. Die Isolation der Aleviten wurde beendet, die seg-mentäre Struktur der Glaubensgemeinschaft z. T. aufgehoben. In Folge der restriktivenPolitik der sozialistischen Regierung verloren die religiösen Würdenträger bedeutend anAutorität. Wie alle anderen Muslime im Lande mussten sie Mitte der 1980er Jahre ihreislamisch-türkischen Namen ändern. In der nochmals veränderten Situation nach 1989lassen sich parallel zu neu gewonnenen religiösen Freiheiten und dem Erstarken religiöserSymbolik noch zwei Faktoren erkennen, die für die Entwicklung dieser Bevölkerungsgrup-pe von Bedeutung sind: der Einfluss aus der Türkei und die innere wie äußere Migration.Das seit den 1990er Jahren in der Türkei erfolgte Wiederaufleben des alevitischen Islamführt allgemein zu einer Öffnung der Gemeinschaft nach außen, wobei das Prinzip der

63 Die Mehrzahl der Aleviten lebt in der Türkei. Aleviten und Bektaschie-Anhänger gibt es noch inAlbanien, Kosovo, Makedonien und in Westthrakien (Griechenland). Zu den Aleviten siehe u.a. MarkusDressler, Die Alevitische Religion, Würzburg: Ergon-Verl, 2002; Ders. Writing Religion: The Makingof Turkish Alevi Islam, New York and Oxford: Oxford University Press 2013; Langer, Robert u.a.(Hg.), Ocak und Dedelik: Institutionen religiösen Spezialistentums bei den Aleviten, (HeidelbergerStudien zur Geschichte und Kultur des modernen Vorderen Orients, 36) Frankfurt am Main et al.: PeterLang 2013; Jordanka Telbizova-Sack, Die Aleviten Bulgariens – Tradition und Neubestimmungen imKontext gesellschaftlichen Wandels, in: Voß/ Telbizova-Sack (Hg.), Islam in (Südost)Europa, 173-195;Hande Sözer, Managing Invisibility. Dissimulation and Identity Maintenance among Alevi BulgarianTurks, Leiden [u.a.]: Brill, 2014.

64 Siehe dazu: Strašimir Dimitrov, Novi danni za demografskite otnošenija v južna Dobdudža prez părvatapolovina na 16. Bek, in: Dobrudža 13 (1999), 278-333; Nevena Gramatikova, Žitieto na Demir Baba isăzdavaneto na răkopisi ot mjusjulmanite ot heterodoksnite tečenija na islama v severoiztočna Bălgarija,in: Rosica Gradeva/ Cvetlana Ivanova (Hg.), Mjusjulmanskata kultura po bălgarskite zemi, Sofia: IMIR1998, 400-433; Nevena Gramatikova, Islamski neortodoksalni tečenija v bălgarskite zemi, in: RosicaGradeva (Hg.), Istorija na mjusjulmanskata kultura po bălgarskite zemi, Sofia: IMIR, 2001, 192-284;Ders. Prevratnostite na vremeto i problemat s identičnostta na alianite v Bălgarija, in: AntoninaŽeljazkova/ Jorgen Nilsen (Hg.), Etnologija na sufitskite ordeni – teorija i praktika, Sofia: IMIR, 2001,254-319.

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Geheimhaltung ihrer Lehre (takiye) aufgegeben wird. Die Aleviten organisieren sich zu-nehmend in Vereinigungen. Die massive Migration in die Türkei, aber auch nach Westeu-ropa bringt ihrerseits eine Schwächung der traditionellen sozio-kulturellen Struktur mitsich. Auch wenn in der alltäglichen Kommunikation die Vorurteile zwischen Aleviten undSunniten keineswegs verschwunden sind, sind die Beziehungen zwischen diesen muslimi-schen Gruppen eher entspannt.

Nicht gesondert in der Statistik erfasst sind die Pomaken, bulgarisch sprechende Mus-lime, die sich mehrheitlich zum Islam bekennen.65 Sie bewohnen fast ausschließlich dieGebiete des im Süden Bulgariens gelegenen Rhodopengebirges (die Bezirke Smoljan undPazardžik, im begrenzten Ausmaß auch Kardžali) sowie den südöstlichen Abhang des Pi-ringebirges (Blagoevgrad). Ein kleinerer Teil hat sich in den nördlich gelegenen Gebietenum Teteven, Pleven und Loveč niedergelassen. Nach Schätzungen variiert ihre Gesamtzahlzwischen 200.000 – 250.000 Personen. Bei den Pomaken handelt es sich um die Nachfah-ren der ortansässigen südslawischen Bevölkerung, die während der osmanischen Herrschaftin Bulgarien (1396-1878) zum Islam übertrat. Die Sprache sowie viele lokale Bräuchewurden weiter bewahrt. Wegen ihrer gemeinsamen Herkunft mit der christlichen Mehr-heitsbevölkerung, waren sie im Verlauf der Geschichte immer wieder massiven Homogeni-sierungszwängen ausgesetzt. Sie gerieten zwischen die Definitionsfronten und mussten sichentscheiden: Entweder bekannten sie sich zu einer gemeinsamen Herkunft mit der christli-chen Mehrheit und mussten sich wegen ihrer „falschen“ Religion rechtfertigen bezie-hungsweise diese aufgeben, oder sie bestimmten sich weiter durch ihre Religion und wur-den deshalb als Fremde betrachtet. Parallel zu anderen „Bulgarisierungsmaßnahmen“ sindsie insgesamt viermal gezwungen worden, ihre türkisch-muslimischen Namen durch bulga-rische zu ersetzen (1912-1913; 1942-1944, 1962, 1971-1974). Bis in die Gegenwart ist ihreIdentität durch Hybridität und Flexibilität gekennzeichnet. Pomaken bezeichnen sich teilsals Bulgaren, teils als Türken und teils als eine eigenständige Gruppe.

Mit 320.761 Angehörigen bilden die Roma die zweite große Minderheit Bulgariens.Experten schätzen ihre Zahl höher.66 2011 bezeichneten sich 18,3% von ihnen als Muslime,36,6% als christlich-orthodox, 10,1% als Protestanten, 30.500 Personen gaben keine Kon-fession an und fast 50.000 machten keine Angaben zu ihrer religiösen Zugehörigkeit. DieSiedlung dieser Bevölkerungsgruppe geht ins 13. Jahrhundert zurück. Die Mehrheit vonihnen konvertierte in der Zeit zwischen 16. und 17. Jahrhundert zum Islam.67 Die Romaleben in der Regel unter diskriminierten Umständen in gesonderten Gebieten der Städte

65 Zu den Pomaken siehe u.a. Ulf Brunnbauer, An den Grenzen von Staat und Nation. Identitätsproblemeder Pomaken Bulgariens, in: Ulf Brunnbauer (Hg.), Umstrittene Identitäten. Ethnizität und Nationalitätin Südosteuropa, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang, 2002, 97-121; Ethnologia Balkanica, Zeitschriftfür die Anthropologie Südosteuropas 3(1999), Alexander Velinov, Religiöse Identität im Zeitalter desNationalismus. Die Pomakenfrage in Bulgarien, Köln 2001; Evangelos Karagiannis, Flexibilität undDefinitionsvielfalt pomakischer Marginalität, Otto Harrassowitz Verlag 2005; Mary Neuberger, TheOrient within - Muslim minorities and the negotiation of nationhood in modern Bulgaria, CornellUniversity Press, 2004; Klaus Steinke/ Christian Voss (Hg.), The Pomaks in Greece and Bulgaria. Amodel case for borderland minorities in the Balkans, München (Südosteuropa Studien, Bd. 73);Evgenija Ivanova, Identičnost i identičnosti na Pomacite v Bălgarija, in: Spisanie na institut zamodernostta, 6. März 2012.

66 Siehe dazu Elena Marušiakova/ Veselin Popov, Čiganite v Bălgarija, Sofia: Klub’90, 1993, 94f.67 Elena Marušiakova/ Veselin Popov, Čiganite v Osmanskata imperija, Sofia: Litavr, 2000.

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oder am Rande der Dörfer und sind Ausgrenzungsmechanismen ausgesetzt. Sie sind inallen Bezirken des Landes verteilt, die größte Konzentration erreichen sie jedoch in denBezirken Montana (12,7%), Sliven (11,8%), Dobrič (8,8%) und Jambol (8,5%), bei durch-schnittlich 4,9% im Land.68 Die Roma-Bevölkerung ist, in Abhängigkeit von Siedlungsortund beruflicher Tätigkeit, stark segmentiert. Ihr Bildungsstand ist niedrig. Die Einstellungder restlichen Bevölkerung Bulgariens gegenüber dieser Minderheit ist von Feinbildern undnegativen Stereotypen geprägt. Die Roma sind besonders stark von der Wirtschaftskrisebetroffen und sie stehen nach wie vor am Rande der Gesellschaft.

Mitte der 1990er bestimmten sich 39,7% der Roma als Muslime und 56,7% alsChristen.69 Von den insgesamt 370.908 Roma, die 2001 in Bulgarien lebten, haben sich180.326 als christlich Orthodox, 103.483 als Muslime (27,9%) und 24.651 als Protestantenbezeichnet. In den letzten zehn Jahren ist der Anteil der Protestanten unter ihnen rapidegestiegen. Obwohl die Religiosität der muslimischen Roma durch Synkretismus stark ge-prägt ist, lassen sich unter Vertretern dieser Bevölkerungsgruppe spezifische Prozesse derRe-Islamisierung beobachten und Roma sind eher geneigt, von den lokalen islamischenTraditionen abzuweichen. Das Roma-Viertel in Pazardžik ist der einzige Ort in Bulgarien,wo die Burka getragen wird. Ethnische und kulturelle Unterschiede zwischen den einzelnenmuslimischen Gruppen in Bulgarien machen es notwendig, die heutigen Prozesse der Re-Islamisierung ausgehend von lokalen Kontexten zu untersuchen.

1992 umfasste die Gemeinschaft der Tataren 4.515 Mitglieder, um 1870 zählte sie nochca. 100.000 Personen. Die Tataren lebten überwiegend im Nordosten Bulgariens in den vonethnischen Türken bewohnten Regionen und gingen im 20. Jahrhundert sprachlich undkulturell weitgehend in der türkischen Minderheit auf. Ein Teil wanderte in die Türkei ab.70

In den letzten zwanzig Jahren nach der politischen Wende lässt sich in den Regionen,die von muslimischen Bevölkerungsgruppen bewohnt sind, mit unterschiedlicher Intensität,ein Prozess religiöser Erneuerung feststellen. Ein Prozess, der eine globale Dimensionaufweist. Zugleich kann er aber auch nur vor dem Hintergrund der lokalen historischen undsozio-politischen Kontexte verstanden werden. Um die Tendenzen religiöser Erneuerungunter Teilen der bulgarischen Muslimen verstehen zu können, werden im Folgenden diewichtigsten Institutionen und die Verwaltungsstrukturen der muslimischen Glaubensge-meinschaft dargestellt sowie Machtkonflikte und Differenzierungsprozesse im Rahmen dermuslimischen Glaubensgemeinschaft ins Zentrum der Analyse gerückt.

2. Struktur der muslimischen Glaubensgemeinschaft nach 1989

Die Arbeit in den Gremien und Verwaltungsstrukturen der bulgarischen Muslime bildeteinen wichtigen Aspekt der religiösen Erneuerung nach 1989. Im Verlauf eines Jahrhun-derts (ab etwa 1910) hatte sich hierbei eine religiöse Hierarchie herausgebildet, die seit der

68 Census of the Population in Bulgaria, 2011.69 Ilona Tomova, Romi, in: Anna Krasteva, Obštnosti i identičnosti v Bălgarija, Sofia: Petekson, 1998,

329-355, hier 341.70 Vgl. dazu Ali Eminov, Turks and Tatars in Bulgaria and the Balkans, in: Nationalities Papers 28, Nr.1

(2000), 129-164, hier 137.

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Struktur der muslimischen Glaubensgemeinschaft nach 1989 45

politischen Wende einen Prozess der organisatorischen Umstrukturierung durchläuft.Grundlage der Hierarchie ist die zentrale Leitung in der Gestalt des Obermuftis sowie desObersten Muslimischen Rates. Das Oberste Muftiamt – die zentrale Institution der bulgari-schen Muslime – unterstützt dabei die Arbeit aller Führungsorgane. Zum anderen gilt dasPrinzip der Beratung (shura), das auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene angewandtwird. Das führt zu einer Öffnung und Demokratisierung der Leitungstätigkeit durch kollek-tive Konsensbildung.

Die über eine autonome Verwaltung verfügende Glaubensgemeinschaft der bulgari-schen Muslime samt ihren religiösen Institutionen wird auf Bulgarisch als Mjusulmanskoizpovedanie bezeichnet. Diese Bezeichnung hat auf Deutsch kein direktes Äquivalent undlässt sich als „Muslimische Glaubensgemeinschaft“, „Muslimische Religionsausübung“oder einfach als „Muslimische Konfession“ wiedergeben. Alle Muslime, die in der Repub-lik Bulgarien leben, „unabhängig welcher ethnischen Herkunft oder welcher Richtung desIslam sie angehören, gehören der Gemeinschaft an, soweit sie sich dazu bekennen wol-len“.71 Ihre Verwaltungsbehörde wird als juristische Person anerkannt. Gegenwärtig (2011)umfasst die islamische Glaubensgemeinschaft ca. 1.500 Moscheen und Mesdžids (islami-sche Gotteshäuser ohne Minarett), etwa 50 Tekkes und Türbes (muslimische Mausoleenoder Grabstätten). Das Oberste Muftiamt in Sofia ist durch 21 regionale Muftiämter in denProvinzen vertreten. Verwaltungssprache ist Bulgarisch. Bei der Durchführung der Gottes-dienste sowie weiteren Ritualen können auch andere Sprachen, die der Tradition der bulga-rischen Muslime entsprechen, verwendet werden (wie Türkisch, Romanes oder Arabisch).72

In Übereinstimmung mit den geltenden Rechtsvorschriften können Vertreter der Gemein-schaft soziale, medizinische und Bildungseinrichtungen eröffnen. Die Organisationsstrukturder islamischen Glaubensgemeinschaft wird interne Statuten reglementiert, die in regelmä-ßigen Abständen während der Nationalen Muslimischen Konferenz der Muslime verab-schiedet werden. Das Problem, das sich daraus ergibt, ist, dass das aktuelle Statut bei jederweiteren Muslimischen Konferenz bestätigt, verändert oder neu verfasst werden kann. Umals legitim erklärt zu werden, muss das Statut anschließend vom Sofioter Gericht (bis 2002durch die Direktion für Religionsangelegenheiten) in das dortige Register eingetragen wer-den. Dieser Sachverhalt sowie die praktische Anfechtbarkeit der Statuten macht sie zu-gleich anfällig für Manipulationen sowohl durch konkurrierende Fraktionen innerhalb derGlaubensgemeinschaft als auch durch externe politische und wirtschaftliche Interessen-gruppen.

Für die Zeit, in der die empirischen Daten für die Untersuchung erhoben wurden, wur-den drei Statuten (2008, 2009 und 2011) verabschiedet. Bei allen handelte es sich jedochum das identische Programm, das aufgrund des juristischen Streits um die Führung derbulgarischen Muslime wiederholt verabschiedet werden musste.73 Laut diesen Statutenberuht die Organisationsstruktur der islamischen Glaubensgemeinschaft Bulgariens auf

71 Statut der muslimischen Glaubensgemeinschaft Bulgariens aus dem Jahr 2011 [Ustav na mjusulmans-koto izpovedanie, 2011], Art. 11, Absatz 2. Damit wurden auch die bulgarischen Aleviten als integralerTeil der islamischen Glaubensgemeinschaft Bulgariens anerkannt.

72 Statut 2011, Art. 16.73 Mehr dazu siehe „Der Kampf um das Muftiamt“ (Kapitel II, 2).

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Islam, gesellschaftlicher Wandel und der Kampf ums Selbstbestimmungsrecht46

einer lokalen, einer regionalen und einer nationalen Ebene.74 Zu den Leitungsgremien derGemeinschaft gehören der Oberste Muslimische Rat, der Oberste Mufti, Regionalmuftis,lokale muslimische Gemeinderäte sowie allgemeine Versammlungen der Muslime.

Die allgemeine Versammlung der Muslime (obšto sabranie) stellt die kleinste organisa-torische Einheit dar. Sie besteht aus mindestens 15 Muslimen, die zu einer muslimischbesiedelten Ortschaft gehören und das 18. Lebensjahr vollendet haben.75 Zu ihren Kompe-tenzen gehören Beratung und Entscheidung über verschiedene Fragen der lokalen islami-schen Gemeinde. Die Versammlung ist partiell auch dazu berechtigt, Delegierte für dienationale muslimische Konferenz zu wählen.

Die nächste Verwaltungseinheit ist der lokale muslimische Gemeinderat (mjuftijskinastojatelstva), der die einzelnen Gemeinden (džamat) präsentiert. Der Gemeinderat bestehtaus dem jeweiligen Imam sowie drei bis sieben weiteren Mitgliedern. In der Regel werdensie durch die allgemeine Versammlung der Muslime gewählt.76 Seit 2003 gibt es jedocheine Sonderreglung, der entsprechend in insgesamt 65 Siedlungen (vorwiegend in Städtenund größeren Ortschaften) die Mitglieder des Gemeinderates durch den Obersten Muslimi-schen Rat (OMR) eingestellt werden.77 Somit wurde das Prinzip der Selbstverwaltung derlokalen Gemeinden in der Praxis teilweise eingeschränkt. Im Jahr 2011 gab es in Bulgarienetwa 1.500 muslimische Gemeinderäte. Zu den Aufgaben der Gemeinderäte gehört dieOrganisation und Koordinierung der religiösen Angelegenheiten der Muslime auf lokalerEbene, die Verwaltung und Bewirtschaftung des vakuf-Besitzes sowie (in Übereinstim-mung mit dem Obersten Muslimischen Rat) der Bau und der Unterhalt von Moscheen so-wie die Organisation von Korankursen. Mit Ausnahme der durch den Obersten Muslimi-schen Rat eingestellten Mitglieder des lokalen muslimischen Gemeinderats ist die Arbeit imVerwaltungsorgan unentgeltlich. Die Gemeinderäte werden durch die lokalen Behörden (inder Regel das lokale Amtsgericht) für vier Jahre registriert. Auch wenn die muslimischenGemeinderäte ihre Aktivitäten mit dem Obersten Muftiamt abstimmen müssen, sind siediejenigen, die sich unmittelbar um die religiösen Angelegenheiten vor Ort kümmern unddurch ihre Initiativen wesentlichen Einfluss auf das religiöse Leben der einzelnen Gemein-den nehmen. Insbesondere beim Renovieren und Errichten von Moscheen ist ihr Einsatzwichtig. So ist neben der Beschaffung von kleineren aber regelmäßigen Spenden durch dielokale Bevölkerung (u.a. zakat und sadaqa) auch die freiwillige und unentgeltliche Arbeitder Gemeindemitglieder auf den Baustellen zu nennen, die das Errichten von Gebetshäu-sern günstiger und zugleich zu einer Angelegenheit der lokalen Gemeinde machen. Diefinanzielle Unterstützung seitens religiöser Stiftungen und wohltätiger Organisationen ist –von Ort zu Ort variierend – nicht zu unterschätzen. Mit den gelegentlichen Zuwendungenexterner Geldgeber lässt sich jedoch der Gesamtprozess des Moscheebaus nach 1989 inBulgarien nicht erklären.

74 Statut der muslimischen Glaubensgemeinschaft Bulgariens vom 2008 [Ustav na mjusulmanskotoizpovedanie, 2008]; Statut 2011, Art. 17, 3.

75 Statut 2011, Art. 64.76 Statut 2011, Art. 71, 2.77 Statut der muslimischen Glaubensgemeinschaft in der Republik Bulgarien 2003 [Ustav na mjusjul-

mansko izpovedanie v Republika Bălgarija 2003].

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Struktur der muslimischen Glaubensgemeinschaft nach 1989 47

Jede Moschee verfügt über einen oder mehrere Imame (Vorbeter), einen Muezzin (Ge-betsrufer) sowie teilweise einen Vaiz (Prediger), der zugleich an mehreren Moscheen tätigsein kann. Parallel dazu kann es einen Koran-Lehrer geben. Der Imam leitet die gemeinsa-men Gebete in der Moschee und ist für religiöse Ehen und Beerdigungen zuständig. Zuseinen Aufgaben gehören auch Predigten außerhalb des Freitagsgebets (vaas) und – fallskein Vaiz an der Moschee vorhanden ist – die Freitagsansprache (khutbe).78 Um die Imamezu unterstützen, werden seit 2009 „Muster-Predigten“ vom Obersten Muftiamt oder denzuständigen regionalen Muftiämtern zur Verfügung gestellt.79 Am Ende des Monats müssendie Imame Berichte über die Predigten, die sie gehalten haben, beim Muftiamt vorlegen.80

Der Imam kann auch als Koran-Lehrer tätig sein. In diesem Fall wird er durch seine Schü-ler als Hodža (Lehrer) bezeichnet.

Um Imam-Hatib zu werden, ist es gegenwärtig notwendig, eine abgeschlossene religiö-se Ausbildung an einer islamischen Schule nachzuweisen.81 2010 wurde zudem eine Ver-ordnung für Imame und Vaizen erarbeitet, nach der zukünftige wie auch bereits tätigeImame eine Prüfung vor einer durch das Oberste Muftiamt zusammengesetzten Kommissi-on ablegen müssen.82 Bis 2010 wurden die Imame durch die Regionalmuftis eingestellt.Seit 2011 werden sie durch die Regionalmuftis nur vorgeschlagen, ernannt werden siedurch den Obersten Muslimischen Rat.83 Es gibt aber auch (vereinzelt) Fälle, in denen derImam direkt von den Gemeinemitgliedern nominiert wird. In diesem Fall bietet er in derRegel seine Dienste unentgeltlich an oder bezieht sein Gehalt von der lokalen Gemeinde.Laut Angaben des Leiters der Abteilung Iršad, Mustafa Izbištali, waren im Jahr 2011 vonden insgesamt 950 Imamen, 600 (2/3) vom Muftiamt eingestellt worden.84

Der Vaiz ist ein islamischer Prediger, dessen Zuständigkeit sich über mehrere Moscheenerstrecken kann. Er wird auf Vorschlag des Regionalmuftis direkt vom Obermufti einge-stellt. Voraussetzung für seine Einstellung ist eine islamische Hochschulbildung. In Aus-nahmefällen ist eine Ausbildung an einer islamischen Mittelschule ebenfalls zulässig, wo-bei dann eine Prüfung als Vaiz abgelegt werden muss.85 Die theologische Ausbildung desVaiz ist in der Regel höher als die eines Imams. Zu den Aufgaben des Vaiz gehören dieFreitagsansprachen (khutbe), Predigten anlässlich größerer islamischer Feiertage (Ramadan,Opferfest, Geburt des Propheten Mohammed) sowie religiöse Vorträge und Diskussionen(sihbet), die bei verschiedenen Anlässen durchgeführt werden. Gewöhnlich geschieht diesin der Moschee, von ihm wird aber auch erwartet, religiöse Diskussionen an weiteren Ein-

78 Verordnung für Imame und Vaizen, Anwendung Nr.3 des Obersten Muslimischen Rates, [Pravilnik zadejnostta na sveštenoslužitelite, Priloženie Nr.3 na Visšija mjusjulmanski săvet], Islamische Glaubens-gemeinschaft Bulgariens, 19. September 2011, Art. 48, ersichtlich unter<http://www.grandmufti.bg/bg/aboutus/normativni-documenti/9-pravilnitzi.html> (12.04.2013).

79 Beispiele dafür finden sich auf den Seiten der durch das Muftiamt herausgegebenen monatlichen Zeit-schrift Mjusjulmani/Müslümanlar.

80 Verordnung für Imame und Vaizen, Art. 13, 4.81 Diese Regelung gilt erst seit 2008. Sie dazu noch Verordnung für Imame und Vaizen, 19. September

2011, Art. 10, Abs. 6.82 Informacionen Bjuletin 2010. Glavmo Mjuftiistvo na mjusmusmanite v Republika Bălgarija, Sofia

2011, 15; Verordnung für Imame und Vaizen.83 Verordnung für Imame und Vaizen, Art. 23.84 Interview mit dem Leiter der Abteilung Iršad, Mustafa Izbištali am 15. September 2011.85 Verordnung für Imame und Vaizen, Art. 6.

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Islam, gesellschaftlicher Wandel und der Kampf ums Selbstbestimmungsrecht48

richtungen wie Strafanstalten, Krankenhäusern oder Seniorenheimen durchzuführen.86 Seit2010 werden die khutbe sowie die religösen Vorträge nach Programmen, die durch dasjeweilige Regionalmuftiamt oder die Abteilung Iršad des Muftiamtes genehmigt werden,durchgeführt. Zur selben Zeit (2010) wurden die ersten weiblichen Prediger in fünf Bezir-ken Bulgariens eingestellt.87

Das Regionale Muftiamt (regionalno mjuftijstvo) ist die Behörde, die die Tätigkeit derlokalen Gemeinde unterstützt. Im Jahr 2008 gab es 16 Muftiämter. Nach der MuslimischenKonferenz von 2011 wurde ihre Zahl auf 21 erhöht. Das regionale Muftiamt wird von ei-nem Regionalmufti geleitet. In regelmäßigen Abschnitten findet eine Regionale muslimi-sche Konferenz statt, an der alle Imame der Region teilnehmen. Bis 2005 war die Konfe-renz dazu berechtigt, den Regionalmufti zu wählen. Laut dem Statut von 2005 sind ihreKompetenzen jedoch jetzt begrenzt und sie fungiert nur noch als ein Beratungsgremium.Die Mitglieder der Regionalen muslimischen Konferenz können drei Kandidaten als Regi-onalmufti vorschlagen, aus denen der Oberste Muslimische Rat eine männliche Personauswählt. Der Regionalmufti vertritt sämtliche Moscheen und lokale Gemeinden innerhalbeines Gebietes, organisiert Korankurse und religiöse Seminare, gibt Erläuterungen bezüg-lich islamischer Rituale und trifft Entscheidungen in religiösen Fragen. Er leitet und beauf-sichtigt die Tätigkeit der lokalen muslimischen Gemeinderäte und kümmert sich um dasvakuf-Eigentum. Die Funktion sieht voraus, dass der Mufti eine islamische Hochschulaus-bildung abgeschlossen und mindestens drei Jahre innerhalb der Strukturen der IslamischenGemeinschaft tätig war.88 Er wird auf Grund der durch die regionale muslimische Konfe-renz gemachten Vorschläge vom Obersten Muslimischen Rat ernannt und muss von diesemalle fünf Jahre in seiner Funktion bestätigt werden.

Zu den Leitungsgremien auf nationaler Ebene gehören der Oberste Mufti (das religiöseOberhaupt der bulgarischen Muslime) und der Oberste Muslimische Rat (OMR). DerOberste Mufti leitet die muslimische Glaubensgemeinschaft und vertritt sie gegenüber denStaatsorganen, der Öffentlichkeit sowie allen anderen physischen oder juristischen Perso-nen. Er ist autorisiert, Kontakte mit islamischen Organisationen weltweit aufzunehmen.Ihm untersteht das Oberste Muftiamt, die zentrale administrative Behörde der bulgarischenMuslime.89 Der Oberste Mufti wird durch die Nationale Muslimische Konferenz (Schura)mit einem Mandat für fünf Jahre gewählt.90 Obwohl der Oberste Mufti an der Spitze desMuftiamtes steht, ist er in seinen Befugnissen vom Obersten Muslimischen Rat (OMR)abhängig. Der OMR besteht aus einem Vorsitzenden, dem Obersten Mufti selbst sowie 29weiteren Mitgliedern und wird durch die Nationale Muslimische Konferenz gewählt.91 Ertrifft wichtige Entscheidungen bezüglich des vakuf-Eigentums, finanzieller Zuwendungenausländischer Stiftungen und Hilfsorganisationen sowie der Eröffnung von Bildungszen-tren. Der Rat wählt die stellvertretenden Obersten Muftis, die Bezirksmuftis, einen Teil derMitglieder der Gemeinderäte sowie die Mitglieder des Scheriat-Gerichts. Er behandelt

86 Verordnung für Imame und Vaizen, Art. 9.87 Glavno mjuftijstvo s novo načinanie, 05. März 2010, unter

<http://www.grandmufti.bg/bg/archiv-news/751-2010-03-05-10-35-58.html>.88 Statut 2011, Art. 59.89 Statut 2011, Art. 19, 2 und Art. 42, 1.90 Statut 2011, Art. 37 u. Art. 38.91 Statut vom 13. Dezember 2005.

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Struktur der muslimischen Glaubensgemeinschaft nach 1989 49

Fragen bezüglich der Produktion und Verbreitung religiöser Literatur, beschließt Verord-nungen über das Prüfungs- und Berufungsverfahren für die Imame und Vaize, erarbeitet dieLeitlinien in der Arbeit des Muftiamtes wie auch der muslimischen Glaubensgemeinschaftinsgesamt. In Fällen, in denen es um „Verstöße des Obermuftis gegen das Statut, finanziel-len Missbrauch wie auch um die Verletzung der islamischen moralischen Normen“ geht,kann der OMR die Amtszeit des Obersten Mufti durch Beschluss vorzeitig beenden.92 Nichtzuletzt gehört es zu seinen Kompetenzen, ordentliche wie auch außerordentliche NationaleMuslimische Konferenzen einzuberufen.

2011 wurde ein neues Gremium, der sogenannte Rat der geistlichen Führer (savet naduhovnite vodači), ins Leben gerufen. Seine Mitglieder sind neben dem amtlichen Ober-mufti alle ehemaligen Oberen Muftis sowie die Vorsitzenden des OMRs, die seit Januar1990 gewählt wurden.93 Der Rat tritt in Fragen von außergewöhnlicher Bedeutung zusam-men. Dieses Gremium ist bislang jedoch noch nicht angerufen werden. Die islamischeGlaubensgemeinschaft verfügt ferner über ein Scharia-Gericht. Seine Funktion ist jedochstark begrenzt, so dass es sich vorrangig mit Verstößen von Imamen, Vaizen sowie Ange-stellten des Muftiamtes befasst.

Das höchste Entscheidungsgremium der islamischen Glaubensgemeinschaft ist die Na-tionale Muslimische Konferenz (NMK, Schura), die in einem Abstand von höchstens fünfJahren stattfindet. Die NMK beschließt und ändert das Statut der islamischen Gemein-schaft, wählt den Obersten Mufti, den Vorsitzenden und die Mitglieder des Obersten Mus-limischen Rates und sie bestimmt die Leitlinien für die Zusammenarbeit mit ausländischenPartnern. In der Regel wird die Konferenz durch den Obersten Muslimischen Rat einberu-fen.94 In den Fällen, in denen keine Entscheidung des OMR vorliegt, kann sie auf Antragvon 2/3 der registrierten muslimischen Gemeinderäte einberufen werden.95 Hierbei ergibtsich das Problem, abzuklären, wer berechtigt ist, an der Konferenz teilzunehmen. Laut dergeltenden Statuten sind zunächst und ohne weitere Abstimmung die Mitglieder des Obers-ten Muslimischen Rates, der Oberste Mufti und seine Stellvertreter, die Regionalmuftis, dieDirektoren islamischer Bildungseinrichtungen sowie weitere Angestellte aus der Verwal-tungsstrukturen dazu berechtigt, als Delegierte an den nationalen Konferenzen teilzuneh-men. Bei den restlichen Teilnehmern sollte es sich um Imame und Mitglieder der lokalenGemeinderäte handeln, die durch die einzelnen muslimischen Gemeinden gewählt werden.In der Realität wurde diese Regelung jedoch nicht eingehalten und die Wahl der Konferenz-teilnehmer wurde in hohem Grad durch die politische Konjunktur und Interessen internersowie externer Akteure beeinflusst.96 Denn die Frage, wer die Aufsicht über die zentraleVerwaltungsbehörde der Muslime hat, bedeutet zugleich, Einfluss auf die Wahlstimmenvieler bulgarischer Muslime zu erhalten. Einen weiteren und in materieller Hinsicht attrak-tiven Aspekt stellt die Tatsache dar, dass die Übernahme von Leitungsfunktionen innerhalbder Glaubensgemeinschaft die Kontrolle über die vakuf-Besitztümer (fromme Stiftungen)einschließt. Solche fromme Stiftungen (geschenktes Vermögen durch fromme Muslime),

92 Statut 2011, Art. 40. Solche Fälle hat es bislang nicht gegeben.93 Statut 2011, Art. 27.94 Statut 2008; Statut 2011, Art. 22, 1.95 Statut vom 2008 und 2011.96 Siehe mehr dazu weiter unten.

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Islam, gesellschaftlicher Wandel und der Kampf ums Selbstbestimmungsrecht50

die eine lange Tradition haben, waren im Rahmen des Osmanischen Reiches durch Spendengläubiger Muslime eingerichtet worden, um verschiedene religiöse Zwecke – etwa dieErhaltung von Moscheen und religiöser Schulen, das Funktionieren der Scheriatsgerichte –wie auch sozialen Aufgaben zu sichern. Zwar wurde der Stiftungsbesitz der bulgarischenMuslime nach 1945 verstaatlicht, nach der politischen Wende war es jedoch wieder mög-lich, früheres Eigentum nach und nach zu restituieren. Heute umfassen die vakufs der bul-garischen Muslime neben tausenden Moscheen, Mesdžids (von arab. masjid, entsprichtetwa christlichen Kapellen), Tekkes und Türbeten auch Immobilien (Hotels, Wohnungen,Geschäfte etc.) sowie landwirtschaftliche Flächen, Wälder und Wiesen. Die Einnahmen, diedurch wirtschaftliche Tätigkeit, Miet- und Pachtzinsen aber auch durch Zuwendungen isla-mischer wohltätiger Organisationen entstehen, fließen auf Konten des Muftiamtes, diedurch die vakuf-Abteilung dieser Behörde verwaltet werden.

Die durch die Nationale Konferenz getroffenen Beschlüsse (Statut, neu gewählterObermufti sowie weitere Leitungsgremien) wie auch die Konferenz selbst müssen an-schließend vom Amtsgericht in Sofia registriert werden.97 Erst dann können sie als legitimgelten. Wie sich im Verlauf des letzten Jahrzehnts zeigte, kann diese Registrierungsproze-dur nicht nur eine Bestätigung, sondern genauso eine Ablehnung beinhalten. Die Frage, diesich hier stellte, war, was geschieht, wenn die neu gewählte Führung nicht registriert wirdoder aber auch aufgrund von parallel stattfinden muslimischen Konferenzen mehrere Re-gistrierungsanträge eingereicht werden. In der Situation gesellschaftlicher Umgestaltung,Verflechtung von Interessen politischer und religiöser Akteure sowie interner Machkonflik-te um die Führung der Muslime, führte die inkonsequente Registrierungsprozedur dazu,dass im Herbst 2010 die Tätigkeit der wichtigsten Institution der muslimischen Gemein-schaft, des Obersten Muftiamtes, fast zum Erliegen gebracht wurde. Ein Präzedenzfall, denes seit der Gründung dieser Institution vor 100 Jahren nicht gegeben hatte. Der Kampf lässtsich wie folgt darstellen.

3. Der Kampf um das Muftiamt

Grundlage der neuen Verfassung Bulgariens, die am 12. Juli 1991 verabschiedet wurde,blieb die Konzeption des Zentral- und Einheitsstaats.98 Das Bestreben nach einem nationaleinheitlichen Staat äußert sich in vielfältiger Weise. Auf sprachlichem Gebiet wird dasBulgarische zur Amtssprache der Republik erklärt (Art. 3), deren Erlernen zugleich Rechtund Pflicht aller bulgarischen Bürger ist (Art. 36 Abs. 1). Im religiösen Bereich gilt zwargrundsätzlich, dass alle Religionsgemeinschaften frei und vom Staat getrennt sind (Art. 13Abs. 1, 2). Trotzdem ist die orthodoxe Kirche die „traditionelle Religion“ (Art. 13 Abs. 3),ohne dass die Verfassung bestimmt, welche Rechte und Pflichten mit diesem Sonderstatus

97 Gesetz über die Konfessionen [Zakon za veroizpovedanijata] vom 20. Dezember 2002, in: Dăržavenvestnik, Nr. 120 vom 29. Dezember 2002.

98 Vgl. Herbert Küpper, Minderheitenschutz im östlichen Europa. Bulgarien, 2003, 29, unter <www.uni-koeln.de/jur-fak/ostrecht/minderheitenschutz/> (12.11.2012); Verfassung der Republik Bulgarien vom12. Juli 1991, in: Dăržaven vestnik Nr. 56 vom 13. Juli 1991.

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Der Kampf um das Muftiamt 51

verbunden sind.99 Darüber hinaus verbot die neue Verfassungsordnung die Gründung vonethnischen oder religiösen Parteien und verankerte die Idee, dass der Staat in die religiösenAngelegenheiten eingreifen kann, sofern „eine Bedrohung der nationalen Sicherheit, deröffentlichen Ordnung, der Gesundheit und der Moral sowie der Rechte und Freiheiten An-derer vorliegt“ (Art. 37). Die bulgarische Verfassung gehört ferner zu den Verfassungen inEuropa, die explizit die Rechte von Nichtgläubigen schützt und erklärt, dass „die Freiheitdes Gewissens, die Freiheit des Denkens sowie die Wahl der Religion und der religiösenoder atheistischen Ansichten unverletzlich sind“ (Art. 37). Um die nationale Sicherheit unddie öffentliche Ordnung von Bedrohungen zu schützen, wurde nach 1989 die aus der kom-munistischen Ära stammende Direktion für religiöse Angelegenheiten (Direkcija po vero-izpovedanijata) beibehalten, eine staatliche Einrichtung zur Verwaltung religiöser Angele-genheiten, die unmittelbar dem Ministerrat und damit dem Regierungschef unterstellt ist.Zu ihren Aufgaben gehört „zwischen Staat und Religionsgemeinschaften zu vermitteln, diezentralen und die lokalen Behörden bei der Lösung von Problemen religiöser Natur zuunterstützen, sowie gegenüber den verschiedenen Religionsgemeinschaften Neutralität zuwahren“.100 Von Menschenrechtsaktivisten wurde sie jedoch schlicht als „Religionspolizei“bezeichnet.101 Es war diese Direktion, die die meisten Probleme für ausländische religiöseAkteure in den 1990er Jahren verursachte. Da alle Konfessionen offiziell bei der Direktionregistriert werden mussten, war es nicht möglich, offen missionarische Tätigkeit durchzu-führen oder religiöse Literatur zu verbreiten, ohne dazu die Zustimmung der Regierung zuerwirken.102 In der Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Kommunismus warendie bulgarischen Regierungen darum bemüht, die Verbreitung neuer religiöser Bewegungenmöglichst unter Kontrolle zu halten. Dies geschah nicht zuletzt dadurch, indem undurch-sichtige bürokratische Registrierungsverfahren eingeführt wurden sowie Religionsgemein-schaften die Registrierung verweigert wurde (z.B. im Fall der Zeugen Jehovas im Jahr1994). In den Fällen, in denen keine Registrierung vorlag, war entsprechend die Polizeiberechtigt, die „Ordnung“ wieder herzustellen und in härteren Fällen die unerwünschtenreligiösen Gemeinschaften zu vertreiben oder aufzulösen. Sowohl das alte Religionsgesetz(verabschiedet 1949, in Kraft bis 2002), als auch das Ende 2002 verabschiedete neue Ge-setz über die Konfessionen, ermöglichten der Direktion und damit der Regierung in innereAngelegenheiten etablierter größerer Konfessionen einzugreifen, indem singuläre Führunggefordert wurde. Dies machte die parallele Existenz konkurrierender Fraktionen innerhalbeiner Konfession kaum noch möglich.

In seiner Entscheidung Nr. 5 vom 11. Juni 1992 gab das Verfassungsgericht bekannt,dass einige Vorschriften des Gesetzes über die Konfessionen verfassungswidrig sind. Als

99 Diese Bestimmung wurde aus der alten bulgarischen Tărnovo-Verfassung von 1879 übernommen.Grundlegend dazu Klaus Schrameyer, Die neue bulgarische Verfassung, in: Osteuropa-Recht, 38(1992), 159-180, 159 ff.

100 Gesetz über die Konfessionen [Zakon za veroizpovedanijata], in: Dăržaven vestnik Nr.120 vom 29.Dezember 2002, 25-31; Anordnung № 125 des Ministerrates vom 6. Dezember 1990.

101 Siehe stellvertretend die Position des bulgarischen Helsinki-Komitees: Krasimir Kanev, Spornijatzakon za veroizpovedanijata, in: Kapital vom 8. Oktober 2003.

102 Nach dem Gesetz über die Konfessionen (1949; 2002 Art. 2) ist es Religionen, die nicht registriertsind, nicht erlaubt, öffentliche Arbeit zu verrichten, religiöse Publikationen zu verbreiten, oder öffent-lich zu predigen.

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Beispiel nannte das Gericht mehrere Bestimmungen über die Macht der Direktion, Geistli-che zu entfernen und die Aktivitäten von religiösen Organisationen zu überwachen. DasVerfassungsgericht hat dennoch entschieden, dass es nicht seine Aufgabe sei, noch vor demInkrafttreten der Verfassung von 1991 erlassene Rechtsvorschriften aufzuheben.103 Diezuständigen Behörden haben es ihrerseits nicht versäumt, Gebrauch von dieser Möglichkeitzu machen und sie begann seit 1992 zu bestimmen, wer die einzelnen Glaubensgemein-schaften leiten soll – zunächst durch Entlassungen, und schließlich durch ihre Macht, ge-wählte religiöse Führungen zu registrieren oder ihnen die Eintragung in das Register zuverweigern.

Die 45 Jahre Sozialismus in Bulgarien haben insgesamt geschwächte religiöse Instituti-onen hinterlassen, deren Geistliche und religiöse Führer während der kommunistischenDiktatur kaum eine andere Wahl hatten, als mit dem Staat zu kooperieren. Diejenigen, diedas nicht taten, wurden schlicht durch andere, regimetreue Personen ersetzt. Nach der poli-tischen Wende führte dieses Erbe dazu, dass es zu heftigen Auseinandersetzungen um dieBewältigung kommunistischer Vergangenheit innerhalb der religiösen Institutionen kam.Sowohl dem orthodoxen Patriarch Maxim als auch dem muslimischen Mufti, NedimGendžev, wurde vorgeworfen, eng mit dem kommunistischen Geheimdienst zusammenge-arbeitet zu haben. Gendžev wurde zudem beschuldigt, die in den 1980 Jahren gegen diebulgarischen Türken durchgeführten Assimilierungsmaßnahmen unterstützt zu haben. Die-se Maßnahmen, die die Bezeichnung „Wiedergeburtsprozess“ trugen und mehrere Phasendurchliefen, sind im kollektiven Gedächtnis der bulgarischen Muslime (Türken, Pomakenund Roma) bis in die Gegenwart als ein tiefes Trauma verankert. Rücktrittsaufforderungender demokratischen Regierung lehnten die entlarvten Kirchenfürsten jedoch ab: Die heiligeSynode interpretierte die Kollaboration von diktatorischem Staat und Kirche als innerkirch-liche Angelegenheit, der Mufti drohte bei einer Absetzung mit Klage vor dem OberstenGericht und behauptete die Vorwürfe gegen ihn seien Folge politischer Machenschaften.

Der 1988 bis 1992 als Obermufti agierende Nedim Gendžev ist ein bulgarischer Türke,der 1945 im Dorf Glodževo (Razgrad Bezirk) geboren wurde.104 1974 absolvierte er einJura-Studium in Sofia und wurde anschließend als Oberstleutnant beim Innenministeriumeingestellt, wo er bis 1981 für die bulgarische Staatssicherheit arbeitete. In dieser Zeit warGendžev kein versteckter „Spitzel“ sondern ganz offiziell als Offizier des Abwehrdienstestätig. Auf die Vorwürfe, er hätte die Assimilierungskampagne der 1980 Jahre unterstützt,erwiderte Gendžev, dass er 1982 von der Staatssicherheit entlassen worden sei. Wie einBrief des Direktors der Abteilung der inneren Angelegenheiten in Ruse an die Kommissionfür Konfessionen bei der bulgarischen Parlament vom 12. Februar 1992 zeigt, wurde seinVertrag mit dem Innenministerium am 11. Juni 1984 jedoch erneuert und Gendžev standauch danach auf der Gehaltsliste des „Spitzel-Dienstes“.105 1986 hielt sich Gendžev mitUnterbrechungen in Damaskus auf, wo er eine religiöse Ausbildung absolvierte. Laut seiner

103 Krasimir Kanev, Trite osnovni problema s garantiraneto na svobodata na savesta i religijata vBălgarija sled 1989, in: Svoboda za vseki, Nr.4 (2005).

104 Die Biographie Gendževs wurde von ihm selbst an der Web-Seite „Wer ist wer“ veröffentlicht.<http://www.omda.bg/page.php?tittle=Nedim_Gendjev&IDMenu=361&IDArticle=605>(01.11.2012). Sie dazu noch: Nie gi hvažtame, te gi puskat, in: Agencija Fokus vom 01. März 2006.

105 Eine Kopie des Briefes befindet sich in: „100 godini Glavno Mjuftijstvo, Glavno Mjuftijstvo namjusjulmanite v Republika Bălgarija“, Sofia 2011, 14.

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Der Kampf um das Muftiamt 53

Angaben hat er eine Promotion zum Thema „Gerechtigkeit im Islam und im Sozialismus“abgeschlossen. Seine Kontrahenten weisen jedoch darauf hin, dass ein solches Unterneh-men ohne Arabisch-Vorkenntnisse und in kaum einem Jahr kaum realisierbar sei.106 Imselben Jahr (1986) wurde Gendžev zum Regionalmufti in Kardžali (Südbulgarien) ernannt,einer Region, die aufgrund des hohen Anteils an Bulgarien-Türken (70%) sowie des hefti-gen Widerstandes gegen die Assimilierungsmaßnahmen der Regierung zu den problema-tischsten Gebieten des Landes zählte. In dieser Zeit verschlechterten sich die Beziehungenzwischen Christen und Muslimen im ganzen Land rapid. Die Propagandamaschine derkommunistischen Machthaber schaffte nicht nur Angst vor Repressalien zu erzeugen, son-dern sie brauchte Repräsentanten der muslimischen Gemeinschaft, die die Proteste derMuslime mildern und die staatlichen Assimilationsbemühungen legitimieren.107 1988 wur-de Gendžev schließlich Obermufti der bulgarischen Türken.108 Kurz vor dem Sturz derkommunistischen Regierung im Oktober 1989 hatte er im Namen der von ihm repräsentier-ten Behörde eine Deklaration verabschiedet, in der er volle Unterstützung für die Politikdes damaligen kommunistischen Diktators Todor Živkov bekundete.109 Dies geschah nach-dem die Auswanderungsbeschränkungen Mitte 1989 aufgehoben worden waren und inner-halb weniger Monaten etwa 300.000 Angehörigen der türkischen Minderheit, das Land inRichtung Türkei verließen. In der Deklaration hieß es unter anderem:

„Wir, die Mitglieder des Obersten Muslimischen Rates der Muslime Bulgariens äu-ßern aus Überzeugung unsere uneingeschränkte Unterstützung für die Aussage desVorsitzenden des Ministerrates, Todor Živkov. Wir verurteilen die pantürkische, ex-pansionistische Politik der Türkei gegen unser Land. Diese Propaganda hat nichtsGemeinsames mit der Freiheit der Religionsausübung, die wir genießen. Wir erklä-ren überzeugt, dass die muslimische Geistlichkeit in Bulgarien sich durch diese Pro-paganda nicht beeinflussen ließ und sich stattdessen ohne Einschränkungen auf dieSeite der Volksmacht stellt. Wir erklären: Die bulgarischen Muslime haben nur eineHeimat, die Republik Bulgarien, in der sie glücklich und frei ihre Religion ausüben.Vereint und geschlossen unterstützen wir unsere Volksmacht und den Sozialismus,die uns Wohlstand, Freiheit und Selbstbewusstsein von gleichwertigen Bürgern si-cherten.“110

Nach der politischen Wende blieb Gendžev der höchste Würdenträger der bulgarischenMuslime. Er setzte sich dafür ein, dass die pomakischen und türkischen Muftiämter vereintwurden. Darüber hinaus wurden während seiner Amtszeit das Islamische Fachinstitut inSofia sowie die geistlichen Mittelschulen eröffnet und es begann die Zeitschrift Mjusjulma-ni zu erscheinen. Von 1990 bis 1994 war Gendžev Vorsitzender des Obersten GeistlichenMuslimischen Rates. Am 15. November 1994 registrierte er die Demokratische Partei der

106 Siehe stellvertretend: 100 godini Glavno Mjuftijstvo, 14.107 Antonina Željazkova, Dăržavata, mjusjulmanskata institucija i obštesvoto v Bălgarija, in: Obštestvo,

Helzinski komitet, 08 Januar 2011.108 Die bulgarischen Pomaken verfügten zu dieser Zeit über ein eigenes Muftiamt. Siehe dazu „Die

Muslime nach 1945“.109 Informacionen bjuletin na Glavno Mjuftijstvo, Sofia 1989, 3. Die Deklaration ist auch in „100 godini

Glavno Mjuftijstvo“, 14 abgedruckt.110 100 godini Glavno Mjuftijstvo, 14.

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Gerechtigkeit, die in erster Linie muslimische Stimmen von der Bewegung für Rechte undFreiheiten (BRF) abzuwerben versuchte. Im Dezember 1994 nahm er an den Parlaments-wahlen teil, jedoch ohne Erfolg.

In den 1990er Jahren setzte Gendžev seine Loyalität gegenüber den Kommunisten in ih-rer neuen Gestalt der Bulgarischen Sozialistischen Partei fort. Die politische Landschaft inBulgarien nach 1989 war stark polarisiert. Dominierende Parteien waren die BulgarischeSozialistische Partei (BSP, Ex-Kommunisten), der anti-kommunistische Block Vereinigungder Demokratischen Kräfte (SDS) sowie die Bewegung für Rechte und Freiheiten, die denAnspruch erhob, die Rechte der in Bulgarien lebenden Türken und Muslime zu vertreten.Auch wenn es sich hierbei um eine säkulare Partei handelte, hat die BRF es geschafft, hoheStimmenanteile in den türkischen und (weniger) in pomakischen Siedlungsgebieten zuerlangen. Viele der bulgarischen Muslime (Türken, Pomaken und Roma) lebten jedoch inärmeren dörflichen Gebieten und trotz der Erinnerung an die Assimilierungsmaßnahmenwährend des Živkov-Regimes waren sie nicht abgeneigt, die Sozialisten, die ihnen sozialeGerechtigkeit versprachen, zu wählen.

Ende 1991 als die anti-kommunistische Koalition von SDS und BRF die Wahlen ge-wonnen hatte, wurden Forderungen laut, Geistlichen, die mit dem kommunistischen Re-gime zusammengearbeitet haben, zu entlassen. Muslimische Geistliche aus Südbulgariensammelten Unterschriften und bereiteten eine Deklaration gegen Gendžev vor, die sie derDirektion überreichten. Die Studenten des Islamischen Fachinstituts in Sofia versuchtenebenfalls durch einen Streik, die Ablösung Gendževs zu bewirken.111 Gendžev behauptetedagegen, alle Vorwürfe gegen ihn kämen aus den Reihen der BRF, die sich zum Ziel ge-setzt hätte, die Kontrolle über die Leitung der muslimischen Gemeinschaft zu übernehmen,um sie für politische Zwecke zu instrumentalisieren.112 Am 10. Februar 1992 erklärte derDirektor für religiöse Angelegenheiten (SDS) die Wahl des Obermuftis, Nedim Gendžev,sowie weitere Muftis, die mit der ehemaligen kommunistischen Regime zusammengearbei-tet hatten, für nichtig. Nedim Gendžev wurde aus dem Amt entfernt. Eine Übergangsver-waltung sollte eine neue nationale muslimische Konferenz vorbereiten.113 Die Konferenzfand am 19. September 1992 statt. Als Obermufti wurde Fikri Sali Hasan gewählt und eswurde ein neues Statut beschlossen. Obermufti und Statut wurden anschließend bei derDirektion nach den gesetzlichen Bestimmungen in das Register eingetragen. Gendžev ak-

111 Mustafa Hadži, Glavno mjuftijstvo sled demokratičnite promeni, in: Godišnik na visš isljamskiinstitut, Nr. 2, Sofia 2010, 5-21.

112 Mjusjulmanski duhoven savet glasuva doverie na Glavnoto mjuftijstvo, in: Balgarska telegrafnaagencija vom 4. Februar 1992.

113 Der Ablauf des Gerichtsstreits um die religiöse Führung der bulgarischen Muslime ist aus den Pro-zessen von Hasan/Čauš und Gendžev vs. Bulgarien gut ersichtlich. Siehe dazu: Delo Hasan i Čaušsreštu Bălgarija, Evropejski săd po pravata na čoveka, Žalba Nr. 30985/96, Rešenie, Strasburg 26Oktober 2000 [Fall von Hasan und Čaush vs. Bulgarien, Europarat, Europäischer Gerichtshof fürMenschenrechte, Beschwerdenummer 30985/96, Straßburg, 26. Oktober 2000] sowie Visšija mjus-julmanski duhoven săvet sreštu Bălgarija, Evropejski săd po pravata na čoveka, Žalba Nr. 39023/97,Rešenie, Strasburg, 16. Dezember 2004 [Oberster Geistlicher Muslimischer Rat vs. Bulgarien,Europarat, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Beschwerdenummer 39023/97, Straßburg,16. Dezember 2004]. Ablichtungen aus Gerichtsdokumenten finden sich auch im Informationsheftder Direktion für Religiöse Angelegenheiten: Sădebna Hronologija na mjusjulmanskotoveroizpovedanie (1997-2010), Direkcija Veroizpovedanija, Sofia.

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zeptierte die Ergebnisse der Konferenz jedoch nicht und beanspruchte weiterhin, der legi-time Vertreter der muslimischen Glaubensgemeinschaft in Bulgarien zu sein. Er legte beimObersten Kassationsgerichtshof114 Einspruch gegen die Entscheidung vom 10. Februar1992 ein, dieser befand jedoch, dass die Direktion gemäß ihrer gesetzlich festgelegtenKompetenzen gehandelt hätte.115 Als Reaktion darauf berief Gendžev eine Gegenkonferenzein, die ihn zum Vorsitzenden des Obersten Geistlichen Muslimischen Rates (OMGR)wählte und ein neues Statut verabschiedete. Die gewählte Führung stellte bei der Direktionden Antrag, als legitime Vertretung der Muslime in Bulgarien eingetragen zu werden. Ende1994 fanden in Bulgarien auch Parlamentswahlen statt, bei denen die Bulgarische Sozialis-tische Partei (BSP) die parlamentarische Mehrheit erreichte. Kurz nachdem im Januar 1995die neue Regierung von Žan Videnov (BSP) gebildet war, erließ der stellvertretende Premi-erminister am 22. Februar 1995 ein Dekret, das dem Antrag Gendževs auf Anerkennungdoch stattgab. Die Direktion stellte am 23. Februar 1995 eine Bescheinigung aus, wonachder OGMR mit dem Vorsitzenden Gendžev die offizielle Vertretung der bulgarischen Mus-lime sei. Für diese Vorgangsweise waren weder im Dekret noch in der BescheinigungGründe beziehungsweise eine Erklärung angegeben. Fikri Sali Hasan wurde über dieseVorgänge nicht informiert, sondern erfuhr es aus der Presse. Sein Amtssitz wurde von An-hängern Gendževs besetzt. Hasan reichte Beschwerde beim Berufungsgericht ein, hattejedoch keinen Erfolg.116

Daraufhin berief Fikri Sali Hasan eine außerordentliche muslimische Konferenz ein, dieihn erneut zum Obermufti wählte. Weder Fikri Hasan noch der Oberste Muslimische Rat,die durch die Konferenz gewählt wurden, wurden durch die Direktion anerkannt. Auch derOberste Gerichtshof wies eine Beschwerde am 27. Juli 1995 zurück. Das Team von regio-nalen Muftis, das unter der Leitung von Fikri Hasan stand, setzte seine Tätigkeit mit nichtregistrierten alternativen Strukturen fort. Unterstützt wurde es durch die BRF.117 Um seinePosition zu festigen, organisierte auch Gendžev am 07. August 1996 eine weitere muslimi-sche Konferenz, die ihn erneut zum Vorsitzenden des OMGR wählte. Die Konferenz unddie gewählte Führung wurden auf Auftrag des stellvertretenden Ministerpräsidenten desMinisterrates am 11. September 1996 in das Register eingetragen.

Am 14. Oktober 1996 (also einen Monat später) gab der Oberste Gerichtshof seine Ent-scheidung bekannt, dass die Registrierung der Konferenz von Fikri Hasan 1992 dochrechtmäßig war und bestätigte nunmehr Hasans Position. Der Gerichtshof forderte denMinisterrat auf, das Statut und die religiöse Führung von Fikri Sali Hasan als rechtmäßiganzuerkennen, mit der Begründung, dass Hasan im Jahr 1992 ordnungsgemäß eingetragenworden sei und somit eine feste rechtliche Stellung erlangt habe. Der stellvertretende Pre-mierminister weigerte sich jedoch der gerichtlichen Entscheidung nachzukommen und teilteFikri Hasan mit, dass die religiöse Vertretung der muslimischen Glaubensgemeinschaftunter der Leitung von Gendžev bereits in das Register eingetragen worden sei.118 Daraufhin

114 Das bulgarische Gerichtssystem besteht aus folgenden Gerichten: Oberster Kassationsgerichtshof(Varhoven kasationen săd), Oberster Verwaltungsgerichtshof (Varhoven administrativen săd), Beru-fungsgerichte (Apelativen săd), Bezirksgerichte (Okražen săd) und Regionalgerichte (Rajonen săd).

115 Nie gi hvažtame, te gi puskat, in: Fokus, Informacionna agencija vom 1. März 2006.116 Delo Hasan v. Bulgarien.117 Hadži, Glavnoto mjustijstvo sled demokratičnite.118 Zwei weitere Gerichtsentscheidungen zu Gunsten Hasans gab es am 19. November 1996 und am 13.

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wandte sich Hasan an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und klagte denbulgarischen Staat (22. Januar 1996) wegen eines „rechtswidrigen und willkürlichen Ein-griffs in die Religionsfreiheit sowie Verletzung des Rechts der Muslime auf Selbstverwal-tung an“.119 Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes erging am 26. Oktober 2000. DasGericht stellte eine Verletzung von Artikel 11 der europäischen Menschenrechtskonvention(EMRK) fest und gab folgende Gründe für die Entscheidung an:

„(…) Das Dekret des stellvertretenden Premierministers, die Entscheidung der Di-rektion für religiöse Angelegenheiten vom 23. Februar 1995 und die daraus resultie-rende Weigerung des Ministerrates, die Existenz der Organisation unter der Führungvon Hasan anzuerkennen, waren mehr als ein Routinevorgehen bei der Registrierungoder Korrektur vergangener Unregelmäßigkeiten. Ihre Folge war, dass eine Fraktionder muslimischen Gemeinschaft begünstigt, ihr die offizielle Führung übertragenund die bis dahin anerkannte Führung völlig ausgeschlossen wurde. Die Vorge-hensweise der Behörden führte rechtlich und tatsächlich dazu, dass der ausgeschlos-senen Führung keine Möglichkeit blieb, zumindest einen Teil der muslimischenGemeinschaft zu vertreten und ihre Angelegenheiten gemäß dem Willen dieses Teilsder Gemeinschaft zu führen.

Daher war dies ein Eingriff in die interne Organisation der muslimischen Religions-gemeinschaft und in das Recht der Beschwerdeführer auf Religionsfreiheit, das inArtikel 9 der Konvention geschützt ist.“120

Das Gericht führte ferner aus, dass der Eingriff nicht „durch die Gesetze vorgeschriebenwar”. Er sei willkürlich gewesen und beruhe auf Rechtsvorschriften, die ein Ermessen derExekutive zuließen, das nicht den Normen der Klarheit und Vorhersehbarkeit entspräche.121

Nach einer schweren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise trat die BSP-Regierung im Februar 1997 zurück. Nach mehreren Arbeitstreffen mit der Direktion fürreligiöse Angelegenheiten, vereinbarten die beiden konkurrierenden muslimischen Fraktio-nen, eine Annährung anzustreben und anschließend eine nationale muslimische Vereini-gungskonferenz einzuberufen. Die Konferenz wurde für den 23. Oktober 1997 geplant.Bereits im Verlauf der lokalen Wahlen der Delegierten für die Konferenz, die am 17. Okto-ber durchgeführt wurden, beklagte Gendžev, dass die Wahlen durch die BRF manipuliertworden seien.122 Er wandte sich an die Direktion für religiöse Angelegenheiten und teiltemit, dass die geplante Konferenz für ihn rechtswidrig sei. Zugleich erklärte er die Rück-nahme seiner Unterstützung.123 Die Konferenz fand ohne ihn statt. Als Obermufti wurdeMustafa Hadži gewählt. Ein neues Statut wurde verabschiedet. Die (jetzt durch die SDSkontrollierte) Direktion akzeptierte alle Entscheidungen der Konferenz und entfernte

März 1997. Der stellvertretende Ministerpräsident Svetoslav Šivarov lehnte es jedoch erneuert ab, dasUrteil umzusetzen.

119 Delo Hasan i Čauš vs. Bulgarien. Das Urteil im englischen Originalwortlaut:<http://www.menschenrechte.ac.at/orig/00_6/Hasan_Chaush.pdf> (letzter Zugriff 20.08.2011).

120 Delo Hasan i Čauš.121 Ebda.122 Evropejski săd, Visšija mjusjulmanski duhoven savet.123 Evropejski săd. Visšija mjusjulmanski duhoven savet.

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Gendžev aus dem Amt. Die neue muslimische Führung sorgte auch dafür, dass ein Strafver-fahren wegen Missbrauchs von vakuf-Besitz gegen Gendžev eingeleitet wurde. Gendževprotestierte gegen seine Amtsenthebung und legte Beschwerde durch alle Instanzen bis hinzu dem Obersten Gerichtshof ein. Die SDS Regierung wies zahlreiche BeschwerdenGendževs zurück.124 Im September 1997 reichte Gendžev eine Anklage gegen Bulgarienbeim Europäischen Gerichtshof für Menschenechte ein. Auch im neuerlichen Urteil (vom16. Dezember 2004) entschied der Europäische Gerichtshof gegen den bulgarischen Staatund stellte fest, dass ein staatlicher Eingriff in interne Streitigkeiten einer Religionsgemein-schaft vorlag. Der Streit zweier rivalisierender Obermuftis, der erst durch die gesetzlicheForderung nach organisatorischer Einheit mit singulärer Führerschaft entstanden war, wur-de durch das Eingreifen des Staates mit einseitiger Festlegung beendet und eben nicht derReligionsgemeinschaft selbst überlassen.125 Während im oben zitierten Urteil in der SacheHasan vs. Bulgarien ausgeführt wurde, dass der Eingriff in die interne Organisation dermuslimischen Glaubensgemeinschaft nicht „vom Gesetz vorgeschrieben”, sondern willkür-lich gewesen sei, machte das Gericht im Fall von Gendžev deutlich, dass es erheblicheUnterschiede in der Vorgehensweise der Behörden gegeben habe. So hätten die Behördenim Jahr 1997 die Vorteile des Ermessensspielraums, den sie nach anwendbarem Rechthatten, nicht in Anspruch genommen und seien davon ausgegangen, dass die rivalisierendenGruppen ihre eigenen Regeln durch Vereinbarung formulieren würden (siehe Abschnitte 31und 46 des Gerichturteils).

Da die SDS an der Macht blieb und Gendžev keine Chance auf Anerkennung seiner Le-gitimität hatte, versuchte es Gendžev mit einer anderen Taktik. Er begann Mustafa Hadžiund dessen Nachfolger, Selim Mehmed, zu beschuldigen, zweifelhafte Kontakte zu saudi-arabischen Gruppierungen zu unterhalten. Ferner warf er ihnen vor, einen „radikalen Islam“zu fördern.126 Gendžev behauptete, dass Mustafa Hadži und Selim Mehmed Bestechungs-gelder von ausländischen wahhabitischen Gruppierungen annahmen, was ihnen ermögliche,illegale islamistische Schulen zu betreiben. Er warnte, dass radikale Ideen in den Rhodopenungehindert verbreitet würden und dass hunderte bulgarische Studenten, die in Jordanien,Saudi-Arabien und Kuwait ihre Ausbildung abgeschlossen hätten, nach ihrer Rückkehreinen „militanten Islam“ mit sich brächten. Er versuchte sich dabei als Vertreter eines „tra-ditionellen bulgarischen Islam“ zu präsentieren, der im Gegensatz zu dem „importierten,arabischen“ Islam steht. Nach dem 11. September 2001 als die Furcht vor dem „islami-schem Radikalismus“ stieg, kündigte der damalige Obermufti, Selim Mehmed (2000-2003),im November 2002 sogar an, ein Spende-Konto des Muftiamtes unter der Aufsicht derDirektion einrichten zu wollen, um so vorhandenes Misstrauen auszuräumen.127

Anfang der 2000er Jahre kamen einige junge bulgarische Muslime, die eine theologi-sche Ausbildung im Ausland absolviert hatten, nach Bulgarien zurück. Unten ihnen befan-

124 So gut wie keine der Gerichtsentscheidungen war im Verlauf der Auseinandersetzungen „endgültig“.Am 9. Oktober 1998 hob das Oberste Verwaltungsgericht (VAS) nach neuer Klage Gendzevs dieEntscheidung vom 16. Juli auf und brachte den Fall erneut vor Gericht. Am 3. Mai 1999, nach einerweiteren Verhandlung, entschied dasselbe Gericht (VAS), dass der Beschluss vom 28. Oktober 1997,laut dem Hadžis der legitime Vertreter der bulgarischen Muslime sei, doch gesetzmäßig sei.

125 Evropejski săd. Visšija mjusjulmanski duhoven savet.126 Siehe mehr dazu Kapitel V (Die Reaktionen).127 Srešta na Glavnija mjuftija s primiera, in: Muslulmani, Juli 2002, 3.

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den sich unter anderem die Pomaken Selvi Šakiriv und Arif Abdullah sowie der TürkeBirali Birali. Alle drei hatten an Universitäten in Jordanien studiert. Während der regiona-len Konferenzen, die am 29. November 2003 auf allen muslimisch besiedelten Gebietenstattfanden, zeigte sich, dass diese muslimischen Intellektuellen schnell an Vertrauen undAutorität in den lokalen muslimischen Gemeinden gewannen.128 Besondere Aufmerksam-keit gewann die regionale Konferenz der Muslime in Smoljan, an der Imame und Mitglie-der der lokalen muslimischen Gemeinderäte aus der gesamten Region teilnahmen. Mit 138von 140 Stimmen wurde der Pomake Selvi Šakiriv als Regionalmufti von Smoljan gewähltund mit 143 von insgesamt 145 Stimmen der Pomake Arif Abdullah als Mitglied desObersten Muslimischen Rates durch die Smoljan-Versammlung vorgeschlagen.129 Šakirovund Abdullah, waren jüngere gläubige Muslime, die kaum etwas über die politische Kor-ruption sowie über die Intrigen, die um die nationale Führung der islamischen Gemein-schaft stattfanden, wussten. Als die nationale muslimische Konferenz im Dezember 2003einberufen wurde (mit Delegierten, die von der BRF kontrolliert wurden), waren sie überden Grad der externen Manipulation erstaunt.130 Sie erwarteten faire Wahlen, die Wahl desObersten Muftis war jedoch längst vorher abgestimmt worden. Während der Konferenzverließ die Smojan-Delegation, der sich Delegierte aus Gice Delčev und Plovdiv anschlos-sen, aus Protest den Konferenzsaal und leiteten ein Gerichtsverfahren gegen die Wahl FikriHasans ein. Unabhängig von Gendžev unterstützten die Pomaken aus den Zentralrhodopendie Kandidatur von Ali Hairaddin, eines Pomaken, der über Autorität in der Gemeinschaftbesaß.

Das umstrittene Gesetz über die KonfessionenAm 19. Dezember 2002 stimmte das Parlament über ein neues Religionsgesetz ab, dass dasGesetz von 1949 ablöste.131 Laut des neuen Gesetzes sollte die Registrierung der Konfessi-onen nicht mehr wie bislang durch die Direktion für religiöse Angelegenheiten durchge-führt werden, sondern dem Sofioter Amtsgericht übertragen werden. Bei seiner Entschei-dung war das Gericht jedoch nach wie vor auf eine Stellungnahme der Direktion angewie-sen. Ausgenommen von der Regelung der Registrierung war einzig die Bulgarische Ortho-doxe Kirche, der Rechtsfähigkeit kraft Gesetzes verliehen wurde.

Bereits vor seiner Verabschiedung traf der Gesetzentwurf auf scharfe Kritik. So wieder-holte das Gesetz in Art. 10 Abs. 1 Satz 1 den Vorrang der Orthodoxie als traditionellerReligion und knüpfte daran als konkrete Rechtsfolge ihre Anerkennung als Rechtssubjekt,ohne gerichtliche Registrierung. Darüber hinaus konnten sich bei der Verabschiedung desGesetzes die Abgeordneten, die die Abschaffung der Direktion für religiöse Angelegenhei-ten gefordert hatten, nicht durchsetzen. Vielmehr trug die neue Regelung die konservativeHandlung früherer Regierungen, welche die Direktion dazu verpflichtet hatten, die Aktivi-täten religiöser Institutionen und Organisationen zu überwachen. Weitere Bedenken gab es

128 Bis 2005 waren die regionalen muslimischen Konferenzen dazu berechtigt, Regionalmuftis, Mitglie-der der regionalen muslimischen Gemeinderäte sowie Delegierte für die nationale Konferenz zu wäh-len.

129 Novo rakovodstvo na mjusjulmanite v Bălgarija, in:Mjusjulmani, Januar 2004.130 Interview mit Veždi Ahmedov am 19. September 2011.131 Gesetz über die Konfessionen, in: Dăržaven vestnik Nr.120 vom 29. Dezember 2002. Das neue Ge-

setz hat zwei weitere Änderungen in den Jahren 2006 und 2007 erfahren.

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wegen der unklaren Formulierung vieler Details, wobei damit den lokalen Behörden großerInterpretationsspielraum bei Entscheidungen bezüglich religiöser Fragen gelassen wurde.Art. 15 Abs. 2 sah zudem vor, dass es nur eine Religionsgemeinschaft als juristische Personunter einem Namen (z.B. christliche Orthodoxie, Islam etc.) geben kann.132 Die juristischenPersonen, die bei Inkrafttreten des Gesetzes von registrierten religiösen Institutionen ge-trennt wurden, konnten dementsprechend nicht über das Eigentum der betroffenen Konfes-sion verfügen.

Die vom Europarat gegründete Europäische Kommission gegen Rassismus und Intole-ranz (ECRI) machte in ihrem Bericht vom 27. Januar 2003 darauf aufmerksam, dass das2002 verabschiedete Religionsgesetz nicht alle Einschränkungen der Religionsfreiheit inBulgarien beseitigte.133 In den Gutachten, die im Auftrag des Europarats erstellt wurden,kritisierten die Autoren vor allem Artikel 7.134 Die darin vorgesehene Aufhebung der Re-gistrierung einer Glaubensgemeinschaft, sofern sie für „politische Zwecke“ genutzt werdeoder die „nationale Sicherheit“ gefährde, könne – so die Gutachter – zur Einmischung desStaates in die Religionsfreiheit führen. Die Experten des Europarates stellten ferner dasRecht des Leiters der Direktion für religiöse Angelegenheiten in Frage, religiöse Funktionä-re mit Geldstrafen zu belegen. Dies stelle eine Art Aufsicht dar, die mit der EuropäischenKonvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten „nicht vereinbar“ sei.135

Auch der Vorsitzende des bulgarischen Helsinki-Komitees, Krasimir Kanev, bezeichnetedas neue Gesetz über die Religion als restriktiv und diskriminierend.136 Es sei restriktiv,weil es das Recht der Religionsausübung einschränkte, indem eine Überwachung und Kon-trolle der Religionen durch den Staat zugelassen werde. Diskriminierend sei es, da es einSystem der Registrierung einführe, das für die verschiedenen Religionen unterschiedlicheVorgaben schaffe. Darüber hinaus seien alle Religionsgemeinschaften im Vergleich mitnicht-religiösen Organisationen benachteiligt, da für sie mehr Einschränkungen und Sankti-onen vorgesehen seien. Kanev warnte, dass falls die im Gesetz vorgesehenen Möglichkei-ten der Repression durch den Staat angewandt würden, es zu schwerwiegenden Einschrän-kungen in das Recht der Minderheitsreligionen, ihre Religion auszuüben, käme.

Die protestantischen Kirchen, der alternative orthodoxe Synod, das Muftiamt und Men-schenrechtsgruppierungen versuchten das Gesetz zu verhindern, indem sie sich an denStaatspräsidenten Georgij Parwanow wandten, und ihn aufforderten, sein Veto gegen dasGesetz einzulegen. Parwanow kam dieser Forderung jedoch nicht nach und unterzeichneteam 27. Dezember 2002 ein Dekret, mit dem das Gesetz in Kraft trat. Im Februar 2003 ver-langten anschließend fünfzig Abgeordnete vom Verfassungsgericht, einige Bestimmungendes neuen Gesetzes aufzuheben, da sie der Konstitution und der Konvention für Menschen-rechte widersprächen. Bei seiner Entscheidung (Urteil Nr. 12 vom 15. Juli 2003) war das

132 In der Praxis bedeutete dies, dass dem schismatischen Flügel der Orthodoxen Kirche de facto eineRegistrierung verweigert wurde. Nach den politischen Veränderungen verweigerte ein Teil der ortho-doxen Geistlichen dem 1971 gewählten Patriarchen Maksim die Gefolgschaft. Durch das neue Gesetzwurde die Spaltung in der Orthodoxen Kirche zu Gunsten der einen Partei (mit dem PanorthodoxenKonzil von 1998 für kanonisch erklärt) beendet.

133 Bulgarisches Religionsgesetz verstößt gegen Menschenrechte, in: Livenet vom 18. Juni 2003.134 Ebda.135 Ebda.136 Kanev, Spornijat zakon.

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Verfassungsgericht jedoch nicht in der Lage eine Mehrheitsentscheidung zu erreichen, dadie gleiche Anzahl von Richtern für und gegen den Antrag auf Feststellung der Verfas-sungswidrigkeit stimmte. Somit galt der Antrag als abgelehnt.137

Mit dem Religionsgesetz von 2002, das die gerichtliche Neuregistrierung aller Konfes-sionen in Bulgarien erforderlich machte, waren auch die Bedingungen für einen erneutenKonflikt zwischen Gendžev und der Fraktion um Hasan, Mehmed und Hadži vorgezeich-net. Die beiden Fraktionen reichten jeweils Unterlagen beim Amtsgericht in Sofia ein, umals legitime Vertretung der bulgarischen Muslime in das Register eingetragen zu werden.Beide Gruppierungen hatten bereits eigene muslimische Konferenzen durchgeführt sowieeigene Obermuftis gewählt. Soweit die Konferenzen von 1997 und 2000 als legitim galten,war es für Gendžev jedoch schwierig, Anerkennung für seine Wahl (aus dem Jahr 1996) zubeanspruchen. Deshalb reichte er eine Klage beim Amtsgericht in Sofia ein, um die Recht-mäßigkeit der genannten Konferenzen anzufechten. Nach mehreren Gerichtsverfahren138

entschied das Sofioter Amtsgericht im Sommer 2004 zunächst, keine der beiden Fraktionenzu registrieren. Als vorläufige Maßnahme entfernte das Gericht Hasan aus dem Amt undbestimmte am 19. Juli 2004 vorübergehend ein Triumvirat, das die Angelegenheiten derGemeinschaft lenken sollte, bis eine Gerichtsentscheidung getroffen wird. Einer der vorläu-figen Führer war Fikri Hasan selbst und die anderen zwei (Ridvan Kadjov und OsmanIsmailov) zählten zu seinen engen Vertrauten.139

Am 20. Januar 2005 erließ der Oberste Gerichtshof dann einen Beschluss, mit dem dienationalen Konferenzen der bulgarischen Muslime von 1997 (bei der Mustafa Ališ Hadžizum Obermufti gewählt wurde), von 2000 (Selim Mehmed) sowie von 2003 (Fikri Sali)aufgehoben wurden. Damit war Nedim Gendžev nunmehr der einzige legitime Vertreter dermuslimischen Gemeinschaft. Dies geschah im Rückgriff auf seine Registrierung von 1996.Trotz dieser Entscheidung, weigerte sich die Regierung (SDS/BRF) den Obersten Geistli-chen Muslimischen Rat mit dem Vorsitzenden Gendžev anzuerkennen. Die Regierungwartete stattdessen auf eine weitere muslimische Konferenz, die von den durch das Gerichtbestimmten Verwaltern, einberufen werden sollte.

Gespalten durch die Vereinigung? Die Union der Muslime Bulgariens

“Und haltet alle fest am Seil Allahs und geht nicht auseinander“ (Koran, Vers3:103)

Mit der muslimischen Konferenz, die am 20. März 2005 stattfand, setzten die bulgarischenMuslime „große Hoffnung darauf, dass die Einheit der Gemeinschaft wiederhergestelltwird“.140 Insgesamt 1.404 Delegierte aus dem ganzen Land nahmen an dem Forum teil. DerLeiter der Direktion für religiöse Angelegenheiten sowie der Botschafter der Republik

137 Entscheidung des Verfassungsgerichtes (Nr. 12) vom 15. Juli 2003, in: Dăržaven vestnik Nr. 66,2003. Siehe noch Asen Genov, Religioznoto obučenie – način na upotreba v sekularna Bălgarija, in:Obektiv, Nr. 140, Februar 2007.

138 Am 8. März 2004 entschied das Gericht zunächst, dass die Konferenzen von 1997 und 2000 nichtlegitim seien. Dann wurde das Verfahren am 14. Juni 2004 gestoppt und Gendžev klagte weiter.

139 Am 29. Oktober 2004 setze das Sofioter Berufungsgericht die Entscheidung vom 19. Juli 2004 außerKraft. Kein Einzelfall widersprüchlicher Entscheidungen in der Sache.

140 Mustafa Hadži, Poemam po-goljamata težest, in: Mjusjulmani, Febraur 2005, 32.

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Türkei in Bulgarien und weitere Gäste beobachteten die Konferenz. Alle Bemühungen vonFikri Hasan und der ihn unterstützenden Bewegung für Rechte und Freiheiten (BRF) warendabei darauf ausgerichtet, Nedim Gendžev zu beseitigen, dem „gnadenlose Plünderung“des vakuf-Besitztes vorgeworfen wurde. Das zweite Ziel des Forums war, einen Kompro-miss zwischen den muslimischen Türken und den Pomaken bezüglich deren Leitung zufinden. Wahrscheinlich wegen dieses empfindlichen Gleichgewichts wurde der PomakeMustafa Hadži Ališ als Obermufti und der Türke Basri Pehlivan als Vorsitzender desObersten Muslimischen Rates (OMR) gewählt. Laut des neuen Statutes, der nun verab-schiedet wurde, bekam der OMR mehr Einfluss, da wichtige Entscheidungen bezüglich desvakuf-Eigentums sowie der Ernennung von Regionalmuftis und eines Teiles der Vorsitzen-den der lokalen muslimischer Gemeinderäte in seine Hände gelegt wurden. Die Konferenzwurde im Mai 2005 durch das Sofioter Gericht ordnungsgemäß registriert.

Doch es sollte nicht bei der „Vereinigung“ bleiben, vielmehr wurde eine erneute Spal-tung sichtbar. Gleich am Beginn der Konferenz verließen etliche Kandidaten für das Amt –darunter Arif Abdullah, Silvi Šakirov und Ali Hairaddin – sowie weitere Delegierte ausSmoljan, Kardžali, Goce Delčev, Pleven, Šumen und Sofia, aus Protest den Saal. „Wenn eseine faire Wahl gibt, dann können die Menschen wählen“ – sagte der damalige Regional-mufti von Sofia, Ali Hairaddin, vor den Journalisten, die vor dem Saal warteten – „Wennjedoch die Wahl schon vorentschieden ist, dann gibt es keinen Sinn, sich daran zu beteili-gen. Es wäre besser den Obermufti gleich zu benennen.“141 In einem anderen Interviewteilte Hairaddin mit, dass er bereits am Abend vor der Wahl wusste, wer als Obermuftigewählt wird.142 Eine ähnliche Situation gab es während der Konferenz vom 20. Dezember2003 als Fikri Sali, unterstützt durch die BRF, zum Obermufti gewählt wurde. „Bei derKonferenz gab es kaum Vertreter der islamischen Glaubensgemeinschaft, sondern nur Ak-tivisten und Bürgermeister der BRF“ – klagte auch der Vorsitzende des Regionalrates inSmoljan, Salih Aršinski. Er bekundete ferner, dass Delegierte von den Organisatoren derKonferenz Teilnehmerkarten erhalten hätten, mit dem Versprechen, die Wahl MustafaHadžis zu unterstützen.143 Ein weiterer Anwärter für den Post des Obermuftis – der Be-zirkmufti von Smolyan, Silvy Šakirov – äußerte gegenüber der Presse: „Wenn die BRF sichso sehr wünscht, die islamische Religion zu verwalten, dann lassen es sich auch unter unsLeute finden, die politische Verantwortung übernehmen könnten.“ Die Medien spekuliertendeshalb, ob die abgespaltenen Geistlichen politische Ambitionen artikulieren wollen. „DieRhodopen waren schon immer unterdrückt, politisch und religiös“, fügte Мjumjun Habilhinzu.144

Bereits am nächsten Tag wurde eine Klage gegen die Konferenz beim Sofioter Amtsge-richt eingereicht. Parallel dazu hielten Šakirov, Abdullah und Bekir eine Pressekonferenz inSmoljan ab und verurteilten scharf die Einmischung der BRF, einer politischen Partei, indie inneren Angelegenheiten der islamischen Gemeinschaft.145 „Unserer größter Feind istdie politische Einmischung“, sagte Hairaddin, „Wir sind selber schuld daran, wir die Mus-

141 Mjisjulmanite – razcepeni ot obedinenieto, in: Obštestvo vom 21. März 2005.142 Interview mit Ali Hairaddin im Juni 2003.143 Mjisjulmanite – razcepeni.144 Ruslan Jordanov, Hodene po važeto na Allah, in: Tema, Nr.12 (180), 28 April 2005.145 Izbraha ni glanev mjuftija, in: Mjusjulmansko obštestvo, Nr. 2 (2005), 5-7.

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lime, dass dieser Eingriff geschieht. Der Grund für das Chaos sind die Interessen derjeni-gen, die nicht religiös sind.“146 Auf den Seiten der muslimischen Zeitschrift Mjusjulmanskoobštestvo wiesen die unzufriedenen Geistlichen erneut darauf hin, dass mit der aufgedräng-ten Wahl von Mustafa Hadži die muslimische Glaubensgemeinschaft zu einem „politischenRessort der BRF“ geworden sei und dass sie dies nicht mehr akzeptieren wollen.147

Abdullah beklagte, dass es interne wie auch externe Gruppierungen gäbe, die die islamischeReligion an ein „bestimmtes ethnisches Selbstbewusstsein“ angekoppelt sehen wollten.„Wir könnten aber auch eine politische Partei registrieren, ein getrenntes Muftiamt gründenoder eine Assoziation muslimischer Gelehrter und Intellektueller mit Strukturen im ganzenLand etablieren“ – äußerte Abdullah weiter.148

Das, was als Rivalität zwischen Gendžev und der Bewegung für Rechte und Freiheitenbegonnen hatte, entwickelte sich allmählich zu einem dreiseitigen Konflikt, wobei eineneue Konfrontation zwischen Vertretern der bulgarischen Türken und den Pomaken evidentwurde. Während die BRF und die Geistlichen um Mustafa Hadži ihre Bemühungen daraufkonzentrierten, Gendžev zu bekämpfen, könnte diese neue Spaltung, die in der muslimi-schen Gemeinschaft entstanden war, an Bedeutung gewinnen. Ein Teil der abgespaltenenImame wie Arif Abdullah, Silvi Šakirov, Salih Aršinski, Mjumjun Habil und Veždi Ahmedprotestierte bereits bei der letzten Konferenz Ende 2003 gegen politische Einmischung.Dann nahmen sie die Position von Mehmed ein und verurteilten die Intervention der BRFin Angelegenheiten der Muslime. Diesmal hatte sich den unzufriedenen Geistlichen aberauch der Mufti von Sofia, Ali Hairaddin, angeschlossen, der vorher als einer der engstenMitstreiter Mustafa Hadži galt. Hadži und Hairaddin gehörten zu den Gründern der BRF inVelingrad und Jakoruda im Jahr 1990. Ein Jahr später hatten sie die umstrittene Organisati-on Iršad gegründet. Nachdem Mustafa Hadži 1997 Obermufti wurde, wurde Hayraddinvom Muftiamt in Smoljan zum Mufti von Sofia befördert. Der Protest Hairaddins brachtesomit eine neue Schärfe in die Auseinandersetzungen in den oberen Etagen der Verwaltung.„Mustafa Hadži ist mein Lehrer und mein Freund, wir haben gemeinsam in Jordanien stu-diert“ – äußerte auch Arif Abdullah gegenüber der Zeitschrift Tema. – „Aber die Frage derGerechtigkeit und der Demokratie steht über allem.“149 Hairaddin wies ferner darauf hin,dass keiner etwas dagegen habe, wenn Mustafa Hadži Obermufti werde. Man sei nur gegendie Prozedur, die die Wahl vorbestimmt hätte, da dies eine grobe politische Einmischungdarstelle.“150

Obwohl sich die Kritik nicht gegen Mustafa Hadži und sein Team richtete, schlug dasMuftiamt zusammen mit den Verbündeten der BRF zurück. Abdullah und Šakirov wurdenzusammen mit fünf weiteren Mitgliedern des OMRs aus den Strukturen der Verwaltungentlassen. Dass die beiden Männer demokratisch gewählt worden waren und nach wie vordie Unterstützung der Mehrheit der Muslime in der Region hatten, wurde einfach ignoriert.Hadži benannte Hairaddin Hatim als Regionalmufti von Smoljan. Damit wurde die neue

146 Ali Heiraddin, Ima i političeski i ikonomičeski interesi, in: Mjusjulmansko obštestvo, Nr. 2 (2005), 9-10.

147 Izbraha ni glanev, 6.148 Ebda.149 Velingrad kato Tora Bora, in: Tema, Nr.39 (258), 02-08 Oktober 2006.150 Mjisjulmanite – razcepeni.

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Regelung, die Regionalmuftis nicht mehr durch ihre Gemeinden wählen zu lassen, sonderndurch den OMR einzustellen, durchgesetzt. Die Muslime aus den Zentralrhodopen wandtensich an das Obere Muftiamt, um gegen die Entfernung von Šakirov zu protestieren. IhreWünsche wurden jedoch nicht mehr berücksichtigt. Ali Hairaddin wurde als regionalerMufti von Sofia entlassen, nachdem ihm Amtsmissbrauch vorgeworfen wurde. Darüberhinaus wurde sein Name mit Ahmad Musa, ein Jordanier, der in Bulgarien lebte, in Verbin-dung gebracht. Musa wurde 2000 aus Bulgarien ausgewiesen, wobei man ihm vorwarf,Kontakte zu ausländischen radikalen Organisationen zu pflegen.151

Einige Monate später gründeten Vertreter der abgespaltenen muslimischen Gruppierungeine neue Organisation unter dem Namen Union der Muslime in Bulgarien (Săjuz na mjus-julmanite v Bălgarija, UMB), dessen Leiter Ali Hairaddin wurde.152 Der Verein hatte dasZiel, sich für „eine bessere Integration der Muslime in der bulgarischen Gesellschaft einzu-setzen und einen Dialog nach innen wie auch nach außen“ zu fördern.153 Es sei sehr aktuellund zugleich eine Tatsache, dass die Muslime in Bulgarien dringend Integration brauchen,äußerte Ali Hairaddin. Viele von ihnen hätten nicht das Gefühl, ein Teil dieser Gesellschaftzu sein und sie möchten keine Verantwortung übernehmen. Die frühere Diskriminierungs-politik führe zu Passivität und Geschlossenheit. Inzwischen verstünden jedoch viele jungeLeute, dass dies falsch sei und sie möchten ihre Religiosität nicht mehr als ein Stigma erle-ben.154

In der Satzung des Vereins wurden folgende Ziele verankert: Etablierung demokrati-scher und zivilgesellschaftlicher Strukturen innerhalb der muslimischen Gemeinden, Be-wahrung der Einheit und Unabhängigkeit von politischen und anderen äußeren Einmi-schungen, Verteidigung des Rechtes auf unabhängige und demokratische Wahl der Füh-rungsorgane, soziale Integration sowie Unterstützung von benachteiligten sozialen Gruppenund Einzelpersonen.155 Diese Ziele sollten durch Vorbereitung und Durchführung sozialerProjekte, die Organisation von Seminaren und das Verbreiten von Literatur erreicht werden.Laut Ali Hairaddin erfolgte die Finanzierung der Organisation durch die Unterstützungkleinerer Unternehmen sowie die Mitgliedsbeiträge. Zu dem siebenköpfigen Vorstand desVereins gehörten Geistliche und Intellektuelle pomakischer Herkunft sowie zwei Bulgaren,die zum Islam konvertiert waren. Obwohl der Verein sich an alle in Bulgarien lebendenMuslime richtete, konzentrierte sich seine Tätigkeit vorwiegend in den Zentral- und West-rhopdopen, wo viele Pomaken lebten, sowie auf muslimische Jugendliche und Intellektuelleunterschiedlichen ethnischen Hintergrundes in der Hauptstadt Sofia.

Die Gründung des Vereins sorgte in den folgenden Monaten für Aufmerksamkeit, so-wohl unter den Bewohnern der Zentral- und Westrhodopen, als auch in der Presse. Medienberichteten über angebliche Beziehungen des Vereins zu syrischen Geschäftsleuten sowie

151 Mehr dazu im Kapitel „Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen“.152 Die erste Versammlung fand drei Tage nach der Konferenz statt. Die offizielle Gründung des Vereins

erfolgte am 19. Februar 2006 in Velingrad. Schließlich wurde der Verein am 27 Juni 2006 als nicht-religiöse und nicht-politische Organisation durch das Sofioter Amtsgericht registriert. Mehr dazu:Izbraha ni, 6; Săjuzat na mjusjulmanite rezbuni obšestvenoto mnenie, in: Tempo, 10. Oktober 2006.

153 Interview mit Ali Hairaddin am 18. Juni 2009.154 Interview mit Hairaddin, 18. Juni 2009.155 Statut der Union der Muslime in Bulgarien. Eine Ablichtung des Dokuments befindet sich bei der

Autorin.

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die Anfälligkeit der Vereinsmitglieder für wahhabitische Ideen.156 Die Haltung des Muf-tiamts zum neu gegründeten Verein war ablehnend. Hjusein Hafazov, Sekretär des Muf-tiamts, behauptete, dass das Muftiamt keine Verantwortung für diese Vereinigung tragebeziehungsweise über keine Informationen bezüglich dessen Tätigkeit verfüge.157 Das Muf-tiamt hatte zudem keine Zustimmung der UMB erteilt, religiöse Tätigkeit durchzuführen.158

Der Verein hatte sich um eine solche Zustimmung aber auch gar nicht bemüht und im Sta-tut war religiöse Tätigkeit in engerem Sinne nicht vorgesehen. „Wir haben nicht vor, Mo-scheen zu bauen und islamische Kurse durchzuführen“, sagte der Sekretär der Organisation,Salih Aršinski.159 Auf die Spekulationen, Ali Hairaddin und seine Anhänger bezwecktendie Wiederherstellung einen pomakischen Muftiamtes,160 antwortete Hairaddin, dass wederdie Gründung einer pomakischen Partei noch eines getrennten Muftiamtes der Pomakenden Prinzipen der islamischen Religion entspreche. Ziel des Vereins sei es, nicht zu spaltensondern zu vereinen. Es gebe immer noch vieles, was in Bezug auf die volle Akzeptanz derMuslime in der bulgarischen Gesellschaft nicht in Ordnung sei.161

Problematisch sei ferner – so Hairaddin – , dass in Bulgarien eine irreführende Gleich-setzung von „türkisch“ und „muslimisch“ infolge der osmanischen Geschichte entstandensei. Nicht alle Muslime akzeptieren diese Gleichsetzung und die UMB möchte sich dafüreinsetzen, dass eine Debatte zu diesem Thema stattfindet.

„Wie kann ein Phänomen wie die ‚Knabenlese‘, die im Rahmen des OsmanischenReiches praktiziert wurde, als islamisch betrachtet werden?“162 – fragte er – „Dies istvöllig unakzeptabel. Eine zwanghafte Rekrutierung von Christenknaben entsprichtnicht den Prinzipien des Islam, sondern hatte mehr mit der politischen Macht derOsmanen zu tun. Auch das Verwandeln einer christlichen Kirche, wie der HeiligenSofia in Istanbul in eine Moschee, sei irreführend.163

Ali Hairaddin, wurde im Dorf Avramovo, Gemeinde Jakoruda, als Pomake geboren. Wäh-rend seiner dreijährigen Amtszeit (1992-1995) als Regionalmufti in Smoljan galt er alsReformer, weil er sich für einen flexiblen und vom verkrusteten Konservatismus der altenEliten befreiten Islam einsetzte. Er kümmerte sich vor allem um junge Menschen. Zugleichwandte er sich aber auch gegen einige synkretistische Erscheinungen in der religiösen Pra-xis der Muslime und verurteilte unter anderem den Besuch von Heiligen Gräbern. Bei mei-

156 Siehe stellvertretend: Tajno osnovaha radikalen săjuz na mjusjulmanite v Bălgarija, in: Ataka vom 25.September 2006.

157 Imame si veče i Săjuz na mjusjulmanite, in:Monitor vom 25 September 2006. Bei der Gründungsver-sammlung wurde der Obermufti, Mustafa Hadži, ebenfalls eingeladen. Er nahm nicht teil.

158 Gemäß Artikel 27 des Religionsgesetzes können NGOs religiöse Tätigkeit nur mit vorheriger Zu-stimmung der zentralen Institution der jeweiligen Konfession, in diesem Fall des Muftiamtes, durch-führen.

159 Ali Hairaddin, Njama isljamski fundamentalism v Bălgarija, in: Darik News, 13. Oktober 2006.160 Siehe dazu u.a. Emisari iskat obedinenie na pomacite v Kazanlaško, in: Stara zagora dnes, 12.

Februar 2007.161 Hairaddin, Njama isljamski fundamentalism.162 Im Osmanischen Reich wurden Christenknaben, in der in den europäischen Provinzen des Reiches

durchgeführten „Knabenlese“ (devshirme) eingezogen und für die verschiedenen Dienste in den Be-reichen des Militärs und der Verwaltung ausgebildet.

163 Interview mit Ali Hairaddin im Juni 2009.

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ner ersten Begegnung mit ihm im Jahr 2004 hatte er eine kritische Stellung gegenüber denin Bulgarien lebenden Aleviten, indem er ihnen einen „lockeren Umgang mit islamischenVorschriften“ vorwarf.164 Diese Haltung revidierte er später. Hairaddin galt zudem als ein„guter Rhetoriker“, nicht zuletzt deshalb, weil es ihm gelungen war, mehrere Bulgaren zumIslam zu konvertieren. Darüber hinaus vertrat Hairaddin die Position, dass es keine „lokalenAusprägungen des Islam“ gäbe. Es sei falsch vom „türkischen“, „arabischen“, „indonesi-schen“ etc. Islam zu sprechen (er nähert sich somit einer neofundamentalistischen Sicht-weise). Es gäbe nur einen Islam und dieser gründe einzig und allein im Koran und derSunna.165

In seiner Interpretation bezüglich Bedeutung und Rezeption des Korans ging er jedochdifferenzierter vor. Er betonte, dass der Koran kein „Schmuck“ sei, der – wie viele Muslimeim Lande dies tun – an der Tür ihrer Häuser als Abwehr gegen böse Kräfte gehängt oder inAmuletten Verwendung fände. Zugleich wandte er sich aber auch gegen eine strikte undbuchstäbliche Lesart des Korans und meinte, dass das Verstehen der wichtigsten Schrift derMuslime an die neuen Zustände angepasst werden müsse.166 Vor allem die Vorwürfe, ervertrete eine wahhabitische Form des Islam, wiest er entschieden zurück. Auch seine Mit-wirkung an der Gründung der BRF, nicht zuletzt die proklamierten Ziele des Vereins derMuslime in Bulgarien, lassen in diesem Zusammenhang keine Ähnlichkeiten zu salafisti-schen Ideologien erkennen. In seinen Ansichten nähert er sich eher dem Schweizer Philo-sophieprofessor Tariq Ramadan, dessen Texte auf den Seiten der von Hairaddin betreutenWebseiten sowie im Rahmen seiner Vorträge großen Platz einnehmen.167 Ähnlich wieRamadan vertritt Hairaddin die Meinung, dass zwischen den universalen und den zeitlichenund lokalen Aspekten der islamischen Quellen unterschieden werden muss. Es gäbe einislamisches Universum von Referenzen, das überall unabhängig von Ort und Zeit dasselbesei. Es gibt aber auch andere Aspekte, die entsprechend der Erfordernisse ihrer Zeit best-möglich angepasst werden müssen. Der Glaube an die Prinzipien könne nicht den Glaubenan historische Modelle bedeuten. Die Prinzipien bleiben gleich, die Art, an sie zu glaubensei unterschiedlich. „Es geht nicht um Reformismus.“ – so Hairaddin – „Allah hat denIslam für jede Zeit und jeden Raum offenbart. Der Islam hat aber die Fähigkeit, sich an jedeZeit und jeden Raum anzupassen.“168 Deshalb brauche der Islam keine Reform. Die Musli-me seien diejenigen, die ihre Denkweisen reformieren sollten. In diesem Sinne wäre falschvom „modernen Islam“, richtiger jedoch vom „Islam in der Moderne“ zu sprechen.

Hairaddin und weitere Mitglieder der UMB gehörten ferner zu den ersten Muslimen inBulgarien, die muslimische Internetportale (www.islambg.com und www.imam-islam.hit.bg) initiierten, auf denen religiöse und ethische Fragen behandelt wurden sowieeine Plattform für den Austausch zwischen Muslimen wie auch Nicht-Muslimen geschaffenwurde. Die erste Webseite wurde 2003 – als Hairaddin Regionalmufti von Sofia war –eingerichtet und hatte mit dem Verein direkt nichts zu tun. Die zweite wurde parallel zu der

164 Interview mit Ali Hairaddin im August 2004.165 Interview mit Hairaddin, 2009.166 Ali Hairaddin, Zavraštaneto kam Korana. Religiöser Vortrag, ersichtlich an der Homepage des

Muftiamtes, unter <http://www.grandmufti.bg/bg/2011-07-15-16-00-35.htm> (09.02.2014).167 Siehe stellvertretend: Ali Hairaddin, Isljama i badeštoto razvitie na steva. Religiöser Vortrag, erhält-

lich als CD beim Medienzentrum des Muftiamtes.168 Hairaddin, 2009.

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Gründung des Vereins von zwei bulgarischen Konvertitinnen, die in Verbindung mit derUMB standen, eingerichtet. Obwohl die beiden Webseiten häufig von Pomaken besuchtwurden, können sie nicht als „pomakisch“ bezeichnet werden. Auch Türken, Konvertiten,Ausländer und Nicht-Muslime besuchten sie, um Informationen und Meinung auszutau-schen.169

Im Februar 2007 wurden Hairaddin und drei andere Muslime, die mit der UMB verbun-den waren, wegen der Veröffentlichung „radikaler islamischer Webseiten“ festgenommen.Ihnen wurde vorgeworfen, durch die von ihnen geführten islamischen Seiten „Wahhabis-mus und dschihadische Ideologie zu verbreiten sowie die Einführung eines Scheriat-Staatesanstelle der durch die bulgarische Verfassung garantierten gesellschaftlicher Ordnung anzu-streben“.170 Eine der Frauen, die mit Ali Hairaddin zusammenarbeitete, wurde beschuldigt,tschetschenische islamische Literatur ins Bulgarische übersetzt zu haben und somit das„nächste Tschetschenien auf dem Balkan“ vorzubereiten. Als sich herausstellte, dass dieseFrau nach islamischem Recht die zweite „geistliche Frau“ von Hairaddin war, wurden dieVorwürfe, die Vereinigung propagiere die Polygamie, laut. Obwohl Hairaddin 74 Stundennach der Verhaftung wieder frei gelassen wurde und das Untersuchungsverfahren gegen ihnam 20. Juni 2008 eingestellt wurde,171 wurde sein Image beschädigt und er galt fortan alsein „potenzialer Träger radikaler Ideen“.

Organisation für islamische Entwicklung und KulturDie Union der Muslime in Bulgarien war nicht die einzige Organisation, die sich als Alter-native zu den zentralisierten Strukturen des Muftiamtes und als Vertreter der neu entste-henden zivilgesellschaftlichen Strukturen unten den Muslimen etablierte. 2004 gründetenArif Abdullah und Silvi Šakirov in Smoljan die Organisation für islamische Entwicklungund Kultur (Organizacija za isljamsko razvitie i kultura, OIRK). Die Leitung übernahmenjüngere Pomaken und einige Konvertiten, die ein Studium in islamischer Theologie in Jor-danien absolviert hatten. Bei der Gründung der OIRK lag das Durchschnittsalter der Orga-nisatoren unter 30 Jahren. Vorsitzender wurde Arif Abdulah (geb. 03.07.1974), der einMasterstudium der Koranwissenschaft (tafsir) an der staatlichen Universität in Ammanabgeschlossen hatte. Sein Stellvertreter wurde der damalige Regionalmufti von Smoljan,Salvi Širkov (geb. 10.10.1976). Er hatte an der privaten Universität Zarka, ebenfalls inJordanien studiert. Zu der Leitung der OIRK gehörte unter anderem auch die Tochter vonHairaddin und es muss angenommen werden, dass es zwischen der UMB und der OIRK einenges Netzwerk gab.

Als Ziele der Organisation gaben die OIRK-Mitglieder die „Erhöhung der religiösenBildung der in Bulgarien lebenden Muslime, die Festigung der moralischen und geistlichenWerte in der Gesellschaft sowie das Durchführen von karitativen Tätigkeiten“ an.172 „Mitunserer Arbeit möchten wir einen Beitrag zu einem besseren Verständnis des Islam – als

169 Eine bulgarische Kollegin teilte mir mit, dass sie viele ihrer Informationen zu religiösen Fragen aufdiesen Seiten erhalte.

170 Beschluss der Staatsanwaltschaft Nr. 2127/07 vom 19. Februar 2007.171 Beschluss der Staatsanwaltschaft Nr. 2127/08 vom 20. Juni 2008.172 Arif Abdulah, Iskame da uverim obštestvoto, če isljamat e tolerantnost i obič kam horata, in:

Mjusjulmansko obštestvo, Nr.1 (2005), 4.

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einer Religion des Friedens und nicht der Gewalt – leisten“. – sagte Arif Abdulah in einemInterview für die Mjusjulmansko obštestvo.173 Dies sollte durch Vorträge und islamischeSeminare sowie Konferenzen und Lobbyarbeit erreicht werden. Darüber hinaus stellten sichdie Organisationsmitglieder zum Ziel „den Islam zu modernisieren sowie die Muslimebesser in die bulgarische Gesellschaft zu integrieren“.174 Die OIRK plante Stipendien fürJugendliche an Universitäten im In- und Ausland zu vergeben. Ein weiterer Schwerpunktder Arbeit sollte der Ausbau des Dialogs zwischen den verschiedenen ethnischen und reli-giösen Gemeinschaften im Land darstellen.

Weder Abdullah noch Hairaddin bekamen für die von ihnen gegründeten Vereine finan-zielle Unterstützung vom Muftiamt oder der Türkei. Laut Georgi Krastev, einem Vertreterder Direktion, wurde die OIRK in der Gründungsphase durch Sponsoren aus Syrien unter-stützt.175 Später wurde sie offiziell zu einer Filiale der Föderation Islamischer Organisatio-nen in Europa (FIOE).176 In ihrer Tätigkeit zeigte die OIRK eine Orientierung nach West-europa, sowohl durch ihre Veröffentlichungen (bei denen es um Islam und muslimischeGemeinden in Westeuropa ging)177 als auch durch die Teilnahme an internationalen Konfe-renzen, wie zum Beispiel der im Mai 2006 in London durchgeführte „Konferenz für Mäßi-gung im Islam“.178

Im Sommer 2006 brachten einige Ereignisse die OIRK in die bulgarische Öffentlichkeitund über mehrere Monate wurde im bulgarischen Radio, dem Fernsehen sowie in den nati-onalen Zeitungen über Šakirov und Abdullah diskutiert. Anlass dazu war zunächst die Be-schwerde von zwei Schülerinnen des Gymnasiums „Karl Marx“ in Smoljan, die wegenihrer Weigerung, das Kopftuch während des Unterrichts abzunehmen, von der Schule ver-wiesen wurden. Die OIRK übernahm die Verteidigung der beiden Mädchen und reichteeine Klage gegen den Direktor des Gymnasiums bei der parlamentarischen Kommissionzum Schutz vor Diskriminierung ein. In der Klage wies Salvi Šakirov darauf hin, dass nichtnur in Smoljan, sondern an weiteren Schulen im Land obligatorische Schuluniformen be-wusst eingeführt wurden, um so Schülerinnen, die sich zum Islam bekennen, vom Tragenislamischer Kleidung abzuhalten.179 Der Kläger vertrat die Meinung, dass dadurch eineDiskriminierung „kriminellen Charakters“ vorliege. Das Kopftuch sei kein Symbol, sie seiein Dogma, betonte er. „In Bulgarien gibt es ein Gesetz, das über den Vorschriften derSchule steht, und das ist die Verfassung.“ – so Šakirov vor der parlamentarischen Kommis-sion. – „Unabhängig davon, welche Schulreglungen es gibt, ist die Schule nicht berechtigt,

173 Ebda.174 Ebda.175 Interview mit Georgi Krastev vom 15. Oktober 2010.176 Angabe von Hadžer F., Mitglied der OIRK und Redakteurin der Zeitschrift Mjusjulmansko obštestvo.

Zur FIOE siehe das weiterführende Kapitel „Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen“.177 Siehe dazu zahlreiche Beiträge inMjusjulmansko obštestvo.178 Vgl. OIRK učastva v părvata meždunarodna Konferenzija za umerenostta v isljama v London, in:

Mjusjulmansko obštestvo, Nr.4 (2006), 27f.179 Auszüge aus dem Protokoll der Hauptverhandlung der Kommission findet sich in: Lujba Мanolova,

Zabraneni igri ili krak po pladne, in: Hroniki vom 2. April 2008. Siehe noch Komisija za zaštita otdiskiminacija razgleda žalbata na Obedinenieto za isljamsko razvitie i kultura, in: Agencija Fokus,Juli 2006, 12 sowie Posleden šans za daržavata da izdarži mjisjulmanskija izpit, in: Dnevnik vom 13.September 2006.

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nationale und internationale Gesetze aufzuheben.“180 In diesem Fall unterstützte dasMuftiamt die Position der OIRK und gab eine fatwa aus, nach der das Tragen des Kopf-tuchs ein religiöses Gebot für muslimische Frauen sei.181 Am 7. August 2006 beschloss dieKommission, dass das Kopftuchverbot in Schulen, in denen es eine Schuluniform gibt,keine Diskriminierung darstellt und die Mitglieder der Organisation verzichteten darauf,eine weitere Beschwerde einzureichen.182

Der zweite Fall betraf eine Fußballmannschaft in Rudozem, die durch die OIRK gele-gentlich unterstützt wurde. Das Problem lag darin, dass auf den Trikots der Spieler, diedurch die Organisation finanziert wurden, ein Emblem der OIRK (Halbmond, deren Rändermit Sternen verbunden sind und so einen Kreis um den Globus bilden) abgebildet wurde.183

Die OIRK wurde deshalb scharf kritisiert und beschuldigt, eine schleichende Islamisierungim Land zu betreiben. Die oben genannten beiden Fälle beschäftigten nicht nur Institutio-nen wie die parlamentarische Kommission zum Schutz vor Diskriminierung, das Ministeri-um für Bildung und die bulgarische Fußball-Union. Sie sorgten auch für Kontroversen inder Öffentlichkeit, bei denen Fakten und Spekulationen miteinander vermischt wurden.

Die OIRK verfügte zudem über eine eigene Webseite, auf der Informationen zu ver-schiedensten Themen zu finden waren, und gab eine eigene Zeitschrift Mjusjulmanskoobštestvo heraus. Die OIRK war auch die erste muslimische Organisation in Bulgarien, diereligiöse Vorträge durchführte und sich dabei moderner Kommunikationstechniken (Bea-mer etc.) bediente. Damals (2004/5) schien diese Art von „Predigt“ für viele der bulgari-schen Muslime ungewöhnlich. Inzwischen ist sie eine der verbreitetesten Formen religiöserUnterweisung für Erwachsene und das Verwenden technischer Mittel scheint keinen mehrzu überraschen. Darüber hinaus war die OIRK die erste lokale Organisation der bulgari-schen Muslime, die eine eigene Frauen-Abteilung unterhielt, deren Leiterin die Ehefrau vonArif Abdullah, Neda, wurde.

Ähnlich wie die UMB vertraten die Mitglieder der OIRK die Meinung, dass aus derosmanischen Zeit zahlreiche Glaubensvorstellungen in der religiösen Praxis der bulgari-schen Muslime geblieben waren, die den Islam verzerren. Darüber hinaus sei die osmani-sche Geschichte schuld daran, dass viele Menschen in Bulgarien eine negative Haltunggegenüber dem Islam hätten, indem sie „türkisch/osmanisch“ und „islamisch“ gleichsetz-ten. Die OIRK plante deshalb eine Reihe von Veröffentlichungen, in denen gezeigt werdensollte, wie sehr die Osmanen den Islam veränderten und ihn an die eigenen Traditionenanpassten.184 Dieser Vorschlag, der während einer Konferenz der OIRK im September 2006gemacht wurde, wurde von Arif Abdulah mit folgenden Worten begründet:

„Die Muslime in Bulgarien leiden an den Folgen der osmanischen Zeit. Vieles, wasvon den Osmanen geblieben ist, ist falsch und die Menschen setzen dieses Erbe mitdem Islam gleich. Bulgarien ist unsere Heimat. Deshalb gibt es für uns keinen ande-ren Weg, als uns als Bulgaren und als Europäer zu verstehen. Wichtig dabei ist, eine

180 Мanolova, Zabraneni igri.181 Siehe dazu die Rubrik „Fragen und Antworten“ auf der Homepage des Muftiamtes (13.11.2012).182 Zabranata za zabradki v učilištata, kadeto ima uniforma, ne e diskriminacija, in Dnevnik, bg vom 01.

August 2006.183 Mahat polumeseca ot futbolnite flanelki, in: Standart vom 19. September 2006.184 Na 23 septembri se sastija konferencija na OIRK, in: Mjusjulmansko obštestvo, Nr.5 (2006), 22.

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Synthese islamischer und westlicher Werte zu erreichen. Das Wissen über westeuro-päische Geschichte und Kultur ist von großer Bedeutung. Nur wenn wir mehr überwesteuropäische Gesellschaften wissen, werden wir in der Lage sein, der Wahrneh-mung, dass wir ein Anhängsel des Nahen Osten sind, entgegenzuwirken“.185

Die Aktivisten der OIRK haben die Zugehörigkeit des bulgarischen Islam zur hanafitischenRechtsschule in den von ihnen vertretenen Positionen nie in Frage gestellt. Auch die weit-gehende Akzeptanz des säkularen Staates sowie des religiösen und kulturellen Pluralismusbetonten die Mitglieder der Organisation immer wieder.186 Es besteht zugleich kein Zweifeldaran, dass sie sich für eine Erneuerung des Islam in Bulgarien einsetzen, wobei sie einenindividuellen Zugang zur Religion wählten. Selbstreflexion über die eigene Religiositätspielte eine wichtige Rolle. Auf jeden Fall gab die OIRK neueren Tendenzen, die unterTeilen der bulgarischen Muslimen zu beobachten waren, Ausdruck und trug zu einer Mobi-lisierung im Namen islamischer Werte bei. Einerseits richteten sich die OIRK-Aktivistengegen patriarchale Strukturen in ihren lokalen Gemeinden sowie gegen eine – aus ihrerSicht – konservative und unreflektierte Ausübung des Islam. Andererseits wollten sie theo-logische „Verunreinigungen“ beseitigen.187 In gewissen Sinn kann man hier von einer nachinnen gerichteten da`wa (Ruf zum Islam) sprechen, die den Glauben erneuern wollte undsich zugleich gegen das religiöse Establishment im Land wendete.188 Mitglieder und Anhä-nger der OIRK legten viel mehr Wert auf den Glauben, auf die spirituelle Erfahrung undauf die individuelle, persönliche Wiederentdeckung der Religion, als auf Tradition, Überlie-ferung und Autorität.

Durch ihre vielfältigen Aktivitäten, die sich vorwiegend auf junge Menschen richteten,forderte die OIRK das Muftiamt letztendlich heraus und stellte dessen Führungsposition inFrage. Laut der Redakteurin der Zeitschrift Mjusjulmansko obštestvo, Hadžer F., warenSpannungen zwischen der OIRK und Mitgliedern des Muftiamtes keine Seltenheit.189 Da-hinter vermutete sie aber auch politische Interessen, womit an erster Stelle die politischePartei Bewegung für Rechte und Freiheiten, mit ihren Vorsitzenden Ahmed Dogan, gemeintwar. Der Konflikt zwischen der OIRK und dem Muftiamt war nicht zuletzt durch die unter-schiedlichen Strategien, denen sie jeweils folgten, vorprogrammiert. So setzte sich dieOIRK für dezentralisierte Strukturen ein und forderte Autonomie und Selbstverwaltung fürjede einzelne muslimische Gemeinde. Ihr Prinzip „jede Moschee – eine Gemeinde“ stand indeutlichen Widerspruch zum Führungsanspruch der Verwaltungsbehörde beziehungsweisederen Zentralisierungsbestrebungen. Darüber hinaus warfen Mitglieder der OIRK demMuftiamt mangelnde Flexibilität und Konservatismus vor. So äußerte Hadžer in einemInterview im Herbst 2011: „Das Muftiamt ist eine kranke Institution und das ist kein Wun-

185 Ebda.186 Siehe dazu u.a. Arif Abdulah, Čoveškite vzaimootnošenija v isljama, in: Mjusjulmansko obštestvo,

Nr. 7 (2006), 4.; Plamen Asenov, Fundamentalnata ideja – prosvešenie i obrazovanie, in: Obektivvom 2. Oktober 2004, 15

187 Beispiele dafür finden sich u.a. auf den Seiten der Zeitschrift Mjusjulmansko obštestvo.188 Mehr zu da`wa siehe Kapitel V.189 Interview mit Hadžer F. im September 2011.

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der. 45 Jahre lang stand es unter der Aufsicht eines säkularen und diktatorischen Staa-tes.“190

Innerhalb kürzester Zeit gewann die OIRK vor allem unter jüngeren Pomaken inSüdbulgarien und unter muslimischen Intellektuellen in der Hauptstadt Sofia an Popularität.Nur in der Zeit zwischen April und Mai 2005 besuchten fast 3.000 Personen Veranstaltun-gen der OIRK in den Bezirken Smoljan und Blagoevfrad.191 Nach Angaben der Veranstal-ter soll dies die monatliche durchschnittliche Besucherzahl bei religiösen Vorträgen derOrganisation gewesen sein.192 Die wachsende Popularität der OIRK forderte zugleich Ge-genreaktionen. Im September 2006 eröffnete die regionale Staatsanwaltschaft von Smoljaneine Untersuchung über die Aktivitäten der OIRK, indem sie Informationen aus dem natio-nalen Sicherheitsdienst bezüglich deren Finanzierung anforderte. Es kann aber angenom-men werden, dass die Angriffe politisch motiviert waren – die Aktivitäten von Abdullahund Šakirov unter den Pomaken drohten das Monopol der BRF über die Wählerstimmen inder Smoljan-Region zu brechen und dies im Vorfeld der Kommunalwahlen des Jahres2007. Nach Monaten ausführlicher Ermittlungen entschied die Staatsanwaltschaft vonSmoljan im März 2007, dass Abdullah und seine Organisation nicht gegen bulgarischesRecht verstoßen hatten. Ein Jahr später – am 28. Dezember 2008 – wurde die OIRK mit derBegründung, dass die Organisation „nicht ordnungsgemäß registriert sei“ durch das Be-zirksgericht in Smoljan jedoch aufgelöst.193 Der Richter warf den Mitgliedern der Organisa-tion vor, religiöse Tätigkeit ausgeübt zu haben, obwohl dies in ihrem Statut sowie bei derRegistrierung nicht angegeben wurde. Um religiöse Tätigkeit ausüben zu können, hätte dieOIRK nach Art. 27 des Religionsgesetzes die Zustimmung des Muftiamtes benötigt. Mitdem Urteil vom 28. Dezember 2008 des Gerichts in Smoljan bekam die OIRK sechs Mona-te Zeit, um ihre Tätigkeit zu beenden. Nach der Auflösung der Organisation ging ArifAbdullah nach Schottland, um dort ein Promotionsstudium im Bereich der Koranauslegungzu absolvieren.

Wir wollen keine Almosen, sondern unsere Rechte

„Mustafa Hadži ist Ziegenhirte und Lakai der BRF [Bewegung für Rechte und Frei-heiten]. Es bleibt nur noch, dass Ahmed Dogan den Patriarchen und den Rabbi inBulgarien wählt. Die ganze muslimische Konferenz ist illegitim. Es gibt Entschei-dungen des Obersten Gerichtshofs (OMGR), die klären wer rechtmäßiger Vertreterder Muslime ist und wer eine Nationale Muslimische Konferenz einberufen kann.Eine solche kann nur durch den Obersten Muslimischen Geistlichen Rat, den ich lei-te, einberufen werden. Hier sollen alle anderen die Suppe auslöffeln. Das ist die Tat-sache. Mustafa Hadži ist izmekyar194 und er hat keine höhere Bildung, weil er in

190 Interview mit Hadžer F., 2011.191 Blizo 3.000 čoveka za mesec posetiha lekciite, organisirani ot OIRK, in: Mjusjulmansko obštestvo,

Nr. 3 (2005), 2f.192 Ebda.193 Delo za registracijata na „Obedinenie za isljamsko razvitie i kultura“, in: Calendar, 15. Oktober

2008, <http://calendar.dir.bg/> (12.04.2012).194 Izmekjar ist ein veraltetes Wort türkischen Ursprungs (hizmetkâr) Es bedeutet „Diener“ oder

„Marionette“. Im Gegensatz zu der Marionette, die keinen eigenen Willen hat, verkauft der Izmekjarseinen Willen freiwillig und für Geld.

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zwei Jahren in Jordanien keine Hochschulbildung erworben haben kann. Er ist nichteinmal Rektor des Obersten Islamischen Institutes. Um ein solcher zu sein, muss erdurch den OMGR, dem ich vorsitze, eingestellt werden. Ich habe so einen Rektornicht eingestellt.“195

Mit diesen Worten kommentierte Nedim Gendžev die muslimische Konferenz vom 20.März 2005, bei der Mustafa Ališ Hadži als Obermufti gewählt wurde. Durch die muslimi-sche Konferenz wurde Gendžev vorübergehend aus dem Kampf um das Amt des Obermuf-tis entfernt. Doch der frühere Offizier der Staatssicherheit erhob seine Vorwürfe gegenüberdem gewählten Mustafa Ališ Hadži, die jetzt durch Beschuldigungen der „Inkompetenz“und „Missachtung des Gesetzes“ ergänzt wurden. Im Gegensatz zu Gendžev, der eine fürdas Amt des Muftis eher unzureichende Bildung hatte, gehörte Mustafa Ališ Hadži (einPomake) zu den angesehensten muslimischen Autoritäten im Land. Geboren 1962 im DorfDraginovo (Gemeinde Velingrad), besuchte Hadži eine spezialisierte Fachschule für Forst-wirtschaft und nahm zugleich bei Imamen in Draginovo und Velingrad Religionsunter-richt.196 Im Sommer 1989 beteiligte er sich an den Protesten für die Wiederherstellung dermuslimischen Namen und wirkte anschließend bei der Gründung der BRF in Velingrad mit.Zwischen 1990 und 1992 war er Imam von Draginovo. 1992 wurde Hadži als stellvertre-tender Obermufti in Sofia gewählt. 1993 begann er ein theologisches Studium im islami-schen Recht an der Universität Yarmuk in Jordanien, wo er 1997 sein Diplom erwarb. Zwi-schen 1997 und 2000 wurde Hadži Obermufti. Während seines dreijährigen Mandatesschloss er ein Magister-Studium der vergleichenden Religionswissenschaft an der NeuenBulgarischen Universität in Sofia ab. Anschließend wurde er zwischen 2000 und 2003Vorsitztender des Obersten Islamischen Rates und von 2003 bis 2005 Rektor des OberstenIslamischen Instituts in Sofia. Am 20. März 2005 wurde Mustafa Hadži erneut zum Ober-mufti Bulgariens gewählt. 2008 promovierte er an der Universität Marmara in der Türkei.Mustafa Hadži beherrscht vier Fremdsprachen – Arabisch, Türkisch, Englisch und Rus-sisch. 2009 wurde er in das Buch der 500 bekanntesten Muslime der Welt aufgenommen.197

Nachdem die Konferenz vom 20. März 2005 ordnungsgemäß in das Register eingetra-gen wurde, nahm die Arbeit in den Verwaltungsstrukturen der bulgarischen Muslime ihrengewöhnlichen Lauf auf. Wie bei allen vorangegangenen Konferenzen bezeichnete Gendževauch diese als illegitim und legte gegen sie Beschwerde beim Gericht ein. Der Gerichts-streit begann von vorne. Das Amtsgericht in Sofia lehnte die Klage von Gendžev zunächstab. Er wandte sich an das Berufungsgericht. Nach weiteren Gerichtsprozessen kam esschließlich am 7. Januar 2008 dazu, dass der Oberste Gerichtshof entschied, die Konferenzvon 2005 zu annullieren, wobei Gendžev als der einzig gesetzliche Vertreter der bulgari-schen Muslime blieb. Für das Team vom Mustafa Hadži gab es keine andere Möglichkeit,als weitere außerordentliche Konferenzen einzuberufen. Solche fanden am 19. April 2008und 31. Oktober 2009 statt, sie wurden jedoch nicht anerkannt.

195 Nedim Gendžev, Izbraha ni kozar, in: Obštestvo vom 21. März 2005.196 Vgl. die Homepage des Muftiamtes <http://www.grandmufti.bg/bg/aboutus/structure/gm/gm.html>

(12.04.2012).197 John Esposito/ Ibrahim Kalin (Hg.), The 500 Most Influential Muslims 2009: The Muslim 500, The

Royal Islamic Strategic Studies Centre, first edition 2009, 148. Siehe noch Informacionen Bjuletin za2009, Glavno mjuftijstvo na mjusmusmanite v Republika Bălgarija, Sofia 2010, 24.

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„Jedes Jahr sind wir gezwungen, eine neue Konferenz einzuberufen, um zu zeigen,dass die Mehrheit der Muslime Gendžev nicht akzeptiert“ – sagte Mustafa Hadži vorder Presse. „Die Konferenz von 2009 hebt die von 2008 auf“ – meinte er.198

„Diese Situation ist ein Szenarium, das seit 15 Jahren wiederholt stattfindet:Gendžev legt Beschwerde ein und anschließend findet eine außerordentliche Konfe-renz statt. Die abgelehnte Registrierung der Konferenzen vom 19. April 2008 und31. Oktober 2009 ist zutiefst fehlerhaft und beleidigt die gesamte muslimische Ge-meinschaft im Land“, erklärten Vertreter des Muftiamtes während einer Pressekon-ferenz im November 2009.199

Nach einer Reihe weiterer gerichtlichen Verfahren wies das Oberste Kassationsgericht am12. Mai 2010 eine Beschwerde vom Mustafa Hadži zurück, trug den OMGR mit dem Vor-sitzenden Nedim Gendžev als die legitime Vertretung der muslimischen Gemeinschaft indas Register ein und beschloss, dass keine weitere Anfechtung in dieser Angelegenheitzulässig ist.200 Somit schien es, dass es nach fast 20 Jahren Gendžev zumindest juristischgelungen war, als Obermufti der bulgarischen Muslime zu gelten.

„Wer steckt hinter Gendžev?“ – fragten Vertreter der Verwaltung der Muslime –„Allein im Zeitraum zwischen 2005 und 2009 sind 20 Fälle vor Gericht gebrachtworden.“ – sagte Mustafa Hadži bei einer Pressekonferenz anlässlich der abgelehn-ten Registrierung der Konferenz am 31. Oktober 2009.201

Die Mehrheit der bulgarischen Muslime hatte vom „Gerichts-Krieg“ inzwischen mehr alsgenug. Die Logik der unendlichen und undurchschaubaren Gerichtsverfahren war für sienur schwer durchschaubar. Das was sie wussten, war, dass ihnen wie mit einem „Zauber-stock“ immer wieder eine Person als Führer aufgedrängt wurde, die nicht mehr über dienotwendige Autorität verfügte. Während in den ersten Jahren nach der politischen Wendeder Konflikt um die Verwaltung der Gemeinschaft auch von Teilen der Muslime mitgetra-gen wurde, war dies später dann nicht mehr der Fall. Seit der Absetzung von NedimGendževs im Jahr 1992 sowie der Rückkehr zwischen 1995 und 1997 waren inzwischen 18beziehungsweise 13 Jahre vergangen. Seine Anhängerschaft war deutlich geschrumpft undumfasste nur noch eine kleine Gruppe von Geistlichen und Muslimen, deren durchschnittli-cher Alter über 60 Jahre lag. Von den 30 Mitgliedern seines Oberen Muslimischen Geistli-chen Rates waren 9 Personen verstorben und 7 weitere gehörten nicht mehr zu seiner Frak-tion.202 Seine Beschuldigungen, in Bulgarien sei ein radikaler Islam im Vormarsch, trafennicht nur Mitglieder der Verwaltung, sondern auch „einfache Muslime“, deren religiösenSchulen als Brutstätte eines „nichttraditionellen, importierten“ Islam diffamiert wurden. Als

198 Sagata s legitimnostta na glavnija mjuftija šte prodalži neopredeleno vreme, in: Dnevnik, 17.November 2009.

199 Ebda.200 Zum Beschluss des Obersten Gerichtshofes siehe Opredelenie Nr. 349 ot 12.05.2010 po delo Nr.

1122/2009, VKS (Deloto Nedim Gendžev), in: Pravosădie i veroizpovedanija, unter<https://sites.google.com/site/pravosver/home/vks/opr-vks-349-2010/opr-vks-349-2010---plno>(21.04.2011).

201 Koi stoi zad Gendžev, pitat ot mjuftijstvoto, in: News.bg, 17. November 2009.202 Koi stoi zad Gendžev.

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mehrere Vorfälle des Missbrauchs von vakuf-Besitz bekannt wurden, verlor Gendžev weiteran Glaubwürdigkeit. So hatte er Anfang 2006 800.000 Leva (ca. 400.000 Euro) von denKonten des Muftiamtes auf seine Stiftung für islamische Entwicklung übertragen. Am 15.Februar 2006 wurde er deshalb festgenommen. Ein Ermittlungsverfahren und ein Strafver-fahren wegen Urkundenfälschung und Veruntreuung (№ 2402/2008, Sofia Amtsgericht)wurden eingeleitet.203 Darüber hinaus wurde bekannt, dass etwa 20 Immobilien und Groß-grundbesitze der muslimischen Gemeinschaft durch Gendžev verkauft oder an seine Ver-wandten „verschenkt“ wurden.204 Dazu gehörten unter anderen drei Wohnungen in Sofia,vier Immobilien in Varna, ein Ferienhaus in Kjustendil, weitere Immobilien in Ruse undPazardžik. Ende 2009 versuchte er schließlich ein Grundstück im Wert von über zehn Mil-lionen Leva im Wohnviertel Malinova dolina in Sofia – gekauft durch die Organisation fürIslamische Zusammenarbeit – zu verkaufen. Das Grundstück war dazu bestimmt, ein Bil-dungs- und Kulturzentrum der bulgarischen Muslime zu errichten.205

Die bulgarischen Muslime vergaßen auch nicht, dass Gendžev aus der Zeit des kommu-nistischen Diktators Todor Živkov stammte und in der damaligen Staatssicherheit tätig war.Mit der Freigabe der Akten aus der kommunistischen Zeit wurden Details, die seine Mitar-beit betrafen, bekannt. Mustafa Hadži versäumte es nicht, die neuen Erkenntnisse der brei-ten Öffentlichkeit bekannt zu machen.206 Aus einem Protokoll, das im Archiv des Zentral-komitees der Kommunistischen Partei unter „streng vertraulich“ aufbewahrt wurde, wurdeersichtlich, warum und mit welcher Begründung der Vorgänger Gendževs, der damaligeObermufti Mehmed Topčiev, 1988 durch ihn ersetzt wurde. So bezeichnete der Abteilungs-leiter des Zentralkomitees der BKP, Tanev, den damaligen Obermufti, Topčiev, als für denPosten ungeeignet, da er „ohne sich gegen die Änderung der Namen und den Wiederge-burtsprozess unter den bulgarischen Türken auszusprechen, doch zögerlich sei und einenMangel an voller Überzeugung zeige.“ Gendžev sei dagegen für das Amt besser geeignet,da er „vorbehaltlos und mit einem klaren Klassen-, Partei- und Nationalbewusstsein denWiedergeburtsprozess der Kommunistischen Partei unterstützt.“207

Dass die Entscheidung des Obersten Kassationsgerichts, Gendžev wieder als Obermuftieinzusetzen, gerade in diese Zeit fiel, war kein Zufall. Inzwischen hatte sich die politischeLandschaft in Bulgarien deutlich verändert und die Opposition zwischen Kommunisten (derBulgarischen sozialistischen Partei) und Anti-Kommunisten (der Union der demokrati-schen Kräfte), die die 1990er Jahre geprägt hatte, wurde durch das Aufkommen neuer poli-tischer Kräfte abgelöst. Neben der Nationalen Bewegung Simeon II des ehemaligen bulgari-schen Zaren Simeon Sakskoburggotski sowie der Partei Bürger für eine europäischeEntwicklung Bulgariens (Graždani za evropsko razvitie na Bălgarija, GERB) konnte sich

203 Siehe u.a.: Nedim Gendžev kălne Filčev, in: Standart, 01. März 2006, 6; Gendžev prokle Filčev, in:Sega, 01. März 2006, 4; Osvobodiha Nedim Gendžev ot zatvora za 10 000 leva garancija, in: 24 časa,01. März 2006, 4; Nie gi hvažtame, te gi puskat, in: Agencija Fokus vom 01. März 2006.

204 Vav Varna izljazoha na jave vrednite posledici za mjusjulmanite ot golemite prestaplenija naGendžev i podstavenoto mu lice Kalkanov, 11. Mai 2010, in: <http://www.grandmufti.bg/2010-05-11> (14.05.2012).

205 Eine Ablichtung des Verkaufsvertrags findet sich in: 100 godini Glavno Mjuftijstvo, 22.206 Mustafa Hadži, Uvažaemi imam efendi, členove na mjusjulmanskoto nastojatelstvo i džemaat, 11.

Juni, 2010, in: <http://www.grandmufti.bg> (14.05.2012).207 Zentrales Staatsarchiv, strogo sekretno, f.1 b, op. 63, a.e. 95, l.1-6.

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seit 2006 die extrem nationalistische und durch ihre Minderheiten- wie ausländerfeindlicheRhetorik ausgewiesene Partei Ataka des früheren Journalisten Volen Siderov etablieren.Eine weitere Partei, die ebenfalls ein nationalistisches (wenn auch etwas moderates) Profilzeigte, war die Partei Ordnung, Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit (Red, zakonnost i spraved-livost, RZS).208 Bei den Parlamentswahlen am 5. Juli 2009 machten die Bulgaren die bishernicht in der Volksversammlung vertretene Partei GERB des Sofioter Bürgermeisters BojkoBorisov zum klaren Sieger. Obwohl die Wahlergebnisse von Juli 2009 keinerlei Notwen-digkeit zur Kooperation mit rechtsradikalen Parteien ergaben, entschied die GERB eineMinderheitenregierung zu bilden, die auf die parlamentarische Unterstützung der Ataka undder RZS (neben der Blauen Koalition) angewiesen war. Die nationalistische Partei Atakaübernahm den Vorsitz des parlamentarischen Ausschusses für die Kontrolle der Staatssi-cherheitsbehörde. Die populistische Ausrichtung der GERB zeigte sich in nationalistischenArgumentationen. So rechtfertigte Borisov beispielweise den sogenannten „Wiedergebots-prozess“ der 1980er Jahre, durch den die bulgarischen Türken zum Annehmen bulgarischerNamen gezwungen wurden.209 Für Aufsehen und Unverständnis sorgte vor allem die No-minierung des Direktors des nationalen historischen Museums, Božidar Dimitrov, zumMinister ohne Geschäftsbereich mit der Zuständigkeit für im Ausland lebende Bulgarensowie für die Direktion für religiöse Angelegenheiten beim Ministerrat. Dimitrov machteimmer wieder mit nationalistischen Positionen in wissenschaftlichen Veröffentlichungenund Medienberichten von sich reden. In den folgenden Monaten wurde immer deutlicher,dass ein politischer Deal zwischen der rechtsradikalen Ataka und der GERB vereinbartworden war, wobei die Ataka von ihrem größeren Partner einen „gewissen Preis“ für ihreparlamentarische Unterstützung verlangte. Als Beispiel kann auf den Versuch das Religi-onsgesetz Ende 2009 zu ändern, hingewiesen werden.210 Aber auch der Vorschlag, einReferendum über die Nachrichten in türkischer Sprache im nationalen Fernsehen abzuhal-ten, muss hier genannt werden.211

Die Entscheidung des Obersten Kassationsgerichts vom 12. Mai 2010 löste in den da-rauf folgenden Monaten heftige Proteste unter Geistlichen und großen Teilen der muslimi-schen Gemeinden aus. Durch Demonstrationen und Kundgebungen, die in der HauptstadtSofia sowie in den meisten muslimisch besiedelten Ortschaften stattfanden, bekundeten sieihre Solidarität mit dem abgesetzten Mustafa Hadži und protestierten gegen die Gerichts-

208 Siehe dazu Michael Hein, Die Europa- und Parlamentswahlen 2009 in Bulgarien, in:Südostmitteilungen, 49. Jahrgang, 05 (2009), 44-62.

209 Die Ziele dieses Prozesses seien richtig, nur die angewandten Methoden seien falsch gewesen – sodie Aussage Borisovs. Nach heftigen Protesten nahm er seine Aussage zurück. Siehe Mediapoll.bg,31. Oktober 2008.

210 Im September 2009 äußerte Božidar Dimitrov vor dem bulgarischen Parlament seine Besorgnisdarüber, wie leicht es für Glaubensgemeinschaften in Bulgarien sei, als solche registriert zu werden.Er schlug vor, dass religiöse Gemeinschaften, deren Mitgliederzahl unter 5.000 liegt, zu einem Re-gistrierungsverfahren nicht zugelassen werden. Kurz danach hatte Cveta Georgieva, Abgeordnete derAtaka, bekannt gegeben, dass eine entsprechende Gesetzänderung in Vorbereitung sei. Durch die hef-tigen Proteste von insgesamt 35 religiösen Organisationen, denen sich die Katholische Kirche und dieProtestantische Allianz anschlossen, konnte das Gesetz verhindert werden. Siehe dazu den Jahresbe-richt des Bulgarischen Helsinki-Komitees für 2009: Prava na čoveka v Balragija prez 2009, Godišendoklad na BHK, in: Obektiv, März 2010.

211 Siehe dazu „Neo-bruderschaftliche türkische Netzwerke in Bulgarien“.

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entscheidung. Es sei “nicht gerecht”, dass der gewählte Obermufti Hadži entmachtet wurde,erklärten während einer Sitzung am 18. Mai 2010 die in Bulgarien tätigen Muftis. Mit demGerichtsurteil hätte sich der Staat unberechtigt in die Angelegenheiten der Glaubensge-meinschaft eingemischt und einen anderen, stark umstrittenen Kandidaten zum Obermuftiernannt. Sie machten darauf aufmerksam, dass Gendžev bei allen bislang durchgeführtenmuslimischen Konferenzen eingeladen wurde, aber es nie gewagt hätte, offen seine An-sprüche zu verteidigen. Sie forderten den Staat auf, die „Stimmen der fast 1 Million Musli-me nicht zu ignorieren” und die Konferenz von Gendžev, deren Mandat längst überschrittensei, nicht anzuerkennen.212

Auch „einfache“ Muslime verurteilten das Gerichtsurteil aufs Schärfste. Bereits im Mai2010 unterstützten 80 Ortschaften die Ansprüche von Mustafa Hadži. In den darauf folgen-den Monaten gab es kaum einen muslimisch besiedelten Ort, an dem es nicht zu Protestenkam. Anfang Juni nahmen ca. 1.000 Imame und Muslime verschiedenen ethnischen Hinter-grunds an einer Demonstration in Sofia teil.213 „Verspotten sie die Muslime nicht“, „Neindem Satan Gendžev“, „Ein neuer Wiedergeburtsprozess ist im Gange“, „Wir wollen, dassder 10. November auch für uns kommt“, „Herr Ministerpräsident, erlauben Sie, dass wirIhnen widersprechen, es gibt Druck auf die Muslime.“ – dies waren nur einige der Plakate,mit denen die Demonstranten vor der Präsidentschaft, dem Ministerrat und der Nationalver-sammlung protestierten.214

In einer an die bulgarischen Medien adressierten Mitteilung der Presseagentur des Muf-tiamtes vom 17. Juni 2010 erinnerten Vertreter der Verwaltungsbehörde daran, dass dereuropäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zwei Mal den bulgarischen Staat(2000 und 2004) wegen Einmischung in die religiöse Angelegenheiten der muslimischenGemeinschaft verurteilt hatte. Die Enttäuschung, dass diese Beschlüsse des Gerichtshofesin der bulgarischen Realität ignoriert würden, sei groß, schrieben sie. Statt die Entscheidun-gen des Gerichtshofs für Menschenrechte zu implementieren, fände weiterhin eine Einmi-schung in die religiösen Angelegenheiten statt. „Auf uns wird Druck ausgeübt, die Home-page des Muftiamtes wurde am 14. Juni 2010 gesperrt und einige unserer lokalenGemeinderäte wurden aufgelöst. Dieses Vorgehen wird von Drohungen seitens der Staats-sicherheit begleitet.“.215 Nachdem Gendžev am 2. Juni 2010 versuchte, mit Gewalt in dasGebäude des Muftiamtes einzudringen (wobei Imame und Muslime dies durch eine „Men-schenkette“ verhinderten), wurde das Oberste Muftiamt in Sofia für sechs Monate ge-schlossen. Eine funktionstüchtige Tätigkeit der Verwaltungsbehörde der Muslime war unterdiesen Umständen kaum noch möglich.

„Wir sind enttäuscht, dass es nicht mehr möglich ist, unsere Aufgaben – Ausbildungjunger Menschen und Leitung der religiösen Angelegenheiten – zu erfüllen.“ – sagte der

212 Bulgarien: Streit um den Großmufti, in: Das islamische Portal vom 22. Mai 2010, unter<http://www.igmg.de/nachrichten/artikel/2010/05/22/bulgarien-streit-um-den-grossmufti.html>(07.06.2012).

213 Glavno mjuftijstvo ne iska da se mesjat v delata mu, 03. Juni 2010, in: <http://www.grandmufti.bg>(15.11.2012).

214 Ebenda.215 Izvanredno zasedanie na imamite i predsedatelite na mjusjulmanskite nastojatelstva ot regiona na

rajonno mjuftijstvo – Ajtos, 20 Mai 2010, unter <http://www.grandmufti.bg> (07.06.2012).

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stellvertretende Obermufti, Ahmed Vedat.216 „Diese Entscheidung führt uns in Jahre zu-rück, als das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei die Geistlichen damit beauftragte,Atheisten auszubilden.“ – fügte er hinzu. Am 29. Juli 2010 kamen weitere 4.000 Muslimein der Hauptstadt Sofia zusammen, um in einer Großdemonstration gegen die Einschrän-kung ihrer Rechte zu protestierten. Die Kundgebung brachte dabei eine Einheit zum Aus-druck, die im Gegensatz zur propagierten „Spaltung“ stand. Den Demonstranten schlossensich auch Abgeordnete der BRF an. Am Ende der Kundgebungen wurde eine Petition, dievon 213.000 Personen unterzeichnet wurde, an verschiedene bulgarische Institutionen,darunter dem Präsidenten, dem Ministerrat und der Nationalversammlung übergeben. Dertürkische Minister für Auslandstürken, Faruk Çelik, kritisierte die Situation ebenfalls undforderte eine „baldige Lösung auf Regierungsebene“.217 Die Türkei habe in keinster Weisedie Absicht, sich in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen, sie verbitte essich jedoch auf der anderen Seite, dass die Türken in Bulgarien Ungerechtigkeiten erfuhren,so Çelik weiter. Bulgarien sollte als ein Mitglied der Europäischen Union seinen Pflichtennachgehen und sich im rechtlichen Sinne wie ein EU-Land verhalten, forderte der abgesetz-te Obermufti, Mustafa Hadži.218

Die Entscheidung des Obersten Kassationsgerichts führte nicht nur zu Protesten, son-dern führte auch zu einer „Pattsituation“ in den Verwaltungsstrukturen der Muslime. Dainsgesamt sieben muslimische Konferenzen, die zwischen 1996 und 2009 stattfanden, fürnichtig erklärt wurden, waren die dadurch gewählten Leitungen nicht mehr berechtigt,legitime Entscheidungen zu treffen. Das Mandat von Nedim Gendžev (mit Registrierungvon 1996) war ebenfalls längst überschritten und aufgrund der erheblichen Reduzierung derBesetzung seines Geistlichen Rates gab es auch in diesem Fall nicht den erforderlichenKonsens, um als Verwaltungsorgan agieren zu können. Kurz um, es gab keinen, der einelegitime Konferenz, die für Normalität hätte sorgen können, einberufen konnte. Da derOberste Muslimische Rat das einzige Organ ist, das sich mit regionalen Budgets, mit demZentralhaushalt, der Ausbildung und Einstellung von Geistlichen, der Verwaltung desvakuf-Eigentums und der Berufung des Scharia-Gerichts befassen konnte, endete die unge-klärte Leitungsfrage in einem Chaos.

„Das Problem ist nicht einmal Gendžev, sondern dass die Verwaltung der Muslimevollständig blockiert ist“, sagte der stellvertretende Vorsitzende der parlamentarischenKommission für Menschenrechte und Religionsgemeinschaften, Tunčer Kardžaliev.219

Deshalb versuchte er zusammen mit weiteren Abgeordneten der BRF am 3. September2010 einen Gesetzesentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Konfessionen im bulgari-schen Parlament einzubringen.220 Das Hauptanliegen der beantragten Änderungen war, in

216 Nad 150.000 mjusjulmani sa zajavili podkrepa za segašnoto rakovodstvo na Glavno mjuftijstvonacelo s Mustafa Hadži, in: BTA, 10. Juni 2010.

217 Bulgarien: Wahl des neuen Großmufti sorgt weiterhin für Spannungen, in: IRIB World Service, 12.August 2010.

218 Blizo 4.000 mjusjulmani protestiraha sreštu ograničavane na pravata im, in: Mjusjulmani, Juni-Juli2010, 32-35.

219 Nacionalen protest na mjusjulmani i mjuftii v Sofia, in: Dnevnik, 29 Juli 2010.220 Parlamentat othvărli promenite v zakona za veroizpovedanijata, vneseni ot DPS, in: Fokus, 03.

November 2010. Siehe noch: GERB otkaza da se mesi vav veroizpovedanijata, in Standart, 03.November 2010.

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Ausnahmefällen und auf Antrag von mehr als der Hälfte der registrierten Einheiten einerKonfession das Sofioter Stadtgericht dazu zu berechtigen, das oberste Entscheidungsorgander jeweiligen Religionsgemeinschaft einzuberufen. Die BRF forderte die Nationalver-sammlung auf, die Gesetzesänderungen zu unterstützen. Der Abgeordnete der BRF,Kardžaliev, wies darauf hin, dass es eine erhebliche Lücke im Religionsgesetz gäbe, die inseltenen Fällen dazu führe, dass die „freie und ungehinderte Ausübung der Religion“ prak-tisch unmöglich wurde.221 Eine Gesetzesänderung wäre somit die einzige Möglichkeit, dasProblem innerhalb der muslimischen Gemeinschaft zu lösen, meinte er. Bei der Abstim-mung, die am 3. November 2010 im Parlament stattfand, wurden die vorgeschlagenen Än-derungen jedoch abgelehnt. Die Abgeordneten begründeten ihre Entscheidung damit, dasses nicht zulässig sei, dass sich eine externe staatliche Einrichtung, wie das Sofioter Amtsge-richt, in die Verwaltungsangelegenheit einer religiösen Gemeinschaft einmische.

Viele der bulgarischen Muslime waren infolge der Ereignisse der letzten Jahre verunsi-chert. Frustration und Enttäuschung führten dazu, dass auch Erinnerungen an vorangegan-gene Diskriminierungsmaßnahmen wach wurden. Unter Titeln wie „Bulgarien schweigt,die Muslime – nicht!“, „Siehe hier, wieder, wieder und wieder“, oder „Was nun?“222 wiesenAutoren muslimischen Hintergrundes auf die „130 Jahre Politik der Diskriminierung“ hin,beginnend mit der gewaltsamen Christianisierung der Pomaken 1912-1913, wiederholtdurch die Namensänderungen der Pomaken Anfang der 1940er, der bulgarischen Roma imJahr 1965, erneut der Pomaken zwischen 1968-1974 sowie durch die Assimilierungskam-pagne gegenüber den Bulgarien-Türken in den 1980er Jahren.223 „Für uns, die Muslime inBulgarien, stellt das Jahr 2010 einen Wendepunkt dar.“ – schrieb einer der Autoren, HajdarKerrar, auf den Seiten des unter Muslimen beliebten Islam Forums – „Wenn wir berück-sichtigen, was in den letzten Jahrzehnten passiert ist, gibt es viele Gründe dafür, anzuneh-men, dass heute wieder eine gezielte Assimilierungspolitik gegen uns im Gang ist. Das wasgeschieht, kann nicht nur als eine Laune des Majors Gendžev betrachtet werden“.224 DieWiedereinstellung des früheren Offiziers der Staatssicherheit, das Verhindern des Bauseines islamischen Bildungszentrums und einer zweiten Moschee in Sofia, das Verbot desTragens von Kopftüchern in den Schulen, die Vorwürfe gegen den Muezzin, der die Gläu-bigen ruft, die Anschläge auf Moscheen, die Beschuldigungen von Fundamentalismus undTerrorismus sowie die grundlose Inhaftierung religiöser Führer – die Liste sei lang. „Wiesollen wir dann nicht zu der Einsicht gelangen, dass Unterdrückung und Einschnitte inunsere Rechte stattfindet? Das eigentliche Ziel der Regierungen ist es, die Entwicklung desIslam in Bulgarien zu verhindern.“225

Zu fragen wäre an dieser Stelle, ob den verantwortlichen Politikern bewusst war, wieexplosiv die Situation war. Denn die bulgarischen Muslime fühlten sich wieder bedroht,wie dies bereits in den 1970er und 1980er Jahren – der Zeit der tiefsten kommunistischen

221 Zur Diskussion über den Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Konfessionen siehe:Diskusija po zakonoproekta za izmenenie i dopalnenie na zakona za veroizpovedanijata, predloženi otDPS, Stenograma, Narodno sabranie, in: Dviženie za prava i svobodi, 03. November 2010.

222 Siehe beispielhaft dazu die Artikel am muslimischen Forum: <http://islam.forumup.com/forum-10-islam.html> (07.06.2012).

223 Hajdar Kerrar, Bălgarija mălči, mjusjulmanite, ne, in: Islam Forum vom 24. Juni 2010.224 Ebda.225 Siehe mehr dazu Islam Forum <http://islam.forumup.com/forum-10-islam.html> (07.06.2012).

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Diktatur – der Fall war. Menschenrechtsorganisationen warnten ebenfalls, wie gefährlichund folgenreich die Ereignisse für die bulgarische Gesellschaft sein könnten:

„Im Fall des Obermuftiamtes sollte so schnell wie möglich eine Lösung gefundenwerden, da die Geduld der Muslime aufgebraucht ist.“ – sagte die Vorsitzende desInternationalen Zentrums für Minderheiten und Interkulturelle Beziehungen,Antonina Željazkova. – „Und das kann für die ganze Gesellschaft gefährlich werden.Deshalb müssen wir, die Vertreter der Zivilgesellschaft, Solidarität mit den Mitbür-gern muslimischen Hintergrunds zeigen.“226

Während des Jubiläums „100 Jahre Muftiamt“ wandte sich Željazkova an die muslimischenGemeinden in Bulgarien und „empfahl“ ihnen, die Sache selbst in Hand zu nehmen und die„Händler aus dem heiligen Tempel zu vertreiben“.227

Parallel dazu wurde im Oktober 2010 eine spektakuläre Aktion der Staatssicherheitdurchgeführt, in deren Verlauf bulgarische Imame und Islam-Lehrer verhaftet sowie ihreWohnungen und Büros durchsucht wurden. Zum ersten Mal in der Geschichte der muslimi-schen Glaubensgemeinschaft in Bulgarien wurden Mitglieder des Muftiamtes, darunterzwei Regionalmuftis und 11 Imame und Lehrer verhaftet und beschuldigt, „antidemokrati-sche Propaganda“ zu betreiben sowie sich einer „radikalen Organisation“ angeschlossen zuhaben.228 Es kann angenommen werden, dass die Aktivitäten der Staatssicherheit (DANS)außerhalb der Kontrolle des Parlaments stattfanden. Willkürlich und inkompetent wurdenÄngste eines islamischen Fundamentalismus sowie der Verbreitung radikal-islamischerOrganisationen in Bulgarien geschürt. Dieser Vorfall fand seine Fortsetzung am 20. Sep-tember 2012, als die Staatsanwaltschaft in Pazardžik eine Anklage gegen die verhaftetenImame und Muftis erhob.229

Der Druck im Inland wie auch des Auslands auf die politisch Verantwortlichen wurdeimmer größer. Mit den Unterschriften von über 213.000 Muslimen und den Entscheidungenvon mehr als 1.000 lokalen muslimischen Gemeinderäten, wurde am 12. Februar 2011schließlich eine außerordentliche islamische Konferenz einberufen. An der Konferenznahmen Gäste aus dem In- und Ausland, Botschafter, Vertreter diplomatischer Missionenund europäischer Institutionen sowie die Großmuftis der benachbarten Balkanländer teil.Unter den Gästen befanden sich unter anderem der Vizepräsident des Präsidiums für Reli-giöse Angelegenheiten der Türkei, ein Sondergesandter des Generalsekretärs der Organisa-

226 Antonina Željazkova, Mjusjulmanite se čuvstvat otnovo zaplašeni, in: BGNES informacoinnaagencija, 16. Januar 2011, <http://news.bgnes.com/view/892981> (07.06.2012).

227 Željazkova, Daržavata, mjusjulmanskata institucija.228 Am Tag der Razzia der DANS wandte sich Gendžev an die Öffentlichkeit und „gratulierte“ seine

„Kollegen für die gelungene Operation“. Siehe dazu: Nedim Gendžev, Pozdravjavam kolegite otDANS, in: 24 časa vom 7. Oktober 2010, 5. Mehr zu der Aktion der Staatssicherheit und deren Fol-gen: Julijana Metodieva, Koj plašta akciite na DANS?, in: Obektiv, Helzinski komitet, 30. November2012; 13 mjusjulmani ot Rodopite naesen na săd. Kak i zašto započna deloto, in: Obektiv, Helzinskikomitet, 26. Juli 2012.

229 Siehe Kapitel VII.6. sowie Marija Ilcheva, Radikaler Islamismus auch in Bulgarien?, in: DW, 26.September 2012; Julijana Metodieva, BHK za deloto sreštu imamite: Njama otkade da dojdat poslani-jata kak da mislim drugostta, 01. Dezember 2012, in: Dnevnik, 01. Dezember 2012 sowie AntoninaŽeljazkova, Deloto sreštu imamite – vredjašto na nacionalnata sigurnost presledvane na mjusjul-manski duhovnici, in: Dnevnik, 20. März 2014.

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Der Kampf um das Muftiamt 79

tion für Islamische Zusammenarbeit (OIC) sowie der Direktor des Zentrums für das Studi-um der islamischen Geschichte, Kunst und Kultur in Istanbul. Grußworte an dieKonferenzteilnehmer sandten der bulgarische Präsident Georgi Parvanov, PremierministerBojko Borisov sowie der Generalsekretär der Organisation für Islamische Zusammenarbeit,Ekmeleddin Ihsanoglu. Mit 988 Stimmen von insgesamt 1.200 Delegierten (Imame undMitglieder muslimischer Vorstände) wurden Mustafa Hadži als Obermufti und ŠabanaliAhmed als Vorsitzender des OMRs gewählt. Am 20. April 2011 bestätigte das Berufungs-gericht in Sofia ihre Legitimität und trug die Entscheidungen der Konferenz in das Registerein.230 Mustafa Hadži und sein Team zogen anschließend am 27. April 2011 in das Gebäudedes Obermuftiamtes in Sofia ein.231 Ob diese Entscheidung nunmehr den jahrelangen„Kampf um das Muftiamt“ abschließt, bleibt abzuwarten.

SchlussbetrachtungDie Entscheidung der bulgarischen Regierung (SDS/BRF) im Jahr 1992, den „kommunisti-schen Mufti“ aus seinem Amt zu entfernen, war verhängnisvoll. Dieser erste Akt der Ein-mischung in die religiösen Angelegenheiten der bulgarischen Muslime verhinderte, dass einnatürlicher Prozess des Generationswechsels, getragen von der Gemeinschaft selbst, voll-zogen wurde. Statt Gendžev zu entfernen, war es ihm auch nach 20 Jahren noch möglich,das Amt des Obermuftis für sich zu beanspruchen. Dies geschah mit einem Mandat, daslängst überschritten war. Weitere Folgen der Entscheidung vom 1992 waren nicht nur un-endliche Gerichtsverfahren, sondern Unverständnis und Vertrauensverlust großer Teile derMuslime gegenüber staatlichen Institutionen. Die Tätigkeit des Muftiamtes war stark einge-schränkt. Die Anschuldigungen des Fundamentalismus und des „radikalen Islam“ bekräf-tigten die Einsicht vieler Türken, Pomaken und Roma muslimischen Hintergrunds, dass siein ihrem eigenen Land als Fremdkörper beziehungsweise als Bedrohung wahrgenommenwurden. Der „Mufti-Krieg“ entfernte sie nicht zuletzt von ihren eigenen religiösen Führern.

Es besteht dabei kein Zweifel, dass die undurchsichtigen Registrierungsverfahren sowiedie geltenden Religionsgesetze diesen Streit juristisch überhaupt erst ermöglichten. Dasneue Religionsgesetz, das Ende Dezember 2002 verabschiedet wurde, verfestigte nicht nurdie zentralisierten Strukturen der Konfessionen, es räumte der Exekutive auch weiterhin dieMöglichkeit ein, in den Prozess der Registrierung der Religionsgemeinschaften einzugrei-fen. Eine Ungleichbehandlung der verschiedenen Konfessionen durch den Staat war eben-falls implementiert, da allein die orthodoxe Kirche als Rechtssubjekt anerkannt wurde.Andere Religionen dagegen wurden verpflichtet, den Status einer Rechtspersönlichkeit aufdem Wege einer gerichtlichen Entscheidung zu erwirken.

Die Entscheidungen der Direktion für religiöse Angelegenheiten sowie der zuständigenGerichte waren im Verlauf der Auseinandersetzungen voll von Wiedersprüchen. Einmalentschieden sie, dass die entsprechende muslimische Konferenz rechtmäßig in das Registereingetragen wurde, dann wieder beim identischen Sachverhalt, dass sie gesetzwidrig sei.Eine Frage, die sich stellte, war, warum von den verschiedenen Entscheidungen, die im

230 Nedim Gendžev ili Ališ Hadži – okončatelno rešenie na sofijski apelativen săd, rešenie Nr.632 vom20. April 2011, ersichtlich in: Pravo i religija v Bălgarija, unter <http://www.berov.org/>(10.06.2012).

231 Mustafa Ališ Hadži nai-posle vleze v glavnoto mjuftiistvo, in: Vesti, 20. April 2011.

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Islam, gesellschaftlicher Wandel und der Kampf ums Selbstbestimmungsrecht80

Verlauf eines Jahrzehntes durch die entsprechenden Gerichte getroffen wurden, am 12. Mai2010 letztendlich einzig das Statut Gendžev von 1996 als legitim erklärt wurde? Mit Aus-nahme der Konferenzen von 2008 und 2009 wurden zunächst alle muslimischen Konferen-zen anerkannt und in das Register eingetragen. Diese widersprüchlichen und zum Teil sichwidersprechenden Beschlüsse gaben aber auch Anlass zu vermuten, dass sich die Gerichtebei den Entscheidungen von der jeweils herrschenden politischen Konjunktur beeinflussenließen. Regierungswechsel bedeutete ja nicht selten auch einen „Obermuftiwechsel“.Zweimal wandten sich Repräsentanten der muslimischen Gemeinschaft deshalb an deneuropäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. In beiden Fällen wurde derbulgarische Staat (2000 und 2004) wegen „Einmischung in die religiösen Angelegenheitender Muslime“ verurteilt. In seinen Beschlüssen wies der europäische Gerichtshof daraufhin, dass das Versäumnis der zuständigen Behörden, in Ausübung ihrer Befugnisse der Ein-tragung von religiösen Vereinigungen neutral zu bleiben, an und für sich bereits einen Ein-griff in die Religionsfreiheit darstelle. In einer demokratischen Gesellschaft sei es keines-falls notwendig, Religionsgemeinschaften im Wege behördlicher Zwangsmaßnahmen aneine gemeinsame religiöse Führung zu binden. Die Aufgabe der Behörden in einer Kon-fliktsituation zwischen oder innerhalb von religiösen Gruppen bestehe nicht darin, die Ur-sache für die Spannung durch Aufheben des Pluralismus zu beseitigen, sondern Toleranzzwischen den rivalisierenden Gruppen zu gewährleisten. Kritik gab es ferner an den ein-schlägigen Gesetzen, die keine relevanten Kriterien für die Eintragung von religiösen Ver-einigungen einschließlich des Wechsels ihrer religiösen Führung vorsahen und damit denzuständigen Behörden ein zu großes Ermessen für Maßnahmen einräumten.232

Zugleich wurde deutlich, dass der bulgarische Staat die Macht der zentralisierten Struk-turen, die von dem ehemaligen kommunistischen Regime aufgebaut wurden, weiterhinnutzen will, um den religiösen Bereich unter Kontrolle zu halten. Obwohl der Umgang mitdem Islam von den Prioritäten und der Ausrichtung der einzelnen Regierungen abhing,blieb die Anwendung von Macht und Stärke in Bezug auf religiöse Gemeinschaften diesel-be. Die Zentralisierungs- uns Modernisierungsbestrebungen der Kommunisten vererbten sodie Überreste einer weitgehend auf Intervention ausgerichteten und gelegentlich feindlichenStaatspolitik beim Umgang mit dem Islam weiter.

Ein nicht zu unterschätzender Faktor für den anhaltenden Konflikt war die Haltung derBewegung für Rechte und Freiheiten und dessen Vorsitzenden, Ahmed Dogan. Nachdemdie Institutionen der Muslime 1997 zunächst gefestigt wurden, kam es 2003 erneut zu einerDestabilisierung. Der Grund dafür war, dass sich die BRF anlässlich der muslimischenKonferenz im Dezember 2003 grob in die inneren Angelegenheiten der Glaubensgemein-schaft einmischte. Das Gericht entschied deshalb, die Konferenz als illegitim zu erklären.Eine ähnliche Situation gab es im Jahr 2005. Paradoxerweise hatten sowohl Gendžev alsauch sein Gegner Dogan auch Gemeinsamkeiten. Sie stilisierten sich als Gegner eines radi-kalen Islam, vor dem die bulgarischen Muslime zu schützen seien. Es war jedoch geradeder Kampf um die Kontrolle des Muftiamtes und die daraus resultierende Vernachlässigungder Bedürfnisse der muslimischen Gemeinden, die dazu führten, dass immer mehr bulgari-sche Muslime Kontakte außerhalb des Landes suchten. Die vielen Skandale und internenKonflikte innerhalb der wichtigsten Institution der Muslime gehörten zu den bedeutendsten

232 Delo Hasan & Čauš vs. Bulgarien.

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Faktoren für externe Einflussnahme und sie begünstigten das Verbreiten ausländischerislamischer Wohltätigkeitsorganisationen und Vereine.

Im Verlauf der Auseinandersetzungen wurde aber auch ein Prozess der internen Diver-sifizierung innerhalb der muslimischen Gemeinschaft erkennbar. Jüngere Muslime organi-sierten sich auf zivilgesellschaftlicher Ebene, sie gründeten ihre eigenen Organisationenund sorgten für neue Kontroversen in der Öffentlichkeit. Bei ihren Aktivitäten konnten siedas Muftiamt jedoch nicht ignorieren.

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III Das Muftiamt: Aktivitäten und Kernbereiche

1. Betreuung der religiösen Praxis

Trotz der Machtkämpfe und der Pluralisierungstendenzen innerhalb der muslimischenGlaubensgemeinschaft stellt das historisch etablierte Muftiamt auch in der Gegenwart diezentrale Verwaltungsbehörde der bulgarischen Muslime dar, die sich mit den religiösenAngelegenheiten der islamisch-sunnitischen Bevölkerung des Landes befasst. Das Amtkümmert sich um die Ausbildung und Beschäftigung der Imame, organisiert das religiöseLeben und agiert als die höchste islamische Autorität in Fragen der Lehre und Praxis. DieHaupttätigkeitsfelder dieser Behörde gliedern sich in mehrere, teilweise übergreifend arbei-tende Kernbereiche, zu denen islamische Bildung und Erziehung, Betreuung der religiöse-ren Praxis, Wallfahrtswesen, Medien und Produktion islamischer Literatur, vakuf- undRechtabteilungen sowie internationale Beziehungen und Kontakte zur Öffentlichkeit gehö-ren.

Neben dem Engagement im Bereich islamischer Bildung und Erziehung bildet die Be-treuung der religiösen Praxis einen wichtigen Aufgabebereich des Muftiamtes. So ist esinzwischen zur Tradition geworden, dass jedes Jahr eine Pilgerfahrt nach Mekka (hadž)angeboten wird.1 Die zukünftigen Hadžis werden unterstützt, indem organisatorische Ange-legenheiten für sie übernommen werden. Darüber hinaus wurde seit 2007 ein Team vonMuslimen, die der arabischen Sprache mächtig sind, zusammengestellt, deren Mitgliederdie Pilger bei verschiedensten Fragen betreuen. Auch wenn unregelmäßig eine begrenzteAnzahl von Spenden an das Muftiamt durch islamische Organisationen oder Regierungenzur Verfügung gestellt werden,2 tragen die Pilger die Kosten in der Regel selbst. Im Jahr2005 musste jeder Muslim ca. 1.000 Euro für die Pilgerfahrt aufbringen.3 2013 stieg derBetrag auf 2.900 Euro.4 Im Verlauf des letzten Jahrzehnts ist die Zahl der Pilger aus Bulga-rien kontinuierlich gestiegen. Waren es im Jahr 2004 nur 67 Muslime, die ihre Wallfahrtnach Mekka durch Vermittlung des Muftiamtes angetreten haben, so stieg ihre Zahl im Jahr2005 auf 200, im 2007 auf 416 und im Jahr 2008 auf 660 Personen.5 Seit einigen Jahrennehmen auch Muslime aus der Türkei und Rumänien an der vom Muftiamt organisiertenPilgerfahrt nach Mekka teil.6 Neben der Verwaltung der Muslime gibt es wenige weitereislamische Vereine, die eine solche Wallfahrt (hadž) anbieten.

1 Der Hadž (Haddsch) ist die islamische Pilgerfahrt nach Mekka und zählt zu den fünf Säulen des Islam.2 Siehe dazu die weiterführenden Informationen im Kapitel „Kontakte zu islamischen

Mehrheitsregionen“.3 Objava za hadž, in: Mjusjulmani, 6 (2005), 32.4 Hadž 2013, 23. August 2013, in: <http://www.grandmufti.bg/>.5 Informacionen Bjuletin za 2008, Glavmo Mjuftiistvo na mjusjulmanite v Republika Bălgarija, Sofia

2010, 23f.6 Informacionen Bjuletin za 2008, 24.

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Betreuung der religiösen Praxis 83

Feierlichkeiten anlässlich der Geburt des Propheten Mohamed, das Verteilen von Le-bensmitteln und Fleisch von geopferten Tieren während des Ramadan- und Opferfestes, dieOrganisation und Durchführung des iftar (Fastenbrechen während des Fastenmonats Rama-dan) und des sünnet (muslimische Beschneidungszeremonie) wie auch Spendenaktionen beiNaturkatastrophen oder für Menschen in Not gehören zu den weiteren Aufgabenbereichender Verwaltungsbehörde der bulgarischen Muslime.7 Zu den bedeutendsten Spendenaktio-nen, die ab 2006 initiiert wurden, gehört die sogenannte „Woche der islamischen Bildung“.8

So wurden in der letzten Woche des Fastenmonats Ramadan die Muslime aufgefordert, dieInstitutionen der islamischen Glaubensgemeinschaft durch die in dieser Zeit üblichen Ab-gaben der Almosensteuer (zakat) und der Spende sadaqa zu unterstützen.9 Mit den von denGläubigen gegebenen Spenden wurde der Fonds „islamische Bildung“ errichtet. Die Mittelaus diesem Fonds reichen inzwischen aus, um die Kosten für die Korankurse sowie dieGehälter der Lehrer für Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen zu decken.10 Paral-lel dazu konnten die ersten fünf weiblichen Vaizen aus diesen Mitteln eingestellt werden.11

Seit 2012 vergibt das Muftiamt halal-Zertifikate für Firmen, die Fleisch aus rituellerSchlachtung anbieten.12

2. Kommission für Fatwa

Um den Gläubigen bei der Klärung unterschiedlichster Fragen der religiösen Praxis behilf-lich zu sein, wurde ab Februar 2007 beim Obersten Muftiamt in Sofia eine Fatwa-Kommission eingerichtet, deren Hauptaufgabe darin besteht, Fragen zu beantworten undfatwas (arabisch fatwā, pl. fatāwā) zu erstellen. Eine fatwa ist ein islamisches Rechtsgut-achten, das durch ein oder mehrere Vertreter der Ulema (Muftis oder andere geistlicheWürdenträger) erstellt wird und zu entscheiden hat, ob eine Handlung mit den Grundsätzendes islamischen Rechts vereinbar ist. Im sunnitischen Mehrheitsislam ist eine fatwa grund-sätzlich normativ nicht verbindlich. Falls der Fragende mit der Antwort nicht zufrieden ist,kann er einen weiteren Gelehrten zu Rate ziehen. In der Regel befragt ein Gläubiger abervon vornherein einen Gelehrten, dessen juristische und ethische Kompetenz er akzeptiert.13

7 Zahlreiche Informationen dazu finden sich auf der Homepage des Muftiamts(http://www.grandmufti.bg/) sowie auf den Seiten des von der Verwaltungsbehörde herausgegeben In-formationsbulletins.

8 Informacionen Bjuletin za 2008, 18; Informacionen Bjuletin za 2009, 18-19; Isljamskoto obrazovanie senuždae ot podkrepata na vseki mjusjulmanin, Brošura na glavno Mjuftijstvo, Sofia 2009.

9 Der Islam kennt zwei Arten von Spenden, die eine ist das Almosen (sadaqa, freiwillige Gabe), dieandere eine Pflichtabgabe (zakat). Die zakat wird als eine Steuer auf Eigentum erhoben. Es handelt sichum festgelegte Anteile entsprechend des Vermögens jedes Gläubigen.

10 Informacionen Bjuletin za 2009, 18.11 Glavno mjuftiistvo s novo načinanie, 05.03.2010, unter: <http://www.grandmufti.bg> (09.04.2010).12 Von arab. „erlaubt“. Islamkonforme Lebensmittel, die islamischen Speisevorschriften, insbesondere

dem Gebot, dass Fleisch aus ritueller Schlachtung stammen muss, entsprechen.13 Mehr zu fatwa siehe: Wael B. Hallaq, An introduction to Islamic law, Cambridge [u.a.]: Cambridge

Univ. Press, 2009; Muhammad Khalid Masud/ Brinkley Messick/ David Powers S. (Hg.), Islamic LegalInterpretation: Muftis and Their fatwas. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1996 sowie PeterHeine, Der Islam, Düsseldorf: Patmos, 2007, 191f.

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Das Muftiamt: Aktivitäten und Kernbereiche84

Obwohl sich bulgarische Muslime bei solchen Angelegenheit auch an einen anderenWürdeträger wenden können, ist es letztendlich das Oberste Muftiamt, das in der Regel alshöchste religiöse Autorität im Land agiert und an das man sich bei Uneinigkeiten richtet.Ein Muslim oder Muslimin kann seine/ihre Frage mündlich, in der Form eines Briefes oderper Mail an das Muftiamt (http://www.grandmufti.bg/en/faqs.html) stellen. Die Frage wirdanschließend an eine siebenköpfige Kommission weitergeleitet, die in regelmäßigen Ab-ständen unter Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen und juristischen Methodenaufgrund der ijma, dem Konsens der Ulemas, Entscheidungen trifft. Die Meinung der Ex-perten gilt als Orientierungshilfe in unterschiedlichsten Situationen und wird auf derHomepage des Muftiamtes (Rubrik „Fragen und Antworten“) anderen Interessenten zurVerfügung gestellt. Wie der stellvertretende Obermufti, Vedat Ahmed, berichtete, werdenauch Sachverhalte aus der alltäglichen Praxis der Muslime bei verschiedenen Anlässen„gesammelt“ und nach einer Begutachtung ebenfalls als Beispiele auf der genanntenHomepage veröffentlicht.14 Die Bedeutung dieser juristischen Beratung für die beteiligtenMuslime rührt vor allem von deren Vorstellung her, dass alle ihre Taten dereinst von Gottals dem gerechten Richter einer Überprüfung unterzogen werden. Die Taten des Menschenwerden nach dieser Vorstellung in einer Art von „Konto-Büchern“ notiert und das wichtigs-te dabei ist, dass am Ende des Lebens „ein positiver Saldo“ festgestellt werden kann.

Betrachtet man die an die Kommission für fatwa gerichteten Fragen, so lässt sich einbreites Spektrum von Themen erkennen. Es geht um Bestattungssitten und Trauerrituale,um Speisen- und Verhaltensregeln, um Beziehungen zwischen Eltern und Kindern oderzwischen Eheleuten, aber auch um Themen des Zusammenlebens der Muslime untereinan-der und mit Angehörigen anderer Religionen. „Was passiert wenn ein Gläubiger das Frei-tagsgebet vernachlässigt?“ „Wie sind die religiösen Vorschriften bei Schülern, Studenten,Reisenden und Arbeitnehmern anzuwenden?“ „Ist es möglich, eine Spende von haram(unerlaubtem) Geld zu machen?“ „Wie wird die zakat-Abgabe berechnet?“ „Ist das Neh-men eines Kredits erlaubt?“ „Ist es erlaubt, den Verstorbenen in einem Sarg zu begraben?“– sind dabei oft gestellte Fragen. Einige der gestellten Fragen verraten zugleich, dass –zumindest bis zum Zeitpunkt der Anfrage – ein eher lockerer Umgang mit islamischenVorschriften gepflegt wurde. So wird zum Beispiel danach gefragt, ob es nach Alkohol-Konsum möglich sei, das rituelle Gebet zu errichten (und falls ja, nach wie vielen Stunden),ob das Trinken von Bier erlaubt sei oder ob ein Muslim seinen Kindern christliche Prakti-ken beibringen dürfe.

Trotz des Hinweises auf mögliche Differenzen, die sich durch die verschiedenenRechtsschulen bei den Auslegungen der schriftlichen Quellen ergeben könnten, wird beider Arbeit der Kommission grundsätzlich auf die hanafitische Rechtsschule (madhhab,bulg. mezheb) Bezug genommen und sie für die bulgarischen Muslime als verbindlich an-gesehen.15 Auf die Anfrage, ob es „zulässig wäre die mezhebs zu vermischen oder zu wech-

14 Interview mit dem stellvertretenden Obermufti, Vedat Ahmed, im September 2011.15 Der sunnitische Islam erkennt vier Rechtsschulen (arab. madhahib, Pl. maddhab, bulg. mezheb), die im

8. Jahrhundert in den Zentren der islamischen Gelehrsamkeit entstanden: die schafiitische, hanafitische,malikitische und die hanbalitische. Die Rechtsschulen erkennen sich gegenseitig an, unterscheiden sichaber in einigen Lehrfragen, der Auslegung von Rechtsbestimmungen wie auch in Teilbereichen der reli-giösen Pflichtenlehre. Die Mehrheit der bulgarischen Muslime befolgt die Rechtsschule der Hanafiyya,benannt nach dem Gelehrten Abu Hanifa (gest.767). Diese Rechtsschule ist vor allem in den Ländern,

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Betreuung der religiösen Praxis 85

seln“, gaben die Mitglieder der Kommission folgende Antworten: „Wir empfehlen, sich andie hanafitische Rechtsschule zu halten“ sowie „Grundsätzlich wird der mezheb nicht geän-dert.“

Das durch Jahrhunderte auf den bulgarischen Gebieten erprobte System des Zusammen-lebens verschiedener Religionen zeigt sich bei der Arbeit der Fatwa-Kommission ebenfalls.Es lässt sich dabei sowohl ein relativ hoher Grad an Toleranz als auch eine Ablehnunggegenüber einigen synkretistischen oder nicht-islamischen Glaubenselementen feststellen.So sind der Kauf und das Konsumieren von Fleisch, das von Christen oder Juden ge-schlachtet wurde, erlaubt (auch wenn es nicht aus ritueller Schlachtung stammt). Gegenüberanderen monotheistischen Religionen ist Toleranz und Achtung gefragt. Frauen dürfen denFriedhof besuchen. Bei Bedarf ist es erlaubt, Kredite mit Zinsen aufzunehmen. Auch dieAleviten, die sich nicht immer an die religiösen Vorschriften halten, stellen einen untrenn-baren Teil der Glaubensgemeinschaft dar und werden als Muslime anerkannt. Die letztge-nannte fatwa wurde mit folgender Begründung beendet: „Wir bezeichnen keinen als kafir[Ungläubigen], der das Glaubensbekenntnis (shahada) ausspricht und sich nach der Kaabarichtet, um den namas [das rituelle Gebet] durchzuführen.“16

Andere fatwas zeigen dagegen mehr „Strenge“. Dazu gehören zum Beispiel solche, diesich mit nichtmuslimischen Namen von Mitgliedern der Gemeinschaft befassen aber auchdas Mitfeiern von Weihnachten und anderen christlichen Feiertagen, das Verwenden vonMagie sowie einige Begräbnisrituale und Alkoholkonsum ablehnen. Auf die Frage, ob eserlaubt sei, den Verstorbenen mit einem Sarg zu begraben, gab die Kommission die folgen-de Antwort:

„Entsprechend den Vorschriften des Islam soll der Verstorbene nach der rituellenWaschung mit einem kefen [weiser Stoff] umwickelt werden. Anschließend soll dasToten-Gebet dženase durchgeführt und der Leichnam ohne Sarg, Kleidung, Kissenund jegliche weitere Objekte in das Grab gelegt werden. Das Verwenden eines Sar-ges ist nicht erlaubt. […] Das Begräbnis mit Sarg und Kleidung wurde in der Ver-gangenheit von den bulgarischen Muslimen nie praktiziert, es wurde ihnen durch dastotalitäre Regime während des sogenannten ‚Wiedergeburtsprozesses‘ zwangsweiseauferlegt.“17 Auch das Verwenden von Texten auf Arabisch, die in die kefen gelegtwerden, sei falsch.

Im Jahre 2006 gaben die Mitglieder der Kommission eine fatwa bekannt, nach der dasTragen des Kopftuchs für muslimische Frauen ein religiöses Gebot sei. Andere Entschei-dungen machen aber auch die Hilflosigkeit der Fatwa-Kommission deutlich. So wurdenzum Beispiel bulgarische Muslime, die sich nicht an das Alkoholverbot halten, aufgefor-dert, zumindest nicht alkoholisiert zum Gebet zu erscheinen.18

die ehemals unter osmanischer Herrschaft standen, in Zentralasien und in Südasien verbreitet. Nebenden vier Rechtsquellen Koran, hadith, Konsens und Analogieschluss kennen die Hanafiten noch die per-sönliche Ansicht und das „für angemessen halten“ einer Rechtsentscheidung zum Nutzen der Gesell-schaft als weitere Möglichkeiten der Rechtsfindung.

16 Vaprosi i otgovori, unter: <http://www.grandmufti.bg/en/faqs.html> (4. Dezember 2012).17 Vgl. die Rubrik „Fragen und Antworten“ auf der Homepage des Muftiamts

<http://www.grandmufti.bg/en/faqs.html> (4. Dezember 2012).18 Ebda.

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Das Muftiamt: Aktivitäten und Kernbereiche86

Eine der ersten fatwas, die von der Kommissionsmitgliedern erlassen wurde, befasstesich mit der Persönlichkeit des geistlichen Führers der Muslime. Dort hieß es: „Falls einePerson Handlungen wie:1. Verletzung der islamischen moralischen Werte – Verbreitung von Lügen und Verleum-

dungen, Verwendung von Alkohol, keine Teilnahme am Gebet,2. Verstoß gegen die Einheit der bulgarischen Muslime – indem die Führung unrechtmä-

ßig usurpiert wird sowie3. Veruntreuung und Missbrauch des vakuf-Eigentumsbegangen hat, darf sie weder als Imam noch als religiöser Führer tätig werden“.19

Angesichts der Machtkämpfe um das Muftiamt kann angenommen werden, dass das Themanicht zufällig gewählt war. Zugleich wurde festgelegt, dass vom religiösen Führer erwartetwird, ein moralisches Vorbild zu sein.

3. Mediale Präsentation und Publikationstätigkeit

Ein besonderer Stellenwert bei der Tätigkeit des Muftiamtes kommt dem im Jahr 2009gegründeten Kultur- und Medienzentrum, dessen Leiter der stellvertretende ObermuftiBirali Mjumjun Birali ist, zu.20 Das Zentrum erstellt und betreut die Webseite der islami-schen Glaubensgemeinschaft, bietet islamische Literatur sowie Videoaufnahmen von Pre-digten, religiösen Vorträgen und weiteren Veranstaltungen der bulgarischen Muslimeonline an. Das Medien-Zentrum dient auch als Schnittstelle zur islamischen Bildung undErziehung. So veranstaltet es zusammen mit dem Verein der Studenten des Obersten Isla-mischen Institutes wöchentliche Vorträge zu religiösen Themen. Zu den Lektoren gehörenrenommierte Theologen und Wissenschaftler Bulgariens. Gelegentlich gibt es Beiträge zuanderen Religionen wie Christentum oder Judentum. Die Besucherquote bei den Veranstal-tungen ist relativ hoch. Sie richten sich vorwiegend an Studenten des Obersten IslamischenInstitutes, stehen aber auch weiteren Interessierten sowie Vertretern der bulgarischen Öf-fentlichkeit offen. Daneben übersetzen, synchronisieren und adaptieren Studenten des Isla-mischen Institutes in Zusammenarbeit mit dem Medienzentrum Filme zur religiösen The-matik. Dazu gehörten unter anderem „Der Imam“, „Die dänische Schwiegertochter“ und„Die Hafuzen“. Diese Filme, die als Videoaufnahme auf CD sowie auf der Homepage desMuftiamtes eingesehen werden können und Fragen über die eigene Religiosität aufwerfen,genießen insbesondere unter jüngeren Muslimen große Popularität.21

Die tragende Kraft des Medienzentrums ist der stellvertretende Obermufti, Birali Birali.Geboren 1969 in Slavjanovo (Pleven-Region) hat Birali (ein bulgarischer Türke) drei Stu-dienabschlusse erlangt. Er studierte an der medizinischen Hochschule in Varna, FachgebietZahntechnik. Anschließend absolvierte er 2000 ein Studium der islamischen Theologie inJordanien und 2008 beendete er sein Magister-Studium in Psychologie an der UniversitätTărnovo. 2001 wurde Birali Birali zum Regionalmufti von Pleven gewählt. Seit 2008 ist er

19 Fetva Nr.1 na komisijata po fetva, Archiv des Muftiamtes.20 Izvănrednata mjusjulmanska konferencija, in: Mjusjulmani, Oktober 2009, 32-34.21 Wiederholte Interviews mit Studenten des Islamischen Institutes im September 2011.

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Mediale Präsentation und Publikationstätigkeit 87

stellvertretender Obermufti. Birali ist auch Maler und hatte bislang drei Ausstellungen,zwei in Bulgarien und eine in Jordanien. Er war der erste Vertreter des Muftiamtes, dermediale Präsentation mit technischen Mitteln wie Beamern einführte. Gegenwärtig gibt eskaum eine Veranstaltung des Muftiamtes, die technisch und teilweise organisatorisch nichtvon ihm betreut wird. Birali Birali wird von vielen jungen Muslimen in Bulgarien als eineSymbolfigur der neuen Generation angesehen.

Abb. 1: Leiter des Medienzentrums und stellvertretender ObermuftiBirali Birali.

Das Muftiamt ist zudem für die Produktion islamischer Literatur zuständig. Bei den heraus-gegebenen Büchern handelt es sich entweder um die Übersetzung von türkischen, arabi-schen und englischen Werken oder um Veröffentlichungen bulgarischer Autoren. Die Her-ausgabe islamischer Literatur auf bulgarischer Sprache ist eine relativ neue Erscheinung.Nach eigener Darstellung verfolgt das Amt durch seine Publikationstätigkeit das Ziel „diebulgarischen Bürger mit den Grundprinzipen der islamischen Religion im Geiste des mo-dernen Denkens vertraut zu machen sowie kurze und verständliche Informationen überislamische Lehre, Praxis und Verhaltensregeln sowie zu aktuellen Problemen der Muslimezu geben.“22 Da während der sozialistischen Zeit die Verbreitung islamischer Literaturuntersagt war, stellten die in den 1990er Jahren veröffentlichen Bücher und Broschüren dieersten zugänglichen schriftlichen Quellen, die Informationen zu verschiedenen religiösen

22 Inforamationen bjuletin za 2010, Glavno mjuftijstvo na mjusjulmanite v Republika Bălgarija, Sofia2011, 14.

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Themen anboten, dar. In den vom Muftiamt herausgegeben Publikationen wird in der Regeleine sunnitische Orthodoxie präsentiert, die der hanafitischen Rechtsschule folgt und prin-zipiell für harmonische Beziehungen mit der nichtislamischen Umwelt eintritt. Autoren wieSayyid Qutb, Hassan al-Banna oder Abu Ala al-Maududi, die zu den Vorgängern des mo-dernen Islamismus gehören, sind nicht vertreten.23 Die größte Nachfrage gab (und gibt) esfür die bulgarische Übersetzung des Korans. Eine partielle Herausgabe von Teilen desKorans in bulgarischer Sprache fand im Jahr 1997 unter der Redaktion von Nedim Gendževstatt.24 Im selben Jahr erfolgte die erste akademische Übersetzung durch den Arabisten,Professor und stellvertretenden Dekan der Fakultät für klassische und neue Philologie derSofioter Universität Kliment Ohridski, Cvetan Teofanov.25 Die Übersetzung dauerte circazehn Jahre und anschließend wurde sie noch weitere vier Jahre in Zusammenarbeit mitVertretern des Muftiamtes überarbeitet. Während der Arbeit konvertierte Teofanov zumIslam.26 Dies ist die einzige Übersetzung des Korans in Bulgarien, die vom Muftiamt aner-kannt wird. Finanziert wurde die Übersetzung durch die saudi-arabische Stiftung Taiba.2009 veröffentlichte der Verlag Trud bereits die vierte Ausgabe mit einer Auflage von5.000 Exemplaren.27

Daneben werden klassische Werke wie hadith-Sammlungen,28 Bücher über das Lebendes Propheten Muhammed, vereinzelt einige tafsir-Bücher sowie Nachschlagwerke mitpraktischem Lebensbezug (Ehe und Familie) sowie Informationen zu hadž, Fasten, namazetc. veröffentlicht. Unter den Autoren finden sich Klassiker der islamischen Theologie,wobei besonders der persische Theologe, Philosoph und Mystiker Abu Hamid MuhammadAl-Ghazali (1058-1111) Popularität genießt. Auch Arbeiten des Gründers der Nurculuk-Bewegung, Said Nursi, sowie sufistische Autoren wie Osman Nuri Topbaş, ein türkischerSufi-Meister des Naqschbandi-Ordens, sind vertreten. Aspekte des islamischen Modernis-mus werden vom bulgarischen Autor Ibrahim Jalamov (einem bulgarischen Türke undRektor des Islamischen Hochschulinstituts in Sofia) behandelt.29

Seit 2005 gibt das Muftiamt die monatliche Zeitschrift Mjusjulmani/Müslümanlar her-aus. Diese Zeitschrift, die die meist gelesene unter bulgarischen Muslimen ist, erscheint inbulgarischer und türkischer Sprache und stellt die Fortsetzung der seit 1989 erschienengleichnamigen Zeitung dar. Sie beinhaltet ein Kinderheft Hiljal/Mesečina sowie Predigtenfür bulgarische Imame (khutbe). Seit 2009 wird durch das Oberste Islamische Institut wis-senschaftliche Jahresschrift Godišnik, in der Artikel von Dozenten, Studenten, Theologenund Historikern erscheinen, herausgegeben. Inhaltlich finden sich dort Rezensionen und

23 Ausschnitte aus Werken von Sayyid Qutb finden sich auf einer Internetseite, die durch Studenten desObersten Islamischen Institutes in Sofia gepflegt wird. Siehe dazu: <http://poslanie.islamicinstitute-bg.org/> (5. Dezember 2012).

24 Svešten Koran i negovijat prevod na bălgarski ezik, Nedim Gendžev (Hg.), Mjusjulmanski duhovensăjuz, Sofia 1997.

25 Prevod na Sveštenija Koran, prevod Cvetan Teofanov, Blagotvoritelna fondacija Taiba/ Glavnomjuftiistvo, Sofia 1997.

26 Koranat zavladjava sarcata, in: Mjusjulmani, April 2009, 24-27.27 Inforamationen bjuletin za 2009, 23.28 So unter anderem: An-Nawawi, Gradinite na pravednicite [Gärten der Tugendhaften, arabisch Riyad as-

Salihin], Bd.1, Glavno mjuftiistvo na mjusjulmaniite v Republika Bălgarija, Sofia 2008.29 Siehe mehr dazu die Informationsbulletins sowie die Rubrik „Bibliothek“ auf der Homepage des

Muftiamtes.

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Mediale Präsentation und Publikationstätigkeit 89

Infomationen in bulgarischer und türkischer Sprache sowie Resümees der Artikel in engli-scher Sprache.30 Die vom Muftiamt produzierte Literatur wird meist durch interne Ver-triebssysteme (Moscheen, Bezirksmuftiämter) verbreitet und die meisten Werke sind nichtin Buchhandlungen zu finden. Während in den 1990er Jahren vorwiegend Übersetzungenaus dem Türkischen oder Arabischen herausgegeben wurden, nimmt die Zahl der von bul-garischen Autoren herausgegebenen Bücher zu. Die Mehrheit der Bücher erscheinen inbulgarischer Sprache, nur vereinzelt auch auf Türkisch.

Das Muftiamt ist nicht der einzige Anbieter islamischer Literatur. Gerade im Bereichder Produktion islamischer Literatur wird die Pluralisierung der religiösen Szene deutlicherkennbar. Verschiedene ausländische Organisationen wie auch einheimische Vereine ha-ben Bücher und Broschüren zu der islamischen Thematik veröffentlicht. Von den Zeit-schriften, die von einheimischen Organisationen herausgegeben wurden, sind vor allemSelam, IKRA und Mjusjulmansko obštestvo zu nennen. Selam wird vom Verein der Studen-ten des Obersten Islamischen Instituts, die IKRA durch die gleichnamige, in Madan ansäs-sige Organisation und die Mjusjulmansko obštestvo durch die OIRK (bis 2008) herausgege-ben. Ab 1992 begann die Verbreitung des Wochenblattes Zaman als bulgarische Ausgabeder gleichnamigen Istanbuler Tageszeitung, die von Gülen-Anhängern herausgegeben wird.Sie ist keine religiöse Zeitung, enthält jedoch eine Rubrik, in der Texte zu religiösen undmoralischen Fragen publiziert werden. Seit 1995 wird die ebenfalls nichtreligiöse monatli-che Zeitschrift Ümit (Hoffnung) als Variante des türkischen Magazins Sizinti herausgege-ben.

Einige wenige Publikationen, die außerhalb der Strukturen des Muftiamtes erschienensind, widmen sich der islamischen da'wa. Als Beispiel sei auf zwei Bücher, die durch dasZentrum Den Islam kennenlernen in Smoljan, übersetzt und zur Veröffentlichung vorberei-tet wurden, verwiesen: „Die Da'wa“31 sowie „Missverständnisse über Menschenrechte imIslam“.32 Diese von saudi-arabischen Autoren verfassten Schriften treten offen für ein sa-lafistisches Islamverständnis ein. Insbesondere die Schrift „Missverständnisse über Men-schenrechte im Islam“ setzt den universell anerkennten Menschenrechten ein „islamischesKonzept der Menschenrechte“ entgegen. Dieses beansprucht eine globale Geltung, da essäkularer Rechtssetzung überlegen sei.

Tariq Ramadan, ein Schweizer Islamwissenschaftler und Publizist ägyptischer Herkunft,wird in Bulgarien überwiegend durch den Leiter der Union der Muslime in Bulgarien, AliHairaddin, popularisiert.33 Zunehmend wird auch das Internet ein wichtiges Medium, indem gleichgesinnte Muslime ihre Gedanken austauschen. Auf Facebook organisieren sichjüngere bulgarische Muslime. Sie bilden Interessengruppen und berteiben thematische

30 Informacionen Bjuletin za 2009, Glavno Mjuftijstvo na mjusmusmanite v Republika Bălgarija, Sofia2010, 23.

31 Norlain Dindang Mababaya, Prizovavaneto kam isljama spored Korana i Sunnata, Centăr zaopoznavane na isljama, Smoljan 2009.

32 Abdul Rahman al-Sheha, Missverständnisse über Menschenrechte im Islam. Zur Zeit des Forschungs-aufenthaltes befand sich das Buch noch in Vorbereitung. Es ist nicht bekannt, ob und wann das Buch er-schienen ist. Interview mit dem Regionalmufti von Smoljan, Nedžmi Dabov, der zugleich Leiter desZentrums Den Islam kennenlernen war, im Juni 2010.

33 Mehr zu Ali Hairaddin siehe „Gespalten durch die Vereinigung? Die Union der Muslime Bulgariens“(Kapitel II).

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Seiten. Das Internet ist zugleich das aktuelle Medium, in dem islamische – auch missiona-risch orientierte – Organisationen präsent sind. Sie bieten unterschiedliche Produkte vonBüchern religiösen Inhalts über verschiedenste Devotionalien bis hin zu „islamischer Klei-dung“. Vor allem bieten sie ein Forum, in dem sich Muslime über den Islam betreffendeFragen austauschen können.

4. Islamische Bildung und Erziehung

Islamische Bildung und Erziehung gehören zu dem bedeutendsten Tätigkeitsbereich desMuftiamtes. Zu diesem Zweck wurde eine Bildungsabteilung etabliert, die sich mit demAufbau und der Koordination des islamischen Bildungssystems befasst. Ihr Ziel ist dienachfolgenden Generationen von Muslimen mit der islamischen Lehre sowie den mora-lisch-ethischen Normen des Islam vertraut zu machen.34 Neben den regulären Bildungsein-richtungen, deren Aufgabe darin besteht, zukünftige Geistliche auszubilden, gibt es eineReihe von Bildungsangeboten, die sich an breite Teile der muslimischen Bevölkerung rich-ten. Das Muftiamt ist auch für den islamischen Religionsunterricht an den staatlichen Schu-len zuständig.35 Nachdem es Jahrzehnte keine islamischen Schulen mehr gab, erwies es sichals notwendig, Bildungseinrichtungen neu zu errichten beziehungsweise die Bildungstradi-tionen von vor 1944 wiederherzustellen. Einige der neu errichteten Bildungseinrichtungenwerden im Folgenden dargestellt.

Oberstes Islamisches InstitutGemäß dem Religionsgesetz von 2002 sind die verschiedenen Konfessionen in Bulgarienberechtigt, religiöse Schulen mittlerer und oberer Stufen zu gründen, um die Ausbildungdes künftigen Klerus zu gewährleisten (Artikel 33, Absätze 1-7).36 Auf dieser juristischenGrundlage wurde am 1. Oktober 1990 ein Geistliches Islamisches Fachinstitut beim Obers-ten Muftiamt als juristische Person mit Sitz in Sofia gegründet.37 Sein erster Leiter war derdamalige Vorsitzende des Obersten Muslimischen Geistlichen Rates, Nedim Gendžev.Nachdem das Institut bis Anfang 1998 als Privatschule funktionierte, wurde es mit einerVerordnung des Ministerrates vom 9. März 1998 geschlossen und an statt dessen dasOberste Islamische Institut (OII) in Sofia gegründet.38 Das Oberste Islamische Institut istdie erste islamische Hochschule der bulgarischen Muslime. Seine Hauptaufgabe bestehtdarin Geistliche (Imame, Vaizen, Muftis) sowie Lehrer für islamischen Religionsunterrichtauszubilden. Es ist in der bulgarischen Öffentlichkeit nur wenig präsent, auch wenn dieDebatte um seine Akkreditierung von Zeit zu Zeit in die Medien gelangt.

34 Vgl. Informationsbulletins des Muftiamtes für 2010, 2011 und 2012 sowie Koran-Kursat v dzamijata,Glavno Mjuftiistvo, 2010.

35 Mehr zum islamischen Religionsunterricht siehe weiterführendes Kapitel IV.36 Gesetz über die Konfessionen (Zakon za veroizpovedanijata), in: Dăržaven vestnik Nr.120 vom 29.

Dezember 2002, 25-31.37 Verordnung des Ministerrates Nr.42 über die Gründung des geistlichen islamischen Fachhoch-

schulinstituts vom 29. September 1990, Dăržaven Vestnik Nr. 81 vom 9. Oktober 1990.38 Poslanie, Visš Islamski Institut, unter <http://poslanie.islamicinstitute-bg.org/?page_id=2> (4.

Dezember 2012).

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Gegenwärtig bietet das Hochschulinstitut lediglich ein Bachelor-Studium an (StandSeptember 2013).39 Die Ausbildung dauert vier Jahre und ist für alle Kandidaten, die eineSekundarschule abgeschlossen haben und Muslime sind, offen. Für das Studium werdenkeine Gebühren erhoben. Das Institut stellt seinen Studentinnen und Studenten kostenloseUnterkunft und Verpflegung zur Verfügung und vergibt Stipendien. Die Studenten sindvorwiegend Türken und Pomaken. Neben dem regulären Studium ist möglich, per Fernstu-dium eine Ausbildung am islamischen Hochschulinstitut abzuschließen. Finanziert wird dasInstitut durch die türkische Religionsbehörde Diyanet beziehungsweise ihre StiftungTürkiye Diyanet Vakfı.40 Diese enge Zusammenarbeit wurde durch eine am 19. Juni 1998zwischen der obersten Verwaltung der bulgarischen Muslime und dem türkischen Präsidi-um für Religionsangelegenheiten (Diyanet) getroffene Vereinbarung geregelt.41

Das Oberste Islamische Institut besteht aus drei Abteilungen: Islamische Theologie, So-zialwissenschaften sowie Kultur und Sprache. Die Lehrpläne stehen in Übereinstimmungmit dem Hochschulgesetz sowie der allgemeine Verordnung über Hochschulbildung imFach „Theologie“.42 Neben theologischen Disziplinen wie Koran- und Koranwissenschaft,Prophetentradition (hadith), islamischer Dogmatik (kelam) und islamischen Recht (fiqh)werden hier Religionsgeschichte und Geschichte des Islam, islamische Philosophie, Ethikund Kunst unterrichtet. Außerdem werden säkulare Fächer wie Pädagogik, Geschichte,Religionswissenschaft und Religionssoziologie, Psychologie, Philosophie, Logik, Verfas-sungs- und Menschenrechte sowie Computer-Kurse angeboten. Englisch und Arabisch alsFremdsprache gehören ebenfalls zum Lehrprogramm. In Vorbereitung befindet sich dieEinführung von Deutsch als weitere Fremdsprache. Das Studium enthält außerdem einpädagogisches Praktikum, während dessen die Studenten und Studentinnen als Imame undIslamlehrer an verschiedenen Orten, vorwiegend in den Sommermonaten sowie an denislamischen Feiertagen, eingesetzt werden (Tabelle 1).

39 Informationen über das Institut sind auf dessen Internetseite <http://www.islamicinstitute-bg.org/>,ersichtlich (27.11.2013).

40 Das Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet Isleri Baskanligi, DIB) ist die größte staatlicheBehörde für Islamförderung in der Türkei. Die Religionsstiftung Türkiye Diyanet Vakfı wurde errichtet,um die Unternehmungen des DIB zu unterstützen. Siehe mehr dazu Kapitel „Türkische Präsenz auf demBalkan“.

41 Bjuletin na bălgarskoto veroizpovedanie za 1997-2000, Glavno mjuftijstvo, Sofia 2001, 6; 100 godiniGlavno Mjuftijstvo, Glavno mjuftijstvo, Sofia 2011, 17.

42 Mjusjulmani, August 2013, 17.

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Tabelle 1: Curricula an dem Islamischen Hochschulinstitut in Sofia (2011)43

ObligatorischeFächer

St. Wahlpflichtfächer St. FakultativeFächer

St.

Koran 240 Religiöses Singen 30 Türkisch-islamischeLiteratur

60

Arabische Sprache 360 Religionswissenschaften 60 Geschichte Bulgariens 60Geschichte und Methodikdes tafsir(Koranauslegung)

45 Religionssoziologie 45 ZeitgenössischeGeschichte derislamischen Länder

60

tafsir 180 Pädagogik 90 Verfassungs- undMenschenrechte

60

Geschichte und Methodikdes hadith(Prophetentradition)

45 Pädagogische Psychologie 60 Geschichte der Türkei 60

hadith 180 Geschichte des Islam inBulgarien

460 Computerkenntnisse 60

Islamische Lehre 120 Struktur der religiösenInstitutionen

45

fiqh(islamische Jurispudenz)

120 Methodik desReligionsunterrichts

60

Methodik des fiqh 90 Religionspsychologie 60

kelam(islamische Dogmatik)

120 Psychologie 45

Geschichte derReligionen

60 Philosophie 60

Geschichte des Islam 150 Logik 45Islamische Ethik 60 Soziologie 45Islamische Philosophie 60 Türkisch 180Rhetorik 60 Englisch 120Islamische Kultur undKunst

60 Osmano-türkischeSprache

90

Geschichte derRechtsschulen(madhhab)

45 Bulgarische Sprache 60

Prophetenbiographie 45Sufismus 45PädagogischesPraktikum 120

Quelle: Priloženie Nr.1. Učebnite disciplini, koito šte se izučavat v bakalavarska stepen. Visš isljamski institut(September 2011).

43 Die Unterrichtseinheiten teilen sich in obligatorische und Wahlpflichtfächer. Wahlpflichtfach bedeutet,dass die entsprechende Disziplin Teil eines Fächerkanons ist, aus dem die Studenten eine vorgeschrie-bene Anzahl Fächer auswählen müssen.

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Entsprechend der Gründungsverordnung des Ministerrats vom 29. September 1990 findetder Unterricht am Obersten Islamischen Institut in bulgarischer Sprache statt. Andere Spra-chen, wie Türkisch oder Arabisch, können höchstens Unterrichtsfach, nicht aber Unter-richtssprache sein. In der Praxis sieht die Situation jedoch anderes aus. Da die Hauptfächerder islamischen Theologie von Gastlehrern aus der Türkei unterrichtet werden sowie einTeil der Lehrmaterialen in türkischer Sprache vorhanden ist, stellt die türkische Sprache defacto eine zweite Unterrichtssprache dar. Dies wiederrum wird als ein Problem seitens derStudenten empfunden, die der türkischen Sprache (wie die bulgarischen Pomaken) nichtmächtig sind.

Im Schuljahr 2010/11 gab es am islamischen Hochschulinstitut 22 Lehrer. Neben denfest angestellten Hochschullehrern unterrichteten hier Theologen aus den Strukturen desMuftiamtes. Dazu gehörten im Verlauf der letzten fünf Jahre unter anderem der Obermufti,Mustafa Hadži, der stellvertretende Obermufti, Birali Birali, der ehemalige Mufti von Sofia,Ali Hairaddin sowie der Chefredakteur der Mjusjulmani, Ismail Čausev. In den FächernPädagogik und Sozialwissenschaften wurden Dozenten anderer Universitäten, vor allem derSofioter Universität Kliment Ohridski, auf Honorarbasis beschäftigt.44

Die ersten 21 Absolventinnen und Absolventen haben das Islamische Hochschulinstitutim Jahr 2002 verlassen.45 2002/2003 gab es 60 Studenten und Studentinnen (35 regulär, 25Fernstudium), im Schuljahr 2005/2006 waren es 119 Personen (85 regulär und 34 im Fern-studium). Seitdem das Institut als Hochschule gegründet wurde (1998), hatten bis Septem-ber 2011 insgesamt 174 Studenten und Studentinnen ihre theologische Ausbildung amIslamischen Hochschulinstitut abgeschlossen. Am Ende ihres Studiums bekommen dieAbsolventen ein Diplom für islamische Theologie und Pädagogik und sie können als Ima-me, Vaizen, Muftis und Religionslehrer tätig werden. Sie sind auch die einzigen, die dazuberechtigt sind, islamische Religion an den öffentlichen Schulen zu unterrichten. Mit Aus-nahme der letztgenannten Regelung werden die am Institut erworbenen Diplome jedoch nurinnerhalb der Strukturen der islamischen Glaubensgemeinschaft anerkannt. Der Grunddafür liegt darin, dass das Oberste Islamische Institut auf der Grundlage des Religionsge-setzes und nicht des Hochschulbildungsgesetzes gegründet wurde. Deshalb verfügt dasInstitut derzeit (2013) über keine Akkreditierung, so dass auch die Schulabschlüsse vomBildungsministerium als Hochschuldiplome nicht anerkannten werden.

Da der Bachelor-Abschluss die Voraussetzung für ein anschließendes Masterstudiumist, hat die fehlende Akkreditierung des Institutes zur Folge, dass die Absolventen keineMöglichkeit haben, ihr Studium als Master oder Doktorand fortzusetzen. Um die Realisie-rungschance der Studenten und Studentinnen des islamischen Instituts zu verbessern, wur-den diesbezüglich zwei Vereinbarungen mit der Neuen Bulgarischen Universität in Sofiasowie der Universität in Blagoevgrad getroffen.46 Laut der Vereinbarung mit der NeuenBulgarischen Universität (NBU) in Sofia können die Studenten des islamischen Institutsseit Ende 2001 nach der Belegung von zwei zusätzlichen Semestern im Fachbereich „Ge-schichte und Kultur der östlichen Völker“ ihre Qualifikation erweitern und nach der Able-gung von Prüfungen an der NBU ein staatlich anerkanntes Diplom für das Bachelor-

44 Angabe der Bildungsabteilung des Muftiamtes, Oktober 2010.45 Bildungsabteilung des Muftiamtes, Oktober 2010.46 Angaben des stellvertretenden Obermuftis, Vedat Ahmed, vom 26. Januar 2012.

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Studium erwerben. Das berechtigt sie ein weiterführendes Master-Studium in „Verglei-chender Religionswissenschaft“ an derselben Universität sowie in weiteren humanitärenFächern wie Geschichte und Philosophie an anderen Hochschulen zu absolvieren. Die Ver-einbarung ist bis in die Gegenwart (2013) in Kraft. Als problematisch erweist sich der Um-stand, dass die Studiengebühren an der NBU relativ hoch sind, so dass nur wenige Studen-ten und Studentinnen des islamischen Hochschulinstituts in der Lage waren, das Angebotwahrzunehmen. Nach Angaben des stellvertretenden Obermuftis, Vedat Ahmed, konntenbis Ende 2011 – trotz des vorhandenen Interesses – nicht mehr als 9 Muslime und Musli-minnen Gebrauch davon machen.47

Eine ähnliche Vereinbarung wurde mit der Süd-West-Universität in Blagoevgrad imFachbereich Religionssoziologie getroffen. Dementsprechend sollten die Diplome desObersten Islamischen Instituts nach zusätzlichen Prüfungen anerkannt werden, so dassanschließend die Aufnahme eines Masterstudiums an der Blagoevgrader Universität mög-lich wird.48 Diese Vereinbarung wurde jedoch nicht eingehalten. Nachdem diejenigen, diedieses Angebot wahrnahmen, ihr Studium abgeschlossen hatten, wurde ihnen das Ab-schluss-Diplom mit der Begründung verweigert, dass das islamische Institut, an dem siezuvor studierten, rechtlich nicht als Hochschule anerkannt ist. Ca. 10 Personen waren davonbetroffen. 49

Zu erwähnen wäre noch der Vertrag mit der theologischen Fakultät der Ankara Univer-sität, der seit 2003 in Kraft ist. Nach zwei zusätzlichen Semestern an der Ankara Universi-tät gilt das Bachelor-Studium der bulgarischen Studenten als abgeschlossen und sie könnenihr Masterstudium an derselben Universität fortsetzen. Bis Ende 2011 haben 10 Studentendes islamischen Instituts in Sofia die Ankara-Universität besucht.50 Zur selben Zeit war dieseine beliebte Option, ihr theologisches Studium fortzusetzen. Praktisch jedem Studentenund jeder Studentin, die ihre Ausbildung am Obersten Islamischen Institut in Sofia mitguten Noten abschlossen, steht die Möglichkeit an der Ankara-Universität weiter zu studie-ren, offen.

Seit 2010 haben bulgarische Studenten des islamischen Institutes auch die Möglichkeit,sich für ein Masterstudium „Islamische Religionspädagogik“ am Institut für Bildungswis-senschaft der Universität Wien zu bewerben.51 Diese Alternative ist dank der Bemühungendes Rektors des bulgarischen Instituts, Ibrahim Jalamov, und des Leiters des Masterstudi-ums „Islamische Religionspädagogik“ am Institut für Bildungswissenschaft der UniversitätWien, Professor Ednan Aslan, zu Stande gekommen.52 2010 haben die ersten drei Studen-

47 Vedat Ahmed, 26. Januar 2012.48 Ebda.49 Interview mit einem der Betroffenen, dem ehemaligen Redakteur der muslimischen Zeitschrift Selam

und Angestellter des regionalen Muftiamts in Smoljan, Vahdi Bosov, im Juni 2009. Bosov konnte seineEnttäuschung über das nicht erhaltene Diplom nur schwer verbergen.

50 Vedat Ahmed, 26. Januar 2012.51 Bjuletin za 2009, 25; Interview mit Ednan Aslan, Professor an der Fakultät für Philosophie und

Bildungswissenschaft der Universität Wien im Dezember 2009. Das Masterstudium „Islamische Religi-onspädagogik“ der Universität Wien bildet islamische Religionslehrerinnen und Religionslehrer für diehöheren Schulen in Österreich aus.

52 Ednan Aslan, Dezember 2009. Wiederholte Interviews mit Ibrahim Jalamov in den Jahren 2009, 2010und 2011. Ednan Aslan nahm 2008 für ein Semester eine Gastprofessur am Obersten Islamischen Insti-tut in Sofia an.

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tinnen des Obersten Islamischen Institut ihr Studium in Wien aufgenommen. Ob eine Reihevon Problemen, wie sprachliche Defizite oder ungeklärte Finanzierung überwunden werdenkann, bleibt noch abzuwarten.

Die fehlende Akkreditierung des islamischen Hochschulinstituts in Sofia und seine Be-schränkung auf nur einen Bachelorstudiengang führte in den Jahren nach der politischenWende dazu, dass viele bulgarische Muslime bevorzugten, ein theologisches Studium imAusland aufzunehmen. Für diejenigen, die sich für ein Studium in Bulgarien entscheiden,bleibt es nach wie vor problematisch, eine berufliche Perspektive – zumindest mit dem amislamischen Hochschulinstitut erworbenen Diplom – außerhalb der Strukturen des Muf-tiamtes zu finden. Deshalb gehört die Akkreditierung des Instituts zu den wichtigsten Zie-len, die sich die Verwaltung der bulgarischen Muslime für die nahe Zukunft stellt. DieAufnahme in die Liste der akkreditierten Hochschulen ist jedoch an eine Reihe von Voraus-setzungen gebunden.53 Dazu gehören unter anderem das Vorhandensein genügend habili-tierten Lehrpersonals sowie das Vorhandensein von geeigneten Schulgebäuden.54 Was dieAusbildung des Lehrpersonals betrifft, ist es nach vierzig Jahre fehlender islamischer Bil-dung in Bulgarien zwar immer noch schwierig, eine ausreichende Anzahl an qualifiziertenLehrer aus den eigenen Reihen zu rekrutieren. Dies ist aber keineswegs unmöglich. DieVerwaltung der bulgarischen Muslime ist deshalb bemüht, die vorhandenen Ressourcenmöglichst weit zu mobilisieren. An der Bildungsabteilung des Muftiamtes wird in diesemZusammenhang eine Kartei geführt, an der jede(r) bulgarische Student(innen) oder Dokto-rand(in) einer islamisch-theologischen Fakultät aufgelistet wird.55 Am 8. Juli 2013 reistenhochrangige Vertreter des Muftiamtes – der Obermufti Mustafa Hadži, sein Stellvertreter,Vedat Ahmed und der Leiter der Abteilung „Bildung“ Hjusein Karamola – sogar nachIstanbul, um ein Treffen mit bulgarischen Studenten und Promovierenden an islamischenFakultäten in der Türkei zu veranstalten. Ziel des Treffens war es „engere Kontakte aufzu-bauen“.56 Der Großmufti wies darauf hin, dass es ein Defizit qualifizierter islamischer The-ologen in Bulgarien gibt und dass jeder Student in dieser Hinsicht wichtig sei. Vereinbartwurde, dass Studierende mit Master- und Doktorgrad ihr religiöses Praktikum in Bulgariendurchführen sowie eigene Seminare am Obersten Islamischen Institut veranstalten kön-nen.57 Personen, die bereits ihre Ausbildung abgeschlossen haben, wurden zum Teil erfolg-reich in die Strukturen des islamischen Bildungssystems integriert. Nicht zuletzt gibt esnoch die Möglichkeit, Hochschullehrer aus dem Ausland einzuladen. Zu verweisen ist hierauf den mit dem türkischen Diyanet abgeschlossenen Vertrag, nach dem die türkische Be-hörde Lehrer an das Institut in Sofia entsenden kann.

53 Zur Prozedur der Akkreditierung der Hochschulen in Bulgarien siehe: Instituzionalna akreditacija navisšite učilišta, in: LawsBG, unter <http://www.lawsbg.com/proceduri/637-akreditracia-vuz.html>sowie die Homepage der Nationalen Agentur für Evaluation und Akkreditierung beim Ministerrat derRepublik Bulgarien, unter <http://www.neaa.government.bg/> (14.02.2012).

54 Nationale Agentur für Evaluation.55 Wiederholte Interviews mit Vertretern der Bildungsabteilung des bulgarischen Muftiamtes, Hjusein

Karamola, Vedat Ahmed sowie mit Ibrahim Jalamov und Sefer Hasanov in den Jahren 2008 bis 2012.56 Polzotvorna srešta s bălgarskite studenti po teologija v Turcija, in: Mjusjulmani, Juli 2013, 5.57 Zur Zeit des Treffens gab es in der Türkei 23 Studenten der islamischen Theologie. Zehn von ihnen

absolvierten ein Bachelor-Studium, drei ein Master-Studium und zehn promovierten.

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Was den zweiten Punkt – das Vorhandensein geeigneter Schulgebäude – betrifft, gab esbislang verschiedene Projekte. Zunächst war vorgesehen, dass das islamische Institut ausdem Wohnviertel Vraždebna in ein größeres und für diesen Zweck besser geeignetes Ge-bäude in das Wohnviertel Bankja in Sofia umzieht. Das vorgesehene Gebäude, das nochrenoviert werden musste, wurde von der Islamischen Entwicklungsbank im Jahr 2000 ge-kauft und anschließend dem Muftiamt übertragen.58 Infolge der internen Konflikte um dieFührung der bulgarischen Muslime sowie der fehlenden Genehmigung für die Bauarbeitenwurde das Projekt jedoch nicht weiter realisiert.59 An seine Stelle trat anschließend die Idee,ein islamisches Bildungs- und Forschungszentrum im Wohnviertel Malinova dolina inSofia zu errichten. Zu diesem Zweck kaufte die Organisation für Islamische Zusammenar-beit 2002 ein Grundstück von 27 Hektar.60 Der damalige Obermufti, Selim Mehmed, stellteein Jahr später (2003) das Projekt dem Ministerpräsidenten, Georgi Parvanov, vor undbemühte sich um die Realisierung des Projektes.61 Anfang 2009 gab sein Nachfolger, derObermufti, Mustafa Hadži, während einer Pressekonferenz bekannt, dass die Vorbereitungdes Projekts abgeschlossen sei.62 Entsprechend der Baupläne sollte in Malinova dolina einganzer Bildungskomplex entstehen, wobei neben dem islamischen Hochschulinstitut eineBibliothek, Wohnheime, Verwaltungsgebäude, ein Kulturzentrum sowie eine Moscheevorgesehen waren.63 Mustafa Hadži wies darauf hin, dass das Projekt den Bedürfnissen desislamischen Instituts dienen solle, als wissenschaftliches Forschungszentrum wird es aberauch anderen akademischen Institutionen sowie der breiten Öffentlichkeit zur Verfügungstehen.64 Am 20 März 2009 teilte die oberste Stadtverwaltung in Sofia jedoch mit, dass derBau eines muslimischen Zentrums nicht möglich sei. Im Beschluss der Stadtverwaltunghieß es, dass „im Rahmen der bestehenden Gesetzgebung, die Erlaubnis, ein islamischesZentrum auf dem erworbenen Grundstück zu bauen nur nach vorheriger Änderung desaktuellen Stadtbebauungsplans“ möglich wäre.65 Trotz der Bemühungen, die seitdem sei-tens der Verwaltung der bulgarischen Muslime unternommen wurden, ist das Projekt bis indie Gegenwart (1013) eingefroren, da weiterhin keine Baugenehmigung vorliegt. DieGründe dafür liegen in verschiedenen administrativen Verordnungen und Bauvorschriften,

58 Bjuletin na bălgarskoto veroizpovedanie za 1997-2000, 2001, 18. Siehe dazu noch Kapitel „Kontakte zuislamischen Mehrheitsregionen“.

59 Interviews mit dem stellvertretenden Obermufti, Vedat Ahmed, und dem Generalsekretär desMuftiamtes, Hjusein Hafazov, im Oktober 2010.

60 Die OIC hat zudem zugesichert, einen Teil der Baukosten zu übernehmen. Interview mit Vedat Ahmed,Oktober 2010. Siehe dazu noch Rumjana Gočeva, Obštinata bavi razrešitelnoto za stroež, smjatat otmjuftijstvoto, in: Novinar vom 26. Februar 2009 sowie Hjusein Hafazov, Za etnoreligiozen mir itolerantnost, in: Mjusjulmani, Januar 2009 23f.

61 100 godini Glavno Mjuftijstvo, 18.62 Glavnoto mjuftijstvo predstavi proekt na obrazovatelen centar v kv. „Malinova dolina“, in: Dnevnik

vom 25 Februar 2009; Predstaviha idejata za izgraždane na mjusjulmanski centar v kv. „Malinovadolina“, in: Agencija Fokus 25, Februar 2009.

63 Gočeva, Obštinata bavi razrešitelnoto. Für ausführliche Informationen zum geplanten Projekt siehe dasInterview mit dem Generalsekretär des Muftiamtes: Hjusein Hafazov, Za etnoreligiozen mir itolerantnost, in: Mjusjulmani, Januar 2009, 23-25 sowie Mjusjulmani, Februar 2009, 22-25.

64 Glavnoto mjuftijstvo predstavi; Hafazov, Za etnoreligiozen mir, 25.65 Zornica Stoilova, Skoro v Sofija njama da ima vtora džamija, in: Kapital, 03.06.2011.

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die schwer zu durchschauen sind. In diesem Zusammenhang äußerte der Obermufti,Mustafa Hadži, in einem Interview für den TV-Sender Vseki den am 26. Juli 2012:

„Das Problem wird seit 10 Jahren aufgeschoben und es gibt immer noch keine Lö-sung. […] Wir sind ständig darum bemüht, Kontakt mit der Stadtverwaltung vonSofia sowie der Direktion für Architektur und Stadtplanung aufzunehmen, aber lei-der haben wir bislang keine Baugenehmigung erhalten. Uns wurde gesagt, dass esProbleme mit den benachbarten Grundstücken gibt. Wie können benachbarte Grund-stücke eine solche Auswirkung auf unsen Vorhaben haben? Wir hoffen, dass wirbald mit dem Oberarchitekten von Sofia sprechen können.“ 66

Das Fehlen der Baugenehmigung sorgte nicht nur für kritische Stimmen seitens der Ver-waltung der bulgarischen Muslime,67 sondern auch für Spekulationen in der bulgarischenÖffentlichkeit über die „tatsächlichen Gründe“ für die praktische Zurückweisung des Pro-jekts.68 Als problematisch erwies sich zunächst, dass im Rahmen des Bildungskomplexeseine Moschee entstehen sollte. Bereits 2001, als der Vorschlag für den Bau einer zweitenMoschee in Sofia auf einem Forum des Muftiamts gemacht wurde, sorgte dies für Kontro-versen.69 Damals erklärte der aktuelle Obermufti Mustafa Hadži, dass die Errichtung derMoschee an erster Stelle für die religiöse Praxis der Studenten notwendig sei. Aufgrund derprekären Situation mit nur einer Moschee im Zentrum von Sofia, die nicht in der Lage sei,alle Gläubigen aufnehmen, wäre der Bau einer zweiten Moschee in Malinova dolina auchein Gewinn für alle Muslime in der Hauptstadt.70

„Zwischen 800-1.000 Menschen kommen während des Freitagsgebets in die einzigeMoschee in Sofia. Da die Moschee nicht mehr als 500-600 Personen unterbringenkann, muss ein Teil von ihnen ihre Gebete draußen auf der Straße verrichten. Anwichtigen Feiertagen, wie Ramadan oder Kurban Bayram, kommen noch mehrGläubige.“71

Nach den anfänglichen Protesten wurde die Idee eine Moschee in Malinova dolina zu er-richten, aufgegeben. Neben dem islamischen Institut sollen hier nun eine Bibliothek,Wohnheime, eine Sporthalle und Veranstaltungsräume entstehen. Sehr wichtig für die bul-garischen Muslime sei – so der Obermufti – den Bildungskomplex errichten zu können. DieVertretung der bulgarischen Muslime wünsche sich, dass es endlich eine moderne islami-sche Hochschule in Bulgarien gäbe, in der nach den neuesten Standards islamische Geistli-che ausgebildet werden.72 Das bisherige Scheitern des Bauvorhabens lässt sich jedoch nichtallein auf die „Furcht vor einer zweiten Moschee“ in Sofia zurückführen. Vielmehr scheint

66 Glavnijat mjuftija na mjusjulmanite v Bălgarija Mustafa Hadži: Horata, koiti sa obvineni v radikalenisljam, sa pod naš kontrol, in: <http://genmuftibg.net/bg/news-from-bulgaria/2616-2012-07-26-12-22-25.html> (12.11.2012).

67 Mehr über die Stellungnahme des Muftiamtes siehe Hafazov, Za etnoreligiozen mir, 23f.68 Gočeva, Obštinata bavi; Ljuba Jordanova, Skoro v Sofia njama da ima vtora džamija, in: Kapital, 3 Juni

2011.69 Gočeva, Obštinata bavi.70 Ebda.71 Glavnijat mjuftija na mjusjulmanite.72 Ebda.

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die Frage angebracht, inwieweit hier kommerzielle oder auch politische Interessen im Vor-dergrund stehen.73 Der eigentliche Stopp des Bau-Projekts erfolgte, nachdem der Leiter dernationalistischen Partei Ordnung, Gesetz, Gerechtigkeit, Jane Janev, nach einem Treffenmit dem Generalstaatsanwalt, Boris Velchev, Ende November 2008 eine „Überprüfung“zur Richtigkeit der Bauanträge bei der Staatsanwaltschaft einleitete.74 Auch die nationalis-tisch-populistische Partei Ataka stellte sich von Anfang an gegen die Entstehung einesislamischen Bildungszentrums und forderte ein Referendum durch die Bürger Sofias.75

Weiteren Anlass für Spekulationen gab die Tatsache, dass der Kauf des Grundstücks, aufdem das Bildungszentrum entstehen sollte, von der Organisation für Islamische Zusam-menarbeit (OIC) finanziert wurde. Man befürchtete mögliche ausländische Einflusse, diefundamentalistische, gar radikale Tendenzen bringen.76 Auch westeuropäische Wissen-schaftler, wie die, bei der renommierten deutschen Stiftung „Wissenschaft und Politik“tätige Sabine Riedel, beteiligten sich an den Debatten. In ihrer Studie „Der vielstimmigeIslam in Europa“ schrieb sie in diesem Zusammenhang:

„Da diese Institution [OIC; J.T.-S.] 57 Staaten politisch vertritt, wurden Bedenkenlaut, diese Länder könnten ihre islamischen Lehren oder gar wahhabitisches Gedan-kengut in Bulgarien verbreiten“.77 „Es liege auf der Hand“ – so die erwähnte Wis-senschaftlerin weiter – „dass an dieser Hochschule weniger die moderne laizistischeVariante des türkischen Staatsislam gelehrt wird, als vielmehr konservative An-schauungen aus den reichen Golfstaaten“.78

Sabine Riedel geht davon aus, dass es im Fall des Bildungskomplexes in Malinova dolinaum eine zweite islamische Hochschule in Bulgarien geht, die in Konkurrenz zum bereitsvorhandenen Obersten Islamischen Institut tritt.79 Dieser Hinweis ist jedoch fraglich, da esnicht um zwei unterschiedliche Bildungseinrichtungen geht, sondern um dieselbe, die voneinem Ort zu einem anderen umziehen sollte. Darüber hinaus, stellte das geplante Bil-dungszentrum in Malinova Dolina weder die erste noch die einzige islamische Bildungsein-richtung in Bulgarien dar, die durch ausländische Geldgeber finanziert wurde. Bislang sindalle islamischen Ausbildungsstätten in Bulgarien durch ausländische Sponsoren unterstütztworden. Vom Kauf eines Grundstückes bis zu einem möglichen Einfluss auf den Unterricht

73 Am 11. April 2008 versuchte der für den Posten des Obermuftis konkurrierende Nedim Gendžev, durchmanipulierte Papiere das Grundstück zu verkaufen. Das Vorhaben konnte verhindert werden. Eine Ko-pie des Kaufvertrages findet sich in: 100 godini Glavno Mjuftijstvo, 22.

74 Mariana Konova, Čušdi grupirovki finansirali isljamskija centar v Sofija, 25. November 2008, in:news.bg, <http://news.ibox.bg/news/id_1585022545> (13.11.2012).

75 5-etažna džmija strojat v Sofija, in: news.bg, 26. November 2008, unter<http://news.ibox.bg/news/id_2092438414> (13.11.2012); Deistvija na „Ataka“ otložiha stroeža naislamski centar, in: Novinar vom 02. Dezember 2008; Ataka iska referendum za stroeža namjusjulmanski centar v Sofija, in: news.bg vom 21. November 2008, unter<http://news.ibox.bg/news/id_2031246580> (13.11.2012).

76 V Sofija njama da ima džamija i isljamski centar, in: Actualno.com, 20.03.2009; Konova, Čušdigrupirovki.

77 Sabine Riedel, Der vielstimmige Islam in Europa. Muslimische Beiträge zu Integrationsdebatten,Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin 2010, 23.

78 Riedel, Der vielstimmige Islam, 24.79 Ebda., 23.

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ist es auch noch ein langer Weg, der keiner vorgegeben Kausalität unterliegt. Wenn es umbevorzugte ausländische Partner der bulgarischen Muslimen geht, dann ist zu bezweifeln,dass die dominierende Stellung der Türkei beziehungsweise des türkischen Präsidiums fürReligionsangelegenheiten (Diynet) durch eine einmalige finanzielle Zuwendung der OICernsthaft in Frage gestellt werden kann. Das türkische Diynet übernimmt nicht nur die lau-fenden Kosten für das islamische Hochschulinstitut in Sofia, es ist auch die einzige auslän-dische Institution, die dazu berechtigt ist, Gastdozenten zu entsenden sowie Lehrmaterialenzur Verfügung zu stellen. Es gibt keinen Grund dafür, warum sich diese Politik, die auchvertraglich festgelegt wurde, ändern sollte. Welche Variante des Islam an der islamischenHochschule in Sofia gelehrt wird, hängt viel mehr von anderen, vor allem internen Faktorenab, nicht zuletzt davon, ob die bulgarischen Muslime in der Lage wären, eine eigene theo-logische Schule zu gründen. Jüngere Vertreter der bulgarischen Ulemas, wie der Hoch-schullehrer am OII, Sefar Hasanov, oder der stellvertretende Obermufti Birali Bilrali, habenin den letzten Jahren bemerkenswerte Ansätze in diese Richtung gemacht. Auch die Füh-rung der bulgarischen Muslime betonte in diesem Zusammenhang wiederholt, dass dievorgesehene Universität in Malinova dolina ein Ort sein wird, an dem die bulgarischenMuslime für die Bedürfnisse der muslimischen Gemeinschaft im Land, in einem für „Bul-garien traditionellen Islam“ ausgebildet werden. Nur so wäre es auch möglich, sich fremdenEinflüssen zu widersetzen.80

Es gab auch weitere Vorschläge, wie eine Anbindung des Obersten Islamischen Institutsan die akademischen Strukturen Bulgariens erreichen werden kann. Im April 2009 kündigteder damalige Minister für Bildung, Daniel Valčev, während einer Sitzung des parlamentari-schen Ausschusses für Menschenrechte und religiöse Angelegenheiten an, dass das Minis-terium bereit wäre, eine halbe Million Leva (ca. 250.000 Euro) derjenigen Universität zugeben, die eine neue Fakultät für Islamstudien gründet.81 Mitglieder der Direktion für reli-giöse Angelegenheiten setzten sich ebenfalls für diese Möglichkeit ein.82 Unter den Vertre-tern der bulgarischen Ulemas traf dieser Vorschlag jedoch eher auf Kritik. Angestellte desMuftiamtes, mit denen die Autorin im Verlauf der Forschungsaufenthalte sprach, betonten,dass dieser Schritt in der Praxis „nichts anderes bedeute, als die einzige eigenständigeHochschule der bulgarischen Muslime, aufzulösen“83 sowie, dass „es wieder die Anderensein werden, die bestimmen, wo es lang geht.“84 Damit würde das Recht der Muslime aufSelbstbestimmung in Frage gestellt. Es gab aber auch Befürworter. So äußerte der ehemali-ge Obermufti, Selim Mehmed, während einer Eröffnungszeremonie anlässlich des Schul-jahrs 2002/03, dass die Umstrukturierung des Obersten Islamischen Instituts zu einer is-

80 Glavnijat mjuftija na mjusjulmanite; Hafazov, Za etnoreligiozen mir, 23f; Glavnoto mjuftijstvopredstavi proekt; Glavnijat mjuftija: Obrazovajte mjusjulmani i njama da ima radikalen isljam, in:Actualno.com, 27. September 2012.

81 MON dava polovin milion leva za fakultet po isljam, in: Monitor vom 10. April 2010.82 Interview mit Georgi Krastev, September 2011.83 Interviews u.a. mit dem Rektor des islamischen Instituts Jalamov, mit seinem Stellvertreter, Sefer

Hasanov sowie weiteren Hochschullehrern und Mitgliedern der Bildungsabteilung der Verwaltung derbulgarischen Muslime.

84 Vedat Ahmed, September 2011.

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lamwissenschaftlichen Fakultät „ein guter Weg wäre, um seine Anbindung in staatlich-universitäre Strukturen zu erreichen“.85 Deshalb würde er diese Initiative unterstützen.

Auf die Anfrage des Bildungsministers gab es bislang keine positive Antwort und dasbedeutet, dass keine Universität sich bereit erklärte, das islamische Institut als islamwissen-schaftliche Fakultät in die eigenen Strukturen aufzunehmen. Tatsache ist auch, dass esbislang keine ernsthaften Versuche seitens des Innenministeriums oder der Direktion fürreligiöse Angelegenheiten in Bulgarien gab, konkrete Schritte für eine reguläre Akkreditie-rung des Instituts in die Wege zu leiten und somit dem Obersten Islamischen Institut zuermöglichen, sich in die akademischen Strukturen des Landes zu integrieren.

Islamische MittelschulenWeitere reguläre Einrichtungen in Bulgarien, die islamisches Wissen vermitteln, sind diegeistlichen Mittelschulen in Šumen, Ruse und Momčilgrad.86 Kennzeichnend für dieseSchulen ist, dass sie auf einem Sekundärschulabschluss basieren und neben einer allgemei-nen, auch eine religiöse Ausbildung vermitteln. Die Ausbildung dauert vier Jahre und amEnde ihres Studiums bekommen die Absolventen das für bulgarische Mittelschulen üblicheReifezeugnis sowie eine zusätzliche Qualifikation als Imam-Hatip und Religionslehrer.Zugleich berechtigt sie der erfolgreiche Abschluss der Schule, an einer weiterführendenHochschule im In- und Ausland zu studieren.

Durch Beschluss des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft wurde am 15. August1990 zunächst die Sekundarschule in Šumen eröffnet. Es handelte sich um die bekannteMedrese Nüvvab, die in der Zwischenkriegszeit (1922-1947) der Ausbildung von Geistli-chen in Bulgarien diente.87 Ein Jahr später (1991/1992) wurden zwei weitere islamischeMittelschulen in Ruse (Mirza Said Paša) und in Momčilgrad als Filialen des Gymnasiumsin Šumen gegründet. Nachdem ihr Statut zunächst ungeklärt war, wurden sie 1995 vomMinisterium für Bildung und Wissenschaft als Sekundärschulen mit einer Spezialisierungauf islamischen religiösen Unterricht anerkannt.88 Seit 1995 gibt es an der Schule in Ruseund seit 2000/01 in Šumen und Momčilgrad Mädchenklassen. 2006 wurden sie mit denanderen Klassen zusammengelegt.89 In der Schule von Momčilgrad wurde die Trennungzwischen männlichen und weiblichen Klassen beibehalten.

Die Lehrpläne der islamischen Mittelschulen wurden auf der Basis der bulgarischenGymnasien unter Berücksichtigung der Erfahrung einiger Imam-Hatip-Schulen in der Tür-kei vorbereitet. Anschließend wurden sie vom Ministerium für Bildung und Wissenschaftgenehmigt. Ca. 2/3 der Curricula umfassen allgemeinbildende und 1/3 religiöse Fächer. Zuden theologischen Fächern gehören unter anderem Koran, Koranexegese (tafsir), Dogmatik

85 Visšijat isljamski institut započna nova učebna godina, in: Mjusjulmani, Oktober 2002, 2.86 Das bulgarische Schulsystem gliedert sich in acht Jahre Grundschule (vier Jahre Unterstufe und vier

Jahre Progymnasialstufe) sowie vier Jahre Mittelschule (9.-12. Schuljahr). Nach dem 12 Schuljahr undbestandener Reifeprüfung gibt es den Sekundärschulabschluss mit einem Zeugnis, das die Vorausset-zung für die Aufnahme eines Studiums bildet.

87 Mehr als 25 Jahre bildete Nüvvab nicht nur Imame, Hatibe und Muftis, sondern auch Islamlehrer sowieLehrer für die privaten türkischen Schulen aus. Mehr dazu siehe Mjusjulmani, Juli 1999. Weitere Infor-mationen sind auf der Homepage der Schule erhältlich: <http://nuvvab.net/> (13.11.2012).

88 Siehe dazu Dăržaven vestnik 1995, Nr.18.89 Vedat Ahmed, Promenite v duhovnite ni učilišta, in: Mjusjulmani, März 2007, 31.

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(kelam), Prophetenbiographie, islamisches Recht (fiqh), Prophetentradition (hadith), Sufis-mus und islamische Ethik. Darüber hinaus gibt es Unterrichtseinheiten zur Geschichte desIslam und Geschichte der Religionen. Türkisch als Muttersprache (in Momčilgrad alsFremdsprache) und Arabisch werden ebenfalls unterrichtet.90 Die Schulen werden als Inter-nate geführt, wobei den Schülern und Schülerinnen kostenlose Pension und Verpflegunggestellt wird und Stipendien vergeben werden. Für Absolventen der geistlichen Mittelschu-len, die aus sozialschwachen Familien kommen und nach Erlangung der Hochschulreifezum Studium an einer bulgarischen Universität aufgenommen wurden, vergibt dasMuftiamt seit 2008 ebenfalls Stipendien.91 Ein großzügiges Angebot, das angesichts derTatsache, dass es sich um säkulare Universitäten handelt, für eine religiöse Institution eherungewöhnlich ist.

Bis 2009 haben insgesamt 366 Jugendliche die Sekundärschule in Šumen, 434 in Ruseund 464 in Momčilgrad abgeschlossen (siehe Tabelle 2). Mehr als 30% der Absolventennahmen anschließend ein Studium an verschiedenen Universitäten in Bulgarien auf.92 Ähn-lich wie im Fall des Obersten Islamischen Instituts werden die islamischen Mittelschulendurch die türkische religiöse Stiftung Diyanet (Türkiye Diyanet Vakfı) finanziert.93 Für dieislamischen Fächer werden zudem Lehrer aus der Türkei gesandt.94 Darüber hinaus werdenjedes Jahr verschiedene Arten von Auslandsaufenthalten in der Türkei – von Exkursionenüber Bildungskurse bis zu Studienaufenthalten und Wettbewerben – angeboten.95

90 Gjuljumser Jusufova, Isljamskoto religiozno obrazovanie v prehoda kam demokracijata, in: Godišnik naVisšija Islamski Institut, Sofia 2011, 215- 236, 217f; Učebni predmeti i razpredelenie na učebnotovreme, in: <http://sodu-ruse.com/ucheben-plan/> (13.11.2012).

91 Bjuletin za 2009, 18; Inforanacionen bjuletin 2010, 13.92 Ibrahim Jalamov, Religiöse Erziehung der Muslime in Bulgarien, in: Ednan Aslan, Islamische

Erziehung in Europa, Wien: Böhlau, 2009, 59-68, 66.93 Sporasumenie mežu Direkciite po vezoizpovedanijata na R. Bălgarija i R. Turcija, in: 100 godini

Glavno Mjuftijstvo, 2011, 17.94 Jusufova, Isljamskoto religiozno, 219; Mjusjulmani, Juli 1999, 1; Interview mit Vedat Ahmed, Oktober

2010.95 Objava za priem na duhovnite učilišta, in: Mjusjulmani, Juli 2002, 5; Siehe mehr dazu die Homepages

der geistlichen Schulen.

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Tabelle 2: Absolventen der islamischen Sekundärschulen in Šumen, Ruse und Momčilgradim Zeitraum 1996-2009

Jahr Šumen Ruse Momčilgrad

Jungen Mädchen Gesamt Jungen Mädchen Gesamt Jungen Mädchen Gesamt

1995 – 1996 15 - 15 16 19 35 21 - 211996 – 1997 53 - 53 20 15 35 35 - 351997 – 1998 45 - 45 28 5 33 24 - 241998 – 1999 20 - 20 10 8 18 12 - 121999 – 2000 - - 16 11 17 28 22 - 222000 – 2001 22 - 22 18 23 41 32 - 322001 – 2002 16 - 16 11 26 37 30 - 302002 – 2003 18 - 18 13 13 26 29 - 292003 – 2004 16 12 28 11 17 28 29 17 462004 – 2005 20 19 39 15 13 28 46 26 722005 – 2006 14 14 28 17 15 32 24 12 362006 – 2007 17 12 29 12 12 24 32 14 462007 – 2008 10 9 19 6 5 11 25 15 402008 – 2009 7 11 18 3 1 4 7 12 19

Gesamt: 273 77 366 212 222 434 368 96 464Quelle: Angabe der Bildungsabteilung des Muftiamtes vom 15. Oktober 2010.

Ende 2006 wurde eine partielle Reform durchgeführt, indem die Zahl der Gastdozenten ausder Türkei reduziert wurde.96 Alle drei Schulen bekamen neue Direktoren, bei denen es sichum Vertreter der lokalen Gemeinden handelte.97 In Ruse und Šumen waren es bulgarischeTürken, in Momčilgrad war es ein Pomake. Die stellvertretenden Direktoren der Schulenkommen weiterhin aus der Türkei. Neben den regulären Lehrern gibt es noch Pädagogen,die sogenannten Erzieher, die für die Organisation des Alltages in den Schulen verantwort-lich sind. Was die Schülerschaft betrifft, so haben über 70% der Schüler in Momčilgradpomakischen Hintergrund, in Ruse und Šumen sind es vorwiegend bulgarische Türken(Sunniten und Aleviten) sowie in begrenzten Umfang auch Pomaken. Wie dem Profil derSchulen zu entnehmen ist, stellt der gesamte pädagogische Prozess eine Einheit dar, beidem neben Wissen auch moralische Werte vermittelt werden sollen. Anlässlich religiöserFeste, wie dem Kurban-Bairam oder den Tag des Propheten, nehmen die Schüler an spezi-ellen Programmen teil. Jährlich werden Wettbewerbe in Koranrezitation sowie Vortagenvon hadithen organisiert. Die Schüler und Schülerinnen führen während der Sommermona-te Korankurse in benachbarten muslimischen Orten durch.98 In den Schulen besteht Uni-formpflicht. Muslimische Kleidung ist nicht obligatorisch, sie wurde jedoch für diejenigen,die sich islamisch kleiden wollen, in die Uniform integriert (Kopftuch und längere Röcke

96 Vedat Ahmed, Promenite v duhovnite ni učilišta, in: Mjusjulmani, März 2007, 30-31.97 Ebda.98 Za nas, in: <http://sodu-ruse.com/za-nas/> (20.11.2012).

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für die Mädchen). Bei schulischem Austausch – wie Wettbewerbe, Seminare und Exkursio-nen – ist eine Orientierung zur Türkei nach wie vor deutlich ausgeprägt.99 Im Juli 2012bekam die Schule in Momčilgrad ein neues Gebäude, das durch das Diyanet finanziertwurde.100

Obwohl die Lehrpläne der geistlichen Mittelschulen mit den Kriterien des Ministeriumsfür Bildung abgestimmt sind und die erworbenen Diplome relativ gute Weiterbildungs- undBerufschancen ermöglichen, scheint es, dass diese Bildungseinrichtungen auf kein besonde-res Interesse gestoßen sind. Analysiert man die Zahlen der Schüler und Schülerinnen, diezwischen 1995 und 2009 die geistlichen Mittelschulen besucht haben, kann feststellt wer-den, dass sie nicht besonders hoch waren und im Laufe der Jahre sogar eine leichte Redu-zierung erfahren haben. Nur selten wurde die Grenze von 20 Neuschülern zum Beginneines Schuljahres überschritten. Im Schuljahr 2008/09 waren es an der Schule in Ruse nur 4Personen, die dort neu aufgenommen wurden (Tabelle 2). Wenig vorhandenes Interesse aneiner kombinierten Ausbildung (säkular/religiös) sowie die religiös-konservative Erziehungin den Schulen könnten hier als Gründe genannt werden. Für Schüler und Schülerinnen,deren Muttersprache nicht das Türkische ist, ist zudem problematisch, dass ein Teil derreligiösen Fächer in türkischer Sprache und (mit einigen Ausnahmen) von Lehrern aus derTürkei unterrichtet wird.101 In den Schulen in Šumen und Ruse wird Türkisch als Mutter-sprache angeboten. Darüber hinaus lässt sich ein deutliches Übergewicht der bulgarischenTürken unter dem Lehrpersonal feststellen. In Momčilgrad, wo über der Hälfte der SchülerPomaken sind, sind zwar der Direktor sowie einige der Lehrer Pomaken. Hauptfächer, wiebulgarische Literatur, werden jedoch durch bulgarische Türken unterrichtet. Während derForschungsaufenthalte wurde der Autorin in diesem Zusammenhang in der Region derZentral-Rhodopen berichtet, dass es keine Ausnahme darstelle, dass Schulaufsätze im Fach„bulgarischer Literatur“ in türkischer Sprache verfasst werden:102

„Dadurch leidet die Qualität der Ausbildung. An den geistlichen Mittelschulen, ähn-lich wie am Islamischen Hochschulinstitut in Sofia, dominiert das Türkische. InMomčilgrad wird sogar im Fach ‚Bulgarisch‘ nicht selten Türkisch gesprochen.Wenn Aufsätze geschrieben werden, verwenden einige der Schüler die türkischeSprache. Auch am Islamischen Institut wird ein Teil der Fächer in Türkisch unter-richtet. Am Ende können die Schüler weder Bulgarisch noch Türkisch richtig lernen.Das ist eine schizophrene Situation. Deshalb bevorzugen einige von uns [Rudozem,Pomaken, J.T.-S.] sich direkt in der Türkei zu bewerben. Dort wird in den erstenJahren die Sprache gelernt. Ich frage mich auch, warum am Islamischen Institut inSofia Geschichte der Türkei unterrichtet wird. Geschichte ist gut, aber warum ausge-rechnet die der Türkei?“103

99 Siehe u.a. Uspešno predstavjane na meždunarodno sastezanie, 22.05.2012, unter <http://www.sodu-momchilgrad.com/2012/05/> sowie die Homepages der Schulen.

100 Nova pridobivka v obrazovatelnata sisteme na Mjusjulmanskoto izpovedanie, in:<http://www.grandmufti.bg/en/bulgaria/2563-2012-07-09-15-19-03.html> (20.11.2012).

101 Ahmed, Promenite v duhovnite, 31.102 Gruppeninterview mit muslimischen Frauen in Rudozem im September 2011.103 Hadžer, September 2011, Rudozem.

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Das Muftiamt: Aktivitäten und Kernbereiche104

Auch ehemalige Schüler des geistlichen Gymnasiums in Momčilgrad teilten mit, dass siesich durch ihre Ausbildung dort „turkisiert“ fühlten und statt guten Religionsunterricht zuerhalten, werde ihnen eine „türkische“ Vision des Islam aufgedrängt.104 Dies alles führtedazu, dass Vertreter der pomakischen Gemeinschaft herabwürdigend von „türkischen“ statt„religiösen“ Schulen sprachen.105

Um eine Lösung für das „sprachliche Problem“ zu finden, schlug der Leiter der Bil-dungsabteilung des Muftiamtes, Hjusein Karamola, Ende 2006 vor, dass Schüler aus denRhodopen, die der türkischen Sprache nicht mächtig sind, nur an der Schule in Momčilgradund nicht mehr an den geistlichen Schulen in Šumen und Ruse aufgenommen werden soll-ten.106 Dieser Vorschlag sorgte jedoch ebenfalls für Unzufriedenheit. Eltern, die daran inte-ressiert waren, dass ihre Kinder die türkische Sprache erlernen, fühlten sich dadurch dis-kriminiert und protestierten dagegen.107 Trotz diesen Reaktionen ist festzustellen, dass vielePomaken mit dem angebotenen Unterricht an den geistlichen Mittelschulen nicht zufriedensind. Wenn man berücksichtigt, dass in den letzten Jahren ein großer Teil der Schüler anden drei islamischen Mittelschulen Pomaken waren und die Religion für die Identitätsfin-dung dieser Bevölkerungsgruppe von besonderer Bedeutung ist, so kann die Vernachlässi-gung der oben dargestellten Probleme weiterhin zur Unzufriedenheit führen. Es ist keinZufall, dass gerade Vertreter dieser Bevölkerungsgruppe häufiger darum bemüht sind, ei-nen alternativen Weg zu suchen, um eine religiöse Ausbildung zu erhalten.

Schulen für Prediger und VorbeterUm den Bedarf an Fachpersonal für den Betrieb der Moscheen zu decken, wurden seit den1990er Jahren die sogenannten Imam-Hatip-Schulen gegründet. Das sind private speziali-sierte Einrichtungen, die vorwiegend islamische Studienfächer anbieten. Diese Einrichtun-gen sind auf der Basis des Religionsgesetzes (Art. 6 und 7) gegründet und somit demMuftiamt unterstellt. Sie müssen aber auch bei der Direktion für religiöse Angelegenheitenangemeldet werden.108 Im Verlauf der letzten Dekade wurden solche private Einrichtungenin Ustina, Delčevo, Sărnica, Bilka, Luljakovo, Sliven und Rudozem errichtet. Die Dauerder Ausbildung sowie die Anzahl der Auszubildende haben sich im Verlauf der Zeit we-sentlich verändert. Einige der spezialisierten Schulen haben ihre Tätigkeit nach kurzer Zeitunterbrochen, andere bieten ihre Kurse nur unregelmäßig an und noch andere haben nacheinen Wechsel des Führungspersonals ihren Betrieb wiederaufgenommen.

Zu den bekanntesten privaten Einrichtungen dieser Art zählt die 2002 in Ustina (Plo-vdiv-Bezirk) gegründete Schule für Imame. Die Ausbildung dort dauerte zunächst zweiJahre und die ersten 37 Absolventen haben im Jahr 2004 ihre Diplome als Imam-Hatiperlangt.109 13 der Absolventen setzten ihre Ausbildung in der Türkei fort, andere wurden alsImame und Hatipe in Bulgarien tätig. 2004 betrug die Anzahl der Teilnehmer 53 Personen.

104 Interview mit Hajri Šerifov im September 2011, Rudozem.105 Insbesondere in Rudozem- und Smoljan-Regionen wurde der Ausdruck im Verlauf der Forschungs-

aufenthalte (2009-2011) von pomakischen Muslimen verwendet.106 Ahmed, Promenite v duhovnite, 31.107 Ebda. Interview mit Hjusein Karamola im Oktober 2011. Karamola berichtete, dass es sogar eine

Anklage wegen „Diskriminierung von Schülern“ gegen ihn gab.108 Interview mit Georgi Krastev im Oktober 2010.109 Jusufova, Isljamskoto religiozno obrazovanie, 227f.

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Islamische Bildung und Erziehung 105

Neben klassischen islamischen Unterrichtsfächern wie Koran- und Koranwissenschaft,Hadithwissenschaft, Prophetenbiographie, Dogmatik und islamischen Recht werden hierGeschichte des Islam und Religionsgeschichte, Ethik, Rhetorik, Pädagogik sowie osmano-türkische und türkische Sprache angeboten. Insgesamt wurden 15 Fächer gelehrt. Ausbil-dung, Verpflegung und Unterkunft werden den Teilnehmern kostenlos zur Verfügung ge-stellt. Die Lehrer haben ihre Ausbildung entweder an islamischen Fakultäten in der Türkeioder am Obersten Islamischen Institut in Sofia abgeschlossen. Als Sponsor der Schuleagierte unter anderem die bulgarische Stiftung für Freundschaft und Bruderschaft AhmedDavudoglu.110 Seit 2005 arbeitet die Schule in Ustina nur unregelmäßig und die Dauer derAusbildung wurde auf zwölf Monate reduziert.111 Neben der regulären Ausbildung bietetsie auch kurzzeitige (ein bis drei Monate) Weiterbildungskurse für Imame an.112

Die Schule in Sărvica (Pazardžik-Bezirk) wurde 1999 eröffnet. Seit 2006 steht sie unterder Ägide des Muftiamtes. Die Ausbildung dauert neun Monate.113 Auch hier werden isla-mische Disziplinen wie Koranrezitation und Koranexegese (tafsir), Dogmatik (kelam),islamisches Recht (fiqh), Prophetenbiographie (sira) und Hadithwissenschaften (hadith),Rhetorik sowie PC-Kenntnisse unterrichtet. Unterricht und Verpflegung sind kostenlos.Innerhalb der ersten sechs Jahre haben dort ca. 100 Personen ihre Ausbildung abgeschlos-sen, wobei einige von ihnen als Imame, andere als Koranlehrer arbeiten.114 Die undurch-sichtige Finanzierung der Schule sowie die Tatsache, dass drei der Lehrer in Saudi-Arabienstudiert haben, sorgten jedoch dafür, dass die Schule einen „fundamentalistischen“ Ruferhielt.115 Darüber hinaus wurde dem Leiter der Schule, Said Mutlu, vorgeworfen, Kontaktezu der in Bulgarien inzwischen verbotenen saudi-arabischen Stiftung Al Waqf al Islami zupflegen. Der Direktor der Schule selbst betonte wiederholt vor den Medien, dass es nichtrichtig sei, dass diejenigen, die in Saudi-Arabien studiert haben, einen anderen Islam predi-gen. Die Lehrprogramme für alle Imam-Schulen seien zudem gleich und sie würden durchdas Muftiamt bestimmt.116 Am 26. September 2012 wurden Said Mutlu und 12 weitereImame wegen des „Predigens antidemokratischer Ideologie“ sowie der Mitgliedschaft in

110 Interview mit Vedat Ahmed, einer der Gründer der Stiftung, im September 2011. Auch wenn derName der Stiftung eine Assoziation mit dem damaligen türkischen Außenminister, Ahmet Davutoğlu,mit sich bringt, ist das nicht der Fall. Ahmed Davudoglu (1912-1983) war ein bekannter bulgarischerGelehrter, der die Medrese in Šumen absolvierte und seine Ausbildung an der Al-Azhar-Universität inKairo fortsetzte. 1942 kam Davudoglu nach Bulgarien zurück und unterrichtete an der Medrese inŠumen, deren Direktor er wurde. 1945 wurde er unter dem Vorwurf ein Agent zu sein, verhaftet, vorsKriegsgericht gestellt und anschließend in ein politisches Lager verbracht. 1949 emigrierteDavudoglu in die Türkei.

111 Der Grund dafür ist, dass es nicht genügend Interessierte gibt. Interview mit dem Sekretär desMuftiamtes, Hjusein Hafazov, im Oktober 2010.

112 Započna novata učebna godina v Kursa za imami v s. Ustina, 15. Januar 2013, in:<http://www.grandmufti.bg> (5.11.2013).

113 Objava, Kurs za Imam-Hatipi gr. Sărnica, in: Mjusjulmani, April 2005, 30.114 Jusufova, Isljamskoto religiozno, 229.115 Pavlina Živkova, Zatvoriha isljamskoto učilište v Sărnica, in: Monitir, 17. Oktober 2006; Direktora

na učilišteto v Sărnica Said Mutlu: Iskame da se prestane sas spekulaciite, in: Monitor, 06. Oktober2005; Ruslan Jordanov, Običajnite zapodozreni ot Sărnica, in: Standart, 26 November 2010;Isliamskite učilišta ne sa tova koeto sa, in: Kapital, 21 August 2004.

116 Direktora na učilišteto v Sărnica. Siehe dazu noch Emil Koen, Tehnologija na straha, in: Obektiv,Helzinski komitet, Nr.120, 2005, 6.

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Das Muftiamt: Aktivitäten und Kernbereiche106

der in Bulgarien nicht registrierten Organisation Al Waqf al Islami durch die Staatsanwalt-schaft in Pazardžik angeklagt.117

Ein Kurs für Imame wurde ferner in Delčevo angeboten (Razgrad-Bezirk). Das beson-dere dieser Bildungseinrichtung ist, dass sie im Jahr 2000 von Anhängern der in der Türkeiunter dem Namen Süleymanci bekannten neo-bruderschaftlichen Bewegung gegründetwurde.118 Bis 2004 wurden hier Korankurse angeboten, wobei die Lehrer vorwiegend ausder Türkei kamen.119 Seit 2004 finden keine Korankurse mehr statt und ein Teil des Kom-plexes wurde in ein Wohnheim umfunktioniert, an dem nunmehr Kurse für Hafuzen (Me-morierer des Korans) angeboten werden. Unabhängig davon wurde 2005 im selben Bil-dungskomplex ein Ausbildungszentrum für Imame durch das Muftiamt eröffnet.120 DieAusbildung dauert 12 Monate. Parallel dazu veranstaltet das Muftiamt auch kurzzeitige(zweimonatige) Weiterbildungskurse.121 Kurzzeitige Kurse für Imame wurden auch ananderen Orten wie Momčilgrad, Šumen und Rudozem durch das Muftiamt angeboten.

Schule für Hafuzen, Korankurse und islamische SeminareSeit 1999 gibt es in der rhodopischen Stadt Madan eine Schule für Hafuzen. Die Schule istin der zentralen Moschee von Madan untergebracht und verfügt über ein Pensionat. Hierwidmen sich die zukünftigen Hafusen innerhalb mehrerer Jahre dem Memorieren des Ko-rans.122 Das Memorieren des Korans ist unter bulgarischen Muslimen sehr geschätzt undgilt als Wahrzeichen ihrer muslimischen Identität. Parallel dazu können die Teilnehmer, diesie sich im Schulalter befinden, säkulare Schulen in Madan oder der Umgebung besuchen.Die Wiedereröffnung der Schule, die es bereits in der Zwischenkriegszeit in dieser Regiongab, geht auf die Initiative des Direktors des Zentrums für Hazufen, Šefket Hadži, zurück.Als er im Jahr 1998 das Amt des Imams in der Zentralmoschee von Madan übernahm, hatteer die Idee, die Tradition des Memorierens des Korans wiederzubeleben:

“In der Zeit als unsere Väter und Großväter als Hafuzen ausgebildet wurden, warMadan nicht der einzige Ort, an dem es eine solche Ausbildung gab. Die Geschichtehat jedoch gezeigt, dass diese Tradition zu verschiedenen Zeiten und an verschiede-nen Orten in Bulgarien stärker oder schwächer wurde, hier hat sie nie aufgehört.“ –berichtete der Direktor des Zentrums für Hazufen, Šefket Hadži.123

117 Siehe dazu stellvertretend: Julijana Metodieva, Koj plašta akciite na DANS?, in: Obektiv, Helzinskikomitet, November 2012 sowie Kapitel „Zwischen religiöser Erneuerung und innererDiversifizierung“, Fazit.

118 Wenig bekannt ist, dass Delčevo der Geburtsort des Gründers der Bewegung, Scheich SüleymanHilmi Tunahan, ist. Siehe dazu Kapitel „Türkische Präsenz auf dem Balkan“.

119 Jusufova, Isljamskoto religiozno obrazovanie, 229f.120 Započna nov opresnitelen kurs za imami v Delčevo, 18 Januar 2013, unter

<http://www.grandmufti.bg/en/bulgaria/3109-zapochna-nov-opresnitelen-kurs-za-imami-v-s-Delčevo.html> (6.11.2013).

121 Uspešno priključi dvumesečnija kurs za imami v s. Delčevo, 07. Mart 2013, unter<http://www.grandmufti.bg>; Hjusein Hafazov, govoritel na Glavno Mjuftiistvo: Daržavata znaekakvo se slučva v našite obučitelni bazi, in: Ekip 7, 20 März 2009.

122 Interview mit einem der Lehrer, Bajram Ušev, im Oktober 2010.123 Bejnur Sjulejman, Lesno e staneš hafaz, trudno e da go zapaziš za cjal život, in: Zaman, 20

September 2010.

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Islamische Bildung und Erziehung 107

Das Oberste Muftiamt unterstützte die Idee und finanzierte die Schule. 2010 wurden hier 24Schüler ausgebildet (Abb. 2). Der jüngste ist 8, der älteste 32 Jahre alt. Die Ausbildungszeitist sehr unterschiedlich. Einige der Schüler brauchen für das Memorieren des Korans zwei-einhalb, andere vier oder fünf Jahre. Während des Ramadan übernehmen einige von ihnendie Verpflichtung, als Koranrezitatoren in den nahe gelegenen Orten.124 Eine Filiale derSchule wurde 2003 in Čepinci (Smoljan-Gemeinde) eröffnet. Kurse für Hafuzen werdenferner in den von den Süleymanci geführten Schulen in Bilka, Ljulyakovo und Delčevoangeboten. Bulgarische Hafuzen nehmen an internationalen Wettbewerben für Koranrezita-tionen in Kroatien, Russland, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Sudan, Saudi-Arabien,Iran, Ägypten, Libyen und Iran teil.125

Abb. 2: Schule für Hafuzen, Madan 2014.

Eine weitverbreitete Form der Vermittlung islamischen Wissens, die sich nicht an zukünfti-ge Geistliche, sondern an breite Teile der muslimischen Bevölkerung richtet, sind die Ko-rankurse. Dies sind Kurse, in denen besonders in den Schulferien oder am WochenendeKoranrezitation und religiöse Grundkenntnisse an Kinder im frühen und mittleren Schulal-

124 Sjulejman, Lesno e staneš hafaz. Siehe noch Mjuslimnani, Juni 2005, 32.125 Izvănrednata mjusjulmanska konferencija, in: Mjuslimnani, Oktober 2009, 32-34; Učastie v

meždunarodno sastezanie po četene na koran, in: Mjusjulmani, Juli 2012, 16.

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Das Muftiamt: Aktivitäten und Kernbereiche108

ter vermittelt werden. Gewöhnlich finden sie in einer Moschee statt und die Organisationobliegt dem Muftiamt. Dies ist jedoch eine relativ neue Tendenz. Insbesondere in den1990er Jahren war es für jeden Imam, jedes Mitglied des Gemeinderates oder einfach füreine Gruppe von Gläubigen möglich, einen Lehrer für Koranunterricht zu bestimmen. DieFinanzierung erfolgte teils durch die lokalen muslimischen Gemeinden, teils durch Stiftun-gen. In den Jahren 2001 und 2002 wurden zum Beispiel ca. 80 Korankurse durch die saudi-arabischen Stiftungen Taiba und Nedua finanziell unterstützt, an denen mehr als 1.100Kinder teilnahmen.126 Zu dieser Zeit arbeiteten die erwähnten Stiftungen eng mit demMuftiamt zusammen und wurden bei der Direktion für religiöse Angelegenheiten offiziellregistriert. Welche anderen Organisationen oder Individuen einen Beitrag bei der Vorberei-tung oder Durchführung des Koranunterrichts leisteten, kann aus heutiger Sicht empirischnicht mehr erfasst werden.

Gegenwärtig werden die Korankurse von Lehrern geleitet, die in der Regel vomMuftiamt angestellt oder zumindest dort bekannt sind.127 Hierbei handelt es sich entwederum die Imame der lokalen Moscheen oder um Absolventen, Studenten und Schüler desObersten Islamischen Instituts sowie der geistlichen Mittelschulen. Ihr Gehalt wird vomMuftiamt bezahlt,128 wobei ein wesentlicher Anteil der Mittel durch den sogenannten „Fondislamischer Bildung“ (Spenden durch die Bevölkerung) gewonnen wird.129 2008 wurdeneinheitliche Lehrprogramme für alle Korankurse, die in den Sommerferien stattfinden,eingeführt. In Vorbereitung sind Schulbücher, die von einer 2012 durch das Muftiamt beru-fenen Kommission ausgearbeitet werden.130

Die vom Muftiamt organisierten Korankurse werden entweder während des ganzen Jah-res (am Wochenende und nachmittags) oder in den Sommerferien angeboten. Unterrichtetwerden Koranrezitation, Grundkenntnisse des Islam und ethische Verhaltensregeln.131 Dadie Schüler nicht nur unterschiedlichen Alters sind, sondern auch über unterschiedlicheVorkenntnisse verfügen, ist das Niveau der religiösen Bildung relativ niedrig. SportlicheAktivitäten und Freizeitgestaltung – Ausfluge, Exkursionen etc. – werden ebenfalls angebo-ten.132

126 Vtoro nacionalno sastezanie na celogodišnite koran-kursove, in: Mjusjulmani, Oktober 2002, 1. Zuden Stiftungen Taiba und Nedua vgl. Kapitel V.

127 Interview mit dem Leiter der Abteilung Iršad, Mustafa Izbištali, am 15. September 2011. Siehe dazunoch: Okolo 600 deca šte se vključat v letnite Koran-kursove v oblast Smoljan, 07 Juli 2011, in:<http://www.genmuftibg.net/bg/news-from-bulgaria/1576--600-.html> (20.11.2012).

128 Seit 2009 übernehmen diejenigen Imame, die vom Muftiamt angestellt sind, zugleich die Verpflich-tung Korankurse durchzuführen. Studenten des Obersten Islamischen Instituts sowie Schüler der is-lamischen Mittelschulen werden vorwiegend in den Sommermonaten mit einen Honorar von 100 bis150 Lv (50-70 Euro) als Lehrer eingestellt. Angaben des Leiters der Abteilung Iršad, Izbištali, vom15. September 2011.

129 Obrazovanie, in: Informacionen Bjuletin za 2010, Glavno mjuftijstvo na mjusjulmanite v RepublikaBălgarija, Sofia 2011, 13.

130 Komisijata za Koran kursovete šte izgotvi učebno pomagalo, 30. März 2012, in:<http://www.genmuftibg.net/bg/news-from-bulgaria/2232.html> (22.11.2012).

131 Programa za letnite Koran-Kursove, Glavno mjuftiistvo, Juni-August 2010.132 Srešti s imamite i prepodavatelite v oblast Snoljan pred praga na letnite Koran-Kursove, Juni 2011,

in: <http://www.grandmufti.bg/bg/news-from-bulgaria/1560-2011-06-29-07-30-07.html>(20.11.2012).

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Islamische Bildung und Erziehung 109

Die Anzahl der Korankurse ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen und ist in-zwischen die populärste Methode der Vermittlung islamischen Wissens. Lag die Zahl derSommer-Korankurse im Jahr 2005 bei 250, so stieg sie 2008 auf 507 und 2010 auf 602.133

Im Jahr 2010 nahmen über 9.000 Kinder daran teil. Von den insgesamt 602 Korankursen,die es im Jahr 2010 gab, waren weniger als 10% Ganzjahrkurse.134 Nach dem Abschluss derSommerkurse finden Wettbewerbe auf regionaler und nationaler Ebene statt.135

Tabelle 3: Teilnahme an den Korankursen für den Zeitraum 2005-2012

Jahr Kurse Teilnehmer2005 250 4.1982006 400 7.2402007 450 7.2862008 507 7.7632009 526 8.4052010 602 9.0302011 671 -2012 650 -

Quelle: Mjusjulmani, Oktober 2009, 32-34; Informationen Bjuletin 2010, 14.;Informationen Bjuletin 2011, 16; Informationen Bjuletin 2012, 21.

Neben den vom Muftiamt angebotenen Kursen ist es auch möglich, dass eine Gruppe vonGläubigen einen Mitbewohner (Hodža) oder eine Mitbewohnerin (Anna) beauftragt, denKoran-Unterricht durchzuführen. Die Bezahlung wird in diesem Fall durch die Gruppeselbst geregelt. Diese Art vom Unterricht richtet sich an Kleinkinder (Vor- oder frühesSchulalter) und findet in Privatwohnungen statt.136 Hierbei handelt sich vorwiegend umsoziale Netzwerke, die bei Fragen der Kindererziehung wie auch der Religionsausübungaktiviert werden, als um konventionelle „Korankurse“. Im Dorf Bărčevo (Rudozen Ge-meinde) zum Beispiel bringen einige der Eltern ihre Kinder zu einer der Frauen im Dorf,die für ihre Frömmigkeit und Islam-Kenntnisse unter den Dorfbewohnern Anerkennunggenießt und als „Anna“ bezeichnet wurde. Eltern und Lehrerin bilden ein soziales Netzwerkund unterstützen sich gegenseitig bei verschiedenen Arten von alltagsorientierten Proble-men.

133 Muslimnani, Oktober 2009, 32-34; Informacionen Bjuletin za 2009, 18-19; Informacionen Bjuletin za2010, 14.

134 Interview mit Mustafa Izbištali (Iršad-Abteilung des Muftiamtes) im September 2011.135 Informacionen Bjuletin za 2010, 14.136 Teilnehmende Beobachtung während der Feldforschungsaufenthalte in Südbulgarien, Oktober 2010.

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Abb. 3: Dorf Bărčevo, 2010. Rechts in der Mitte befindet sich die Anna, die den Koran-Unterricht derKinder durchführt.

Islamische Seminare und religiöse Vorträge sind weitere, weit verbreitete Formen religiöserUnterweisung, die sich an Erwachsene richten. In der Regel werden die Seminare gegen-wärtig vom Muftiamt angeboten. Zu diesem Zweck wurde 2010 eine Iršad-Abteilung (Re-ligiöse Wegweisung) beim Muftiamt gegründet, die für die Organisation und Durchführungsolcher Kurse zuständig ist.137 Die Seminare dauern gewöhnlich einige Wochen und vermit-teln Grund- und Spezialkenntnisse über den Islam.138 Parallel dazu werden religiöse Vor-träge zu verschiedenen Themen in Regionen mit muslimischer Bevölkerung, angeboten. Siefinden nicht nur in der Moschee sondern auch in Kulturhäusern (čitaliste) sowie weiterenVeranstaltungsräumen statt. Hierbei wird die Konkurrenz zwischen den religiösen Anbie-tern sichtbar. Muslimische Intellektuelle, die nicht zu den Strukturen des Muftiamts gehö-ren, bedienen sich ebenfalls dieses Mittels, um andere Muslime zu erreichen. Einige derVorträge werden auf CD aufgenommen, andere im Internet veröffentlicht. Die Grenzenzwischen der Vermittlung islamischen Wissens und islamischer da’wa (Mission) sindmanchmal fließend. Gerade anhand dieser Vorträge, bei denen es um eine Mischung zwi-

137 Izbištali, September 2011; Informacionen Bjuletin 2010, 15f.138 Glavno Mjuftiistvo provede seminari za mjusjulmanki, in: Informacionen Bjuletin 2011, Glavno

mjuftijstvo na mjusjulmanite v Republika Bălgarija, Sofia 2012, 19. Zahlreiche Informationen findensich auf der Homepage des Muftiamtes unter <http://www.grandmufti.bg/bg.html>.

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Islamische Bildung und Erziehung 111

schen Predigt, gesundheitlichen und gesellschaftlichen Fragen geht, wird der Prozess derPluralisierung innerhalb der Gemeinschaft der bulgarischen Muslime am deutlichsten sicht-bar.

Islamische Bildungseinrichtungen: SchlussbetrachtungDie Entstehung sowie die erreichte Resonanz spezialisierter islamischer Bildungseinrich-tungen im postkommunistischen Bulgarien kann nur im Kontext der Veränderungen nach1989 verstanden werden. Insbesondere in den ersten Jahren nach der politischen Wende gabes in den muslimisch besiedelten Gebieten des Landes einen akuten Mangel an Moschee-personal und außer einigen Hodžas gab es nur wenige Muslime, die islamischen Unterrichterteilen konnten. Deshalb wurde von der Verwaltung der muslimischen Gemeinschaftnichts unversucht gelassen, um Aus- und Weiterbildungskurse anzubieten. Die ersten isla-mischen Kurse, die angeboten wurden, dauerten ein bis zwei Monate, manchmal sogar nureinige Wochen.139 Als „Notlösung“ wurden sie in den Ferienzeiten an bereits vorhandenenBildungszentren (z.B. an geistlichen Mittelschulen) durchgeführt. Zum Teil handelte es sichbei den in den 1990er Jahren eingesetzten Lehrern selbst um Auszubildende, die erst einigeSemester an einer Universität im Inland oder Ausland (u.a. Medina und Istanbul) hinter sichgebracht hatten.140 Es war auch keine Ausnahme, dass islamische Seminare und Kurse vonausländischen Lektoren, die aus der Türkei oder arabischen Ländern kamen, durchgeführtwurden.141 Dies lief nicht ohne Probleme, da gerade Geistliche aus dem Ausland schnellunter Verdacht gerieten, nichttraditionelle Deutungen des Islam zu lehren.142

Die Qualität und Ausrichtung der Bildungsangebote dieser Zeit lässt sich aufgrund dernur spärlich vorhandenen empirischen Daten kaum objektiv beurteilen. Teilnehmer islami-scher Kurse in den 1990er Jahren berichten, dass diese Veranstaltungen nicht nur grundle-gende Islamkenntnisse vermittelten sondern auch zur Reflektion über die eigene Religionführten. So erzählte Sabri Fazlijski aus dem Dorf Bărčevo, der 1994 ein einwöchiges Semi-nar in Pleven143 besuchte:

„Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich gehört „Was der Islam ist“, und „Wa-rum er für mich wichtig ist“. Damals war ich Schüler in der 8. Klasse. Bis dann gabes bei uns keinen, der mir den Islam erklären konnte. Nur der Hodža und meineOma. Meine Oma sagte zu mir ‚Du solltest religiös und ein guter Mensch sein‘.Wasdas bedeutet, das wusste ich aber nicht. Während des Seminars habe ich über dieGeschichte des Islam und über die Propheten gehört. Das alles hat mein Interesse

139 Kurs za imami v Nüvvab, Šumen, in: Mjusjulmani, Juli 1999, 2.140 So unterrichteten zum Beispiel während des einmonatigen Seminars für Imame im Juli 1999 in

Šumen Studenten der Universitäten in Medina und Istanbul. Siehe dazu: Kurs za imami v Nüvvab,Šumen, in: Mjusjulmani, Juli 1999, 2. Bis in die Gegenwart (2013) werden Studierende des OberstenIslamischen Institutes sowie Schüler der geistlichen Mittelschulen während des Monats Ramadan undin den Sommermonaten als Imame, Muezzins und Religionslehrer eingesetzt.

141 Seminar na fondacja Taiba, in: Mjusjulmani, Juli 1999, 2; Bjuletin na bălgarskoto veroizpovedanie za1997-2000. Siehe dazu noch das Kapitel „Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen“.

142 Siehe dazu weiterführendes Kapitel „Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen“.143 Das Seminar in Pleven fand unter Führung des Muftiamts statt und wurde durch die internationale

Organisation World Assembly of Muslim Youth (WAMY) finanziert.

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geweckt. Die Flamme wurde entzündet. So habe ich mir Fragen über meine eigeneReligion gestellt.“144

Viele der islamischen Kurse, die in den ersten Jahren nach der politischen Wende in den1990er Jahren durchgeführt wurden, standen offiziell unter der Ägide des Muftiamts. IhreOrganisation war jedoch undurchsichtig und sie wurden durch verschiedene Stiftungenfinanziert. Seit dieser Zeit bemüht sich die Verwaltung der bulgarischen Muslime, dieLehrangebote möglichst unter eigene Kontrolle zu bringen. So ist es seit 2003 für islami-sche Akteure, die in Bulgarien nicht registriert sind, nicht mehr möglich, ohne die Erlaubnisdes Muftiamtes Religionsunterricht durchzuführen.145 Regelmäßige Treffen der Imame undder Religionslehrer sowie die Einführung einheitlicher Programme für die Koran- undImam-Kurse sollten hierbei zu einer Vereinheitlichung im Bereich der islamischen Bildungführen. 2010 wurde eine Verordnung für Imame und Vaizen erarbeitet.146 Zum ersten Malseit 60 Jahren wurden tätige Imame aufgefordert, sich vor einer vom Muftiamt zusammen-gestellten Kommission einer Prüfung zu unterziehen. Für diejenigen, deren Qualifikationals „unzureichend“ eingestuft wurde, wurden Weiterbildungskurse angeboten.147 DasMuftiamt zögerte nicht, Stärke zu zeigen, indem es diejenigen, die nicht an den Kursenteilnahmen, vom Dienst suspendierte.148

Den größten Erfolg für die Verwaltung der bulgarischen Muslime innerhalb der letztenDekade stellte die Gründung der geistlichen Mittelschulen in Ruse, Šumen und Momčilgradsowie die Eröffnung des Obersten Islamischen Institutes in Sofia dar. Diese Bildungsein-richtungen vermitteln nicht nur „Reflektionen über die eigene Religion“ sondern auch sys-tematischen Unterricht, der von qualifizierten Lehrern durchgeführt wird. Ihre Lehrplänewurden mit dem Ministerium für Bildung und Wissenschaft abgestimmt und die islami-schen Mittelschulen wurden den allgemeinen Sekundarschulen im Land gleichgestellt. Inseiner Rede vor der Nationalen Muslimischen Konferenz vom 2005 kündigte der damaligeObermufti, Fikri Sali, bevor er seinen Posten an Mustafa Hadži übergab, an:

„Wir freuen uns über die jüngeren, theologisch vorbereiteten Geistlichen, von denenwir vor Jahren nur träumen konnten. Es sind an erster Stelle die Absolventen derdrei geistlichen mittleren Schulen sowie des Obersten Islamischen Institutes, dankdenen der große Bedarf an islamischen Geistlichen auf niederer und mittlerer Ebeneteilweise beseitigt werden konnte“.149

Trotz dieser Feststellung lässt sich jedoch eine Reihe von Problemen im Bereich der islami-schen Bildung weiterhin feststellen. Der Mangel an islamisch-theologischer Literatur inbulgarischer Sprache, die fehlende Akkreditierung des Obersten islamischen Instituts sowie

144 Interview mit Sabri F. am 21. Oktober 2010.145 Gesetz über die Konfessionen (Art. 27), in: Dăržaven vestnik Nr.120 vom 29. Dezember 2002.146 Informacionen Bjuletin 2010, 15; Die Verordnung ist auch auf der Homepage des Muftiamtes ein-

sehbar, unter <http://www.genmuftibg.net/bg/news-from-bulgaria/1828-2011-11-04-16-20-11.html>(09.03.2012).

147 Interview mit dem Leiter der Abteilung Iršad, Izbištali, September 2010.148 Glavno mjuftiistvo nakaza imami za neučastie v opresnitelni kursove, unter

<http://genmuftibg.net/bg/news-from-bulgaria/2557-2012-07-06-07-37-33.html> (09.03.2012).149 Da se hvanem za văžeto na Allah, in: Mjusjulmani, Januar 2005, 31.

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Islamische Bildung und Erziehung 113

die Abhängigkeit der verschiedenen Bildungseinrichtungen von ausländischen Sponsorenstellen weitere Herausforderungen dar.150 Der begrenzte Zugang zu internationalen akade-mischen Institutionen und bis auf wenige Ausnahmen die fehlende Kooperation mit ein-heimischen Universitäten hat dazu geführt, dass die islamischen Bildungseinrichtungen inBulgarien von der lokalen akademischen Entwicklung isoliert bleiben. Diese „akademischeMarginalisierung“,151 die von den Regierungen stillschweigend „ermutigt“ wurde, hatte desWeiteren zur Folge, dass eine religiöse Ausbildung an einer islamischen Universität imAusland attraktiv ist. Die Unmöglichkeit für das Oberste Islamische Institut eine reguläreAkkreditierung zu erhalten, und sich somit als vollwertige pädagogische und wissenschaft-liche Institution zu etablieren, schließt weiterhin die Tür für gemeinsame Forschungen überden Islam insgesamt und die Muslime im Land, die durch interdisziplinäre Teams von Wis-senschaftlern durchgeführt werden könnten. Eine solche Zusammenarbeit wäre jedoch nichtnur für die gleichberechtigte Teilnahme der Muslime an der bulgarischen Öffentlichkeit,sondern auch für die Stärkung der Beziehungen zwischen den religiösen Gemeinschaftenvon Bedeutung. Statt Transparenz und Zusammenarbeit sind islamische Bildungseinrich-tungen zu einem häufigen Objekt des öffentlichen Misstrauens geworden – eine Haltung,die durch kaum vorhandene Informationen über die Tätigkeit dieser Institutionen in derbulgarischen Öffentlichkeit weiter verstärkt wurde.

Widersprüche lassen sich ferner hinsichtlich der Berufschancen der Absolventen islami-scher Schulen feststellen. Einerseits gibt es inzwischen ausreichend theologisch ausgebilde-te Muslime. Andererseits ist aber der Mangel an Fachpersonal für den Betrieb derMoscheen keineswegs beseitigt. Moscheen müssen sogar geschlossen bleiben, weil es nichtgenügend Imame gibt. Der frühere Leiter der Abteilung Iržad, Izbistali, berichtete in die-sem Zusammenhang, dass die Moschee in seinem Dorf Balaska (Blagoevgrag Gemeinde)nur während der beiden Bairams oder nur selten am Freitag geöffnet wird, vorausgesetztein Imam aus der Nachbarschaft kann den Gottesdienst übernehmen. Dabei gehört dieseGemeinde zu denjenigen, die die meisten ausgebildeten islamischen Theologen hat.152 Auchder Regionalmufti von Smoljan, Hedžmi Dabov, erklärte am 20. Januar 2012 gegenüber derTageszeitung Trud, dass das Interesse an einer Tätigkeit als Imam in Bulgarien abnimmt.15 Moscheen seien in den letzten Jahren in der Smoljan-Gemeinde geschlossen worden, daes keine Imame gäbe. 2012 gab es in der Smoljan-Gemeinde ca. 100 Moscheen und 100Mesdžids (islamische Gotteshäuser ohne Minarett), die Zahl der Imame dagegen betrug nur85 Personen.153

Dieser Mangel an Imamen kann durch mehrere Faktoren erklärt werden. InsbesondereAnfang der 2000er Jahre war es keine Ausnahme, dass monatelang keine Gehälter an dieImame ausbezahlt wurden.154 Viele von ihnen haben den Beruf unentgeltlich ausgeübt,

150 Man greift aber auch zunehmend auf eigene Initiativen zurück. Die Unterstützung durch die muslimi-sche Bevölkerung reicht inzwischen aus, um die Kosten für Korankurse sowie die Honorare der Reli-gionslehrer an den öffentlichen Schulen zu decken. Siehe dazu u.a. Obrazovanie, in: InformacionenBjuletin za 2010, 13.

151 Simeon Evstatiev, Public Islam on the Balkans in a Wider Europe Context, Budpest: CentralEuropean University, 2006, 40.

152 Izbištali, September 2011.153 Zatvarjat 15 džamii v Smojansko, njama imami, in: Trud vom 20. Januar 2012.154 So bekamen nach Angaben des Muftiamtes im Jahr 2001 ca. 900 Imame (d.h. fast alle) kein Gehalt.

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Das Muftiamt: Aktivitäten und Kernbereiche114

andere wurden, soweit dies möglich war, von den lokalen muslimischen Gemeinden be-zahlt.155 Die zentralisierte Auszahlung der Gehälter wurde erst 2008 eingeführt. Dies betrafzunächst 250 Imame, die ihr Gehalt durch das Muftiamt bekamen. Im Jahr 2010 stieg ihreZahl auf 560 Personen.156 Im Jahr 2011 wurden von den insgesamt 950 Imamen, die vomMuftiamt eingestellt waren, ca. 600 (2/3 der Imame) von der zentralen Verwaltung derMuslime bezahlt.157 Die Kosten für die restlichen Imame werden entweder von den Mit-gliedern der lokalen islamischen Gemeinde getragen oder es handelte sich um Muslime, dieihrer Tätigkeit unentgeltlich nachgehen. Einen weiteren Grund für die Ablehnung des Be-rufs des Imams stellt die fehlende gesellschaftliche Anerkennung dar. Einer Ausbildung inislamischer Theologie wird häufig seitens der nichtmuslimischen Umgebung, nicht seltenaber auch von einzelnen Vertretern der lokalen Gemeinden, mit Misstrauen begegnet:

„Viele von uns meinen, dass die Ausbildung zum Imam eine Tendenz zum Funda-mentalismus in sich trägt.“ – erklärte der Regionalmufti von Smoljan in einem Inter-view im September 2011 – „Auch die Aktionen der Polizei und der Staatssicherheitgegenüber islamischen Geistlichen sorgen nicht unbedingt für die Attraktivität desBerufes.“158

Aus diesem Grund können oder wollen nicht alle Absolventen, die eine islamische Bil-dungseinrichtung besucht haben, eine berufliche Perspektive damit verbinden. Viele vonihnen bevorzugen ihre Ausbildung an säkularen Schulen fortzusetzen oder sich beruflichumzuorientieren. Für Andere dient ein religiöses Studium lediglich dazu, den eigenenGlauben zu stärken. Dies trifft insbesondere auf muslimische Frauen zu. Ihnen stehen we-niger Tätigkeitsfelder in den Strukturen der islamischen Glaubensgemeinschaft offen.

Siehe dazu: Glavno mjuftijstvo na mjusjulmanite – položenieto na mjusjulmanite, in: Mjusjulmanivom Juli 2001, 5.

155 Kurs za imami, 4.156 Informacionen Bjuletin za 2011, 15.157 Izbištali, September 2011.158 Interview mit Dabov am 15. September 2011.

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IV Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen

1. Islamischer Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen

Nachdem seit Anfang der 1950er Jahre Religionsunterricht aus den öffentlichen Schulenverbannt wurde, gewann er nach der politischen Wende wieder an Bedeutung. Die Be-zeichnung „Religionsunterricht“ bezog sich zunächst nur auf das orthodoxe Christentum,das seit dem Schuljahr 1998/1999 als frei wählbares Lehrfach angeboten wird. Ein Jahrspäter (1999/2000) wurde auch islamischer Unterricht fakultativ an 16 Gemeindeschulen1

in den Regionen mit einem bedeutenden Anteil an muslimischer Bevölkerung eingeführt.2

2000/2001 gab es bereits 68 öffentliche Schulen, an denen islamischer Religionsunterrichtdurchgeführt wurde, wobei die Schülerzahl auf 3.215 Personen stieg. Im Schuljahr2001/2002 ging die Zahl der Schüler auf 295 Personen deutlich zurück und der Unterrichtwurde auf nur 9 Schulen konzentriert. Laut einer Anordnung des Ministeriums für Bildungund Wissenschaft vom 23. Juni 2003 kann Religionsunterricht 1) auf den Wunsch derSchüler und deren Eltern, 2) in Übereinstimmung mit den vorhandenen Möglichkeiten derregionalen Gemeinde und der Schulleitung, Lehrkräfte zur Verfügung zu stellen sowie 3)gemäß dem vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft vorbereiteten Konzept für dieEinführung des Faches erfolgen.3 Der Unterricht findet in bulgarischer Sprache statt undist von den Möglichkeiten der kommunalen Träger sowie der lokalen schulischen Initiati-ven abhängig.

Für den Zeitraum zwischen 2002 und 2012 variierte die Zahl der Schulen, an denen is-lamische Lehre angeboten wurde, zwischen 21 im Jahr 2004/2005 und 53 im Jahr2007/2008. An einigen Schulen wurde islamischer Religionsunterricht auch als Wahl-pflichtfach eingeführt. Dies bedeutet, dass die entsprechende Disziplin Teil eines Fächer-kanons ist, aus dem die Schüler zur Erfüllung ihrer Schulpflicht eine vorgeschriebeneAnzahl Fächer auswählen können. So wurde islamischer Religionsunterricht im Jahr2008/2009 an 34 Schulen mit 132 Gruppen als Wahlpflichtfach und 119 Gruppen als freiwählbares Fach durchgeführt. Im Jahr 2011/2012 wurde das Fach „Religion-Islam” ent-sprechend in 26 Siedlungsorten angeboten. Unterrichtet wurde das Fach von 23 Lehrernfür 3.372 Schüler (Tabelle 4). Nach Angaben der zuständigen Abteilung des Muftiamteskonnte eine höhere Teilnehmerzahl vor allem in den Bezirken Pazardzik, Blagoevgrad undSmoljan (Südbulgarien) erreicht werden, während in anderen Regionen wie Kardžali,Šumen, Aitos, Razgrad, Dobrič, Silistra, Targovište, Plovdiv und Tarnovo, in denen eben-

1 Die öffentlichen Schulen werden entweder vom Staat oder von den regionalen Gemeinden getragen.Gemeindeschulen kommt durchaus eine Bedeutung zu: Ende der 90er Jahre befanden sich etwa 60%der öffentlichen Schulen in kommunaler Trägerschaft, die restlichen 40% in staatlicher. Vgl. Küpper,Minderheitenschutz im östlichen Europa. Bulgarien, 2003, 34, unter <http://www.uni-koeln.de/jur-fak/ostrecht/minderheitenschutz/> (12.11.2012).

2 Im ersten Schuljahr wurde der Unterricht probeweise nur in der zweiten Klasse durchgeführt.3 Anordnung des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft vom 23. Juni 2003, in: Dăržaven vestnik,

Nr.60 vom 4 Juli 2003.

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Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen116

falls ein bedeutender Anteil an muslimischer Bevölkerung vorhanden ist, kein Religions-unterricht stattfindet.4

Tabelle 4: Islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen für denZeitraum 1999-2012

Schuljahr Wahlpflichtfach frei wählbar Schüler Schulen1999/2000 - 16

2. Klasse295 16

2000/2001 - 682.-4. Klasse

3.215 68

2001/2002 Gruppen/ 7 Gruppen/ 2 678 92002/2003 5 18 2.374 232003/2004 7 24 3.453 312004/2005 7 14 3.472 212005/2006 15 12 3.497 272006/2007 16 17 3.658 332007/2008 126 128 3.810 532008/2009 132 119 3.765 342009/2010 139 90 3.435 362010/2011 94 76 2.550 242011/2012 113 79 3.372 26

Quelle: Angabe der Bildungsabteilung des Muftiamtes vom September 2011.

Der angebotene Unterricht ist bekenntnisorientiert und hat das Ziel, Kenntnisse über dieislamische Religion zu vermitteln. Die Lehrprogramme wurden zwischen 2001 und 2003von Hochschullehrern des Obersten Islamischen Institutes in Sofia sowie Theologen desMuftiamtes ausgearbeitet. So sind die Schulbücher für die zweite und fünfte Klasse vomfrüheren Obermufti Selim Mehmed, für die erste Klasse von Ridvan Kadjov, einem frühe-ren Mitglied des Obersten Muslimischen Rates, für die dritte Klasse vom Redakteur derZeitschrift Mjusjulmani, Ismail Čaušev, für die sechste vom ehemaligen Regionalmufti AliHairaddin erstellt worden. Das Lehrbuch für die achte Klasse ist vom gegenwärtigenObermufti, Mustafa Hadži, geschrieben worden. Als Vorbild sollen türkische Lehrbüchergedient haben. Die Druckkosten wurden von der türkischen Stiftung Diyanet übernom-men.5 Schulbücher und Curriculum wurden anschließend vom bulgarischen Ministeriumfür Bildung und Wissenschaft genehmigt.

4 Informacionen Bjuletin za 2008, Glavno mjuftijstvo na mjusmusmanite v Republika Bălgarija, Sofia2009, 19; Predmetăt religija-islam v bălgarskoto učiliste, in: http://www.genmuftibg.net/bg/news-from-bulgaria/2380-2012-05-14-07-06-08.html (17. Januar 2011).

5 Ibrahim Jalamov, Religiöse Erziehung der Muslime in Bulgarien, in: Ednan Aslan, IslamischeErziehung in Europa, Wien: Böhln 2009, 60-68, 66; Interview mit Hjusein Karamola im Oktober 2010.

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Islamischer Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen 117

In der ersten Klasse bekommen die Schülerinnen und Schüler Grundkenntnisse überden Islam und einige islamische Verhaltensregeln vermittelt. Das Lehrbuch für die zweiteKlasse befasst sich mit dem Leben und dem Werk der Propheten, angefangen mit Adamüber Nuh (Noah), Ibrahim (Abraham), Ismail (Ismael), Musa (Moses), Davud (David),Sjuleiman (Salomon), Luqman (Lokman) bis zu Isa (Jesus). Anschließend geht es um dieBedeutung der Moschee im Leben der Muslime sowie um die Offenbarungsbücher. Hier-bei werden neben dem Koran auch das Alte und das Neue Testament erwähnt. In der drit-ten Klasse lernen die Schüler und Schülerinnen über das Leben des Propheten Mohammedund im vierten Schuljahr werden die allgemeinen Kenntnisse anhand verschiedener The-men wie Glaube, Gebet, Almosenabgabe (zakat), Pilgerfahrt und Hygiene vertieft. DasLehrbuch für die fünfte Klasse ist der Geschichte des Islam gewidmet, wobei der Islam inBulgarien und der Islam in der Gegenwart eine besondere Berücksichtigung finden. Diesechste Lehrgangstufe ist in drei Komplexe eingeteilt: 1) Grundsätze des Glaubens (iman),2) rituelle Reinheit und Gebetspraxis (ibadet) sowie 3) islamische Sitten (ahljak). Diesiebte Klasse ist fast ausschließlich der islamischen Ethik gewidmet. Anschließend bietetdie achte Klasse Lektüre aus dem Bereich der islamischen Philosophie. Es werden Fragennach dem Sinn des Lebens sowie verschiedenen Dimensionen von Glauben und Men-schenwürde, Glück, Verantwortung, Liebe, Gewissen, Mäßung im Islam sowie Islam undWissenschaft behandelt.

Bei der Analyse der Reichweite und der inhaltlichen Gestaltung der Unterrichtseinhei-ten lässt sich kein einheitliches Konzept erkennen, wobei die einzelnen Lehrbücher zumTeil die Position des jeweiligen Autors wiedergeben. Als problematisch für die Durchfüh-rung des Unterrichts erweist sich vor allem der Umstand, dass die Teilnahme am islami-schen Religionsunterricht häufig unterbrochen wurde, sodass nur wenige Schüler undSchülerinnen alle Lehrgangstufen durchlaufen konnten. In einigen Schulen werden des-halb Gruppen aus mehreren Klassenstufen gebildet. Hinsichtlich der Lehrinhalte kannfeststellt werden, dass einige der Unterrichtseinheiten nicht der Altersstufe der Schülergerecht werden. So sind zum Beispiel in der zweiten Klasse die Geschichten über diePropheten informativ beschrieben. Sie verlangen jedoch relativ umfangreiche geografischeund historische Vorkenntnisse, die bei den Zweitklässlern kaum zu erwarten sind. Wider-sprüche sind ebenfalls keine Seltenheit. Als Beispiel für einige konzeptuelle Schwächenkann auf das in der fünften Klasse behandelte Thema „Islam in Bulgarien“ verwiesenwerden. Der Autor erklärt, dass der Islam eine der Hauptreligionen im bulgarischen Staatist. Es gibt jedoch keine weiteren Hinweise darauf, welche anderen Religionen es im Landgibt, nicht einmal welche, die mehrheitlich vertretene ist.6 Toleranz und Achtung gegen-über anderen Religionen werden dagegen mehrmals in verschiedenen Klassenstufen ange-sprochen. So heißt es in der vierten Klasse:

„Menschen anderer Überzeugungen, Handlungsweisen und Religionen sollte einMuslim mit Achtung begegnen. […] Toleranz ist eine der wichtigen Voraussetzun-gen für ein gutes, friedliches und glückliches Zusammenleben“.7

6 Selim Mehmed, Religija-Isljam. Učebno pomagalo za peti klas, Sofia 2001, 56.7 Orhan Osman, Religija-Isljam. Učebno pomagalo za četvarti klas, Sofia 2001, 48

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Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen118

Hierbei wird Toleranz aus einer islamischen Position und am Beispiel des ProphetenMohammed dargestellt und es wird kein Bezug zur Gegenwart oder dem Alltag der Schü-ler und Schülerinnen genommen. Anders in den Unterrichtstunden der 6., 7. und 8. Klasse:

“Es ist unsere Pflicht gute Beziehungen zu den nichtmuslimischen Nachbarn zu ha-ben“.8

„Der Islam verbietet Andersgläubigen Schaden zuzufügen. Noch mehr gebietet erihnen, enge Beziehungen zu den Menschen anderer Offenbarungsreligionen zupflegen sowie ihnen mit Achtung und Respekt zu begegnen. […] Toleranz ist nichtnur moralische Verpflichtung, sondern auch eine Notwendigkeit des Lebens“.9

Ein direkter Bezug auf die Situation in Bulgarien wird in der 8. Klasse hergestellt, indemdie lange Erfahrung des Zusammenlebens von Muslimen und Nichtmuslimen in Bulgarientematisiert wird.10

Was das Profil der Lehrer für den islamischen Unterricht betrifft, so handelt es sichzum größten Teil um Absolventen des Obersten Islamischen Institutes, also Personen, dieIslam studiert haben und selber Muslime sind. In Ausnahmefällen ist es auch möglich,Studierende am Obersten Islamischen Institut sowie Absolventen der islamischen Mittel-schulen einzustellen.11 Um den akuten Mangel an genügend Lehrerpersonal aufheben zukönnen, organisierte das Muftiamt – in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministeriumsowie der Sofioter Universität Kliment Ohridski – im Jahr 2002 einen Qualifizierungskurs,in dem Grundschullehrer in islamischer Theologie ausgebildet wurden.12 Die Kosten fürden islamischen Religionsunterricht werden, soweit er als Wahlpflichtfach angebotenwird, von den kommunalen Gemeinden getragen, als frei wählbare Disziplin werden sievom Muftiamt übernommen.13 Einem Interview mit dem stellvertretenden Obermufti,Vadat Ahmed, vom April 2005 lässt sich jedoch entnehmen, dass zumindest bis zu diesemZeitpunkt alle Gehälter der Lehrer vom Muftiamt auf Honorarbasis getragen wurden.14

2009 wurde eine Arbeitsgruppe beim Obersten Muftiamt in Sofia zusammengestellt, diemit der Ergänzung und Überarbeitung der Schulbücher beauftragt ist.15

Trotz aller Bemühungen, die vom Muftiamt sowie den daran beteiligten Lehrern seitEnde der 1990er Jahre unternommen wurden, das Fach „Religion-Islam“ zu fördern, konn-te islamischer Unterricht an den öffentlichen Schulen bis in die Gegenwart keine bedeu-tende Popularität erreichen. In dem oben genannten Interview vom April 2005 sprach derfür den Bereich Bildung zuständige stellvertretende Obermufti, Vedat Ahmed, davon, dassdie Einführung des islamischen Religionsunterrichts von den kommunalen Gemeinden,nicht selten auch von den Schulleitungen, mit Misstrauen betrachtet werde.16 Vertreter des

8 Ali Hajreddin, Religija-Isljam. Učebno pomagalo za šesti klas, Sofia 2002, 108.9 Hilmi Ali, Religija-Isljam. Učebno pomagalo za sedmi klas, Sofia 2002, 96.

10 Mustafa Hadži, Religija-Isljam. Učebno pomagalo za osmi klas, Sofia 2003, 41.11 Izučavaneto na religija-isljam v učilištata, in: Mjusjulmani, April 2005, 28.12 Uspešno priključi prekvalifikacionnijt kurs za prepodavateli po religija-isljam, in: Mjusjulmani,

August 2002, 1,2; Izučavaneto na, 29.13 Alle Kosten für den christlichen Religionsunterricht werden von den städtischen Gemeinden finanziert.14 Izučavaneto na, 29.15 Informacionen bjuletin za 2010, 13.16 Izučavaneto na, 28.

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Religionsunterricht: Konzepte, Kontroversen, Kompromisse 119

Muftiamtes erklärten die insgesamt niedrige Teilnahme am Unterricht auch damit, dassislamische Lehre neben „Englisch“ und „Informatik“ als wählbares Fach angeboten wird.Infolge dessen bevorzugten die Eltern ihre Kinder für die praktisch orientierten Fächer,anstatt sie für „Religion“ anzumelden.17 Deshalb war die Verwaltung der bulgarischenMuslime der Meinung – und hier vertrat das Muftiamt dieselbe Position wie die HeiligeSynode der Bulgarischen Orthodoxen Kirche – , dass es eine gute Sache wäre, den Religi-onsunterricht als Pflichtfach in die öffentlichen Schulen einzuführen.

2. Religionsunterricht: Konzepte, Kontroversen, Kompromisse

Noch in der Zeit zwischen 1997 und 1998, als die ersten Schritte in Richtung Vorbereitungund Einführung des Religionsunterrichts durch das Ministerium für Bildung und Wissen-schaft unternommen wurden, wurde deutlich, dass es ernsthafte Einwände von Vertreternder bulgarischen orthodoxen Kirche18 und der Verwaltung der bulgarischen Muslime hin-sichtlich Namen, Inhalt sowie der Art und Weise der Durchführung des Religionsunter-richts gab. Entsprechend waren die zwei größten religiösen Institutionen in Bulgariendaran interessiert, die Lehrfächer „Religion – Orthodoxes Christentum“ und „Religion –Islam“ als Bekenntnisunterricht obligatorisch in den öffentlichen Schulen einzuführen. DieForderung „obligatorisch“ wurde von der Kommission für Religionen in dieser Zeit zu-rückgewiesen und stattdessen die Einführung des Fachs „Religion“ als frei wählbare Dis-ziplinen genehmigt.

Anfang 2003 wurde vom Bildungsministerium eine Verordnung bezüglich der An-wendung des Volksbildungsgesetzes bekannt gegeben.19 Der Religionsunterricht wurdebis zur 12. Klasse eingeführt. Neben der fakultativen Möglichkeit wurde er auch alsWahlpflichtfach zugelassen. Der Verordnung folgte eine Instruktion des Bildungsministe-riums vom 23. Juni 2003, die weitere normative und methodische Leitlinien regelte.20

Dementsprechend konnten als Lehrer 1) Personen, die eine Hochschulausbildung in denFächern „Religion und Theologie“ absolviert haben, 2) Grundschullehrer, die Fortbil-dungskurse an einer theologischen Fakultät abgeschlossen haben sowie 3) Absolventendes Obersten Islamischen Instituts eingestellt werden. Lehrinhalte des Unterrichts wurdenunter der Aufsicht der Heiligen Synode und des Muftiamtes gestellt. Für die Organisation

17 Ebda.18 Derzeit hat die Bulgarische Orthodoxe Kirche zwei theologische Hochschulen: die Geistlichen

Akademien in Sofia und in Plovdiv. Des Weiteren verfügt sie über eine theologische Fakultät an derSofioter Universität Kliment Ohridski sowie an der Universität von Veliko Tarnovo. Einen Lehrstuhlfür christlich-orthodoxe Theologie gibt es an der Universität Šumen sowie an der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Paisii Hilendarski in Plovdiv. Die Heilige Synode bietet religiöseSchulen für Erwachsene und Kinder am Wochenende und während der Ferienzeiten an. Sie betreut1.985 Priester und verfügt über 3.720 Kirchengebäude und 211 Klosteranlagen in Bulgarien.

19 Pravilnik za prilagane na zakona za narodna prosveta, in: Dăržaven vestnik Nr. 15, Februar 2003, 24.Ersichtlich unter<http://sacp.government.bg/normativna-uredba/podzakonovi/pravilnik-zakon-narodna-prosveta>(24.04.2012).

20 Verabschiedet wurde sie am 23. Juni, veröffentlicht am 4. Juli 2003. Instrukcija Nr. 2 po učeben pred-met „Religija“ ot 2003, in: Dăržaven vestnik, Nr. 60 vom 4. Juli 2003.

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Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen120

der Lehre waren die Schulleiter und Experten für Religion beim Ministerium für Bildungund Wissenschaft zuständig. Das durch das Ministerium für Bildung und Wissenschaftvorbereitete Konzept trug von Anfang an jedoch einen Widerspruch in sich. Einerseitslegte es fest, dass die neue Disziplin keine Introduktion der orthodoxen Kirche, des Muf-tiamtes oder einer anderen religiösen Institution darstellen sollte. Andererseits waren esdie Absolventen einer theologischen Fakultät, die dazu berechtigt waren, den Unterrichtdurchzuführen und auch die Schulbücher wurden unter die Aufsicht der Heiligen Synodeund des Muftiamtes gestellt. Wie Daniela Kalkandjieva, ein Mitglied der Kommission fürReligionen beim Bildungsministerium, berichtete, soll die Teilnahme am Religionsunter-richt in den gemischten Regionen zu einer gegenseitigen Motivierung der Schüler ver-schiedenen religiösen Hintergrunds geführt haben, so dass deren Anteil in den religiösheterogenen Gebieten insgesamt viel höher gewesen sei als in den Schulen, die sich inethnisch-religiös relativ homogenen Bezirken befanden.21 In den letzteren soll die durch-schnittliche Teilnahme am Religionsunterricht nicht einmal 1% der Schüler überschrittenhaben. In diesem Zusammenhang sprach sie von einem „negativen Effekt des Religions-unterrichts“, indem die Schüler nach Konfessionen geteilt wurden. Sie hätten nicht nur ingetrennten Klassenzimmern gelernt, sondern die einen wurden von Absolventen der christ-lichen Orthodoxie, die anderen von Studenten der islamischen Theologie unterrichtet. DasVermitteln von Wissen über die eigene Religion vermöge die Solidarität innerhalb dereigenen Gruppe zu fördern – so Kalkandjieva – den Erfordernissen des alltäglichen Zu-sammenlebens entspreche es dagegen kaum.22

Auch wenn die Regelungen vom 2003 den Erwartungen der Heiligen Synode sowiedes Muftiamtes in einigen Punkten – zumindest was den konfessionellen Charakter desUnterrichts sowie die Zuständigkeit bezüglich des Lehrinhaltes betrifft – entgegen kamen,ist es in den darauf folgenden Jahren zu keiner bedeutenden Steigerung der Besucherrateam Religionsunterricht gekommen. 2003/2004 nahmen insgesamt 15.183 Schulkinder amchristlichen Religionsunterricht und 3.453 am islamischen Unterricht teil. 2006/2007 wa-ren es 20.325 Schüler, die Religionsunterricht besuchten, was kaum 2% aller Schüler die-ser Zeit entsprach. 16.667 von ihnen nahmen am christlichen und 3.658 am islamischenUnterricht teil (Tabelle 5).

21 Daniela Kalkandjieva, Approaches to Religious Education in Post-Communist Bulgaria, in: CultureDialogue and Civil Consciousness: Religious dimensions of the intercultural education, Tbilisi:CIPDD, Konrad Adenauer Stiftung, 2010, 51-62.

22 Ebda.

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Tabelle 5: Teilnahme am Religionsunterricht an öffentlichen Schulen imZeitraum 1999-2008

Quelle: Angabe der Bildungsabteilung des Muftiamtes vom September 2011.

Die ausgebliebenen Ergebnisse der Bildungsreform von 2003 veranlassten die HeiligeSynode der bulgarischen Orthodoxen Kirche und die Verwaltung der bulgarischen Musli-me, ihre Bemühungen für die Etablierung des Religionsunterrichts zu intensivieren. Kon-krete Schritte in dieser Hinsicht stellte die Ernennung von Sonderbeauftragten für Religionan einigen regionalen schulischen Aufsichtsbehörden sowie die von der Heiligen Synodeinitiierte Diskussion über Aggression und Gewalt in bulgarischen Schulen dar. Somitwurde zum einen das Fach „Religion“ institutionell unterstützt, zum anderen die öffentli-che Meinung in Richtung der Notwendigkeit einer aktiven Einbeziehung von religiösenWerten im „Kampf um die moralische Gesundheit der jungen Menschen“ sensibilisiert.23

Die Forderungen der Orthodoxen Kirche und des Muftiamtes nach einer Änderung desStatus des Faches vom Wahlfach ins Pflichtfach wurden immer lauter. Diese Forderungenblieben nicht ohne Folge. Sie lösten heftige Debatten in der bulgarischen Öffentlichkeitaus und mündeten in zwei Konzepte, die sich diametral gegenüber standen.

Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen " ein Pflichtfach?Am 1. Februar 2007 wurde während einer Sitzung des parlamentarischen Ausschusses fürMenschenrechte und religiöse Angelegenheiten sowie der Kommission für Bildung undWissenschaft beschlossen, einen Öffentlichen Rat beim Bildungsministerium zu gründen,mit der Aufgabe, ein Konzept für die Einführung von Religionsunterricht als Pflichtfachan bulgarischen Schulen vorzubereiten.24 Der Öffentliche Rat (auch als Kommission be-zeichnet), der von Professor Georgi Bakalov geleitet wurde, bestand seinerseits aus Histo-rikern, Philosophen, Philologen, Religionswissenschaftlern sowie jeweils zwei Hoch- und

23 Za religijata, cennostite i balgarskoto učilište, unter <http://bg-patriarshia.bg/reflections.php?id=93>(9.04.2012).

24 Ministerstvo na obrazovanieto, Republika Bălgarija, Novini, unter<http://www.mon.bg/top_menu/news/archiv2008/08-01-28_religia.html> (9.04.2012).

Schuljahr SchülerOrthodoxes Christentum

SchülerIslam

1999/2000 14.400 2972000/2001 16.432 3.2152001/2002 18.828 6732002/2003 14.639 2.3742003/2004 15.183 3.4532004/2005 13.209 3.4722005/2006 13.366 3.9472006/2007 16.667 3.6582007/2008 14.088 3.810

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Grundschullehrern des Orthodoxen Christentums.25 Vertreter der Muslime oder andererKonfessionen wie Katholizismus, Protestantismus und Judentum waren dagegen nichtbeteiligt. Im Februar 2008 wurde die Arbeit des Öffentlichen Rates abgeschlossen und dasProjekt der bulgarischen Öffentlichkeit vorgestellt.26 Das neue Konzept unterschied sichvon der aktuellen Version des Religionsunterrichts in mehrfacher Hinsicht. Während dasletzte von Repräsentanten der Heiligen Synode sowie des Muftiamtes (oder mit derenZustimmung) vorbereitet wurde, war das neue Konzept von einer Expertengruppe ausge-arbeitet worden, die vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft initiiert und vombulgarischen Parlament bestätigt wurde. Daniela Kalkandjieva – die Mitglied des Öffentli-chen Rates war – weist darauf hin, dass die Experten in der Lage waren „interdisziplinärzu agieren und somit einen Lehrplan auszuarbeiten, der die normativen Grundlagen, so vorallem den säkularen Charakter der Ausbildung im bulgarischen Staat“, berücksichtigte.27

Sie erwähnt dabei nicht, dass dies von Anfang an der Auftrag des Bildungsministers,Daniel Valčev, war: wenn Pflichtfach, dann nur als nichtkonfessioneller Unterricht.28

Dem Konzept zufolge sollte Religionsunterricht nicht der Pflege des eigenen Bekennt-nisses dienen, sondern als Lehre über die Religionen verstanden werden. Die Schülersollten generell über „lokale und Weltreligionen informiert werden, ohne sich dabei einerbestimmten Religion verpflichtet zu fühlen“. Nicht zuletzt sollte der Unterricht Wertevermitteln. Zur Begründung des Projektes führten die Kommissionsmitglieder zwei we-sentlichen Aspekte an: Erstens, ein konfessioneller Religionsunterricht als Pflichtfachstünde in Widerspruch zu Artikel 13 der bulgarischen Verfassung sowie zu Artikel 5 desVolksbildungsgesetztes, die die Ausbildung in öffentlichen Schulen als säkular festschrei-ben. Zweitens sei eine Kursänderung notwendig, weil die aktuelle Version die Schulkinder„bereits im Alter von 7 bis 8 Jahren auf der Basis ihrer formalen Religionszugehörigkeittrennt“.29 Eine säkulare Vermittlung der Religion in der Schule bestreite das Recht derReligionsgemeinschaften „eigene konfessionelle Bildung und Erziehung nach dem Prinzipder Trennung von Staat und Religion anzubieten“, nicht.30 Die Mitglieder der Kommissionwaren sich somit einig, dass dieser interdisziplinäre und multikulturelle Ansatz der einzigeWeg sei, das Fach „Religion“ als Pflichtfach in das Curricula der öffentlichen Schulenaufnehmen zu können.31 Sie schlugen vor, Religionsunterricht als Pflichtfach für die erstensieben Jahrgangsstufen sowie fakultativ für die letzten fünf (8.-12. Schuljahren) einzufüh-ren. Des Weiteren wurde geplant, dass neben Theologen auch Historiker, Philosophen

25 Koncepzija za văveždane na učeben predmet „Religija“ v bălgarskoto učilište, 14, unter<http://dveri.bg/wr3> (9.04.2012).

26 Das Konzept wurde am 5. Februar 2008 veröffentlicht. Es kann auch auf der Homepage des Ministeri-ums für Bildung und Wissenschaft eingesehen werden:<http://www.mon.bg/opencms/export/sites/mon/documents/08-01-28_concept_religion.pdf>(12.04.2012).

27 Kalkandjieva, Approaches to Religious Education, 58.28 Klimantiva Ivanova, Predmet “Religija” v učilište? Zadalžitelno, in: Politiki, Institut za otvoreno

obštestvo, Nr.3 (2008), 4-7.29 Obučenieto po religija srešta saprotiva, in: Presata za včerašnata kragla masa za predmeta “Religija”,

in: Dveri na pravoslavieto vom 29.01.2008, unter: <http://dveri.bg/8yrh> (12.04.2012). Siehe auchKoncepzija za vaveždane, 3.

30 Koncepzija za vaveždane, 3.31 Kalkandjieva, Approaches, 58.

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sowie Vertreter anderer sozialwissenschaftlicher Disziplinen als Lehrer zugelassen werdenkönnen. Nicht zuletzt wurde darüber debattiert, ein spezielles Master-Programm an theo-logischen Fakultäten einiger Universitäten einzurichten, um das notwendige Lehrpersonalausbilden zu können.32 Allerdings waren unter dem Begriff „Theologen“ diesmal die Ab-solventen des Obersten Islamischen Instituts nicht explizit erwähnt und der Bezug auf die„theologischen Fakultäten einiger Universitäten“ lässt ungeklärt, ob damit auch das Obers-te Islamische Institut in Sofia – das als Hochschule nicht akkreditiert ist – gemeint war.

Aus dem Entwurf des durch den Öffentlichen Rat vorbereiteten Konzepts, das am 5.Februar 2008 veröffentlicht wurde, lässt sich mehr über die Ziele, Motive und den Inhaltdes geplanten Unterrichts entnehmen:

„Das Hauptziel des Faches ist es, den Schülern Kenntnisse im religiösen Bereich zuvermitteln sowie den Sinn für das Religiöse beziehungsweise den Respekt vor denReligionen zu fördern. [...] Der Religionsunterricht soll zur Erziehung von Bürgernbeitragen, die 1) das Christentum und andere Weltreligionen kennen, 2) die religiö-sen Überzeugungen der Anderen respektieren, 3) in der Lage sind, in multireligiö-ser Umgebung zu leben und interreligiösen Dialog zu führen sowie 4) den Säkula-rismus respektieren.“33

Neben „Offenheit und Sinn“ für das Religiöse sollten historische, philosophische sowieethische Sichtweisen über die Religionen vermittelt werden. Vorgesehen war, dass in der1. bis 4. Klasse Themen wie Vertrauen, Glaube, Respekt, Mitgefühl, Freundschaft undLiebe aus einem religiösen Hintergrund angesprochen werden, die durch religiöse Texteaus verschiedenen religiösen Traditionen (u.a. der Bibel und dem Koran) veranschaulichtwerden sollten. In der fünften Klasse sollte es um die Geschichte des Christentums, desJudentums, des Islam und des Buddhismus gehen. In der sechsten standen religiöse Kunstund Architektur auf dem Lehrplan. Ab der siebten Klasse sollten sich die Schüler und dieSchülerinnen mit religiösen Texten beschäftigen. Als Schwerpunkte der achten bis zwölf-ten Klasse war die systematische und historische Darstellung der Religionen als Kern derIdeen- und Kulturgeschichte der Menschheit vorgesehen. Die Schüler sollten mit derdogmatischen Lehre des Christentums sowie anderer Religionen bekannt gemacht werden.Themen wie Ehe, Abtreibung und Gentechnik waren für die zehnte Klasse vorgesehen.34

Systematische Kenntnisse über Religionen waren also erst nach der fünften Klassevorgesehen. In den untersten Stufen sollten religiöse Texte nur zur Veranschaulichung vonWertvorstellungen miteinbezogen werden. Dies warf die Frage auf, wie weit die Schülerund Schülerinnen überhaupt fähig wären, durch die zufälligen Illustrationen aus religiösenSchriften zwischen den verschiedenen religiösen Traditionen zu unterscheiden.35 In die-sem Zusammenhang fehlte es bei der Berichterstattung in der bulgarischen Presse nicht anIronie. So berichtete zum Beispiel die Tageszeitung Standart über den geplanten Unter-richt für die ersten Klassenstufen folgenderweise:

32 Koncepzija za vaveždane, 3.33 Ebda.34 Koncepzija za vaveždane, 3.35 Presata za včerašnata kragla masa za predmeta “Religija”.

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„Laut des Konzepts ist das Thema ‘Adam und Eva im Garten Eden’ eine der Unter-richtseinheiten für die erste Klasse. Es ist ein Unterteil des Kapitels ‚Freundschaftund Liebe‘ und es bleibt weitgehend unklar, was die Kinder von einem Thema, dasauf diese Weise präsentiert wird, verstehen sollen. Das in der zweiten Klasse vor-gesehene Thema ‚Fürsorge für die Tiere‘ ist, um es milde auszudrücken, auf selt-same Art und Weise durch die Geschichte der Arche Noah dargestellt“.36

Das Konzept war insgesamt abstrakt gefasst und es schien, dass die Autoren von demgeplanten Unterricht viel erwarteten. Wie dies erreicht werden sollte, blieb jedoch unklar.So ließ sich zum Beispiel im Abschnitt „Erwartete Ergebnisse“ Folgendes lesen:

„Die Einführung von ‚Religionsunterricht‘ als Pflichtfach in den Schulen ist einWeg, um die Krise in der Gesellschaft, die durch den Übergang vom totalitärenAtheismus zum religiösen Pluralismus verursacht wurde, zu überwinden. (…) Aufder Basis des Christentums und anderer traditioneller Religionen soll das Fach „Re-ligion“ jungen Menschen helfen, ihre existenziellen Fragen nach Leid, Glück, Sinndes Lebens, Heil, Gerechtigkeit, Frieden und Erhaltung der Welt, Liebe zumNächsten sowie die Liebe zu Gott [...] zu klären und ihnen somit eine angemesseneHilfe bei der Suche nach Orientierung im Leben geben.“37

Bei allem Überkonfessionalismus des geplanten Unterrichts konnte der Entwurf nichtdarüber hinweg täuschen, dass bei den religiösen Traditionen, beziehungsweise wenn esum religiös fundierte Werte geht, an erster Stelle die christlich-orthodoxen gemeint warenund somit eine dominierende Stellung des orthodoxen Christentums postuliert wurde. DieAutoren des Textes wiesen selbst darauf hin, dass die ethische Frage nicht außerhalb,sondern im Zentrum der Religionen steht. Dies gelte insbesondere für das orthodoxeChristentum.38

Nachdem das Konzept des Öffentlichen Rates Anfang 2008 bekannt gegeben wurde,sorgte es in den folgenden Monaten für kontroverse Auseinandersetzungen, an denen sichein breites Spektrum gesellschaftlicher Akteure – Repräsentanten politischer Parteien undNGOs, relevante gesellschaftliche Gruppen, Hochschullehrer und Intellektuelle – beteilig-te. Vor allem die Heilige Synode der Bulgarischen Orthodoxen Kirche, das Muftiamtsowie die Bulgarische Katholische Kirche wiesen das Konzept des Öffentlichen Ratesentschieden zurück.39 Sie protestierten an erster Stelle gegen einen obligatorischen Unter-richt auf multireligiöser Basis bei „Kleinkindern“ und waren der Meinung, dass die Schü-ler zunächst ihre „eigene“ Religion kennenlernen sollten, bevor sie in den oberen Klassenauch Wissen über andere religiösen Traditionen vermittelt bekommen.

Die Position der Heiligen Synode„Eine säkulare Lehre über die Religionen“, wie Georgi Bakalov „die Philosophie“ desgeplanten Unterrichts im Januar 2008 zusammenfasste,40 bedeutete in der Praxis, dass ein

36 Ebda.37 Koncepzija za vaveždane, 13.38 Ebda., 9.39 Tri veroizpovedanija se obediniha sreštu religijata v učilištata, in: Dnevnik, 8 Februar 2008.40 Presata za včerašnata kragla masa.

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konfessioneller Religionsunterricht aus der öffentlichen Schule weichen muss. Dass dieserVorschlag auf keine Zustimmung seitens der Heiligen Synode wie auch der Verwaltungder bulgarischen Muslime stoßen würde, stellte dabei keine große Überraschung dar. Des-halb bereitete die Heilige Synode noch Ende 2007 ein eigenes Konzept vor, das imOktober 2007 auf der Webseite der Heiligen Synode und im November 2007 in dessenPresseorgan Carkoven vestnik veröffentlicht wurde.41 Das Konzept, das auch von derVerwaltung der bulgarischen Muslime und der Bulgarischen Katholischen Kirche unter-stützt wurde, sah vor, getrennten Religionsunterricht im Sinne der Pflege des eigenenBekenntnisses als reguläres Fach einzuführen.42 Als Lehrfächer wurden neben orthodoxemChristentum auch Islam, Katholizismus und „bei Bedarf“ weitere Religionen vorgesehen.Für Schüler aus konfessionslosen Familien sollte es alternativ Ethikunterricht geben.

Bezüglich des Lehrfaches „Christliche Orthodoxie“ argumentierte die Heilige Synode,dass die „Erziehung von freien, moralischen und unternehmerischen Persönlichkeiten“,wie dies im Gesetz über die Volksbildung, Artikel 15. als Ziel der schulischen Bildung inBulgarien festgelegt wurde, ohne die „Verinnerlichung des christlichen Glaubens sowieder moralischen Tugenden unserer Vorfahren“ unmöglich sei.43 Sie bestand darauf, dassdie orthodoxe Kirche durch die Jahrhunderte eine Hüterin des „Bulgarentums“ gewesensei und deshalb besondere Rechte im Bereich der religiösen Bildung verdiene. Die HeiligeSynode vertrat ferner die Auffassung, dass nur die Absolventen christlich-orthodoxerFakultäten dazu berechtigt sein sollten, das Fach „Religion-Christentum“ zu unterrichten.Ihre Einstellung sollte mit der Heiligen Synode vereinbar sein. Auch die Schulbüchersollten unter Aufsicht der Heiligen Synode stehen. Ausbildung und Gehalt der Lehrersollten durch den Staat getragen werden.44

Auf die Frage „Warum drängt die Bulgarische Orthodoxe Kirche auf ein Pflichtfach,obwohl christlich-orthodoxe Lehre bereits als wählbares Fach in den bulgarischen Schulenangeboten werde“, antwortete Pfarrer Emil Paralingov, ein Vertreter der Heiligen Synode,der Tageszeitung Kapital in folgender Weise: „Die Einführung des christlich-orthodoxenUnterrichts als Wahlfach in den Schulen war sicher ein kleiner Sieg für die Kinder, es sindjedoch nur wenige unter ihnen, die davon profitieren konnten.“ Er erklärte, dass der Unter-richt an vielen Orten von Schulleitern und Lehrern „boykottiert werde“. Der Boykott rei-che von Uneinigkeiten unter den Eltern bis zur absichtlichen Beeinträchtigung der Unter-richtsstunden wegen verschiedener schulischer Initiativen. Soweit das Fach „Religion“nicht als Pflichtfach in den regulären Lehrplan aufgenommen würde, werden es auch wei-terhin nur wenige Schüler sein, die daran teilnehmen könnten.45

41 Koncepcija na Svetija Sinod na BPC otnosno statuta na predmeta „Religija“ v bălgarskotoobštoobasovatelno učilište, in: <http://dveri.bg/wqk>. Erhältlich noch unter: <http://www.bg-patriarshia.bg/index.php?file=attitude_2.xml> (05.04.2012).

42 Das Kontra-Konzept der Heilige Synode wurde während einer Pressekonferenz der OrthodoxenKirche, des Muftiamtes sowie der Bulgarischen Katholischen Kirche am 8 Februar 2008 offiziell vor-gestellt. Siehe dazu: Tri veroizpovedabija se obediniha sreštu religijata v učilištata, in: Dnevnik, 8.Februar 2008.

43 Koncepcija na Svetija Sinod, 5.44 Koncepcija na Svetija Sinod, 13f.45 Trjabva li zadalžitelno da se izučava religija-pravoslavie v učilište?, in: Kapital, 16. September 2010.

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Auch der christlich-orthodoxe Theologe Cvetan Kovačev ging auf der offiziellen Web-seite des bulgarischen Patriarchats der Frage nach „Warum die Christen das Konzept desÖffentlichen Rats nicht akzeptieren können?“ Er sprach in diesem Zusammenhang voneinem „religiösen Pluralismus“, der der Ausgangspunkt des Konzepts sei. „Mit diesemBegriff werden verschiedene Arten weltanschaulicher Wahrnehmungen von Religionbezeichnet. Im Rahmen des Konzeptes, das durch den Öffentlichen Rat vorbereitet wurde,wird dieser Begriff jedoch als gleichbedeutend für die Überzeugung verwendet, dass Reli-gionen keine göttliche Wahrheit für sich beanspruchen können. Das Gegenteil zu behaup-ten, wird als ein Zeichen von Fundamentalismus interpretiert. Auf dieser Basis setzten sichdie Verfasser des Konzeptes für eine gleichberechtigte Vertretung verschiedener religiöserSysteme ein, vorausgesetzt, sie haben auf ihre Geltungsansprüche verzichtet“.46

„Religionsunterricht ein fruchtloser Baum?“: Die Stellung des MuftiamtesÄhnlich argumentierte die Verwaltung der bulgarischen Muslime. In der Februar-Ausgabeder Zeitschrift Mjusjulmani von 2008 stellte der stellvertretende Obermufti, Vedat Ahmed,unter dem Titel „Religionsunterricht ein fruchtloser Baum“ die Position des Muftiamtesbezüglich des Konzeptes des Öffentlichen Rates vor.47 Er bezeichnete den gemachtenVorschlag als „unrealistisch und von einer falschen Ausgangsposition geprägt“ und fasstedie Gründe der Ablehnung in den folgenden Punkten zusammen:

– Bedenklich sei zunächst, dass der Öffentliche Rat unter dem Vorsitz des HistorikersGeorgi Bakalov stehe. Georgi Bakalov sei durch seine islamfeindlichen Aussagen be-kannt. Indem er die Muslime in Bulgarien als eine „Gefahr“ bezeichne, beleidige er diemuslimische Gemeinschaft im Land.

– Ignoriert werde nicht nur die Erfahrung der vorkommunistischen Zeit, sondern auchdie inzwischen mehr als zehn Jahre vorhandene Praxis des Religionsunterrichts in denbulgarischen Schulen. Die Bemühungen der Religionslehrer, der Bulgarischen Ortho-doxen Kirche, des Muftiamtes und der Inspektoren, die nach Möglichkeiten suchten,das Fach zu popularisieren und die Schwächen bei Organisation und Lehrplänen zubeheben, würden nicht berücksichtigt.

– Es sei unverständlich, dass es in dem Gremium keine muslimischen Experten gäbe.Dies zeige nicht nur die fehlende Kenntnis der Bedürfnisse der bulgarischen Muslime,sondern spräche auch für eine gute Portion Missachtung seitens des Ministeriums.

– Der Hauptgrund der Kritik aus Sicht der Verwaltung der bulgarischen Muslime lägedarin, dass nicht die Vermittlung von religiösen Überzeugungen das Ziel des Unter-richts sei. Der Glaube sei jedoch der Motor von Tugend und Moral. Das Wissen überReligionen sei wichtig, es reiche jedoch nicht aus. Darüber hinaus seien allgemeineKenntnisse über Religionen in weiteren Disziplinen wie Geschichte, Philosophie undEthik in den Lehrplänen der bulgarischen Schulen bereits vorhanden.

– Toleranz und Dialog zwischen Religionen seien – so Vedat Ahmed weiter – beliebteSlogans in der modernen globalen Welt, die jedoch häufig nur formal seien. Wenn eine

46 Aktualen razgovor za religioznoto obrazovanie, Balgarska Patriaršija, 11. Januar 2011, unter<http://bg-patriarshia.bg/news.php?id=36453> (5.04.2012).

47 Vedat Ahmed, Obučenieto po religja štjalo da băde bezplodno darvo, in: Mjusjulmani, Februar 2008,24-26.

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tolerante Gesellschaft aufgebaut werden solle, dann sei wichtig, dass die Jugendlichendie Möglichkeit bekämen, ihre eigenen religiös-kulturellen Werte kennenzulernen. Erstdann können sie die Werte anderer Religionen respektieren.

– Nicht zuletzt sehe die Verwaltung in dem vorgeschlagenen Konzept eine Gefahr fürdie bulgarischen Muslime, die eine Minderheit im Land seien. Der thematische Inhaltdes Entwurfes, so wie er vom Öffentlichen Rat vorbereitet sei, zeige deutlich, dass daschristliche Wertesystem dominiere. Unter dem Aspekt, dass das Konzept auf dem or-thodoxen Christentum gründe, das auch noch zur traditionellen Konfession in Bulgari-en erhoben wird, sei es für die muslimische Gemeinschaft Bulgariens nicht akzeptabel.Gerade weil die Erinnerung an vergangene Diskriminierungsmaßnahmen noch wachsei, käme dieser Frage für die Mehrheit der bulgarischen Muslime besondere Bedeu-tung zu.48

Sowohl das Muftiamt als auch die Heilige Synode der bulgarischen orthodoxen Kirchenwandten sich also gegen die Einführung eines gemeinsamen nicht konfessionellen Religi-onsunterrichts. Auf das Argument, die Bildung im Bulgarien sei säkular und deshalb steheein bekenntnisorientierter Unterricht in Wiederspruch zum säkularen Charakter des Staa-tes, erwiderten sie, dass die bulgarische Schule ihren säkularen Charakter dadurch keines-wegs verlieren würde. Vielmehr würden die Schüler und Schülerinnen die Möglichkeitbekommen, die Grundsätze ihrer Religion in einer pluralistischen Gesellschaft kennenzu-lernen, um so andere Religionen und Weltanschauungen respektieren zu können.49 ZurBegründung ihrer Position verwiesen sie auf die Stellung des Religionsunterrichts inner-halb der Staaten der EU. So argumentierte die Heilige Synode in ihrem im Oktober 2007bekannt gegebenen Entwurf, dass es in insgesamt zwanzig EU-Mitgliedstaaten bereitsReligionsunterricht gäbe, in sechsen von ihnen als Bekenntnisunterricht.50 Dies sprechedafür, dass Religionsunterricht in all seinen Formen und seiner Vielfalt in Europa vertretensei, ohne dabei den säkularen Charakter der Bildung oder Prinzipien wie Menschenrechtezu gefährden. Einige Vertreter des Muftiamtes gingen in ihrer Kritik noch weiter, indemsie den staatlichen Organen eine religionsfeindliche Haltung vorwarfen.51

Im Verlauf der Bemühungen, den Religionsunterricht als ein reguläres Fach in denbulgarischen Schulen einzuführen, wurde deutlich, dass es durchaus verschiedene gesell-schaftliche Akteure gab, die sich für die schulische Integration von Religionsunterrichteinsetzten. Sie vertraten jedoch unterschiedliche Positionen. Den möglichen Vorteileneines getrennten Religionsunterrichts setzte der durch das Ministerium für Bildung undWissenschaft autorisierte Öffentliche Rat die Vorteile eines säkularen dialogischen Religi-onsunterrichts für alle Schüler und Schülerinnen unabhängig davon welche Religion oderWeltanschauung sie haben, entgegen. Das Projekt konnte auf größere Zustimmung treffen,wenn es nicht eine Reihe von Schwächen hatte, so unter anderem die Formalität oder auchdie dominierende Stellung der Orthodoxen Kirche. Das Konzept des Öffentlichen Rateswie auch das der Heiligen Synode hatten schließlich keinen Erfolg. Die verschiedenen ander Debatte beteiligten Akteure fanden anscheinend einen modus vivendi, bei dem letztlich

48 Ahmed, Obučenieto po religja, 24f.49 Koncepcija na Svetija Sinod, 5.50 Ebda.51 Jalamov, Religiöse Erziehung, 63.

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alles beim Alten blieb. Die Bemühungen den Religionsunterricht als reguläres Fach in denbulgarischen Schulen einzuführen, hatten jedoch zum Teil kontroverse Debatten in derbulgarischen Öffentlichkeit zur Folge, die bis in die Gegenwart fortdauern. Sie wurdenund werden mit weiteren Themen wie der Stellung der Religion in der bulgarischen Ge-sellschaft, dem Verhältnis von Staat und Kirche, sowie der Bedeutung der Religionen alsVermittler moralischer Werte bei den heranwachsenden Generationen im post-kommunistischen Bulgarien verknüpft.

Religion im öffentlichen Bildungswesen " unerwünscht?Die heilige Synode der Bulgarischen Orthodoxen Kirche, das Muftiamt und die Bulgari-sche Katholische Kirche waren nicht die einzigen gesellschaftlichen Akteure, die demKonzept des Öffentlichen Rates ablehnend gegenüber standen. Noch während der Be-kanntgabe des Konzepts des Öffentlichen Rates auf der Pressekonferenz des Ministeriumsfür Bildung und Wissenschaft am 28. Januar 2008 sowie im Rahmen des daran anschlie-ßenden „Runden Tisches“ bekamen die Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Gruppendie Möglichkeit, ihre Positionen zum Thema darzustellen. In den folgenden Monaten dien-ten auch die größten bulgarischen Tageszeitungen als wichtige Plattform der öffentlichenDebatte.52

Vertreter kleinerer religiöser Gemeinschaften aber auch Atheisten lehnten das Konzeptab, da sie fürchteten, dass die Durchsetzung von „Religion“ als obligatorisches Fach vonder Orthodoxen Kirche benutzt werden könnte, um die Schulkinder zu indoktrinieren. Beiden Mitgliedern einiger nationalistischer Parteien, wie der Ataka und der VMRO, war esdagegen die multikulturelle und pluralistische Orientierung des Faches, durch die die or-thodoxe Identität der Mehrheit der Bulgaren infrage gestellt wurde und damit für sie nichtakzeptabel war. Das Hauptaugenmerk ihrer Kritik richtete sich gegen das Aneignen vonWissen über den Islam durch Schüler mit christlich-orthodoxem Hintergrund. Ein Teil derEltern, der vom Verein Eltern vertreten wurde, bezeichnete das Vorhaben ebenfalls „alsnicht akzeptabel“. Sie waren der Meinung, dass ein eigenständiges Lehrfach „Religion“überflüssig sei. Es gäbe genügend Möglichkeiten, sich in anderen Fächern wie Literaturoder Geschichte, Kenntnisse über die Religionen anzueignen.53

Im Verlauf der Debatten stellte sich noch die Frage, ob die Religion im Bereich des öf-fentlichen Bildungswesens für weitere Teile der Bevölkerung unerwünscht ist. Oder warenes nicht viel mehr bestimmte Modalitäten, unter denen Religionsunterricht durchgeführt

52 Als Datengrundlage der Analyse sind hier folgende Quellen einbezogen: das vom Open Society Institutim März 2008 herausgegebene Magazin Politiki (http://politiki.bg/?cy=100), die Zeitschrift Svoboda zavseki Nr.15 (2008), sowie Berichte aus den Tageszeitungen Duma, Standart, Dnevnik und Sega (EndeFebruar/Anfang März 2008). Ein Überblick zu den Presseberichten in den bekanntesten bulgarischenTageszeitungen findet sich ferner in: Presata za včerašnata kragla masa za predmeta ‚Religija‘, in:Dveri na pravoslavieto vom 29.01.2008.

53 Obučenieto po religija srešta saprotiva, in: Dnevnik, 29. Januar 2008. Nicht alle Eltern waren dagegen.In den folgenden Jahren wurden weitere Vereine gegründet, die sich für einen obligatorischen Religi-onsunterricht einsetzten. Im Juni 2012 gaben das Bulgarische Komitee Eltern sowie das Komitee derEltern für geistige und moralische Erziehung bekannt, dass sie planen, eine Beschwerde bei der Kom-mission zum Schutz gegen Diskriminierung einzureichen, da die Schüler, die „Religion“ lernenwollen, daran gehindert seien. Siehe dazu: Roditelite poiskaha zadalžitelni časove po religija, in:<http://genmuftibg.net/bg/news-from-bulgaria/2530-2012-06-28-06-29-07.html> (14. März 2012).

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werden sollte, die auf Ablehnung von Repräsentanten verschiedener Interessengruppenstießen? Deshalb ist nicht unbedeutend zu fragen, was genau kritisiert wurde und mit wel-chen Argumenten diese Kritik begründet wurde.

Wertet man die ausgetauschten Argumente, so lässt sich feststellen, dass an erster Stel-le das „verpflichtende Element“ kritisiert wurde. Dies betraf sowohl das Konzept des Öf-fentlichen Rates als auch das der Heiligen Synode. „Dies wird eine Repression gegen eineVielzahl von Menschen. Religionsunterricht kann nicht mit Zwang durchgesetzt werden“– Mit diesen Worten lehnte der Soziologe Andrei Raičev während des „Runden Tisches“im Januar 2008 den Vorschlag des Bildungsministeriums ab, obligatorischen Religionsun-terricht in der Schule einzuführen. Er hob hervor, dass jeder zweite Bulgare nicht an Gottglaube, für 25 Prozent sei Gott eine abstrakte Transzendenz, aber es werde versucht nurwegen der restlichen 25 Prozent eine unerwünschte Disziplin mit Zwang durchzusetzen.54

Auch der Vorsitzende des Helsinki Komitees, Emil Koen, bezeichnete es als nicht zuläs-sig, dass Kinder atheistischer Familien zum religiösen Unterricht gezwungen werden undes nicht akzeptabel sei, dass Schülern und Eltern eine bestimmte Religion aufgedrängtwerde.55

Es wurde ferner Kritik am durch die Bulgarische Orthodoxe Kirche vorgeschlagenenobligatorischen Religionsunterricht geübt. So wurde während den öffentlichen Debattendarauf hingewiesen, dass die Zahl der Schüler und Schülerinnen, die am angebotenenchristlich-orthodoxen Unterricht teilnahmen, kontinuierlich zurückgegangen war. Obwohldie Orthodoxe Kirche seit Ende der 1990er Jahre die Möglichkeit hatte, Religion in derSchule zu lehren, hatte sie es nicht geschafft, Schüler und Eltern anzusprechen:

„Angesichts der scheinbaren Nichtdurchsetzbarkeit des Konzepts des ÖffentlichenRates, setzt sich die Orthodoxe Kirche für die Einführung der obligatorischen or-thodoxen Religion in den Schulen ein. Beunruhigend an dieser Position ist, dass esauch derzeit christlich-orthodoxen Unterricht als Wahlfach gibt, aber nur wenigeSchüler Interesse haben, daran teilzunehmen.“56

Ognjan Gerdžikov, der Vorsitzende des Ausschusses für religiöse Angelegenheiten in derNationalversammlung, fügte in diesem Zusammenhang hinzu: „Ich bin von den Geistli-chen überrascht – sie wollen, dass der Staat ihre Arbeit erledigt, indem er die religiöseErziehung der Kinder übernimmt. Das ist unmöglich und rechtlich inakzeptabel.“57

Auffallend war zudem die Art und Weise, wie die Heilige Synode mit der Frage der re-ligiösen Vielfalt in der bulgarischen Gesellschaft umging. So wies der Historiker MomčilPetrov, ein Vertreter der katholischen Minderheit im Land, darauf hin, dass im Entwurfder Heiligen Synode zwar vorgesehen sei, dass auch „andere Religionen“ Religionsunter-richt erteilen können. Dies sei aber nur unter den Umständen möglich, dass diese Religio-nen „jahrhundertelange Tradition in Bulgarien“ haben.58 Es bleibe jedoch unklar, welche

54 Religijata – van ot učilište, in: Standard vom 29. Januar 2008.55 Emil Koen, Obučenieto po religija ot gledna točka na čoveškite prava i evropejski praktiki, in:Svoboda za vseki Nr.15 (2008).

56 Presata za včerašnata kragla masa.57 Šte ima li religija v učilište?, in: Duma vom 29. Januar 2008, 2.58 Momčil Petrov, Odăržavjavane na religijata ili razdăržavjavane na obrazovanieto, in: Svoboda za vseki,

Nr.15 (2008).

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Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen130

anderen Religionen gemeint seien. Ebenso sei nicht festgelegt, wie viele Jahrhundertegenügen, um die „Präsenz“ einer Religion in Bulgarien anzuerkennen. Daraus zieht er denSchluss, dass die Bulgarische Orthodoxe Kirche sich zum Ziel gesetzt habe, ein Monopolauf den Glauben der Bulgaren christlichen Hintergrunds mit Hilfe des Staates zu erhalten.Es zeige sich, dass die orthodoxe Kirche nicht in der Lage sei, die jungen Generationen imLande ohne die Einmischung des Staates religiös zu erziehen.59

Ein weiteres Argument im Verlauf der Debatten lautete, dass die religiöse Erziehungnicht als staatliche Aufgabe zu betrachten ist. Religion als bekenntnisorientierter Religi-onsunterricht sei eine Aufgabe der religiösen Gemeinschaften selbst und solle außerhalbder öffentlichen Schulen stattfinden. „Falls Religion unterrichtet wird, dann müssen sichdie Konfessionen selbst und außerhalb der Schule darum kümmern. Das Ministerium hatdamit nichts zu tun“ – erklärte Ivailo Dičev, Professor für Kulturanthropologie an derSofioter Universität, während der öffentlichen Debatte im Januar 2008.60 Eine eher überra-schende Position nahm der Abgeordnete der BRF61 und Stellvertretende Vorsitzende desAusschusses für Bildungsfragen in der Volksversammlung, Ljutvi Mestan, ein. Er be-zeichnete die bisherige Praxis des Religionsunterrichts – als wählbare konfessionelle Leh-re – in der Schule als „Fehler“ und plädierte dafür, den „falschen Weg“ möglichst schnellzu verlassen. Derzeit seien die Schüler entlang ihrer religiösen Zugehörigkeit geteilt, an-statt sich mit Toleranz und gegenseitigem Verständnis vertraut zu machen. Die Schulesolle keine religiösen Loyalitäten vermitteln.62

Nicht zuletzt dienten die öffentlichen Auseinandersetzungen als Anlass für religions-wie auch minderheitenfeindliche Aussagen. Der bereits erwähnte Andrei Raičev vertratdiesbezüglich folgende Position: „Unsere Minderheiten sind säkular. Sie haben eine säku-lare Art der Organisation. Und das ist großartig, weil außerhalb dieses säkularen Wegs dieLage unheimlich werden kann. Warum gießt ihr Öl ins Feuer?“ Anschließend stellte er dieFrage: „Wenn ihre Kinder das Thema ‚Adam und Eva im Garten Eden‘ behandeln, welcheBotschaft wollen sie ihnen damit geben? Dass dies in der Tat geschehen ist? Wenn Kennt-nisse über Religionen vermittelt werden sollen, dann soll man nicht nur die positiven Sei-ten zeigen. Wo sind die Inquisition, die religiösen Kriege und die Kreuzzüge?“ IvailoDičev bezeichnete den vom Öffentlichen Rat vorgeschlagenen Religionsunterricht sogarals einen „neuen wissenschaftlichen Kommunismus“, indem er in der monatlichen Zeit-schrift Politiki schrieb: „Wie es aussieht, ähnelt das Lehrfach ‚Religion‘ einem neuen‚wissenschaftlichen Kommunismus‘, dessen Ziel es ist, nicht kritisches Denken zu för-dern, sondern es zu verhindern. Es ist keine gute Idee, die Köpfe der Kinder mit Religionzu füttern, so wie dies früher mit den kommunistischen Lehren der Fall war“.63

Es fehlte aber auch nicht an Gegenstimmen, die sich für die schulische Integration desReligionsunterrichts – in einer dialogischen wie auch einer konfessionellen Form – ein-setzten. So entgegnete der damalige Leiter der Direktion für religiöse Angelegenheiten,

59 Petrov, Odaržavjavane na religijata.60 Ivailo Dičev, Novijat naučen komunizmus, in: Politiki, Nr. 3 (2008).61 Der Partei, die sich für die Interessen der bulgarischen Türken sowie Bürger muslimischen

Hintergrunds einsetzt.62 Šte ima li religija v učilište, in: Duma vom 28. Januar 2008.63 Dičev, Novijat naučen komunizmus.

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Religionsunterricht: Konzepte, Kontroversen, Kompromisse 131

Ivan Želev, der Kritik an dem Konzept des geplanten Religionsunterrichts im Januar 2008mit den Worten: „Hier ist ein ganzer Schwarm von Atheisten und ich muss staunen, inwelcher Zeit wir leben. Es ist höchste Zeit, ein solches Lehrfach einzuführen“.64 AuchEmil Koen, ein Vertreter des Helsinkikomitees, versuchte die Wichtigkeit religiöser Er-ziehung in der Schule hervorzuheben, indem er sich an die bulgarische Öffentlichkeitwandte und schrieb: „Es wäre falsch die Präsenz von Religion in der Schule zu verwei-gern. Sie ist zu wichtig, dass wir uns die Hochmütigkeit erlauben, sie in der Schule zuignorieren.“65 Des Weiteren vertrat er die Meinung, dass in der konkreten bulgarischenSituation ein gemeinsamer Unterricht zunächst die bessere Lösung wäre. Was die ortho-doxe Kirche und die anderen religiösen Institutionen veranlassen müssten, sei ein zusätzli-ches Netzwerk von schulischen Angeboten (Sonntagsschulen etc.) zu entwickeln, durchdie den Kindern das orthodoxe Christentum beziehungsweise andere Religionen beige-bracht werden könnten.

Unter dem Titel “Verstaatlichung der Religion oder Entstaatlichung der Bildung“ übteder Historiker Momčil Petrov scharfe Kritik am „säkularen Unterricht unter staatlicherRegie“ und gab den Befürwortern einer konfessionellen Lehre in der Schule eine Stimme:

„Nach monatelanger Arbeit schlug der Öffentliche Rat eine Religionslehre vor, dienicht in Konflikt mit dem säkularen Charakter der Bildung stehen soll und einenallgemeinbildenden anstatt konfessionellen Inhalt hat. Diese Formulierung verrätdie Absicht, die Schüler darüber zu informieren, was Religionen lehren, aber ihnenauf keinen Fall die Möglichkeit zu geben, religiöse Botschaft als Wahrheit wahrzu-nehmen. Zugleich wird als Ziel postuliert, der Religionsunterricht solle das morali-sche Empfinden durch die Botschaften der Religionen schärfen. Wenn jedoch derAnspruch der Religion auf Wahrheit von Anfang an zurückgewiesen wird, wie sol-len dann die Schüler eine ernsthafte Haltung zu den moralischen Imperativen derReligion entwickeln“.66

Er vertrat der Meinung, dass das, was der Öffentliche Rat durch das beliebige Nebenei-nander von Texten aus verschiedenen religiösen Traditionen letztendlich erreiche, sei, dieFrage nach Gott ins Lächerliche zu ziehen. Keines der beiden Konzepte – so Momčil Pet-rov – könnte eine angemessene Lösung für das Problem des Religionsunterrichts in Bulga-rien anbieten. Während im ersten Fall der Staat eine atheistische Position fördere, werdeim zweiten Fall der Staat dazu aufgerufen, das religiöse Monopol der orthodoxen Kircheinnerhalb der Mehrheit der Bulgaren zu sichern.67

Die GründeAuch wenn die Bemühungen um die Einführung des Religionsunterrichts als reguläresSchulfach auch auf Zustimmung trafen, lässt sich insgesamt eine ablehnende Haltungseitens der Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in Bulgarien feststellen.Dieser relativ hohe Grad der Ablehnung kann seinerseits nur vor dem Hintergrund eines

64 Ebda.65 Koen, Obučenieto po religija.66 Petrov, Odaržavjavane na religijata.67 Ebda; Presata za včerašnata kragla masa.

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komplexen Bündels von historischen, politischen, juristischen und sozialen Faktoren er-klärt werden. Zunächst sind es die geltenden normativen Grundlagen im bulgarischenStaat, die einen konfessionellen Religionsunterricht als reguläres Fach problematischmachten. Sowohl in der bulgarischen Verfassung als auch im Volksbildungsgesetz heißtes, dass „die religiösen Institutionen vom Staat getrennt sind“ sowie dass „die Bildung inden öffentlichen Schulen säkular ist“.68 In der Verordnung des Bildungsministeriums zurUmsetzung des Volksbildungsgesetzes vom 2003 ist in Art. 4. Folgendes festgelegt: (1)„Die Durchsetzung von ideologischen und religiösen Doktrinen an den öffentlichen Schu-len ist nicht zugelassen“ sowie (2) „In den öffentlichen Schulen sind Religionen nur ineiner historischen, philosophischen und kulturellen Perspektive anhand verschiedenerDisziplinen zu vermitteln.“69

Nicht ohne Bedeutung war ferner die Tatsache, dass Bulgarien ein konfessionell ge-mischter Staat ist, in dem es neben dem dominierenden Orthodoxen Christentum auchMuslime, Katholiken, Protestanten sowie weitere kleinere religiöse Gemeinschaften gibt.Die Frage, die sich bei einem gemeinsamen, nicht nach Konfessionen getrennten Unter-richt stellte, lautete, wie eine „gerechte“ Verteilung der Lehrinhalte erreicht werden könn-te, die von den verschiedenen religiösen und gesellschaftlichen Gruppen akzeptiert würde?Historische Affinitäten, Ängste vor einer Instrumentalisierung der Religionen und nichtzuletzt gewisse Ressentiments in Teilen der bulgarischen Bevölkerung spiegelten sichhierbei in unterschiedlichen Positionen.

Ein nicht zu unterschätzender Grund für die ambivalente Haltung in Teilen der bulgari-schen Bevölkerung gegenüber dem Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen kannferner in den divergierenden Weltbildern und Erfahrungen, die das Ende des Realsozia-lismus hinterließ, gesucht werden. Insbesondere in den akademischen Kreisen hatte dieReligion während der 45 Jahre verordneten Staatssozialismus eine stark marginalisierteStellung. Dies hinterließ sowohl theoretische als auch didaktische Lücken und machte dieEtablierung eines neuen Faches zu einer schwierigen Aufgabe. Von Anfang an mangeltees an ausgebildeten Lehrern und bis auf wenige Ausnahmen70 gab es keine Kooperationzwischen theologischen und pädagogischen Fakultäten.71

Diese marginalisierte Stellung der Religion lässt sich aber keineswegs nur auf die aka-demischen Kreise begrenzen, sondern kann auf weitere Teile der Bevölkerung übertragenwerden. In diesem Zusammenhang sprach Klimentina Ivanova, ein Mitglied des Öffentli-chen Rates, von einem „religiösen Analphabetismus“ beziehungsweise einer „verächtli-chen Haltung gegenüber spirituellem Wissen“ in der bulgarischen Gesellschaft.72 Sie be-gründete ihre These damit, dass bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als

68 Verfassung der Republik Bulgarien vom 12. Juli 1991, in: Dăržaven Vestnik Nr. 56 vom 13. Juli 1991Artikel 13; Gesetz über die Volksbildung, 11. Oktober 1991, in: Dăržaven Vestnik, Nr. 86, vom 18.Oktober 1991, Artikel 5.

69 Pravilnik za prilagane na zakona za narodna prosveta, in: Dăržaven vestnik Nr.15 vom 24. Februar2003.

70 So der vom Muftiamt, dem Bildungsministerium und der Sofioter Universität im Jahr 2002 angeboteneQualifizierungskurs in islamischer Theologie für Grundschullehrer.

71 Kalkandjieva, Approaches to Religious Education, 53.72 Klimentina Ivanova, Predmet Religija v učilište? Zadălžitelno. In: Politiki, Institut otvoreno obštestvo,

Sofia Nr. 3 (2008).

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Religionsunterricht: Konzepte, Kontroversen, Kompromisse 133

säkularisierende Tendenzen Teile Europas erreichten, bedeutende Intellektuelle undSchriftsteller in Bulgarien für eine kritisch-spöttische Haltung gegenüber religiösen Über-zeugungen unter Teilen der gebildeten Schichten gesorgt hätten. Die Geschichten vonKlassikern der bulgarischen Literatur wie Elin Pelin oder Tčudomir, die spöttischen wieauch religionsbekämpfenden Verse der bekannten Dichter Penčo Slaveikov und GeoMilev oder auch die Karikaturen vom Stojan Venev sollen hierzu beigetragen haben.73

Ergänzt werden kann, dass nach 1944 mehrere Generationen nicht nur atheistisch erzogenwurden, sie wurden auch davon überzeugt, dass Religion „Opium für das Volk“ sei, eineböse Macht, die mit dem Fortschritt nicht vereinbar ist. Obwohl sogar die größten Gegnerdes Glaubens zugeben mussten, dass der Weg in die Unabhängigkeit im neunzehntenJahrhundert durch die Kirchenkämpfe vorgezeichnet wurde, wurde die ideologische Absa-ge der Religion durch die Idee des „beschämenden Wissens“ gestärkt. Nur schwache undunfähige Menschen seien für religiöse Vorstellungen anfällig. Literatur und Kunst warenauch während dieses Zeitabschnitts der bulgarischen Geschichte dazu berufen, kognitiv-emotional die negativen Bilder zu verstärken. Auf der Alltagsebene wurden Schüler ausgläubigen Familien von ihren Lehrern und Mitschülern mit Missachtung belegt, die Kin-der von Priestern ausgegrenzt. Zugleich war die Aufnahme in das Priesterseminar und dietheologische Akademie der Bulgarischen Orthodoxen Kirche unter die Kontrolle derkommunistischen Partei gestellt. Erwartet wurde, dass sich die zukünftigen Theologenmöglichst unauffällig verhalten, vor allem jedoch, dass sie regimetreu bleiben. Auch dasMuftiamt wurde weitgehend unter die Kontrolle des Politbüros gestellt. Hinzu kam, dassdie religiösen Schulen der Muslime, Katholiken, Protestanten, Juden und der Armenier abden 50er Jahren des 20. Jahrhunderts endgültig abgeschafft wurden.

Es ist gerade diese Ignoranz der Religion, die in Teilen der bulgarischen Eliten sowieder gebildeten Schichten kultiviert wurde, die es möglich machte, dass nach der politi-schen Wende ehemalige Kommunisten auf einmal die Kirche zu „verehren“ begannen. Eskann angenommen werden, dass dies geschah, nicht weil die Kirche ihnen heilig war,sondern weil die Kirche ihnen nicht mehr heilig war. Die übermäßige Bedeutung, die derkirchlichen Segnung von öffentlichen Gebäuden und Autobahnen von Politikern, Regie-rungsmitgliedern und Geschäftsmännern in den Jahren nach der politischen Wende zuge-schrieben wurde – obwohl es kein Geheimnis war, dass es unter ihnen kaum Mitgliederder Kirche gab – , fügte sich in das Gesamtbild ein.74 Nach dem Ende des Realsozialismusgalt „religiös“ zu sein wieder als konform und die Grenze zwischen einer „Selbstbedie-nung“ religiöser Symbole, um die eigene Stellung in der Gesellschaft zu stärken, und einerwiederkehrenden Religiosität war nicht immer leicht zu erkennen.

Geschwächt nach Jahrzehnten des Sozialismus waren die religiösen Institutionen zu-nächst kaum noch in der Lage religiös zu erziehen und den Respekt der Schüler und ihrerEltern zu gewinnen. Auffällig ist ferner, wie groß die Umstrukturierungsprobleme derreligiösen Institutionen in Bulgarien waren, obwohl die politische Liberalisierung nach

73 Ebda.74 Ein weiteres Beispiel wäre das Tragen von goldenen Kreuzen als Schmuck durch Mitglieder

krimineller Gruppierungen aber auch von Popfolk-Sängerinnen. In Bulgarien ist Popfolk (tčalga) seitden 1990er Jahren eine erfolgreiche Form der populären Musik, die sich Themen wie Sex,Kriminalität, Geld und Konsum widmet.

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1989 ihnen ganz neuen Handlungsmöglichkeiten verschaffte. Die anschließende Wieder-belebung der Religiosität wurde auch dadurch beeinträchtigt, dass sowohl die BulgarischeOrthodoxe Kirche als auch die Verwaltung der Muslime nicht in der Lage waren, ange-messene Antworten über ihre Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Regime zugeben. So sind seit 1992 die beiden größten Konfessionen in Bulgarien – das OrthodoxeChristentum und der Islam – in jeweils zwei verfeindete Lager gespalten. Dies führte nichtzuletzt dazu, dass es zumindest für einen begrenzten Zeitraum zwei parallele Führungender beiden Konfessionen gab. Der Vorwurf der Kollaboration mit den Kommunisten, aberauch kommerzielles Interesse sowie politische Machtkämpfe spielten dabei eine wichtigeRolle.

Im Fall der orthodoxen Kirche begann das Schisma mit der Aufdeckung von Doku-menten in den Archiven der früheren kommunistischen Partei, die bestätigten, dass derbulgarische Patriarch Maxim durch die Entscheidung des Parteichefs Todor Šivkov 1953„gewählt“ worden war. Nachdem die Direktion für religiöse Angelegenheiten seine Wahl1992 für nichtig erklärte, verweigerten zahlreiche Mitglieder der heiligen Synode Maximdie Anerkennung und richteten eine Alternativsynode ein. Die daraus entstandene Spal-tung erwies sich als hoch politisiert. Während die Heilige Synode des Patriarchen Maximvon der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) unterstützt wurde,75 erfreute sich dieAlternativsynode der Fürsprache der Union Demokratischer Kräfte (UDK). Immer wenneine dieser beiden politischen Parteien an die Macht kam, bekam auch die entsprechendeSynode die Kontrolle über Kapital und Eigentum der Kirche, das auf einen nicht unbedeu-tenden Wert von 5 Milliarden Euro geschätzt worden war.76 Nach mehreren gescheitertenVersuchen die Spaltung zu beenden, erklärte die bulgarische Regierung durch das 2002verabschiedete Religionsgesetz die Alternativsynode um Metropolit Innokentij als illegal.Die Angelegenheit kam anschließend bis vor den Europäischen Gerichtshof für Men-schenrechte in Straßburg, der mit einer Entscheidung vom 16. Dezember 2008 den bulga-rischen Staat wegen Verstoßes gegen Art. 9 der Menschenrechtskonvention verurteilte.Heute ist das Schisma beseitigt, aber die Kirchenkrise hält an. Diese Auseinandersetzun-gen, die nach innen wie auch außen zum Teil heftig ausgetragen wurden, hatten zur Folge,dass viele Bulgaren die Autorität ihrer religiösen Führer in Frage stellten. Beschäftigt mitdem Nachweis ihrer eigenen Legalität sahen sich die Heilige Synode – wie auch die Ver-waltung der bulgarischen Muslime – mit erheblichen Störungen bei ihrer Tätigkeit kon-frontiert.

Was die Vorbereitung und die Durchführung des Religionsunterrichtes an den öffentli-chen Schulen angeht, so zeigten beide religiösen Instanzen auch keine nennenswerte Be-reitschaft, flexibel und kompromissorientiert zu agieren. Das was sie einte, war das ge-meinsame Ziel, Religionslehre als Pflichtfach in der Schule einzuführen. Das Gemeinsamereichte jedoch nur soweit, bis eigene Interessen in Gefahr gerieten. Es gab weder themati-schen noch organisatorischen Austausch und die Vermittlung von Wissen über andereReligionen befand sich nicht auf der Tagesordnung. Die fehlende Kooperation zwischenden beiden religiösen Institutionen wurde durch Misstrauen und gegenseitige Beschuldi-

75 Daniele Kalkandjieva, Die bulgarische Orthodoxe Kirche: Last der Vergangenheit und Herausforde-rung der Zukunft, in: Ost-West. Europäischen Perspektiven 8 (2007) Heft 3, 225-228, hier 227.

76 Ebda.

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Religiosität in Bulgarien: Die Revitalisierung der verschwundenen Religionen 135

gungen ergänzt. Als Beispiel sei hier auf einen Kommentar von Cvetan Dikovski, Lehrerfür christliche Orthodoxie, hingewiesen, der im Rahmen des Forums „Religion als Pflicht-fach in der Schule“ auf der Internetseite der Heiligen Synode folgendes mitteilte:

„Bezüglich Schüler muslimischen Hintergrundes, können die zahlreichen muslimi-schen Gemeinden nicht unberücksichtigt bleiben, die in einigen Regionen gewisseVorteile haben. Hier muss offen gesagt werden, dass die Islamisierung dieser Regi-onen eine Politik ist, die folgende Probleme aufwirft: Das Aufkommen eines fun-damentalistischen Islam, die Absonderung der Schüler auf einer konfessionellenBasis und ohne bulgarisches Bewusstsein, die starke Konfessionalisierung der Leh-re sowie den Mangel an zuverlässiger Kontrolle seitens des Staates. Obwohl nachgeltenden Gesetzen in Bulgarien, die Bildung weltlich ist, wird bei dem islami-schen Religionsunterricht zu viel Wert auf die praktische Religiosität gelegt. Dar-über hinaus erhalten islamische Gemeinden in Bulgarien finanzielle Unterstützungvon außen. Dies hilft ihnen, islamische Schulen zu öffnen, Religionslehrer zu be-zahlen, junge Menschen zur Ausbildung ins Ausland zu schicken sowie großzügigeSpenden und Sozialleistungen unter den Muslimen zu verteilen. In diesem Fall fin-den wir, dass eine deutliche Ungleichheitsstellung zwischen den verschiedenenkonfessionellen Gemeinden in Bulgarien vorhanden ist.“77

Erstaunlich ist bei der oben zitierten Äußerung nicht nur die empirisch unbegründete Be-hauptung, in Bulgarien sei ein fundamentalistischer Islam im Vormarsch, sondern auch derHinweis auf den säkularen Charakter des bulgarischen Bildungssystems. Es ist ja geradedieses Aspekt, der die Heilige Synode und das Muftiamt zusammen brachte, um gegen dieentsprechenden gesetzlichen Bestimmungen zu protestieren und sich für die Einführungeines bekenntnisorientierten Religionsunterrichts einzusetzen.

3. Religiosität in Bulgarien: Die Revitalisierung der verschwundenenReligionen

Ein weiteres Argument, auf das im Verlauf der Religionsunterricht-Debatte immer wiederBezug genommen wurde, stellte der Verweis auf den (angeblich oder tatsächlich) geringe-ren Stellenwert der Religion in der bulgarischen Gesellschaft dar. Wie bereits erwähnt,begründete der Soziologe Andrei Raičev seine Behauptung, die Einführung des Religions-unterrichts in öffentlichen Schulen sei „eine Repression gegen eine Vielzahl von Men-schen“ damit, dass „jeder zweite Bulgare nicht an Gott glaube sowie weitere 25% Gott nurals eine abstrakte Transzendenz wahrnehmen“.78 Auch Daniela Kalkandjieva weist aufeine empirische Untersuchung des Nationalen Zentrums für Erforschung der öffentlichenMeinung vom März 2008 hin, die ergeben haben soll, dass nur 7% der Bulgaren regelmä-ßig am Gottesdienst teilnehmen. Weitere 24% hätten nie eine Kirche, Moschee, Synagogeoder ein anders Gotteshaus besucht. Darüber hinaus sollen 61% der Befragten angegeben

77 Cvetan Dikovski, Religijata kato zadalžitelen predmet v učilište?, in: <http://dveri.bg9> (13.04.2012).78 Diese Angaben konnten nicht durch eine Quelle belegt werden.

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haben, dass der wichtigste Vermittler moralischer Werte für sie die Familie sei, 18% dienationalen Traditionen, 7% die Wissenschaft und nur 4% der Bulgaren sollen die Religiongenannt haben.79 Können diese Angaben als repräsentativ angesehen werden? Sind dieBulgaren wirklich so religionsfern, wie ihnen dies im öffentlichen Raum immer wiedernachgesagt wurde?

Die Auswertung verfügbaren Datenmaterials bezüglich der Religiosität der Bulgarenanhand internationaler Umfragen wie Eurobarometer, World Values Survey (WVS), Eu-ropean Values Study (EVS) sowie das International Social Survey Program (ISSP) lässtein anderes beziehungsweise ein widersprüchliches Bild erkennen.80 Gemäß dem SpecialEurobarometer 225 „Social values, Science and Technology“ gaben im Jahr 2005 40% derbefragten Bulgaren an, dass sie an die Existenz Gottes glauben, 40% weitere, dass sie aneine Art Geist oder höhere Macht glauben und nur 13% antworteten, dass es für sie keinenGott oder irgendeine Art von höherer Macht gibt.81 Im Vergleich zu den benachbartenorthodoxen Ländern Rumänien (90% der Befragten glaubten an einen Gott) und Griechen-land (81% glaubten an einen Gott), sowie Ländern mit katholischen Tradition wie Polen(80%) und Kroatien (67%), so scheint es, dass der Prozess der Säkularisierung im bulgari-schen Kontext weit fortgeschritten ist (vgl. Grafik 1). Bei einem Vergleich mit den durch-schnittlichen europäischen Werten, befindet sich Bulgarien jedoch auf mittlerem Niveauund der Anteil derer, die an „Gott“ oder „eine höhere Macht“ glauben, bewegt sich beiinsgesamt 80%. Entsprechend gaben bei derselben Umfrage 79% der EU-Bürger an, reli-giöse oder spirituelle Überzeugungen zu haben. 52% von ihnen glaubten, dass es einen„Gott“ gibt und 27%, dass es „eine Art Geist oder höhere Macht“ gibt. Weitere 18% er-klärten, dass sie nicht glauben, dass es irgendeine Art von Geist, Gott oder höhere Machtgibt (Grafik 1).

Aus den Ergebnissen des Eurobarometers von 2005 lässt sich ferner die Entwicklungeiner neuen Art von Religiosität im europäischen Kontext erkennen, die durch den Glau-ben an „ein höheres Wesen oder eine höhere Macht“ gekennzeichnet ist. European ValuesStudy von 2008 bestätigt diese Tendenz. Mit Ausnahme von Zypern (84% glauben aneinen Gott), Polen (81%), Kosovo (80%), Griechenland (70%), Malta (67%) und mit 61%und 60% noch Italien und Portugal, zeigt sich, dass die Bindungen an einen persönlichenGott in Europa nicht weit verbreitet sind.82 Ohne die unterschiedlichen Entwicklungen inWest- und Osteuropa außer Acht lassen zu wollen, deuten die empirischen Ergebnisse an,dass religiöse Sinnformen in West- wie auch in Osteuropa einen Prozess der „Verflüssi-gung“83 durchlaufen, der sie abstrakter und diffuser macht. Es scheint, dass die in der

79 Kalkandjieva, Approaches to Religious Education, 60.80 Als Datengrundlage der Analysen dienen die Daten aus dem Special Eurobarometer 225 “Social

values, Science and Technology” vom Juni 2005, dem World Values Survey (WVS), der EuropeanValues Study vom 1999 und 2008 (EVS 1999, 2008: Bulgaria) sowie dem International Social SurveyProgram (ISSP) von 1991, die einer Sekundärauswertung unterzogen wurden.

81 Special Eurobarometer 225 “Social values, Science and Technology”, June 2005, in:<http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_225_report_en.pdf> (August 2012).

82 Eine grafische Darstellung der Ergebnisse des EVS von 2008 findet sich in: Loek Halman/ IngeSieben/ Marga van Zundert (Hg.), The atlas of European values: trends and traditions at the turn of thecentury, Leiden [u.a.]: Brill, 2012.

83 Hubert Knoblauch, Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse, in: Luckmann, Thomas, Die

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Religiosität in Bulgarien: Die Revitalisierung der verschwundenen Religionen 137

Religionssoziologie vertretene Individualisierungsthese eine partielle Bestätigung findet.So sehen Individualisierungstheoretiker wie Grace Davie, Thomas Luckmann oderDaniele Hervieu-Leger die Folgen der Modernisierung (insbesondere in Westeuropa) nichtin einem Bedeutungsverlust von Religion, sondern in einem Wandel ihrer dominantenFormen.84 Dieser Wandel, der sich in einem Bedeutungsrückgang traditioneller instituti-onsgebundener Religiosität und einem Bedeutungsanstieg individualisierter, sozial diffu-ser und synkretistischer Religiositätsvarianten ausdrückt, wird zugleich von einem Wandelder Gottesvorstellungen begleitet. Religiöse Vorstellungen werden immer unbestimmterund unkonkreter und die Bulgaren stellen hierbei keine Ausnahme dar. Wie Höllinger,Gensicke und Pollack darauf hinweisen, ist der Glaube an ein höheres Wesen insgesamtweniger verhaltensrelevant als der Glaube an einen persönlichen Gott und beeinflusstmoralische und familiäre Verhalten oder auch Kindererziehung weniger als dieser.85 DieTendenz der „Verflüssigung des Religiösen“ geht somit mit der Tendenz des Einzelneneinher, der Religion für sein Leben eine geringere Bedeutung zuzuweisen.86 Diese gerin-gere Zentralität von Religion kann jedoch nicht mit einem Verlust an Religiosität gleich-gesetzt werden.

unsichtbare Religion. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991, 1-44.84 Grace Davie, Religion in Britain since 1945: Believing without Belonging, [u.a.]: Blackwell, 1994;

Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991; Danièle Hervieu-Léger, Pilger und Konvertiten: Religion in Bewegung, Würzburg: Ergon-Verlag, 2004; Ders. Religionand Modernity in the French Context: For a New Approach to Secularization, in: Sociological Analysis51, 1990, 15-25.

85 Thomas Gensicke, Deutschland im Wandel: sozialer Wandel und Wertewandel in Deutschland vor undnach der Wiedervereinigung, 2. Aufl. Speyer: Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung, 1996,227f; Franz Höllinger, Volksreligion und Herrschaftskirche: die Wurzeln religiösen Verhaltens inwestlichen Gesellschaften, Opladen: Leske/Budrich, 1996; Detlef Pollack, Rückkehr des Religiösen?Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa, Tübingen: Mohr Siebeck 2009, 147.

86 Pollack, Rückkehr des Religiösen?, 147.

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Grafik 1: Religionsüberzeugungen im europäischen VergleichWelche der folgenden Aussagen kommt Ihren Überzeugungen am nächsten?

4067

9095

161923

313434373738414344444749545961

7374808181

9095

52

4025

83

5450

5349

3727

4649

4041

29312825

363421

262216

151216

73

27

13711

2630

2319

2733

1610

2016

27192225

128

1811

4626332

18

0% 100%

BulgarienKroatien

RumänienTurkeyEstland

TschechienSchwedenDänemark

NiederlandeFrankreichSlowenienLettland

UKFinnlandBelgienUngarn

LuxemburgDeutschland

LitauenÖsterreich

SpanienSlowakei

IrlandItalienPolen

PortugalGriechenland

ZypernMalta

EU25

Ich glaube, es gibt einen Gott

Ich glaube, dass es eine Art Geist oder höhere Macht gibt

Ich glaube nicht, dass es irgendeine Art von Geist, Gott oder höhereMacht gibt

Keine Angabe

Quelle: Special Eurobarometer 225 “Social values, Science and Technology”, June 2005. Eigene Darstellung.

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Religiosität in Bulgarien: Die Revitalisierung der verschwundenen Religionen 139

Zieht man zur Messung des Religiositätsniveaus in Bulgarien weitere Merkmale wie 1)Konfessions- und Kirchenzugehörigkeit, 2) die religiöse Praxis (den Kirchgang, die Ge-betshäufigkeit sowie die Inanspruchnahme von Kasualien wie Taufe, Trauung, Beerdi-gung), aber auch 3) die Verbreitung des Gottesglaubens in einem Zeitvergleich heran, solassen sich in all diesen Bereichen deutliche Steigerungsraten erkennen. Insbesondere derGlaube an Gott ist in den letzten 19 Jahren in Bulgarien deutlich gestiegen87 (vgl. Tabelle6). Waren es im Jahr 1990 40% der befragten Bulgaren, die an Gott glaubten, ist ihre Zahlim Jahr 2008 auf 67% gestiegen. Beachtliche Zuwächse lassen sich ferner bezüglich derSelbstbeschreibung von Religiosität feststellen (Tabelle 6). Unabhängig davon, ob dieBefragten ein Gotteshaus besuchten, identifizierten sich im Jahr 2008 mehr als die Hälftevon ihnen (55%) als „religiös“. Der Atheismus scheint dagegen an Attraktivität verlorenzu haben. Im selben Jahr waren es nur 4% der Befragten, die sich als „Atheisten“bezeichneten (European Values Study, EVS: Bulgaria 2008). 88

Tabelle 6: Subjektive Religiosität in Bulgarien 1990-2008. Prozentangaben.

1990* 1995* 2000* 2008*** Differenz

Glaube an Gott 40 67 66 67 + 27Bin religiöser Mensch 36 53 52 55 + 19Glaube an persönlichenGott

10 40** 36 32 + 22

Quelle: *World Values Survey (WVS), in: Halman (2008)89; **Special Eurobarometer 2005; *** EuropeanValues Study: Bulgaria (EVS 2008).

Obwohl sich die Zugehörigkeit zur Kirche in Osteuropa über Bevölkerungsumfragen auf-grund fehlender Mitgliedschaftsdaten sowie freiwilliger Abgaben von Kirchensteuern nursehr unzuverlässig ermitteln lässt, weist Pollack für die Zeit nach 1989 auf einen Zuwachsvon 7% in Bulgarien hin.90 Neben Russland und Albanien gehörte Bulgarien somit zu denosteuropäischen Ländern, die die dynamischste Entwicklung hinsichtlich der Kirchenmit-gliedschaft für die Zeit nach der politischen Wende verzeichneten. Auch der Anteil derKonfessionsangehörigen hat zugenommen. Im Jahr 2008 gaben 73% der befragten Bulga-

87 Wird die Frage nach dem Gottesglauben nicht mehr als eine Auswahl zwischen einem „persönlichenGott“ und einer „höheren transzendenten Kraft“, sondern allgemein als „Glaube an Gott“, an ein„Leben nach dem Tod“, an die „Hölle“, den „Himmel“ und die „Sünde“ gestellt, so ergeben sichandere Werte als in Grafik 1 dargestellt (vgl. Grafik 2).

88 European Values Study 2008: Bulgaria (EVS 2008). GESIS Datenarchiv, Köln.89 Halman, Loek/ Inglehart, Ronald/ Diez-Medrano, Jaime (Hg.), Changing values and beliefs in 85

countries: trends from the values surveys from 1981 to 2004, Leiden [u.a.]: Brill, 2008.90 Da es in Bulgarien wie in den meisten Ländern Osteuropas keine Mitgliedschaftskarten gibt, ist es

schwierig klare Kriterien für eine Kirchenmitgliedschaft zu finden. Deshalb basieren die o.g. Daten aufder Frage, ob man heute einer Konfession oder Religionsgemeinschaft angehört, aber früher nicht bzw.ob man früher einer Konfession oder Religionsgemeinschaft angehörte, aber jetzt nicht mehr. Vgl.Pollack, Rückkehr des Religiösen?, 110.

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Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen140

ren an, einer Konfession anzugehören.91 Entsprechend ist der Anteil der Konfessionslosenvon 68% im Jahr 1990 (ISSP 1991) auf 26% im Jahr 2008 (EVS: Bulgaria 2008) deutlichgesunken.

Grafik 2: Religiöser Glaube in Bulgarien (2008)Antwort auf die Frage: An welche der folgenden Aussagen glauben Sie?

22,3

24,1

25,5

51,9

67,3

55,2

52,3

51,8

30,6

21,7

19,3

20

19,3

14,3

9,2

0 100

An die Hölle

An ein Leben nach dem Tod

An das Paradies

An die Sünde

An GottJa

Nein

Ich weiß es nicht

Ohne Antwort

Quelle: European Values Study 2008: Bulgaria (EVS 2008). GESIS Datenarchiv, Köln.

Wie sieht es mit der religiösen Praxis aus? Wie Tabelle 7 in einem Ländervergleich inOsteuropa zeigt, nahm der Gottesdienstbesuch unmittelbar nach der politischen Wende inBulgarien mit 11% zu, während der Anteil derjenigen zurückging, die nie am Gottesdienstteilnahmen.92 Bei einem Vergleich zwischen den Ländern Osteuropas lässt sich erkennen,dass anders als in den mehrheitlich katholischen Ländern wie Polen, Slowenien, Kroatien,Litauen und der Slowakei, die Menschen in den mehrheitlich orthodoxen Ländern wieBulgarien, Russland und Weißrussland den Gottesdienst seltener besuchen. Laut Pollack,scheint diese geringere Beteiligung am gottesdienstlichen Leben in den orthodoxen Län-dern (mit der Ausnahme Rumäniens) ein typisches Merkmal der orthodoxen Kirchenbin-dung in den heutigen Gesellschaften Osteuropas zu sein.93 Auch in Rumänien, ein Land, indem die Kirchenbindung während der sozialistischen Zeit relativ unbeschadet blieb, ist dieKirchenbesucherzahl niedriger als im katholischen Polen, in Slowenien oder in Kroatien.

91 European Values Study: Bulgaria 2008.92 Dass die Zugewinne in Bulgarien überdurchschnittlich hoch ausfallen, lässt sich nicht zuletzt mit dem

niedrigen Ausgangsniveau erklären. In Polen dagegen, wo bereits Anfang der 1990 Jahre höhereKirchgangshäufigkeit (84%) festzustellen war, gab es entsprechend nur eine begrenzte Möglichkeit füreine weitere Steigerung.

93 Pollack, Rückkehr des Religiösen, 114.

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Religiosität in Bulgarien: Die Revitalisierung der verschwundenen Religionen 141

Tabelle 7: Wandel des Kirchgangs in Osteuropa (1990-2000)Anteil derjenigen, die mindestens einmal im Monat zur Kirche gehen, an derGesamtbevölkerung. Prozentangaben.

1990 1995 1999/2000 Differenz

Polen 84 74 78 - 6Slowakei 40 46 50 +10Slowenien 35 33 31 - 4Ungarn 23 17 18 -5Ostdeutschland 17 9 12 - 5

Tschechien 11 14 12 +1Estland - 9 11 +2

Rumänien 31 40 46 +15

Bulgarien 9 16 20 +11

Russland 6 8 9 +3

Lettland 9 16 15 +6Weißrussland 6 14 15 +9Kroatien - 36 53 +17

Litauen - 31 31 0Quelle: Kombinierte Berechnungen auf der Basis des World Values Survey (WVS) und der EuropeanValues Study (EVS), in: Halman (2008).

Betrachtet man die Antworten auf die Frage „Wie oft besuchen sie Gottesdienst, außerzu Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen?“, fällt auf, dass 2008 ein bedeutender Anteilder befragten Bulgaren (45,5%) Gottesdienst nur an bestimmten religiösen Feiertagenbesuchten (EVS: Bulgaria 2008). Im selben Jahr gaben 14,7% der Befragten an, dass siemindestens einmal im Monat zur Kirche gehen, womit ein leicht negativer Trend imVergleich zu 1999/2000 zu verzeichnen war. 9% antworteten, dass sie „einmal im Monat“,4% „einmal in der Woche“ und nur 1% „mehrmals in der Woche“ am Gottesdienstteilnehmen.

Was die Gebetshäufigkeit außerhalb der Gottesdienste angeht, so behaupteten 200835% der Befragten, zumindest einmal im Monat zu beten (EVS: Bulgaria 2008). Trotz derZuwächse bei Gebetshäufigkeit und Kirchganghäufigkeit kann die Beteiligung am kirchli-chen Leben in Bulgarien insgesamt nicht als intensiv bezeichnet werden und die Wertebeim Kirchenbesuch bleiben relativ niedrig. Deutliche Ausnahmen in diesem Zusammen-hang stellen die Inanspruchnahme kirchlicher Rituale wie Taufe, Trauung, Geburt oderBeerdigung dar, die – laut der empirischen Daten – nachgefragt werden (Tabelle 8).

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Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen142

Tabelle 8: Gottesdienst bei besonderen Anlässen in Bulgarien 2008. Prozentangaben.

Halten Sie es für wichtig, einen Gottesdienst bei folgenden Anlässen durchzuführen?Ja Nein Ich weiß es nicht Ohne Antwort

Begräbnis 78,1 11,0 9,4 1,5Hochzeit 69,8 17,4 10,3 2,5Geburt 58,1 25,3 14,5 2,1

Quelle: European Values Study: Bulgaria (EVS 2008).

Die Ergebnisse des European Values Survey von 2008 bezüglich der Einstellungen zurReligion und Kirche in Bulgarien überraschen vor allem hinsichtlich des hohen Maßes anVertrauen, das die Kirche und andere religiösen Institution in den 19 Jahren nach der poli-tischen Wende in Bulgarien gewonnen haben (Grafik 3). Bei der Frage „Welcher Instituti-on Sie am meisten vertrauen?“ nimmt die Kirche beziehungsweise andere religiösen Insti-tutionen im Jahr 2008 den dritten Platz ein (nach der EU und dem Bildungssystem). 1999hatten sie nach der EU, dem Bildungssystem und der Armee entsprechend den viertenPlatz. Offensichtlich hat der allgemeine Rückgang des Vertrauens in die wichtigsten Insti-tutionen der öffentlichen Gewalt, die hohe soziale Unsicherheit sowie die Enttäuschungüber den Verlauf der politischen Prozesse im Lande die Erwartungen an religiöse Instituti-onen deutlich gestärkt. Das Vertrauen zu religiösen Institutionen soll jedoch nicht mit derKirchenmitgliedschaft und einer Beteiligung am kirchlichen Leben verwechselt werden.

Andere Ergebnisse des European Values Study von 2008 weisen eher auf widersprüch-liche Entwicklungstendenzen hin. So glaubt fast die Hälfte der befragten Bulgaren(45,1%) nicht an einen persönlichen Gott und gibt an, an „eine Art Geist oder eine höhereMacht oder ein höheres geistigen Wesen“ zu glauben, womit die Tendenz einer „Verflüs-sigung des Religiösen“ fortgesetzt wird (vgl. Grafik 1). Weitere 32,4% der Befragten ga-ben an, dass sie an einen persönlichen Gott glauben und 8,9 %, dass sie nicht glauben,dass es „irgendeine Art von Geist, Gott oder höhere Macht gibt“ (Grafik 4).

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Religiosität in Bulgarien: Die Revitalisierung der verschwundenen Religionen 143

Grafik 3: Vertrauen zu religiösen Institutionen in Bulgarien (2008)Inwieweit vertrauen Sie den folgenden Institutionen? Skala von 1 bis 4, wobei 1 "keinVertrauen", 4 "sehr großes Vertrauen“ bedeutet.

1,61

1,61

1,79

1,84

1,85

1,86

2,04

2,15

2,32

2,33

2,35

2,6

0 1 2 3 4

Gewerkschaften

Parlament

Justizwesen

Soziale Sicherheit

Öffentliche Verwaltung

Gesundheitswesen

Medien

Polizei

Militär

Kirche

Bildungssystem

Europäische Union

2008

1999

Quelle: European Values Study: Bulgaria (EVS 1999 und 2008). Eigene Darstellung.

Grafik 4: Glaube an Gott/ höhere MachtWelche der folgenden Aussagen kommt Ihren Überzeugungen am nächsten? (2008)

32,4% 45,1% 8,9% 12,6%

0% 100%

Bulgarien

Ich glaube, dass es einen Gott gibt

Ich glaube, dass es eine Art Geist oder höhere Macht gibt

Ich glaube nicht, dass es irgendeine Art von Geist, Gott oder höhere Macht gibt

Ich weiß es nicht

Ohne Antwort

Quelle: European Values Study: Bulgaria (EVS 2008).

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Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen144

Nicht ohne Bedeutung ist ferner zu sehen, wie weit der Kirche bei verschiedenenProblemen zugetraut wird, angemessene Antworten zu finden. Auf die Frage „Denken sie,dass die Kirche in ihrem Land adäquate Antworte auf die folgenden Probleme gibt?“antworteten 2008 47% der befragten Bulgaren, dass dies an erster Stelle „die spirituellenBedürfnisse der Menschen“ und 32% „die moralischen Probleme und Bedürfnisse“ seien.Probleme des Familienlebens oder soziale Fragen scheinen dagegen in diesemZusammenhang auf wenig Resonanz zu stoßen.

Tabelle 9: Erwartungen an die KircheGeben die Kirchen in Ihrem Land angemessene Antworten auf die folgenden Probleme.Antworten mit „Ja“, Prozentangaben.

Angemessene Antworten der Kirchen auf 1990* 2000* 2008**

spirituelle Bedürfnisse der Menschen 56 55 47moralische Probleme und Bedürfnisse des Einzelnen 49 44 32Probleme des Familienlebens 38 29 20soziale Probleme 22 15 11

Quelle: * Kombinierte Berechnungen auf Basis World Values Survey (WVS) und European Values Study (EVS),in: Halman (2008), ** EVS 2008.

Darüber hinaus zeigen die Bulgaren eine eher distanzierte Haltung gegenüber demMonopolanspruch einer bestimmten Religion. Während 12% angaben, dass „es nur einewahre Religion gibt“, sind 17% der Meinung, dass „es nur eine wahre Religion gibt, aberauch in anderen Religionen grundlegende Wahrheiten enthalten sind“. 41% gaben an, dasses „nicht nur eine wahre Religion gibt, sondern alle großen Weltreligionen grundlegendeWahrheiten enthalten“ (EVS: Bulgaria 2008). Auf die weitere Frage „Wieweit die Aussa-ge ‚Ich habe meinen eigenen Weg, ohne die Hilfe der Kirche mit Gott zu kommunizieren‘auf Sie zutrifft?“ antworteten 2008 entsprechend 34% mit „in großem Maß“ und „in sehrgroßem Maß“. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass mit Ausnahme des Kirchgangs anbestimmten religiösen Feiertagen, die sozialstrukturelle Freisetzung des Individuums so-wie die Loslösung von kirchlichen Vorgaben in Bulgarien fortgeschritten sind. Vom sym-bolischen Kapital der Kirche scheint am meisten Gebrauch gemacht werden, wenn es, wiein der Tabelle 8 dargestellt, um Ereignisse wie Geburt, Heirat oder Begräbnis, also umrituelle Begleitung durch die Kirche geht. Die Kirche dient zwar als Dienstleistungsanbie-terin und tritt als wichtiges Symbol der kollektiven Identitätsbildung in Erscheinung, sieist aber wenig in der Lage, Ansprüche an ihre Mitglieder zu stellen.

Neben den Aussagen über die Kirchenzugehörigkeit, der Beteiligung am kirchlichenLeben, der Verbreitung des Gottesglaubens und anderer religiöser Vorstellungen ist eswichtig, den Stellenwert einzubeziehen, den diese religiösen Bindungen, Praktiken undVorstellungen für die Lebensführung des einzelnen Individuums besitzen. Betrachtet mandie Antworten auf die Frage, für wie wichtig die Befragten Religion in ihrem Leben hal-ten, so ergibt sich für die Zeit bis 1999, dass in Bulgarien der Anteil derer, für die dieReligion sehr oder ziemlich wichtig ist, von 28% im Jahr 1990 (WVS) auf 48% im Jahr1999 (EVS) gestiegen ist.

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Religiosität in Bulgarien: Die Revitalisierung der verschwundenen Religionen 145

Laut des EVS von 2008 gaben ferner 17,6% der befragten Bulgaren an, dass die Reli-gion für sie eine „sehr wichtige“ Rolle spielt (EVS: Bulgaria 2008). Die Summe der Ant-worten, die Religion als „sehr wichtig“ und „wichtig“ angaben, ergibt immerhin einenWert von 51,8%, was eher auf einen steigenden Trend hindeutet. Diese Tendenz lässt sichauch anhand der Frage nach der Bedeutung „Gottes im Leben des Einzelnen“ feststellen(Grafik 5). Inwieweit es bei diesen Revitalisierungserscheinungen um langfristige Ent-wicklungen oder Nachholeffekte geht, kann erst durch das Einbeziehung weiterer For-schungsergebnisse in den nächsten Jahren geklärt werden.

Tabelle 10: Bedeutung der Religion in Bulgarien (2008)Wie wichtig sind die folgenden Kategorien in Ihrem Leben? Prozentangaben.

Sehrwichtig

Ziemlichwichtig

Nichtbesonderswichtig

Überhauptnichtwichtig

Ichweiß esnicht

OhneAntwort

Familie 85,1 13,3 0,4 0,2 0,4 0,5Arbeit 60,5 27,9 7,1 2,7 0,5 1,3Freunden undBekannten

38,3 52,4 7,9 0,4 0,4 0,6

Freizeit 27,2 54,6 14,7 2,0 0,5 1,1Religion 17,6 34,2 31,5 11,9 3,1 1,8

Quelle: European Values Study: Bulgaria (EVS 2008).

Grafik 5: Bedeutung von Gott seit 1990Bedeutung von Gott im Leben der Bulgaren auf einer Skala von 1 (überhaupt nichtwichtig) bis 10 (sehr wichtig)

1621

63

1990

28

35

37

1999

35

38

27

2008

8-10 (sehr wichtig)4-71-3 (überhaupt nicht wichtig)

Quelle: EVS: Bulgaria 2008. Eigene Darstellung.

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Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen146

Ein mittlerer bis niedriger Stellenwert der Religion lässt sich ferner hinsichtlich derBedeutung religiösen Glaubens bei der Erziehung der Kinder feststellen. Auf die Frage„Welche der Eigenschaften, die sich Kinder in der Familie aneignen sollten, sind ihrerMeinung nach besonders wichtig?“ kam laut der European Values Study von 2008 religiö-ser Glaube mit 20,3% an zehnter Stelle. Als bedeutendere „Eigenschaften“ wurden Fleiß86,4%, Verantwortungsgefühl 79,6%, gutes Benehmen 69,9%, Entschlossenheit und Aus-dauer 63,6%, Toleranz und Respekt für andere 63,6%, Unabhängigkeit 41,3%, Sparsam-keit 40,1%, Altruismus 31,4% und Phantasie 24,4% genannt.94

Was die bulgarischen Muslime betrifft, so gibt es nur wenige Umfragen, die sich konk-ret an sie als eine gesonderte Untersuchungsgruppe wenden. Eine davon ist die im Jahr2011 von der Neuen Bulgarischen Universität durchgeführte Erhebung zur Religiosität derbulgarischen Muslime. Nach den noch vorläufigen Ergebnissen ergibt sich, dass 48,6%der Befragten die Religion an erster Stelle als bedeutend für ihr Leben nennen. Somitnahm die Religiosität den vierten Platz auf der Werteskala für die bulgarischen Muslimeein.95 Sie wurde von der Familie (95,4% der Befragten bestimmten sie als „sehr wichtig“),Arbeit (93,3%) sowie von Freunden und Bekannten (60,4%) überholt (als Vergleich dazusiehe Tabelle 10). Aus derselben Umfrage geht hervor, dass 28,5% der befragten Muslimesich als „tief religiös“ bestimmen, 41% von ihnen keine Moschee besuchen und 59,3%niemals beten. Zugleich beschneiden 88,2% ihre Kinder und 96,1% begraben ihre Totennach der islamischen Tradition.96 Auch hier – wie oben in der Tabelle 8 dargestellt – istdie Nachfrage nach Übergangsritualen hoch. Während Gottesdienstbesuch und Gebetshäu-figkeit nach dem politischen Umbruch in Bulgarien zwar deutlich zugenommen haben,insgesamt jedoch nicht als besonders intensiv bezeichnet werden können, ist der Bereichder sogenannten Kasualpraxis (Geburt, Trauung, Beerdigung oder Beschneidung bei denMuslimen) stark gefragt. Religiöse Institutionen scheinen somit eine wichtige Stütze imHintergrund zu sein, auf die man in Übergangzeiten und Notfällen zurückgreifen möchte,die man aber für die Bewältigung des Alltags nicht braucht.

Wenn man die Entwicklung in Bulgarien anhand der oben dargestellten Religiositäts-indizes auswertet, so lässt sich für die Zeit nach dem politischen Umbruch von 1989durchaus ein religiöser Aufschwung feststellen. Angesichts des niedrigen Ausgangsni-veaus religiöser Praktiken und Überzeugungen sowie einer Anfang der 1990er Jahre eherkirchlich distanzierten Bevölkerung, können die nach der politischen Wende empirischerfassten Veränderungen zunächst als eine „Normalisierung“ des religiösen Feldes be-trachtet werden97. Eine Normalisierung bedeutet aber auch, dass die „verschwundenenReligionen“ im Leben zumindest eines Teils der bulgarischen Bevölkerung zurückgekehrtsind. Hohe Nachfrage der Kasualpraxis (Geburt, Trauung, Beerdigung oder Beschneidungbei den Muslimen) einerseits und ein insgesamt niedriges Niveau der organisierten Religi-

94 European Values Study: Bulgaria 2008.95 Vladislav Beličkov, Bălgarskite mjusjulmani meždu bita i religijta, in: Kultura vom 13. Januar 2012.96 Hierbei handelt es sich um noch vorläufige Daten, die von den Endergebnissen abweichen könnten.97 Die These einen „religiösen Normalzustandes“ geht davon aus, dass in vielen osteuropäischen Ländern

„die unnatürlich zurückgedrängte Religiosität und Kirchlichkeit sich bis hin zu dem Zustand erholt,den sie ohne politische Repression nach ihrem Modernisierungsstand eingenommen hätte“. Vgl. GertPickel, Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche, Wiesbaden: VS Verlag fürSozialwissenschaften, 2011, 364f.

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Religiosität in Bulgarien: Die Revitalisierung der verschwundenen Religionen 147

on sowie Prozesse religiöser Individualisierung andererseits, zeichnen die bedeutendstenEntwicklungstendenzen nach 1989 aus. Offensichtlich geht die Vitalisierung der Religionin Bulgarien nicht mit dem Wunsch nach Wiederherstellung des kirchlichen Einflusses aufdie Privatsphäre einher.

Der individuelle Zugang zur Religion wird zugleich von einem Formwandel des Reli-giösen begleitet, wobei an die Stelle eines persönlichen Gottes, das Bild eines unpersönli-chen höheren Wesens oder eine höhere Kraft gesetzt wird. Ob dieser Wandel der Gottes-vorstellungen noch während der Zeit des Sozialismus festzustellen war oder sogar als eineder Folgen davon zu deuten ist, kann aufgrund der unzureichenden empirischen Basis hiernicht weiter belegt werden. Während der 45 Jahre dauernden kommunistischen Herrschaftin Bulgarien wurden religiöse Aktivitäten in der Öffentlichkeit unterdrückt, religiöse Insti-tutionen wurden unter staatliche Kontrolle gestellt, die Weitergabe religiösen Wissens zumTeil unterbrochen. Die kirchlich verfasste Religion wurde somit zurückgedrängt. Diesschränkte die freie religiöse Ausübung ein und führte zu einer Reduzierung der Gläubigen.Religiöse Überzeugungen konnten jedoch auch weiter – sowohl auf der Ebene der privatenReligiosität als auch im Rahmen familiärer Netzwerke –in Teilen der Bevölkerung be-wahrt werden. Dies geschah ohne die direkte Kontrolle der Kirche. ReligionssoziologischeUntersuchungen verweisen auf „abgelagerte, für Handelnde über lange Strecken irrelevan-te Elemente religiösen Glaubens und Handelns, die zur kulturellen Tradition zählen, dieaber zu bestimmten Anlässen wieder gleichsam an die Oberfläche gelangen und von denHandelnden aktiviert werden“.98 Knoblauch weist darauf hin, dass diese abgelagerten,sedimentierten Elemente der Religion eine besondere Bedeutung vor allem in der vonvolkstümlichen Traditionen geprägten populären Religiosität haben.99

Hinsichtlich der Einstellungen der Bulgaren gegenüber der Integration des Religions-unterrichts in die öffentlichen Schulen, gibt es bislang keine repräsentative Umfrage.Nachdem der Versuch, den Religionsunterricht als Pflichtfach in der Schule einzuführen,gescheitert ist, bleibt das Thema bis in die Gegenwart aktuell.100 Deshalb startete dieOnline-Ausgabe der Zeitschrift Kapital unter dem Titel „Ist ein obligatorischer Religions-unterricht in der Schule erforderlich?“ im Herbst 2010 ein Forum, das von einer offenenBefragung begleitet wurde. Aus der Abstimmung ging hervor, dass 24% der Beteiligten ander Umfrage dies befürworteten, die restlichen 76% jedoch der Meinung waren, dass Reli-gionsunterricht als Pflichtfach an der öffentlichen Schule nichts zu suchen hat.101 Zumin-dest in der Art und Weise, wie der Religionsunterricht vom Ministerium für Bildung und

98 Roberto Cipriani, ‚Diffused religion‘ and new values in Italy, in: James Beckford/ ThomasLuckmann (Hg.), The Changing Face of Religion, London: Sage 1989, 24-48.

99 Hubert Knoblauch, Religionssoziologie, Berlin [u.a.]: de Gruyter 1999, 185.100 Zum Beginn des neuen Schuljahres 2010 organisierte die Bulgarische Orthodoxe Kirche am 24.

September 2010 in Sofia eine nationale Prozession, um die Unterstützung der Öffentlichkeit für denReligionsunterricht als Pflichtfach an der Schule zu gewinnen. Durch Online-Petitionen sowie wei-tere Initiativen versuchen Anhänger eines konfessionellen Religionsunterrichts die Aufmerksamkeitfür das Thema zu erhalten. Siehe: Nationalno litijno šestvie „Obrazovanie za duha i dobroto badeštena našite deca“, in: <http://bg-patriarshia.bg/news.php?id=27101> (03.12.2010).

101 Trjabva li zadalžitelno da se izučava religija-pravoslavie v učilište?, in: Kapital, 16. September2010.

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Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen148

Forschung sowie der Heiligen Synode der Bulgarischen Orthodoxen Kirche vorgeschlagenwurde, scheint er weitgehend abgelehnt zu werden.

4. Schlussbetrachtung

Obwohl nach der politischen Wende die Rechte der Glaubensgemeinschaften in Bulgarienweitgehend wiederhergestellt wurden, hat die öffentliche Politik eine Reihe von Heraus-forderungen, die im Zusammenhang mit der Religion und insbesondere dem Islam ent-standen sind, weitgehend ignoriert. Dieses wenig vorhandene Interesse der politischenEntscheidungsträger am Islam als Religion wie auch als soziale Praxis, sorgte insgesamtfür eine ambivalente Haltung gegenüber den muslimischen Minderheiten im Land. DiePolitik gegenüber islamischen Bildungseinrichtungen kann als ein Beispiel dienen. Nichtnur, dass staatliche Regierungsbehörden wie die Direktion für religiöse Angelegenheitenkeine langfristige und vor allem angemessene Strategie für diese muslimischen Institutio-nen haben, die islamischen Mittelschulen wie auch das Oberste Islamische Institut in Sofiasind chronisch unterfinanziert und stark von der Unterstützung ausländischer Geldgeberabhängig. Beharrend auf den säkularen Charakter des bulgarischen Staates betrachtenstaatliche Akteure die religiösen Schulen als private Angelegenheit und verweigern ihnendie staatliche Unterstützung.

Die Vorstellung, die Religion gehöre in das Private, lässt sich ferner am Beispiel desReligionsunterrichts an den öffentlichen Schulen veranschaulichen. Die Einführung desReligionsunterrichts als ein Pflichtfach in den staatlichen Schulen stellte hierbei eines dermeist debattierten Themen seit Ende der 1990er Jahre dar. Es brachte eine Reihe von Fra-gen mit sich, die bislang keine angemessene Lösung fanden. Im Verlauf der Debatte, de-ren Höhepunkt im Jahr 2008 erreichte, wurde deutlich, dass es durchaus verschiedenegesellschaftliche Akteure gibt, die sich für die schulische Integration von Religionsunter-richt einsetzen. In ihren Motiven und Zielsetzungen unterscheiden sie sich jedoch deutlichvoneinander. Während sich die Bulgarische Orthodoxe Kirche und das Muftiamt der bul-garischen Muslime für einen bekenntnisorientierten Religionsunterricht einsetzten, votier-ten die stattlichen Akteure anders und befürworteten einen gemeinsamen Unterricht füralle Schüler und Schülerinnen, egal welche Konfession oder Weltanschauung sie haben.Geteilt durch das zivile und kanonische Recht war es für religiöse Institutionen und staat-liche Akteure schwierig, eine gemeinsame Basis für das Etablieren des Religionsunter-richts in den öffentlichen Schulen zu finden. Die Auseinandersetzungen, die in der Öffent-lichkeit ausgetragen wurden, machten zugleich sichtbar, wie geteilt die bulgarischeGesellschaft – nicht nur in Bezug auf den Religionsunterricht, sondern auch weitere The-men wie die Stellung der Religion in der bulgarischen Gesellschaft, das Verhältnis vomStaat und Kirche, sowie die Bedeutung der Religionen bei der Vermittlung moralischerWerte im postkommunistischen Kontext – ist. Hierbei reichten die Referenzen über Reli-gion in der Schule von einer “Retterin der bulgarischen Gesellschaft aus dem moralischenVerfall“ bis zu der Behauptung mit diesem Fach wolle man einen „neuen wissenschaftli-chen Kommunismus“ einführen.

Die eher ablehnende Haltung gegenüber Religionsunterricht in den staatlichen Schulenist jedoch nicht mit einem Verlust religiöser Überzeugungen gleichzusetzen. Schaut man

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Religiosität in Bulgarien: Die Revitalisierung der verschwundenen Religionen 149

sich die empirische Evidenz nach dem politischen Umbruch von 1989 an, so lässt sich eineRevitalisierung des religiösen Feldes im postkommunistischen Bulgarien feststellen. Diefeststellbare Rückwendung zur institutionsgebundenen Religiosität bleibt jedoch insge-samt relativ schwach; die Tendenz religiöser Individualisierung lässt sich weiter feststel-len. Während sich die Inanspruchnahme von Übergangsritualen wie Trauung, Geburt,Beerdigung und ähnlicher Rituale einer hohen Nachfrage erfreut, lässt sich auch ein For-menwandel des Religiösen feststellen. Religiöse Vorstellungen werden unbestimmter undunkonkreter, wobei an der Stelle eines persönlichen Gottes das Bild eines unpersönlichenhöheren Wesens oder eine höhere Kraft gesetzt wird – eine Entwicklung, die partiell durcheine geringere Verhaltensrelevanz religiöser Überzeugungen begleitet wird. Die Menschenin Bulgarien greifen zu religiösen Überzeugungen und Praktiken vor allem dann, wenn sieTrost und Hilfe bei der Bewältigung von Krisensituationen suchen sowie rituale Beglei-tung an Wendepunkten ihres Lebens erwarten. Religiöse Institutionen bleiben „Anwältedes Unverfügbaren“,102 auf die man in Notfällen zurückgreifen möchte, die für die Bewäl-tigung des Alltags jedoch nicht als notwendig erachtet werden.

Das Ende des staatlich verordneten Atheismus bedeutete auch noch nicht, dass dieVorstellung von Säkularität, die der Realsozialismus in Bulgarien hinterlassen hat, einegrundlegende Modifizierung erfahren hat. So baute die säkulare Erfahrung in der kommu-nistischen Gesellschaft neben einer ideologischen Determinierung der staatlichen Haltungzur Religion auf einer strikten Abgrenzung zwischen Privatem und Öffentlichem. Wennsie nicht dem atheistischen Druck ausgesetzt war, war die Religion ausschließlich demprivaten Raum vorbehalten. Der Zusammenbruch des Kommunismus hat die Dominanzdes marxistischen Religionsparadigmas zwar beendet und auch die politische Liberalisie-rung hat neue Entwicklungsräume für Kirchen und andere religiöse Institutionen geschafft,die Dichotomie zwischen Religion und Öffentlichkeit gilt jedoch gerade in der nationalenÖffentlichkeit nach wie vor als ein entscheidendes Kriterium für den säkularen Charakterdes Staates. Die in den öffentlichen Raum vordringenden religiösen Symbole wurdendeshalb als „problematisch“ angesehen, nicht selten werden sie als eine Bedrohung für densäkularen Charakter des bulgarischen Staates betrachtet. Hierbei lässt sich aber auch eineArt „selektiver Durchlässigkeit“ beobachten, bei der religiöse Symbole einbezogen wer-den, um die Interessen gesellschaftlicher Gruppen oder einzelner Individuen in der bulga-rischen Gesellschaft zu legitimieren. Die übermäßige Bedeutung, die der kirchlichen Seg-nung von öffentlichen Gebäuden und Autobahnen zugeschrieben wurde, derdemonstrative Kirchenbesuch von Politikern anlässlich offizieller Feiertage oder die Ab-bildung von Geistlichen auf bulgarischen Geldscheinen könnten hier beispielhaft genanntwerden.

Diesem säkularen Modell setzen die religiösen Gemeinschaften in Bulgarien ein Säku-larismusmodell entgegen, das zwar eine Trennung zwischen religiösen und staatlichenInstitutionen voraussetzt, aber vom Staat eine „Neutralität mit Respekt“ gegenüber derReligion erwartet. Dementsprechend sollte Vielfalt, auch religiöse Vielfalt, unterhalb dergegebenen Rechtsordnung als möglich und sogar geboten gelten. Die Religion darf sicht-bar werden, sich in die Debatten einmischen und ein wichtiger Bestandteil universitärerForschung und Lehre sei. Nicht zuletzt soll sie sich in der Form bekenntnisorientierten

102 Pollack, Rückkehr des Religiösen, 137.

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Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen150

Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen oder auch im Rahmen anderer Koopera-tionen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften im öffentlichen Raum wiederfinden.Deshalb fügt sich die Debatte um den Islam wie auch die Religion insgesamt in größere,zukunftsbestimmende Zusammenhänge: Welche Rolle sollen Religionen und Weltan-schauungen künftig im öffentlichen Raum spielen? Wie soll die Kooperation zwischenihren Institutionen und dem Staat gestaltet werden?

Der islamischer wie auch insgesamt der Religionsunterricht befindet sich immer nochin einem Anfangsstadium. Letztendlich gibt es gegenwärtig in Bulgarien einen nicht regu-lären konfessionellen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen, auf den die Religi-onsgemeinschaften beziehungsweise dessen Verwaltungen einen wesentlichen Einflusshaben. Als fakultative Disziplin ist er jedoch in das bulgarische Schulsystem nicht richtigintegriert, und es ist auch für die nähere Zukunft nicht zu erwarten, dass Religionsunter-richt an Bedeutung gewinnt. Übereilt und von der konkreten politischen Lage bestimmt,wurde Ende der 1990er Jahre ein Islamunterricht ohne gründliche konzeptuelle Vorüber-legungen und zunächst ohne professionelle Lehrerbildung eingerichtet. Der islamischeReligionsunterricht bleibt konservativ, ethnozentrisch und dogmatisch, wobei islamischemoralische Werte exklusiv vertreten werden und nur wenig Aufmerksamkeit für interreli-giösen Austausch, in theologischer wie auch im sozialen Sinne vorhanden ist. Islamischereligiöse Bildung wird insgesamt von breiteren akademischen und sozialen Entwicklungenim Lande abgeschnitten und statt sozialen Integration und Brücken zu fördern, lässt sieTrennlinien zwischen den unterschiedlichen Konfessionen fortbestehen. Die Bedeutungdes Religionsunterrichts für die Zukunft ist jedoch nicht zu unterschätzen. Fachliche undinterkulturelle Kompetenzen und nicht zuletzt eine engere Kooperation mit dem Staat,werden für den Prozess muslimischer Selbstreflexion und -bestimmung im Rahmen einessäkularen Rechtsstaats von großer Bedeutung sein.

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V Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen

1. Islamische Vereine und Hilfsorganisationen

Beim Erneuerungsprozess, den der religiöse islamische Bereich in Bulgarien durchlebte,kam der Unterstützung durch islamische Mehrheitsregionen eine wichtige Rolle zu. Einebesondere Bedeutung sollte hierbei dem Bildungsaustausch zukommen, unter anderem mitUniversitäten in der Türkei, Jordanien, Saudi Arabien, Ägypten, Syrien, Jemen und im Iran.Da das Oberste Islamische Institut aufgrund fehlender Akkreditierung als vollwertigesHochschulinstitut nur ein Bachelor-Studium anbieten kann, stellte ein Auslandsstudium fürviele bulgarische Muslime die einzige Möglichkeit dar, ihr theologisches Studium (Magis-ter und Doktorat) fortzusetzen beziehungsweise überhaupt ein Diplom an einer anerkanntenUniversität zu erlangen. Zum Teil liefen diese Bildungsinitiativen auf der Grundlage bilate-raler Verträge mit dem Obersten Muftiamt, die dem bulgarischen Staat durchaus bekanntwaren.1

Es war aber nicht nur möglich, dass bulgarische Muslime ein Studium an islamischenUniversitäten überregionaler Bedeutung abschließen konnten, sondern es kam zu einerverstärkten Präsenz ausländischer religiöser und wohltätiger Organisationen, Stiftungensowie anderer Gruppierungen und Individuen in Bulgarien selbst.2 Hinsichtlich dieser Ak-teure ist zu unterscheiden zwischen offiziellen islamischen Institutionen sowie staatsnahenOrganisationen einerseits und Akteuren, die an Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs)und islamische Netzwerke angeschlossen waren. Während die ersteren vorwiegend Kontak-te zu der offiziellen Vertretung der Muslime aufnahmen, bevorzugten die letzteren mitlokalen islamischen Gruppierungen zu arbeiten und sie verfügten häufig über dezentrali-sierte und flexible Strukturen. Die bekanntesten religiösen und wohltätigen Organisationen,die sich in den 1990er Jahren in Bulgarien etablierten, waren die saudi-arabische internatio-nale Hilfsorganisation World Assembly of Muslim Youth (WAMY), die saudi-arabischeHilfsorganisation Taiba, die in den Niederlanden gegründete und ebenfalls mit saudi-arabischem Geld finanzierte Stiftung Al-Waqf al-Islami sowie die kuwaitische InternationalIslamic Caritable Organization (IICO).3 Die Islamische Weltliga sowie die Islamische

1 So wurde zum Beispiel im Juni 1998 eine Vereinbarung für Zusammenarbeit mit dem türkischen Präsi-dium für Religionsangelegenheiten (Dyanet) geschlossen, an der sich auch die Direktion für religiöseAngelegenheiten beim Ministerrat beteiligte. Siehe dazu Bjuletin na bălgarskoto veroizpovedanie za1997-2000, Sofia 2001, 6. Bei der Wiederaufnahme der Kontakte mit der Islamischen Bank 1998 reisteder Leiter der Direktion für religiöse Angelegenheiten, Ljubomir Mladenov, mit nach Dschidda.Bjuletin 1997-2000, 11. Eine Vereinbarung über die Aufnahme bulgarischer Studenten wurde mitKenntnis des Ministerrates mit der Universität Saudi-Arabiens abgeschlossen. Bjuletin 1997-2000, 22.

2 Diese Angaben basieren auf den Information-Bulletins des Obersten Muftiamtes (1997-2000, 2008,2009, 2010, …2013), der Zeitschrift der bulgarischen Muslime Mjusjulmani, den Angaben der Direkti-on für religiöse Angelegenheiten des Ministerrats sowie Gesprächen mit Mitgliedern der muslimischenVerwaltungsbehörde und einzelner islamischer Organisationen. Schriftliche Quellen wie Beschlüsse desEuropäischen Gerichtshofes und Artikel der bulgarischen Presse wurden ebenfalls berücksichtigt.

3 Mehr zu diesen Organisationen siehe weiter unten.

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Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen152

Entwicklungsbank (IDB) waren ebenfalls seit den 1990er Jahren in Bulgarien aktiv.4 Alldiese ausländischen Akteure wiesen nicht nur ein variantenreiches Profil auf, sie entwickel-ten auch unterschiedliche Arten von Aktivitäten. Einige von ihnen beteiligten sich kurzfris-tig mit einzelnen Projekten, andere dagegen konnten sich über einen längeren Zeitraum imbulgarischen Kontext behaupten. Die meisten von ihnen unterstützen jedoch den Wieder-aufbau religiöser Institutionen, indem sie islamische Literatur besorgten, die Errichtung vonMoscheen finanzierten und islamische Lehrstätten und Jugendliche förderten; zugleichbemühten sie sich aber auch darum, Einfluss auf die bulgarischen Muslime zu nehmen. Vorallem die Türkei, Saudi-Arabien, Jordanien, unter den bulgarischen Aleviten auch der Iran,konkurrierten hierbei um mehr Einfluss und Präsenz.

Während es sich in den ersten Jahren nach 1989 bei den Mitgliedern dieser Organisatio-nen überwiegend um ausländische Akteure handelte, wurden sie im Verlauf der Zeit zu-nehmend durch einheimische Muslime vertreten. So wurde die WAMY durch den BulgarenVeždi Ahmedov5 vertreten und zur Leitung der Hilfsorganisation Taiba gehörten BasriPehlivan (Mitglied des Muftiamtes) sowie der Bulgare Mustafa Izmet.6 1991 wurde dieOrganisation Iržad vom späteren Obermufti Mustafa Hadži sowie dem Regionalmufti vonSofia, Ali Hairaddin, gegründet, die durch ausländische Sponsoren finanziert wurde. Dielokalen Akteure blieben mit externen Organisationen in Verbindung und arbeiteten in ver-schiedenen Bereichen. Islamische Bildung und Erziehung, Unterstützung sozial schwacherKinder, der Bau von Moscheen sowie das Verteilen von Informationsmaterial gehörtenunter anderem zu ihrer Arbeit.

Der erste offizielle Vertreter der Verwaltung der bulgarischen Muslime, der Anfang der1990er Jahre Jordanien und Saudi Arabien besuchte und sich dort mit dem Generalsekretärder Islamischen Weltliga traf, war der damalige Obermufti der bulgarischen Muslime,Nedim Gendžev.7 Er war auch derjenige, der das Land für ausländische islamische Institu-tionen und wohltätige Organisationen öffnete und sich die Unterstützung reicher Stiftungenund NGOs erhoffte. Repräsentanten der Islamischen Weltliga und der Islamischen Konfe-renz (OIC) kamen während der Nationalen Muslimischen Konferenz der bulgarischen Mus-lime 1996 (als Gendžev kurzfristig in sein früheres Amt zurückkehrte) als Gäste nach Bul-garien. Mitte der 1990er Jahre finanzierte die Third World Relief Agency die von NedimGendžev herausgegebene Übersetzung von Teilen des Korans ins Bulgarische. Die ersteBeteiligung einer Gruppe bulgarischer Muslime am internationalen Wettbewerb für Koran-Rezitation in Afghanistan 1990 stand ebenfalls unter seiner Leitung.8 Deshalb sind die

4 Die Islamische Weltliga und die Islamische Entwicklungsbank wurden in Bulgarien durch den früherenObermufti, Nedim Gendžev, vertreten; seit 2000 arbeiten sie auch mit der neuen Verwaltung der bulga-rischen Muslime zusammen. Siehe dazu u.a. Bjuletin 1997-2000, 7, 18f. sowie Nedim Gendžev,Obraštenie, in: <http://www.genmufti.net/tr/hakkimizda.html> (Zugriff 06.09.2013).

5 Interview am 19. September 2011 mit Veždi Ahmedov, der seit 2004 Leiter der bulgarischen Filiale derWAMY ist.

6 Interview mit Mustafa Izmet, September 2010, Rudozem.7 Siehe dazu u.a. Ruslan Jordanov, Hodene po važeto na Allah, in: Tema, Nr.12 (180), 28-03 April 2005

sowie Kristen Ghodsee, Muslim Lives in Eastern Europe. Gender, Ethnicity, and the Transformation ofIslam in Postsocialist Bulgaria, Princeton University Press, 2009, 140f.

8 Interviews mit dem Vertreter der Direktion für religiöse Angelegenheiten beim Ministerrat, GeorgiKrastev, am 15. Oktober 2010 und 13. September 2011.

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Islamische Vereine und Hilfsorganisationen 153

wiederholten und äußerst angriffsfreudigen Vorwürfe Gendževs an seine Nachfolger, denObermufti Fikri Salih (1992-1997), Selim Mehmed (2000-2003) sowie den ObermuftiMustafa Hadži (1997-2000, seit 2005), in „zweifelhaften Kontakten zu islamischen Organi-sationen aus den arabischen Ländern“ zu stehen,9 nur schwer verständlich. Bis 2011 vergabGendžev – wie seiner Webseite zu entnehmen war – im Namen der Islamischen Entwick-lungsbank sowie der saudi-arabischen International Islamic Relief Organization ‚HayatelIgasa‘ (IIROHI) Stipendien an junge bulgarische Muslime und war für das Verteilen vonSpenden verantwortlich.10 Er agierte ferner als „Manager“ der kuwaitischen InternationalIslamic Caritable Organization (IICO) in Bulgarien.11

Einen problematischen Ruf in der Öffentlichkeit, vor allem jedoch bei den bulgarischenSicherheitsdiensten, verschaffte sich die Stiftung Al-Waqf al-Islami.12 Die 1989 in denNiederlanden gegründete und durch Saudi-Arabien finanzierte Stiftung hat sich 1993 inBulgarien niedergelassen.13 In den folgenden Jahren stellte sie für den Bau und Renovie-rung von Moscheen im Land finanzielle Mittel zur Verfügung. So hat die Al-Waqf al-Islamiinnerhalb von nur zwei Jahren (1993-1994) den Bau von drei Moscheen in den Westrhodo-pen, in den Dörfern Biserci, Todorovo und Breznica, finanziert und eine Spende in Höhevon 100.000 Leva (ca. 50.000 Euro) für eine weitere Moschee im Dorf Stefan Karadža(Gemeinde Dobrič) gegeben.14 Ende 1993 wurde ein Vertag zur gemeinsamen Arbeit imBereich der religiösen Bildung mit dem Obersten Mufiamt in Sofia geschlossen, dem zu-folge die Finanzierung der drei islamischen Mittelschulen in Ruse, Šumen und Momčilgradfür einen begrenzten Zeitraum (ca. ein Jahr) durch die Stiftung übernommen wurde.15 Inder Presse wurde der Stiftung immer wieder vorgeworfen, dass sie sich in die im DorfSarnica angebotenen Kurse für bulgarische Imame einmische, indem dort „für Bulgarienuntypische, radikale Deutungen des Islam“ verbreitet würden.16 Als „Hauptverdächtige“

9 Siehe stellvertretend dazu Nedim Gendžev: I v Bălgarija ima radikalen isljam štom ima i v Evropa, in:Vseki den, 08. Oktober 2010 sowie Bin Laden stana lice na vojnata za glavnoto mjuftijstvo, in: Pragraf22, 31. Juli 2004.

10 Gendžev, Obraštenie. Die von Gendžev geleiteten Vereine sind auch im amtlichen Register des Justiz-ministeriums <http://www.registryagency.bg/?page_id=1144> (letzter Zugriff 18. Mai 2010) ersichtlich.Der Fond islamischer Bildung der Islamischen Entwicklungsbank wurde 1997 unter Nr. 12845 regis-triert. Eine erneuerte Eintragung in das Register erfolgte am 09. Januar 2003. Stadtgericht Sofia,Register 50, Vol. 51, 50. IIROHI wurde 1997 unter der Nr.18057 registriert, 2003 wurde sie inInternational Islamic Relief Organization Hafaz Ibrahim Gendžev umbenannt. Stadtgericht Sofia,Register 50, Vol. 58, 50.

11 Die International Islamic Caritable Organization (IICO) wurde 1986 in Kuwait gegründet. In Bulgarienarbeitete die IICO zunächst mit dem damaligen Obermufti, Nedim Gendžev, nach 1998 auch mit derneuen Vertretung der bulgarischen Muslime zusammen. Siehe dazu Bjuletin 1997-2000, 6; Glavnijatmjuftija Selim Mehmed poseti Kuvejt, in: Mjusjulmani, Juli 2001, 1; Gendžev, Obraštenie; NedimGendžev, Eksglavnija mjuftija e donosnik na službite, in: Blitz, 28 September 2010.

12 Zu Al-Waqf al-Islami siehe u.a. Jovo Nikolov, Koj plete mrežata na radikalnija islam v Bălgarija?, in:Kapital, 14. August 2004; Hodžata v Sarnica bil lider na bălgarskija klon Al-Waqf al-Islami, in: Segavom 7. Oktober 2010 sowie Geert Driessen/ Michael Merry, Islamic Schools in the Netherlands:Expansion or marginalization?, in: Interchange, 37, 3 (2006), 201-223, 212.

13 Interview mit Georgi Krastev am 13. September 2011.14 Ebda.15 Bjuletin za 1997-2000, 16.16 Siehe stellvertretend Nikolov, Koj plete mrežata.

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Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen154

galten der Leiter der Schule, Said Mutlu, sowie der im selben Dorf lebende Syrer Muafak alAsaad.17 Letzterer hatte das Schulgebäude im Dorf Sarnica gekauft, um es dann an dasMuftiamt zu vermieten. Als Beweis für die Kontakte Muafak al Asaads zur Al-Waqf al-Islami wurde auf eine von ihm und dem ehemaligen Leiter der Stiftung, Abdulrahim Taha,gemeinsam geführte Firma (Trast Company) hingewiesen.18

Im Sommer 1994 lehnte die Direktion für religiöse Angelegenheiten beim Ministerratdie Erneuerung der Registrierung der Al-Waqf al-Islami ab. Einige Jahre später (1999)wurde ihr Leiter, Abdulrahim Taha, aus Bulgarien ausgewiesen.19 Wie Georgi Krastevmitteilte, ging die Direktion für religiöse Angelegenheiten jedoch davon aus, dass die Stif-tung ihre Tätigkeit in Bulgarien nicht wirklich unterbrach.20 So gründete Muafak al Asaadim September 2001 in Sofia einen neuen Verein unter dem Namen Al-Waqf (ohne Islami),der 2002 registriert wurde. Für Aufsehen sorgte ferner die Tatsache, dass der damaligeObermufti, Fikri Sali, und der Regionalmufti von Razgrad im Jahr 2004 zusammen mitzehn weiteren Personen von der Al-Waqf al-Islami für mehrere Woche nach Saudi Arabieneingeladen wurden. Diese Reise, die durch die bulgarischen Medien ging, wurde zu einemSkandal stilisiert und sollte als Beweis für die „engen Kontakte des damaligen Obermuftismit wahabistischen, den Terror unterstützenden arabischen Organisationen“, dienen.21

Eine weitere Organisation, die sich in den 1990er Jahren in Bulgarien etablieren konnte,ist die internationale Weltversammlung Muslimischer Jugend (World Assembly of MuslimYouth, WAMY) sowie die von ihr unterhaltene Stiftung al-Nedua. WAMY ist die größtemuslimische nichtstaatliche Jugendorganisation mit Sitz in der saudischen Hauptstadt Riad.Sie ist weltweit tätig, in erster Linie bei humanitären Projekten und bei der Ausbildung undUnterstützung muslimischer Jugendlicher.22 Insbesondere nach dem 11. September 2001geriet sie in den USA in den Verdacht, extremistische und terroristische Aktivitäten unter-stützt und gefördert zu haben, nicht zuletzt weil der Leiter der WAMY in den USA einCousin von Osama Bin Laden war.23 Die Verdächtigungen der USA wies die Organisationebenso von sich, wie die Vermutung, sie wolle mit ihrer Arbeit der konservativen wahabiti-schen Auslegung des Islam in der Welt Vorschub leisten.24

Die bulgarische Vertretung der WAMY wurde 1993 offiziell in Bulgarien registriertund hat ihren Sitz in Velingrad (Westrhodopen). Ihre Tätigkeit konzentrierte sich vorwie-

17 Siehe dazu Julijana Metodieva, Koj plašta akciite na DANS?, in: Obektiv, November 2012 sowieHodžata Said Mutlu rakovodel Al-Waqf al-Islami u nas, in: Trud vom 7. Oktober 2010.Am 26. September 2012 wurde Said Mutlu im Prozess von Pazardžik wegen „Mitgliedschaft in der inBulgarien nicht registrierten Organisation Al Waqf al Islami“ angeklagt. Siehe dazu: Panajot Angarev,Deloto srešo imamite – ot paranoidna do političeska šizofrenija, in: Sega von 14. Dezember 2012.

18 Georgi Krastev, 13. September 2011.19 Menschenrechte in Bulgarien im Jahr 1999, Bulgarisches Helsinki-Komitee (BHK), Sofia 2000, unter

<http://issuu.com/bghelsinki/docs/hr1999-bg-1-1?viewMode=magazin> (11.04.2013).20 Georgi Krastev, September 2011.21 Koj plete mrežata.22 Mehr zur Tätigkeit der WAMY in Südosteuropa siehe weiter unten (Die Unterstützung der Umma).23 Siehe stellvertretend dazu Steven Emerson/ Jonathan Levin, Terrorism Financing: Origination,

Organization, and Prevention. Saudi Arabia, Terrorist Financing and the War on Terror”, July 31, 2003,33ff, in: <http://www.investigativeproject.org/documents/testimony/17.pdf> (21.04.2013).

24 Hamid Al-Shaygi, Der Staat sollte sich um seine Muslime kümmern, in: <http://www.enfal.de/islam-g.htm> (21.04.2013).

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Islamische Vereine und Hilfsorganisationen 155

gend auf die Durchführung von islamischen Seminaren, die zwischen 1992 und 1997 statt-fanden.25 Wie der Leiter der bulgarischen Vertretung der WAMY, Veždi Ahmedov, mitteil-te, wurden die Seminare von ausländischen Lektoren durchgeführt. Als Übersetzer agiertenbulgarische Muslime, die der arabischen Sprache mächtig waren. Parallel dazu vergab dieWAMY Stipendien an bulgarische Jugendliche für Studienaufenthalte in Jordanien und hat(in begrenztem Ausmaß) Pilger-Fahrten für bulgarische Muslime nach Mekka organisiert.2011 war die WAMY in Bulgarien immer noch registriert, sie übte jedoch so gut wie keineTätigkeit mehr aus.26 Zu den wenigen Veranstaltungen, die nur noch unregelmäßig und ingrößeren Abständen angeboten wurden, gehörten islamische Seminare (im Ausland) sowievereinzelt iftars (Abendessen im Monat Ramadan). Die letzte Aktivität, über die der bulga-rische Leiter der Organisation Ende 2011 berichtete, war ein einwöchiges Seminar, das imAugust des Jahres in der Türkei stattfand. Daran nahmen insgesamt 30 Jugendliche ausBulgarien und Rumänien teil, wobei die bulgarischen Teilnehmer durch die Regionalmuftisvorgeschlagen wurden. Er wies darauf hin, dass es grundsätzlich schwierig sei, genug Inte-ressierte zu finden:

„Damals, in den 1990er Jahren, waren die bulgarischen Muslime viel aktiver und siesuchten von selbst nach Möglichkeiten, um mehr über den Islam zu lernen. – berich-tete er. – Das Interesse ist seitdem stark gesunken. Der 11. September hat auchSchuld daran. Darüber hinaus war es nach 40 Jahren Religionsverbot normal, dassnach der Wende Neugier vorhanden war. Im Verlauf der Zeit gewannen jedoch an-dere Probleme an Priorität“.27

Veždi Ahmedov wies auch darauf hin, dass 2004 im Hauptbüro der WAMY in Riad eineKommission für Osteuropa gegründet wurde. Seitdem sind aber auch die Kontakte nachBulgarien stark zurückgegangen. Anders als in anderen Balkan-Ländern. Dort sei dieWAMY viel aktiver. Vor Ahmedov wurde die Organisation durch einen Algerier in Bulga-rien vertreten. Er war Herausgeber islamischer Literatur. Veždi führte fort:

„Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir Stipendien – auch an säkulare Universitäten– zu vergeben hätten sowie soziale Tätigkeit in Bezug auf Waisenkinder und Sozial-schwache in Bulgarien durchführen könnten. Diese Initiativen will die Leitung vonRiad jedoch nicht finanzieren. Ein weiteres Problem ist, dass Vertreter des saudi-arabischen Büros nicht mehr einreisen können, da sie kein Visum erhalten.“28

Neben der WAMY war insbesondere in den Bereichen islamischer Bildung und Verbrei-tung religiöser Literatur die saudi-arabische Hilfsorganisation Taiba aktiv. Taiba, dieZweigstellen in Albanien und in Bosnien und Herzegowina hatte,29 wurde in Bulgarien

25 Interview mit dem Leiter der bulgarischen Vertretung der WAMY, Beždi Ahmedov, am 19. September2011 sowie mit Georgi Krastev am 13. September 2011.

26 Beždi Ahmedov, September 2011.27 Ebda.28 Beždi Ahmedov, September 2011.29 Siehe dazu Verordnung (EG) Nr. 1102/2009 der Kommission vom 16. November 2009, in: Amtsblatt

der Europäischen Union, 18. November 2009, 6 unter<http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads/Service/Finanzsanktionen/Amtsblatt_der_EU/2009_L303_39_amtsblatt_eu.pdf?__blob=publicationFile> (23.04.2013).

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1995 amtlich registriert.30 Aufgrund eines Beschlusses des Justizministeriums vom 7. Juli1998 wurde sie erneut als juristische Person in das Register eingetragen, d.h. sie wurdeberechtigt, religiöse Tätigkeit auszuüben. In den folgenden Jahren organisierte die Hilfsor-ganisation Taiba (zusammen mit der Stiftung Nedua) eine Reihe von Korankursen (2001-2002) sowie islamische Seminare in Kardžali, Haskovo, Smoljan, Goce Delčev, Plovdiv,Sofia, Pleven und Razgrad.31 1999 finanzierte sie die erste akademische Übersetzung desKorans in die bulgarische Sprache. Um die Muslime, die ein Stipendium an einer Universi-tät in Jordanien und Saudi-Arabien erhalten hatten, auf ihren Aufenthalt vorzubereiten,wurden 1994-1999 in Sofia von Vertretern der Taiba Arabischkurse angeboten, bei denenrenommierte Arabisten von der Sofioter Universität unterrichteten.32 Nicht zuletzt finan-zierte die Taiba die Renovierung der regionalen Muftiämter in Velingrad und Kardžali.33

Während Stiftungen wie Al-Waqf al-Islami, WAMY und Taiba ihre Arbeit vorwiegendauf den Bereich der islamischen Bildung konzentrierten, richtete die in Deutschland und derTürkei verbotene islamistische Vereinigung Kalifatsstaat34 ihre Aktivitäten auf die musli-mische Roma-Bevölkerung in Pazardžik und Plovdiv. 2003 wurden im Roma-Viertel Iztokin Pazardžik zwei Vertreter der bulgarischen Niederlassung der islamistischen GruppierungKalifatstaat verhaftet.35 Einem der beiden, dem Imam Ahmed Mussa Ahmed wurde vorge-worfen, dass an seinem Haus eine Flagge mit den Worten „Der Staat ist Kalifat“ hisste undillegale religiöse Versammlungen veranstaltete. Im November 2004 wurde Ahmed Mussadurch das Amtsgericht in Pazardžik zu drei Jahren auf Bewährung wegen „Mitgliedschaftin einer verbotenen islamischen Organisation“ verurteilt.36

Anfang der 1990er bis zur Mitte der 1990er Jahre konnten sich auch die InternationalIslamic Relief Organization of Saudi Arabia (IIRO),37 die tunesische Al-Manar sowie diesudanische Third World Relief Agency (TWRA) in Bulgarien etablieren. Die tunesische Al-Manar hat in dieser Zeit eine Reihe von Broschüren zum Islam – in Zusammenarbeit mitder WAMY – herausgegeben, die verschiedenen Themen wie ibadet (GottesdienstlicheHandlungen), dem moralischen System im Islam sowie dem tauhid (Glaube an die Einheitund Einzigkeit Gottes) beziehungsweise den „Handlungen, die den tauhid zerstören“, ge-

30 Bjuletin 1997-2000; Georgi Krastev, Oktober 2010. Zur Hilfsorganisation Taiba siehe noch Prozess Al-Našif vs. Bulgarien am 20 Juni 2002, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Klage Nr.50963/99, dokumentiert in: Pravoto, 19. Februar 2011.

31 Vtoro nacionalno sastezanie na celogodišnite koran-kursove, in: Mjusjulmani, Oktober 2002, 1.32 Interview mit einem der Teilnehmer der Arabisch-Kurse, Sabri F., vom 21. Oktober 2010.33 Georgi Krastev, September 2011.34 Es handelt sich um Anhänger des als „Kalif von Köln“ bekannten Islamistenführers Metin Kaplan. Sein

Vater Cemaleddin Kaplan (gest. 1995) propagierte die Errichtung eines islamischen Gottesstaates in derTürkei. 1994 gründete Kaplan einen (fiktiven) Kalifatsstaat und rief sich zum Kalifen aus. Metin Kaplansaß in Deutschland eine vierjährige Haftstrafe wegen Beihilfe zum Mord an einem Rivalen ab. Er wurde2004 an die Türkei ausgeliefert und ist dort 2005 zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Seit Dezember2001 waren sein „Kalifat“ und die mit ihm verbundenen Organisationen vom Bundesinnenministeriumverboten worden. Mehr dazu: Werner Schiffauer. Die Gottesmänner: Türkische Islamisten inDeutschland. Eine Studie zur Herstellung religiöser Evidenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000.

35 Ilija Hranev, Osobenosti na isljama v Bălgarija, in: Mond diplomatik, Juni 2007, 5; Ljubomir Ilkov,Imamat Ahmed Mussa pregărnal isljama v Avstrija, in: 24 časa, 01. Dezember 2012.

36 Angarev, Deloto srešo imamite; Konstantin Karadžov, Halifat v Pazardžik zastana pred săda, in: Sega,02. November 2004.

37 IIRO ist eine Hilfsorganisation der Islamischen Weltliga. Mehr zu IIRO und TWRA siehe weiter unten.

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Islamische Vereine und Hilfsorganisationen 157

widmet waren.38 Die Autoren wandten sich auch gegen synkretistische Erscheinungen inder alltäglichen rituellen Praxis der Muslime, gegen Opfergaben für Mittler sowie die Ak-zeptanz „falscher Doktrinen der Ungläubigen“. Die Schriften lassen sich eindeutig als wah-habitisch geprägte da’wa identifizieren.39 Wegen „Unstimmigkeiten“ mit dem Muftiamt hatder Leiter der Organisation, Muafak, nach einigen Jahren Bulgarien verlassen.40 Am 15.Februar 1996 wurde die Hilfsorganisation Al Manar mit der Begründung, dass ihre Ziele„illegitim seien“ aufgelöst.41 Im selben Jahr wurden noch die IIRO und die TWRA aufge-löst. Als Grund dafür diente der 1994 in Kraft getretene Artikel 133 des Personen- undFamiliengesetzes. Dementsprechend wurden alle Stiftungen und Vereine, die religiöse oderreligiös-pädagogische Tätigkeit durchführen, verpflichtet, erneut eine Registrierung zubeantragen. Um eine Eintragung in das Register zu erhalten, war vorher die Zustimmungdes Ministerrats notwendig. Ca. 160 Vereine verschiedener Konfessionen haben eine er-neuerte Registrierung beantragt.42 Die meisten von ihnen, die keine Erlaubnis des Minister-rats erhielten, wurden nach Ablauf der damit verbundenen administrativen Prozedurenzwischen 2004 und 2006 aufgelöst.

Parallel zu der Unterstützung, die die verschiedenen religiösen und wohltätigen Organi-sationen im Laufe der 1990er Jahre leisteten, versuchten einige von ihnen Einfluss auf dieArbeit des Obersten Muftiamtes Bulgariens zu nehmen. Nach Angaben des Leiters derDirektion für religiösen Angelegenheiten hat die kuwaitische Stiftung Soziale Reform demObersten Muftiamt den Vorschlag gemacht, die Renovierung des zu diesem Zeitpunkt sichin einem desolaten Zustand befindlichen Verwaltungsgebäudes des Muftiamtes in Sofia zuübernehmen, wenn „im Gegenzug“ eine Erlaubnis für die Durchführung eines islamischenSeminars in Sofia erteilt würde.43 Schließlich hat sich dann jedoch die türkische Agenturfür Zusammenarbeit und Entwicklung (TIKA) eingeschaltet und die Kosten des im Jahr2008 vollständig renovierten Verwaltungsgebäudes in Sofia übernommen.44 Als weiteresBeispiel für versuchte Einmischung in die Arbeit der obersten religiösen Behörde der bul-garischen Muslime kann der Besuch des damaligen Obermuftis, Selim Mehmed, vom 11.bis zum 15. März 2002 in Saudi-Arabien dienen. Eingeladen wurde er vom König Fahd binAbdul Aziz zur Teilnahme an einer Konferenz sowie anlässlich verschiedener Arbeitstref-fen in Riad, Medina und Dschidda.45 Beim Treffen mit Vertretern der Islamischen Entwick-lungsbank in Dschidda wurde ihm vorgeworfen, dass die „Ausbildung am Obersten Islami-schen Institut in Sofia nicht religiös und die Lehrer dort Atheisten seien“.46 Als Reaktiondarauf und um diese Behauptungen zu entkräften, verpflichtete sich der damalige bulgari-

38 Die Broschüren befinden sich in der Dokumentation der Autorin.39 Mehr zur da’wa (islamische Mission) siehe weiter unten.40 Georgi Krastev, September 2011.41 Prozess Al-Našif vs. Bulgarien, 20. Juni 2002.42 Georgi Krastev, September 2011.43 Ebda. MVR izgoni ot Bălgarija šef na kuvejtska fondacija, in: Standart, 23. Juni 2000; Kuvejtsli zam-

ministar iska jasnota ot MVR-Šefa, in: Standart, 26. Juni 2000.44 Georgi Krastev, Oktober 2010. Die türkische Agentur für Zusammenarbeit und Entwicklung (TIKA) ist

eine Behörde für Entwicklungszusammenarbeit der türkischen Regierung. Siehe mehr dazu „TürkischePräsenz“ auf dem Balkan.

45 Glavnijat Mjuftija poseti Sauditska Arabija, in: Mjusjulmani, März, 1.46 Glavnijat Mjuftija poseti, 1.

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sche Obermufti, die gesamte Curricula sowie die Dienstvorschriften des Obersten Islami-schen Instituts nach seiner Rückkehr an das Büro der Islamischen Entwicklungsbank wei-terzuleiten.47 Wie sich später herausstellte, gründeten diese Vorwürfe auf gefälschtenDokumenten, die wahrscheinlich von seinen Kontrahenten nach Dschidda geschickt wur-den. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass das religiöse Oberhaupt der bulgari-schen Muslime bereit war, interne Dokumente, die die Selbstverwaltung sowie die Ordnungam islamischen Hochschulinstitut in Sofia betrafen, der Islamischen Entwicklungsbank zurVerfügung zu stellen. Dies deutet auch auf eine finanzielle Anhängigkeit der sich in dieserZeit noch in Aufbau befindenden und an permanenten Geldmangel leidenden Verwaltunghin.

Die um die Führung der bulgarischen Muslime ausgebrochenen Konflikte förderten dasVerbreiten ausländischer NGOs und islamischer Netzwerke weiter.48 Die beiden miteinan-der konkurrierten Fraktionen bemühten sich ihrerseits eigene Kontakte zu ausländischenPartnern zu pflegen, von denen sie Unterstützung bei den einzelnen Forderungen erwarte-ten. Die Machtkämpfe innerhalb der Verwaltung hatten aber auch zur Folge, dass die aus-ländischen Geldgeber teilweise nicht mehr wussten, wer der legitime Vertreter der musli-mischen Gemeinschaft in Bulgarien war und demensprechend auch bei ihren Zuwendungenverunsichert wurden. Deshalb wurden Projekte, die Anfang der 1990er vorgesehen waren,zunächst unterbrochen. So wurde das mit dem früheren Obermufti, Hedim Gendžev, imJahr 1991 vereinbarte Vorhaben, ein Gebäude für das Islamische Hochschulinstitut in demWohnviertel Bankja von Sofia zu errichten durch die Islamischen Entwicklungsbank (IsDB)für mehrere Jahre auf Eis gelegt.49

Auch wenn mit der Vereinigungskonferenz von 1997 der juristische Streit um dasMuftiamt keineswegs beendet war, so kam es mit der Wahl von Mustafa Alisch Hadži alsObermufti zu einer gewissen Normalisierung. In dieser Zeit wurde die neugewählte Füh-rung der bulgarischen Muslime durch die Direktion für religiöse Angelegenheiten beimMinisterrat unterstützt. So besuchten im Jahr 1998 der Obermufti, Mustafa Hadži, und derdamalige Leiter der Direktion für religiöse Angelegenheiten, Ljubomir Mladenov, gemein-sam das Hauptbüro der Islamischen Bank (IsDB) in Dschidda, „mit dem Ziel eine Freigabeder wegen des Konfliktes eingefrorenen Projekte zu bewirken“.50 Nur durch seine Anwe-senheit bestätigte der Leiter der Direktion die Legitimität des neu gewählten Obermuftisund stärkte somit seine Position. Ljobomir Mladenov versicherte dabei die Unterstützungder von ihm geleiteten Behörde bei der Durchführung von gemeinsamen Projekten mit derIslamischen Bank.51 Parallel dazu wurden die von der IsDB vorgeschlagenen Projekte vomVorsitzenden der Kommission für Menschenrechte, Ivan Surgarski, dem bulgarischen Par-

47 Ebda.48 Mehr zu den internen Konflikten um die Führung der bulgarischen Muslime siehe „Der Kampf um das

Muftiamt“.49 2000 kaufte die Islamische Entwicklungsbank ein Schulgebäude im Wohnviertel Bankja in Sofia, in die

das Islamische Hochschulinstitut umziehen sollte. Obwohl die Durchführung dieses Vorhabens vongroßer Bedeutung war, um den Kriterien einer Akkreditierung durch das Bildungsministerium zu ent-sprechen, blieben auch im Jahr 2002 jegliche Bauarbeiten aus. Siehe dazu Glavnijat Mjuftija poseti2002, 1. Ein Jahr später wurde das Projekt endgültig aufgegeben.

50 Bjuletin 1997-2000, 11.51 Bjuletin 1997-2000, 11-12.

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Islamische Vereine und Hilfsorganisationen 159

lament vorgestellt.52 Anschließend kaufte die Islamische Bank im Jahr 2000 für insgesamtca. 458.000 Dollar eine Reihe von Immobilien, die dem islamischen Bildungssektor derbulgarischen Muslime zugutekommen sollten.53 Dazu gehörte ein Gebäude für die geistli-che Mittelschule in Momčilgrad (für 31.500 Dollar), ein weiteres Gebäude im WohnviertelBankja, in das das islamische Hochschulinstitut umziehen sollte (365.000 Dollar) sowie einStudentenwohnheim für Schüler muslimischen Hintergrunds in Kardžali (61.500 Dollar).54

Weitere 218.000 Dollar wurden für Renovierungsarbeiten vorgesehen.55

Die Kontakte mit den muslimischen Mehrheitsregionen konnten Ende der 1990er sowieAnfang der 2000er insgesamt als relativ intensiv bezeichnet werden. Vertreter verschiede-ner Stiftungen aus Saudi-Arabien, Kuweit und dem Emirat Katar besuchten Bulgarien.Arbeitstreffen der Verwaltung der bulgarischen Muslime gab es mit dem stellvertretendenSekretär für religiöse Angelegenheiten Saudi-Arabiens sowie mit Mitarbeitern des türki-schen Diyanets.56 Die Islamische Konferenz (OIC) war durch die Teilnahme an einigenTagungen präsent.57 Seit 1998 unterstützt Saudi-Arabien durch Spenden des saudi-arabischen Königs sowie durch die Stiftung Taiba die Pilgerfahrt bulgarischer Muslimenach Mekka.58 Nicht zuletzt nahmen Vertreter der obersten islamischen Behörde Bulgariensan dem durch Saudi-Arabiens organisierten Treffen der Muftis in Europa teil.59

Rückblickend auf die Zeit zwischen 1997 und 2000 lässt sich erkennen, dass Ende der1990er der bedeutendste Geldgeber für die Verwaltung der bulgarischen Muslime die Isla-mische Entwicklungsbank war. Die Bank beteiligte sich jedoch vorwiegend mit konkretenProjekten, um dann im bulgarischen Kontext nicht mehr präsent zu sein. Die VereinigtenArabischen Emirate, Kuweit und Saudi-Arabien waren ebenfalls durch verschiedene Zu-wendungen an das Muftiamt in Bulgarien vertreten. Parallel dazu war es die türkische Reli-gionsbehörde Diyanet, die seit 1997/98 die Kosten für die islamischen Mittelschulen undfür das islamische Institut in Sofia übernahm. Neben der Miete für die Schulen, beinhaltendiese Kosten die Gehälter der Lehrer, Unterkunft, Verpflegung sowie Stipendien für Schü-ler und Studenten (Tabelle 11).

52 Ebda.53 Es handelte sich um kein Darlehen, sondern um eine Spende. Ein Vertreter der Bank bewilligte die

Objekte und unterschrieb den Kaufvertrag direkt mit dem Anbieter. Erst danach wurde der notariell be-stätigte Immobilienvertrag dem Muftiamt übertragen. Dieser Mechanismus sollte die Bank vor eventu-ellem Missbrauch schützen. Bjuletin 1997-2000, 11, 18.

54 Bjuletin 1997-2000, 11,18. Aus demselben Informationsbulletin ergibt sich der Erwerb von weiterenImmobilien in Smoljan (für 31.500 Dollar), Razgrad (20.000 Dollar), und Isperih (10.000 Dollar). Hier-bei lässt sich jedoch nicht deutlich erkennen, wer der Geldgeber ist. Siehe dazu Bjuletin 1997-2000, 12.

55 Bjuletin 1997-2000, 18.56 Ebda.57 Poseštenija na prof. Ekmeleddin Ihsanoglu, zam. sekretar na Isljamska konferencija i Halit Eren, direk-

tor na IRCICA, in: Bjuletin 1997-2000, 12.58 Im Jahr 1998 wurde die Pilgerfahrt von 253 Hadžis durch eine Spende des Königs, Abdullah bin Adul

Asis al-Saud, von 191.000 Dollar ermöglicht. Bjuletin 1997-2000, 18. Diese Zuwendung war jedochsehr unregelmäßig.

59 Ein solches Treffen fand vom 08. bis 11. September 2000 in Budapest statt. Siehe dazu Mustafa AlišHadži, Poseštenie na glavnija mjuftija v Ungarija, in: Mjusjulmani, August 2000 sowie Budapešta, učas-tie v IVta srešta na mjuftiite i predsedatelite na islajamsli centrove v Evropa, in: Bjuletin za 1997-2000,8.

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Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen160

Tabelle 11: Zuwendungen aus dem Ausland an das Muftiamt (1997-2000)

Land/Organisation Summe /Dollar ZweckDiyanet (Türkei) laufende Kosten Finanzierung der religiösen

Mittelschulen und desHochschulinstituts

Türkei 3.000 Spende für das OpferfestIslamischeEntwicklungsbank

458.000218.000

Kauf von SchulgebäudenRenovierungskosten

Saudi-Arabien 353.000 Pilgerfahrt nach MekkaStiftung Taiba (Saudi-Arabien)

26.6002.460

Veröffentlichung islamischerLiteratur, Korankurse, islamischeSeminare

Vereinigten ArabischeEmirate

265.000 Spende

Kuweit 74.00049.42016.700

SpendeRenovieren und Bau vonMoscheen, Spende für dasOpferfest

England 26.000 Spende für das OpferfestQuelle: Bjuletin na bălgarskoto veroizpovedanie za 1997-2000, Sofia 2001, 18-19.60

Tabelle 12: Vergabe von Stipendien für ein theologisches Studium im Ausland (1997-2000)

Land Hochschulen ReligiöseMittelschulen

Türkei 16 27Saudi-Arabien 30

mit Mitteln der Universität Medina-

Jordanien 21mit Mitteln der Stiftungen Taiba und Nedua

-

Syrien 14mit Mitteln der Universität Damaskus

10

Jemen 6das Studium wurde unterbrochen

-

Ägypten 5mit Mitteln der Al-Azhar Universität

-

Sudan 1 -Quelle: Bjuletin na bălgarskoto veroizpovedanie za 1997-2000, Sofia 2001, 22.

60 Nicht erhalten in der Tabelle sind weitere Mittel für die Durchführung von Korankursen von insgesamt14.500 Dollar (1997-2000), bei denen unklar bleibt, wer der Spender war. Einen Zuschuss von 71.000Leva wurde auch durch den bulgarischen Staat gewährt. Bjuletin 1997-2000, 20.

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Islamische Vereine und Hilfsorganisationen 161

Was die Vergabe von Stipendien für ein theologisches Studium im Ausland betrifft, sozeigt sich, dass die am meisten besuchten Länder Ende der 1990er Jahre Saudi-Arabien undJordanien waren. Neben der Al-Urdunniyya Universität von Jordanien, einer staatlich unter-stützten Hochschule in Amman, besuchten bulgarische Muslime in Jordanien auch dasprivate Kolleg Zarka. Die Stipendien für die letztgenannte Bildungseinrichtung wurden zueinem großen Teil durch die saudi-arabischen Hilfsorganisationen Taiba und Nedua(WAMY) vermittelt, mit denen das Muftiamt bis Mitte 2000 zusammenarbeitete.61 InSaudi-Arabien (Islamische Universität Medina), Syrien (Universität Damaskus) und Ägyp-ten (Al-Azhar-Universität) waren es vorwiegend die Universitäten selbst, die dem bulgari-schen Muftiamt eine bestimmte Anzahl von Stipendien zur Verfügung stellten.62 Obwohlein Studium im Ägypten unter den bulgarischen Muslimen hoch geschätzt wird, waren esbislang nur wenige, die sich für diesen Schritt entschieden. Einer der Gründe dafür ist, dassdie bulgarische Hochschulreife vom ägyptischen Staat nicht anerkannt wird. Neben demErlernen der Sprache war (und ist) deshalb die Ablegung zusätzlicher Prüfungen notwen-dig, so dass sich die Vorbereitungsphase für die Aufnahme eines Studiums über mehrereJahre hinziehen konnte. Zu berücksichtigen ist noch, dass die oben gemachten Angaben nurdie Stipendien beinhalten, die durch das Muftiamt koordiniert wurden beziehungsweise beider Verwaltungsbehörde bekannt waren. Daneben gab es weitere Vereine, wie die einhei-mische Vereinigung für islamische Entwicklung und Kultur (OIRK), die Stipendien für einStudium an einer Universität überregionaler Bedeutung vergaben. Darüber hinaus beziehensich die Informationen nur auf die Vergabe von Stipendien, was nicht mit einem abge-schlossenen Studium gleichzusetzen ist.63

Vom 12. bis zum 14. September 2001 – einen Tag nach den Terroranschlägen in denUSA vom 11. September 2001– war Bulgarien Gastgeber eines Forums der Organisationfür Islamische Zusammenarbeit (OIC), das der Lage muslimischer Bevölkerungsgruppen,die keine OIC Mitglieder waren, gewidmet war.64 Anwesend waren Vertreter von fast 30Länder aus Westeuropa (Frankreich, Deutschland, England, Österreich u.a.), Amerika(USA, Argentinien), Südosteuropa (Kosovo, Makedonien), Türkei, Russland sowie Saudi-Arabien, Kuwait, Iran und Libyen. Prominente Teilnehmer – wie der Generalsekretär derOIC, Abdul-Wahid Belkaziz, der iranische Ajatollah Mohammad, der Vorsitzende deriranischen Organization of Islamic Culture and Relations, Ali Tashiri, und der türkischeAußenminister Ahmet Davutoglu – nahmen daran teil. Mehrere Diskussionsrunden zuThemen wie der Lage muslimischer Minderheiten in Osteuropa, der Rolle islamischer Zen-tren und NGOs sowie dem Engagement islamischer Institutionen aus den OIC-Mitgliedstaaten für muslimische Minderheiten in Europa, gehörten zur Tagesordnung.

61 Angabe des stellvertretenden Obermuftis, Vedat Ahmed, September 2011; Interview mit dem Leiter derWAMY, Veždi Ahmedov, September 2011.

62 Vedat Ahmed, September 2011.63 Studienplätze für bulgarische Studenten im Iran sind in der Statistik nicht vorhanden. Nur in Jablanovo,

dem größten alevitischen Dorf in Bulgarien, gab es im Jahr 2005 fünf Aleviten, die ein Studium im Iranabgeschlossen hatten und noch sechs weitere befanden sich zu diesem Zeitpunkt dort in Ausbildung.Feldforschung in Jablanovo im Juli 2005.

64 Bălgarija be domakin na foruma na organizacijata ‚Isljamska konferencija‘, in: Mjusjulmani, Oktober2001, 1, 3.

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Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen162

Insgesamt 22 islamische Institutionen und Organisationen, so unter anderem die IslamischeEntwicklungsbank, die Islamische Weltliga, Islamische Organisation für Erziehung, Wis-senschaft und Kultur (ISESCO), das Forschungszentrum für islamische Geschichte, Kunstund Kultur (IRCICA) sowie die libysche Organisation islamischer Predigt stellten ihreArbeit vor.65 Ein umfangreiches Programm, das jedoch durch die Ereignisse vom 11. Sep-tember 2001 überschattet wurde.66 Die Tatsache, dass die Verwaltung der relativ kleinenGemeinschaft der bulgarischen Muslime in der Lage war, diese Veranstaltung zu organisie-ren und durchzuführen, deutete jedoch darauf hin, dass nach ca. zehn Jahren der Liberali-sierung und der Einführung religiöser Freiheiten in Bulgarien, die Isolation der bulgari-schen Muslime beendet wurde und sie Anschluss an die internationale islamische Szenefanden.

2. Die Reaktionen

Die Vielfalt der religiösen Akteure und die Instabilität, die sich aus dem laufenden Prozessgesellschaftlicher Transformation ergab, produzierten insgesamt eine bewegte religiöseSzene. Die neu etablierten islamischen Vereine und NGOs aber auch der Bildungsaustauschsowie die zunehmende Nutzung neuer Informations- und Kommunikationsmedien fördertendie interne Diversifizierung des islamisch-religiösen Bereichs. So traten schiitische Grup-pen unter Teilen der bulgarischen Aleviten auf.67 Neben türkischen neu-bruderschaftlichenNetzwerken konnten sich salafistische Ideen unter einzelnen Vertretern der muslimischenJugend partiell verbreiten. Von ihrer Umgebung werden die Träger solcher Ideen als „Is-lamisten“, „Salafisten“ oder „Wahhabiten“ bezeichnet. Ob diese Begriffe zutreffend sind,müsste jedoch in jedem einzelnen Fall kritisch betrachtet werden. Vor allem die Begriffe„Wahhabismus“ und „Salafismus“ wurden im letzten Jahrzahnt zunehmend zur Bezeich-nung unterschiedlicher religiöser Erscheinungsformen benutzt, wobei darunter auch Grup-pierungen und religiöse Akteure erfasst wurden, die sich selbst nicht als solche verstehen.68

Die Pluralisierung des religiösen Sektors sorgte nicht nur für Kontroversen innerhalb dermuslimischen Gemeinden, sondern weckte Misstrauen in großen Teilen der bulgarischenÖffentlichkeit. Man befürchtete eine Re-Islamisierung und beklagte ausländischen Einfluss,der radikale Tendenzen mit sich bringe.69 Insbesondere die verschiedenen nach 1989 inBulgarien gegründeten islamischen NGOs gerieten schnell unter Verdacht, dass hinterihnen „radikale islamistische Strukturen“ stehen. Auflagenstarke Tageszeitungen wie Moni-tor, Standart, 24 časa, Sega, Dnevnik, Pari und Politika schürten sogar Spekulationen über

65 Bălgarija be domakin, 2001, 3.66 Ebda.67 Mehr dazu Jordanka Telbizova-Sack, Die Aleviten Bulgariens – Tradition und Neubestimmungen im

Kontext gesellschaftlichen Wandels, in: Voß/ Telbizova-Sack, Islam in (Südost)Europa, 173-195.68 Mehr zu den Begriffen „Wahhabismus“ und „Salafismus“ siehe die Einleitung.69 Die öffentliche Islam-Debatte in Bulgarien wird geprägt durch eine Dichotomie zwischen einem

„einheimischen, friedfertigen und ruralen Islam in Bulgarien“ einerseits und einem „importierten, radi-kalen arabischen Islam“ andererseits. Siehe stellvertretend dazu Ljuba Manolova, V Bălgarija imapočva za ortodoksalnija arabski radikalen islam, in: Agencija Fokus vom 2. April 2007; Radikalnijatislam v presata prez poslednite godini, in: Agencija Fokus, 16. März 2009.

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Die Reaktionen 163

Kontakte zum Terrornetzwerk Al-Qaida oder zur islamistisch-fundamentalistischen Bewe-gung Muslimbrüder.70 Auch die amerikanische Tageszeitung The Wall Street Journal be-richtete, dass Aiman az-Zawahiri, ein enger Vertrauter von Osama Bin Laden, im Herbst1994 ein Büro in der bulgarischen Hauptstadt Sofia eröffnet habe, um von dort Aktionen inBosnien-Herzegowina sowie auf den Balkangebieten insgesamt zu koordinieren.71 Vieleder Vorwürfe kamen aber auch aus den Reihen der Muslime selbst, vor allem seitens derAnhänger des früheren Obermuftis, Nedim Gendžev. So beschuldigte 1997 Ašim HadziAsan, damaliger Leiter des Vereins Gerechter Weg der bulgarischen Bürger türkischerHerkunft und Mitstreiter Nedim Gendževs den Vorsitzenden der BRF, Ahmed Dogan, dasser eine halbe Million Dollar von radikalen islamistischen Gruppierungen angenommenhabe, um die Wahl des Obermuftis, Mustafa Hadži, zu sichern.72 Immer wieder versuchtenNedim Gendžev und Ašim Asan in der bulgarischen Öffentlichkeit Aufsehen zu erregen,indem sie die damaligen Obermuftis, Mustafa Hadži und Selim Mehmed, als jeweils „eineWaffe in den Händen von Al-Qaida, der Muslimbrüder und der Hisbollah“ darstellten:

„60 Stiftungen, die mit islamischem Fundamentalismus in Verbindung stehen, sindderzeit in Bulgarien aktiv.“

behauptete Ašim Hadzi Asan am 24. September 2001 gegenüber der bulgarischen Nach-richtenagentur BTA und machte dafür den damaligen Obermufti, Selim Mehmed, verant-wortlich.73 Auf die Reaktion des Obermuftis, der die Vorwürfe zurückwies, wiederholte erseine Behauptung und nannte unter anderem die in Bulgarien registrierten Iršad, Nedua undTaiba:

„Hinter diesen Stiftungen stehen Leute wie Bin Ladens sowie Mitglieder der funda-mentalistischen islamischen Organisationen Ahab al-Aleini al-Islami, der Hisbollahund der Muslimbrüder“, so Ašim Asan weiter. „Hochrangige Mitglieder des bulgari-schen Muftiamts wissen, dass eine Ausbildung im fundamentalistischen Islam inBulgarien stattfindet. Diese Kurse vermitteln einen Islam, der in Bulgarien nicht tra-ditionell ist. Alte Imame werden durch neue, die in den arabischen Ländern in derScharia ausgebildet wurden, ersetzt. Solche Schulen wurden unter Missachtung derbulgarischen Gesetze gegründet. Diese Bewegung begann in den Rhodopen im Sü-

70 Siehe u.a. Bin Laden stana lice na vojnata za glavnoto mjuftijstvo, in: Pragraf 22 vom 31. Juli 2004;Krasimir Karakačanov, Šte stanat li Rodopite tesni za bălgari? In: Sega, 14. Oktober 2006; Jordanov,Hodene po važeto.

71 Marcia Christoff Kurop, Al Qaeda's Balkan Links, in: Wall Street Journal (Europe), 1. November 2001.Diese Informationen kursierten anschließend auf verschiedenen Webseiten. Siehe beispielhaft dazu:Balkanblog, unter <http://balkaninfo.wordpress.com/2010/05/22/ayman-al-zawahiri-bin-laden-and-the-cia-in-balkan> sowie History Commons, unter<http://www.historycommons.org/timeline.jsp?timeline=complete_911_timeline&other_al-qaeda_operatives=zawahiri#a0994zawahiribulgaria>, (17.07.2012).

72 Dogan šte sădi Ašim Asan, in: Pari, 23. August 2000; Jordanov, Hodene po važeto.73 Bulgarian Organization says 60 Islamic Foundations linked to Fundamentalism, in: Novinite, Sofia

News Agency, 25. September 2001, unter <http://www.novinite.com/view_news.php?id=2232>,(03.07.2012).

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Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen164

den Bulgariens, und jetzt gibt es 3.000 solcher Schulen im ganzen Land, auch imnordwestlichen und östlichen Bulgarien“ 74

Asan behauptete ferner, dass Osama Bin Laden eine eigene „Business-Struktur in Bulgari-en“ gegründet hätte, durch die Geldwäscherei betrieben werde.75 Die Kontakte seien durchden Onkel Bin Ladens, den saudi-arabischen Scheich Abdul Kemal, aufrechterhalten wor-den, der sich bis 1996 jeden Sommer in Bulgarien aufgehalten habe. Auf einer Pressekonfe-renz am 21. August 2000 beschuldigte auch Gürsel Aliev, Vorsitzender des Vereins derMuslime in Bulgarien, den Obermufti, Mustafa Hadži, dass er während eines Seminares inAfghanistan 1991 durch die fundamentalistische Organisation Muslimbrüder angeworbenworden sei.76 Nach seiner Rückkehr hätte Mustafa Hadži ein „konspiratives Netzwerk fürdas Propagieren des radikalen Islam“ gegründet. Seine „rechte Hand“ sei der damaligeRegionalmufti von Sofia, Ali Hairaddin, der seinerseits mit der palästinischen radikalenOrganisation Hamas in Verbindung stünde.77 Zwei Jahr später behauptete Nedim Gendževvor den Medien, dass „islamistische Stiftungen Jugendliche aus den Rhodopen für denheiligen Dschihad-Krieg trainieren. Die Westrhodopen seien längst durch arabische Missi-onare erobert“.78 Am 22. Juli 2004 wandte er sich an den Generalstaatanwalt, NikolaFilčev, und forderte eine gerichtliche Untersuchung wegen „der Kontakte des früherenObermuftis, Fikri Sali, mit der Al-Waqf al-Islami einzuleiten.79

Die Ankunft ausländischer NGOs und islamischer Hilfsorganisationen weckte nicht zu-letzt die Aufmerksamkeit der Staatssicherheit. Mehrere islamische Bildungseinrichtungenund islamische Organisationen gerieten seitdem ins Visier der Sicherheitsbehörden. Zwi-schen 1994 und 1996 wurde eine Reihe ausländischer Hilfsorganisationen, zu denen unteranderem Al Manar, Al-Waqf al-Islami, International Islamic Relief Organization und dieThird World Relief Agency gehörten, infolge der revidierten Gesetzgebung geschlossen.80

Für besondere Aufmerksamkeit sorgte die Schließung eines Seminars im Dorf NarečenskiBani im August 1997, an dem ausländische Lehrer unterrichteten.81 Zwei der Lehrer wur-den ausgewiesen.82 Am 5. Juli 1999 wurde Darwiš al Našif, ein Staatenloser palästinensi-scher Herkunft, mit der Begründung, dass er durch seine Tätigkeit die nationale Sicherheitgefährde (Artikel 10, Paragraf 1 des Ausländergesetzes) aus Bulgarien ausgewiesen.83 DieGefährdung bestand darin, dass er Islam-Kurse in der Stadt Smoljan organisierte und sicham „illegalen“ islamischen Seminar im August 1997 in Narečen beteiligte. In diesem Fall

74 Bulgarian Organization says.75 Ebda.76 Bin Laden stana.77 Ebda.78 Ebda.79 Bin Laden stana. Zur selben Zeit (März 2004) erfuhr der Kampf um das Muftiamt einen neuen juristi-

schen „Schub“, indem das Stadtgericht in Sofia die letzten zwei muslimischen Konferenzen der bulgari-schen Muslime für ungültig erklärte.

80 Georgi Krastev, September 2011; Prozess Al-Našif vs. Bulgarien.81 Das Seminar fand unter der Ägide des Muftiamtes statt und wurde durch die Hilfsorganisation Nedua

(WAMY) finanziert. Mehr dazu: Menschenrechte in Bulgarien im Jahr 1997, Bulgarisches Helsinki-Komitee, Sofia 1998.

82 Menschenrechte in Bulgarien im Jahr 1999.83 Siehe dazu Delo Al-Našif sowie Menschenrechte in Bulgarien im Jahr 1999.

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Die Reaktionen 165

wurde der Protest des Muftiamtes, das erklärte, dass Našif mit Zustimmung des regionalenMuftis von Smolyan tätig war, einfach ignoriert. Die Angelegenheit ging bis vor den Euro-päischen Gerichtshof für Menschenrechte, der schließlich 2002 das Vorgehen des bulgari-schen Staates verurteilte.84 Im selben Jahr (1999) wurden der Leiter der Al-Waqf al-Islami,Abdulrahman Tahan (gebürtiger Jordanier), sowie Abdullah Mohammed, ehemaliger Di-rektor der Stiftung Taiba, mit der Begründung, eine „Bedrohung der nationalen Sicherheit“darzustellen, ausgewiesen.85 Am 6. August 2000 musste auch der Leiter der kuwaitischenStiftung Soziale Reform, Ahmad Musa, ein Jordanier, der seit 15 Jahren im Bulgarien lebteund mit einer bulgarischen Frau verheiratet war, das Land verlassen.86 Auch in diesem Fallwurde die Ausweisung mit Artikel 10, Paragraf 1 des Ausländergesetzes in Bulgarien be-gründet. Der „Beweis“ dafür war die Beteiligung Musas am muslimischen Seminar inNarečen im August 1997.87 Nachdem Musa verhaftet worden war, setzten sich der Ober-mufti, Mustafa Hadži, und der Regionalmufti von Sofia, Ali Hairaddin, für ihn ein undmeinten, dass er keine unerlaubte religiöse Tätigkeit im Lande ausgeübt hätte.88 Am Tagseiner Ausweisung am 6. August kamen ca. 200 Muslime zum Flughafen, um ihren Protestzum Ausdruck zu bringen.89 Musa verklagte anschließend den bulgarischen Staat vor demEuropäischen Gerichtshof, der am 11. Januar 2007 den bulgarischen Staat wegen „Verlet-zung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens verurteilte.90 Ähnliche Vorfäl-le gab es Anfang 2000 als am 8. Januar 2000 sechs Mitglieder der pakistanischen Gruppie-rung der Ahmadiyya aus der Stadt Šumen, unter dem Vorwand die nationale Sicherheit zubedrohen, vertrieben wurden.91

Nach dem 11. September 2001 gewannen die Vorwürfe von Fundamentalismus bezie-hungsweise einer Radikalisierung des bulgarischen Islam weiter an Bedeutung, obwohl dieBeweise für derartige Tendenzen dürftig waren.92 2004 gab es schließlich zwei legitimeausländische Organisationen, die mit der Erlaubnis der Direktion für religiöse Angelegen-heiten arbeiteten. Die erste (und einflussreichste) war Taiba, die von Saudi-Arabien finan-ziert wurde. Die zweite war Al-Nedua (WAMY), die ihre Aktivitäten vorwiegend auf dieVelingrad Gemeinde (Westrhodopen) konzentrierte.93 Auch wenn viele der neu gegründe-ten islamischen Stiftungen und Hilfsorganisationen in der ersten Dekade nach der politischeWende mit dem Muftiamt kooperierten, so forderten sie doch durch ihre Tätigkeit das reli-

84 Delo Al-Našif.85 Menschenrechte im Jahr 1999.86 MVR izgoni on Bălgarija šef na kuvejtska fondacija, in Standart, 23. Juni 2000; Menschenrechte im

Jahr 1999.87 Menschenrechte in Bulgarien im Jahr 2000, Bulgarisches Helsinki-Komitee, 2001 Sofia.88 Siehe u.a. Ali Hairedin, Koi i ot kakvo zaštitava nacionalnata ni sigurnost?, in: Mjusjulmani, Juli 2002,

2.89 David Hendon/ Donald Greco, Notes on Church-State Affairs. Bulgaria, in: Journal of Church and State

42, Nr.4 (2000).90 Sădat v Strasburg osădi Bălgarija po deloto „Musa“, in: Bulgarisches Helsinki-Komitee, 12 Januar

2007, unter <http://old.bghelsinki.org/index.php?module=news&lg=bg&id=573> (20.04.2013).91 Menschenrechte in Bulgarien im Jahr 2000.92 Diese Anschuldigungen mündeten zunächst im Jahr 2007 und dann im Oktober 2010 in Razzien der

Staatssicherheit, in deren Verlauf bulgarische Imame und Lehrer verhaftet sowie ihre Wohnungen undBüros durchsucht wurden.

93 Interview mit Georgi Krastev, Oktober 2010.

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Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen166

giös-institutionelle Monopol dieser Behörde heraus und verstärkten die Machtkonflikte, dieum die Führung der Muslime ausgebrochen waren. Nicht zuletzt beschleunigten sie dieinterne Pluralisierung der religiösen Szene. Heute ist in Bulgarien ein breites islamischesSpektrum vertreten, wobei auch neo-fundamentalistische Ideen unter Teilen der muslimi-schen Jugend partiell verbreitet sind. Es gibt jedoch bislang keine Anzeichen dafür, dass essalafitischen, geschweige denn dschihadistischen Gruppierungen gelungen ist, bedeutendenEinfluss auf Teile der bulgarischen Muslime zu nehmen. Die radikale Forderung der Sa-lafisten nach dem Primat des Koran und der Sunna sowie dschihadistische Aufrufe zurGewalt spielen für die Mehrheit der bulgarischen Muslime kaum eine Rolle bzw. wirken aufsie befremdlich und bedrohlich.94

Zugleich bewegte die Präsenz ausländischer Akteure Mitglieder des Muftiamtes dazu,Maßnahmen zu ergreifen, um die Verbreitung neuerer Deutungen des Islam möglichst zubegrenzen. Dies geschah unter anderem, indem einheitliche Lehrprogramme für dieImamenschulen sowie für die an die Moscheen angebundenen Korankurse eingeführt wur-den. Parallel dazu werden regelmäßige Treffen der Imame, Religionslehrer und der Absol-venten islamischer Universitäten unter der Ägide des Muftiamtes organisiert, um aufgetre-tene Probleme sowie Spannungen zwischen verschiedenen Fraktionen anzusprechen.95 EinFond für „islamische Bildung“ wurde eingerichtet, um sich so zumindest partiell von derfinanziellen Anhängigkeit ausländischer Geldgeber zu lösen. Laut dem Religionsgesetz istes zudem seit 2003 nur mit der Erlaubnis des Muftiamtes möglich, dass ausländische (wieauch einheimische islamische) Organisationen religiöse Tätigkeiten durchführen.96 Darüberhinaus versuchte das Muftiamt, das eigene Profil diskursiv zu schärfen. Dem Rekurs auf diepluralistische, tolerante Tradition des Islam sowie die lange Tradition der Praktizierung desIslam in einem säkularen Staat kam dabei eine wichtige Rolle zu. 97

3. Das türkische Präsidium für Religionsangelegenheiten

Einen Wendepunkt in den Auslandsbeziehungen der bulgarischen Muslime stellten die seitAnfang 2000 intensivierten Kontakte zu religiösen Institutionen sowie islamischen Netz-werken aus der Türkei dar. An erster Stelle ist hier das türkische Präsidium für Religions-angelegenheiten (Diyanet Isleri Başkanliği, DIB) zu nennen, das sich seit dieser Zeit be-sonders aktiv im Prozess des institutionellen Wiederaufbaus der muslimischenGemeinschaft Bulgariens einsetzt.98 Noch unmittelbar nach der Vereinigungskonferenz von

94 Was sich nicht zuletzt in der negativen Konnotation des Begriffes „Wahhabismus“ äußerte. Siehestellvertretend dazu die Debatte im pomakisch-muslimischen Forum „Wahabite i drugi radikalni arabskisekti v Bălgarija, unter: <http://www.pomak.eu/board/index.php/topic,1154.msg7393.html#msg7393>(6.8. 2011).

95 Siehe mehr dazu Kapitel III sowie die Homepage des Muftiamtes.96 Siehe dazu: Gesetz über die Konfessionen, in: Dăržaven vestnik Nr.120 vom 29. Dezember 2002, 25-31.97 Stellvertretend dazu kann auf eine Reihe publizierter Werke führender islamischer Theologen, so u.a.

des Obermuftis, Mustafa Hadži, Tolerantnostta v islama, Sofia 2003 sowie des Rektors des OberstenIslamischen Institutes, Ibrachim Jalamov, Islam i Demokracija, Sofia 2008 hingewiesen werden. Siehenoch Artikel der Zeitschrift Mjusjulmani.

98 Zur Präsenz des türkischen Diyanets in den einzelnen Balkan-Ländern sowie der Bedeutung türkischer

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Das türkische Präsidium für Religionsangelegenheiten 167

1997 stattete der Obermufti, Mustafa Hadži, im November seinen ersten offiziellen Besuchbeim Präsidium für Religionsangelegenheiten in der Türkei ab. Im Juni 1998 kam eineDelegation der türkischen Behörde nach Bulgarien und es wurde am 19. Juni 1998 einVertrag zwischen dem türkischen Diyanet und dem Muftiamt geschlossen.99 Parallel dazuwurde ein Protokoll, in dem Vereinbarungen für die Zusammenarbeit festgelegt wurden,durch die bulgarische Direktion für religiöse Angelegenheiten und das türkische Diyanetunterzeichnet.100 Im Zuge dieser Vereinbarungen übernahm das zentrale Organ der staatli-chen Islamförderung in der Türkei die komplette Finanzierung der drei mittleren religiösenSchulen in Ruse, Šumen und Momčilgrad sowie des Obersten Islamischen Instituts inSofia.101 Der Vertrag sah ferner vor, dass das DIB Lehrer für die o.g. Schulen entsendetsowie Unterrichtsbücher zur Verfügung stellt.102 Das Diyanet ist zudem berechtigt, Geistli-che nach Bulgarien zu schicken sowie allgemein „humanitäre und technische Hilfe“ zuleisten“.103 Die letzte weit gefasste Formulierung ermöglichte, dass im Verlauf des letztenJahrzehnts regelmäßig finanzielle Zuwendungen an das Muftiamt erfolgten. So kaufte dasDiyanet 2001 das Verwaltungsgebäude für das Muftiamt im Zentrum von Sofia.104 Wenn eszu finanziellen Engpässen kam, half das Diyanet, indem es kurzfristig die Gehälter derRegionalmuftis übernahm oder die Herausgabe der Zeitschrift Mjusjulmani finanzierte.Nicht zuletzt unterstützte die türkische Religionsbehörde die Arbeit einiger der bulgari-schen Schulen für Imame, verteilte religiöse Literatur und beteiligte sich an der Herausgabevon Schulbüchern für islamischen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen.105

Die enge Zusammenarbeit mit dem DIB – sowie mit türkischen islamischen Akteureninsgesamt – zeigte sich ferner durch eine Reihe verschiedener Initiativen. So gibt es seit1999 für die Schüler der islamischen Mittelschulen sowie die Studenten des Obersten Isla-mischen Instituts die Möglichkeit in den Sommermonaten (auf Einladung des türkischenDiyanets) islamische Seminare in der Türkei zu absolvieren. Parallel dazu werden Bil-dungsseminare für bulgarische Muftis, Imame und Islam-Lehrer angeboten.106 In derAugust-Ausgabe der Zeitschrift Mjusjulmani des Jahres 2000 schilderten die Teilnehmereiner Gruppe von 90 Schülern und Studenten, die an Sommer-Kursen in der Türkei teil-nahmen, ihre Eindrücke vom Aufenthalt in folgender Weise:

„Neben dem Religionsunterricht und dem Erlernen der türkischen Sprache hattenwir noch die Möglichkeit verschiedene historische Orte in der Türkei zu besuchen.

neo-bruderschaftlicher Netzwerke und Organisationen in Bulgarien siehe das weiterführende Kapitel„Türkische Präsenz auf dem Balkan“.

99 Bjuletin 1997-2000, 6.100 Der Inhalt des Protokolls ist in „100 godini Glavno Mjuftijstvo, Glavno mjuftijstvo na mjusjulmanite

v Republika Bălgarija“, Sofia 2011, 17 veröffentlicht.101 Somit sind Bulgarien und Deutschland die einzigen EU-Mitgliedsstaaten, in denen die türkische

Religionsbehörde Diyanet als Geldgeber für Lehrstühle der islamischen Theologie auftritt.102 Protokol, in: 100 godini Glavno Mjuftijstvo, 2011, 17, Absatz 2. und 3.103 Ebda., Absatz 5.104 Doklad na glavnija mjuftija v Kipar, in: Mjusjulmani, April 2002, 2.105 Siehe dazu Information-Bulletins des Obersten Muftiamtes (2008 bis 2013).106 Zahlreiche Berichte darüber finden sich auf den Seiten des durch das Muftiamt herausgegebenen

Informations-Bulletins, der monatlichen Zeitschrift Mjusjulmani sowie auf deren Homepage, unter<http://www.grandmufti.bg/>.

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[...] Bei der Besichtigung der Grabstätte vom Emir Sultan in Bursa sowie der Grab-stätte der Helden Gasi Osman und Orhan Gazi waren wir von der großen Liebe destürkischen Volkes zu seinen historischen Helden stark beindruckt. Es war so, als objedes historische Denkmal eine Botschaft an uns senden wollte ‚Vergessen sie nicht,wer sie sind. Seien sie stolz auf ihre Geschichte‘“.107

Dieser Kommentar verdeutlicht, dass der Austausch mit der Türkei mehrdimensional warund neben der Förderung im Bereich islamischer Bildung auch eine emotionale Bindungbeinhaltete. Die erwähnten Initiativen waren (und sind) nur einige unter vielen anderen, dievom türkischen Diyanet – wie auch von türkischen Akteuren – bis in die Gegenwart regel-mäßig durchgeführt wurden. Praktisch jede Woche findet irgendeine Veranstaltung, Wei-terbildungsmaßnahme oder Austauschinitiative mit der Türkei statt.108 Es ist die Kontinuitätdieses Engagements sowie die dadurch entstehende Vernetzung, die die Präsenz türkischerAkteure im bulgarischen Kontext ausmacht. Die Unterstützung des religiösen Sektors be-trifft nicht nur die Ausbildung von bulgarischen Geistlichen an türkischen Universitätenund Mittelschulen, sondern auch die Arbeit islamischer Bildungsstätten sowie der islami-schen Behörde in Bulgarien selbst. Während einer der Versammlungen des vom Diyanetgegründeten Eurasien Islam Councils, (Schura)109 wurde eine Lösung für das akute Prob-lem der Anerkennung der am Obersten Islamischen Institut in Sofia erworbenen Diplomegefunden. Vertreter des Diyanets schlugen 2002 vor, dass die Studenten und Studentinnendes Obersten Islamischen Instituts ein weiteres Jahr an der theologischen Fakultät der Uni-versität Ankara absolvieren können, um anschließend ein (anerkanntes) Diplom derAnkara-Universität zu erhalten.110 Als Folge dieser Vereinbarung setzt heute ein bedeuten-der Anteil der Studenten und Studentinnen des Obersten Islamischen Instituts in Sofia ihrStudium in der Türkei fort. Viele von ihnen nehmen nach der Rückkehr einflussreiche Posi-tionen innerhalb der Strukturen der islamischen Glaubensgemeinschaft ein.111 Ein bilatera-les Abkommen mit der Türkei über die Pflege des jeweils eigenen religiösen Kulturgutswurde ferner mit der Agentur für Zusammenarbeit und Entwicklung (TIKA) am 21. März2012 abgeschlossen.112 Dies berechtigt die Türkei nicht nur, türkische Gastdozenten anbulgarische Bildungseinrichtungen zu entsenden, sondern sich auch an der Renovierungvon Moscheen aus osmanischer Zeit in Bulgarien zu beteiligen. Durch das Abkommenübernahm die TIKA die Verpflichtung die Makbul Ibrahim Paša Moschee in Razgrad unddie Tombul Ibrahim Paša Moschee in Šumen zu renovieren. Am 05. April 2012 genehmig-

107 Učenicite ot religioznite učilišta posetiha Republika Turcija, in: Mjusjulmani, August 2000, 5.108 Siehe mehr dazu die monatlichen Ausgaben der Zeitschrift Mjusjulmani sowie die Berichte auf der

Homepage des Muftamtes.109 Eurasien Islam Council, türk. Avrasya Islam Şurası wurde 1995 vom Diyanet ins Leben gerufen und

hat das Ziel, die offiziellen islamischen Institutionen der Türkei, des Balkans sowie des Kaukasus zuvereinen.

110 Provede se petoto saveštanie na organisacijata Evroaziatski isljamski savet, in: Muslulmani April2002, 1. Mehr dazu siehe „Islamische Bildung und Erziehung“ (Kapitel III).

111 Interview mit dem Leiter der Bildungsabteilung des Muftiamtes, Karamola, im September 2010.112 Es trat an die Stelle zweier ähnlicher Vereinbarungen vom 4. November 1998 und 19. Juni 2002.

Siehe dazu das Kapitel „Türkische Präsenz auf dem Balkan“.

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Bulgarische Muslime und islamische Mehrheitsregionen 169

te die türkische Regierung eine weitere Spende in Höhe von 6 Millionen EUR für den Baueiner Moschee in Kardžali, die die größte in Bulgarien wirden soll. 113

Diese vielfältigen Aktivitäten führten dazu, dass das türkische Präsidium für Religions-angelegenheiten – und in geringerem Umfang die türkische Agentur für Zusammenarbeitund Entwicklung – sich bis in die Gegenwart als die bedeutendsten ausländische Partner derbulgarischen Muslime etablieren konnten. Türkische religiöse Akteure, zu denen neben denoffiziellen islamischen Institutionen auch religiös begründete Organisationen und islami-sche Netzwerke aus der Türkei gehören, gerieten zunehmend in Konkurrenz zu NGOs ausden arabischen Ländern.114 Sie begannen die in den 1990er Jahren in Bulgarien gegründe-ten islamischen Organisationen und NGOs zu verdrängen. Gewiss kommt hier der geogra-phischen und historischen Nähe der bulgarischen Muslime zur Türkei eine wichtige Rollezu. Die Intensität der Kontakte kann aber auch mit der Balkanpolitik der türkischen Repub-lik erklärt werden, die seit Ende der 1990er Jahre einen neuen Kurs angenommen hat undsich stärker für türkische und muslimische Bevölkerungsgruppen auf dem Balkan, demKaukasus und in Zentralasien engagiert.115

4. Bulgarische Muslime und islamische Mehrheitsregionen:Zwischenbetrachtung

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im Verlauf der ersten Dekade nach der politi-schen Wende die Isolation der bulgarischen Muslime beendet wurde. Die Kontakte, dienach 1989 zu muslimischen Mehrheitsregionen aufgenommen wurden, waren jedoch vonerheblicher Dynamik gekennzeichnet, wobei Intensität und Ausrichtung der Beziehungenim Laufe der Zeit stark variierten. So gab es Organisationen, die sich nur vorübergehendund mit einzelnen Projekten im bulgarischen Kontext beteiligten, andere dagegen konntensich über einen längeren Zeitraum behaupten. Als Beispiel für kurzfristige Projekte, diesich auch an nichtmuslimische Bevölkerungsgruppen richteten, kann auf die kuwaitischeHilfsorganisation Soziale Reform verwiesen werden. Neben der Unterstützung armer mus-limischer Familien sowie von Kindern aus sozialschwachen Schichten116 beteiligte sich dieHilfsorganisation Mitte 2000 (zusammen mit dem Roten Kreuz) an der beginnenden Ge-sundheitsreform in Bulgarien, indem sie Medikamente für die Gesamtbevölkerung in einemWert von 1.000.000 Dollar lieferte.117 Ende 2000 wurde die Soziale Reform bereits aufge-

113 Das Projekt geht auf eine Initiative eines türkischen Architekten zurück. Die Finanzierung soll durchdas DIB erfolgen. Siehe dazu: Turcija šte postroi nai-goljamata džamija v Bălgarija, in: Novini, 05April 2012.

114 Die konkurrierenden Verhältnisse ließen sich sogar auf den Seiten des Presseorgans des Muftiamtes,Mjusjulmani, ablesen. In der Ausgabe vom März 2002 finden sich proportional verteilt auf der erstenSeite zur Hälfte Berichte über Arbeitstreffen und weitere Initiativen von Angehörigen des Muftiamtesin der Türkei und zur anderen Hälfte Berichte über Arbeitstreffen in arabischen Ländern.

115 Siehe dazu weiterführendes Kapitel „Türkische Präsenz auf dem Balkan“.116 Es wurden insgesamt 5000 Familien und 30 Kinder durch die Stiftung unterstützt. Vgl. Poseštenie na

Abdulaziz Džiran, predsedatel na blagotvoritelna fondacija ‚Sozialna reforma‘, in: Bjuletin 1997-2000, 14.

117 Ebda.

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löst. Als weiteres Beispiel kann auf die International Islamic Relief Organization of SaudiArabia (IIRO), eine Hilfsorganisation der Islamischen Weltliga, verwiesen werden. Wäh-rend die IIRO in den anderen Balkan-Ländern eine rege Tätigkeit ausübte, begrenzte sichihre Präsenz in Bulgarien auf das Jahr 2001 und darauf, den Koran unter den bulgarischenMuslimen zu verteilen.118 Andere Organisationen wie Taiba und WAMY konnten sichdagegen über mehrere Jahre, insbesondere im Bildungsbereich, etablieren.

Der wechselhafte Einfluss islamischer Stiftungen und Hilfsorganisationen in Bulgarienlässt sich am Beispiel der islamischen Mittelschulen in Ruse, Šumen und Momčilgrad ver-anschaulichen. Entsprechend dem im Jahr 1993 abgeschlossenen Vertrag mit dem Muftiamtwar es zunächst die Stiftung Al-Waqf al-Islami, die die Arbeit an den Schulen finanzierte.Kurz danach (ca. ein Jahr) wurde diese Zusammenarbeit beendet und 1996 schaltete sichdie Stiftung Balkani, die mit dem damaligen Obermufti, Nedim Gendžev, Kontakte pflegte,ein. Seit 1998 ist es dann das türkische Diyanet, das die Kosten dieser Bildungseinrichtun-gen trägt.119 Auch die Bildungskurse für Imame in Ustina, Sarnica, Delčevo, Bilka undLuljakovo wurden im Verlauf der letzten Dekade durch verschiedene Stiftungen unterstützt.Neben der bulgarischen Stiftung Ahmed Davudogru, die durch türkische Sponsoren finan-ziert wurde, handelte es sich hierbei vorwiegend um saudi-arabische Organisationen wieTaiba, Nedua und Al-Waqf al-Islami.120

Aus den vorhandenen Informationen lässt sich ferner erkennen, dass eine deutliche Ver-schiebung in den Auslandkontakten stattfand. Waren es in den 1990er Jahren arabischeLänder und „Öl Staaten“ wie Saudi-Arabien, Kuwait und Jordanien, die durch die im Landetätigen Hilfsorganisationen eine Unterstützung beim institutionellen Wiederaufbau leiste-ten, ist es seit dem Jahr 2000 das türkische Präsidium für Religionsangelegenheiten, dassich besonders aktiv für die Gemeinschaft der bulgarischen Muslime einsetzt. Bis in dieGegenwart finden regelmäßig Arbeitstreffen bulgarischer islamischer Geistlicher inIstanbul, Edirne und Bursa statt. Schüler und Studenten der islamischen Mittelschulen unddes Hochschulinstitutes werden in den Sommermonaten zu Gastseminaren in der Türkeieingeladen. Türkische Prediger kommen während des Ramadan-Festes nach Bulgarien121

und türkische Lehrer, die beim türkischen Diyanet registriert sind, unterrichten an bulgari-schen geistlichen Schulen. Zu erwähnen ist noch das Projekt des türkischen Diyanets „Ver-brüderte Städte, verbrüderte Muftiämter“, bei dem ein regelmäßiger Austausch auf lokalerEbene stattfindet.122 Die regionalen Muftiämter der beiden Länder organisierten gemeinsa-me Seminare, Imame (der anderen Seite) leiteten das Gebet in den lokalen Moscheen. DieseInitiative ermöglichte zudem, dass dezentralisierte Projekte, wie die Renovierung der Mo-schee in Plovdiv, durch die Istanbuler-Gemeinde realisiert wurden.123

Trotz der dominierenden Rolle der Türkei sind die konkurrierenden Verhältnisse mitNGOs und karitativen Organisationen aus den arabischen Ländern, zunehmend auch mit

118 Siehe dazu: IIRO distributes Qur’an copies, in: Arab news, 13. Mai 2001.119 Strukura i ustrojsto na obrazovatelnija prozes v srednite duhovni učilišta i VII, in: Bjuletin 1997-

2000, 16.120 Mjusjulmani, Oktober 2002, 1.121 Bjuletin za 2009, 16.122 Imami ot Dobrič na poseštenie v Turcija, in: Bjuletin za 2009, 7. Siehe mehr dazu die Homepage des

bulgarischen Muftiamtes.123 Vedat Ahmed, September 2011.

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Dachorganisationen aus Westeuropa, keineswegs verschwunden. Die Türkei ist der bedeu-tendste, nicht aber der einzige ausländische Partner der muslimischen Gemeinschaft Bulga-riens. Gegenwärtig sind in Bulgarien vor allem die Organisation für Islamische Zusammen-arbeit mit ihren zwei Unterorganisationen – das Forschungszentrum für islamischeGeschichte, Kunst und Kultur (IRCICA) mit Sitz in Istanbul124 und die Islamische Organi-sation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (ISESCO) mit Sitz in Rabat125 – präsent.Nachdem das Projekt der Gründung eines Bildungszentrums der bulgarischen Muslime inBankja gescheitert war, kaufte die Organisation Islamische Konferenz (OIC) 2002 einGrundstück im Wert vom 50.000 Dollar im sofiotischen Wohnviertel Malinova Dolina.Dort soll nun das lang ersehnte islamische Bildungs- und Kulturzentrum der bulgarischenMuslime entstehen.126 Auf Einladung der Islamischen Liga nehmen Vertreter desMuftiamtes an Treffen islamischer Führer und Konferenzen teil.127

Auch während des jüngsten Konfliktes (2008-2012) um die religiöse Führung der bul-garischen Muslime kam der Unterstützung aus dem Ausland eine wichtige Rolle zu.128 Vorallem türkische Akteure, die Organisation für Islamische Zusammenarbeit aber auch Ver-treter westlicher Menschenrechtsorganisationen nahmen Stellung zu der ungeklärten juristi-schen Situation innerhalb der Führung der muslimischen Gemeinschaft und äußerten ihreBesorgnis. Der türkische Botschafter, Ismail Aramaz, lehnte es sogar ab, während seinesAufenthaltes in Plovdiv am 16. Februar 2011 die dortige Moschee zu besuchen. Er begrün-dete dies damit, dass der lokale geistliche Rat sich derzeit in den Händen eines Mitstreitersvon Nedim Gendžev befand.129 Ismail Aramaz meinte, dass es am Anfang des 21. Jahrhun-derts nicht nachvollziehbar sei, dass das Recht der bulgarischen Muslime, ihren geistlichenFührer zu wählen, nicht existiere.130 In dieser angespannten Situation zeigte der General-sekretär der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, Ekmeleddin Ihsanoglu, ebenfallsSolidarität, indem er Mitglieder des Muftiamtes nach Dschidda einlud sowie Berichte überdie Lage der Muslime in Bulgarien bei den OIC-Gipfeln vorlegt wurden.131 Während desjährlichen Treffens der Außenminister der OIC am 24. September 2010 in New York wurdeeine Abschlusserklärung verabschiedet, in der die Außenminister der Mitgliedstaaten derOIC aufgefordert wurden, „die Probleme der muslimischen Gemeinde in Bulgarien im

124 Research Centre for Islamic History Art and Culture (IRCICA) startete seine Aktivitäten 1980 inIstanbul als Unterorganisation der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC). Mehr zur Ko-operation mit den bulgarischen Muslimen siehe Bjuletin za 2009, 6.

125 ISESCO wurde im Mai 1979 als Tochterorganisationen der OIC gegründet. Sie ist eine der größteninternationalen islamischen Organisationen, die auf dem Gebiet der islamischen Erziehung, Wissen-schaft und Kultur spezialisiert ist. Ihr Hauptsitz ist in Rabat, Marokko. Siehe dazu<http://www.isesco.org.ma/> sowie Bjuletin za 2009, 10.

126 Siehe dazu noch „Islamische Bildungseinrichtungen“.127 Siehe stellvertretend Konferencija za rešavane na pravnite problemi na mjusjulmanite, in: Bjuletin za

2011, 8.128 Bjuletin 2009, 4f., Bjuletin 2010, 6f, Bjuletin 2011.129 Zaradi Gendžev turskijat poslanik ne vleze v džumajata, in: 24 časa vom 16. Februar 2011; Turskijat

poslanik poseti Bălgarija za parvi pat, in: BNT Plovdiv, 16. Februar 2011.130 Zaradi Gendžev turskijat.131 Siehe u.a. OIC apprised of problems faced by Bulgarian Muslims, in: Arab News, 17. Oktober 2010,

unter <http://www.arabnews.com/node/358049> (12.03.2011).

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Zusammenhang mit der Wahl ihrer religiösen Führer näher zu verfolgen“.132 Nicht zuletztwaren sowohl Vertreter des türkischen Diyanet als auch der OIC und der IRCICA als Be-obachter während der außerordentlichen Konferenz am 12. Februar 2011 in Bulgarien an-wesend.133 Sie beeilten sich nach dem Abschluss der Wahl, dem Obermufti, Mustafa Hadži,und seinen Mitarbeitern zu gratulieren, um damit ihre Anerkennung zum Ausdruck zu brin-gen.134

Von Bedeutung ist schließlich noch die Entwicklung der Zahl der Studenten, die injüngster Zeit an islamischen Universitäten studieren. Aus der beim Muftiamt vorhandenenStatistik ergibt sich, dass von den insgesamt 48 Muslimen und Musliminnen, die 2010 eineislamische Universität in Ausland besuchten, 23 Personen in der Türkei,135 15 in Jordanien,5 in Saudi-Arabien, 4 in Ägypten und eine Person in Syrien ein Studium aufnahmen.136 Bis2010 wurden die Stipendien für ein Studium in der Türkei durch das türkische Bildungsmi-nisterium der Bewegung für Rechte und Freiheit (politischer Partei der bulgarischen Türkenund Muslime) zur Verfügung gestellt, die sie dann an das Muftiamt weiterleitete.137 Seit2010 können sich bulgarische Studieninteressierte direkt (auch online) bei der zuständigenstaatlichen Agentur in der Türkei oder an einer türkischen Universität für Studienplätze undStipendien bewerben.138 Parallel dazu werden jährlich, und auf Anfrage des Muftiamtes,zwei bis drei Stipendien durch das türkische Diyanet zur Verfügung gestellt.139 Aus denInformationen ergibt sich weiter, dass ein Studium an einer islamischen Universität in Jor-danien nach wie vor für die bulgarischen Muslime attraktiv ist. Es ist aber nicht mehr sopopulär, wie dies noch Ende der 1990er Jahre der Fall war (vgl. Tabelle 12). Nur 5 Stu-dienplätze in Saudi-Arabien zeigen, dass ein Studium in diesem Land deutlich an Bedeu-tung verloren hat. Der stellvertretende Obermufti, Vedat Ahmed, teilte im September 2011mit, dass es keine weiteren Organisationen in Bulgarien gebe, die Studenten nach Jordanienund Saudi-Arabien sandten. Einige der Studenten dort haben sich selbst bei den Universitä-ten beworben, andere wurden in den Jahren zuvor durch das Muftiamt unterstützt. 2011vermittelte das Muftiamt keine Studienplätze an Universitäten in Jordanien und Saudi-Arabien mehr. Nach wie vor stellen das ägyptische Ministerium der Waqf und die Al-Azhar-Universität in Kairo durch die ägyptische Botschaft in Bulgarien einige Studienplät-ze zur Verfügung.

Mehr als die Hälfte der bulgarischen Muslime und Musliminnen, die sich 2009 für einislamisch-theologisches Studium entschieden (65 Personen), wählten dafür das ObersteIslamische Institut in Sofia. Dies zeigt, dass in dieser Zeit weder Saudi-Arabien, noch Jor-

132 Delegacija načelo s glavnija mjuftija d-r Mustafa Hadži se sreštna s generalnija sekretar naorganizacija isljamska konferencija, in: Informacionen Bjuletin za 2010, 6.

133 Krizata văv veroizpovedanieto i izvănrednata mjusjulmanska konferencija, in: Bjuletin za 2011,Glavno mjuftijstvo na mjusjulmanite v Bălgarija, Sofia 2012, 25.

134 Poslanie от Ekmeledin Ihsanogru, Glaven sekretar na Organizacijata isljamska konferencija kamNacionalnata konferencija na mjusjulmanite v Bălgarija, in: Bjuletin za 2011, 27, 28.

135 Angabe ohne Auszubildende an einer islamischer Mittelschule oder einer Schule für Imam-Hatipe.136 Angaben der Bildungsabteilung des Muftiamtes vom Oktober 2010 sowie vom Februar 2012.137 Interview mit Vedat Ahmed, September 2011.138 Mehr Informationen siehe: Saobstenie na Visš Isljamski Institut, <http://www.islamicinstitute-

bg.org/main.php?sec=1&page=2>; Balkanskite studenti i universiteti se vazpolzvat ot turski stipendii,in: SETimes, 11. April 2013.

139 Vedat Ahmed, September 2011.

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Die Unterstützung der Umma – vergleichende Perspektive 173

danien oder die Türkei sondern Bulgarien selbst, der beliebteste Ort für die Aufnahme einesislamisch-theologischen Studiums durch bulgarische Muslime war.

5. Die Unterstützung der Umma – vergleichende Perspektive

Beim Prozess der neu aufgenommenen beziehungsweise intensivierten Kontakte zumweltweiten Islam stellten die Muslime Bulgariens keine Ausnahme dar. Ähnliche Tenden-zen ließen sich in anderen muslimischen Gebieten des Balkans feststellen.140 Heute leben indieser Region mehr als acht Millionen Muslime unterschiedlicher Sprache und Herkunft.Die größte muslimische Bevölkerungsgruppe bilden die auf sechs Staaten aufgeteiltenAlbaner, die mehrheitlich, aber nicht ausschließlich muslimisch sind. 2,3 Millionen Albanerleben in der Republik Albanien141 und ca. 1,6 Millionen (fast ausschließlich muslimischeAlbaner) gibt es im Kosovo. In Makedonien machen die Albaner mit fast einer halben Mil-lionen Personen die größte Minderheit des Landes aus, wobei sie konzentriert in Westma-kedonien siedeln. Kleinere Gruppen von Albanern leben in Süd-Serbien (ca. 60.000), imbenachbarten südlichen Grenzstreifen Montenegros (ca. 30.000) sowie in Kroatien(10.000).

Eine weitere muslimische Gruppe auf dem Balkan sind die muslimischen Slawen.Durch den Zerfall Jugoslawiens ist mit Bosnien-Herzegowina ein unabhängiger Staat ent-standen, in dem die bosnischen Muslime (Bosniaken) die relative Mehrheit stellen (ca. 2Millionen, 43,7% der Gesamtbevölkerung). Bosniaken leben auch in dem auf Serbien undMontenegro aufgeteilten Sandžak (ca. 200.000), im Kosovo (40.000), in Makedonien(20.000) und in Kroatien (28.000)142. Slawisch sprechende Muslime (von den Bosniaken zuunterscheiden) gibt es in Makedonien (70.000 Torbeschen), in Bulgarien (250.000 Poma-ken) und in Griechenland (39.000 Pomaken) sowie im Kosovo und in Albanien (jeweils ca.10.000 Goranis).

Mit den Osmanen kamen auch türkische Bevölkerungsgruppen nach Südosteuropa.Größere Bevölkerungsanteile von Türken lassen sich heute in Bulgarien (fast 500.000), inMakedonien (81.600), in Griechenland (54.000) und in Rumänien (28.000 Türken und24.000 Tataren) feststellen. Die Anzahl der muslimischen Roma und Sinti ist aufgrund ihrerHeterogenität schwer zu ermitteln. Nach Schätzungen variiert ihre Zahl zw. 300.000 und400.000 Personen.143 Vor allem in Bosnien, Albanien, Bulgarien und Makedonien beken-

140 Zum „Balkan-Islam“ in der post-kommunistischen Zeit, siehe u.a. Xavier Bougarel/ Nathalie Clayer(Hg.), Le nouvel islam balkanique. Les musulmans, acteurs du post-communisme (1990-2000), Paris:Maisonneuve & Larose 2001; Hugh Poulton/ Suha Taji-Farouki (Hg.), Muslim Identity and theBalkan State, London: Hurst 1997; Islam in the Balkans, Islamic Studies, Vol.36, 2-3 (1997); BrigitteMarechal u.a. (Hg.), Islam in the Enlarged Europe: Religion and Society, Leiden [u.a.]: Brill, 2003;Nathalie Clayer/ Eric Germain (Hg.), Islam in Inter-War Europe, London: Hurst 2008; Christian Voß/Telbizova-Sack, Islam in (Südost)Europa. Kontinuität und Wandel im Kontext von Transformationund EU-Erweiterung, München/Berlin: Verlag Otto Sagner, 2010.

141 70% der Gesamtbevölkerung in Albanien sind Muslime, 20% orthodoxe Christen und 10%Katholiken.

142 In Kroatien gib es insg. 63.000 Muslime (Zensus 2011). Neben den Bosniaken (28.000) und Albaner(10.000) gibt es noch 10.000 muslimische Kroaten, 5.000 Roma und andere.

143 Xavier Bougarel, Balkan Islam as ‚European Islam‘: Historical Background and Present Challenges,

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Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen174

nen sich Teile der Roma zum Islam. Obwohl die verschiedenen muslimischen Bevölke-rungsgruppen im Balkanraum historische Gemeinsamkeiten teilen, unterscheiden sie sich inihrer sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lage voneinander und können nicht alsEinheit betrachtet werden.

Mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation begann auch für die Muslime auf demBalkan eine Zeit großer Veränderungen und Umbrüche. Infolge der Liberalisierung derreligiösen Sphäre konnten sich islamische Institutionen neu entwickeln und religiöse Sym-bole kamen in die Öffentlichkeit. Auch die Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionenwurden wieder hergestellt oder intensiviert. So war es wieder möglich, junge Muslime anislamischen Universitäten ausbilden zu lassen. Andererseits ließ sich eine Reihe von neuenreligiösen Akteuren in den muslimisch besiedelten Gebieten Südosteuropas nieder. Islami-sche NGOs und Hilfsorganisationen,144 informelle Netzwerke und einzelne Personen kamennach Südosteuropa, um den Wiederaufbau der lokalen muslimischen Gemeinden zu unter-stützen und zugleich um Anhänger zu werben.145 Internationale islamische Organisationenwie die Muslim World League, die International Islamic Relief Organization (IIRO) oderWorld Assembly of Muslim Youth (WAMI) gründeten bereits in den ersten Jahren nach derpolitischen Wende, verstärkt jedoch nach dem Ausbruch des Bosnien-Konflikts, lokaleBüros in Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Albanien und dem Sandžak oder sie begannen

in: Voß/ Telbizova-Sack, Islam in (Südost)Europa, 17.144 Das Konzept der Karitas ist eine bedeutende Tradition in der islamischen Geschichte, die durch die

Institutionen der vakuf (Stiftung) und zakat (Almosen) vertreten wurde. Die meisten zeitgenössischenmuslimischen karitativen Organisationen entstanden in den frühen 1980er Jahren. In dieser Zeit warihre finanzielle Stärke noch begrenzt und islamische NGOs waren wenig in der Lage, mit westlichenNGOs zu konkurrieren. Seit den 1990er Jahren ist die Zahl der islamischen NGOs deutlich gestiegenund führte zu ehrgeizigen und erfolgreichen Entwicklungs- und Hilfsprojekten. Siehe dazu JonathanBenthall/ Jerome Bellion-Jourdan, The Charitable Crescent: Politics of Aid in the Muslim World,IBTauris & Co Ltd: London 2003; Mehmet Ozkan, Transnational Islam, Immigrant NGOs andPoverty Alleviation: The Case of the IGMG, in: Journal of International Development, 24 (2012),467–484.

145 Über islamische NGOs und transnationale islamische Netzwerke in Osteuropa siehe Jérôme Bellion-Jourdan, Les réseaux transnationaux islamiques en Bosnie-Herzégovine, in: Xavier Bougarel/Nathalie Clayer (Hg.), Le nouvel Islam balkanique, op.cit., 429-472; Xavier Bougarel, Islam in thepost-communist Balkans, in: Johannes Kandel/ Ernst Pulsfort/ Holm Sundhaussen (Hg.), Religionenund Kulturen in Südosteuropa 2002, 32-53, Ders. (Hg.), Balkan Muslims and Islam in Europe,Südosteuropa, 4(2007) Nathalie Clayer, Der albanische Raum. Politischer Islam im Entstehen?, in:Ost-West-Gegeninformationen, Jg. 14, 2 (2002), 20-27; Isa Blumi, Indoctrinating Albanians:Dynamics of Islamic Aid, ISIM Newsletter, 11 (2002); Ders., Political Islam among the Albanians:Are the Taliban Coming to the Balkans?, Kosovo Institute for Policy Research and Development,Policy Research Series 2, Prishtina, June 2005; Ghodsee, Muslim Lives in Eastern Europe; JuanCarlos Antúnez, Wahhabism in Bosnia-Herzegovina. Part One, Bosnian Institute, 16. September2008, unter <http://www.bosnia.org.uk/news/news_body.cfm?newsid=2468> (24.04.2013); Durch-führungsverordnung Nr. 316/2012 der EU-Kommission vom 12. April 2012 sowie CIA Reports onNGOs with Terror Links, Januar 1996, einsehbar unter<http://en.wikisource.org/wiki/CIA_Report_on_NGOs_With_Terror_Links#PROFILES_OF_NGOS_WITH_EXTREMIST_TIES_IN_BOSNIA> (24.04.2013). Informationen über die in den einzelnensüdosteuropäischen Ländern tätigen islamischen Organisationen konnten ferner anhand Islamic finder<http://www.islamicfinder.org/getitWorld.php?id=36138&lang=> (24.04.2013) ermittelt werden.

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Die Unterstützung der Umma – vergleichende Perspektive 175

durch Unterorganisationen Hilfe in diesen Ländern zu leisten.146 1987 wurde in Wien aufsudanische Initiative die Third World Relief Agency (TWRA) gegründet, mit dem Ziel, denIslam in den ehemaligen kommunistischen Ländern zu verbreiten und zu vertiefen.147 ZweiJahre später (1989) etablierte sich der Dachverband Föderation Islamischer Organisationenin Europa (Federation of Islamic Organizations in Europe, FIOE), in dem der östliche Teildes Kontinents integriert wurde.148 Die Mitgliederliste dieses Verbandes beinhaltete 2011Vereinigungen oder Stiftungen in insgesamt 27 europäischen Ländern, unter anderem inAlbanien, Bosnien, Bulgarien, Griechenland, dem Kosovo, Mazedonien, Rumänien sowieder Tschechei, Polen, Ungarn, Moldawien, Russland, Ukraine und auch in Westeuropa.149

Seit dem Jahr 2000 diskutierte die FIOE eine muslimische „Charta für Europa“, die imJanuar 2008 von muslimischen Verbänden aus Europa und der Türkei unterzeichnet wur-de.150 Auf Initiative der FIOE wurde 1996 auch der Europäische Rat für Fatwa und For-schung (European Council for Fatwa and Research, ECFR) ins Leben gerufen, dessenVorsitzender Yusuf al-Qaradawi151 war. Im selben Jahr gründete die FIOE zusammen mitder World Assembly of Muslim Youth und islamischen Jugendorganisationen aus verschie-denen europäischen Staaten das Forum of European Muslim Youth and Student Organiza-tions (FEMYSO).

Neben Organisationen, die sich inhaltlich dem Islam widmen, gibt es auch solche, dienicht religiös orientiert sind, aber das Ergebnis der Zusammenarbeit von Muslimen unter-schiedlicher Nationalitäten sind.152 Als Beispiel für die zweite Gruppe kann auf die inGroßbritannien gegründete internationale Islamic Relief Wordwide (IRW) hingewiesen

146 Siehe dazu Ghodsee, Muslim Lives, 137; Steven Emerson/ Jonathan Levin, Terrorism Financing:Origination, Organization, and Prevention, 31. July 2003, unter<http://www.investigativeproject.org/documents/testimony/17.pdf> (24.04.2013). Die IslamischeWeltliga (IWL) agiert bis in die Gegenwart durch eine Rehe Unterorganisationen. 1991 hat die IWLdie Entstehung eines islamischen Rates für Osteuropa gefordert. Mehr dazu Bougarel, Islam in thepost-communist Balkans, 47.

147 Ghodsee, Muslim Lives, 135.148 Mehr dazu siehe die Homepage der FIOE, unten <http://www.fioe.org> (28.04.2013).149 Ebda.150 Die muslimische „Charta für Europa“ wurde 2002 vom Zentralrat der Muslime in Deutschland und

2006 vom FIOE veröffentlicht (http://www.zentralrat.de/3035.php). Sie fand wenig Interesse in dereuropäischen Öffentlichkeit. Die Unterzeichnung in Brüssel am 10. Januar 2008 stellte einen weiterenVersuch der FIOE, die Charta in die europäische Öffentlichkeit zu bringen, dar. Ziel der Charta wares, eine Diskussion wesentlicher Grundfragen im Verhältnis muslimischer Gemeinschaften zur nichtmuslimischen Mehrheit einzuleiten.

151 Yusuf al-Qaradawi (geb. 1926) ist ein bekannter zeitgenössischer islamischer Gelehrter und Prediger.Der gebürtige Ägypter lebt seit den 1960er-Jahren in Katar. Neben seinem Hauptwerk „Erlaubtes undVerbotenes im Islam“ ist er durch die Fernsehsendung „Die Scharia und das Leben" des arabischenSenders al-Jazeera, in der Qaradawi religiöse Fragen diskutiert, sowie das Internet-Portal Islam-Online bekannt geworden. Qaradawi sieht sich als ein Verfechter der wasatiyya, einer Mittelposition,bekennt sich zugleich zur maßgeblichen Rolle der Scharia im gesellschaftlichen Alltag. Siehe dazuBettina Gräf/ Jakob Skovgaard-Petersen (Hg.), The Global Mufti. The Phenomenon of Yusuf Al-Qaradawi, London: Hurst & Co, 2008.

152 Mehr dazu siehe: Nathalie Clayer, Islam und Zivilgesellschaft auf dem Westbalkan, in: UlfBrunnbauer/ Christian Voß, (Hg.), Inklusion und Exklusion auf dem Westbalkan, München: Kubonund Sagner, 2008, 53-64.

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Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen176

werden, die weltweit im Bereich der humanitären Hilfe tätig ist.153 Sie ist auch als Partnerdes Europäischen Amtes für humanitäre Hilfe und als Mitglied bei People in Aid bekanntund hat einen Beraterstatus im Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen. In Zu-sammenarbeit mit den Länderbüros in Südosteuropa führte die IRW verschiedene Projektein Albanien, im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina durch.154 So vergab Islamic Relief inBosnien und Herzegowina seit dem Start eines Mikrokreditprogramms zinslose Kredite.Allein im Jahr 2006 wurden hierbei 1.513 Kredite im Gesamtwert von 1,6 Millionen Eurozur Verfügung gestellt. Diese Kredite wurden an Unternehmen in Not sowie an Waisenhäu-ser gegeben. Daneben organisiert Islamic Relief in Bosnien und Herzegowina Sommerferi-enlager für Waisenkinder und transportiert medizinische Güter ins Land. In Albanien eröff-nete Islamic Relief 1992 ein Länderbüro in Tirana und ist seit dem kontinuierlich vor Ortvertreten. Es wurden Kleider und Lebensmittel im Land verteilt. Daneben betreibt dieIslamic Relief Gemeinde- und Bildungszentren in Shkoder und in Koplik. Sie unterstütztdie ländliche Infrastruktur, indem sie Straßen sowie Wasserversorgungs- und Bewässe-rungssysteme errichtet. Auch im Kosovo vergibt die Islamic Relief zinsfreie Mikrokredit-projekte in Millionen-Höhe.155

Während sich Islamic Relief Wordwide durch ihr Engagement in den Bereichen Infra-struktur, Gesundheit, Ernährungsprojekte und Bildung an zivilgesellschaftlichen Projektenin den betroffenen südosteuropäischen Ländern beteiligt, waren andere karitative Organisa-tionen, wie die Saudi High Commission for Relief, die Al Haramain Islamic Foundationoder die King Faisal Charitable Foundation vorwiegend infolge des Konflikts in Bosnien-Herzegowina auf dem Balkan aktiv.156 Der Kriegsbeginn Anfang der 1990er Jahre schafftegrundsätzlich günstige Bedingungen für die Verbreitung von NGOs und islamischen Netz-werken. Nur aus dem im Januar 1996 veröffentlichen CIA Report über Bosnien lassen sichinsgesamt 16 islamische Hilfsorganisationen feststellen, die während der Unruhen inBosnien tätig waren.157 Sechs von ihnen kamen aus Saudi-Arabien oder wurden durch die

153 Die Islamic Relief Wordwid, bestand 2011 aus einem Netz von elf selbstständigen Partnerorganisatio-nen sowie 28 Büros in der ganzen Welt. IRW kümmert sich um die Verteilung von Lebensmitteln, dieVersorgung mit Trinkwasser sowie allgemeine Wiederaufbauhilfe in Krisengebieten. Unter<http://www.islamicrelief.de/regionen/?tx_ttnews[cat]=17> (04.06.2013).

154 Siehe dazu die Webseite der Islamic Relief.155 Ebda.156 CIA Report on NGOs; Antúnez, Wahhabism in Bosnia-Herzegovina; Blumi, Political Islam; Xavier

Bougarel, Introduction, in: Ders. (Hg.), Balkan Muslims and Islam in Europe, Südosteuropa-Zeitschrift des Südost-Institutes, Jg. 55, Heft 4 (2007), 339-353.

157 Dazu gehören Al-Harmain Islamic Founation, Saudi High Commission for Relief, Human AppealInternational (HAI), Human Concern International (HCI), Human Relief International (HRI), Foun-dation for Human Rights and Freedoms and Humanitarian Relief (IHH), International Islamic ReliefOrganization (IIRO), Islamic Relief Agency (ISRA), Kuwait Joint Relief Committee (KJRC), LajnatAl-Birr Al-Islamiyya (LBI), Maktab Al-Khidamat (MAK), Muwafaq Foundation, Qatar CharitableSociety/Committee, Red Crescent Irann, Third World Relief Agency (TWRA) sowie The IslamicWorld Commission. Siehe dazu: CIA Report on NGOs.Wie das Ministerium für Sicherheit von Bosnien und Herzegowina im Oktober 2004 mitteilte, hattendie zuständigen Behörden der Föderation die Bankkonten von zehn dieser Organisationen gesperrt, dasie unter dem Verdacht standen, „den internationalen Terrorismus zu unterstützen“ und an „Geldwä-sche“ in Bosnien beteiligt zu sein. Siehe dazu: Glas-javnosti.co.yu, 08.Oktober 2004 Belgrad, unter<http://www.politik.de/forum/balkan/80032-bosnien.html> (04.06.2013).

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Die Unterstützung der Umma – vergleichende Perspektive 177

Saudis finanziert. Zwei weitere (Kuwait Joint Relief Committee und Islamic WorldCommission) kamen aus dem Kuwait, zwei weitere (Islamic Relief Agency und MuwafaqFoundation, mit Hauptsitz in England) aus dem Sudan. Islamische NGOs oder karitativeOrganisationen wurden ferner durch Katar, Iran, Dubai, Ägypten, Pakistan und dieTürkei158 finanziert. Die Beiträge der verschiedenen islamischen Organisationen leisteteneinen wesentlichen Anteil der humanitären Hilfe in Bosnien. Ihre karitativen Aktivitätenumfassen unter anderem die Lieferung von Nahrung, Kleidung und Medikamenten sowiedie Unterstützung von Waisenhäusern, Schulen und Krankenhäusern. Einige dieser Organi-sationen bauten aber auch Unterstützungsnetzwerke auf, über die sie freiwillige Glaubens-kämpfer nach Bosnien schleusten.159 So eröffnete Maktab Al-Khidamat, die als Dienstleis-tungsbüro diente, 1992 eine Niederlassung in Zagreb (Kroatien), später auch die IIRO.160

Die letztere (IIRO) wurde durch die Muslim World League finanziert und hatte ihre Bürosin Sarajevo und Tuzla (Bosnien-Herzegowina), in Zagreb und Split (Kroatiens) sowie inLjubljana (Slowenien) und in Wien.161 Der wohl bedeutendste Geldgeber für Bosnien wardie Saudi High Commission for Relief of Bosnia-Herzegovina (HSC). Die HSC liefertehumanitäre Hilfe für die bosnische Bevölkerung, so für Waisenkinder und für verarmtebosnische Familien. Zugleich errichtete sie in ihrer Zentrale in Sarajevo eine Moschee, eineBibliothek, Restaurants und sogar eine Sporthalle.162 1995/96 finanzierte die Saudi HighCommission for Relief die Restaurierung der Medrese (islamische Sekundärschule) inMostar sowie den Bau der Islamischen Pädagogischen Akademie in Bihać.163 Die Fakultätfür Islamische Studien in Sarajevo wurde 1997 durch eine in Katar angesiedelte Stiftungunterstützt.164

An Hilfelieferungen für Bosnien zwischen 1992 und 1995 beteiligten sich neben karita-tiven Organisationen und NGOs auch islamische Staaten. Hierbei taten sich vor allem derIran, Saudi-Arabien, Malaysia, Pakistan und die Türkei hervor, wobei die erwähnten Län-der auch militärische Unterstützung leisteten.165 Auch freiwillige Kämpfer kamen nachBosnien. Die Stadt Zenica wurde zum Hauptquartier der islamischen Freiwilligen, die sichdem 7. Bosnischen Regiment anschlossen und in zwei zusätzlichen Mudschahedin-

158 Foundation for Human Rights and Freedoms and Humanitarian Relief (IHH), gegründet durch dietürkische Refah-Partei mit Sitz in Deutschland. Siehe dazu nächstes Kapitel.

159 CIA Report on NGOs.160 Olivier Roy, Der islamische Weg nach Westen: Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung,

München: Pantheon-Verlag 2006, 306.161 IIRO saves forty thousand Bosnians from starvation, in: Moneyclips, July 4(1993); Emerson/ Levin,

Terrorism Financing; CIA Report on NGOs; IIRO – Welcome, unter <http://www.arab.net/iiro>.162 Emerson, Terrorism Financing, 16; Antúnez, Wahhabism in Bosnia-Herzegovina.163 Sejfo Kajamović, Medresa Mehmed-bega Karađoza u Mostaru, od osnutka do zabrane rada 1570-

1918, in: Glasnik, July-August 1996, 465-469, 469; Štĕpán Macháček, ‘European Islam’ and IslamicEducation in Bosnia-Herzegovina, in: Südosteuropa, Jg. 55, Nr. 4 (2007), 395-428, hier 410f.

164 Macháček, ‘European Islam’, 410. Finanzielle Zuwendungen kamen auch von einzelnen Personen.Die Renovierung des Moschee-Komplexes Daru-l-ilm vakuf in Mostar wurde beispielweise vomägyptischen Arzt, Mahmud Tantawi, der in Westeuropa lebte, bezahlt.

165 Siehe dazu Bougarel, Islam in the post-communist, 48; Tom Nunter, The Embargo that wasn’t: Iran’sArms Shipments into Bosnia, in: Jane’s Intteigence Review, Nr.12, Dezember 1997, 538-540.

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Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen178

Brigaden an der Seite der bosnischen Muslime kämpften.166 Westliche Muslime der zweitenGeneration und Konvertiten kämpften ebenfalls in Bosnien.167

Auch außerhalb der Kriegsgebiete haben islamische NGOs, die in Verbindung mitSaudi-Arabien und den Golf-Staaten standen, humanitäre und religiöse Aktivitäten auf demgesamten Balkan finanziert.168 So waren die saudi-arabische Al-Haramain CharitableFoundation, die sudanische Islamic Relief Agency, die Human Concern International, dieHuman Relief International und die internationale World Assembly of Muslim Youth nebenBosnien auch in Albanien, dem Kosovo und Kroatien aktiv.169 The Islamic World Commis-sion, eine Wohltätigkeitsorganisation aus Kuwait, lieferte im Jahr 1994 Hilfe im Wert von2.427.235 Dollar für muslimische Gemeinden auf dem Balkan.170 1995 hatte sie Büros inSarajevo und Tuzla (Bosnien), in Zagreb (Kroatien) sowie in Albanien, Bulgarien undÖsterreich.

Viele dieser islamischen Akteure leisteten die dringend benötigte humanitäre Hilfe, för-derten das Studium junger Muslime aus dem Balkan-Raum an einer islamischen Universitätund stellten finanzielle Mittel für die institutionelle Erneuerung des Islam zur Verfügung.Zugleich bauten sie aber auch ihre eigenen Moscheen, religiöse Schulen und islamischeZentren und hatten ihre eigene Agenda der Re-Islamisierung.171 Nicht selten vermischtensich in ihren Aktivitäten humanitäre Hilfeleistungen und Bekehrungseifer. Während desKrieges in Bosnien-Herzegowina versuchten islamische Wohltätigkeitsorganisationen bei-spielweise die Verteilung der humanitären Hilfe zu nutzen, um die religiösen Praktiken derbosnischen Muslime zu ändern.172 Viele der islamischen Hilfsorganisationen hatten eineeigene Abteilung für da’wa. Die Tätigkeit verschiedener islamischer Netzwerke, karitativerEinrichtungen sowie internationaler islamischer Organisationen eröffnete somit neue Mög-lichkeiten für die Verbreitung der islamischen Mission, der da’wa.

6. Die Da'wa

Da'wa ist der islamische Begriff für Mission, was mit „Einladung“ zum Islam wiedergege-ben werden kann. Diese Missionierungsbemühungen sind innerhalb des Islam ein relativmodernes Phänomen. Im Unterschied zum Christentum war eine systematische und zentralorganisierte Form der islamischen Glaubensverbreitung lange Zeit unbekannt. Erst im frü-hen 20. Jahrhundert bildeten sich zentral strukturierte muslimische Organisationen, die den

166 Hildegard Becker, Die Mekka-Connection, in: Europe News, November 2003, unter<http://europenews.dk/de/node/17594> (04.06.2013).

167 Roy, Der islamische Weg nach Westen, 306.168 Bellion-Jourdan, Les réseaux transnationaux islamiques; Blumi, Political Islam; Bougarel,

Introduction.169 Emerson, Terrorism Financing.170 Ebda.171 Bougarel, Islam in the post-communist, 47; Blumi, Political Islam, 1; Brian Whitmore, Saudi 'charity'

troubling to Bosnian Muslims, in: Boston Globe, 28. Januar 2002, ersichtlich unter<http://www.balkanpeace.org/index.php?index=article&articleid=9393> (12.09.2013).

172 Bougarel, Islam in the post-communist, 47. Zu ausländischen islamischen NGOs, die während desKrieges im belagerten Sarajevo aktiv waren, siehe noch Ivana Macek, War Within. Everyday Life inSarajevo under Siege, Uppsala: Acta Universitata Upsaliensis, 2000, 186-200.

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Die Da'wa 179

Islam zunächst im Nahen Osten, Nordafrika und in Teilen Asiens verbreiteten.173 Zu denwichtigsten Repräsentanten dieser Ära gehörten Hassan al-Banna (1906-1949)174 und AbuAla al-Maududi (1903-1979)175. Mit dem Ende des kalten Krieges zeichnete sich eine neuePhase ab, die auch mit einer deutlicheren Wahrnehmung der Globalisierung zusammenfiel.Viele islamische Gruppen und Netzwerke erschlossen sich neue Möglichkeiten, um fürAnhänger zu werben. Insbesondere in Europa geht es den Missionaren darum, den offen-sichtlichen Prozess der Säkularisierung von Muslimen aufzuhalten und umzukehren. Ob-wohl sich da’wa auch nach „außen“, also an Nichtmuslime wenden kann, wird sie als vor-rangige Aufgabe unter Muslimen verstanden.176 Ziel des „Rufes“, der „Einladung“ zumIslam ist die Schaffung eines islamischen Bewusstseins sowie eine umfassende Re-Islamisierung verschiedener Lebensbereiche der Muslime. Es geht um die Islamisierung derBildung, um den Einsatz für eine islamische Wissenschaft und vor allem um islamischeWerte des Alltagslebens, der Verhaltens, der Sitte. Unter Hinweis auf das aus dem Koranabgeleitete Gebot, das Rechte zu gebieten und das Unrechte zu verbieten, wird die Rückbe-sinnung säkularisierter oder vom „wahren Glauben“ entfernter Muslime angestrebt. DieseMissionierungsaktivitäten gehen aber auch mit karitativen und pädagogischen Bemühungenverschiedener Art einher. Schulen, medizinische Einrichtungen und Universitäten werdenebenso finanziert wie Infrastrukturmaßnahmen unterstützt. Es gibt Stipendienprogramme,durch die jungen Muslimen ein Studium an einer Stätte islamischer Gelehrsamkeit vorallem in der arabischen Welt ermöglicht wird. Dabei verstehen auch relativ moderne Ein-richtungen, die im Bildungsbereich aktiv sind und religiöses mit säkularem Wissen verbin-den, ihre Tätigkeit als da’wa. Der Bildungssektor und die neuen kommunikationstechni-schen Möglichkeiten tragen zu einer Universalisierung der da’wa bei.177 Die durch denIslam auferlegte Pflicht zur Mission hat somit nicht nur das Ziel, die Religion zu verbreiten.Die Gruppen, die sich der Missionsarbeit verschrieben haben, sehen es auch als ihre Aufga-be an, ihre Anhänger im Alltagsleben zu unterstützen und sie anzuleiten, wie sie in Über-einstimmung mit den religiösen Vorschriften des Islam leben können.178

Was die Institutionalisierung der da’wa betrifft, so können seit der Mitte des 20. Jahr-hunderts drei Ebenen unterschieden werden: 1) staatlich gestützte da’wa, 2) staatlich beein-

173 Peter Heine, Der Islam, Düsseldorf: Patmos 2007, 20.174 Hassan al-Banna (1906-1949) war Gründer und geistlicher Führer der Muslimbruderschaft, einer der

wichtigsten und einflussreichsten islamistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Siehe mehr dazu:Gudrun Krämer, Hasan al-Banna, Oxford: Oneworld Publications. 2009.

175 Abu 'Ala al-Maududi (1903-1979) gründete die pakistanische missionarische Organisation Jamaat-eIslami. Er war ein Vordenker des Islamismus. Al-Maududi sprach von einer Theo-Demokratie, in derdiejenigen regieren, die Gottes Gebote erfüllen. Siehe dazu: Guido Steinberg/ Jan-Peter Hartung,Islamistische Gruppen und Bewegungen, in: Werner Ende/ Udo Steinbach (Hg.), Der Islam in derGegenwart, München: Beck, 5. Auflage, 2005, 680-696.

176 Muhammad Khalid Masud, ‘Modern usage’, section of the article ‘Da`wah’, in: John L. Esposito(Hg.), The Oxford encyclopedia of the modern Islamic world. Vol. 1: Abba-Fami, Oxford: OxfordUniversity Press 1995, 350-353.

177 Henning Wrogemann, Missionarischer Islam und gesellschaftlicher Dialog: Eine Studie zu Begrün-dung und Praxis des Aufrufes zum Islam im internationalen sunnitischen Diskurs, Frankfurt amMain: Lembeck 2006, 186.

178 Dietrich Reetz, Islam in Europa: Religiöses Leben heute, in: Ders. (Hg.), Islam in Europa: ReligiösesLeben heute, Münster: Waxmann, 2010, 12.

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Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen180

flusste aber dennoch unabhängige internationale da’wa-Organisationen, sowie 3) eigen-ständige, nichtstaatliche da’wa-Organisationen und Bewegungen.179 Diese von ReinhardtSchulze vorgeschlagene Einteilung ist jedoch nicht absolut, da viele missionarische NGOsund Verbände Hand in Hand mit staatlichen und zwischenstaatlichen islamischen Einrich-tungen zusammenarbeiten. Schulze weist selbst darauf hin, dass die institutionelle da`wanach wie vor und hauptsächlich ein Medium einer bestimmten Regierung für die Einrich-tung einer informellen aber religiös legitimierten Außenpolitik bleibt. 180

Nichtstaatliche missionarische da’wa-BewegungenZu den bedeutenden nichtstaatlichen missionarischen da’wa-Bewegungen gehören nebender Muslimbruderschaft, die im Jahr 1928 in Ägypten von Hasan al-Banna (gest. 1949)gegründet wurde, die aus Südasien stammenden Tablighi Jama’at, die Da‘wat-e Islami unddie Ahmadiyya. Die letztgenannte von ihnen, die Ahmadiyya, wurde Ende des 19. Jahrhun-derts in Britisch-Indien gegründet.181 Diese sich als Reformbewegung verstehende Religi-onsgemeinschaft hatte von Anfang an das Ziel, den Islam in der von ihr propagierten undvom Mehrheitsislam nicht akzeptierten Form zu verbreiten. Ihre Anhänger vereinten einekonservative theologische Auslegung der islamischen Rechtsquellen mit „politischem Libe-ralismus und sozialer Modernität“.182 Die missionarische Tätigkeit (Tabligh) hat im Pro-gramm der Bewegung einen hohen Stellenwert. Zielpersonen der Missionare sind nicht nur„vom rechten Weg abgekommene“ Muslime, sie wenden sich auch an Mitglieder andererReligionsgemeinschaften und an Atheisten.183 Kurz nach dem Tod ihres Gründers, MirzaGhulam Ahmad (gest. 1908), spaltete sich die Bewegung in zwei doktrinär unterschiedlicheGruppen, Ahmadiyya Muslim Jama‘at (AMJ) und die Ahmadiyya Anjuman-e Isha’at-eIslam Lahore (AAIIL).184

In Südosteuropa reichte die Präsenz der Ahmadiyya, in ihrer Abspaltung AhmadiyyaAnjuman Isha'at al-Islam Lahore, bis in die Zwischenkriegszeit zurück und konzentriertesich auf die muslimisch besiedelten Gebiete Albaniens.185 Bereits 1927 nahmen Vertreter

179 Reinhard Schulze, Institutionalization, section of the article Da`wah, in: John L. Esposito (ed.), TheOxford encyclopedia of the modern Islamic world. Vol. 1: Abba-Fami, Oxford: Oxford UniversityPress, 1995, 346-350, 347.

180 Andere internationale da`wa Organisationen wie die Tablighi Jama`at haben dagegen keine Verbin-dung zu einem bestimmten Staat oder Regime. Siehe dazu Marc Gaborieau, Tablīghī Djamā`at, in:Peri J. Bearman et al. (Hg.), The encyclopedia of Islam (new edition), Vol. 10, Leiden: Brill 2007,38-39.

181 Vgl. Andre Lathan, Reform, Glauben und Entwicklung: Die Herausforderungen der Ahmadiyya-Gemeinde, in: Reetz, Islam in Europa: Religiöses Leben, 79 f.; AMJ, Was ist „Ahmadiyya“?, unter<www.ahmadiyya.de/ahmadiyya/einfuehrung> (07.01.2013); Krech Hans/ Matthias Kleiminger(Hg.), Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, 6. Aufl., Gütersloh: GütersloherVerlag-Haus, 2006, 758 f..

182 Reetz, Islam in Europa, 95.183 Lathan, Reform, 90.184 Reetz, Islam in Europa, 13; Lathan, Reform, 90.185 Über den Einfluss der indischen Ahmadiyya Lahore unter den albanischen Muslimen in der Zwi-

schenkriegszeit siehe Nathalie Clayer, The Lahore Ahmadiyya Movement and the Reform ofAlbanian Islam in the Inter-War Period, Paris: Maisonneuve & Larose, 2004, unter<http://www.muslim.org/movement/albania_hist.pdf> (18.5.2013).

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Die Da'wa 181

der AAIIL Kontakte zur islamischen Gemeinschaft in Albanien auf. In den folgenden Jah-ren wurden zahlreiche Texte der Bewegung in die Landessprache übersetzt. Parallel dazuwurden albanische Muslime als Schüler nach Lahore (heute Pakistan) geschickt. Da Alba-nien ein Land mit muslimischer Mehrheit war, betrachteten die Lahori Ahmadis die islami-sche Gemeinde in Albanien nicht als vorrangiges Ziel missionarischer Bemühungen, siesahen in ihr vielmehr einen zukünftigen Zweig der missionarischen Bewegung auf demBalkan. Laut einer Studie Nathalie Clayers spielten die albanisch-indischen Kontakte beider Transformation des albanischen Islam in der Zwischenkriegszeit durchaus eine bedeu-tende Rolle.186

Nach dem Ende des Kommunismus gehörten die Ahmadis zu den ersten Vertretern mis-sionarischer Bewegungen, die nach Südosteuropa kamen.187 Über die Aktivitäten der Be-wegung in dieser Region ist jedoch wenig bekannt, so dass nur ein unvollständiger Über-blick der Ahmadiyya-Anhängerschaft gemacht werden kann. Ahmadiyya-Gemeinden gibt esvor allem in Albanien und im Kosovo. Ein Missionshaus (Darul Falah) wurde in derHauptstadt von Albanien, Tirana, errichtet.188 Auch eine der größten Moscheen in Tirana,Bait ul-Awwal, dient als Versammlungsort der Bewegung. Dort finden regelmäßig Treffender Ahmadiyya Anhänger statt, unter denen die Jahresversammlung (Jasa Salana) die be-deutendste ist. Diese Veranstaltung dient der Festigung des Glaubens und der Einheit derGemeinde. Anlässlich eines solchen Jasa Salana-Treffens gibt eine filmische Dokumenta-tion des International German Studios MTA einige der wenigen Einblicke in das Leben derlokalen Ahmadiyya-Gemeinde in Tirana.189 Aus der Dokumentation lässt sich entnehmen,dass ca. 160 Anhänger der Ahmadiyya-Bewegung aus Albanien und Kosovo zum jährlichenTreffen im Jahr 2011 gekommen waren. Über die Hälfte von ihnen waren aus dem Kosovoeingereist, wo sich das dortige Zentrum der Bewegung noch im Bau befand. Es wurdenSuren aus dem Koran und Hadithe rezitiert, über die Tätigkeit der Ahmadiyya berichtet,religiöse Vorträge gehalten sowie Literatur verteilt. Die Diskussionen fanden in albanischerund englischer Übersetzung statt. Zu den Ehrengästen gehörte unter anderem der Vorsit-zende der Ahmadiyya Jamaat in Deutschland. Die Atmosphäre wurde von den Teilnehmernals „besonders herzlich“ beschrieben. Der Bericht hebt schließlich hervor, dass dieAhmadiyya-Bewegung vorwiegend unter gebildeten Schichten Popularität genießt. WeitereRecherchen ließen erkennen, dass es eine Ahmadiyya-Gemeinde auch in Bosnien-Herzegowina gibt (Ahmadija muslimanski džemat u BiH), deren Anhänger sich in der Mo-schee Baitus Salam in Sarajevo treffen.190 Sowohl die Ahmadiyya-Anhänger in Albanien alsauch die in Bosnien verfügen über eigene Homepage in albanischer und bosnischer Spra-che.191

186 Clayer, The Lahore Ahmadiyya, 1.187 Eine Liste der Moscheen, Schulen und anderer Einrichtungen, welche weltweit der Ahmadiyya ange-

hören, befindet sich auf der Webseite uniwits.com, unter <http://x.uniwits.com/xwm-de/Benutzer:Incredibleahmadiyya/Liste_der_Geb%C3%A4ude_und_Bauten_der_Ahmadiyya_Muslim_Gemeinde> (19.04.2013).

188 Ahmadiyya Muslim Mosques around the World, in: <uniwits.com>, 169f.189 Albanien – Ahmadiyya Muslime beleben Islam in Albanien, MTA International German Studios

2011. Ersichtlich unter <http://www.youtube.com/watch?v=omAoNB7RL5M> (20.04.2013).190 Ahmadiyya Muslim Mosques, in: uniwits.com, 179, 180.191 Homepage der Ahmadija muslimanski džemat u BiH unter: <http://www.ahmadija.ba/> (22.04.2013).

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In Bulgarien traten die Anhänger der Bewegung bereits in den 1990er Jahren auf. Wieaus einer Broschüre des Muftiamts der bulgarischen Muslime zu entnehmen ist, handelte essich um Ahmadiyya-Prediger pakistanischer Herkunft, die aus England kamen und ins Bul-garisch übersetzte Literatur verteilten. 17 Broschüren und Bücher wurden nur in den erstenJahren nach der politischen Wende übersetzt.192 1991 haben die Ahmadis eine eigene Über-setzung des Korans in bulgarische Sprache herausgegeben.193 Die Ankunft der Ahmadis trafallerdings auf heftigen Widerstand seitens der Verwaltung der bulgarischen Muslime. Ineiner Broschüre, die unter dem Titel „Nein den Sekten. Die Gefahr Ahmadiyya“ weitflächigan bulgarischen Moscheen verteilt wurde, warnte das Muftiamt vor der „gefährlichen SekteAhmadiyya“, die nichts anderes als Täuschungen verbreite. Die Ahmadis hatten ihre Aktivi-täten vorwiegend auf den Bezirk Blagoevgrad, entlang des Struma Flusses und insbesonde-re im Dorf Osenovo (Gemeinde Simitli), gerichtet. Ihr Interesse konzentrierten sie auf Kin-der und Jugendliche. Darüber hinaus sollen sich einige der Mitglieder als Ärzte vorgestelltund Medikamente an die Bevölkerung verteilt haben. Am 8 Januar 2000 wurde eine Gruppevon sechs Ahmadiyya-Mitgliedern aus der Stadt Šumen ausgewiesen, da sie – so die Anga-ben der Polizei – ohne Genehmigung der Direktion für religiöse Angelegenheiten dort tätiggewesen waren.194 Diese Ausweisung dürfte zu den wenigen Aktionen der bulgarischenSicherheitsbehörden zählen, die auf Zustimmung seitens der Verwaltung der bulgarischenMuslime stieß.

In der darauf folgenden Zeit versuchten Vertreter der Ahmadiyya-Gemeinde immerwieder (in den Jahren 2004, 2005 und 2007) als selbständige Religionsgemeinschaft inBulgarien registriert zu werden.195 2004 wurde die Registrierung durch verschiedene In-stanzen der bulgarischen Gerichtsbarkeit abgelehnt. Trotz dieser Absage bewilligte dasAmtsgericht in Blagoevgrad am 12. Juni 2005 einen Verein unter dem Namen Ahmadiyyaals gemeinnützige Vereinigung (nach dem Gesetz der gemeinnützigen Vereine und nichtnach dem Religionsgesetz) einzutragen, so dass die Aktivitäten der Vereinigung für kurzeZeit legalisiert wurden. In der Verwaltung der Vereinigung gab es einige bulgarischenRoma und zwei Pakistaner mit britischen Pässen, die ihren Status als Flüchtlinge in Bulga-rien zu legalisieren suchten. Ein Jahr später (2006) löste die Staatsanwaltschaft inBlagoevgrad die Vereinigung Ahmadiyya jedoch auf. Einen weiteren Versuch der Ahmadis,ihre Zulassung als religiöse Gemeinschaft beim Gericht in Sofia zu erreichen, gab es imJahr 2007. Er blieb erfolglos. Wie Georgi Krastev, ein Mitglied der Direktion für religiöseAngelegenheiten beim Ministerrat erklärte, gibt es insgesamt nur wenige Anhänger derBewegung in Bulgarien. 2010 betrug ihre Anzahl 300 bis 400 Personen.196 Im Kern derbulgarischen Ahmadiyya-Gemeinde stehen einige Familien pakistanischer und von Roma-Herkunft. Obwohl die zuständigen Gerichte die Eintragung der Ahmadis als Religionsge-meinschaft verweigerten, ist es ihnen nicht verboten, sich privat zu versammeln und ihre

192 Ne na sektite. Opasnostta “Ahmadija“ [Nei der Sekten. Die Gefahr Ahmadiyya]. Glavo mjuftiistvo namjusjulmanite v Republika Bălgarija.

193 Sveštenijat koran: arabski tekst s bălgarski prevod, Islam International Publications, Tilford 1991.194 Die Menschenrechte in Bulgarien im Jahr 1999.195 Interview mit dem Vertreter der Direktion für religiöse Angelegenheiten beim Ministerrat Bulgariens,

Georgi Krastev am 15. Oktober 2010. Siehe noch Isljamska sekta nabira členove u nas, in: 24 časavom 23. August 2012.

196 Interview mit Georgi Krastev, Oktober 2010.

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Religion auszuüben. Nach den Bestimmungen des Religionsgesetztes können sie sich inPrivatwohnungen treffen und Fragen im Zusammenhang mit dem Glauben diskutieren. Esist ihnen jedoch nicht gestattet, öffentlich zu predigen, zu beten, religiöse Literatur zu ver-teilen oder Religionsunterricht durchzuführen sowie um neue Mitglieder zu werben. DieJamaat Ahmadiyya in Bulgarien verfügt über eine eigene Homepage.197 Neben der Veröf-fentlichung von Freitagsgebeten in bulgarischer Sprache werden hier verschiedene Informa-tionen zur Ahmadiyya-Bewegung zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus wurden einigeBücher der Bewegung sowie die Zeitschrift, Svetrlina (Licht), in bulgarischer Spracheherausgegeben.198

Eine weitere missionarische Organisation, die aus Südasien stammt, und deren Spuren inSüdosteuropa zu finden sind, ist die Tablighi Jama’at (TJ). Diese Laienbewegung wurde1926 in Indien gegründet.199 Heute gilt sie als die größte transnationale neuzeitliche Missi-onsbewegung des Islam. Sie ist, wie der aus dem Urdu abgeleitete Name zeigt, eine Gruppe(Jama‘at) zur Propagierung (Tabligh) des Glaubens. Die Mission der Tablighis richtet sichzwar an Muslime, womit sie vorwiegend eine Bewegung der inneren Mission darstellt.Dennoch wird die Bekehrung von Nicht-Muslimen nicht ausgeschlossen. Sie beschränkensie darauf, jenen Nichtmuslimen, die Interesse an der TJ zeigen, ihr Anliegen zu erklärenund sie zur Teilnehme einzuladen.200 Die Mitglieder dieser Bewegung lehnen Gewaltan-wendung grundsätzlich ab, distanzieren sich von der Politik und vertreten eher „puristisch-reformistisches Gedankengut“.201 Großen Wert legen sie auf die Ausübung islamischerVorschriften. Deren straffe netzwerkartige Organisationsstruktur und ihr missionarischesAnliegen, Muslime zu einer ursprünglichen Frömmigkeit zurückzuführen, übt auf neo-fundamentalistische Gruppierungen Attraktivität aus.202 Über ihre missionarische Aktivitätin Südosteuropa gibt es ebenfalls kaum Untersuchungen, die mehr über diese Bewegungverraten könnten. Laut einer Studie von Christopher Deliso, gewinnt die sunnitisch-orthodoxe Tablighi Jama‘at unter Teilen der makedonisch sprechenden Muslimen (Torbe-schen) der Region an Einfluss.203 Hinweise auf die mögliche Anhängerschaft der Bewegungin einem albanischen Dorf in Westmakedonien finden sich ferner bei dem AnthropologenRobert Pichler.204 In Bulgarien konnte die Autorin die Adresse eines da'wa -Zentrums inPlovdiv (Südbulgarien) ausfindig machen, das von der Tablighi Jama‘at gegründet wurde.Die Information stammt von der Webseite www.islamicfinder.org und geht auf das Jahr2004 zurück.205 Als Leiter des Zentrums wird der Bulgare Basri Osman erwähnt. Im

197 Siehe dazu <http://www.ahmediyya.org/index.html> (26.04.2013).198 Ebda.199 Mehr zu Tablighi Jama’at siehe Dietrich Reetz, Frömmigkeit in der Moderne: die Laienprediger der

Tablighi Jama’at, in: Ders. (Hg.), Islam in Europa, Münster: Waxmann, 2010, 19-53.200 Reetz, Frömmigkeit in der Moderne, 35.201 Reetz, Islam in Europa, 13.202 Steinberg, Islamistische Gruppen.203 Christopher Deliso, The Coming Balkan Caliphate. The Threat of Radical Islam to Europe and the

West. Westport, Connecticut/London: Praeger Security International, 2007, 73-91.204 Robert Pichler, Makedonische Albaner im Spannungsfeld von Nationsbildung und islamischer

Erneuerung. Alltagsperspektiven aus einem transstaatlichen sozialen Milieu, in: Voß/ Telbizova-Sack, Islam in (Südost)Europa, 173-195, hier 214.

205 Vgl. <http://www.islamicfinder.org/cityPrayerNew.php?country=Bulgaria> (12.04.2013).

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Internetraum wenden sich die Mitglieder der Bewegung an die bulgarischen Muslime undfordern sie zur Mitwirkung mit den folgenden Worten auf: „Dies ist das wichtigste da'wa -Zentrum in Bulgarien, organisiert vom Tablighi Jama‘at. Alle Muslime, Zuschauer undLeser sind herzlich eingeladen, sich der da'wa -Arbeit anzuschließen“.206

Da'wa -Bestrebungen auf staatlicher EbeneNeben eigenständigen Organisationen oder Bewegungen können da'wa-Bestrebungen auchauf staatlicher Ebene institutionalisiert werden. In diesem Fall dient da'wa der Ausbreitungdes eigenen Islamverständnisses, um einerseits die Unterstützung breiter Kreise der einhei-mischen muslimischen Bevölkerung zu sichern, andererseits die bevorzugte islamischeStaatsdoktrin international zu verbreiten. In einigen muslimischen Ländern wurden zu die-sem Zweck staatlich finanzierte da'wa-Institutionen und Universitäten gegründet, die in derRegel direkt den jeweiligen Ministerien des Landes unterstehen.207 Als Beispiel für staatlichinstitutionalisierte da'wa kann Saudi-Arabien dienen, dessen Regierung – durch den Bauvon Schulen, Moscheen und kulturellen Einrichtungen in verschiedenen Ländern – um dieVerbreitung der konservativen islamischen wahhabitischen Doktrin bemüht ist. ÄhnlicheZiele verfolgt die Islamic Call Society, die 1972 in Tripolis (Libyen) gegründet wurde.208

Dem Beispiel Saudi-Arabiens wurde von weiteren islamischen Staaten wie dem Iran, denVereinigten Arabischen Emiraten und Pakistan gefolgt, die ebenfalls ihre eigenen Missi-onsprogramme entwickelten.209 Durch die Errichtung islamischer Universitäten in Ägypten,Saudi-Arabien oder Pakistan wird zugleich die Ausbildung junger Ulemas (Religionsge-lehrter) in der bevorzugten religiösen Doktrin angestrebt.

Internationale da'wa-OrganisationenDie dritte Organisationsform der da'wa-Aktivitäten besteht in internationalen Organisatio-nen wie der Islamischen Weltliga oder der Organisation für Islamische Zusammenarbeit(OIC).210 Bei der ersten handelt es sich um eine Organisation mit Sitz in Mekka, die durchunterschiedliche Aktivitäten versucht, für eine Vereinheitlichung islamischer Glaubensvor-stellungen innerhalb der Gemeinschaft der Muslime zu sorgen. Sie will auch Menschen mitdem Islam bekannt machen, die kaum Kenntnisse dieser Religion haben. Gegründet wurdedie Liga 1962. Sie wurde wesentlich durch Saudi-Arabien finanziert, gilt jedoch nicht alsstaatliche Organisation. Heute ist die Islamische Weltliga die bedeutendste muslimischeNichtregierungsorganisation. Sie hat einen Beobachterstatus bei den Vereinigten Nationen.Ein wichtiger Bereich ihrer Tätigkeit ist unter anderem die Unterstützung von muslimi-schen Minderheiten in den europäischen Ländern. Die Islamische Weltliga arbeitet mitverschiedenen Unterorganisationen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC)zusammen. Es handelt sich hierbei um einen Zusammenschluss von Staaten mit muslimi-

206 Ebda.207 Jamal Malik, The Da‘wah Phenomenon in International Comparison: Islamic Mission from 1920 to

the Present Day (unveröffentlichter Text).208 Wrogemann, Missionarischer Islam, 181.209 Malik, The Da‘wah Phenomenon.210 Siehe dazu Peter Heine, Der Islam, 20; Reinhard Schulze, Islamischer Internationalismus im 20.

Jahrhundert: Untersuchungen zur Geschichte der Islamischen Weltliga, Leiden [u.a.]: Brill, 1990.

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scher Bevölkerungsmehrheit,211 deren Vertreter sich bei regelmäßigen Konferenzen derAußenminister und der Staatspräsidenten treffen. Zu den Unterorganisationen der OICgehört unter anderem die Islamische Entwicklungsbank, die seit 1975 operiert.212 Sie unter-stützt einerseits Staaten durch die Vergabe von Krediten, andererseits finanziert sie Ent-wicklungsprojekte. Die Zuwendungen für solche Projekte sind von der Bekennung zu ei-nem im saudischen Sinn orthodoxen Islam abhängig. Die verschiedenen internationalenOrganisationen stellen Plattformen zu internationalen Koordination von da'wa-Anstrengungen dar, sei es im Blick auf den Austausch von Informationen oder die Erstel-lung und Verbreitung einigerer da'wa-Programme. Seit Anfang 2000 zeigt auch die Türkeieine deutliche Präsenz auf diesem Sektor. Mit der Unterstützung der Regierung in Ankaraformierten sich 2005 circa 200 NGOs, die meisten davon aus der Türkei, zur Union ofNGOs of the Islamic World (İSDB/ UNIW).213 In ihren zivilgesellschaftlichen Initiativensind die Projekte der UNIW in Richtung der islamischen Welt ausgerichtet. Neben humani-tärer Hilfe führen sie missionarische Aktivitäten durch.214

Da'wa – islamische MissionierungsstrategienNeben der Ebene der Institutionalisierung kann ferner auf verschiedene Modelle der da'wa-Aktivitäten aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung und Missionierungsstrategie hinge-wiesen werden. In ihrer traditionell-konservativen Form richtet sich die da'wa ursprünglichan Teile der islamischen Gesellschaften, die sich von der islamischen Orthodoxie abge-wandt haben oder durch Sonderformen des Islam wie Volksreligion und islamisch gepräg-ten Aberglauben beeinflusst waren.215 Ziel dieser traditionellen, nach „innen“ gerichtetenda'wa ist die Re-Islamisierung der Gesellschaft oder einer bestimmten muslimischen Ge-meinschaft sowie die Beseitigung aller theologischen „Verunreinigungen“ (bidʿa). Im Mit-telpunk dieser Bemühungen steht die Einführung oder Wiederherstellung islamischer Praxisim Sinne einer konsequenten Orthopraxie. Die Missachtung dieser Normen kann zur Ex-kommunikation (takfir) von Einzelpersonen oder ganzer Gruppen führen. Der Kampf gegendie theologische Innovation (bidʿa) stellt einen wesentlichen Bestandteil verschiedenerRevitalisierungsbewegungen dar, deren Vorbild der Salafismus, einer Richtung des Refor-mislam, welche sich um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert in vielen islamischen Län-dern herausgebildet hatte, war und ist.216

Neben diesem traditionell-konservativen Model kann da'wa aber auch die Form einesradikalen Dschihads217 annehmen, der vor Gewalt nicht zurückschreckt.218 Diese Interpreta-

211 Zu den Mitgliedstaaten der OIC in Europa gehören Albanien und die Türkei. Über einen Beobachter-status verfügt Bosnien-Herzegowina.

212 Heine, Der Islam, 20; Schulze, Islamischer Internationalismus.213 Seifert, 16; Zeynep Atalay, Civil society as soft power. Islamic NGOs and Turkish foreign policy, in:

Kastoryano (Hg.), Turkey between Nationalism and Globalization, New York: Routledge, 2013.214 Atalay, Civil society, 169.215 Heine, Der Islam, 21; Malik, The Da‘wah Phenomenon.216 Mehr zum Salafismus siehe die Einleitung.217 Siehe zu “Dschihad”: The Encyclopaedia of Islam. New Edition, Bd. 2, Leiden [u.a.]: Brill, 538;

Reuven Firestone, Jihād, in: Andrew Rippin (Hg.), The Blackwell Companion to the Qur'an, Oxford:Wiley-Blackwell, 2006, 308-320; Rudolph Peters, Jihad in Classical and Modern Islam, UnitedStates: Markus Wiener Publishing Inc 2005; Rüdiger Lohlker/ Tamara Abu-Hamdeh (Hg.), Jihadithought and ideology, Berlin: Logos-Verlag, 2013.

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tion der da'wa wurde seit den 1970er Jahren parallel zum Erstarken des islamischen Radi-kalismus entwickelt. In diesem Fall wird der Ruf zum Islam von einer dschihadisch ver-packten Gewalt gegen Menschen jeder Couleur begleitet und er führt zu einer Verschärfungder Gegensätze zwischen muslimischen oder nichtmuslimischen Gesellschaften. Die Etab-lierung einer politisch-gesellschaftlichen islamischen Ordnung wurde zum Ziel. Bei vielenTerroranschlägen der jüngsten Vergangenheit rechtfertigten die Attentäter ihr Handeln mitdem Verweis auf dieses Dschihadkonzept.219 Mit den Gewaltakten in Madrid (April 2004),Amsterdam (November 2004) und London (Juli 2005) sind die Ausläufer dieser Welle vonGewalt auch in Europa angekommen.

Nicht zuletzt kann die da'wa aber auch eine liberal-emanzipatorische Ausprägung an-nehmen, die religiöse Erneuerung und soziale Reformen entlang den Linien der europäi-schen Moderne anstrebt.220 Solche Interpretationen gehen bereits auf den ägyptischen Re-former Muhammad Abduh (1849-1905) zurück, der in seinem auf religiöse Erneuerungausgerichteten Denken sozialpolitische Reformen unter dem Einfluss der europäischenModerne propagierte.221 Gegenwärtig wird dieser Ansatz von Intellektuellen wie demSchweizer Islamwissenschaftler und Publizisten ägyptischer Herkunft, Tariq Ramadan,vertreten, der von der Vorstellung der Entwicklung einer Fusion des islamischen ethischenAnsatzes und europäischer Lebensweise geleitet wird.222 Von einigen Beobachtern als Ver-treter eines liberalen Islam bezeichnet, von anderen als salafistischer Reformer kritisiert,223

prägte er unter anderem den Begriff des „Euro-Islam“. Er solle nicht mehr ein Immigran-ten-Islam sein, sondern auf die Herausforderungen der Zeit neue Antworten finden.224 Die-se Entwicklungen, die von einigen Autoren als „europäische da'wa“ interpretiert werden,225

führten nicht zuletzt dazu, dass Europa eine zunehmend wichtige Rolle in den modernenda'wa Phänomenen annimmt. Dabei wird die Errichtung eines islamischen Staates nicht alsdas primäre Ziel angesehen, eher geht es um die Entwicklung einer nach den Prinzipien desIslam gestalteten Gesellschaft“. 226 Sie kann zu einer Kooperation mit Menschen führen, dieanderen Religionen angehören, sie kann aber auch dazu führen, dass Menschen im Islamdie eine Religion entdecken und sie annehmen.227

218 Sami Zubaida, Islam, the People and the State: Political Ideas and Movements in the Middle East,London: IB Tauris, 1993; Wrogemann, Missionarischer Islam.

219 Olivier Roy, Globalized Islam: the search for a new ummah, New York: Columbia University Press,2004.

220 Barbara Metcalf, Islamic Revival in British India: Deoband, 1860-1900, Princeton: Princeton UP,1982; Malik, The Da‘wah Phenomenon; Nina Wiedl, Da'wa – Der Ruf zum Islam in Europa, Berlin:Schiler 2010.

221 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, London [u.a.]: Tauris, New ed. 2005; Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, 119-123.

222 Tariq Ramadan, Western Muslims and the Future of Islam, Oxford: Oxford University Press, 2004;Malik, The Da‘wah Phenomenon; Wiedl, Daʾwa, 173-206.

223 Wiedl, Daʾwa, 173-206; Ralph Ghadban, Tariq Ramadan und die Islamisierung Europas, Berlin:Schiler 2006.

224 Udo Steinbach, Euro-Islam? Ein Wort, zwei Konzepte, viele Probleme, in: Neue Zürcher Zeitung, 25.April 2005, 17.

225 Wiedl, Daʾwa.226 Wrogemann, Missionarischer Islam, 366.227 Ebda., 367.

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Von einer einheitlichen da'wa kann also keineswegs gesprochen werden.228 Vielmehrlassen sich verschiedene Interpretationen, Arten der Institutionalisierung, Kontexte wieauch Motivationen der da'wa-Aktivitäten voneinander unterscheiden. Häufig handelt essich bei dem da'wa-Diskurs um eine Sprache der Macht. Während auf institutioneller Ebe-ne alle organisatorischen Formen der da'wa in den muslimisch besiedelten Gebieten Süd-osteuropas feststellbar sind, gibt es keine empirischen Erkenntnisse, dass islamistisch-dschihadistische Netzwerke in dieser Region eine systematische Verbreitung finden konn-ten. Zwar sind in den 1990er Jahren Verbindungen zur dschihadistischen Szene entstandenund auch einige freiwillige Glaubenskämpfer sind während der Kriegshandlungen (1992-1995) nach Bosnien eingereist. Die französische Historikerin Nathalie Clayer, weist jedochdarauf hin, dass der Balkanraum „eher ein Gebiet der humanitären Aktion, der Bekeh-rungsversuche und der Zuflucht, als ein Aktionsfeld islamistischer Politik“ zu seinscheint.229 Missionarische Organisationen sind dennoch häufig von ambivalenten sozialenStrukturen beeinflusst.230 Auf der einen Seite gewähren sie durch ihre Wohltätigkeit insbe-sondere in Zeiten des Wandels Stabilität und Unterstützung für die betroffenen gesellschaft-lichen Gruppen. Auf der anderen Seite üben sie durch die normative Strenge, die sie vertre-ten, sozialen Druck aus und sie tragen zu einer Konfessionalisierung der Zivilgesellschaftbei. Die verschiedenen da'wa-Organisationen und Akteure haben schließlich keine Berüh-rungsängste in der Handhabung von modernen Technologien, die sie nutzen, um ihre Vor-stellungen zu verbreiten. Vor allem das Internet ist das aktuelle Medium, in dem zahlreicheislamische Organisationen präsent sind. Sie bieten die unterschiedlichsten Produkte vonBüchern religiösen Inhalts bis hin zu „islamischer Kleidung“. Sie bieten auch ein Forum, indem Muslime und Nicht-Muslime sich über den Islam betreffende Fragen austauschenkönnen. Es gibt Dutzende derartiger Webseiten, auf denen Anfragen gestellt werden undInformationen heruntergeladen werden können.

Hinsichtlich der Balkan-Muslime ist es ferner wichtig, die interne Vielfalt des Islam aufdem Balkan sowie die Entstehung neuer Generationen in Betracht zu ziehen. Vor diesemHintergrund ist die da'wa nicht nur eine Methode zur Verbreitung islamischer Konzepte;sie kann auch als Erneuerungsbestrebung unter den lokalen Eliten und frommen muslimi-schen Jugendlichen verstanden werden, deren Ziel islamische Reform und Belebung desIslam in den überlieferten lokalen Traditionen ist. Da‘wa stellt in diesem Fall eine Aufgabedes Erhaltens der eigenen Identität und der Ausbreitung eigener Werte, Normen und Institu-tionen dar, die emanzipatorische Züge annimmt.

228 In diesem Zusammenhang kann die von Kristen Ghodsee (2010) angebotene Interpretation einersalafistisch geprägten da‘wa, die durch islamische NGOs und Hilfsorganisationen im bulgarischenKontext verbreitet wird und zu einer „Arabisierung“ des bulgarischen Islam führt, nur als an der Rea-lität vorbeigehend bezeichnet werden. Eine fatwa, die von einem bulgarischen Mufti, der Pluralitätbejaht, sich jedoch gegen bestimmte religiöse Praktiken wendet, kann genauso als eine nach innen ge-richtete da'wa bezeichnet werden wie auch die durch die Gülen-Anhänger errichteten Schulen.

229 Clayer, Politischer Islam, 24. Die Situation änderte sich mit dem Beginn des Aufstands in Syrien2011 und der Entstehung des sog. Islamischen Staates (29. Juni 2014). Dschihadistische Propagandarichtet sich gezielt auch auf den Balkan. Eine kleinere Zahl von Glaubenskämpfern vom Balkan ist indie Kriegsgebiete eingereist. Mehr dazu: Rüdiger Lohlker, Dschihadistische Propaganda und derBalkan, Vortrag zur Hochschulwoche der Südosteuropa Gesellschaft im September 2016 in Tutzing(Veröffentlichung in Vorbereitung).

230 Malik, The Da‘wah Phenomenon.

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Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen188

Die Rolle der Da`wa-Organisationen im Prozess der Re-Islamisierung muslimischerBevölkerungsgruppen in Südosteuropa kann kaum objektiv beurteilt werden. Es bestehtkein Zweifel, dass sie den Anschluss der Balkan-Muslime an die internationale islamischeSzene gewährleisteten. Dies geschah neben der direkten finanziellen Förderung von da'wa-Projekten – insbesondere durch Saudi-Arabien, aber auch andere mehrheitlich islamischeStaaten – durch die internationale Vergabe von Stipendien, die Kontakte neu schafften oderintensivierten. Das Beispiel der Balkan-Muslime zeigt aber auch, dass die Ankunft vonislamischen humanitären und missionarisch orientierten Organisationen nicht automatischmit einem Transfer der da'wa-Konzepte gleichzusetzen ist, sondern auch zu einem weitverbreiteten Unverständnis unter der Bevölkerung sowie Konflikten zwischen den lokalenEliten und ausländischen Akteuren führen kann.

7. Zwischen Da'wa und islamischer Emanzipation

Es kann festgehalten werden, dass im Verlauf der politischen und gesellschaftlichen Verän-derungen der 1990er Jahre die Kontakte der Balkan-Muslime zu islamischen Mehrheitsre-gionen deutlich intensiviert wurden und sich ein breites Spektrum von ausländischen religi-ösen Akteuren in den einzelnen Balkanländern niedergelassen hatte. Die Hilfe, die aus derislamischen Welt kam, darf jedoch nicht überbewertet werden. Auf politischer Ebene kün-digte sich bereits mit dem Ende des Krieges in Bosnien-Herzegowina, im Dezember 1995,eine langsame Abnahme des Interesses der islamischen Welt an den Ereignissen auf demBalkan an.231 Infolge des Friedensabkommens von Dayton (November 1995) verpflichtetesich Alija Izetbegović, die freiwilligen islamischen Einheiten aufzulösen und ausländischeMitstreiter des Landes zu verweisen.232 Der Kriegsbeginn im Kosovo (1999) brachte dannkeine nennenswerte neue Solidarität mit sich. Auch wenn es nicht an finanzieller wie auchhumanitärer Unterstützung in den Flüchtlingslagern in Makedonien und im Kosovo fehlte,blieben die meisten muslimischen Länder gegenüber albanischen Unabhängigkeitsbestre-bungen eher distanziert.233 Aber auch seitens lokalen albanischen Akteuren ließ sich keinspezielles Interesse an einer engeren Kooperation mit dem islamischen Ausland erkennen.Die UÇK-Mitglieder wollten nicht als eine „muslimische Armee“ betrachtet werden. Indiesem Zusammenhang erklärte der Vertreter der UÇK in der Schweiz, Jashar Salihu, 1998:„Für uns bedeutet die Religion nichts. Wir sind Europäer und haben nichts Gemeinsamesmit den Mudschahedin wie auch mit anderen Extremisten. Wir haben uns entschieden, biszum Ende allein zu kämpfen“.234 Der Kampf der Kosovo-Albaner um Unabhängigkeit warund blieb eine nationale und politische Agenda. Die Religion spielte dabei keine Rolle.235

Das Attentat gegen das World Trade Center von 11. September 2001 verstärkte diesen

231 Bougarel, Islam in the post-communist Balkans, 49.232 Esad Hečimović, Zwischen Fundamentalismus und Säkularismus, in Ost-West-Gegeninformationen,

Jg. 14, 2 (2002), 14 Jg., 14-19, 17.233 Bougarel, Islam in the post-communist Balkans, 49.234 Jonathan Landay, Inside a rebellion: banking on war, in: Christian Science Monitor, Nr. 15, April

1998.235 Robert Elsie, Der Islam und die Derwisch-Sekten Albaniens, in: Albanisches Institut, Schweiz, 1.

Januar 2012, 11.

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Zwischen Da'wa und islamischer Emanzipation 189

Trend weiter und ließ panislamische Tendenzen unter den islamischen Glaubensgemein-schaften im Balkan-Raum in den Hintergrund treten.236 In der neu entstandenen Situationsahen sich die politischen und religiösen Führer in den Balkanländern zugleich gezwungen,eine deutliche Stellung zu den westlichen Partnern einzunehmen.

Die Kontakte, die zu den islamischen Mehrheitsregionen aufgenommen wurden, warennicht nur kontextabhängig, sie waren auch zeitlich begrenzt und von den Interessen derbeteiligten Akteure bestimmt. Es war die Regel, dass die finanziellen Zuwendungen, dieaus dem islamischen Ausland kamen, einmalig oder unregelmäßig waren. Ein bedeutenderAnteil der Mittel, die für den Aufbau der einheimischen Institutionen benötigt wurde, wur-de durch die örtliche Bevölkerung selbst gewährleistet.237 Als Beispiel dafür kann auf denBildungssektor in Bosnien verwiesen werden. Während zu Beginn der 1990er Jahre dieislamischen Schulen in Bosnien sehr schlecht ausgestattetet waren, gehören sie in der Ge-genwart zu den besten Bildungsstätten des Landes.238 Štĕpán Macháček zeigt in seinerStudie zur islamischen Bildung in den post-kommunistischen Balkanländern, dass es zweiQuellen für diese Entwicklung gab: die Hilfe aus dem Ausland sowie (und vor allem) dieSolidarität der lokalen muslimischen Gemeinden. Diese Solidarität der Bosniaken mit ihrenislamischen Bildungseinrichtungen hat beispielweise wesentlich dazu beigetragen, dass derBau der Dzemaluddin Causevic medrese, die im Jahr 2004 in Cazin eröffnet wurde, abge-schlossen werden konnte. Eine finanzielle Zuwendung gab es zunächst seitens der Islami-schen Entwicklungsbank. Als es zu einem akuten Mangel an Geldern für die Bauarbeitenkam, reagierten die bosnischen Muslime auf den Spendenaufruf und stellten innerhalb vonzwei Monaten mehr als 500.000 Euro zur Verfügung. Eine ähnliche Kampagne, die unterdem Namen 300 vakifs lief, wurde für den Bau einer Pension für die Visoko medrese orga-nisiert.239 Dank ähnlicher Investitionen war es schließlich möglich, dass bis in die Gegen-wart alle bosnischen Medresen ihre eigenen Internate erhalten konnten. Auch die Betriebs-kosten für die bosnischen Medresen werden gegenwärtig nicht durch ausländischeislamische Stiftungen getragen, wie dies in der Eröffnungsphase der Schulen teilweise derFall war.240 Es sind vor allem traditionelle Formen der Finanzierung, wie die sogenannte"kurban Kampagne" (Spenden-Kampagne, die jedes Jahr am kurban bajram stattfindet)oder die Einbringung eines Teils der Ernte, die den wesentlichen Anteil des Haushaltes derMedresen ausmachen.241

236 Zu pan-islamistischen Tendenzen unter den bosnischen Muslimen siehe Xavier Bougarel, From the‘Young Muslims’ to the Party of Democratic Action: The Emergence of a Pan-Islamist Trend inBosnia-Herzegovina, in: Islamic Studies, Vol.36, 2-3 (1997), 533-549.

237 Štĕpán Macháček, Islamic Education in the Post-Communist Balkans in the Period from 1990 to2005, in: Archiv orientálni, 74, 1/2006, 65-93; Ders, ’European Islam’ and Islamic Education inBosnia-Herzegovina, in: Balkan Muslims in Europa, Südosteuropa, 55 (2007), 395-428.

238 Bezüglich islamischer Bildung im post-kommunistischen Balkan siehe, Macháček, Islamic Educationin the Post-Communist Balkans. Hinsichtlich Bulgarien siehe „Islamische Bildung und Erziehung“(Kapitel III).

239 Macháček, ’European Islam’ and Islamic Education, 410.240 Zum Beispiel wurde die Medrese in Mostar im Schuljahr 1995/96 durch die Saudi High Commission

for Relief of Bosnia-Herzegovina finanziert. Vgl. Seifo Kajamović, Medresa Mehmed-bega Karađozau Mostaru, in: Glasnik, 58, July-August 1996, 465-469.

241 Macháček, ’European Islam’, 411; Traljic, Gazi Husrevbegova medresa, 81.

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Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen190

Da es keine weiteren detaillierten Untersuchungen zu dieser Problematik gibt, ist esschwierig einzuschätzen, wie weit diese Beobachtung auf weitere muslimische Gebiete desBalkans übertragen werden kann. Zumindest in Bezug auf die muslimischen GemeindenBulgariens und Makedoniens konnten ähnliche Tendenzen während der Feldforschungsauf-enthalte festgestellt werden.242 In den torbescheschen Dörfern Makedoniens wurden nichtnur viele Moscheen, sondern auch Brunnen und Straßen durch Spenden und ehrenamtlicheArbeit der lokalen Bevölkerung und als Erfüllung der Abgabe-Pflichten jeden Muslimserrichtet. In Bulgarien werden zwar die islamischen Mittelschulen sowie das Oberste isla-mische Institut in Sofia durch das türkische Diyanet finanziert, die Kosten für die Ko-rankurse sowie einen erheblichen Teil der Gehälter der Religionslehrer an den öffentlichenSchulen werden dennoch durch den Fond „islamische Bildung“, der aus Almosensteuernfinanziert wird, getragen.

Dies bedeutet nicht, dass der Austausch mit der islamischen Welt ohne Einfluss geblie-ben ist. Mit der Verbreitung transnationaler islamischer Netzwerke aber auch durch denBildungsaustausch, die Ausbreitung des Internets und die Produktion islamischer Literaturkonnten sich in den muslimischen Gebieten des Balkans neue, bislang in dieser Region nurselten vertretene Deutungen des Islam, verbreiten.243 So treten etwa schiitische Gruppen inMakedonien, in Bosnien und im Kosovo auf. Neu-bruderschaftliche türkische Netzwerkesind in die Balkan-Gebiete eingedrungen.244 Durch die Tätigkeit missionarisch ausgerichte-ter Hilfsorganisationen sowie die Aktivitäten junger Absolventen islamischer Universitätenkonnten sich salafistische und wahhabitische Ideen in Teilen der jungen Generation verbrei-ten.245 Gruppen von jüngeren „Fundamentalisten“ sind in der Gegenwart in allen Balkan-Staaten aktiv. Mit ihrer Kritik an den lokalen religiösen Autoritäten und an den traditionellüberlieferten Praktiken stellen vor allem salafistische Tendenzen in Teilen der muslimi-schen Jugendlichen eine Herausforderung für die islamischen Institutionen dar. Besonderserfolgreich waren ihre Anhänger in Bosnien-Herzegowina, wo die lokalen Salafisten imJahr 1996 die Aktive islamische Jugend (Aktivna islamska omladina, AIO) gründeten.246

Salafistische Gruppierungen in Bosnien haben sich ferner im Umfeld der König Fahd Zen-tren in Sarajevo und Mostar sowie um weitere saudische Kulturzentren in Bugojno undHadžići gebildet.247

Durch die Diversifizierung des religiösen Feldes sahen sich die offiziellen islamischenInstitutionen in den südosteuropäischen Ländern zugleich gezwungen, auf die Gefährdungihres doktrinären Monopols zu reagieren. Offizielle muslimische Organisationen, die je-

242 Die Feldforschungsaufenthalte in Makedonien fanden zwischen 2002 und 2005 statt.243 Über die interne Vielfalt des Islam auf dem Balkan, siehe u.a. Bougarel, Balkan Islam as ‚European

Islam‘; Armina Omerika, Aktuelle Diskussionen über den Islam und seine gesellschaftliche Rolle inBosnien-Herzegowina, in: Voß/ Telbizova-Sack, Islam in (Südost)Europa, 71-101; Christian Moe, ASultan in Brussels? European Hopes and Fears of Bosnian Muslims, in: Südosteuropa, Jg. 55, Nr. 4(2007), 374-395; Macháček, ‘European Islam’ and Islamic Education; Ahmed Alibašić, Traditionaland Reformist Islam in Bosnia and Herzegovina, Cambridge: Cambridge Programme for Security ininternational Society, C-SIS Working Paper Nr. 2 (2003). Zum albanischen Raum siehe u.a. Clayer,Der albanische Raum, 20-27.

244 Siehe mehr dazu „Türkische Präsenz auf dem Balkan“.245 Bougarel, Balkan Islam as ‚European Islam‘, 25f.246 Ebda.247 Omerika, Aktuelle Diskussionen, 85.

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Zwischen Da'wa und islamischer Emanzipation 191

weils in der Nähe von Zentren der politischen Macht in Sarajevo, Priština, Tirana, Skopjeoder Sofia angesiedelt waren, stilisierten sich als Bewahrer der jeweiligen islamischenTraditionen. In Bosnien-Herzegowina kritisierten zum Beispiel bosniakische Intellektuellewie Muhamed Filipovic, Džemaludin Latić oder Rešid Hafizović in öffentlichen Auftrittenden Salafismus und den Wahhabismus. Sie lehnten diese Doktrinen als mit dem bosnischenIslam nicht vereinbar ab.248 In seinem Artikel, der in der Wochenzeitung Ljiljan im Mai1995 erschien, wandte sich Džemaludin Latić gegen das vom ägyptischen Salafisten, ImadEl-Misri, veröffentliche Buch “Die Auffassung, die wir korrigieren müssen“ und bezeich-nete den Wahhabismus mit folgenden Worten:

„Ein solcher ‚Islam‘ ist so unattraktiv, dass er zu einem idealen Mittel für die Feindedes Islam wird, die uns beschuldigen, gleich rückständig und fanatisch wie im Mit-telalter zu sein. […] Der Kommunismus ist sympathischer als El-Misri.“249

Bei einer Versammlung der islamischen Glaubensgemeinschaft Bosniens im April 1995 inSarajevo sprach auch der damalige Präsident Alija Izetbegović über die Stellung des Islamin Bosnien und distanzierte sich von den neuen Deutungen des Islam:

„Ich habe von irgendwelchen neuen Rechtsschulen (mezheb) in Bosnien gehört. Wirbrauchen hier aber den Islam und den Glauben und nicht irgendwelche neuenRechtsschulen. Wie das gewöhnlich der Fall ist, finden sich immer Demagogen, dieden Glauben anders auslegen und ihm eine neue Dynamik oder Mechanik verpassenwollen, anstatt Moral oder die wahre Lehre zu predigen. Während ein Kampf umLeben und Tod geführt wird und über unser Sein oder Nichtsein entschieden wird,wollen sie mit uns über die Länge des Bartes verhandeln oder darüber, welche Posi-tion unsere Hände und Füße bei dem namaz [Gebet] einnehmen sollen. Hinzu kom-men Zwietracht und Spaltungen in den islamischen Gemeinden. Es gibt sogar physi-sche Auseinandersetzungen. […] Solche Dinge bringen die jungen Leute vomGlauben ab und richten einen unheimlichen Schaden an. Beschäftigt euch deshalbmit diesen Tatsachen und verhindert, dass sie sich in Bosnien und Herzegowina aus-breiten.“250

Damit offenbarte Izetbegović einerseits einen Konflikt in den Reihen der muslimischenGemeinde, andererseits nahm er eine deutliche Stellung gegen die für den bosnischen Islam„fremden“ Interpretationen des Islam ein. Diese Debatte führte dazu, dass bereits 1993durch den bosnischen Reis ul-ulema, Mustafa Cerić, eine fatwa (Rechtsgutachten) verhängtwurde, in der die islamischen Institutionen Bosniens zur Einhaltung der Regeln der hanafi-tischen Rechtsschule bei der Durchführung von religiösen Ritualen verpflichtet wurden.251

2006 folgte eine Resolution des Rijasets (des höchsten Verwaltungsorgans der bosnischenMuslime), die die Glaubensgemeinschaft dazu verpflichtete, die „Authentizität der jahrhun-

248 Der Professor an der philosophischen Fakultät in Sarajevo, Muhamed Filipovic, ist Historiker,Schriftsteller und ehemaliger Mitbegründer der SDA. Džemaludin Latić ist ein bosnischer Publizistund Theologe. Rešid Hafizović ist Professor an der Fakultät für Islamische Studien in Sarajevo.

249 Zitiert nach Hečimović, Zwischen Fundamentalismus, 15.250 Ebda.251 Omerika, Aktuelle Diskussionen, 86.

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dertealten Tradition“ zu schützen und von den Imamen forderte, „sich an die bosnischeTradition bei der Interpretation des Islam zu halten“.252 Im selben Jahr entwickelte FikretKarčić, der Dekan der islamwissenschaftlichen Fakultät in Sarajevo und ehemaliger bosni-scher Kultusminister, eine Reihe von Kriterien, mit deren Hilfe eine Definition des bosni-schen Islam herausgearbeitet werden sollte.253 Diese Kriterien verdienen Beachtung, da siesowohl die historisch gewachsene Vielfalt des bosnischen Islam als auch den eigenen Ent-wicklungspfad der Muslime im Sinne des Reformismus, der Institutionalisierung sowie derAkzeptanz eines säkularen Staats hervorheben. Die Auseinandersetzungen mit neo-salafistischen Gruppierungen in Bosnien hatten allerdings viele Facetten, wobei auch Kom-promisse und Verflechtungen von Interessen auf der Tagesordnung standen. So weist dieIslamwissenschaftlerin Armina Omerika darauf hin, dass sich der Reis ul-ulema, MustafaCerić, 2006, einigen gemäßigten salafistischen Ulemas an den islamischen pädagogischenFakultäten in Zenica und Bihać annäherte, um damit konkurrierenden Gruppierungen inBosnien entgegenzuwirken.254

In Bulgarien stellte die Pluralisierung des islamischen Feldes die Verwaltung der bulga-rischen Muslime ebenfalls vor neue Herausforderungen und zwang sie dazu, Maßnahmenzu ergreifen, um die eigene Position zu stärken.255 Salafistische Gruppierungen bildetensich auch in Albanien heraus, wo die Szene durch den Salafisten Nasir ad-Din al-Albani(1914–1999) – einen Albaner, der bis zum seinem Tod im Jahr 1999 in Jordanien, Syrienund Saudi-Arabien lebte – partiell mitgeprägt wurde.256 Eine weitere Gruppierung, die insneo-fundamentalistische Profil passt, ist die Liga der albanischen Imame, die 2010 gegrün-det wurde.257 Die Historikerin Nathalie Clayer – eine Kennerin des albanischen Raums –weist jedoch darauf hin, dass der Einfluss der wenigen islamistischen Gruppierungen oderIndividuen, die im albanischen Raum Fuß fassen konnten, begrenzt ist.258 Auch wenn derAustausch mit dem islamischen Ausland eine wichtige Rolle bei der Wiederherstellungislamischer Institutionen im albanischen Raum gespielt hat, hing die religiöse Szene inAlbanien, im Kosovo sowie in Teilen Makedoniens nicht von dieser Unterstützung ab.Darüber hinaus ist die Ausrichtung der albanischen Muslime zu Westeuropa stark ausge-

252 Omerika, Aktuelle Diskussionen, 87. Rezolucija o tumačenju islama, in: El-Kalem – Izdavački centarRijaseta islamske zajednice u Bosni i Hercegovini (Hg.), Rezolucija Islamske zajednice u BiH otumačenju islama i drugi tekstovi, Sarajevo 2006, 41-48.

253 Dazu gehören unter anderem 1) „die sunnitische Tradition, einschließlich der Rechtsschule derHanafiyya, 2) die Zugehörigkeit zur osmanisch-islamischen Einflusssphäre, 3) die Existenz vor-islamischer religiöser Praktiken, 4) die Tradition des islamischen Reformismus, 5) die Institutionali-sierung des Islams in Form der Islamischen Gemeinschaft sowie 6) die Praktizierung des Islams ineinem säkularen Staat.“ Zitiert nach Omerika, Aktuelle Diskussionen, 87. Siehe noch Fikret Karčić,„Šta je to ‛islamska tradicija Bošnjaka’?”, in: Islamske informativne novine – Preporod”, Nr. 23/841,01. Dezember 2006.

254 Omerika, Aktuelle Diskussionen, 85. Siehe auch Bougarel, Balkan Islam as ‘European Islam’, 26sowie Macháček, ‘European Islam’ and Islamic Education, 424.

255 Siehe dazu weiter oben „Islamische Vereine und Hilfsorganisationen“ sowie Kapitel III.256 Siehe dazu Nathalie Clayer, Adapting Islam to Europe: The Albanian Example, in: Voß/ Telbizova-

Sack (Hg.), Islam in (Südost)Europa, 53-71, 67.257 Siehe Krauthamer, In Albania, Madrasas sowie Mustafa Terniqi, Rëndësia e sunetit profetik në fenë

islame, in: Lindhija vom 03.08.2013, inter: <http://www.lidhjahoxhallareve.com/l/rendesia-e-sunetit-profetik-ne-fene-islame/> (November 2013).

258 Clayer, Politischer Islam, 20-26.

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prägt und dem Islam als identitätsstiftendes Merkmal kommt bei den Albanern in Albanienund im Kosovo weniger Bedeutung zu, als dies in Bosnien-Herzegowina der Fall ist.259

Nach wie vor spielt die organisierte Religion im öffentlichen Leben der Albaner eine be-scheidene und periphere Rolle. Trotz der neu gewonnenen Religionsfreiheit scheint es –wie Robert Elsie nicht ohne Ironie bemerkt – , dass das Interesse am Islam bei ausländi-schen Missionaren und Helfern weitaus größer ist als bei den Albanern selbst. 260

Obwohl die kriegerischen Konflikte in Bosnien (1992 -1995), im Kosovo (1999) und inWestmakedonien (2001) insgesamt ein günstiges Klima für die Verbreitung islamischer,auch missionarisch ausgerichteter Netzwerke, schafften, spricht vieles dafür, dass salafiti-sche und wahabitische Gruppierungen, soweit sie sich in dieser Region verbreiten konnten,eher als eine marginale Erscheinung zu betrachten sind. Schwierigkeiten machten den Ver-tretern der missionarisch orientierten Organisationen vor allem die verschiedenen volksreli-giösen Konzepte, die das tägliche Leben vieler Muslime bestimmen. Es war die Kritik anlokal überlieferten Traditionen sowie an interreligiösen Erfahrungen, die die Botschaftarabischer Missionare als arrogant und zu weit von den lokalen muslimischen Identitätenentfernt, erscheinen ließ.261 Die Muslime in Bosnien, dem Kosovo, Albanien, dem Sandžak,Bulgarien, Makedonien, Rumänien sowie Teilen von Griechenland blicken schließlich aufeine lange Geschichte zurück und sie brauchen – wie Isa Blumi hinsichtlich der Albanerbemerkt – „keine Fremden, die ihnen sagen, was der richtige Weg sei, um den Islam zupraktizieren“.262 Einheimische islamische Gelehrte, Theologen und Intellektuelle fühltensich ihrerseits in ihren Prestige- und Machtpositionen bedroht und lehnten mehrheitlich dieEinmischung von außen ab. Die finanzielle Unterstützung durch das Ausland wurde will-kommen geheißen, die Bevormundung des religiösen Lebens dagegen nicht.

Der Einfluss ausländischer Akteure auf Teile der Balkan-Muslime stieß zudem auf denWiderstand der herrschenden politischen Eliten, die den Austausch mit dem islamischenAusland zunehmend als ein Einfallstor für regionsfremde radikale Ausprägungen des Islamwahrnahmen. Mitte der 1990er Jahre begannen die Regierungen der südosteuropäischenLänder islamische Lehrer und Prediger aus Saudi-Arabien, Kuweit, Sudan und dem Iranauszuweisen.263 Unmittelbar nach dem Kriegsende in Bosnien-Herzegowina kam es indiesem Land zu zahlreichen Verhaftungen und Ausweisungen von islamischen freiwilligenGlaubenskämpfern und Missionaren.264 In Makedonien wurden 1995 mehrere NGOs – soauch das Büro der IIRO in Skopje – verboten, ihre Mitglieder wurden, unter dem Vorwurf

259 Siehe dazu Clayer, Politischer Islam, 24; Ders. Der Balkan, Europa und der Islam, in: Kaser/Gramshammer-Hohl/ Pichler, Europa und die Grenzen im Kopf, 303-327; Aydın Babuna, TheBosnian Muslims and Albanians: Islam and Nationalism, in: Nationalities Papers, Vol. XXXII, Nr. 2/Juni 2004, 287-32; Bogdan Szajkowski, Muslim People in Eastern Europe: Ethnicity and Religion,Journal of the Institute of Muslim Minority Affairs, Vol. IX, Nr. 1 (1988), 103-118.

260 Robert Elsie, Der Islam und die Derwisch-Sekten Albaniens, in: Albanisches Institut, Schweiz, 1,Januar 2012, 11, http://albanisches-institut.ch/?p=313.

261 Kerem Öktem, New Islamic actors after the Wahhabi intermezzo: Turkey’s return to the MuslimBalkans, Oxford 2010, 20, unter <http://www.balkanmuslims.com/pdf/Oktem-Balkan-Muslims.pdf>(14.09.2014).

262 Blumi, Political Islam among the Albanians.263 CIA Report on NGOs; Clayer, Politischer Islam, 24; Bellion-Jourdan, Les réseaux transnationaux

islamiques, 429-472; Hečimović, Zwischen Fundamentalismus, 17.264 Hečimović, Zwischen Fundamentalismus, 17.

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Kontakte zu islamischen Mehrheitsregionen194

sich an den kriegerischen Auseinandersetzungen in Bosnien beteiligt zu haben, ausgewie-sen.265 In Albanien wurden 1998 NGOs, dessen Mitglieder sich islamistischen ägyptischenNetzwerken angeschlossen hatten, mit Unterstützung des CIA verhaftet.266 1998 wurde derLeiter der Stiftung für Islamische Erneuerung in Albanien verhaftet und anschließend aus-gewiesen. Auch in Bulgarien fanden seit den 1990er Jahren mehrere Ausweisungswellenausländischer Lehrer und Mitglieder islamischer NGOs statt. Bereits 1994 wurde eine Rei-he von Hilfsorganisationen, unter denen sich Al Manar, Al-Waqf al-Islami, IIRO und dieTWRA befanden, aufgelöst.267

Nach dem 11. September 2001 wurde der durch die USA-Administration auf die loka-len Eliten ausgeübte Druck, sich von wahabitisch-salafistischen Organisationen zu distan-zieren, weiter verstärkt. Ende 2001 begann die bosnische Regierung mit amerikanischerUnterstützung Ermittlungen gegen mehrere wohltätige Organisationen, die im ehemaligenJugoslawien aktiv waren.268 Bis zum Jahr 2004 wurden zehn von den im oben zitiertenCIA-Report erwähnten islamischen Hilfsorganisationen verboten.269 Unter ihnen befandsich auch der wichtige Geldgeber High Saudi Commission for the Relief of Bosnian Mus-lims (HSC). Die vom HSC gebauten Moscheen wurden in die Obhut der Islamischen Glau-bensgemeinschaft Bosniens übergeben, während die König Fahd Zentren durch die saudi-arabische Botschaft der Verwaltung überlassen wurden.270 2004 hatte die bosnische Nieder-lassung der Taiba International Aid Association ihre Arbeit aufgrund eines Beschlusses desJustizministeriums der Föderation Bosnien und Herzegowina eingestellt.271 Im selben Jahrwurde der Taiba-Zweig auch in Albanien aufgelöst.272 Die Antiterror-Kampagne führteschließlich dazu, dass mehrere Beziehungen zwischen islamischen Gruppierungen in Bos-nien und ausländischen Netzwerken abgebrochen wurden. Zahlreiche Verletzungen derMenschenrechte im Laufe der Auslieferungen sorgten sogar für Proteste in der bosnischenÖffentlichkeit.273 Im Kosovo hatten amerikanische Truppen Ende 2001 die Büros der Glo-bal Relief Foundation und der Benevolence Intenational Foundation militärisch einge-schlossen.274 Auf amerikanischen Druck wurden zwischen 2002 und 2004 die Filialen derStiftung Al-Haramain-Stiftung in Albanien, Kroatien und dem Kosovo aufgelöst.275

265 CIA Report on NGOs.266 Clayer, Politischer Islam, 24; Andrew Higgins/ Christopher Cooper, CIA-backed team used brutal

means to break up terrorist cell in Albania, in: The Wall Street Journal, 20. November 2011.267 Siehe dazu Kapitel V sowie Menschenrechte in Bulgarien im Jahr 1999, Bulgarisches Helsinki-

Komitee, Sofia 2000.268 Emerson /Levin, Terrorism Financing, 16; Hečimović, Zwischen Fundamentalismus, 18.269 Glas-javnosti.co.yu, 08. Oktober 2004 Belgrad, unter <http://www.politik.de/forum/balkan/80032-

bosnien.html>.270 Antúnez, Wahhabism in Bosnia-Herzegovina; Omerika, Aktuelle Diskussionen, 85.271 Siehe dazu Verordnung Nr. 1102/2009 der EG-Kommission vom 16. November 2009, in: Amtsblatt

der Europäischen Union, 18. November 2009, 6, unter<http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads/Service/Finanzsanktionen/Amtsblatt_der_EU/2009_L303_39_amtsblatt_eu.pdf?__blob=publicationFile> (12.09.2013).

272 Ebda.273 Hečimović, Zwischen Fundamentalismus, 18.274 Clayer, Politischer Islam, 24275 Durchführungsverordnung (EU) Nr. 316/2012 der Kommission vom 12. April 2012, in: Amtsblatt der

Europäischen Union, 13. April 2012, 26; Becker, Die Mekka-Connection.

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Albanien, das beim Austausch von Informationen im Zusammenhang mit „terroristischenGruppen und Aktivitäten“ eng mit den Vereinigten Staaten kooperierte, hatte 2002 sogardie Bankkonten von Personen und Gruppen, die „unter Verdacht auf Verbindungen zuTerroristen standen“ gesperrt.276 Insgesamt ca. 90 Prozent der Mitglieder der in Albanienansässigen arabischen Stiftungen sollen „gebeten worden sein“, das Land zu verlassen.277

Heute sind die meisten islamischen NGOs und karitativen Hilfsorganisationen, die in den1990er Jahren nach Südosteuropa kamen, aufgelöst. Dieser nicht zuletzt durch den Druckamerikanischer Behörden erfolgte Rückzug begünstigte zugleich andere Akteure. So konntesich die Türkei – sowohl durch ihre offiziellen religiösen Institutionen als auch durch isla-mische Netzwerke – in allen südosteuropäischen Ländern, gut positionieren.

276 So wurden zum Beispiel die Konten von Jasin Kadi, eines saudischen Geschäftsmanns, der unterVerdacht stand, Verbindungen zu dem saudischen Terroristen Abdel Latifi zu haben, eingefroren.Albanian newspaper Shekulli, 22. Dezember, 2004.

277 Öktem, New Islamic actors, 21.

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VI Türkische Präsenz auf dem Balkan

1. Paradigmenwechsel in der türkischen Außenpolitik

Neben dem angesprochen breiten Spektrum von religiösen Akteuren aus islamischenMehrheitsregionen ist es vor allem die Türkei, die mit ihren offiziellen religiösen Institutio-nen sowie religiös begründeten Organisationen und islamischen Netzwerken eine wichtige– seit Anfang der 2000 auch dominierende – Stellung bei den Auslandkontakten muslimi-scher Bevölkerungsgruppen im Balkanraum übernimmt.1 Die spezifische Rolle, die dentürkischen politischen und religiösen Akteuren in dieser Region zukommt, kann ohne dieBerücksichtigung der Tatsache, dass die Türkei als Nachfolgerin des Osmanischen Reicheseine „zweite Heimat“ für viele Muslime auf dem Balkan präsentiert, nicht verstanden wer-den. Dies gilt vor allem für die türkischen Minderheiten, die institutionelle, kulturelle undpersönliche Beziehungen mit der türkischen Republik unterhielten. Aber keineswegs nurfür sie. So manifestierte sich das Engagement der Türkei für muslimische Bevölkerungs-gruppen auf dem Balkan, indem sie im Verlauf der Geschichte öffentlich Partei zu derenGunsten nahm, Ressourcen bereitstellte, bilaterale Staatsverträge abschloss sowie ein ei-genständiges Migrationsregime herausbildete.2 Das erste Abkommen über einen zwischen-staatlichen „Bevölkerungsaustausch“ war bereits im Friedensvertrag zwischen dem Osma-nischen Reich und Bulgarien vom 29. September 1913 zu finden. Auch wenn dasAbkommen formal auf freiwilliger Basis erfolgte und auf die Bewohner von Grenzgebietenbeschränkt wurde, stellte diese Vereinbarung den ersten zwischenstaatlichen Vertrag in dermodernen Geschichte Südosteuropas dar, der einen Bevölkerungstransfer zwischen zweiStaaten vorsah. Ihm folgte der Friedensvertrag von Lausanne (1923), dementsprechend ca.450.000 Türken aus Griechenland in die Türkei migrierten. Während der Zeit der kommu-nistischen Regierung in Bulgarien (1944-1989) verließen 1950/51 weitere 155.000 bulgari-sche Türken und Pomaken das Land. Eine bilaterale Vereinbarung von 1968 sah vor, dassmehr als 70.000 Personen aus Bulgarien in die Türkei auswandern. Auch aus Jugoslawienmigrierten nach 1945 hunderttausende von Muslimen verschiedenen ethno-linguistischenHintergrundes in die Türkei. So führte der Vertrag zur „freiwilligen“ Migration zwischen

1 Zum türkischen Faktor auf dem Balkan siehe u.a. Ann Ross Solberg, The Role of Turkish IslamicNetworks in the Western Balkans, in: Südosteuropa, 55, Nr. 4 (2007), 429-461; Öktem, New Islamicactors sowie Zeynep Atalay, Civil society as soft power. Islamic NGOs and Turkish foreign policy, in:Riva Kastoryano (Hg.), Turkey between Nationalism and Globalization, New York: Routledge, 2013.Zum Paradigmenwechsel der türkischen Außenpolitik und damit verbundenen innergesellschaftlichenProzessen vgl. noch Günter Seufert, Außenpolitik und Selbstverständnis. Die gesellschaftlicheFundierung von Strategiewechseln in der Türkei, SWP-Studien, Berlin 2012.

2 Siehe dazu Wolfgang Höpken, Flucht vor dem Kreuz? Muslimische Emigration aus Südosteuropa nachdem Ende der osmanischen Herrschaft (19./20. Jahrhundert), in: Comparativ 6/1 (1996), 1-24; HolmSundhaussen, Bevölkerungsverschiebungen in Südosteuropa seit der Nationalstaatswerdung (19./20.Jh.), in: Comparativ 6/1 (1996), 25-40; Wolfgang Höpken, Der Exodus: Muslimische Emigration ausBulgarien im 19. und 20. Jahrhundert, in: Reinhard Lauer, Hans Georg Majer (Hg.), Osmanen und Islamin Südosteuropa, Göttingen: De Gruyter, 2013, 303-432.

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Paradigmenwechsel in der türkischen Außenpolitik 197

Tito und der Türkei dazu, dass zwischen 1953 und 1960 ca. 300.000 muslimische Türken,Albaner, Slawen und Roma ihre Heimatorte für immer in Richtung Kleinasien verließen.3

Die letzte große Auswanderungswelle, die unmittelbar vor dem politischen Umbruch inSüdosteuropa stattfand, umfasste ca. 300.000 bulgarische Türken und Muslime, die auf derFlucht vor Namensänderungen und Assimilierungsdruck in weniger als sechs Monaten(Juni-November 1989) das Land in Richtung Türkei verließen.

Die politischen Veränderungen der beginnenden neunziger Jahre haben aber auch einenvöllig neuen Kontext in dieser Region geschaffen. In Folge des Kollapses der kommunisti-schen Regime, der Auflösung der Sowjetunion sowie der Entstehung neuer unabhängigerStaaten sah sich die Regierung in Ankara herausgefordert, ihre außen-, wirtschafts- undsicherheitspolitischen Belange und Interessen neu auszurichten sowie eine Umorientierungder türkischen Außenpolitik einzuleiten. Proaktives Engagement mit den Nachbarstaatensowie eine Vermittlerrolle im Nahen Osten, auf dem Balkan und im Kaukasus wurden zuneuen Leitlinien erhoben. Ähnlich wie im Kaukasus und in Zentralasien sind auf demBalkan nach Ende des kalten Krieges Nachbarregionen entstanden, mit denen sich vielfälti-ge politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen entwickelt haben. Die Öffnungdieser Regionen setzte in der Türkei von Anfang an weitreichende Planungen politischerund wirtschaftlicher Umgestaltung frei, in der sich das Land einen entscheidenden Stellen-wert beimaß.4

Bereits am Beginn der 1990er Jahre engagierte sich die Türkei für die bosnischen Mus-lime und trat während des Kriegs als deren Schutzmacht in Bosnien-Herzegowina (1992-1995) auf. Ankara beteiligte sich mit militärischen Mitteln unter der Regie der UNO sowieregionaler Organisationen wie der NATO oder der OSZE an den kriegerischen Aus-einandersetzungen und war darum bemüht, einer Ausweitung des Konflikts auf andereTeile des ehemaligen Jugoslawiens, wo türkische und muslimische Bevölkerungsteile leb-ten, entgegenzuwirken. In der Kosovo-Krise im Frühjahr 1999 kooperierte die Türkei eben-falls eng mit den Vereinten Nationen und der NATO. Sie stellte eigene Flugzeuge undLuftstützpunkte zur Verfügung. Viele Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten Ex-Jugoslawienskamen in die Türkei. Der Einsatz der Türkei auf dem Balkan wurde ferner durch ihre Bei-träge zur KFOR im Kosovo (1999) sowie zur EUFOR-ALTHEA in Bosnien-Herzegowina(2004) sichtbar.5 Auf politischer Ebene hat sich Ankara mit Erfolg für die Verbesserung derBeziehungen zwischen Sarajevo und Belgrad eingesetzt und war bemüht, zwischen denBosniaken und den Serben innerhalb Bosniens oder bei den innermuslimischen Macht-kämpfen im serbischen Sandžak zu vermitteln. Die Ratifizierung der „Deklaration für Frie-

3 Mehr dazu: Burcu Akan Ellis, Shadow Genealogies: Memory and Identity Among Urban Muslims inMacedonia, New York: Columbia University Press 2003.

4 Vgl. Udo Steinbach, Entwicklungslinien der Außenpolitik, in: Informationen zur politischen Bildung.Türkei, Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 277 (2002).

5 Die multinationale militärische Kosovo-Truppe (Kosovo Force, KFOR) wurde nach dem Ende desKosovokrieges 1999 unter der Leitung der NATO aufgestellt. Dessen Ziel war es, für ein sicheres Um-feld für die Rückkehr von Flüchtlingen zu sorgen. Ab Dezember 2004 übernahm die Europäische Unionvon der NATO die Aufgabe, die Umsetzung des Dayton-Abkommens in Bosnien und Herzegowina zuunterstützen. Die Mission erhielt den Namen EUFOR ALTHEA.

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Türkische Präsenz auf dem Balkan198

den und Stabilität auf dem Balkan“ vom 24. April 2010 durch Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kroatien in Istanbul gilt als ein Erfolg der türkischen Diplomatie.6

Auch die wirtschaftlichen Beziehungen zu den Balkanstaaten wurden in der letzten De-kade intensiviert: Türkische Firmen übernahmen die Rekonstruktion der beiden Flughäfenin Skopje und Ohrid, bauten neue Flughäfen in Priština und in Montenegro, investierten inSchnellstraßen im Sandžak und beteiligten sich an der Privatisierung des Stromnetzes imKosovo.7 Mit den meisten Westbalkanstaaten hat Ankara Freihandelsabkommen geschlos-sen.8 In Bulgarien konzentrieren türkische Unternehmen ihre Investitionen in die Verkehrs-und Energieinfrastruktur, in den Bau von Wohn-, und Bürogebäuden sowie in den Banken-sektor.9 Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen Bulgarien und der Türkei haben inden letzten Jahren einen Aufwärtstrend erfahren. Im Jahr 2009 nahm die Türkei die sechsteStelle beim Außenhandel mit Bulgarien (nach Deutschland, Russland, Italien, Griechenlandund Rumänien) ein.10 Die Türkei gehört ferner zu den Initiatoren des Kooperationsrats fürSüdosteuropa (SEECP) und sie stand an der Spitze bei der Gründung der Organisation derSchwarzmeerwirtschaftskooperation (BSEC). Diese Initiative, die 1992 gestartet wurde,wurde 1999 zu einer internationalen Organisation aus 12 Ländern der Schwarzmeer-Region.

Insbesondere mit der Machtübernahme der konservativ-islamischen Partei für Gerech-tigkeit und Entwicklung (AKP) unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan im Jahr2002 zog der Balkan weiterhin große Aufmerksamkeit auf sich.11 Als Vordenker der neuentürkischen Außenpolitik galt der damalige Außenminister Ahmet Davutoğlu. Entlang seinerStrategie der „strategischen Tiefe“ in einer sich verändernden Region engagierte sich dieTürkei auf verschiedenen Arenen der internationalen Politik und vermittelte in Konflikten

6 Siehe dazu den Bericht auf der Web-Seite der South East European Cooperation Process,<http://www.seecp-turkey.org/icerik.php?no=60> (20.11.2013).

7 Ankündigung weiterer türkischer Investitionen in Mazedonien, in: TZ Dnevnik, Skopje, 27. Juni 2010;Nahide Deniz, Turcija nastăpva na Balkanite, in: BТА, 18. März 2011, unter <http://e-vestnik.bg/11308/turtsiya-nastapva-na-balkanite/>; Privatisierung des Stromnetzes abgeschlossen, in:ECIKS Kosovo, 14. Oktober 2012; Dušan Reljić, Die Türkei weckt alte Lieben und Feindschaften imWestbalkan, SWP-Aktuell, 2010.

8 Dass die Türkei zu einem wichtigen wirtschaftlichen Handelspartner der Länder des Westbalkans ge-worden ist, kann jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass 80% der Wirtschaftshilfen und Investitio-nen von der EU kommen. Siehe dazu: Europas Schlusslicht oder Eurasische Führungsmacht?, in:Eurasisches Magazin, 03. April 2011.

9 Der am 6. Mai 1992 unterzeichnete Vertrag über Freundschaft, Nachbarschaft, Sicherheit und Zusam-menarbeit stellt die wichtigste Rechtsgrundlage für die aktuellen bilateralen Beziehungen zwischenBulgarien und der Türkei dar.

10 Vgl. Osnovni ikonomičeski pokazateli za Turcija i dvustranni targovski vrazki s Bălgarija, in:Nacionalen eksporten portal. Bălgarija, unter <http://export.government.bg/ianmsp/chujdi-pazari-spisak/turcia> (02.07.2010). Diese Politik wurde nicht überall und nicht von allen gesellschaftlichenKreisen in den Balkan-Ländern begrüßt. Siehe dazu: Deniz, Turcija nastăpva. Auch in Bulgarien schü-ren einige Kreise, wie die nationalistische Ataka, Hass gegen die Türkei und die Türken.

11 Ihre Wurzeln liegen in der antikemalistischen, sunnitischorientierten und osmanisch-nostalgischen MilliGörüş-Bewegung; politische Ziele und ihre praktische Politik haben seither einen profunden Wandelerfahren. Mehr dazu: Raoul Motika, Religion und Staat in der Türkei vor dem Hintergrund des EU-Beitrittsprozesses, in: Voß/ Telbizova-Sack (Hg.), Islam in (Südost)Europa, 136-137.

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Paradigmenwechsel in der türkischen Außenpolitik 199

auf dem Balkan, im Nahen Osten oder im Kaukasus.12 Der neue Regierungskurs der Türkei,erschöpfte sich nicht nur in einer gewandelten Außenwirtschaftsstrategie. Wie Seufert inseiner Studie zeigt, ist sie die Folge eines unumkehrbaren Prozesses, in dessen Verlauf eineneue ökonomische, politische und akademische Elite die alte kemalistische ersetzte, wobeisich auch die „Selbstwahrnehmung von Staat und Gesellschaft grundlegend wandelte“.13

Die gesellschaftlichen Veränderungen, die nach 1990 aufgetreten sind, haben nicht nur eineneue Art der Wahrnehmung der Türkei in der Welt gefördert, es veränderte sich auch dieMachtbalance zwischen dem säkularen Zentrum und der islamischen Peripherie in dertürkischen Gesellschaft selbst. Nach fast sechzig Jahren Spannungen zwischen dem türki-schen Staat und dem Islam in der kemalistischen Türkei, begann sich eine pro-islamischeZivilgesellschaft zu entwickeln und es fand eine Neubewertung der osmanischen Geschich-te statt. Während lange Zeit komplexbehaftet auf die osmanische Vergangenheit zurückge-schaut wurde, fand ein Umdenken statt, das sich in einer Rückbesinnung auf osmanischesErbe und eine religiös-kulturelle, muslimische Identität ausdrückt.

Ahmet Davutoğlu galt somit nicht nur als einer der führenden Staatsmänner in der türki-schen Regierung. Er galt auch als Vertreter einer Denkschule, die als „Neo-Osmanismus“bezeichnet wird.14 Den Kern des neo-osmanischen Projektes bildete die Idee, dass dieTürkei als Nachfolger des Osmanischen Reiches eine besondere Verantwortung für dieehemaligen osmanischen Gebiete hat. Aus dieser Sicht sollte die Türkei angesichts ihreskulturellen und politischen Profils sowie des Endes des Ost-West-Konfliktes sich als einenzugleich demokratischen und modern-islamischen Staat positionieren,15 wobei den Bezie-hungen zu den Nachbarn der Türkei im Gebiet des untergegangenen osmanischen Reicheseine wichtige Stellung zukommt:

12 Das Hauptmerkmal der Doktrin der strategischen Tiefe ist die Verwendung von „soft power“, die sichauf „politischen, wirtschaftlichen, diplomatischen und kulturellen Einfluss in ehemals osmanischen Ge-bieten sowie anderen Regionen, in denen die Türkei strategische und nationale Interessen hat“ bezieht.Vgl. Ömer Taspinar, Turkey’s Middle East policies: between Kemalism and neo-Ottomanism, in:Carnegie Middle East Center Paper, Nr.10, Carnegie Endowment for International Peace: Beirut:Carnegie Endowment for International Peace, September 2008, 15.

13 Seufert, Außenpolitik und Selbstverständnis, 6.14 Der Neo-Osmanismus wurde erstmals während der Regierungszeit Turgut Özals der frühen 1990er

Jahre als eine Lösung für die schweren ethnischen Konflikte zwischen den kurdischen Separatisten unddem türkischen Staat entwickelt. Unter Hinweis auf die kulturelle Pluralität des Osmanischen Reichesbezeichnete Özal den Neo-Osmanismus als eine multikulturelle Zusammensetzung, die multiple Identi-täten, einschließlich der kurdischen Identität, zulässt. Siehe dazu Alexander Murinson, The strategicdepth doctrine of Turkish foreign policy, in: Middle Eastern Studies, 42(6), 2006, 945-964; Atalay,Civil society as soft power, 2013.

15 Diese Politik wurde jedoch in jüngster Zeit durch die Politik der APK-Regierung auf die Probe gestellt.Im Verlauf der Proteste anlässlich des Bauprojekts im Istanbuler Gezi-Park im Juni 2013 zeigte sich,dass der neue Regierungskurs der APK nicht von allen Bürgern des Landes mitgetragen wird. EineSpaltung der türkischen Gesellschaft wurde sichtbar, die sich in der Folgezeit dramatisch verschärfte.Einerseits verdankten die Wähler der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan eineflorierende Wirtschaft. Andererseits wurde die Öffentlichkeit immer mehr islamisiert. LiberaleSchichten, die hinter den Protesten standen, protestierten gegen den autoritären, zunehmend auch dikta-torischen Regierungsstil des Ministerpräsidenten Recep Erdoğan und setzten sich für mehr Bürgerrechteein.

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Türkische Präsenz auf dem Balkan200

„Eine neue und positive Rolle der Türkei in der Welt bedarf der Aussöhnung mit dereigenen Vergangenheit, der Überwindung gesellschaftlicher Tabus und einer positi-ven Neufassung türkischer Identität. Wir sind die Nachkommen der Osmanen undsollten uns dessen nicht schämen“ – sagte in diesem Zusammenhang Cüneyt Zapsu,Mitbegründer der AKP und Vertrauter Davutoğlus, während einer Istanbuler Tagungder Körber-Stiftung im Februar 2007.16

In einer viel zitierten Rede anlässlich einer Konferenz, die am 16. Oktober 2009 in Sarajevostattfand, sprach Ahmet Davutoğlu über seine Vision von einer neuen Pax Ottomanica aufdem Balkan. Er argumentierte, dass die einzige historische Epoche, in der die Bewohnerdes Balkans nicht Peripherie von großen Imperien waren, während des Osmanischen Rei-ches geschah. Damals sei es möglich gewesen, dass aus dem serbischen Bauernbuben BajoNenadic der Großwesir Mehmed Pasa Sokolovic wurde. Aus Orten wie Belgrad oder Sara-jevo entwickelten sich bedeutende Städte. Die Türkei beabsichtige, diese Erfolgsgeschichte„neu zu gestalten“, indem sie den „politischen Dialog, die gegenseitige wirtschaftlicheVerflechtung sowie die kulturelle Harmonie“ in der Region fördere:

“Because of this, when we speak of the Balkans, we say it's the periphery of Europe.But is the Balkans really a periphery? No. It is the heartland of Africa-Eurasia.Where does this perception of periphery come from? If you asked Mehmet-PashaSokolović, he wouldn't have said that Sarajevo or Salonica were the periphery,whether of Europe or the Ottoman state. Look at history. The only exception in his-tory is the Ottoman state.

During the Ottoman times, in the 16th century, the Balkans was at the centre ofworld politics. […] Now is the time for reunification. Then we will rediscover thespirit of the Balkans. We need to create a new feeling of unity in the region. Weneed to strengthen regional ownership, a common regional conscience. […]

We desire a new Balkans, based on political values, economic interdependence andcultural harmony. That was the Ottoman Balkans. We will restore these Balkans.People call this 'neo-Ottoman'. I don't point to the Ottoman state as a foreign policyissue. I emphasize the Ottoman heritage. The Ottoman era in the Balkans is a suc-cess story. Now it needs to come back”17.

Diese Neuausrichtung der Außenpolitik und die Neubewertung osmanischer Vergangenheitfielen mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und den Kriegen in Ex-Jugoslawien zusam-men. Als Folge begannen verschiedene islamische Akteure – sowohl auf staatlicher Ebeneals auch als Vertreter der türkischen pro-islamischen Zivilgesellschaft – ihre Aufmerksam-keit auf die Verwandten und Glaubensgenossen auf dem Balkan zu richten. Auch einzelnePolitiker, wie der damalige Außenminister Ahmet Davutoğlu, leisteten für die Intensivie-rung der Kontakte zwischen Intellektuellen, Politikern und Wirtschaftsleuten muslimischen

16 Die Türkei als Partner europäischer Außenpolitik im Mittleren Osten, 23.-25. Februar, Istanbul 2007, in:136. Bergedorfer Protokoll, Berlin: Körber-Stiftung.

17 Ahmet Davutoglu, Naša historija, naša sudbina i naša buducnost su iste, in: Preporod, 30 October 2009,unter <http://www.bosnjaci.net/prilog.php?pid=35961>. Englische Übersetzung in: Gray Falkon, 05.Novamber 2009, <http://grayfalcon.blogspot.com/2009/11/what-turkey-wants.html>.

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Hintergrunds aus den Balkanländern und der Türkei einen wesentlichen Beitrag. Bevor erin die Politik ging, zunächst als außenpolitischer Berater von Premierminister Erdoğan(2002) und anschließend als Minister für auswärtige Angelegenheiten (2009), hatte AhmetDavutoglu zwischen 1990 und 1995 als Professor für internationale Beziehungen an derInternationalen Islamischen Universität in Malaysia (IIUM) gelehrt. Der Politologe KeremÖktem weist in einer Studie darauf hin, dass es in dieser Zeit an der islamischen Universitätin Malaysia eine bedeutende Anzahl von Studenten aus Ex-Jugoslawien, insbesondere ausBosnien-Herzegowina und in geringerem Umfang aus Mazedonien gab.18 Die Kontakte, diewährend dieser Zeit an der IIUM entstanden sind, verfestigten sich anschließend in politi-schen und intellektuellen Netzwerken in diesen Balkanländern. Es kann angenommen wer-den, dass diese Netzwerke sowohl für die spätere Rolle Davutoğlus als islamischer Intellek-tueller in den Ländern des Westbalkans als auch für die Popularisierung des türkischenliberal-islamistischen Projekts unter Teilen der muslimischen Eliten in dieser Region einenwesentlichen Anteil leisteten. In Bosnien soll die Alumne-Organisation der islamischenUniversität in Malaysia bedeutenden Einfluss in der bosnischen Gesellschaft besitzen undviele ihrer Mitglieder einflussreiche Stellen in den Bereichen Wirtschaft, Bildung und Dip-lomatie erhalten haben19. Malaysia-Netzwerke, die auf Ahmet Davutoğlu zurückgehen,etablierten sich im Zentrum für fortgeschrittene Islamstudien in Sarajevo.20 Weitere Intel-lektuelle und politische Netzwerke, in denen Ahmet Davutoğlu eine Rolle spielt, findensich im albanischen Raum Makedoniens, Albaniens und des Kosovos.21

Weniger Resonanz fand das von Davutoğlu vertretene liberal-islamistische Projekt inBulgarien, wo die politische Organisation der bulgarischen Türken (BRF) säkular orientiertist, und eher eine vorsichtige Distanz zu der Regierungspartei AKP des MinisterpräsidentenTayyip Erdoğan hält. Anstelle der „Malaysia-Netzwerke“ kann im bulgarischen Kontextjedoch auf die zahlreichen bulgarischen Studenten und Studentinnen muslimischen Hinter-grunds in der Türkei hingewiesen werden, die eine ähnliche Funktion übernahmen. ImUnterschied zu Intellektuellen der älteren Generation bulgarischer Türken hatten sie wäh-rend ihren Studienaufenthaltes nicht nur die Möglichkeit, das von Davutoğlu vertretenemoderat-islamistische Projekt kennenzulernen, sondern auch Kontakte zu akademischenund anderen gesellschaftlichen Kreisen in der Türkei aufzunehmen. Nicht zuletzt entwi-ckelte sich eine emotionale Bindung zur Türkei. Als Beispiel für die Popularität des dama-ligen türkischen Außenministers Davutoğlu unter bulgarisch-muslimischen Studenten inder Türkei können die Beobachtungen von Arif Aliev, eines Moschee-Besuchers, am 24.März 2010 in Sofia dienen:

„Letzte Woche habe ich das Freitagsgebet in der Moschee in Sofia verrichtet. Unterden Anwesenden befand sich auch der türkische Außenminister, Ahmet Davutoğlu,der sich in diesen Tagen zu einem offiziellen Besuch in Bulgarien befand. Die

18 Öktem, New Islamic actors, 25.19 Öktem, New Islamic actors, 26; Sarajlić, Eldar, Media Myth of Europe: The Case of Bosnian Muslims’,

in: Kerem Öktem/ Reem Abou el-Fadl, Mutual Misunderstandings: Muslims in the European Media,Europe in the Media of the Muslim World, University of Oxford: European Studies Centre 2009, 53-79,18.

20 Mündliche Mitteilung von Armina Omerika.21 Öktem, New Islamic actors, 26.

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Türkische Präsenz auf dem Balkan202

Moschee war wie immer überfüllt. Aber diesmal waren die Besucher noch mehr,wobei diejenigen, die sich am dichtesten um den Minister versammelten, unsereStudenten in der Türkei waren. Sie suchten den Kontakt zu ihm und begrüßten ihnmit den Worten: ‘Hos geldiniz balkan efendi‘ [Herzlich Willkommen Balkan-Bruder, J.T.-S.]. Davutoğlu reagierte freundlich, fragte ungezwungen nach ihrenProblemen und dies alles hat einen tiefen Eindruck bei den anderen Moschee-Besuchern hinterlassen“.22

2. TIKA, Diyanet und türkische NGOs

TIKA und DiyanetNeben den persönlichen Netzwerken sind es vor allem die staatlich gestützte Agentur fürZusammenarbeit und Entwicklung (TIKA) sowie das türkische Präsidium für Religionsan-gelegenheiten (Diyanet), die sich zu den bedeutendsten Vertretern der neuen proaktiventürkischen Politik in Bezug auf türkisch-muslimische Gruppen auf dem Balkan etablierthaben. Die türkische Agentur für Zusammenarbeit und Entwicklung (TIKA) wurde wäh-rend Turgut Özals Präsidentschaft im Jahr 1992 gegründet. Sie hatte das Ziel den LändernZentralasiens, des Kaukasus und der Balkanregion Hilfe auf den Gebieten Bildung, Ge-sundheit und Transport zur Verfügung zu stellen. Anschließend wurde sie in anderen Regi-onen, bei denen es sich zum größten Teil um Länder der islamischen Welt handelt, tätig.23

Ursprünglich an das Außenministerium angegliedert, wurde diese staatliche Agentur 1999direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt. Auf dem Balkan hatte sie – zusätzlich zu ihrenkonventionellen Projekten24 – Kontakte zu den offiziellen religiösen Institutionen wie auchzu lokalen islamischen Verbänden aufgenommen. Die TIKA unterstützte islamische Ver-bände im Kosovo und in Albanien und islamische Vereine in Makedonien25 Mit der finan-ziellen Hilfe der TIKA wurden die Verwaltungsgebäude des bulgarischen Muftiamtes inSofia (2008) und des Komuniteti Musliman in Tirana (2010) renoviert.26 Parallel zu einerReihe infrastruktureller Projekte ist die türkische Agentur für Zusammenarbeit und Ent-wicklung bei der Restaurierung osmanischer Moscheen und Bauwerke auf dem Westbalkanaktiv. Auch in Bulgarien wurden seit 1998 drei bilaterale Abkommen über die „Zusammen-arbeit bei der Erhaltung des kulturellen Erbes“ unterschrieben, die die TIKA dazu berech-tigten, sich um Bauten aus osmanischer Zeit in Bulgarien zu kümmern.27 Darüber hinaus

22 Aus dem Forum Vestnik Zaman, in: <http://www.pomak.eu/board/index.php?topic=3275.0>(21.11.2013).

23 Seufert, Außenpolitik, 16.24 In ihrer Tätigkeit auf dem Balkan richtet sich TIKA nicht nur an muslimisch-türkische Gruppen. TIKA

beteiligt sich zum Beispiel im Montenegro am Bau eines Flughafens sowie am Bau von Straßen und öf-fentlichen Gebäuden. Deniz, Turcija nastăpva.

25 Öktem, New Islamic actors, 30.26 Interview mit dem stellvertretenden Obermufti, Vedat Ahmed, im Oktober 2010.27 Das letze Abkommen wurde im März 2012 geschlossen. Siehe dazu Turcija i Bălgarija podpisaha

memorandum za kulturni centrove, in: Vesti vom 21. März 2012 sowie die Homepage des bulgarischenKulturministeriums:<http://mc.government.bg/object.php?p=46&s=27&sp=29&t=0&z=0&po=177> (21.11.2013).

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TIKA, Diyanet und türkische NGOs 203

hat die TIKA Koordinationsstellen in Mazedonien, Albanien, Kosovo und Montenegroeröffnet.28

Die wohl einflussreichste staatliche islamische Institution in der Türkei, die in allenmuslimischen Gebieten des Balkanraums präsent ist, ist das türkische Präsidium für Religi-onsangelegenheiten (Diyanet)29 und seine religiöse Stiftung Türkiye Diyanet Vakfi. Noch inden 1980er Jahren begann diese staatliche Behörde der Islamförderung weit über die Lan-desgrenzen hinaus zu expandieren und sich in Ländern mit türkischen Zuwanderern inWesteuropa sowie seit den 1990er Jahren in Zentralasien und auf dem Balkan zu engagie-ren. Seit dieser Zeit spielte das Diyanet eine wichtige Rolle beim institutionellen Wieder-aufbau muslimischer Gemeinschaften im Balkanraum, im Kaukasus und im türkischspra-chigen Zentralasien. 1995 wurde auf Initiative des Diyanets der Eurasien Islam Council(Avrasya Islam Şurası) gegründet. Er hatte das Ziel eine enge Kooperationszone zwischenden islamischen Institutionen in diesen Regionen und der Türkei zu installieren.30 Eineweitere Initiative stellt das jährliche Treffen der Obermuftis aus den Balkanländern dar, dasseit 2007 durch das Diyanet organisiert wird.31

Seit Anfang der 1990er Jahre hat das Diyanet auch Auslandsvertretungen in den einzel-nen Balkan-Ländern eröffnet. So verfügen die türkischen Botschaften in Bulgarien, Rumä-nien und Mazedonien über eigene Berater in religiösen Angelegenheiten, die durch dasDiyanet ernannt werden. Religiöse Koordinatoren des Diyanets gibt es in Albanien, demKosovo und Bosnien.32 Deren Aufgaben bestehen darin, die Aktivitäten des Diyanets in derRegion zu koordinieren, türkisch-muslimische Minderheiten zu unterstützen sowie dieZusammenarbeit mit den lokalen islamischen Institutionen zu fördern. Parallel dazu entsen-det das Diyanet während des Fastenmonats Ramadan und dem Opferfest (kurban bayram)religiöses Personal in muslimische Dörfer in Bulgarien, Rumänien, Mazedonien und demKosovo. In Zusammenarbeit mit den lokalen islamischen Institutionen organisiert es iftars(Abendessen) während des Ramadan. Einen besonderen Stellenwert nimmt der islamischeBildungssektor ein. Vertreter der türkischen Behörde beteiligen sich an der Vergabe vonStipendien für ein Theologiestudium in der Türkei und unterstützen die Herausgabe vonUnterrichtsbüchern für die Medresen in Albanien, Bosnien, Makedonien und Bulgarien

28 Adriano Remiddi, Turkey in the Western Balkans: Between Orientalist Cultural Proximity and Re-Orientation of Regional Equilibria, in: Balkan social science review Vol. 1 (2013).

29 Das türkische Präsidium für religiöse Angelegenheiten (Diyanet Işleri Bașkanliğ, DIB) ist das zentraleOrgan der staatlichen Islamförderung in der Türkei, das sich mit den religiösen Angelegenheiten derislamisch-sunnitischen Mehrheit des Landes befasst. Das Präsidium ist dem Ministerpräsidenten unter-stellt. Seit 1971 werden seine Mitarbeiter zu Staatsbeamten erklärt. Das Diyanet kümmert sich um dieAusbildung und Beschäftigung der Imame, organisiert das religiöse Leben und agiert als die höchste re-ligiöse Autorität in Fragen der Lehre und Praxis. Siehe dazu Werner, Islam in der Gegenwart, 340.

30 Provede se petoto saveštanie na organisacijata Evroaziatski isljamski savet, in: Muslulmani, April 2002.Die Gründung des Eurasien Islam Councils 1995 war nicht zuletzt eine Reaktion auf den IslamicCouncil for Eastern Europe, der vier Jahre früher durch Saudi-Arabien und die Islamic World Leagueetabliert wurde.

31 Das erste Treffen fand 2007 in Sofia statt, weitere Treffen folgten in Montenegro (2008), Rumänien(September 2009) und im Kosovo (Mai 2010). Siehe dazu „Islamische Vereine und Hilfs-organisationen“ (Kapitel V).

32 Solberg, The Role of Turkish, 438.

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Türkische Präsenz auf dem Balkan204

sowie für den islamischen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen in Bulgarien undMakedonien.33

Das Engagement des Diyanets für den islamischen Bildungssektor auf dem Balkan wieauch in den zentralasiatischen Republiken lässt sich auch durch die offizielle Webseite destürkischen Präsidiums für religiöse Angelegenheiten veranschaulichen. Im Informationsbe-reich zur religiösen Bildung findet sich dort folgende Erklärung:

„Nachdem die Sowjetunion Ende der 1990er Jahre auseinanderbrach, finden in denStaaten jenseits des Eisernen Vorhanges große Veränderungen statt. Als Folge dieserEntwicklungen wurde unser Amt – was unsere Religionsbrüder und Volksangehöri-ge auf dem Balkan, in Kaukasien und in Mittelasien betrifft – vor diverse Heraus-forderungen gestellt. Die wichtigste Aufgabe dabei ist, nach fast 70 Jahren atheisti-scher Erziehung den Bedürfnissen nach gut ausgebildeten Religionslehrern undTheologen entgegenzukommen. Um diesen Bedarf zu decken, wurden in den letztenJahren viele Studenten aus diesen Regionen in der Türkei aufgenommen“.34

Aus derselben Webseite ergibt sich, dass nur für die Zeit zwischen 2003-2005 insgesamt2.321 Studenten, 28 Doktoranden und 346 Imam-Hatips aus den Ländern des Balkans undZentralasiens an einer theologischen Fakultät oder einer islamischen Predigerschule in derTürkei durch das Diyanet gefördert wurden. Mit der Hilfe des türkischen Diyanets wurdeeine theologische Fakultät in Aserbaidschan (1992), eine weitere in Turkmenistan (1994)sowie eine Universität in Kirgisien (1997) eröffnet. In den Balkanländern eröffnete undfinanzierte das Amt bis 2005 insgesamt sieben Hoch- und Fachschulen (vier Predigerschu-len, zwei Fachschulen und ein islamisches Institut). 1996 wurde in der rumänischen StadtKonstanze ein Gymnasium für Theologie und Pädagogik Kemal Atatürk eröffnet.35 Darüberhinaus wurden in diesen Ländern zahlreiche religiöse Publikationen gedruckt und kostenlosverteilt. Das Diyanet beteiligt sich an verschiedenen Restaurierungsprojekten36 und organi-siert (in begrenztem Maß) Pilgerfahrten für Muslime aus den Balkanländern.37 Diese regeTätigkeit ist bezeichnend für die gewachsene Rolle des Präsidiums für religiöse Angele-genheiten sowie der Türkei insgesamt als symbolische Führungskraft der muslimischenGemeinden auf dem Balkan. Während die türkische Außenpolitik bis in die 1990er Jahrevorwiegend auf ethnisch-türkische Verbände ausgerichtet war, scheint ein Umdenken statt-gefunden zu haben, und der Einsatz türkischer Akteure auch auf nichttürkische muslimi-sche Bevölkerungsgruppen erweitert wurde.

33 Bezüglich Makedonien vgl. Macháček, ’European Islam’, 417.34 Homepage des türkischen Präsidiums für religiöse Angelegenheiten, unter

<http://www.diyanet.gov.tr/turkish/almanca/icerik.aspx?IID=438> (15.06.2013).35 Ebda. In Bulgarien wurden die drei islamischen Gymnasien, sowie das islamische Hochschulinstitut in

Sofia durch das Diyanet finanziert. Siehe voriges Kapitel.36 Das Diyanet hat sich u.a. bei der Restaurierung des Heiligengrabs (türbe) von Sultan Murad in Priština

sowie der Sinan Pasha Moschee in Prizren beteiligt. In Bulgarien wurde 2012 der Bau einer Moschee inKardžali, die durch das Diyanet finanziert wird, bewilligt. Siehe dazu: Turcija šte postroi nai-goljamatadžamija v Bălgarija, in: Flagman vom 5 April 2012.

37 Öktem, New Islamic actors, 45.

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TIKA, Diyanet und türkische NGOs 205

Unterstützung für muslimische Bevölkerungsgruppen in den Balkanländern kommt nichtnur von staatlichen Institutionen, sondern auch seitens türkischer NGOs und islamischerHilfsorganisationen. Bereits in den 1980er Jahren kamen türkische informelle islamischeGruppierungen und neo-sufistische Gemeinden infolge der vorgesehenen neuen Bürger-rechte in der Türkei wieder zum Vorschein. Sie begannen als legal operierende Stiftungen(vakifs) und islamische Verbänden zu operieren.38 Nachdem die AKP an die Macht kamund ihnen auch den rechtlichen Status als gemeinnützige Verbände gewährte, hat sich ihrZahl zu Beginn der 2000er Jahre deutlich erhöht. Sie begannen auf nationaler wie auch aufinternationaler Ebene zu expandieren. Es wurden nicht nur die vorhandenen pro-islamischen Bürgerinitiativen in formale NGOs umgewandelt, es wurden auch schnell Koa-litionen gebildet. So initiierten türkische pro-islamische NGOs im Jahr 2005 das globalemuslimische zivilgesellschaftliche Netzwerk, die Union of the NGOs of the Islamic World(UNIW). Im September 2010 umfasste die UNIW die Mitgliedschaft von 185 NGOs aus 43Ländern. 39

Auf dem Balkan begannen ihre Aktivitäten während der kriegerischen Auseinanderset-zungen in Bosnien (1992-1995), im Kosovo (1999) sowie im Verlauf des Konfliktes inMazedonien (2001). Neben der Bereitstellung humanitärer Hilfe, haben viele dieser Orga-nisationen die lokalen islamischen Institutionen durch das Verbreiten islamischer Literaturunterstützt.40 Die erste und (soweit bekannt) die einzige türkische Stiftung, die während desKrieges in Bosnien humanitäre Hilfe leistete, war die deutsche Niederlassung der Founda-tion for Human Rights and Freedoms and Humanitarian Relief (IHH), die von Milli Görüs-Anhängern gegründet und von der Refah Partei unterstützt wurde.41 Nach dem Ende desBosnien-Konflikts erweiterte die IHH ihre Aktivitäten auf andere Balkan-Länder, indem siehumanitäre Hilfe im Kosovo (1999) verteilte und Flüchtlingsfamilien in Albanien, Maze-donien und dem Sandžak unterstützte. Parallel dazu verteilte sie den Koran in Albanien unddem Kosovo.42

Cansuyu Aid, Solidarity Association, Deniz Feneri sowie Kimse Yok Mu Relief Founda-tion sind weitere türkische Hilfsorganisation, die im Kosovo, Mazedonien, Bosnien undSandžak aktiv waren.43 Die letzteren beiden wurden durch die Netzwerke der Gülen-Bewegung (siehe hierzu weiter unten) gegründet. Deniz Feneri gehört zu den größtenHilfsorganisationen in der Türkei. Die türkische Hilfsorganisation Kimse Yok Mu Relief

38 Über pro-islamische Zivilgesellschaft in der Türkei siehe Atalay, Civil society as soft power sowieSolberg, The Role of Turkish, 434.

39 Atalay, Civil society.40 Solberg, The Role of Turkish, 450.41 Die Stiftung wurde 1995 in Istanbul gegründet, um „Opfer des Krieges in Bosnien und Tschetschenien

Hilfe zur Verfügung zu stellen“. Anschließend erweiterte sie ihre Tätigkeit. Heute ist sie weltweit, vorallem in Krisengebieten, aktiv. Siehe dazu <http://www.ihh.org.tr/en/main/pages/hakkimizda/114>(12.05.2012). Am 12. Juli 2010 wurde die im Köln ansässige Filiale der IHH vom Bundesministeriumdes Inneren verboten, da sie „Organisationen unterstützt, die der Hamas zuzurechnen sind“. Siehe dazu<http://www.shia-forum.de/index.php?/topic/37878-innenminister-verbietet-turkische-hilfsorganisation/> (12.05.2012).

42 Siehe dazu die Homepage der Stiftung <https://www.ihh.org.tr/> (12.05.2012).43 Siehe u.a. Solberg, The Role of Turkish, 451 sowie Turkish Aid Agency Kimse Yok Mu Reaches out to

Kosovo, Albania Muslims, in: Cihan News Agency, 5. August 2012.

Türkische NGOs und Hilfsorganisationen in den Balkanländern

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und in Petrella (Albanien).44 Die Stiftung Aziz Mahmud Hüdaly (AMHV), eine Vertretungdes Bayrami-Ordens, arbeitete eng mit den islamischen Institutionen in Mazedonien, imKosovo und Albanien zusammen.45 Die Emre Stiftung, die an das Ministerium für auswär-tige Angelegenheiten angeschlossenen ist, sammelt ebenfalls öffentliche und private Mittel,um die Wiederherstellung von Moscheen und Koranschulen im ehemaligen Jugoslawienund Albanien zu unterstützen. Der erste Sitz der Stiftung war in Sarajevo, später fand sieVerbreitung in der gesamten Region mit Zentren in Fojnica, Tirana, Skodar, Skopje,Pristina und Prizren.46

In Bulgarien ist die genaue Anzahl der türkischen NGOs und Hilfsorganisationenschwer zu ermitteln, da sie zumeist als gemeinnützige Vereine und nicht als religiöse Orga-nisationen (d.h. nach dem Handels- und nicht nach dem Religionsgesetz) registriert sind.Darüber hinaus agieren viele von ihnen nur indirekt, indem sie Spenden und finanzielleZuwendungen an die lokalen, durch bulgarische Muslime gegründeten Vereine, vermitteln,ohne selbst in Erscheinung zu treten. Das ist zum Beispiel der Fall bei der bulgarischenStiftung Ahmed Davudoglu, die von bulgarischen Muslimen geleitet wird, finanziell jedochvon türkischen Geldgebern getragen wird.47 Die größte türkische Hilfsorganisation, die inBulgarien registriert und in den 1990er Jahren aktiv war, ist die Stiftung Balkani. Die ver-schiedenen Hilfsorganisationen, auf die hier nicht weiter eingegangen wird, haben nebenihren humanitären Aktivitäten eine wichtige Rolle bei der Herstellung von Kontakten zwi-schen der pro-islamischen Zivilgesellschaft in der Türkei und den muslimischen Gemein-den und islamischen Institutionen in den Balkanländern gespielt.

3. Neo-bruderschaftliche türkische Netzwerke in Südosteuropa

Die türkische Präsenz auf dem Balkan macht sich ferner durch die Verbreitung türkisch-islamischer neo-bruderschaftlicher Netzwerke bemerkbar.48 Zu den letzteren gehören nebender Bewegung der Süleymanci auch die Nurcus sowie die vom türkischen Prediger Fethul-lah Gülen ins Leben gerufene weltweite Bildungsbewegung der Fethullahci. AlsSüleymanci werden die Anhänger des in Nordbulgarien geborenen türkischenNaqschbandi-Scheichs Süleyman Hilmi Tunahan (1888–1959) bezeichnet. Die auf ihn

44 Turkish Aid Agency Kimse Yok Mu Reaches out to Kosovo, Albania Muslims, in: Cihan News Agency,5. August 2012; Kimse Yok Mu aid cheers up Albanian community in Petrella, in: Medya, 10. März2013, englische Übersetzung unter: <https://hizmetmovement.blogspot.de/2013/03/kimse-yok-mu-aid-cheers-up-albanian.html> (15.07.2013).

45 Zur Stiftung Aziz Mahmud Hüdaly siehe Solberg, The Role of Turkish, 444f. sowie die Homepage derOrganisation <http://www.hudayivakfi.org/> (15.07.2013).

46 Remiddi, Turkey in the Western Balkans.47 Interview mit dem stellvertretenden Obermufti, Vadat Ahmed, im September 2011.48 Der Begriff „neo-bruderschaftliche Netzwerke“ bezieht sich auf die Tatsache, dass die hier angespro-

chenen islamischen Bewegungen in der mystischen Tradition der Naqschbandiyya wurzeln, ihnen feh-len jedoch die institutionellen Strukturen einer tariqa (Sufi-Orden). Die Mitglieder dieser Netzwerkekennen weder die zikir (rituelle Handlungen, in denen den Name Gottes gepriesen wird) noch haben sieeinen Scheich. Insbesondere die Nurculuk-Bewegung ist heute in mehrere voneinander unabhängigeGruppierungen gespalten, und nur in einem weiten Sinne dem Sufismus zuzuordnen.

Foundation verteilte in den Jahren 2012 und 2013 Hilfspakete an Bedürftige im Kosovo

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Neo-bruderschaftliche türkische Netzwerke in Südosteuropa 207

einer tariqa, angenommen. Deshalb bezeichnen sich seine Anhänger nicht als tariqa, son-dern nennen sich „Schüler des Süleyman Efendi“.49 Die Nurcus gehen ihrerseits auf den1960 gestorbenen Prediger Said Nursi zurück und sind noch unter den Namen Nurculukoder Nurcular (Schüler der Schriften des Lichts) bekannt. Said Nursi gehörte ebenfalls dersufistischen Tradition der Naqschbandiyya an, seine Nachfolger gründeten jedoch keineneigenen Orden.50 Diese Bewegungen haben sich seit den 20er Jahren des 20. Jahrhundertsin der Türkei entwickelt und ihre Entstehung ist vor dem Hintergrund der laizistischenPolitik der früheren türkischen Republik zu verstehen. In einer Zeit, die einen radikalenEinschnitt im religiösen Leben der türkischen Muslime markierte, bemühten sich die Anhä-nger der Süleymanci- und der Nurcu-Bewegungen die religiöse Erziehung und Bildung vonKindern und Jugendlichen zu gewährleisten. Zu diesem Zweck organisierten sie die Durch-führung von Korankursen und Religionsunterricht sowie die Ausbildung von Religionsge-lehrten. Der Prediger Said Nursi veröffentlichte eine Reihe von Korankommentaren, diesogenannten Risale-i Nur, um die sich seine Anhänger als Studiengruppen organisierten.Trotz des Widerstands seitens der kemalistischen Elite konnten sich diese neo-bruderschaftlichen Netzwerke seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in der türkischen Gesell-schaft fest etablieren.51

Eine bedeutende Abspaltung der Nurcus sind die so genannten Fethullahci, benanntnach ihrem Anführer, den in den USA im Exil lebenden türkischen Prediger und Inspiratoreiner zivilgesellschaftlichen Bewegung, Fethullah Gülen.52 Die Bewegung, die auch als„Hizmet-Bewegung“, also „Bewegung des freiwilligen Dienstes“ (hizmet, dt.: „Dienst“)bezeichnet wird, betreibt mittlerweile über 1.000 Schulen weltweit (Stand 2013).53 Dort sollvor allem eine neue muslimische, an Wissenschaft orientierte Intelligenz herausgebildetwerden. Die Fethullahci, verfügen ferner über ein vielfältiges, zunehmend auch sprachlichbreites Medienangebot, darunter die auflagenstarken Tageszeitungen Zaman, Türkiye undTercüman. Sie betreiben zahlreiche Zeitschriften, Radio- und Fernsehsender (SamanyoluTV und seinen außertürkischen Ableger Ebru TV), eine Nachrichtenagentur, eine Bank undeine Versicherung sowie mehrere Verlage und einige Unternehmerverbände.54 Die Bewe-

49 Siehe dazu u.a. Ende, Der Islam in der Gegenwart, 589.50 Die Nurcus verstehen sich als religiöse Bewegung, die moderne Wissenschaft und Islam miteinander

verbinden will. Zu Nurcus siehe u.a. Şerif Mardin, Religion and Social Change in Modern Turkey: TheCase of Bediüzzaman Said Nursi, Albany: State University of New York Press, 1989 sowie CemilSahinöz, Die Nurculuk Bewegung. Entstehung, Organisation und Vernetzung. Die erste soziologischeund wissenschaftliche Analyse der Bewegung, Istanbul: Nesil Verlag, 2008.

51 Ende, Der Islam in der Gegenwart, 591.52 Zur Gülen-Bewegung siehe Ahmet Kuru, Globalization and Diversification of Islamic Movements:

Three Turkish Cases, in: Political Science Quarterly Vol. 120, Nr. 2 (2005); Ursula Boos-Nünning/Christoph Bulmann (Hg.), Die Gülen-Bewegung. Zwischen Predigt und Praxis, Münster: AschendorffVerlag, 2011; Johann Hafner (Hg.), Muslime zwischen Tradition und Moderne: Die Gülen-Bewegungals Brücke zwischen den Kulturen, Freiburg: Herder, 2010; Bekim Agai, Zwischen Netzwerk undDiskurs: Das Bildungsnetzwerk um Fethullah Gülen. Die flexible Umsetzung modernen islamischenGedankenguts, Schenefeld: EB-Verlag, 2004.

53 Siehe dazu die Homepage der Gülen-Bewegung:<http://www.gulenmovement.us/gulen-movement/gulen-movements-view-on-education> (15.07.2013).

54 Ahmet Kuru, Globalization and Diversification; Fethullah Gülen’s Grand Ambition, in: Middle EastQuarterly, XVI, Nr.1, 2009, 55-66.

zurückgehende Bewegung hat aber nicht die Erscheinungsform eines mystischen Ordens,

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gung hat keine offizielle Struktur, aber bestimmte Merkmale kennzeichnen ihre Anhänger.Sie kann als „eine moderne missionarische Bewegung“ bezeichnet werden, doch die Missi-on hat zum Ziel eher zu erziehen, als zum Islam aufzurufen. Die zahlreichen Gülen-Gemeinden (türk. cemaat) ziehen ihre Kader in den sogenannten „Licht-„ beziehungsweise„Lehrhäusern“ heran, die eine Mischung aus Wohngemeinschaft und Koranschule darstel-len.55 Dort bekommen Schüler und Studenten, häufig kostenlos, ein Zuhause und als Ge-genleistung wird erwartet, dass sie ihr Leben dem hizmet, dem Dienst der Gemeinde, wid-men.

In der Türkei hatten Anhänger von Fethullah Gülen Positionen bis in höchste türkischeRegierungskreise erlangt.56 Diese Entwicklung führte dazu, dass türkische Intellektuellewie auch westliche Zeitungen, darunter Der Spiegel und die New York Times über einemutmaßliche Anbindung der Gülen-Bewegung an die nationalistischen Flügel der Justizspekulierten.57 Kritiker der Bewegung hatten es in der Türkei nicht leicht und ihnen wirdmit aller „Härte“ begegnet.58 Das Markenzeichen der Bewegung blieb jedoch das weltweiteBildungsengagement. Kennzeichnend für die von Gülen inspirierten Schulen ist eine Förde-rung von Fächern, die als „zweckrational und zukunftsorientiert“ bezeichnet werden kön-nen.59 Wert wird gelegt auf die Sprachen, vor allem das Englische und auf die Ökonomie,Sozial- und Naturwissenschaften. Türkisch wird oftmals als Pflichtfach oder als zweiteFremdsprache angeboten. Demgegenüber findet sich kaum das Fach Religion und einedirekte religiöse Bildung hat in der Regel keinen Platz in den Lehrplänen. Die Aneignungsäkularen Wissens wird vielmehr als individuelle islamische Pflicht angesehen. Durch eineumfassende Betreuung der Schüler und Studenten wird zugleich angestrebt, sie im Sinneeiner religiös-konservativen Moral und Ethik zu erziehen.

55 Ende, Der Islam, 237; Popp, Maximilian (2012), Der Pate, in: Der Spiegel 32 (2012), 29.56 Ende, Der Islam, 237; Ky Krauthamer, In Albania, Madrasas Even the Secular Love, in: TOL, 19.

Oktober 2012.57 Inzwischen haben sich die Beziehungen zwischen der AKP und Fethullah Gülen deutlich verändert,

wobei der türkische Premier Tayyip Erdoğan den islamischen Gelehrten mittlerweile als seinen Haupt-feind sieht. Die seit Dezember 2013 durchgeführten Korruptionsermittlungen gegen seine Regierungwertete Erdoğan als einen Versuch Fetullah Gülens, ihn und seine Regierung zu stürzen. Gülens Anhä-nger, so Erdoğan, hätten Justiz und Polizei infiltriert und versuchten nun, die Macht im Staat an sich zureißen. Bereits bei den Wahlen 2011 entfernte Erdoğan viele Gülenisten aus den Reihen der AKP-Parlamentarier, und Ende 2012 kündigte er an, eine Haupteinnahmequelle und zugleich ein Rekrutie-rungsfeld der Gülen-Bewegung verbieten zu wollen: die Nachhilfeschulen. Siehe u.a. dazu: Erdoganfordert Auslieferung seines Todfeinds, in: Die Welt, 30. April 2014.

58 Anfang 2011 wurde die Veröffentlichung eines Manuskripts, das sich unter dem Namen „Die Armeedes Imam“ mit der Gülen-Bewegung befasste, gerichtlich untersagt. Der Autor, der Journalist AhmetSik, wurde verhaftet. Sik war der zweite Autor, der sich vor Gericht verantworten musste, weil er dasGülen-Netzwerk bezichtigte, Machtpositionen im Staats- und Sicherheitsapparat besetzt zu haben. Dererste war Henefi Avci, ein Polizeioffizier. Er schrieb das Buch „Gestern Staat heute Glaubensgemein-schaft“, in dem er der islamischen Bewegung um den Prediger Fethullah Gühlen verschwörerische Ma-chenschaften unterstellte. Ähnlich erging es dem ehemaligen Oberstaatsanwalt, Ilhan Cihaner. Er hatteseit 2007 wegen Hinweisen auf illegale Geldgeschäfte gegen die Gülen-Gemeinde ermittelt. Auf Druckder Regierung wurde ihm das Verfahren entzogen und er wurde verhaftet. Spiegel, 31. Siehe dazu noch:Die Türkei jagt ein Manuskript, in: Die Welt, 26. März 2011, 6.

59 Tobias Specker, Vertraue Gott und sei fleißig, in: Herder Korrespondenz 65, 2 (2011), 96-101; Home-page der Gülen-Bewegung <http://hizmetmovement.blogspot.de> (19.06.2013).

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Neo-bruderschaftliche türkische Netzwerke in Südosteuropa 209

In Südosteuropa ist die Größe der lokalen Anhängergruppen der Süleymanci, Nurcusund Fethullahci schwierig zu ermitteln, da sie viele Untergruppen, lokale Stiftungen undUnternehmen haben. Aktiv sind die Anhänger dieser neo-bruderschaftlichen Bewegungenauch im Balkan-Raum vor allem im Bildungssektor, indem sie Koran-Schulen, Studienzir-kel und private türkische Schulen und Universitäten gründen.

SüleymanciDie Süleymanci vertreten einen eher traditionellen, konservativen Islam, der der türkischensunnitisch-hanafitischen Tradition folgt.60 Sie bevorzugen eine religiöse Ausbildung imRahmen der lokalen Gemeinden und verhalten sich sowohl gegenüber „staatlich kontrol-lierter Religion“ als auch zu neu-fundamentalistischen Interpretation des Islam distanziert.In dem von ihnen angebotenen Religionsunterricht nimmt die Memorierung des Korans inArabisch eine wichtige Stellung ein. Insbesondere auf dem Westbalkan verfügen dieSüleymanci über gut organisierte Netzwerke, indem sie Wohnheime unterhalten und Kora-nunterricht anbieten. In den von ihnen errichteten Wohnheimen bieten sie freie Unterkunftfür muslimische Jugendliche, kombiniert mit strenger Disziplin und religiöser Erziehungnach den Grundsätzen der Gemeinschaft. Viele der Schüler, die in den Wohnheimen unter-gebracht werden, besuchen reguläre Schulen oder Universitäten. Von ihnen wird zugleicherwartet, dass sie an den angebotenen Korankursen teilnehmen, die von Lehrern der Bewe-gung geleitet werden. Die Süleymanci sind besonders aktiv in Albanien, wo sie bis 2007neun Wohnheime gründeten. Weitere fünf Wohnheime der Süleymanci gab es Makedonien,vier im Kosovo und drei in Bosnien (Stand 2007).61 Die Aktivitäten dieser Netzwerke wer-den zum größten Teil von den lokalen islamischen Institutionen akzeptiert. In Albanien undKosovo arbeiten die Süleymanci eng mit den Verwaltungen der Muslime zusammen, imKosovo sind sie auch offiziell anerkannt. Trotzdem berichtet Solberg darüber, dass derEinfluss der Süleymanci in den Ländern des Westbalkans eher begrenzt ist. Die sprachlicheKomponente führt dazu, dass ihre Aktivitäten vorwiegend unter den türkischen Gemeindenkonzentriert sind, die in den Ländern des Westbalkans unterrepräsentiert sind.

NurcusWährend die Süleymanci ihre Tätigkeit vor allem auf die Durchführung von Koranunter-richt und die Leitung von Studentenwohnheimen ausrichten, sind die Nurcus bemüht, dieIdeen und Werke ihres spirituellen Führers, Bediüzzaman Said Nursi, zu verbreiten und zupopularisieren. Neben der Übersetzung seiner Werke in die lokalen Sprachen bilden sieLesekreise, in denen seine Korankommentare, die sogenannten Risale-i Nur, rezitiert unddiskutiert werden. Sie setzen sich zum Ziel, zu einem neuen Verständnis des Korans beizu-tragen und vertreten die Position, dass zwischen Religion und Wissenschaft kein Gegensatzbesteht.62 Die ersten Versuche, die Ideen Said Nursis in Südosteuropa zu verbreiten, gehen

60 Zur Süleymanci siehe Solberg, The Role of Turkish, 444 sowie Gerdien Jonker, The Transformation ofa Sufi Order into a Lay Community: The Süleymancy Movement in Germany and Beyond, in: JocelyneCesari/Sean Mac Loughlin (Hg.), European Muslims and the Secular State, Aldershot: Ashgate 2005,169-182.

61 Solberg, The Role of Turkish, 44762 Siehe dazu Jama' at-un Nur – Gemeinschaft des Lichtes, unter <http://www.jamaatunnur.com/wir-

ueber-uns.html> (16.7.2013).

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auf Anfang der 1990er Jahre zurück. Auch hier folgen die Anhänger der Bewegung keinenSufi-Praktiken und ihre Zusammenkünfte (sihbet) bestehen darin, die Werke Said Nursis zurezitieren. Ähnlich wie die Süleymanci unterhalten die Nurcus Studentenwohnheime, dienach religiösen Prinzipien geleitet werden. Die Bewegung verfügt über keine festen Mit-glieder und besteht aus flexiblen und fluktuierenden Gruppen. Um Nurcu zu werden, reichtes aus, die Risale zu lesen, sie zu verinnerlichen und für ihre Verbreitung einzutreten. ImVergleich zu den Fethullahci sind die Nurcus konservativer und sie bestehen auf Ge-schlechtertrennung und Kleiderordnung.

Die Präsenz der Nurcus auf dem Balkan ist relativ jüngeren Datums und der Prozess derÜbersetzung der Werke Nursus in die lokalen Sprachen ist noch nicht abgeschlossen. Sol-berg weist darauf hin, dass es keine Hinweise dafür gibt, dass die Nurcus-Gemeinden inden Ländern des Westbalkans bedeutend zunehmen. Die meisten Aktivitäten werden vonfrommen Lehrern aus der Türkei ausgeführt und die Möglichkeiten für eine aktive Missio-nierung sind begrenzt. Nurcu-Lesekreise gibt es vor allem in Mazedonien (Skopje undGostivar), im Kosovo (Priština und Prizren) und in Bosnien (Saraevo und Mostar).63

Fethullah Gülen BewegungDas einflussreichste neo-bruderschaftliche Netzwerk in Südosteuropa ist das des FethullahGülen.64 Seine haben Anhänger Lehranstalten in Albanien, in Makedonien, in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo sowie in Rumänien und Bulgarien gegründet. 2013 gab es in denLändern des Westbalkans insgesamt 23 Grund- und Sekundärschulen der Bewegung mitmehreren tausend Schülern. Zehn von ihnen befanden sich in Albanien, drei im Kosovo,sieben in Bosnien und drei weiteren Kollegs wurden in Mazedonien eröffnet. 2008 wurdennoch zwei internationale Universitäten in Sarajevo (Burç Universität) und Tirana (EpokaUniversität) von Gülen Anhängern eröffnet.65

Die Gülen-Schulen werden durch private Unternehmer sowie von Gülen inspiriertenStiftungen gegründet. Sie finanzieren sich in der Regel durch Studiengebühren. Für Studen-ten, die sich die Studiengebühren nicht leisten können, gibt es Stipendien. Die Schulenverfügen über modernste Technologie und demonstrieren herausragende wissenschaftlicheLeistungen. Ein Teil der Schulleiter und Lehrer an diesen Schulen kommt aus dem Kreisder Hizmet-Bewegung. Es gibt aber auch solche Lehrer, die der Bewegung nicht angehörenund wahrscheinlich Fethullah Gülen gar nicht kennen. Ohne das Engagement der von Gül-en inspirierten Lehrer, die ihre Arbeit als Hizmet (Gottesdienst) sehen, würden diese Schu-len jedoch nicht existieren.66 Ein maßgeblicher Faktor für den Erfolg dieser Schulen ist diepädagogische „Philosophie“, die die Lehrer dazu motiviert, sich einer umfassenden Betreu-

63 Solberg, The Role of Turkish, 446.64 Zur Gülen-Bewegung in Südosteuropa siehe u.a. Clayer, Islam und Zivilgesellschaft; Öktem, New

Islamic actors. Informationen zu den einzelnen südosteuropäischen Ländern finden sich auf denHomepages der Bewegung: <http://www.gulenmovement.us> (3.06.2013).

65 Sowohl an der Burç als auch an der Epoka Universität wird der Unterricht in englischer Sprache nachdem Bologna-System für Bildung durchgeführt. Siehe u.a. dazu: <http://www.epoka.edu.al>(3.06.2013).

66 Helen R. Ebaugh, The Gulen Movement. A Sociological Analysis of a Civic Movement Rooted inModerate Islam, New York: Springer 2010, 27-30.

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Neo-bruderschaftliche türkische Netzwerke in Südosteuropa 211

ung der Schüler zu widmen. Neben Kompetenz und Wissen sind Lehrer und Erzieher be-strebt, moralische Werte zu vermitteln.

Mit einigen Ausnahmen handelt es sich bei den Gülen-Schulen um säkulare Lehranstal-ten, an denen es keine religiöse Unterweisung gibt.67 Der Islam wird dort nur indirekt ver-breitet, vor allem durch das „exemplarische Vorbild der Lehrer“. Diese Lehranstalten sindoffen für alle, unabhängig von deren religiöser Zugehörigkeit. Wert wird auf die FächerNatur- und Sozialwissenschaften gelegt. Die meisten Schulen unterrichten in englischerSprache. Daneben werden auch lokale Sprachen sowie Türkisch als zweite Fremdsprachegelehrt. Eine Schuluniform in den Gülen-Schulen ist Pflicht und es ist in der Regel nichterlaubt, islamische Kleidung und den Hijab zu tragen.68 In Priština, Sarajevo und Tiranagehören die Gülen-Schulen zu den erfolgreichsten Bildungseinrichtungen und insbesonderein Albanien tendieren politische Eliten muslimischen Hintergrunds dazu, ihre Kinder dortbeschulen zu lassen.69

Albanien ist zugleich das einzige südosteuropäische Land, in dem Fethullahci neben sä-kularen auch islamische Schulen leiten. Fünf der insgesamt sieben Medresen des Landes (inKavaja, Cërrik, Tirana, Berat und Korça) werden durch Anhänger der Bewegung gefördert.Aber auch hier wird ein Lehrplan angeboten, der neben islamischen Fächern einen Schwer-punkt auf Englisch, Naturwissenschaften und Computerkenntnisse legt. Unter der muslimi-schen Mehrheit finden sich sogar einige Studenten christlichen Hintergrunds.70 Attraktivsind die von Fethullahci geführten Koranschulen nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Grün-den. Studenten zahlen hier keine Gebühren. Dies ist möglich durch die Unterstützung derSema Stiftung, die im Jahr 2005 von türkischen Investoren gegründet wurde. Im Gegensatzdazu, ist der Unterricht an den säkularen Eliten-Schulen Gülens für die meisten albanischenFamilien wirtschaftlich nicht zu leisten. An der englischsprachigen Memorial InternationalSchool in Tirana zum Beispiel steigen die Studiengebühren bis auf ca. 5.000 Euro für die10. bis 12. Klasse.71 2011 wurde noch die Beder Universität eröffnet, die ebenfalls durchdie türkische Sema-Stiftung unterstützt wird. Die Universität bietet unter anderem Studien-gänge in Islamwissenschaft.72

Kritiker der Gülen-Bewegung in Albanien fürchten allerdings einen schleichenden Ein-griff in das Bildungssystem des Landes. 2010 gründete eine kleine Gruppe von Geistlichen,die in arabischen Ländern ausgebildet wurde, die „Liga der albanischen Imame“.73 Siebeschuldigen die Anhänger Gülens, ihre Position in den islamischen Gemeinden zu schwä-

67 Clayer, Islam und Zivilgesellschaft, 22-23; Öktem, New Islamic actors 38.68 Bei dem Kopftuch-Streit in der Türkei (verschleierte Mädchen werden durch das Kopftuchverbot daran

gehindert, zur Schule oder zur Universität zu gehen) setzte sich die Gülen-Bewegung für einen Verzichtauf das Kopftuch ein. Weibliche Mitglieder der Refah-Partei, die sich weigerten, ihre Kopftücher abzu-nehmen, um zur Universität zu gehen, kritisierten diese Haltung der Gülen-Bewegung. Mehr dazuBerna Turam, Between Islam and the State: the Politics of Engagement, Stanford: Stanford UniversityPress 2007, 115-129.

69 Albanian president hails Turkish schools in his country, in: Today's Zaman, 11. Oktober 2011; Öktem,New Islamic actors 2010, 37.

70 Krauthamer, In Albania, Madrasas.71 Ebda.72 Homepage der Beder Universität: <http://www.beder.edu.al/en/content/default/general-information-1-

2/4/135> (3.06.2013).73 Krauthamer, In Albania.

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Türkische Präsenz auf dem Balkan212

chen und ihre Eingliederung in die einheimischen Institutionen zu verhindern. VieleAlbaner haben zur Türkei und den Türken ebenfalls eine eher ambivalente Haltung, da ihrenationale Identität zum Teil in Abgrenzung zur osmanischen Geschichte konstituiert wurde.Die schrittweise Ausweitung des türkischen Einflusses an den albanischen Schulen kanndurch mehrere Umstände erklärt werden. Als die Religion in den frühen 1990er Jahren inAlbanien wieder legalisiert wurde, hatte die muslimische Gemeinschaft Albaniens, ähnlichwie andere Gemeinden in der Region, die Finanzierung, die von islamischen Organisatio-nen aus den Golfstaaten verteilt wurde, angenommen. Nach den Angriffen vom 11. Sep-tember 2001, als die USA ihren Balkanverbündeten klar machten, dass sie arabisch-muslimisch beeinflusste Netzwerke in der Region wegen ihrer angeblichen Unterstützungfür Extremisten nicht willkommen heißt, begannen die Geld-Quellen aus der Golf-Regionzu versiegen. Da es schwierig war, die islamischen Schulen allein zu finanzieren, wandtesich die muslimische Gemeinschaft Albaniens der bereits im Bereich der säkularen Schulenaktiven Gülen-Bewegung zu.

Verbreitung fand die Gülen-Bewegung auch in Bosnien-Herzegowina. Die erste türki-sche Gülen-Schule in Bosnien-Herzegowina wurde 1996 in Vraca (Nachbarort Sarajevos)eröffnet. In den folgenden Jahren wurden weitere Schulen gegründet, so dass es 2011 sie-ben Grund- und Sekundarschulen in vier Städten Bosniens gab.74 Darüber hinaus wurde inder Hauptstadt Sarajevo von türkischen Unternehmern eine Universität errichtet. ÄhnlicheTendenzen lassen sich in Makedonien erkennen, wo türkische Sekundarschulen, die soge-nannten Yahya Kemal kolej (Gymnasien) in drei mazedonischen Städten, so auch in Skopjeerrichtet wurden.75 Unterrichtet wird in diesen Schulen sowohl in Englisch als auch in denlokalen Sprachen (Makedonisch, Albanisch, Türkisch). Kennzeichnend für die türkischenKollegs ist, dass sie sich nicht nur an eine bestimmte ethnische Gruppe richten, sondernsich durch ihre Multiethnizität auszeichnen.76 In Makedonien, ähnlich wie in Rumänien undBulgarien, wird die Gülen-Bewegung durch einen lokalen Ableger der Tageszeitung Zamanrepräsentiert.77 Die makedonische Herausgabe erscheint in Türkisch, Albanisch und Make-donisch.

Eine dynamische Entwicklung lässt sich nicht zuletzt in Rumänien feststellen. 2013 gabes hier insgesamt 11 Schulen und eine Universität, die durch die Gülen-Bewegung inBukarest, Constanta, Iasi, Cluj, Timisoara, und Ploesti errichtet wurden. Fünf von ihnengehen auf das Jahr 2010 zurück.78 Im selben Jahr wurde eine internationale Universität, dieUniversitatea Europei de Sud-Est Lumina (Lumina University of South-East Europe) inBukarest gegründet. Die Universität, auch als Universitatea Lumina (Universität des Lich-tes) bekannt, gehört inzwischen zu den modernsten und am besten ausgestatteten akademi-schen Einrichtungen in Rumänien. Träger der Hizmet-Bewegung in Rumänien ist dieLumina Foundation for Education Institutions, die 1994 von türkischen Unternehmerngegründet wurde.

74 Ömer Çetres/ Zlatan Kapiç, Turkish school graduates in Bosnia now teachers at alma maters, in:Today's Zaman, 30 Dezember 2011.

75 Mesut İdriz, Balkans between two worlds: Turkey and Europe, in: Today’s Zaman, 28. Dezember 2011.76 Ebda.77 Siehe dazu: <http://www.gulenmovement.us/analysis-of-the-gulen-inspired-media-and-

publications.html> (3.06.2013).78 Links zu den Gülen-Schulen in Rumänien siehe <http://www.lumina.ro/en/calendar.html> (18.11.2013).

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Neo-bruderschaftliche türkische Netzwerke in Bulgarien 213

Türkische Netzwerke, die der Gülen-Bewegung nicht angehören, sondern durch Mit-glieder der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) unterstützt wur-den, haben zwei weitere Universitäten in Sarajevo und Skopje gegründet. Die Internationa-le Universität Sarajevos (IUS) öffnete ihre Tore im akademischen Jahr 2004/2005.Finanziert wurde die IUS durch die Stiftung für Bildung und Entwicklung, die 2001 voneiner „Gruppe von Geschäftsleuten aus der Türkei und einigen Intellektuellen aus Bosnien-Herzegowina“ gegründet wurde.79 Anlässlich der offiziellen Eröffnung der „IUS Campus“am 5. April 2010 nahmen Ehrengäste aus der Türkei teil, so unter anderem der Premiermi-nister Recep Tayyip Erdoğan sowie der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu. ImUnterschied zu den Gülen-Schulen ist das Tragen des Hidžab an der IUS nicht verboten.Ähnliches lässt sich über die Internationale Balkan-Universität feststellen, die 2006 inSkopje gegründet wurde.80 Der Austausch der Universitäten mit der Türkei kann als inten-siv bezeichnet werden. Bei aller Internationalität, die die türkischen Netzwerke in den letz-ten zehn Jahren erreicht haben, muss konstatiert werden, dass die Wertschätzung der türki-schen Kultur und Traditionen wichtige Bezugspunkte in der Tätigkeit ihrer Anhängerdarstellen.

4. Neo-bruderschaftliche türkische Netzwerke in Bulgarien

Süleymanci und NurcusAuch in Bulgarien konnten sich die neo-bruderschaftlichen türkischen Netzwerke derSüleymanci, der Nurcus und der Fethullahci etablieren. So haben Anhänger derSüleymanci-Bewegung drei Koran-Schulen sowie einige Wohnheime in Plovdiv, Šumenund Delčevo gegründet. In den von Süleymanci errichteten Wohnheimen werden muslimi-sche Jugendliche, die eine mittlere oder höhere säkulare Schule besuchen, untergebracht.Die Wohnheime funktionieren wie Internate und bieten denjenigen, die es sich wirtschaft-lich nicht leisten können, kostenlose Unterkunft und Verpflegung. In ihrer Freizeit besu-chen die Jugendlichen den islamischen Religionsunterricht. In der Regel geschieht dies auffreiwilliger Basis.81 In der Hauptstadt Sofia haben Süleymanci – ähnlich wie die Nurcussowie Anhänger der Milli Görüs – einzelne Wohnungen gemietet, in denen Studenten ausverschiedenen Universitäten, darunter auch des Obersten Islamischen Instituts, kostenloswohnen. Als „Gegenleistung“ nehmen sie an Veranstaltungen teil, bei denen Vorträge zumIslam gehalten werden.82

79 Foundation for Education Development Sarajevo, unter<http://www.ius.edu.ba/Default.aspx?PageContentID=2&tabid=29> (3.06.2013).

80 Homepage der Internationale Balkan-Universität in Skopje unter <http://ibu.edu.mk/index.htm>(3.06.2013).

81 Dies berichtete der Innenminister Cvetan Cvetanov im Oktober 2009 nach einer Untersuchung seinerBehörde. Siehe dazu Trudeset i peto zasedanie, 30. Oktober 2009, Narodno săbranie na RepublikaBălgarija, Stenogrami ot plenari zasedanija, unter <http://www.parliament.bg/bg/plenaryst/ns/7/ID/628>(09.11.2010). Dieselbe Information ergibt sich aus den Beschlüssen des Bezirksgerichts in Šumen.Siehe dazu Rešenie Nr. 92, gr. Šumen, 5. April 2013, unter<http://www.court-sh.org/os/dela/2013/0063d812_62330513.htm> (15.07.2013).

82 Trudeset i peto zasedanie.

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Die durch die Süleymanci gegründeten Wohnheime in Bulgarien mussten jedoch nachnur wenigen Jahren ihre Tätigkeit beenden. So wurde ein Wohnheim in Plovdiv 2005 durchdas türkische Unternehmen Gjunež 2004 errichtet. Drei Jahre später (November 2008)wurde es bereits wieder geschlossen.83 Gegen das Unternehmen Gjunež 2004 wurde Klagebeim Bezirksgericht in Plovdiv erhoben. Als Begründung für den Gerichtsbeschluss (24.November 2008) diente, dass das Gebäude des Unternehmens in ein Internat für türkischeStudenten umgewandelt wurde, ohne die dafür erforderliche Lizenz der zuständigen Instanzzu besitzen.84 Bei einer gemeinsamen Aktion der Staatsanwaltschaft und der Polizei wurdereligiöse Literatur in bulgarischer, türkischer und arabischer Sprache beschlagnahmt. Ob-wohl das Unternehmen nur als Handelsgesellschaft beim Plovdiver Gericht registriert wur-de, hätte es, so das Gericht, auf dem Territorium des Wohnheimes religiöse Tätigkeiten derOrganisation der Süleymanci durchgeführt. Da die Süleymanci jedoch in Bulgarien keineGenehmigung für religiöse Tätigkeit besaßen, sei dies ein Verstoß gegen das Religionsge-setz und ihre Tätigkeit somit illegal.85

Ein weiteres Wohnheim wurde in der Stadt Šumen (Nordostbulgarien) eröffnet, wobeiin diesem Fall unklar blieb, ob die Süleymanci oder die Nurcus Träger dieser Initiativewaren.86 Das Wohnheim funktionierte zwischen Ende 2010 und Anfang 2013. Als Eigen-tümer agierte das türkische Unternehmen Nova svetlina (Neues Licht), das am 17. August2010 als gemeinnütziger Verein in das Register eingetragen wurde.87 Bereits bei der Regist-rierung wurde angegeben, dass zu den Aufgaben des Vereins gehörte, sich um Studentenund Schüler in schwieriger finanzieller Situation zu kümmern, indem „Unterkunft, Verpfle-gung, ärztliche Behandlung sowie Lehrmaterial zur Verfügung gestellt würden“.88 Zu die-sem Zweck wurde ein Gebäude im Zentrum von Šumen gemietet, in dem Anfang 2013zwanzig Jugendliche wohnten. Im März 2013 beendete das Bezirksgericht in Šumen dieTätigkeit der Vereinigung wegen „grober Verletzungen des Religionsgesetzes“. Laut desGerichtsbeschlusses, der auch im Internet veröffentlicht wurde, hatte die Vereinigung reli-giöse Aktivitäten durchgeführt, ohne dazu berechtigt zu sein.89 Auf eine Anfrage der Direk-tion für religiöse Angelegenheiten im Dezember 2011 teilte das Muftiamt mit, dass dortnicht bekannt gewesen sei, dass im Studentenwohnheim Religionsunterricht durchgeführtwürde, d.h., dass in diesem Fall keine Zustimmung seitens der Verwaltung der bulgarischenMuslime vorgelegen habe. Dass das Muftiamt grundsätzlich bereit war, die Tätigkeit desWohnheimes zu unterstützen, zeigte sich jedoch dadurch, dass im Februar 2013 ein Vertragzwischen dem Geschäftsführer des Wohnheims und dem Muftiamt abgeschlossen wurde.Dieser Vertrag wurde vom Gericht aber nicht mehr berücksichtigt. Der Beschluss (5. April

83 Razobličiha islamisti radikalisti, maskirani kato tărgovci, in: Bankera vom 02. April 2008.84 Siehe dazu Sădat v Plovdiv zakri firma zaradi propovjadvane na isljama, in: Praven svjat, 22 Dezember

2008; Nelegalni sekti dejstvat pod prikritieto na fondacii, in: Novinar, 07. August 2008 sowieRazobličiha islamisti.

85 In diesem Fall lag keine Zustimmung durch das Muftiamt vor. Da die Süleymanci als religiöse Gemein-schaft in Bulgarien nicht registriert sind, können sie nach den geltenden Regeln des Religionsgesetz(Artikel 27 Absatz 2) keine selbständige religiöse Tätigkeit in der Öffentlichkeit ausüben.

86 Misterija okolo gradež na pansion, in 24 časa vom 10. Februar 2011.87 Siehe dazu: Rešenie Nr.92, gr. Šumen.88 Rešenie Nr.92, gr. Šumen.89 Rešenie Nr.92, gr. Šumen.

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Neo-bruderschaftliche türkische Netzwerke in Bulgarien 215

2013) lautete, dass „die Vereinigung Nova svetlina nicht in Übereinstimmung mit demArtikel 27 Absatz 2 des Religionsgesetzes gehandelt habe, da sie nicht registriert sei unddamit kein Recht auf öffentliche Ausübung der Religion besessen habe.“

Neben den erwähnten Wohnheimen betreiben die Süleymanci noch religiöse Schulen.Solche Schulen gab es in den Dörfern Bilka, Ljulyakovo und Delčevo. Diese Medresenbesassen nicht den Status einer unabhängigen juristischen Person und standen unter derVerwaltung des Muftis in der Aitos- und der Razgrad-Gemeinde.90 In ihnen wurden Kursezur Koran-Rezitation angeboten, deren Dauer (gewöhnlich am Wochenende oder in denSommermonaten) vom Schulbesuch der Teilnehmer abhängig war. Der bedeutenste Bil-dungskomplex der Süleymanci befand sich im Dorf Delčevo (Nordostbulgarien) und standunter der Verwaltung des regionalen Muftiamtes von Razgrad. Delčevo ist auch der Ge-burtsort des Gründers der Bewegung, des Naqschbandi-Scheichs Süleyman Hilmi Tunahan(gest. 1959). Süleyman Hilmi Tunahan wurde dort 1888 geboren, bevor er nach dem Ab-schluss der Medrese nach Istanbul ging und dort seine Bewegung gründete. Nach der politi-schen Wende kamen einige Anhänger der Bewegung nach Bulgarien und eröffneten inDelčevo 2000 eine Koran-Schule. Einer von ihnen, Sajfettin Alkan, führte in einem Inter-view für die Juli-Ausgabe der Zeitschrift Mjusjulmani im Jahr 2000 aus: „Der Grund wa-rum wir hier einen Korankurs eröffnen und eine Moschee bauen, ist unser Lehrer. Wirmöchten, dass sein Werk, das seinen Ursprung in Ferhatlar [Delčevo] nahm, wieder hierankommt.“91

Die Schule in Delčevo wurde auf dem vakuf-Eigentum des regionalen Muftiamts vonRazgrad neben der Moschee gebaut. Von 2002 bis Ende 2004 wurde sie intensiv genutzt,wobei die dort angebotenen Korankurse mit Zustimmung des Muftiamtes durchgeführtwurden. Die Lehrer kamen vorwiegend aus der Türkei.92 Seit 2004 finden in Delčevo keineKorankurse mehr statt und ein Teil des Gebäudes wurde in ein Wohnheim umfunktioniert,an dem Kurse für Hafuzen (Memorieren des Korans) angeboten werden.93 Finanziert wurdedas Wohnheim durch die „Vereinigung für Kultur, soziale Integration und Unterstützung –Sjulejmanija“, die 2005 im selben Dorf gegründet wurde.94

2010 lebten im Wohnheim von Delčevo 25 Jungen und 6 Mädchen, die dort freie Un-terkunft und Verpflegung nutzten.95 Die Jugendlichen besuchten verschiedene säkulareSchulen in Isperih, abhängig von ihrem Alter waren dies eine Grundschule oder ein Gym-nasium. Das Wohnheim verfügte insgesamt über eine gute Ausstattung. Da die meisten derSchüler aus armen Familien kamen, dürfte der Unterschied zwischen dem Elternhaus undden Bedingungen des Wohnheims gewaltig gewesen sein. Zugleich war das Leben dort vonstrenger Disziplin gekennzeichnet. Es gab keinen Fernseher, kein Internet und den Schülernwar nicht erlaubt, Freizeit in Delčevo zu verbringen. Nach der Schule fand in der Regel

90 Interview mit dem Sekretär des Muftiamtes, Hjusein Hafazov, am 16. Juni 2009.91 Taner Topču, Kolko štastlivi hora ste, in: Mjusjulmani, Juli 2000.92 Gjuljumser Jusufova, Isljamskoto religiosno obrazuvanie v prehoda kăm demokracijata, in: Godišnik na

Visšija Islamski Institut, Sofia 2011, 215-236, 230.93 Unabhängig von der Tätigkeit der Süleymanci finden seit 2005 in dem Bildungskomplex von Delčevo

auch Weiterbildungskurse für Imame statt, die durch das Muftiamt organisiert werden. Mehr dazu siehe„Islamische Bildungseinrichtungen“.

94 Razgradski okrăžen săd. Firmeno delo 146/2005, grad Razgrad.95 Forschungsaufenthalt in Delčevo im Oktober 2010.

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Religionsunterricht statt. Die Lebensbedingungen und die Erziehung im Wohnheim vonDelčevo machten dabei deutlich, wie ambivalent solche Einrichtungen sind. So bekameneinerseits die Jugendlichen die Möglichkeit, Schulen in der Umgebung zu besuchen. Ihnenwurde neben der Betreuung eine kostenlose Unterkunft und Verpflegung zur Verfügunggestellt, die sich ihre Familien sonst nicht leisten konnten. Andererseits kann das Wohn-heim des Bildungskomplexes Delčevo als „goldener Käfig“ bezeichnet werden, in demneben Disziplin und konservativer Moral, vor allem die Option bestand, sich dem Erlernendes Korans zu widmen. Viele der betroffenen Familien waren dennoch zufrieden, dass „diereichen Sponsoren aus der Türkei für ihre Kinder sorgen.“96 So berichtete der Großvatervon Birsjad, eines zwölfjährigen Jungen aus dem Dorf Jarebica in einem Interview fürMonitor, dass er überzeugt sei, den besten Platz für seinen Enkel gefunden zu haben:

„Wir sind über die Arbeit der Schule informiert. Die Kinder werden dort gut unter-richtet – in Arabisch, in Religion und sie können andere Schulen besuchen“ – er-zählte der Großvater – „Das ganze Jahr mache ich mir deshalb keine Sorgen. DasGeld?“ – fuhr er fort – „Das Geld kommt von wohlhabenden Geschäftsleuten ausder Türkei.“97

Die Großeltern, die den Jungen allein großzogen, planten auch weiterhin seine Ausbildungan einem ähnlichen Internat in der Türkei fortzusetzen.

Anfang September 2012 wurde das Wohnheim in Delčevo geschlossen. Die Jugendli-chen, die dort lebten, würden – so der Beschluss des Gerichts – nur über einen Vertrag mitden Erziehungsberechtigten im Wohnheim untergebracht, ohne dass die Leiter der Einrich-tung eine Lizenz zu solchen sozialen Dienstleistungen besäßen. 98

Reaktionen in der PresseObwohl in allen oben erwähnten Fällen der Schließung von Internaten die Beschlüsse derGerichte der Öffentlichkeit zugänglich waren und sogar einige von ihnen im Internet veröf-fentlicht wurden, war die Berichterstattung in der bulgarischen Presse eher einseitig undselektiv.99 Insbesondere nationalistisch orientierte Presseorgane, an deren Spitze die Zeit-schrift Ataka stand, vermittelten in Bezug auf die Internate sowie die hinter ihnen stehendenOrganisationen ein bedrohliches Bild. So bezeichnete die nationalistisch geprägte ZeitungPodzemna medija die Organisation der Süleymanci als „eine radikal-islamistische Sekte“,die „nahe der Muslimbruderschaft steht und ihre Hochburg im Dorf Delčevo, Razgrad-Gemeinde, hat“.100 „Diese radikal-islamistische Sekte in Delčevo“ – so die Zeitung – „istam ungeklärten Tod eines Jungen, der die Imam-Schule besuchte, beteiligt“.101 „Mehr undmehr solcher Schulen werden gegründet und sind oft ein Deckmantel für islamische Sekten,

96 Vgl. Diljana Dinčeva, Učilišteto v Delčevo – zatvor za deca, in: Monitor vom 09. August 2004.97 Ebda.98 DANS trăgna po dirite na isljamsko učilište, in: Standart vom 03. Oktober 2012; DANS razsledva

isljamsko učilište, in: 24 časa vom 03. Oktober 2012.99 Informationsquelle sind die Internetausgaben der bulgarischen Tages- und Wochenpresse (Dezember

2008, Oktober 2009, Mai-August 2010 und Mai 2013).100 Radikalna isljamistka sekta ubi dete, in: Podzemna medija, 25. August 2010, unter

<http://mishenabg.blogspot.de/2010/08/blog-post_6938.html> (12. Juli 2013).101 Ebenda.

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deren Ziel ist, die lokale Bevölkerung zu radikalisieren.“ – kommentierte auch Ilijan Iliev,ein Abgeordneter der nationalistischen Partei Ataka hinsichtlich des Internats in Šumen fürdie News.bg.102

Borislav Stojanov, ehemaliges Mitglied der nationalistischen Fraktion im Parlament, be-fasste sich ebenfalls mit den „Nurcus (bulg. Nurdžu), Süleymanci und Milli Görüs“ undbezeichnete sie am 17. Mai 2010 als „Sekten, die durch ihre mehr oder weniger radikaleHaltung bekannt sind“. Er wies darauf hin, dass Vertreter der nationalistischen Ataka wie-derholt vor den Aktivitäten der Nurcus gewarnt haben, die in keiner Weise unterschätztwerden dürften. Letztendlich sei die ungehinderte Ausbreitung von radikalen islamistischenIdeen unter Jugendlichen eine Zeitbombe, die die ganze Gesellschaft in die Luft sprengenkönnte.103 Slavi Binev, bulgarischer Politiker und Europaabgeordneter für die Partei Ata-ka,104 warnte auf den Seiten der von ihm herausgegebenen elektronischen Zeitung Istinskitenovini am 5. Oktober 2009 vor „extremen islamistischen Sekten, die ungestraft Studentenin Ost-Bulgarien werben“.105 Er begleitete dabei seinen Kommentar mit einem Foto, dasnur wenig Zweifel an der Bedrohung, die durch diese „Sekten“ entsteht, aber auch Zweifellässt, ob es wirklich in Bulgarien entstanden ist.106

Auch Zeitungen, die nicht zum nationalistischen Spektrum gehören, vermittelten partiellverzerrte Bilder. So informierte die drittgrößte bulgarische Wochenzeitung 168 časa ihreLeser am 09. Mai 2013 unter dem Titel „In Sekten des radikalen Islam werden Kinder zuTode geschlagen“, dass „radikale islamische Sekten, die einen militarisierten Islam predi-gen, verstärkt Pensionen für Schüler im Nordosten Bulgariens bauen“.107 Im Artikel hieß esweiter: „Beim Muslimischen Geistigen Rat108 gehen laufend Hinweise auf geschlageneKinder ein, die Schwierigkeiten beim Lernen des Korans haben“. Als „Schläger“ werdendie Leiter der Pensionen, die sogenannten Scheichs genannt. „Bei uns sind Informationenüber mindestens drei geschlagene Schüler, die fast bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefertwurden, eingegangen.“ – „bestätigt“ Nikolai Pankov. Nikolai Pankov, der als ein „Expertefür ethnische und religiöse Fragen“ von der Zeitung 168 časa bezeichnet wird, ist keinanderer, als der ehemalige Generalsekretär des konkurrierenden Teams des Muftiamtes vonNedim Gendžev. „Die Atmosphäre in den Pensionen ist deprimierend.“ – fügte Pankovhinzu. – „In der Türkei sind diese Sekten, die in Bulgarien die Besitzer der Pensionen sind,verboten. Dort werden solche Koranschulen geschlossen, da ihre Aktivitäten als extremis-tisch und zur Gewalt anstiftend eingeschätzt werden“. Ein anderer Experte, der ArabistVladimir Čukov, kommentierte ebenfalls für die „168 časa“: „Diese Sekten sind ähnlicher

102 Mjusjulmanskite školi – prikritie za isljamski sekti, in: news.bg, 09. Oktober 2008, unter<http://news.ibox.bg/news/id_570639936> (12. Juli 2013).

103 Borislav Stojanov, Turski sekti sejat radikalen islam v bălgarskite učlišta, in: Ataka vom 17. Mai2010.

104 Slavi Binev wurde 2007 als Mitglied des Europäischen Parlaments für die nationalistische ParteiAtaka gewählt. Nach der Europawahl 2009 bekam er eine zweite Amtszeit als unabhängiger Europa-abgeordneter. Im Februar 2012 gründete er die Bürgerbewegung für reale Demokratie (GORD).

105 Kraini islamistki sekti atakuvat beznakazano učenici v izočna Bălgarija, in: Istinskite novini, 5.Oktober 2009, unter <http://newsletter.slavibinev.com/> (12. Juli 2013).

106 Ebenda.107 Prebivat deca v sekti za radikalen islam, in: 168 časa vom 09. Mai 2013.108 Geleitet vom ehemaligen Obermufti Nedim Gendžev.

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Art wie die Muslimbrüder, in ihrer radikalen Variante. Sie stehen auch nah zu der Partei,die in Ägypten, Libyen und Kuwait an der Macht ist.“109 Ohne zu konkretisieren, wer genaudamit gemeint ist, schloss die Autorin, Galina Ganeva, den Artikel mit folgenden Worten:„Experten in religiösen Fragen behaupten, dass Ziel dieser Sekten ist, eine riesige Armeevon jungen Menschen zu organisieren, die von den Ideen des radikalen Islam geblendet,bereit sind, im Namen ihrer Ideologie Gewalt anzuwenden.“110

Weitere neutrale Zeitungen wie die Zeitschrift der bulgarischen Juristen, Legalworld.bg,und die regionale Zeitung von Dobrič, Nova dobriudžanska tribuna, berichteten im Dezem-ber 2008 wörtlich nahezu identisch, dass im Plovdiver Internat, das durch die türkischeFirma Güneš 2004 errichtet wurde, religiöse Ausbildung im „extremen Islamismus“ vorge-sehen war. Die Süleymanci wurden dabei als Sekte dargestellt, die „die säkulare Bildungablehnen und die Polygamie nicht verbieten.“111 Die Nova dobriudžanska tribuna fügtenoch hinzu, dass „nach ihren Doktrinen kranke Menschen nicht behandelt werden dürfenund generell die Süleymanci einen extremen Islamismus verkünden“.112 Als letztes Beispielkann auf die wirtschaftsorientierte Zeitung Bankeră vergewiesen werden, die am 02. April2008 über das „islamische Zentrum für religiöse Ausbildung in Plovdiv“ berichtete undsich bereits am Tag, an dem die Bezirksstaatsanwaltschaft und die Polizei das Internat inPlovdiv durchsuchten und Bände mit islamischer religiöser Literatur beschlagnahmten,sicher war, dass diese Literatur „einen ziemlich radikalen Inhalt hatte.“113

HakikatEine weitere islamisch-türkische Gruppierung, die in der mystischen Tradition derNaqschbandiyya wurzelt, sich jedoch von den neo-bruderschaftlichen Netzwerken derSüleymanci, der Nurcus und der Fethullahci strukturell wie auch ideologisch unterscheidet,ist die Hakikat (göttliche Wahrheit). Diese in Adapazari (Westanatolien) ansässige Ordens-gemeinschaft kann zugleich als Beispiel für eine da`wa dienen, die sowohl nach innen (zuden Muslimen) als auch nach außen (an die Nicht-Muslime) gerichtet ist.

Leiter dieses Sufi-Ordens war bis 2010 Scheich Ömer Öngüt (gest. 2010). Ömer Öngütwurde 1927 in Jenipazar (heute Novi Pazar, Serbien) geboren und ist ein Enkel desNaqschbandiyya-Scheichs Ahmed Efendi. Im Jahr 1936 zog Ömer Öngüt nach Adapazari

109 Es ist keine Undeutlichkeit der Übersetzung, der Satz wurde wörtlich so formuliert. Vladimir Čukovist Dozent und Forscher auf dem Gebiet der Politik des Nahen Ostens und des Islam. Er hat an re-nommierten bulgarischen Universitäten wie der Sofioter Universität Kliment Ohridski, der NeuenBulgarischen Universität und an der Freien Universität Varna unterrichtet. Zwischen 1995–1998 warer Chefredakteur der Zeitschrift „Internationale Beziehungen“. 1999 hat Čukov die Nichtregierungs-organisation „Bulgarisches Zentrum für Erforschung des Mittelostens“ und im Jahr 2002 das „Zent-rum für regionale und konfessionelle Forschung“ mitbegründet. Es besteht kein Zweifel, dass seineExpertise auf Gehör eines breiten Publikums in Bulgarien stößt.

110 Prebivat deca.111 Sădat v Plovdiv zakri firma zaradi propovjadvane na isljama, in: Praven svjat, 22. Dezember 2008.112 Zabranena mjusjulmanska sekta v Turcija pravi medrese v Trevel, IDT Dobrič vom 24. April 2007.113 Razobličiha islamisti radikalisti, maskirani kato tărgovci, in: Bankera vom 02. April 2008. Es gab

eine Reihe von Zeitungen wie 24 časa, Monitor oder Ekip7, deren Berichterstattung sich an denSachverhalten orientierte. Es fiel jedoch auf, dass Informationen sich fast wörtlich wiederholten. Einewiederhte Aussage war, dass die Süleymanci die säkulare Ausbildung ablehnen, was – wie obenbereit aufgezeigt – nicht der Realität entspricht.

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Neo-bruderschaftliche türkische Netzwerke in Bulgarien 219

(Türkei). Seine Aktivitäten als Prediger begannen 1950 in der türkischen Stadt Düzce, als erNachfolger des Scheichs Khalil Fevzi wurde.114 In den 70er Jahren des 20. Jahrhundertsfingen die Anhänger Öngüts an, seine Predigten zu veröffentlichen, so dass bislang mehrals 20 Bände und viele einzelne Broschüren erschienen sind. Die Ordensgemeinschaft ver-fügt über einen eigenen Verlag, den Istanbuler Hakikat Kitaberi. Dieser ist mit zahlreichenSchriften in elf Sprachen (auch in Bulgarisch und Bosnisch) im Internet vertreten.115 SeitAugust 1994 wird die türkischsprachige, monatlich erscheinende Zeitschrift Hakikat her-ausgegeben.116

Hakikat präsentiert sich als eine „Schule für religiöse Aufklärung“, die es sich zum Zielgesetzt hat, den Islam zu verbreiten.117 Kennzeichnend für die Lehre des Ordens ist dieEinstufung der Nicht-Muslime als Ungläubige und deren Ablehnung. So vertreten die An-hänger Öngüts die Meinung, dass die heutigen Juden und Christen nichts mit dem wahrenGlauben zu tun haben, weil sie die göttliche Botschaft aufgegeben und zu Atheisten gewor-den sind. Im Februar 2005 hatte die Istanbuler Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegenÖngüt eingeleitet, nachdem er eine fatwa (islamisches Rechtsgutachten) veröffentlichthatte. Darin wurden diejenigen, die Organtransplantationen zustimmen, als Ungläubigebezeichnet.118 Aus der Homepage Öngüts ergibt sich, dass Öngüt mit anderen religiös-politischen Strömungen der Türkei hart ins Gericht geht. So äußerte er sich verächtlichsowohl über die Anhänger der Refah Partisi und der Milli Görüs-Bewegung als auch überdie Nurcus und die Süleymanci. Er lehnte den „falschen Kalifen“ Cemaleddin Kaplan ab.119

In Bulgarien verbreiteten sich die Ideen des Scheichs Ömer Öngüt nur begrenzt untereiner kleinen Gruppe von bulgarischen Türken in der Stadt Haskovo (Südbulgarien).Hauptfigur des Ideen-Transfers in Bulgarien war der im Dorf Kozlec (Haskovo-Gemeinde)lebende bulgarische Türke, Kadir Kadir. Während seiner Aufenthalte in der Türkei hatteKadir im Jahr 2006 Kontakte zum türkischen Hakikat aufgenommen und begann sich fürdie Schriften des Ordens zu interessieren. Zwischen 2006 und 2009 versuchte er unterMoschee-Besuchern in Haskovo Literatur des türkischen Hakikat zu verteilen und für dieIdeen des Scheichs Öngüt zu werben. Ihm gelang es schließlich, eine kleine Gruppe vonAnhängern um sich zu einen.120 Darüber hinaus übersetzte der Istanbuler Verlag HakikatKitaberi die Bücher „Namaz kitab“ und „Glaube und Islam“ ins Bulgarische.121 Insbeson-

114 Ömer Öngüt und seine Werke, unter: <http://www.hakikat.com/alm/almana.html> (12.07.2013).115 Siehe dazu: die Homepages des Hakikat-Verlag: <http://www.hakikatkitabevi.net/books.php> sowie

<www.hakikat.com>. Veröffentlichungen in bulgarischer und bosnischer Sprache finden sich unter<http://www.hakikatkitabevi.com/default.htm> (12.07.2013).

116 Auch in Deutschland kursierte Anfang 2005 eine Broschüre des Istanbuler Verlags, die den Titel„Einladung an die Christen zur Rechtleitung und wahren Erlösung“ trug. Siehe dazu: Verbreitung ei-ner Propagandaschrift islamistischer Tendenz in Baden-Württemberg, unter<http://www.verfassungsschutz-bw.de> (14.06.2012).

117 Godina uslovno za radikalen islam, in: Trud vom 08. August 2012.118 Felix Körner, Kirche im Angesicht des Islam. Theologie des interreligiösen Zeugnisses, Stuttgart:

Kohlhammer 2008, 20-21.119 Homepage der Hakikat: <http://www.hakikatkitabevi.net/> (12.07.2013).120 Godina uslovno; VKS potvărdi prisădata nad obvinenija v radikalen islam ot s. Kozlec, in: Darik

Haskovo vom 7 August 2012.121 Die Bücher sind auch im Internet einsehbar, unter

<http://www.hakikatkitabevi.com/bulgarian/bulgarian.htm> (05.07.2012).

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dere das Buch, „Glaube und Islam“, ist an die bulgarischen Muslime gerichtet, wobei dieje-nigen, die sich nicht an die Vorschriften des Islam halten, als Ungläubige gebrandmarktwerden.122 In der Einleitung des Buches ist zu lesen:

„Falls ein Muslim sich nicht an die Vorschriften des Islam hält, soll ihm erklärt wer-den, dass dies zu Irrtum und Unglaube führt. Es ist unsere Pflicht ihn darauf hinzu-weisen, dass er davon ablassen soll und bereuen soll. Falls derjenige den Ratschlagnicht annimmt, dann wird klar, dass dieser Mensch ein murted [Abtrünniger] ist.Auch wenn er das rituelle Gebet durchführt und eine Pilgerfahrt nach Mekka unter-nimmt, kann er sich vom großen Unglück nicht mehr schützen. Bis er nicht aufhört,auf seinen Unglauben zu beharren und es nicht bereut, kann er kein Muslim sein.“123

Ebenfalls in der Einleitung auf Seite 3 wird ausgeführt:

„Wenn eine verheiratete Frau die Besonderheiten des islamischen Glaubens nichtkennt, dann ist ihre Ehe aus der Sicht des islamischen Glaubens ungültig. Sie wirdzu einem murted“.124

Sogar ein muslimisches Kind, das

„die sechs Bedingungen des Glaubens laut der Scharia nicht kennt, ist dazu ver-pflichtet, die Verbote der Scharia zu lernen. Wenn das Kind sich an keinen wendenkann, um mehr zu erfahren, so ist es seine farz [Pflicht], nach weiteren Informati-onsquellen zu suchen. Falls das Kind nicht sucht, wird es zum Ungläubigen. Wäh-rend der Suche ist sein Unwissen entschuldigt. Wer jedoch seiner farz nicht rechtzei-tig nachgeht und Sünden begeht, wird in der dženema [der Hölle] gefoltert.“125

Diese aggressive Botschaft der Hikikat-Lehre dürfte für die Mehrheit der Muslime inHaskovo mehr als realitätsfern sein, denn mit wenigen Ausnahmen, sind die Türken in derHaskovo-Gemeinde entweder säkular oder sie pflegen einen lockeren Umgang mit denislamischen Vorschriften. Es soll mehrmals zu Streitigkeiten zwischen den Moschee-Besuchern und anderen Beteiligten einerseits und der Gruppe um Kadir gekommen sein.126

Der Vorstand der Haskovo-Moschee hat sich ebenfalls von der Gruppe der Hikikat-Anhänger distanziert und forderte Kadir Kadir auf, seine Propagandaaktivitäten zu been-den. Schließlich reichte das regionale Muftiamt von Haskovo eine Anzeige gegen Kadir beider Staatsanwaltschaft ein.127

Am 11. Juli 2012 verurteilte das oberste Kassationsgericht Kadir Kadir wegen „Verbrei-tens radikalen Islam und religiöser Hetze“ zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, die zurBewährung ausgesetzt wurde.128 Dem Urteil lässt sich auch entnehmen, dass er sich an derVerteilung von Literatur des türkischen Hakitat beteiligt hatte, die einen Aufruf zum

122 Vjara i Isljam, Bagdadskim Mevljana Halidom, zweite Auflage, Fatih-Istanbul 1999, ersichtlichunter: <http://www.hakikatkitabevi.com/bulgarian/Blgiman.pdf> (05.07.2012).

123 Ebda., 2.124 Ebda., 3.125 Ebda., 4.126 Interview mit dem Imam der Moschee von Haskovo, November 2011.127 Ebda.128 Godina uslovno; VKS potvardi prisădata.

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„Dschihad“ beinhaltete. Im bulgarischen Kontext stellte das Urteil einen Präzedenzfall dar.Bis zu diesem Datum (7. August 2012) wurde keine rechtskräftige Verurteilung wegen„Vertreten radikalen Islams sowie des Aufrufs zum Dschihad“ durch ein bulgarisches Ge-richt ausgesprochen.

Auch die Vertreter des Muftiamtes in Sofia distanzierten sich von der Bewegung. Sohatte Ibrahim Jalamov, Rektor des Obersten Islamischen Instituts und Mitglied mehrererGremien in der Verwaltung der bulgarischen Muslime, ein Gutachten für den Gerichtspro-zess erstellt. Aus dem Studium der Literatur des Ordens, die bei Kadir Kadir gefundenwurde, ergab sich für Jalamov, dass der Sufi-Orden Hakikat große Feindseligkeit gegenüberden anderen Religionen, vor allem gegenüber den christlichen und jüdischen, hegte. AlleReligionen außerhalb des Islam, der vom Hakikat vertreten wird, würden abgelehnt. DieIdee des Dialogs und der Toleranz gegenüber Nicht-Muslimen würde zurückgewiesen,stellte Jalamov fest.129

Die Gülen-Bewegung in BulgarienDie Gülen-Bewegung ist in Bulgarien seit 1992 durch die Zeitung Zaman vertreten (Stand2013).130 Die Zeitung erscheint in bulgarischer und türkischer Sprache und beinhaltet nebenBerichten zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen aus dem In- und Aus-land auch Texte von und über Fethullah Gülen. Darüber hinaus betreiben die Fethullahcieine eigene Homepage in bulgarischer Sprache.131 Hier werden unter anderem übersetzteBücher und Artikel Fethullah Gülens zur Verfügung gestellt.

Anhänger der Bewegung haben seit 1999 insgesamt drei türkische Privatschulen undzwei Ausbildungszentren in Sofia und in Plovdiv – alle unter dem Name Družba (Freund-schaft) – gegründet.132 Zuerst wurde das private Gymnasium Družba in der HauptstadtSofia (Wohnviertel Bankja) eröffnet. Die Schule wurde durch einen Beschluss des Ministe-riums für Bildung und Wissenschaft vom 05. Juli 1999 genehmigt und umfasst die Schul-stufen der 8. bis zur 11. Klasse. Sie ist profiliert, mit intensivem Studium der englischenSprache sowie mit einem Schwerpunkt auf Naturwissenschaften und Wirtschaft. Seit 2005wurde im selben Bildungskomplex in Sofia die weitere private Grundschule Družbaerrichtet.133 Sowohl das Gymnasium als auch die Grundschule werden mit privaten Mittelnfinanziert.134 Sie verfügen über eine gute Ausstattung. Sommerschulen in der Türkei, inEngland und in den USA werden angeboten. Eine Schuluniform ist obligatorisch. Die Ge-bühren betragen zwischen 2.000 und 2.600 Euro jährlich. Eine weitere türkische Privat-schule, die die Klassenstufen 1. bis 7. sowie die Oberstufe bis zur 12 Klasse umfasst, wurde

129 Godina uslovno.130 Homepage der bulgarischen Herausgabe der Zeitung Zaman: <http://zaman.bg/bg/> (17.06.2013).

Die Zeitung Zaman stellte ihren Betrieb in Bulgarien zum 22. August 2016 ein. In der Türkei istZaman gemeinsam mit zahlreichen anderen Gülen-nahen Medien nach dem Putschversuch Mitte Juli2016 per Dekret geschlossen worden. Wieweit und ob sich die Gülen-Bewegung in Südosteuropaweiterhin behaupten kann, ist hier nicht mehr Gegensand der Arbeit.

131 Homepage der Gülen-Bewegung in bulgarischer Sprache: <http://bg.fgulen.com/> (17.06.2013).132 Homepage der privaten türkischen Schulen Družba: <http://www.drujba.org/> (17.06.2013).133 Seit 2008 sind die beiden Schulen auf einen neuen Campus in das Wohnviertel Obelja in Sofia umge-

zogen.134 Ein Teil der Mittel kommt von der Bulgarisch-türkischen demokratischen Stiftung.

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2006 in Plovdiv, der zweitgrößten Stadt Bulgariens, eröffnet.135 Parallel dazu gibt es zweiprivate, durch Gülen-Anhänger gegründete Ausbildungszentren. Das erste wurde 2004 inSofia und das zweite 2006 in Plovdiv errichtet.136 Ihre Haupttätigkeit ist die Organisationvon Intensiv-Kursen in Englisch, Bulgarisch, Türkisch und in Informationstechnologie.

In der Öffentlichkeit sind die oben erwähnten Bildungseinrichtungen jedoch eher als„englische“ denn als „türkische“ Schulen bekannt. Wegen der hohen Gebühren und desqualifizierten Lehrerpersonals besitzen sie den Ruf einer Elite-Schule.137 Sowohl unter denLehrern als auch unter den Schülern finden sich selten türkische Namen. Dies deutet daraufhin, dass die Schulen für alle ethnischen Gruppen im Land offen sind und auch von Schü-lern ohne türkischen Hintergrund besucht werden.

Unabhängig von diesen Bildungseinrichtungen ist der Name Fethullah Gülen vielenBulgaren nur wenig bekannt. Bislang waren es vorwiegend einzelne bulgarische Intellektu-elle, die ins Bulgarische übersetzte Werke Gülens in der Öffentlichkeit zu popularisierensuchten.138 Darüber hinaus strahlte das TV Varna im November 2011 und September 2012zwei Dokumentationen, die den Titel „Die Legende Fethullah Gülen“ trugen, aus.139 ZurPopularisierung der Gülen-Ideen trugen vor allem Vertreter nationalistischer Gruppierun-gen sowie Mitglieder nationalistisch orientierter Parteien bei. Ihre Beiträge unterscheidensich jedoch von den oben erwähnten deutlich. So sprach Borislav Stojanov, Mitglied dernationalistisch-populistischen Partei Ataka, während der fünfunddreißigsten Sitzung desbulgarischen Parlaments am 30. Oktober 2009 über das „Eindringen von extremen islami-schen Sekten in Bulgarien und ihre Propaganda für gefährliche radikale Ideen“. Er bezogsich auch auf die „türkische Sekte“ Nurcu und beschrieb sie mit folgenden Worten:

„Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass der Anführer dieser Sekte, FethullahGülen ist, der auch unter dem Spitznamen ‚islamischer Baron‘ bekannt ist. FethullahGülen ist eine Person, die sogar in der Türkei Probleme hat, wo er in den letzten Jah-ren im Gefängnis saß und gezwungen wurde, Zuflucht in den Vereinigten Staaten zusuchen. Immer wieder kündigte Gülen an, dass das Endziel seiner Organisation ist,ein Weltkalifat unter der Herrschaft der Scharia zu schaffen.“140

Stojanov stellte anschließend eine Frage an den Innenminister, Cvetan Cvetanov, die wiefolgt lautete:

„Ist das Innenministerium über die Arbeit dieser Sekte, die extrem gefährliche radi-kale Ideen verbreitet, und zwar unter einer sehr anfälligen Gruppe, den Jugendli-

135 Siehe dazu: <http://plv.drujba.org/> (17.06.2013).136 Homepage der privaten Schulen Družba: <http://www.drujba.org/>.137 Siehe u.a.: 600 deca ot častnite gradini i učilišta čakat daržavnata subsidija , in: Marica vom 03. Juli

2013.138 So wurde zum Beispiel das „Unendliche Licht“ von Fethullah Gülen am 28. April 2006 an der

Universität Sofia durch Akademiker einem kleinen Publikum vorgestellt. Ähnliches lässt sich überGülens Buch „Liebe und Toleranz“ sowie den Sammelband „Meinungen und Perspektiven“, die beiliterarischen Abenden in Šumen präsentiert wurden, feststellen. Siehe mehr dazu<http://bg.fgulen.com/content/view/545/4/> (17.06.2013).

139 Dokumentalnija film „legendata Fethullah Gülen‘ otnovo na ekran, 21. September 2012 unter<http://bg.fgulen.com/content/view/545/4/>.

140 Trudeset i peto zasedanie.

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chen, informiert? Welche Maßnahmen hat es vor zu ergreifen, um ihre Tätigkeit inder Republik Bulgarien zu stoppen, da ihre Tätigkeit eine Bedrohung für die natio-nale Sicherheit darstellt?“141

Auch der nationalistisch orientierte Fernseh-Sender Skat TV widmete sich der „islamischenSekte Nurcus“.142 Sie wurde als eine „separatistische Organisation“ dargestellt, die an vie-len Orten der Welt verboten sei. In Bulgarien setzte sie ihre Aktivitäten jedoch ungehindertfort. In der Reportage ging es dabei um die säkularen Schulen Družba in Sofia und Plovdiv.143

Unter den bulgarischen Muslimen denen die Gülen-Bewegung bekannt ist, gibt es ins-gesamt eine positive Einstellung. Einige Ausschnitte aus dem Forum Politik der musli-misch-pomakischen Website www.pomak.eu zum Thema „Zeitung Zaman“ vom März 2010können als Beispiel dafür dienen. So teilte der bulgarische Muslim, Akif Aliev, aus derStadt Kazanlak am 24. März 2010 mit:

„Die Zeitung Zaman wird in vielen Ländern herausgegeben und hinter ihr stehendie sogenannten Nurcus von ‚nur‘-Licht. Die Nurcus bemühen sich insbesondere da-rum, den Jugendlichen eine gute Erziehung zu geben, indem sie neben Wissen auchislamische Werte vermitteln, die den Erfordernissen der Gegenwart entsprechen. Siebauen Schulen überall in der Welt, so in Europa, Afrika und Asien, wobei ihre Schu-len zu den renommiertesten gehören. Die Ausbildung in ihnen wird von den Schü-lern bezahlt und der Unterricht findet in mehreren Sprachen von gut ausgebildetenLehrern statt. Die Schüler sprechen garantiert Englisch und zumindest noch eineweitere Sprache, was sie wettbewerbsfähig macht. Zugleich bekommen sie eine guteErziehung, ohne dass ihnen muslimische Identität aufgedrängt wird. Diejenigen, dieüber den Islam nichts wissen wollen, müssen dies auch nicht. Indem diese Schülermit muslimischen Kindern zusammen lernen, erhalten sie jedoch eine Erziehung, dienur wenige Gesellschaften heute noch anbieten können. In Bulgarien gibt es einesolche Schule in Bankja [seit 2008 Obelja, J.T.-S.], die Aufnahme dort ist jedochsehr unsicher. Vielleicht ist heutzutage dies die beste, die vernünftigste und die de-mokratischste Form des Islam, bei der keiner dir etwas aufdrängt, aber auch Dirnicht erlaubt, den anderen irgendwas aufzudrängen, nur weil Du ein Moslem bistoder nicht“.144

Die Antwort des Innenministers Cvetanov auf die oben genannte Frage des AbgeordnetenBorislav Stojanov bezüglich „des Eindringens islamischer Sekten aus der Türkei“ war ge-genüber den türkischen Gruppierungen der Süleymanci, der Nurcus sowie der Milli Görüs-Anhänger ebenfalls neutral oder zumindest nicht ablehnend. So teilte Cvetan Cvetanov

141 Ebda.142 SKAT ist der größte bulgarische Kabelfernsehenbetreiber. Das Unternehmen wurde von Waleri

Simeonow, Vertreter der nationalistischen Koalition Ataka und zurzeit Vorsitzender des Gemeindera-tes der Gemeinde Burgas, gegründet. Die Koalition Ataka ist eine parlamentarische Gemeinschaft na-tionalistischer Organisationen Bulgariens.

143 Siehe dazu: Isljamska sekta prodalžava deinosta si v Bălgarija, skat.bg, unter<http://www.youtube.com/watch?v=D_ShYOBljfY> (17.06.2013).

144 Siehe dazu: <http://www.pomak.eu/board/index.php?topic=3275.0> (17.06.2013).

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während der fünfunddreißigsten Sitzung des bulgarischen Parlaments am 30. Oktober 2009mit:

„Laut unserer Information enthalten die Tätigkeiten der Organisationen Nurcus,Süleymanci und Milli Görüs keine Elemente eines religiösen Radikalismus. Der vonihnen gelehrte und vertretene Islam geht nicht über die Grenzen der für Bulgarien,wie auch für den Balkan insgesamt, traditionellen sunnitisch-hanafitischen Schulehinaus.“ 145

Diese Haltung hat jedoch nichts daran geändert, dass fast alle durch die Süleymanci undNurcus gegründeten Wohnheime im Verlauf den letzten Jahre geschlossen wurden. Tatsa-che ist auch, dass mit Ausnahme Griechenlands, Bulgarien das einzige südosteuropäischeLand mit bedeutender türkisch-muslimischer Bevölkerung ist, in dem keine private türki-sche Universität durch Gülen-Anhänger gegründet wurde.

Neo-bruderschaftliche türkische Netzwerke in Bulgarien: ZwischenbetrachtungEs lässt sich schließen, dass sowohl die frommen Süleymanci als auch die Anhänger derGülen-Bewegung im bulgarischen Kontext durchaus vertreten sind. Im Vergleich zu denLändern des Westbalkans fanden sie jedoch weniger Resonanz. Dies ist insoweit zu hinter-fragen, weil die bulgarischen Türken mit fast 500.000 Personen (nach dem Zensus von2001 mit 800.000 Personen) die größte Minderheit im Land bilden. Die Gründe dafür sindkomplex, zum Teil sogar widersprüchlich. Einer davon beruht auf der Regulierungskraftdes Religionsgesetzes. Nach dessen Bestimmungen sind nur solche Akteure berechtigt,religiöse Tätigkeit in Bulgarien auszuüben, die beim entsprechenden Gericht registriert sindund eine Erlaubnis des Muftiamtes vorweisen können. Um beim Gericht registriert zu wer-den, muss vorher eine Stellungnahme durch die Direktion für religiöse Angelegenheitenvorgelegt werden, die eine wichtige Grundlage für die Entscheidung des Gerichts darstelltund somit die Möglichkeit für eine Kontrolle durch staatliche Organe eröffnet.

Bei der Suche nach den möglichen Gründen für die Präsenz oder Beschränkung türki-scher neo-bruderschaftlicher Netzwerke in Bulgarien, ist zugleich wichtig, zwischen demreligiösen Bereich einerseits und dem säkularen andererseits zu unterscheiden. Während diefrommen Süleymanci sowie die Mitglieder der Nurcus-Studienkreise sich mit dem Ver-dacht eines möglichen „Fundamentalismus“ konfrontiert sehen, wird die Gründung türki-scher Lehranstalten vor allem durch nationalistische Kreise abgelehnt. Eine zu enge Anbin-dung der bulgarischen Türken und Muslime an die südliche Nachbarin wurde durchnationalistische Kreise und einzelne Vertreter der Politik in Bulgarien nie gern gesehen. DieBefürchtungen, türkische und muslimische Minderheiten im Land könnten auf Autonomiebestehen, erweisen sich nicht nur als eine Begleiterscheinung der Geschichte, sondern dieseÄngste werden auch gegenwärtig von nationalistischen Gruppierungen und „Experten fürreligiöse und Sicherheitsfragen“ geschürt. Beispielhaft kann in diesem Zusammenhang aufden 2005 vom Institut für philosophische Forschung an der Bulgarischen Akademie derWissenschaften herausgegebenen Sammelband „Risiken für Bulgarien – islamischer Fun-damentalismus und Terrorismus“, der auf die gleichnamige Diskussionsrunde zurückgeht,

145 Trudeset i peto zasedanie.

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verwiesen werden.146 In seinem Beitrag befasst sich Bončo Asenov – ein Mitarbeiter derStaatssicherheit und Dozent an der Hochschule des Innerministeriums – mit den „mögli-chen Risiken in Bulgarien durch den radikalen Islam“ und verweist auf den regionalenFaktor Türkei. „Der Einfluss der Türkei auf einen Teil der Bevölkerung in unserem Landgeht in Richtung pro-türkischen Nationalismus und islamischen Fundamentalismus.“ –führt er aus – „Die Entwicklungen in der Türkei verursachen ähnliche Tendenzen unter denMuslimen in Bulgarien, die bereits unter starkem pro-türkischen nationalistischen und reli-giösen Einfluss stehen“.147 Anschließend bezieht er sich auf die (nicht registrierte) Türki-sche Demokratische Partei des bulgarischen Türken Adem Kenan, der – nach der Darstel-lung Asenovs – von einer föderalen Verfassung sowie von autonomen Republiken miteigener kultureller und administrativer Verwaltung in Bulgarien spreche. „Die Erfahrungder Geschichte auf dem Balkan hat gezeigt“ – so Asenov weiter – „dass der Weg zu diesemZiel oft mit Blut und Gewalt übersät ist“.148

„Die Idee in unserem Land eine Universität zu errichten, in der in türkischer Spracheunterrichtet wird, ist gotteslästerlich“. „Es ist ein Verrat an Bulgarien.“ – Mit diesen Wor-ten kommentierte auch die nationalistische Wochenzeitung Desant am 11. Mai 2012 dendurch den Vorsitzenden der Organisation Gerechtigkeit–Bulgarien, Sezgin Mjumjun, ge-machten Vorschlag, eine Universität in türkischer Sprache in Bulgarien zu gründen.149 DerVorschlag löste Empörungen auch bei der Partei VMRO aus.150 Unter dem Titel „Wir wol-len keine türkische Universität“ gaben die Mitglieder der Partei ihre Position kund:

„VMRO ist fest gegen die Gründung einer türkischen Universität in Bulgarien. Wirbestehen darauf, dass der Bildungsminister, Sergey Ignatov, definitiv solchen Ver-suchen ein Ende bereitet. […] Die Forderung auf Einführung der türkischen Sprachein den bulgarischen Bildungseinrichtungen lässt uns befürchten, dass bald auch For-derungen nach kultureller Autonomie erhoben werden.“151

Bei diesem Vorschlag, bei dem es sich lediglich um eine Anfrage des Vorsitzenden desVereins Gerechtigkeit Bulgarien an das Ministerium für Bildung und Wissenschaft handel-te, ging es nicht um eine durch Gülen-Anhänger getragene Bildungseinrichtung, sondernum eine private bulgarische Hochschule, an der in türkischer Sprache unterrichtet werdensollte. Der Vorschlag scheiterte. Die Reaktionen seitens der Ataka und des VMRO machtenzugleich deutlich, wie sensibel Teile der bulgarischen Gesellschaft auf dieses Thema rea-gieren.

146 Vasil Prodanov/ Bogdana Todorova (Hg.), Riskove za Bălgarija ot isljamski fundamentalisam iterorizam, Institut za filosofski izsledvanija, Sofia: BAN 2005.

147 Bončo Asenov, Vazmožni riskove ot radikalen islam v Bălgarija, in: Prodanov/ Todorova, Riskove zaBălgarija, 93-97.

148 Ebda., 94.149 Turski universitet v Bălgarija, in: Desant, 11. Mai 2012.150 Die Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation – Bulgarische Nationale Bewegung (bulg.

VMRO-BND) ist eine rechts-konservative politische Partei in Bulgarien. Sie versteht sich als eineNachfolgeorganisation der Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation (VMRO) und derFlüchtlingsvereinigungen der Bulgaren aus Makedonien.

151 VMRO protiv turski universitet, in: Fakti vom 15. Mai 2012. Siehe noch dazu: VMRO: Ne isklameturski universitet v Bălgarija, in: Novini.bg vom 15. Mai 2012, unter <http://www.novini.bg/news>(19.06.2013).

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Abb. 4: VMRO: Wir wollen keine türkische Universität.Quelle: http://www.novini.bg/news, 15.05.2012.

Es wäre hierbei falsch anzunehmen, dass die bulgarische Titularnation in der Frage derMinderheitenrechte für die Türken und Muslime auf der Seite der nationalistischen Grup-pierungen stünde. Im Gegenteil, der Einsatz für Menschenrechte und Minderheitenschutzsowie die Proteste gegen die Diskriminierung der bulgarischen Türken und Muslime habenin den 1980er Jahren sowohl bei der Formierung der ersten Oppositionsgruppen in Bulgari-en als auch beim Sturz des kommunistischen Regimes eine wichtige Rolle gespielt.152 Grö-ßere Teile der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung zeigten in Konfliktsituationen immerwieder Solidarität mit den Muslimen und den Türken im Lande. Bei den jüngsten Ausei-nandersetzungen vor der Banya Bashi Moschee in Sofia zum Beispiel, bei denen Mitgliederder Ataka gläubige Muslime während des Gebets am 20. Mai 2011 angriffen,153 legten dieAnwohner der Hauptstadt Sofia Blumen vor der Moschee nieder, um sich vom Vorgehender Nationalisten abzugrenzen.154 Es gibt aber auch eine andere Seite und die Entwicklungim post-kommunistischen Bulgarien hat gezeigt, wie leicht es in konkreten Situationen zueiner Mobilisierung von Teilen der Mehrheitsbevölkerung kommen kann. Das sogenannte„ethnische Model“ in Bulgarien, das auf politischer Partizipation der bulgarischen Türken

152 Mehr dazu siehe: Jordanka Telbizova-Sack, Minderheitenpolitik und politische Kultur im postsozia-listischen Bulgarien, in: Zwetana Todorova/ Clemens-Peter Haase (Hg.), Politische Kultur inBulgarien seit 1878, Deutschland und Südosteuropa, Sofia: Gutenberg Verlag 2003, 262-278, 266f.

153 Anhänger der bulgarischen nationalistischen Partei Ataka zettelten am 20. Mai 2011 Ausschreitungenvor der Banya Bashi Moschee in Sofia an. Sie protestierten gegen Muezzin-Rufe durch Lautsprecher,warfen Gegenstände in Richtung der Betenden und riefen „Türken raus“. Es kam zu Rangeleien, beidenen mehrere Menschen verletzt wurden. Siehe dazu u.a.: Sturm im Parlament nach Sturm auf dieMoschee, in: PESTER LLOYD, Tageszeitung für Ungarn und Osteuropa vom 26. Mai 2011, unter<http://www.pesterlloyd.net/2011_21/21parlamentBLG/21parlamentblg.html> (4.10.2013).

154 „Ich möchte mich entschuldigen“. Mit diesem Aufruf wurde eine Facebook-Gruppe unter dem Na-men „Blumen für die Freiheit Bulgariens“ gegründet. Sie forderte diejenigen, die das Vorgehen derAtaka-Anhänger am 20. Mai 2011 verurteilten, auf, Blumen als Zeichen des Mitgefühls vor derBanya Basha Moschee Sofia abzulegen. Als Reaktion auf den Angriff auf die Moschee zeigten sichauch Parteien verschiedener Ausrichtungen entsetzt. Drei Abgeordnete der nationalistischen ParteiAtaka erklärten ihren Austritt, andere Abgeordnete forderten ein Parteiverbot. Siehe dazu: Sturm imParlament; Grupa vav Fejsbuk se izvinjava za akcijata na Ataka sreštu džamijata v Sofija, in: Dnevnikvom 20. Mai 2011.

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Neo-bruderschaftliche türkische Netzwerke in Bulgarien 227

und Vermeidung von Konflikten gründet,155 erweist sich als ein komplizierter Mechanis-mus, der auf einer sensiblen Balance beruht. So löste die Restituierung der Rechte der tür-kisch-muslimischen Minderheiten bereits in den ersten Jahren nach der politischen WendeProteste seitens der örtlichen bulgarischen Bevölkerung aus. Die Registrierung der Bewe-gung für Rechte und Freiheiten156 und ihre Zulassung zu den Parlamentswahlen 1990, dieWiederherstellung der ursprünglichen türkisch-muslimischen Namensformen sowie dasEinführen des türkischen Unterrichts seit 1991 wurden ebenfalls durch heftige nationalisti-sche Protestwellen begleitet.157 Die Folge war ein Anschwellen ethnischer Konflikte vorallem zwischen der bulgarischen und türkischen Bevölkerung, die zwischen 1989 und 1991mehrmals an den Rand gewaltsamer Auseinandersetzungen gerieten.158

Als weiteres Beispiel kann auf die Debatte um die Nachrichten in türkischer Spracheverwiesen werden. „Streitigkeiten“ um dieses Thema gab es bereits Anfang des Jahres2000, als infolge der Änderungen im Rundfunkgesetz vom 23. November 1998 die Aus-strahlung von türkischsprachigen Nachrichten begonnen wurde.159 Nachdem die Ataka2005 in das Parlament einzog, forderte sie – erfolglos – die sofortige Entfernung der tür-kisch-sprachigen Nachrichten aus dem bulgarischen Fernsehen. Zu einer Verschärfung derKontroversen kam es 2009, nachdem die Ataka eine Petition gegen die Nachrichten in tür-kischer Sprache startete und vorschlug, ein Referendum darüber abzuhalten.160 Dass einenationalistische Partei sich für ein Verbot der Minderheitensprache einsetzt, überraschtnicht wirklich. Problematischer war, dass der Ministerpräsident dem Vorschlag nahetratund somit den Forderungen indirekt Unterstützung verlieh.161 Der Ataka Partei gelang es

155 Zum „ethnischen Model“ in Bulgarien siehe Bernd Rechel, Ethnic diversity in Bulgaria: institutionalarrangements and domestic discourse, in: Nationalities papers, 36, 2 (2008), 331-350.

156 Die Partei, die sich überwiegend für die Rechte der bulgarischen Türken und Muslime einsetzt.157 Die Proteste reichten von Kundgebungen, Straßenblockaden, Streiks und der Besetzung öffentlicher

Gebäude, bis hin zur Missachtung staatlicher Autorität durch die Ausrufung einer autonomen„Razgrader bulgarischen Republik“. Mehr dazu siehe: Stefan Troebst, Demokratie als ethnisch ge-schlossene Veranstaltung: Nationalistischer Integrationsdruck und politische Formierung der nationa-len Minderheiten in Bulgarien, in: Wolfgang Höpken (Hg.), Revolution auf Raten. Bulgariens Wegzu Demokratie, München: Oldenbourg 1996, 144-147.

158 Wolfgang Höpken, Die „unvollendete Revolution“? Bilanz der Transformation nach fünf Jahren, in:Ders. (Hg.), Revolution auf Raten. Bulgariens Weg zu Demokratie, München: Oldenbourg 1996,XXIV.

159 Siehe dazu: Rundfunkgesetz vom 23. November 1998, in: Dăržaven Vestnik Nr. 138 vom 24.November 1998. Art. 49 (1) besagt: „Das Bulgarische Nationale Radio und das Bulgarische NationaleFernsehen produzieren landesweite und regionale Programme […] und Sendungen, die für die bulga-rischen Bürger bestimmt sind, deren Muttersprache nicht das Bulgarische ist, einschließlich auchsolcher in ihrer Sprache.“ 2000 begann das bulgarische nationale Fernsehen, türkischsprachige Nach-richten auszustrahlen.

160 Šte ima referendum za novinite na turski ezik po BNT, in: Bălgarija vom 16. Dezember 2009. Bezüg-lich der Reaktionen zum Referendum für Nachrichten in türkischer Sprache siehe noch: Reakcii zareferenduma za novinite na turski ezik po BNT, 17. Dezember 2009, unter<http://vbox7.com/play:cf66b363> (28. März 2012).

161 Ministerpräsident Boiko Borisov zeigte sich in einem Interview mit der Koritarov online im August2009 damit einverstanden, dass das bulgarische Parlament sich mit den Forderungen der Partei Atakaauseinandersetzt, um zu überprüfen, ob Änderungen des Rundfunkgesetzes zulässig wären. Siehedazu Svetoslav Spasov, Greška na ezika, in: Tema, Nr. 32(407), 17-23 August 2009. Im Dezember2009 unterstützte er zunächst die Initiative, ein Referendum über die Nachrichten in türkischer Spra-

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Türkische Präsenz auf dem Balkan228

bis Anfang 2010 mehr als 33.000 Unterschriften gegen türkischsprachige Nachrichten zusammeln, die schließlich als Protestliste dem Generaldirektor des bulgarischen TV über-reicht wurde.162

Ein weiterer Grund für die eher begrenzte Präsenz neo-bruderschaftlicher türkischerNetzwerke in Bulgarien geht in entgegengesetzte Richtung und besteht im religiösen Be-reich. Hier ist es vor allem die dominierende Stellung des türkischen Präsidiums für religiö-se Angelegenheiten, das durch seine vielfältigen Aktivitäten – im Bereich der religiösenBildung, bei der Unterstützung der Verwaltung der bulgarischen Muslime sowie durch eineReihe weiterer Förderinitiativen – kaum noch Raum für andere religiöse Akteure lässt. Diedominierende Position des türkischen Diyanets in Bulgarien hat somit zu einer „Sättigung“des religiösen Angebotes geführt. Laut der bereits erwähnten Vereinbarung, die zwischendem türkischen Diyanet, dem bulgarischen Muftiamt und der Direktion für religiöse Ange-legenheiten Bulgariens 1998 getroffen wurde, ist das Diyanet die einzige ausländischeInstitution, die dazu berechtigt ist, islamische Lehrer und Prediger nach Bulgarien zu ent-senden. Das Diyanet ist dazu nicht nur berechtigt, sondern diese türkische Institution hatsich durch den Vertrag dazu verpflichtet. Sogar die Schulen in Momčilgrad, Russe undŠumen, die reguläre Sekundärschulabschlüsse anbieten, könnten ohne Unterstützung desDiyanets nicht problemlos weiter existieren, weil sie durch das türkische Präsidium finan-ziert werden. Für die Süleymanci und die Nurcus bleibt daher nur noch die Möglichkeit,„ergänzende“ Tätigkeit anzubieten, so unter anderem indem sie Wohnungen für bulgarischeStudenten und Schüler muslimischen Hintergrunds vermitteln. Es ist kein Zufall, dass diereligiösen Schulen der Süleymanci in Delčevo, Ljuljakovo und Bilka nur unregelmäßigKorankurse anbieten und ihre Räumlichkeiten vom Muftiamt benutzt werden, um eigeneVeranstaltungen durchzuführen. Dies liegt nicht daran, dass die Tätigkeit dieser Schulen(die entsprechend des Religionsgesetzes die Zustimmung des Muftiamtes besitzen) durchden bulgarischen Staat verhindert wird, sondern dass es nicht genügend Muslime gibt, diean diesen Kursen teilnehmen wollen.163

Seitens der zuständigen staatlichen Behörden – so der Direktion für religiöse Angele-genheiten und des Innenministeriums – scheint die dominierende Stellung des Diyanets inBulgarien gewollt und als Alternative zu anderen religiösen Akteuren bevorzugt zu werden.Auch hiergegen gibt es laute Proteste der bulgarischen Nationalisten. Wie Georgi Krastev,ein Mitglied der Direktion für religiöse Angelegenheiten, in einem Interview vom Septem-ber 2011 betonte, „hat sich die Politik des Diyanets im letzten Jahrzehnt stark verändert undist nicht mehr auf dem kemalistischen Kurs wie früher.“164 Es spricht jedoch vieles dafür,dass das türkische Amt für Religiöse Angelegenheiten von den zuständigen bulgarischenBehörden als Vertreter der für Bulgarien traditionellen sunnitisch-hanafitischen Schulesowie als Träger eines „mäßigen Islam“ als ein bevorzugter Partner für die bulgarischenMuslime gesehen wird.

che abzuhalten, bis er anschließend seine Meinung änderte. Mehr dazu: Nikola Lalov, Premierat seotkaza ot referenduma za novinite na turski ezik, in: Mediapool.bg, 19. Dezember 2009.

162 Novinite na turski – v nov kanal za etnosite, in: Vesti vom 18. März 2011.163 Interview mit dem Sekretär des Mufiamtes, Hjusein Hafazov, am 2. September 2010.164 Interview am 14. September 2011.

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Der türkische Faktor auf dem Balkan: Schlussbetrachtung 229

Am 19. Juni 2012 stattete Emil Velinov, der neue Direktor der Direktion für religiöseAngelegenheiten beim Ministerrat Bulgariens, einen offiziellen Besuch auf Einladung destürkischen Amts für religiöse Angelegenheiten ab. Ziel seines Besuches war unter anderem,sich zu erkundigen, ob Dozenten an theologischen Fakultäten der Universitäten Ankara undIstanbul bereit wären, als Hochschullehrer am Obersten Islamischen Institut in Sofia zuunterrichten. Nach seiner Rückkehr gab er am 20. Juni 2012 ein Interview für die AgenturFocus und äußerte sich wie folgt:

„Das Hauptthema unserer Gespräche war die religiöse Erziehung. Für uns ist wich-tig, dass islamische Bildung und Erziehung in Bulgarien transparent werden und wirmöchten verhindern, dass von überall und ungeregelt islamische Lehrer zu unskommen. Insgesamt sind wir an einer geregelten Zusammenarbeit mit der Türkeisehr interessiert. Nur so kann der wahre Islam gelehrt werden und dabei kein Zwei-fel aufkommen, dass radikale Formen des Islam verbreitet werden“.165

5. Der türkische Faktor auf dem Balkan: Schlussbetrachtung

Insgesamt hat sich die türkische Präsenz auf dem Balkan in den letzten Jahrzehnten deutlichverstärkt und diversifiziert. Parallel zur Umorientierung der türkischen Außenpolitik sindtürkische islamische Akteure auf staatlicher wie auf zivilgesellschaftlicher Ebene zu einemwichtigen Faktor in den muslimischen Gebieten des Balkans geworden. Insbesondere mitdem Wahlsieg der AKP 2002 und dem anschließenden Paradigmenwechsel, der sich nichtnur auf türkische, sondern auch auf muslimische Bevölkerungsgruppen auswirkte, began-nen türkische religiöse Stiftungen, Bildungseinrichtungen sowie die staatlich gestützteTIKA und das Diyanet, die Geldgeber aus den Golf-Ländern zu ersetzen und sich selbst alsdie bedeutendsten ausländischen religiösen Partner in der Region zu etablieren. Sie bietenein breites Programm an Dienstleistungen – von säkularen Schulen und Universitäten überKorankurse und religiöse Seminare bis zum Aufbau offizieller islamischer Institutionen undzur Unterstützung kleinerer islamischer Vereine. Durch die Aufnahme zahlreicher Studen-ten aus den Balkanländern an türkischen Universitäten wird die Entstehung einer neuenGeneration von Geistlichen und Intellektuellen muslimischen Hintergrunds gefördert, die inder Türkei ausgebildet worden sind. Neben der Rückbesinnung auf die osmanisch-religiöseTradition findet hierbei eine schrittweise Umwandlung des türkischen Diyanets zu einemtransnationalen religiösen Akteur statt. Durch ihr weitgehendes Engagement im religiösenBildungssektor konnte sich diese staatliche türkische Behörde der Islamförderung als eineder bedeutendsten Autoritäten der sunnitischen muslimischen Gemeinden auf dem Balkanetablieren.166 Zu diesem Engagement gehören nicht zuletzt die Gründung des EurasianIslam Council sowie das Initiieren der jährlichen Versammlung der Obermuftis der Balkan-länder. Türkische islamische Netzwerke verschiedener Art, die von neo-sufistischen Bewe-gungen bis hin zu religiös motivieren Hilfsorganisationen variieren, sind ebenfalls in den

165 Emil Velinov, Remontăt na blgarskija hram Sv. Stefan in Istanbul šte poskăpne s blizo 10 milionadolara, in: Informationna agencija Fokus vom 20. Juni 2012.

166 Öktem, New Islamic actors, 45ff.

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Türkische Präsenz auf dem Balkan230

muslimischen Gebieten des Balkans präsent. Unter den neo-bruderschaftlichen türkischenNetzwerken, die sich in den einzelnen Balkan-Ländern etablieren konnten, sind vor allemdie Süleymanci, die Nurcus sowie die Gülen-Anhänger zu nennen. Auch wenn der Einflusszumindest der ersten beiden eher begrenzt ist, übernehmen solche Netzwerke eine wichtigeVermittlerrolle zwischen der pro-islamischen Zivilgesellschaft in der Türkei und muslimi-schen Gemeinden in den Balkan-Ländern.167

Die unterschiedlichen islamischen Akteure aus der Türkei divergieren zwar in wesentli-chen Aspekten. Was sie aber eint, ist ein neo-osmanisches Verständnis der Rolle der Türkeiin der Region sowie ihr Einsatz für die Verbreitung der türkischen sunnitisch-hanafitischenTradition in den einzelnen Ländern. Als Vertreter der sunnitisch-hanafitischen Orthodoxiebetonen sie die Notwendigkeit, die muslimischen Gemeinden auf dem Balkan über denIslam aufzuklären, und sind darum bemüht, den Wiederaufbau islamischer Institutionen zuunterstützen. Darüber hinaus betrachten sie die Religion als Voraussetzung der Moral in derGesellschaft und betonen die positiven Aspekte der Verbreitung des Wissens über denIslam für den Einzelnen und das Kollektiv. Obwohl unter ihnen auch neo-fundamentalistische (z.B. das Hakikat) und konservativ ausgerichtete Gruppierungen ver-treten sind, sehen sie sich (oder sahen sich zumindest bis vor wenigen Jahren) in der Mehr-zahl als Vertreter eines moderaten „mittleren Weges“, der den Extremismus ablehnt und diesunnitisch-hanafitische Orthodoxie vertritt.168

Die Intensität des Einflusses türkischer Gruppierungen, von Vereinen und Organisatio-nen ist abhängig von den politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Strukturen dereinzelnen Länder, in denen sie tätig werden. Während das Diyanet in Bulgarien eine domi-nierende Stellung einnimmt, ist diese islamisch-türkische Institution in Bosnien-Herzegowina nur wenig präsent. Umgekehrt deutet vieles darauf hin, dass der westlicheBalkan, mit seinen relativ schwachen Staaten und großen muslimischen Bevölkerungstei-len, bestimmend für das neue türkische Engagement in muslimischen Gemeinden gewordenist.169 So haben in Bosnien die Veränderungen der 1990er Jahre günstigere Bedingungenfür die Entstehung türkischer Netzwerke geboten, wobei dem damaligen AußenministerAhmet Davutoğlu eine wichtige Rolle zukam. Gülen-Netzwerke und die TIKA sind inBosnien ebenfalls präsent. In den albanischen Gebieten Mazedoniens, des Kosovos undAlbaniens haben sich türkische Akteure im Bildungssektor etabliert und Kontakte zu isla-mischen Verbänden aufgenommen.

Die Präsenz türkischer Netzwerke und die dominierende Stellung des Diyanets treffenjedoch keineswegs bei allen Bevölkerungsgruppen auf Zustimmung. Säkulare wie auch

167 Der inner-türkische Machtkampf zwischen der APK und der Gülen-Bewegung, der nach den Gezi-Park-Protesten 2013 offensichtlich wurde und nach dem vereitelten Putschversuch vom 15. Juli 2016in eine beispiellose „Säuberungskampagne“ mündete, ist hier nicht mehr Gegenstand der Untersu-chung. Ob und inwieweit sich die Gülen-Institutionen in den Balkan-Ländern weiterhin behauptenkönnen, lässt sich noch nicht eindeutig abzuschätzen.

168 Vgl. Solberg, The Role of Turkish, 453. Die Rahmenbedingungen, unter denen türkische Akteure inden Balkan-Ländern agierten, haben sich inzwischen grundlegend verändert. Nicht nur musste dieTürkei einen Machtverlust hinnehmen, sondern islamistische und nationalistische Gruppierungen ge-winnen im Land immer mehr an Bedeutung.

169 Zu den Ländern des Westbalkans siehe Öktem, New Islamic actors, 43 sowie Solberg, The Role ofTurkish.

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Der türkische Faktor auf dem Balkan: Schlussbetrachtung 231

nicht-muslimische Kreise stehen in allen Balkan-Ländern den türkisch-islamischen Netz-werken ablehnend gegenüber. In Bosnien-Herzegowina, wo die Rijaset (Oberster Rat derislamischen Gemeinschaft) in Sarajevo gut organisiert ist und auf eine eigenständige theo-logische Tradition zurückblickt, ist die führende Rolle des Diyanets nicht immer willkom-men.170 Eine ablehnende Haltung findet sich ferner unter jüngeren Vertretern der Ulemas,die ihre Ausbildung in den arabischen Ländern erhalten haben sowie unter einzelnen isla-mischen Intellektuellen, die in der Nähe des Salafismus stehen. Auch innerhalb der türki-schen Akteure gibt es im Bereich der Religionspolitik eine Reihe von Spannungen. DieseSpannungen beruhen ihrerseits auf ideologischen, politischen wie auch Generation beding-ten Hintergründen.

Die Betonung osmanischer Ursprünge des Balkan-Islam steht manchmal in Konflikt zuden Bemühungen muslimischer Gemeinden im Balkanraum, ihre nationale und ethnischeIdentität zu definieren. Diese identitätsstiftenden Komponenten sind zum Teil historischerNatur. Während in Bulgarien und Makedonien eine enge Verbundenheit größerer Teile dertürkischen und muslimischen Bevölkerung mit der Türkei vorhanden war und ist, war derBezug zur Türkei in anderen Ländern, wie etwa Albanien und Bosnien-Herzegowina, imVerlauf der Geschichte eher ambivalent. Anti-osmanische Elemente in der nationalen Iden-tität der Albaner oder eine marginale Haltung bosnischer Intellektueller und Vertreter derUlema, die auf der Eigenart des bosnischen Islam bestehen, sind ein wesentliches Hindernisfür den türkischen Anspruch auf eine transnationale muslimische Führungsrolle in dieserRegion. Identitätsstiftende Aspekte finden sich bei Vertretern der bulgarischen Pomakenund der mazedonischen Torbešen, die einerseits ihre Identitäten durch das osmanischemillet-Systems definierten, andererseits bei der Suche nach eigener Identität eine starkeFlexibilität – mit Abgrenzungstendenzen – zeigen.

Diese identitätsstiftenden Faktoren führen bis in die Gegenwart zu lebhaften Debatten.Beispielhaft sei hier Albanien erwähnt. Die Auseinandersetzungen mit der osmanischenVergangenheit und ihre Referenz zur Identität der Albaner gehen bereits auf das Ende des19. Jahrhunderts zurück, als die albanische Nationsbildung einsetzte. Teile der albanischenEliten nahmen die osmanische Herrschaft als ein Symbol ihrer eigenen politischen Unterle-genheit wahr, dessen Hinterlassenschaft als ein Hindernis auf den Weg nach „Europa“betrachtet wurde. Sie versuchten, eine albanische Identität zu konstruieren, die von dertürkisch-osmanischen verschieden und gleichbedeutend mit europäischer Identität war.Ähnlich wie in anderen Balkanländern bedeutete Modernisierung in Albanien Entosmani-sierung und für manche Entislamisierung.171 Anfang 2000 erlebte diese Debatte einen neu-en Schub. Sie wurde im Wesentlichen vom albanischen Schriftsteller Ismail Kadare unddem kosovoalbanischen Literaturkritiker Rexhep Qosja geführt.172 So vertrat der bekanntealbanische Schriftsteller und Intellektuelle, Ismail Kadare (ein Südalbaner muslimischerHerkunft), in seinem 2006 erschienen Essay „Die europäische Identität der Albaner“ die

170 Vgl. Öktem, New Islamic actors, 35.171 Siehe mehr dazu: Nathalie Clayer, Der Balkan, Europa und der Islam, in: Karl Kaser/ Dagmar

Gramshammer-Hohl/ Robert Pichler (Hg.), Europa und die Grenzen im Kopf, Klagenfurt: Wieser,2003, 303-328.

172 Mehr über die Debatte zwischen Ismail Kadare und Rexhep Qosja siehe: Egin Ceka, Die Debattezwischen Ismail Kadare und Rexhep Qosja um die nationale Identität der Albaner, in: Südosteuropa54, 3 (2006), 451-461.

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Türkische Präsenz auf dem Balkan232

Auffassung, die Albaner seien eine europäische Nation, deren geistig-kulturelle Wurzeln imChristentum lägen; der Islam sei dagegen eine den Albanern während der osmanischenHerrschaft aufgedrängte Religion, die weitgehend negative Folgen für sie habe. Zur osma-nischen Geschichte schrieb er:

„Die verhüllte Nostalgie, die sich heute bei uns für die Osmanen zeigt, ist nicht nurmerkwürdig. Sie ist in erster Linie erniedrigend. Ebenso das Gespenst HaxhiQamilis. Die Statue dieses osmanischen Statthalters, eines angeblichen Gründers derStadt Tirana, die 2001 mitten in Tirana errichtet wurde, ist ein großer Schmach fürdie Hauptstadt des Landes gewesen, für die Geschichte sowie für das GewissenAlbaniens. Nur ein Volk, das die Freiheit nicht verdient, kann für seine Besatzer Sta-tuen errichten“.173

Sein Kontrahent, Rexhep Qosja, argumentierte dagegen, dass nicht der Islam und die osma-nische Geschichte, sondern das Demokratiedefizit in Politik und Gesellschaft das Problemfür die europäische Integration der Albaner darstellt.174

Die erwähnten Differenzen zur Bedeutung osmanischer Geschichte haben jedoch vor-rangig identitätsstiftende Elemente und sind nur aus den konkreten gesellschaftlichen undpolitischen Kontexten zu verstehen. Trotz der vorhandenen Spannungen unter Teilen deralbanischen und bosnischen Eliten ist die Zusammenarbeit mit der Türkei sowohl inBosnien als auch im albanischen Raum am Weitesten fortgeschritten. Bezeichnenderweisesind die TIKA sowie türkische Nurcu-Netzwerke auf dem westlichen Balkan erfolgreicherals in Bulgarien oder noch weniger in Griechenland. Darüber hinaus ist die neue türkischePräsenz auf dem Balkan viel komplexer und mehrdimensionaler als die Referenz zur osma-nischen Vergangenheit oder zur behaupteten Vorherrschaft des Diyanets.175 Wenn heutevon einer veränderten Wahrnehmung der Türkei im Balkanraum gesprochen wird, dannsind es vor allem wirtschaftliche und politische Aspekte, die in den Vordergrund treten. Dieregionale Politik der Türkei auf dem Balkan ist letztendlich säkular und durch Pragmatis-mus bestimmt. Dass anlässlich eines Fußballspiels einer türkischen Mannschaft in Bosnien-Herzegowina bosnische Fans türkische Flaggen hissten,176 dürfte nur wenig mit der Religi-on zu tun haben. Vielmehr geht diese Art der Identifizierung auf die neue Rolle der Türkeials ein bedeutender wirtschaftlicher und politischer Partner in der Region zurück.177 Geradein den Ländern des Westbalkans ist Ankara bemüht, sich als regionale Macht ins Bild zu

173 Ismail Kadare, Identiteti evropian i shqiptarëve, Tirana 2006. Deutsche Übersetzung, in:http://gentianluli.npage.de/die_europ%C3%A4ische_identit%C3%A4t_der_albaner_24581927.html.

174 Rexhep Qosja, Die vernachlässigte Realität. Kritische Betrachtung der Ansichten Kadares über diealbanische Identität, Tirana 2006. Diese Debatte hat mittlerweile eine große Anzahl vonIntellektuellen aus Albanien, dem Kosovo, Makedonien sowie aus der Diaspora erreicht. Siehe dazuu.a.: Ceka, Die Debatte, 453; Maks Velo, Qoseismus oder Theorie des Hasses, in: Shekulli, 2006.

175 Öktem, New Islamic actors.176 Persönliche Mitteilung von Armina Omerika.177 Laut einer Umfrage des türkischen Zentrums für Analyse sympathisieren etwa 40 Prozent der Bevöl-

kerung in den westlichen Balkanländern mit der Türkei. Als einer der Gründe dafür wurde die Unsi-cherheit der EU-Politik gegenüber diesen Ländern genannt. Daher erscheint die Türkei eine nicht un-attraktive Alternative zu sein, die wirtschaftliche Stärke demonstriert und historische wie kulturelleNähe zeigt. Siehe dazu Nahide Deniz, Turcija nastăpva na Balkanite, in: BТА, 18. März 2011, unter:<e-vestnik.bg> (18.11.2013).

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Der türkische Faktor auf dem Balkan: Schlussbetrachtung 233

setzen und betreibt eine rege Außenpolitik. Der Politologe Reljić weist zutreffend daraufhin, dass die Bosniaken zur wichtigsten Stütze des türkischen Einflusses auf demWestbalkan geworden sind.178 Die bosnischen Muslime haben sicher nicht vergessen, dassdie Türkei – ein Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung – ihnen in schwierigenZeiten (1992-1995) zur Seite stand.179 Die türkische Politik ist jedoch keineswegs nur aufmuslimische Bevölkerungsgruppen gerichtet und der türkische Staat ist grundsätzlich be-müht, gute nachbarschaftliche Beziehungen in der Region zu pflegen.

In Bulgarien kann von der Rückkehr des „türkischen Faktors“ nicht gesprochen werden,weil er immer vorhanden war. An den engen Beziehungen sowie der Verbundenheit größe-rer Teile der türkischen und muslimischen Bevölkerung in Bulgarien mit der Türkei konn-ten auch 45 Jahre Sozialismus nicht viel ändern. Durch die Auswanderung bulgarischerTürken und Muslime in die Türkei sowie die anschließende Öffnung der Grenze nach 1989wurden die Kontakte mit der türkischen Republik aufrechterhalten und nach der politischenWende intensiviert. Zu berücksichtigen ist ferner, dass viele bulgarische Türken undMuslime sich keineswegs nur entlang der Religion identifizieren. Vielmehr gilt die Türkeifür sie als ein zweites „Heimatland“, das nur wenige hunderte Kilometer entfernt liegt.Darüber hinaus ist unter Vertretern der älteren türkischen Elite in Bulgarien die Orientie-rung an den kemalistischen Vorstellungen von Säkularität, wonach Religion als „privateSache“ anzusehen ist, immer noch ausgeprägt. In diesem Zusammenhang sagte der Leiterder bulgarischen Vertretung der WAMY, Veždi Ahmedov, in einem Interview vom 19.September 2011 Folgendes: „Zwar sind wir der Türkei ganz nah, aber die neueren religiö-sen Impulse von dort kommen bei uns mit Verspätung an.“180 Wie türkische religiöse Ak-teure im bulgarischen Kontext wahrgenommen werden, hängt zu einem erheblichen Gradvon den Verhältnissen zwischen den Generationen sowie der Entstehung neuer Eliten unterden bulgarischen Muslimen ab.

Der türkische Einfluss auf die islamische Szene in Bulgarien wird vor allem vom Diya-net dominiert, das finanzielle Stärke zeigt und durch eine Reihe von Förderinitiativen ver-treten ist. Daneben kümmert sich die TIKA (offiziell) um das kulturelle Erbe aus osmani-scher Zeit und (inoffiziell) um die Verwaltung der bulgarischen Muslime.181 Neben demDiyanet ist noch das türkische Innenministerium zu nennen, das sich an der Vergabe vonStipendien für bulgarische Studenten muslimischen Hintergrundes beteiligt. Seit 2013 gibtes eine vereinfachte Prozedur, sich für ein Stipendium an einer türkischen Universität (in-klusiv theologischen Fakultäten) Online zu bewerben.182 Die dominierende Stellung des

178 Siehe mehr dazu: Dušan Reljić. Die Türkei weckt alte Lieben und Feindschaften im Westbalkan, in:SWP-Aktuell, Berlin: SWP, 2010.

179 Wie auch die Vereinten Nationen und die NATO.180 Interview mit Veždi Ahmedov am 19. September 2011.181 So zeigte mir Georgi Krastev, ein Mitglied der Direktion für religiöse Angelegenheiten beim bulgari-

schen Ministerrat, während eines Interviews am 14. September 2011 ein Dokument über die vor kur-zem erfolgte finanzielle Zuwendung über 500.000 Euro durch die türkische TIKA. Diese Zuwendungließ sich in keiner offiziellen Statistik des Muftiamtes finden und bei aller Auskunftsbereitschaft derVertreter dieser Behörde, vermeiden sie es lieber, auf solche finanziellen Zuwendungen aufmerksamzu machen.

182 Nach Sein Čardak, Koordinator der Hochschulbildung in der Türkei und Verantwortlicher für dieBalkan-Länder, haben 2013 Studierende aus Bulgarien, Albanien, Bosnien und Herzegowina,Kroatien, Montenegro, Kosovo, Serbien, Slowenien und Griechenland Stipendien an säkularen wie

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Türkische Präsenz auf dem Balkan234

Diyanets und anderer offizieller Institutionen aus der Türkei wird seitens der zuständigenbulgarischen Behörden akzeptiert und partiell unterstützt. Neo-bruderschaftliche türkischeNetzwerke konnten sich dagegen nur schwach behaupten.183 Es sind vorwiegend die durchdie Gülen-Anhänger gegründeten Privatschulen, die sich im bulgarischen Kontext gut etab-lieren konnten. In der bulgarischen Öffentlichkeit sind sie jedoch eher als „englische Gym-nasien“ bekannt und es wurde keine Verbindung zu Gülen-Netzwerken hergestellt. EngeKontakte und einen intensiven Austausch mit türkischen Gemeinden in der Türkei gibt esbei den bulgarischen Aleviten.184

Trotz der Zersplitterung der muslimischen Gemeinden in Südosteuropa und des Fehlenseiner gemeinsamen Sprache unter ihnen vertreten sie mehrheitlich einen Islam, der in derspezifisch osmanisch-türkischen religiösen Tradition verwurzelt ist. Viele der Muslime indieser Region, soweit sie religiös sind, folgen der sunnitisch-hanafitischen Tradition desIslam, die sie als Synonym für das Osmanische Reich und für die moderne Türkei ansehen.Eine ganze Reihe kulturspezifischer Momente der lokalen islamischen Praxis gehen auf dasgemeinsame osmanisch-kulturelle Erbe zurück. Dazu gehören die Art der Ausführung derGebete (namaz und dua, das Bittgebet), die Verehrung von tekken und türben, das Feiernvon mevlid (Feierlichkeiten zum Geburtstag des Propheten), das Praktizieren von Totenan-dachten sowie das Festhalten an der monogamen Ehe. Auch die kleineren Bektashi- undAleviten-Gemeinden pflegen enge Kontakte zu den Zentren ihrer Glaubensgemeinschaftenin der Türkei. Die tarikats, die Sufi-Bruderschaften, die ihren Ursprung ebenfalls im osma-nischen und türkischen religiösen Leben haben, sind insbesondere im Kosovo und in Maze-donien verbreitet. Sie fördern Beziehungen zu ähnlichen Gemeinden in der Türkei. Diesereiche, durch die Geschichte übermittelte Tradition hat trotz der vielen lokalen Variationender religiösen Ausübung auf dem Balkan bis in die Gegenwart überdauert und stiftet Ge-meinsamkeit. Für die salafistischen Missionare, die keinen Anteil an Geschichte, Kulturund Traditionen in dieser Region haben, ist es daher schwierig, Glaubwürdigkeit in denmuslimischen Gemeinden im Balkanraum herzustellen. Auch wenn der heute von türki-schen staatlichen oder staatsnahen Institutionen und Organisationen vertretene Islam kei-neswegs mit dem osmanischen Erbe gleichzusetzen ist, kann angenommen werden, dass die„türkische Rückkehr“ auf dem Balkan dank der Errichtung türkischer Schulen, der Vergabevon Stipendien sowie des vielfältigen religiösen Austauschs langfristig eine viel stärkereAuswirkung auf die Organisation der muslimischen Gemeinschaften und die religiöse Pra-xis in dieser Region haben kann als die kulturell fremden und politisch problematischenarabischen und iranischen Missionare.

auch theologischen Fakultäten in der Türkei erhalten. Allein aus Bosnien werden 80 Studierende ihreAusbildung im akademischen Jahr 2013/2014 in der Türkei fortsetzen. Siehe dazuwww.turkiyeburslari.gov.tr sowie Balkanskite studenti i universiteti se vazpolzvat ot turski stipendii,in: SETimes (The news of Southeast Europe) vom 11. April 2013, unter<http://www.setimes.com/cocoon/setimes/xhtml/bg/features/setimes/features/2013/04/11/feature-03>(12.11.2013).

183 Obwohl sie von der Verwaltung der bulgarischen Muslime unterstützt wurden. In allen Fällen, indenen Vertreter der Süleymanci-Bewegung nach einer Zustimmung des Muftiamtes für ihre Tätigkeitgefragt haben, wurde sie ihnen erteilt.

184 Siehe mehr dazu Telbizova-Sack, Die Aleviten Bulgariens.

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Der türkische Faktor auf dem Balkan: Schlussbetrachtung 235

Wie sich diese „Rückkehr“ auf den Alltag der Menschen oder die politischen Entschei-dungen der lokalen Eliten auswirken wird, hängt von vielen Faktoren ab. Dazu gehören diepolitischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den einzelnenBalkan-Ländern, der Türkei und der Europäischen Union. Zu berücksichtigen ist ferner,wie islamische Identitäten in der Türkei und im Balkanraum definiert werden, wie die Tür-kei und der türkische Islam im Balkanraum wahrgenommen werden sowie (nicht zuletzt)die interne Vielfalt des Balkan-Islam selbst. Sowohl in der Türkei als auch in den Balkan-Ländern kam es in der letzten Dekade zu einer Neudefinition muslimischer Identitäten. ImGegensatz zu den einheimischen Gemeinden in der Türkei haben muslimische Gemeindenim Balkanraum ihre Erfahrungen und ihre Identitäten mehrheitlich in der Position vonMinderheiten in nicht muslimischen Staaten erworben. Zugleich präsentiert die Türkei eine„zweite Heimat“ für viele Muslime in der Region. Auch wenn die Identifikation mit derTürkei unter slawisch- und albanischsprechenden Muslimen schwächer ausgeprägt ist alsbei den türkischen Gemeinden, tragen historische Bindungen, kulturelle Affinitäten und dievielfältigen Beziehungen mit der türkischen Republik dazu bei, dass die Türkei auch fürviele nichttürkischsprechende Muslime in Bulgarien, Mazedonien, Bosnien, im Kosovo undim Sandschak ein wichtiges Referenzland ist.

Das türkische „moderat-islamische“ Projekt wurde unter muslimischen Bevölkerungs-gruppen in den Balkan-Ländern gut aufgenommen, ist aber keineswegs die einzige Option.Viele islamische Führer und Intellektuelle muslimischen Hintergrunds in den Balkan-Ländern tendieren dazu, den von ihnen vertretenen Islam als den „echten europäischenIslam“ zu betrachten, nicht zuletzt unter Rückgriff auf seine Lage in Südosteuropa und dieJahrhunderte des interreligiösen Zusammenlebens. Sie bestehen auf ihre eigene religiöseTradition und Erfahrungen im säkularen Staat. Einige von ihnen weisen die Idee zurück,dass muslimische Türken aus Anatolien sie darüber belehren könnten, wie sie moderne undeuropäische Muslime sein können, und nehmen daher eine abschätzige Haltung gegenübertürkisch-islamischen Netzwerken und Organisationen ein.185 Bei allen Gemeinsamkeiten,die auf osmanische Religionskultur zurückgehen, besteht heute ein deutlicher Unterschiedzwischen dem staatlich geförderten (und letztendlich türkisch-nationalistisch untermauer-ten) Islam in der Türkei und den vielfältigen durch Ambivalenz und Eigenart geprägtenFormen des traditionellen Islam in den Balkan-Ländern

Die Entwicklungen in der Türkei selbst, die Stellung der Türkei in Europa und ihre ver-änderte Rolle in der muslimischen Welt sind Faktoren, die aller Voraussicht nach die Be-ziehungen zwischen der Türkei und muslimischen Gemeinden auf dem Balkan beeinflussenkönnen. In all diesen Ländern wird die europäische Integration priorisiert und Religionsfüh-rer betonen die Vereinbarkeit des Islam mit Demokratie nach westlichem Vorbild. Grie-chenland, Bulgarien, Rumänien und Kroatien sind bereits mit ca. 900.000 Bürgern musli-mischen Hintergrunds EU-Mitgliedsstaaten. In diesem Zusammenhang gewinnt auch dieDebatte um den möglichen, jedoch in immer weitere Ferne rückenden EU-Beitritt derTürkei besondere Bedeutung. Denn die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen einer in-zwischen autoritär regierenden Türkei und der Europäischen Union entwickelt, wird nichtnur unter muslimischen Gruppen auf dem Balkan, sondern auch in Westeuropa und in isla-mischen geprägten Ländern mit Interesse verfolgt.

185 Solberg, The Role of Turkish, 460.

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VII Zwischen religiöser Erneuerung und innerer Diversifizierung

1. Islam in Bulgarien – Tradition und Neubestimmung

Zu den Besonderheiten des bulgarischen Islam gehört neben der langen Tradition der Prak-tizierung in einem säkularen Staat auch die Existenz einer historisch gewachsenen Vielfaltder Manifestationsformen des Islam. Mehrheitlich verorten sich die bulgarischen Muslimeim kulturellen Erbe der osmanisch-islamischen Einflusssphäre und praktizieren, falls sienicht säkularisiert sind, einen Islam, der die sunnitische Tradition einschließlich der Rechts-schule der Hanafiyya im Bereich des islamischen Rechts vertritt. Mystische Elemente so-wie im Islam einzigartige Glaubenselemente finden sich bei den bulgarischen Aleviten,einer türkischsprachigen Gemeinschaft, die ca. 5% der Muslime im Lande ausmacht.1 Wiein vielen Gesellschaften, in denen sich der Islam verbreitete, kam es auch in den musli-misch besiedelten Gebieten Bulgariens zu religiösen Synkretismen und einem Nebeneinan-der der Kulte. Hierbei lässt sich zwischen autochthonen Traditionen unterscheiden, die vomIslam überlagert wurden, und solchen, die infolge des Kontaktes zwischen zwei universalenReligionen, Islam und Christentum, entstanden sind. In Teilen der muslimischen Bevölke-rung weisen ein Glaube an übernatürliche Wesen (u. a. Schutz- und Totengeister), die Ver-ehrung von Felsen und Wasserquellen, bestimmte Ackerbräuche, Kalender- und Regenritensowie Methoden der Krankheitsbekämpfung, der Weissagung und der Magie auf den Fort-bestand von Resten religiöser Bräuche vorchristlicher beziehungsweise vorislamischer Zeithin. Aus der Symbiose heterogener, vermischt lebender Gruppen ergab sich aber auch eininterreligiöser Synkretismus im Sinne des Verwischens und der Fluktuation religiöserGrenzen. Es kam vor, dass Muslime zu christlichen Kultstätten pilgerten, während Christenauch die Gräber muslimischer Heiliger besuchten. Vertreter beider Glaubensgemeinschaf-ten begangen christliche Feiertage. Geistliche beider Religionen waren damit beschäftigt,Krankheiten und böse Kräfte auch innerhalb der jeweils anderen zu bekämpfen. All dieseErscheinungsformen des Synkretismus in Bulgarien gehörten der Ebene einer lebendigenund am Alltagsleben orientierten Religiosität an. Bis in die Gegenwart besuchen bulgari-sche Muslime Tekken in der Nähe von Höhlen und an Flussquellen, feiern mevlid (Feier-lichkeiten zum Geburtstag des Propheten) und praktizieren Totenandachten. Heiligenvereh-rung und magische Handlungen als Abwehr gegen böse Kräfte stellen nach wie vor einenwesentlichen Bestandteil der alltäglichen Religiosität dar. Muslimische Frauen pilgern mitihren Kindern zu christlichen Klöstern und übernachten dort, um Hilfe für kranke Verwand-te zu bekommen.2 Glaubensvorschriften wie der Verzicht auf Alkohol und Schweinefleischwerden von Ort zu Ort divergierend beachtet oder nicht beachtet.3

1 Siehe dazu „Demographische und ethno-religiöse Aspekte“ im Kapitel II.2 Mehr dazu Jordanka Telbizova-Sack, Dogma, Brauch, Frömmigkeit - synkretistische Züge des

”pomakischen” Islam, in: Ethnologia Balkanica, Journal for Southeast European Anthropology,4(2000), 19-37; Michael Mitterauer, Religionen, in: Karl Kaser/ Siegfried Gruber/ Robert Pichler (Hg.),Historische Anthropologie im südöstlichen Europa, Wien/Köln/Weimer: Böhlau Verlag, 2003, 345-377.

3 Aus einer 2011 von der Neuen Bulgarischen Universität durchgeführten Umfrage ergab sich, dass39,8% der befragten Muslime Schweinefleisch und 43,4% Alkohol konsumieren. Vgl. VladislavVeličkov, Bălgarskite mjusjulmani meždu bita i religijta, in: Kultura vom 13. Januar 2012.

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Islam in Bulgarien – Tradition und Neubestimmung 237

In der Entwicklungsgeschichte des Islam in Bulgarien mit seinen weit zurückgehendenKontinuitätslinien erscheint die Zeit des „realen Sozialismus“ in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts als eine tiefe Zäsur. Die Ablehnung aller Religionen war Staatsdoktrin. Schonbald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollte der organisierte Einfluss des Islam be-kämpft werden, indem religiöse Institutionen geschwächt oder ganz abgeschafft wurdenund die Religionsausübung schrittweise eingeschränkt wurde. 1947 wurde die MedreseNüvvab in Šumen säkularisiert, die in der Zwischenkriegszeit der Ausbildung von Geistli-chen gedient hatte.4 Der Koranunterricht wurde zunächst reduziert und ab 1951 aus denöffentlichen Schulen verbannt. Der Stiftungsbesitz (vakuf) wurde eingezogen und religiöseLiteratur war praktisch nicht mehr verfügbar. Vierzig Jahre lang gab es in Bulgarien keinenislamischen Religionsunterricht. Die einzige bekannte „Ausnahme“ stellte von Oktober1986 bis April 1987 ein von der Partei angebotener Kurs für Imame dar, bei dem – so derRektor des Hochschulinstituts in Sofia, Ibrahim Jalamov – „sowohl der Lehrer als auch dieAuszubildenden Atheisten waren“.5

Die atheistische Propaganda und die Beschränkung der religiösen Freiheiten führten biszum Ende des kommunistischen Regimes zu einer Reduzierung des Kreises der gläubigenMuslime. Säkulare Eliten wurden gefördert. Islamische Verhaltensvorschriften wurdenverletzt. Trotz der Tendenz einer rückläufigen Religiosität, verlor der Islam jedoch keines-wegs an Bedeutung. Ein erheblicher Teil der Muslime blieb den religiösen Praktiken ver-bunden. In ihrem Alltag, nicht selten auch heimlich, folgten sie nach wie vor ihren bekann-ten und gut vertrauten Bräuchen. Die Politik der kommunistischen Machthaber brachtedamit eine – auch wenn von ihnen nicht beabsichtigte – schwerwiegende Folge für diemuslimische Bevölkerung mit sich. Trotz Säkularisierungszwängen führten die Repressa-lien und die Einschränkung des religiösen Lebens dazu, dass unterhalb des „verordnetenAtheismus“ im Rahmen der Familientradition und der Alltagskultur viele religiös konno-tierte traditionelle Sitten und Gebräuche bewahrt und weitergegeben wurden.6 Nicht nur dieErhaltung des Ramadans, Beschneidungen, die Abgabe von zakat (Almosen) an Bedürftige,sondern auch das Rezitieren von mevlid bei verschiedenen Anlässen (wie dem Neubaueines Hauses oder bei Totenandachten) wurden in ländlichen Regionen in der Halblegalitätweiter praktiziert. Obwohl viele der von Muslimen verehrten Heiligen Gräber in dieser Zeitzerstört wurden, verschwand der Glaube an dessen bakara (Gnade, heilige Kraft der Heili-gen) keineswegs. Insbesondere bei Begräbnisfeiern hatte sich bis in die frühen achtzigerJahre hinein ein hoher Anteil an religiös spezifischer Praxis erhalten.7

Aufgrund mangelhafter Ausbildung und fehlender religiöser Literatur war die Mehrheitder Muslime, die religiösen Praktiken folgte, stark auf mündliche Überlieferungen ange-

4 Siehe dazu „Die Muslime nach 1945“ (Kapitel II).5 Ibrahim Jalamov, Religiöse Erziehung der Muslime in Bulgarien, in: Ednan Aslan (Hg.), Islamische

Erziehung in Europa, Wien: Böhlau, 2009, 59-68, hier 65.6 Über die Bemühungen der kommunistischen Machthaber das unter den bulgarischen Türken etablierte

Ritualsystem zu steuern sowie die damit verbundene relativ hohe Resistenz religiös konnotierter traditi-onaler Riten, siehe Wolfgang Höpken, Zwischen Kulturkonflikt und Repression. Die türkischeMinderheit in Bulgarien, in: Valeria Heuberger/ Othmar Kolar (Hg.), Nationen, Nationalitäten,Minderheiten, Wien: Verlag für Geschichte und Politik, 1994, 179-202, hier 195f.

7 Wolfgang Höpken weist darauf hin, dass in den 1970er Jahren immer noch 60% der Begräbnisse nacheinem islamischen Ritus erfolgten. Höpken, Zwischen Kulturkonflikt, 274.

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Zwischen religiöser Erneuerung und innerer Diversifizierung238

wiesen. Es waren auch nur wenige religiöse Spezialisten, die während des 45 Jahre dauern-den Staatssozialismus religiöses Wissen vermitteln konnten. Neben der Schließung religiö-ser Schulen wurde die Position der religiösen Führer auch dadurch weiter geschwächt, dassmuslimische Eliten bevorzugt in die Migrationswellen Richtung Türkei einbezogen wur-den.8 Auch diejenigen Vertreter des islamischen Klerus, die im Land verblieben waren,hatten nur wenige Möglichkeiten, sich mit den kanonischen Dogmen des Islams vertraut zumachen. Eine der Folgen bestand daran, dass trotz der Einschränkung der religiösen Aus-übung, die islamische Legitimität der unter den bulgarischen Muslimen etablierten Ortho-praxis bis in die 1990er nicht ernsthaft infrage gestellt wurde. Es handelte es sich hierbeium eine einfache unreflektierte Frömmigkeit, die von einer methodisch gepflegten Spiritua-lität beziehungsweise dem Dogma der schriftlichen Quellen weit entfernt war. Die Glau-benswelt der Muslime, soweit praktiziert, war synkretistisch, alltagsorientiert und pragma-tisch veranlagt. In diesem Zusammenhang weist Ernest Gellner darauf hin, dass dieMuslime auf dem Balkan einer der seltenen Fälle sind, in denen die volkstümliche, mysti-sche Richtung des Islam sich offenkundig erhalten konnte, ohne in Misskredit zu geraten.„Eine Erklärung dieser balkanischen Besonderheit ist nicht schwer:“ – so Gellner – “DieMuslime Südosteuropas, gleichgültig ob sufi oder Schriftgläubige, stellten auf jeden FallMinderheiten innerhalb der nationalen Gemeinschaften dar [bzw. sie waren mit Atheismus-Kampagnen der jeweiligen kommunistischen Regierungen konfrontiert, J.T.-S.]. Deshalbkonnten die Vertreter der Orthodoxie ihre Gegner nicht durch die Drohung einschüchtern,sie als „Volksverräter“ zu brandmarken“.9

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und mit der Entstehung neuer Generati-onen wurden diese Praktiken mit veränderten gesellschaftlichen Prozessen konfrontiert undsie mussten sich nicht nur mit Angriffen säkularisierter, sondern auch zunehmend reform-orientierter islamischer Kreise auseinandersetzen.

2. Die neuen Generationen

Vermittler islamischen Wissens während der 45 Jahre Staatssozialismus in Bulgarien warenneben Familienmitgliedern die sogenannten Hodžas (Koranlehrer), die den Kindern dieLehren des Korans vermittelten und einige religiöse Dienste – wie Begräbnisrituelle,mevlid, Beschneidungen etc. – durchführten. Seit Beginn der 1960er Jahre konnten sie diesnur noch heimlich, unter der drohenden Gefahr, in ein Lager für politische Gefangene de-portiert zu werden, tun. Daneben gab es im Dienst des Staates tätige Imame, die an dennoch verbliebenen Moscheen das Ritualgebet leiteten, deren Zahl aber kontinuierlich seitden 1950er Jahren von 3.200 auf 580 Personen reduziert wurde.10 Sie bezogen ihr Gehalt

8 So erzählte der Redakteur der Zeitschrift Musulmani, Čaušev, dass bei der Erteilung eines Reisepassesdie Absolventen der islamischen Hochschulen Njuvvab zu den ersten „Begünstigten“ gehörten. Inter-view mit Čaušev im Juni 2009.

9 Ernst Gellner, Leben im Islam. Religion als Gesellschaftsordnung, Stuttgart: Klett-Cotta, 1985, 96.10 Ibrahim Jalamov, Istorija na turskata obštnost v Bălgarija, Sofia: IMIR, 2002, 329.

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Die neuen Generationen 239

aus der Staatskasse, und es war ein offenes Geheimnis, dass von ihnen Loyalität zu denkommunistischen Machthabern erwartet wurde.11

In den ersten Jahren nach der politischen Wende waren die Vertreter dieser beidenGruppen auch die einzigen, die religiöse Dienste und Koranunterricht anbieten konnten.Erst seit 2002 konnte mit den ersten Absolventen des islamischen Hochschulinstituts inSofia sowie (vereinzelt) mit Muslimen, die an anderen Universitäten studiert hatten, ge-rechnet werden. Da die meisten Hodžas die arabische Sprache nicht beherrschen, erschöpftesich der Koranunterricht in der Entwicklung der Lesefertigkeit und dem Auswendiglerneneiniger Suren aus dem Koran. Um Hodža zu werden, reichte es aus, wenn eine Gruppe vonGläubigen einen Mitbewohner oder eine Mitbewohnerin (Anna), die über islamischeKenntnisse verfügte, mit der Ausrichtung der Rituale und des Koranunterrichts für dieKinder beauftragte. Es handelte es sich um „Kleinführer“, die ihre Dienste in Teilzeit undgegen Entlohnung seitens einer begrenzten Gruppe von Gläubigen ausübten. Ihre Kenntnis-se waren sehr formal, aber ihr rudimentäres Wissen bildete trotzdem eine wichtige sozialeRessource. Als Bewahrer der Tradition verfügten sie nicht nur über islamisches Wissen, siewaren auch mit magischen Praktiken vertraut.

Ab Anfang der 2000er Jahre begann sich die Situation zu ändern und der Einfluss jün-gerer Geistlicher und muslimischer Intellektueller, die nach der politischen Wende dieMöglichkeit hatten, ein islamisches Studium abzuschließen, wurde immer größer. Waren esin den 1990er Jahren fast ausschließlich ältere Personen, die als Imame oder Islamlehrertätig waren, haben 2010 insgesamt 174 bulgarische Muslime am Islamischen Hochschu-linstitut in Sofia einen Abschluss erworben. Über 60 weitere haben ein theologisches Studi-um in der Türkei absolviert, 38 in Saudi-Arabien, etwa 50 in Jordanien, 4 in Ägypten sowie2 weitere in Syrien.12 Neben dem Obersten Islamischen Institut in Sofia bieten in Bulgarienauch weitere geistliche Mittelschulen sowie spezialisierte Imamen-Schulen die Möglich-keit, eine islamisch-theologische Ausbildung zu erwerben.13 Als Beispiel für die veränder-ten Verhältnisse nach 1989 kann das Bildungsniveau der Koranlehrer dienen. So verfügtennach Angaben des Leiters der Abteilung Iršad beim Muftiamt im Jahr 2011 rund 40% allerKoranlehrer, die häufig auch als Imame tätig waren, über eine islamische Hochschulbildungund rund 30% über eine mittlere Schulausbildung. Bei 20 bis 30% handelte es sich umMuslime, die keine religiöse Schule besucht hatten. Darüber hinaus sind in der Gegenwartdie meisten Koranlehrer (zumindest diejenigen, die an den vom Muftiamt beaufsichtigenMoscheen tätig sind) durch die Verwaltung der bulgarischen Muslime angestellt, die ihnenLehrmaterialen und Lehrprogramme zur Verfügung stellt.14 Von den insgesamt 900Imamen, die es im Jahr 2010 gab, wurden 560 von der obersten Verwaltung der muslimi-

11 Laut Angaben der Direktion für religiöse Angelegenheiten war auch ein nicht unbedeutender Teil vonihnen für die Staatssicherheit „tätig“. Interview mit Georgi Krastev im Oktober 2010.

12 Persönlich erteilte Auskunft der Abteilung „Islamische Bildung“ des Muftiamtes in Sofia vom Oktober2010. Wie viele der Studenten in Jordanien ihr Studium abschlossen, konnte nicht ermittelt werden.Nicht enthalten in der Angabe ist die Anzahl derjenigen Muslime, die ein Studium im Iran aufgenom-men haben.

13 Siehe „Islamische Bildungseinrichtungen“ (Kapitel III).14 Bei einem Teil der Koranlehrer handelt es sich um die an den Moscheen tätigen Imame, bei einem

weiteren vorwiegend um Studenten oder Absolventen des Islamischen Hochschulinstituts, die auf Ho-norarbasis eingestellt werden. Interview mit Izbištali im September 2011.

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schen Gemeinschaft ernannt. Sie mussten somit vorher eine abgeschlossene islamisch-theologische Ausbildung nachweisen.15

Durch den neu eröffneten Zugang zu islamischen Bildungseinrichtungen sowie zur is-lamischen Literatur in den Massenmedien ergab sich zugleich für jeden interessierten Mus-lim die Möglichkeit, sich islamisches Wissen anzueignen und islamische Quellen indi-viduell zu deuten. So gibt es in Bulgarien neben Gelehrten, die in den Strukturen desMuftiamtes integriert sind, auch einzelne fromme Musliminnen und Muslime, die sich fürislamische Normen einsetzen und sich auf zivilgesellschaftlicher Ebene für den Islam enga-gieren. Hier lässt sich ein Prozess der Individualisierung erkennen, der mit einer Fragmen-tierung islamischer Autorität einhergeht. Einige dieser Musliminnen und Muslime, dielokale Netzwerke bilden, wurden durch das Muftiamt unterstützt, anderen dagegen wurdeMisstrauen entgegengebracht. Die Zuordnung zur neuen muslimischen Elite hängt vorallem davon ab, ob die Person über islamisches Wissen sowie Autorität in den lokalenGemeinden verfügt. Die Grenze zwischen den Ulemas, die durch das Muftiamt eingestelltwerden, und muslimischen Intellektuellen, die über Wissenskapital verfügen, ist aber flie-ßend. Durch die gesetzliche Regelung, dass nur mit der Erlaubnis des Muftiamtes religiöseTätigkeit (Lehre und Predigt) in der Öffentlichkeit durchgeführt werden kann, verfügt dasMuftiamt über ein funktionierendes Eingriffsrecht, das ihm erlaubt, die Tätigkeit „unbe-quemer“ Gruppierungen zu kontrollieren.16 Zugleich lässt sich aber auch eine relativ dichteVernetzung feststellen. So waren Arif Abdulah und Ali Hairaddin – die Gründer der erstenerfolgreichen Vereine der bulgarischen Muslime – hochrangige Mitglieder der Verwaltungder bulgarischen Muslime, bevor sie aus den Strukturen des Muftiamtes entfernt wurden.17

Es war einerseits die Kritik am Eingreifen der BRF in die Autonomie der muslimischenGlaubensgemeinschaft, andererseits Konkurrenzverhältnisse, die für Spannungen sorgten.In Interviews mit Vertretern des Muftiamtes äußerten die Gesprächspartner in diesem Zu-sammenhang Zweifel, ob Ali Hairaddin, falls er doch als Obermufti und mit der Zustim-mung der BRF gewählt würde, vielleicht eine andere Position vertreten würde. Trotz allerSpannungen werden Ali Hairaddin und Arif Abdulah auch gegenwärtig zu Vorträgen beiVeranstaltungen des Muftiamtes eingeladen, nutzen also die offiziellen Netzwerke derVerwaltung, um islamisches Wissen zu vermitteln. Ein weiteres Beispiel für durchlässigeGrenzen ist die Schule für Imame in Sarnica, die bis 2006 ohne Zustimmung desMuftiamtes von unabhängigen Islamlehrern geleitet wurde, um dann unter die Ägide derzentralen Verwaltung genommen zu werden. Der Unterschied zwischen dem Muftiamt undanderen religiösen Anbietern auf dem islamisch-religiösen Markt liegt dennoch darin, dassdas Muftiamt ein privilegierter Partner des bulgarischen Staates ist, während unabhängigeAkteure vorwiegend auf der Ebene der Zivilgesellschaft aktiv sind.

Die Akteure, die sich für eine Erneuerung des bulgarischen Islam einsetzen, bilden alsokeine homogene Gruppe. Darunter sind neben Mitgliedern der offiziellen bulgarischenUlemas auch muslimische Intellektuelle und einzelne gläubige Muslime, die in der isla-misch-religiösen Szene aktiv sind. Ihnen gemeinsam ist die Suche nach einer Erfahrung desIslam, die über die ihrer Eltern hinausgeht. Sie richten sich gegen den Traditionalismus des

15 Auskunft der Abteilung Irzad im September 2011.16 Gesetz über die Konfessionen (Art. 27), in: Dăržaven vestnik Nr. 120 vom 29. Dezember 2002.17 Mehr dazu in Kapitel II.

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bulgarischen Islam und setzen sich für einen anderen Umgang mit den religiösen Wertenein. Das „einfache“ Ausführen der religiösen Praktiken reicht ihnen nicht aus. Sie sind aktivin weiteren Bereichen wie dem islamischen Bildungswesen, bei der Produktion islamischerLiteratur oder auch in Bezug auf (scheinbar banale) Aspekte des alltäglichen Lebens, etwabeim Sport und bei der „Freizeitgestaltung“. Als Beispiel kann die 2008 in Rudozem durchden Imam der dortigen Moschee ins Leben gerufene Fußballmannschaft dienen. Unterdes-sen gibt es in Madan die erste islamisch-religiöse Musikband.18 Mit ihren Aktivitäten habendiese Muslime vor allem Erfolg unter den Jugendlichen und Frauen. In ihren Vorstellungenüber die Rolle der Religion in der Gesellschaft sowie in ihrer Motivation unterscheiden siesich deutlich von früheren Generationen:

„Für uns bedeutet der Islam nicht nur, sich an das Gebet und die Fastenzeiten zu hal-ten. Islamische Ethik und soziale Arbeit sind genauso wichtig. […] Deshalb ist dieRolle derjenigen, die den Islam studiert haben, sehr wichtig. Wir verfügen über ana-lytisches Denken. Wir sind nicht bereit, uns mit dem vorgefundenen Status quo ab-zufinden. Wenn sich nichts verändert, wo bleibt dann unsere Rolle in der Gesell-schaft?“19

Die neuen Wortführer des Islam ersetzen die religiöse Familientradition, die früher dieGrundlage des Wissens ihrer Eltern bildete, durch Vereinigungen, die die Muslime in derÖffentlichkeit vertreten wollen und sich für spezifische religiöse Aufgaben einsetzen. SeitAnfang der 2000er Jahre wurde eine Reihe einheimischer islamischer Organisationen ge-gründet, zu denen neben der bereits erwähnten Organisation für islamische Religion undKultur und dem Verein der Muslime Bulgariens (vgl. Kapitel II) auch weitere Vereinigun-gen wie Ikra (Madan), Mostove (Madan), Roza (Plovdiv), Utro (Devin), Iršad (Sofia),Vjara (Velingrad) und der Verein für Freundschaft und Bruderschaft Ahmed Davudoglu(Sofia) gehören. Damit sind bei Weitem nicht alle Vereine und Stiftungen genannt, die inder letzten Dekade in Bulgarien gegründet wurden. Hinsichtlich der Orientierung, Mitglied-schaft und materiellen Ressourcen dieser Vereine sind erhebliche Unterschiede erkennbar.Während einige der Vereine vorwiegend mit der Verbreitung islamischer Literatur beschäf-tigt sind (z.B. Vjara), versuchen andere, lokale muslimische Identitäten zu artikulieren(OIRK, Ikra). Noch andere widmen sich vorwiegend spezifischen religiösen Aufgaben(Verein für Freundschaft und Bruderschaft), indem sie den islamischen Bildungssektorunterstützen. Nachdem während der Zeit des Sozialismus keinerlei derartige Artikulation inder Gesellschaft möglich war, wird die Gründung von einheimischen muslimischen Verei-nigungen als Symbol muslimischer Identität sowie der Positionierung als Teil der Zivilge-sellschaft in Bulgarien wahrgenommen.20

18 Gegründet wurde die Band Vest durch den ehemaligen Mufti von Rudozem, einen Diskjockey und einenComputerspezialisten. Der Stil der Gruppe ist eine Mischung aus Pop-Musik und Naschid, eine Art is-lamischer Musik, die meist von Männern gesanglich vorgetragen wird und islamisch-religiöse Inhaltetransportiert.

19 Interview mit dem Regionalmufti von Smoljan, Nedžmi Dabov, im September 2011.20 „Zivilgesellschaft“ ist ein Bereich, in dem freiwillige Vereinigungen, Stiftungen, Initiativen, Nicht-

Regierungsorganisationen (NGOs) und Nonprofit-Organisationen (NPOs) tätig sind. Zivilgesellschaftli-che Akteure können sich auf allgemeingesellschaftliche Probleme wie auch auf Anliegen und Bedürf-nisse spezieller Gruppen konzentrieren und lokaler, regionaler oder internationaler Natur sein. Die Zi-

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Durch ihre Aktivitäten sowie durch die von ihnen herausgegebene Literatur und Zeit-schriften haben die Vertreter der neuen Generation der Muslime nicht nur die Möglichkeiterhalten, Stellung zu islamischen Fragen zu nehmen, sondern auch diejenige, die Autoritättraditioneller religiöser Führer zu bestreiten. Der Prozess religiöser Erneuerung, der durchverschiedene Akteure vorangetrieben wird, vollzieht sich dabei häufig als ein Generations-konflikt. Den alten traditionellen Eliten wirft man neben mangelhaften Kenntnissen undKonservatismus vor, eine Kooperation mit den früheren kommunistischen Machthaberneingegangen zu sein.

„500 bis 700 Leva nehmen die Hodžas, um ein Begräbnisritual durchzuführen. Wir,die studiert haben, wollen das ändern. Das ist kein Wahhabismus. Das hat mit demIslam nichts zu tun. Während der sozialistischen Zeit haben die Hodžas das getan,was ihnen von den Machthabern abverlangt wurde. Viele von denen waren Atheis-ten, haben jedoch den namas [das religiöse Ritual] durchgeführt. Das ganze Dorf er-innert sich noch daran, wie unser Hodža nach der Freitagspredigt in die Gaststätteging, um dort mit den Polizisten Schnaps zu trinken. Das wollen wir auch ändern,Alkohol ist im Islam verboten“.21

Insbesondere Anfang der 2000er hatte es Spannungen zwischen Vertretern der „jüngeren“und der „älteren“ Generation gegeben, so dass sich das Muftiamt veranlasst sah, Seminarefür Imame zu veranstalten, bei denen „die aufgetretenen Probleme angesprochen wur-den“.22 Die „Alten“ bestanden darauf, den Islam bewahrt zu haben, und forderten mehrRespekt von den Jüngeren. Einerseits standen sie der Mehrheit der praktizierenden Musli-me sehr nah, indem sie eine traditionelle synkretistische Version des Islam predigten, ande-rerseits vertraten sie eine Mischung aus widersprüchlichen Positionen, in denen sie jeglicheVeränderungen ablehnten, aber einer säkularen Gesellschaft durchaus Sympathien entge-genbrachten. Anlass für Auseinandersetzungen gaben nicht nur einige religiöse Praktiken,von denen später die Rede sein wird, sondern auch Uneinigkeiten darüber, wie lang und mitwelcher Haltung das Gebet verrichtet werden soll, oder auch die Frage, ob ein Muslim inder Moschee die Gebetsmütze tragen müsse. Die jüngere Generation verstand weder dieletztgenannte Problematik noch hielt sie eine Diskussion der Frage für zeitgemäß, ob einemuslimische Frau in die Moschee gehen dürfe. So gab Veždi Ahmedov, der Leiter derbulgarischen Filiale der World Assembly of Muslim Youth, seine Eindrücke wie folgt wie-der:

„Nehmen wir als Beispiel den Hodža meines Dorfes. Er wurde 1933 geboren. SeinLehrer, von dem er seine Kenntnisse erworben hat, hatte noch zur Zeit des Osmani-schen Reichs gelebt. Dadurch hat er seine „Prägung“. Heute betrachtet jeder dieEntwicklung aus seiner eigenen Perspektive. Die Hodžas wollen ihre Positionen er-

vilgesellschaft bildet den Rahmen, innerhalb dessen sich bürgerschaftliches Engagement entfalten kann.Siehe mehr dazu: Ansgar Klein, Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Politische Kontexte und demokratie-theoretische Bezüge der neueren Begriffsverwendung, Opladen: Leske/Budrich 2001 sowie FrankAdloff, Zivilgesellschaft: Theorie und politische Praxis, Frankfurt/New York: Campus 2005.

21 Interview mit dem damaligen Leiter des Studentischen Vereins am Obersten Islamischen Institut inSofia, Mustafa Izbištali, im Juni 2009. Seit 2010 ist Izbištali Leiter der Abteilung Iršad des Muftiamtes.

22 Siehe beispielhaft: Seminar za imamite, in: Mjusjulmani, Juni 2002.

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Die neuen Generationen 243

halten. Es kommen jedoch jüngere Muslime, die sich Veränderungen wünschen. DieHodžas weigern sich und bestehen darauf, dass sie den Islam bewahrt haben. DieJüngeren, die unerfahren und ungeduldig sind, schätzen die Situation nicht immerrichtig ein und geraten in Streitigkeiten. Ich selber habe mehrmals Streitigkeiten an-gezettelt. So war es früher undenkbar, dass ein Muslim ohne Mütze in die Moscheegeht. Ich bin zu unserem Hodža gegangen und sagte ihm, dass eine Gebetsmütze ei-gentlich gar nicht wichtig sei. ‚Nein, ohne Mütze geht es nicht‘ – beharrte er. ‚OhneMütze darfst du gar nicht in die Moschee kommen.‘ Er wollte nicht nachgeben undich wollte nicht nachgeben. Alte Hodžas sind auch unzufrieden, wenn eine Frau denHidžab trägt. Es sei nicht gut, wenn sie sich von den anderen Frauen unterscheidet,meinen sie. Für einen islamischen Gelehrten ist dies eine ungewöhnliche Haltung.Ein weiteres Problem ist die Koranrezitation. Sie sind überhaupt nicht in der Lage,den Koran richtig zu lesen. Wir dagegen kennen die arabische Sprache. Über andereSachen könnte man sich streiten. Aber bei der Koranrezitation? Insgesamt sind diealten Hodžas sehr konservativ. Sie haben ihre konkreten Vorstellungen, was unterdem Islam zu verstehen ist. Alles, was sich davon unterscheidet, ist für sie nichtrichtig.“23

Nach der politischen Wende, als es wieder möglich war, muslimische Namen anzunehmen,kam es hierbei zu weiteren Kontroversen. Einige Hodžas (vorwiegend in dem Rhodopen-Gebirge, wo Pomaken leben) gaben bekannt, dass sie nicht bereit seien, Menschen mitnichtmuslimischen Namen zu bestatten. In diesem Zusammenhang berichtete VeždiAhmedov Folgendes:

„Nicht alle haben ihre Namen geändert. Die Hodžas sind jedoch auf die Idee ge-kommen, dass sie die Begräbnisrituale ausnutzen konnten, um Druck auf diese Men-schen auszuüben. Für sie war der Name das wichtigste Kriterium, ob ein MenschMuslim ist oder nicht. ‚Wenn du Ivan heißt, bist du kein Muslim’, lautete ihre Ar-gumentation. Für unseren Hodža ist das bis in die Gegenwart ein Gesetz. Ich habemehrmals versucht, ihn zu überzeugen, dass nicht der Name über den Glauben ent-scheidet. An einigen Orten ist es deshalb sogar zu Handgreiflichkeiten gekommen.Insbesondere wenn der Tod unerwartet kommt, sind die Hinterbliebenen sehr sensi-bel. Ich erinnere mich an einen Fall im Dorf Varbina, Anfang der 1990er Jahre. DerSohn des Verstorbenen war etwas hitzköpfig. Der Hodža wollte nicht nachgebenund es kam zu Handgreiflichkeiten. Für mich zeigen solche Hodžas kein Verständ-nis. Eine solche Haltung entspricht dem Islam nicht. Die Gelehrten sollten etwasflexibler und verständnisvoller sein. Nach vielen Jahren des Sozialismus können sichdie Menschen nicht so schnell ändern. Nur auf Grund des Namens zu entscheiden,ob die Person ein Muslim ist oder nicht, kann nicht richtig sein. In den 1990er Jah-ren waren es vorwiegend die Alten, die sich weigerten, Begräbnisse durchzuführen.Heute gibt es auch Jüngere, die sich an diese Prinzipien halten. Es könnte sein, dassdie Probleme auch in Zukunft bleiben. Aber in den 1990er Jahren – da waren es die„Alten“.

23 Interview mit Veždi Ahmedov am 19. September 2011. Zu WAMY siehe Kapitel V.

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Die kritische Haltung zu traditionellen muslimischen Eliten war von einem neuen Ideal desreligiös aktiven Muslims begleitet. Dies wird beispielweise in einem religiösen Vortragzum Thema „Die muslimische Persönlichkeit in der europäischen Gesellschaft“ deutlich,den der Leiter der OIRK, Arif Abdulah, im Mai 2007 vor rund 130 vorwiegend jüngerenMuslimen aus ganz Bulgarien hielt:

„Warum kehrt die Jugend heutzutage dem Islam den Rücken? Sehen sie die Men-schen unter uns, die unsere Glaubensgemeinschaft vertreten. Sie gehen zwar in dieMoschee, können den Koran rezitieren und den namaz durchführen. Mehr könnensie jedoch nicht anbieten. Sie interessieren sich weder für die Komplexität des Le-bens, noch haben sie Interesse an Kunst, Wissenschaft oder Veränderungen in derGesellschaft. Warum soll ein junger Mensch ihnen folgen? Für diejenigen von uns,die studiert haben, gibt es keinen Grund, diesen Menschen zu folgen. Ein Mensch,der zwar in die Moschee geht, danach jedoch kein Beispiel im Leben geben kann, istschlicht und einfach uninteressant. Deshalb brauchen die jüngeren Menschen, diesich für Religion interessieren, ein Vorbild, eine charismatische Persönlichkeit wieunseren Propheten, der sie motivieren und inspirieren kann. Fähig, gelehrt, mit Mo-ral und einem guten Charakter.“24

„Es reicht nicht aus, ein guter Theologe zu sein“ – das ist auch die Botschaft von AhmedOsmanov, dem Gründer des Vereins IKRA (Madan) und Leiter des gleichnamigen islami-schen Internet-Portals. „Vorzügliche Charaktereigenschaften in allen Bereichen des Lebens,die Fähigkeit, mit Menschen umzugehen und vor allem Moral sind die wichtigsten Voraus-setzungen, um ein guter Muslim und ein religiöser Führer zu sein.“25

Kennzeichnend für die Vertreter der neuen Generation ist vor allem ihr individueller, re-flektierter Zugang zur Religion. Indem sie einen Rekurs auf den „eigentlichen Islam“ neh-men, grenzen sie sich einerseits von den Traditionen der Elterngeneration ab und bestehenandererseits auf ihr Recht auf Differenz und Sichtbarkeit in der bulgarischen Öffentlichkeit.Dies tun sie insbesondere mit wachsendem religiösem Wissenskapital.

„Es gibt unter uns solche, die zwar wissen, dass sie Muslime sind, aber nur weil siein einer muslimischen Familie geboren sind“, erzählte eine Gruppe von Frauen, diesich in der Moschee von Smoljan treffen. „Für sie bedeutet Islam nur namaz,Ramadan und falls möglich hadž. Das ist alles, was sie über den Islam wissen. Unsnennen sie ‚die Neuen‘. Die ‚Neuen‘ sind aber nicht neu, sondern besitzen Wissenüber den Islam. Der Koran ist inzwischen übersetzt, der Koran ist nicht etwas, dasman nicht versteht. Unsere Pflichten sind konkret.“26

24 Arif Abdulah, Ličnostta na mjusjulmanina v evropeiskoto obštestvo, Audio-CD 2007.25 Interview mit Ahmed Osmanov im Juni 2010.26 Gruppeninterviews mit Kopftuch tragenden Frauen in Smoljan im September 2011.

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Das Recht auf Differenz und Sichtbarkeit. Die Frauengruppen 245

3. Das Recht auf Differenz und Sichtbarkeit. Die Frauengruppen

Seit seiner Gründung war das Muftiamt die offizielle Vertretung der sunnitischen Gemein-schaft der Muslime Bulgariens. Das Muftiamt hatte das Monopol und gab den legitimenRahmen für den Ausdruck des Glaubens und die religiöse Praxis vor. Dieses Monopol hattezwar zur Folge, dass nicht unbedingt zu intellektuellen Innovationen ermutigt wurde, hataber im Verlauf eines Jahrhunderts religiöse Schulen, Gerichte und weitere Institutionender Muslime verwaltet und das islamisch-religiöse Leben gelenkt. Im Zuge der jüngstenNeuregelungen der Beziehungen zwischen Staat und Religion wurde das Monopol in Fragegestellt, und dies zu einer Zeit, als die religiöse Szene einen Prozess der Liberalisierungdurchlief. Einheimische Muslime, die sich aus verschiedenen Gründen von den offiziellenAnsichten der traditionellen Führung distanzierten, erhielten die Möglichkeit, sich auf eige-ne Initiative zu engagieren. Dies sorgte nicht nur für Spannungen innerhalb der Gemein-schaft, sondern förderte die Entstehung islamischer Vereinigungen sowie die Ausbreitunglokaler islamischer Netzwerke.27 Bei dieser Entwicklung übernahmen nicht zuletzt musli-mische Frauen eine wichtige Rolle.

Die erste einheimische Organisation, die eine Frauenabteilung hatte und durch ihre Ak-tivitäten einen weiten Kreis von Frauen ansprechen könnte, war die OIRK. Unter den Mit-gliedern der UMB waren es ebenfalls zwei Frauen, die als tragende Kraft zur Gründung derdamals erfolgreichsten muslimischen Webseiten www.islambg.com und www.imam-islam.hit.bg beitrugen. Auch nach der Auflösung der OIRK und der UMB blieben die betei-ligten Akteure unbestrittene Autoritäten vorwiegend im Rahmen der lokalen Gemeinden,aber auch darüber hinaus. Ali Hairaddin und gelegentlich Arif Abdulah, soweit Letzterersich in Bulgarien aufhielt, waren als Referenten bei religiösen Veranstaltungen gern gese-hen. Die zwei Frauen, die sich um die inzwischen aufgelösten Webseiten kümmerten, grün-deten neue Internet-Portale.28 Auch die Netzwerke, die aus den beiden Organisationen ent-standen waren, blieben erhalten, und die Frauen, die sich durch die Aktivitäten der OIRKkannten, fuhren fort, sich zu treffen, um religiöse Texte zu lesen und über Themen, die siebewegten, zu diskutierten.

Diese Art von Aktivitäten ist für den bulgarischen Kontext ein relativ neues Phänomen.Zwar gab es vor 1944 Vertreter der Ulema, die theologische Zirkel bildeten, und auch Intel-lektuelle muslimischen Hintergrunds kamen in verschiedenen Vereinigungen zusammen.Im ersten Fall handelte es sich jedoch um offizielle Vertreter des Muftiamtes, im zweiten

27 Islamische Netzwerke sind interpersonale Beziehungsgeflechte von Muslimen, die sich über Inhaltekonstituieren, die der Religion des Islam zu eigen sind. Eine Grundannahme der Netzwerkanalyse ist,dass Handlungsmöglichkeiten und das Erreichen von Handlungszielen der Akteure auch durch die sozi-alen Beziehungen des handelnden Individuums bestimmt werden. Durch soziale Netzwerke wird sozia-les Kapital generiert. Roman Loimeier und Stefan Reichmuth argumentierten in Bezug auf die Netz-werkanalyse innerhalb des Islam, dass angesichts der Tatsache, dass der Islam „keine zentralisiertenreligiösen Institutionen kennt, ... die Beziehungen zwischen den verschiedenen muslimischen Gruppenund ihren religiösen Autoritäten eine entscheidende Rolle [spielen]“. Vgl. hierzu Roman Loimeier(Hg.), Die islamische Welt als Netzwerk: Möglichkeiten und Grenzen des Netzwerkansatzes im islami-schen Kontext, Würzburg: Ergon-Verlag, 2000, sowie Thomas Eich, Islamische Netzwerke, in:European History Online, EGO, 2010.

28 Unter anderem Dobra duma, <http://dobraduma.com/> (04.11.2013).

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um Personen mit kemalistischer, zum Teil laizistischer Orientierung. Bei ihren Treffenbrauchten die Frauen, die ich während meiner Forschungsaufenthalte besuchen konnte,keine besondere Zustimmung, geschweige denn Erlaubnis irgendeiner offiziellen islami-schen Institution, um islamische Schriften zu studieren. Zum Regionalmufti von Smoljan,der für die Gemeinden Smoljan, Rudozem und Madan zuständig war, hatten sie ausgespro-chen gute Beziehungen, nicht zuletzt, weil sie sich privat kannten. Er hatte aber keine Ah-nung, über was die jungen Frauen debattierten, noch wollte oder konnte er irgendeinenEinfluss darauf nehmen. In Rudozem und Madan gruppierten sich die Frauen um die frühe-re Redakteurin der durch die OIRK herausgegebenen Zeitschrift Mjusjulmansko obštestvo,Hadžer F. sowie um die ehemalige Stellvertreterin der Frauenabteilung, die Tochter von AliHairaddin. Es handelte sich aber um keine ausgeprägte Führung, sondern um einen Effektder größeren Aktivität der erwähnten Frauen innerhalb der Gruppe. Wer die jeweils aktive-ren waren, wechselte in Abhängigkeit von der Lebenssituation der Beteiligten.

Während meiner Forschungsaufenthalte hatte ich vorwiegend Zugang zu Frauen-Netzwerken in Südbulgarien, die von jüngeren Pomakinnen und Konvertitinnen gegründetwurden. Dies bedeutet aber nicht, dass ähnliche Tendenzen nicht auch an anderen Ortenfestzustellen waren. Meine Besuche fanden deshalb in diesen Gemeinden statt, weil persön-liche Kontakte mir dort einen besseren Zugang ermöglichten. Auch an vielen anderen Or-ten, so unter anderem in Sofia, Kardžali, Blagoevgrad oder Plovdiv, haben sich – gewöhn-lich um eine Moschee, eine religiöse Schule oder um das Medienzentrum in Sofia –kleinere Gruppen von frommen Musliminnen gebildet, die sich auf religiösem Gebiet enga-gieren, Gesprächskreise gründen oder an Lesezirkeln teilnehmen. Die verhältnismäßigstärker ausgeprägte Religiosität der Pomaken kann aber kaum bestritten werden, auch wennes keine genaueren Statistiken gibt, um diese Beobachtung zu bestätigen. Ein Indiz dafür istdie Tatsache, dass die Beteiligung am islamischen Religionsunterricht unter den Pomakendeutlich höher ist als in anderen von Muslimen bewohnten Regionen. Der Regionalmuftivon Smoljan teilte mit, dass die Regionen Blagoevgrad, Pazardžik, Goce Delčev undSmoljan (Ortschaften, in denen Pomaken leben) religiöser seien und im Vergleich zuTürken und Roma einen höheren Anteil von Absolventen einer islamischen Hochschuleaufweisen. Nach Angaben des Regionalmuftis soll es 2010 allein in der Smoljan-Region 68Absolventen einer islamischen Hochschule gegeben haben. Die Hälfte davon habe ihr Stu-dium am islamischen Hochschulinstitut in Bulgarien absolviert. Von den restlichen 34hatten 25 in Jordanien, vier in Saudi-Arabien und fünf in der Türkei islamische Theologiestudiert.29

Zu den wöchentlichen Treffen in den Moscheen von Rudozem und Madan kamen zwi-schen fünf und 20 Frauen. In Smoljan bildeten etwa zehn Frauen den Kern der Gruppe. IhrBildungshintergrund war vorwiegend säkular. Im erweiterten Kreis der Frauen gab es Ab-solventinnen eines Studiums in deutscher Philologie, Architektur, Pädagogik, Journalistik,Jura und Ökonomie. Einige befanden sich noch im Studium. Andere waren im Berufslebenerfolgreich. Es gab eine Ärztin und eine Zahnärztin, eine Inspekteurin im Gesundheitsamt,eine Mitarbeiterin ökologischer Projekte, zwei Lehrerinnen, eine Computer-Designerin undeine Hebamme. Drei der Frauen hatten ein Studium am islamischen Hochschulinstitut in

29 Interview mit Nedžmi Dabov im Oktober 2010.

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Sofia abgeschlossen, eine weitere (die Frau des Imams) blickte auf eine islamisch-religiöseAusbildung in Medina zurück, eine weitere hatte diese Ausbildung in Jordanien erhalten.

In Madan trafen sich die Frauen zwei Mal wöchentlich, donnerstags und sonntags, ineiner der drei Moscheen der Stadt. In Smoljan kamen sie am Donnerstag zusammen. DieTeilnehmerinnen berichteten, dass sie sich für diesen Tag entschieden hatten, weil dieMänner ein Treffen am Freitag kritisch sahen. In Smoljan gab es einige Frauen, die unre-gelmäßig das Kopftuch trugen und es außerhalb der Moschee abnahmen. Für die restlichenGruppenmitglieder in den drei Gemeinden stellte das Tragen des islamischen Kopftuchsbeziehungsweise des Hidžabs einen wichtigen Ausdruck ihrer Identität als Musliminnendar. Die Frauen selbst nannten sich „die Gruppe der verschleierten Frauen“. Zu ihren Akti-vitäten gehörten die Lektüre religiöser Texte, religiöse Vorträge, die Teilnahme an weiterenreligiösen Veranstaltungen sowie karitative Tätigkeiten. Neben dem Austausch religiösenWissens wurden häufig Fragen zur Rolle der Frau in verschiedenen Gesellschaften, derKindererziehung, der Moral, der Familie, der Geschlechterungleichheit sowie zum Kom-plex sozialer Gerechtigkeit diskutiert. Nicht zuletzt ermöglichten die Zusammenkünfte denAustausch und vermittelten den Frauen gegenseitige Unterstützung und sozialen Halt. DieFrauen von Rudozem berichteten über ihre Mitwirkung bei der Vorbereitung einer Theater-Aufführung zur religiösen Thematik. In Madan bot eine der Frauen, die eine Schule in derTürkei besucht hatte, Türkisch-Unterricht für die anderen Teilnehmerinnen an.

Karitativ unterstützten die Frauen soziale Einrichtungen wie Kinderheime, Krankenhäu-ser und den Verein der Blinden in Smoljan, indem sie Kleidung und Lebensmittel sammel-ten und verteilten. Darüber hinaus führten sie Spendenaktionen für Menschen in Not durchund beteiligten sich an ökologischen Projekten wie zum Beispiel dem Bürgerprotest gegenden Anbau genmanipulierter Pflanzen in der Landwirtschaft. Dazu nahmen sie 2010 aneiner Kundgebung teil, hielten Vorträge an regionalen Schulen und wirkten beim Projekt„Erstellen von Postkarten in den Schulen“ mit, um Aufmerksamkeit auf das Thema zulenken. Sie gehörten zwar nicht zu den Organisatoren, beteiligten sich aber an einer Pro-testkundgebung in Madan gegen Menschenrechtsverletzungen in Palästina.

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Abb. 5: Rudozem, Juni 2009.

Abb. 6: Frauen in der Moschee von Rudozem, Juni 2009.

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Abb. 7: Frauen in der Moschee von Smoljan, September 2011.

Abb. 8: Smoljan, September 2011.

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Abb. 9: Madan, September 2011.

Abb. 10: Smoljan, September 2011.

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Obwohl einige der Frauen aus religiösen Familien kamen, hatten sie nur in den seltens-ten Fällen eine religiöse Erziehung genossen, die sie nun „fortsetzten“. Die Kopfbedeckungist unter bulgarischen Musliminnen keine Pflicht und wird zum größten Teil nicht aufgrundvon Konformitätsdruck getragen. In vielen traditionellen Familien trugen nur ältere Frauennoch oft Kopftuch, während die jüngere Generation mehr und mehr mit dieser Traditionbrach. Seit den 1960er Jahren wurde die Verschleierung in der Öffentlichkeit mit Sanktio-nen belegt, und wenn das Kopftuch getragen wurde – übrigens auch von nichtmuslimischenFrauen –, geschah dies meistens nicht nach islamischer Art. Die interviewten Frauen beton-ten ausdrücklich, dass das Tragen des Kopftuches bzw. des Hidžabs kein Zeichen der Un-terlegenheit sei, sondern auf freier Entscheidung beruhe.30 „Es gibt keinen Zwang in derReligion“. „Das Kopftuch ist für uns, um nach außen zu gehen und uns in der Öffentlichkeitzu zeigen. Es dient dazu, uns zu befreien und nicht unterdrücken zu lassen“. „Das Kopftuchnimmt eine Frau innerlich an“, waren Meinungen, die während der Gespräche immer wie-der vertreten wurden.

Es spricht aber auch einiges dafür, dass der Rückgriff auf islamische Kleidung in deneinzelnen Orten einen Schneeballeffekt hatte und auf lokaler Ebene in „Mode“ kam. InMadan war es zunächst nur eine der Frauen, die sich entschieden hatte, den Hidžab zu tra-gen. Anlass war ein religiöser Vortrag in der Moschee:

„Wir wussten damals so gut wie nichts über den Islam“, erzählte sie. „Es gab nochkeine Literatur in bulgarischer Sprache, andere Sprachen kennen wir nicht. Jede vonuns, die etwas gehört oder gelernt hatte, gab es weiter. Es war eine spannende Zeit,du beginnst zu verstehen, was das für eine Religion ist. Mein Onkel hat einen Vor-trag in der Moschee gehört. Er kam zu mir und sagte: ‚Es ist haram, unbedeckt nachaußen zu gehen.‘ Ich habe nachgedacht und mich entschieden, mich richtig zu ver-schleiern. Am Anfang haben alle komisch nach mir geschaut. Sie wollten mich nichtakzeptieren. Die erste Reaktion meines Vaters war ein Schock. Danach haben vieleandere Frauen angefangen, das Kopftuch zu tragen.“ (Madan)

Zugleich berichteten die Frauen, dass die Kopftuchdiskussion häufig dazu missbrauchtwurde, Vorurteile gegen die Muslime zu verbreiten. Einige Argumente beruhen auf derThese, muslimische Frauen hätten die Frauenrechte nicht verstanden. Weit verbreitet inBulgarien ist die Auffassung, dass muslimische Frauen Kopftuch gegen Geld tragen.

„Die öffentliche Meinung hier ist, dass Islam und Frauenrechte zwei Konzepte sind,die sich gegenseitig ausschließen“, äußerte Hadžer in einem Gespräch. „Wenn sieeine Frau mit Kopftuch sehen, so denken die meisten, dies sei ein Zeichen von Un-terdrückung und Rückständigkeit. Das stimmt überhaupt nicht. Der Islam gibt derFrau eine hohe Stellung. […] Das Problem der muslimischen Frau ist es, dass sieanders gekleidet ist“, argumentierte sie weiter. „Für mich ist das paradox: Wenn einMann im Anzug zur Arbeit geht, achtet keiner darauf. Es wird vorausgesetzt, dassdies normal sei. Wenn aber eine verschleierte Frau auf die Straße geht, drehen sich

30 Gruppeninterviews mit Kopftuch tragenden Frauen in Rudozem (Juni 2009, September 2011, Oktober2012), in Madan (September 2011) und in Smoljan (September 2011). Die offenen Interviews, bei de-nen verschiedene für die Frauen relevante Themen angesprochen wurden, fanden während des Treffensder Frauen in der lokalen Moschee in bulgarischer Sprache statt.

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die Menschen nach ihr um und fragen ‚Ist es ihnen nicht zu heiß?‘ Ich denke, dass esden Männern ebenfalls heiß ist, aber niemand achtet darauf.“ (Hadžer, Rudozem)

Das Tragen des Kopftuchs wird von den Frauen als individueller Weg zu Gott und zugleichals bewusste, freie Entscheidung angesehen. Wie eine der Gesprächspartnerinnen sagte,„Jeder soll selbst den Weg finden. Den Islam habe ich für mich entdeckt, nachdem ich meinKind verloren habe. Nicht als Vorschrift, sondern als lebendige Beziehung zu Gott.“31 Auchdie Studentinnen am Islamischen Hochschulinstitut in Sofia sowie die Schülerinnen derislamischen Mittelschulen berufen sich auf ihr Recht auf freie Wahl. „Jeder hat das Rechtzu wählen“, sagte eine Hidžab tragende Studentin in Sofia. „Ich will mich so anziehen.Aber es gibt muslimische Mädchen, die setzen ein Kopftuch auf und tragen enge Hosen. Esgibt auch solche, die keine muslimische Kleidung tragen. Das ist absolut kein Problem.“32

Diese Haltung erklärt das Nebeneinander verschiedener Kleidungs- und Lebensstile, dieman in bulgarischen Dörfern und in den Städten unter muslimischen Frauen antrifft, ohnedass es zu Konflikten oder Ausgrenzungen kommt. Insgesamt ist ein hoher Grad an Tole-ranz gegeben. Innerhalb einzelner Familien, Wohnviertel, Dörfer, Schulklassen oder Stu-diengruppen herrscht ein buntes Nebeneinander von verschiedener muslimischer wie auchnichtmuslimischer Kleidung.

Weniger Kompromissbereitschaft besteht in anderen Bereichen, etwa in der Kinderer-ziehung. Auch wenn meine Beobachtungen auf wenigen Beispielen beruhen und deshalbnicht als repräsentativ gelten können, habe ich einzelne fromme muslimische Frauen getrof-fen, die Fernsehen, Kino-, Disko- und (in einem einzelnen Fall) Schulbesuch als unzulässigfür ihre Kinder ablehnen. Im letzten Fall begründete die betroffene Frau – eine Teilnehme-rin der Rudozem-Gruppe – ihre Entscheidung damit, dass sie nicht wolle, „dass ihr Kindmanipuliert wird, dass seine Wahrnehmung getrübt und sein Gehirn gewaschen werden.“Kaum überraschen kann, dass es im Haus ihrer Familie kein Fernsehen gab. Ein Laptop mitInternetanschluss war allerdings vorhanden, auf dem kurze Kinderfilme (vergleichbar mitdem „Sandmännchen“) oder Nachrichten für die Erwachsenen zugänglich waren. Aber bloß„keine Reklame, keine mafiösen Politiker, denen das Wohl der Menschen egal ist, keinePop-Sängerinnen der bulgarischen čalga, die kaum etwas am Körper tragen, dafür aber alsStars eines materialistischen, kalten und unmenschlichen Lebensstils ohne Werte verehrtwerden.“

Nicht alle Frauen teilten diese Ansicht. So erzählte eine der Frauen in Smoljan, sie findees nicht gut, wenn ihr Kind zu Hause bleibe. Sie wünsche sich, dass es ein Teil der Gesell-schaft werde. Es sei aber auch wichtig, dass ihr Kind eine eigene Perspektive behalte:

„Wenn meine Tochter zum Kindergarten geht, sage ich ihr, dass sie bestimmte Le-bensmittel nicht konsumieren sollte. Wichtig ist, dass sie das akzeptiert und es ihrnicht aufgedrängt wird. Eine neue Erzieherin verlangte von ihr, dass sie etwas Un-geeignetes isst. Meine Tochter weigerte sich und sagte, dass sie das nicht kann. Spä-ter begründete die Erzieherin ihre Haltung damit, dass sie muslimische Essensvor-schriften nicht kenne. Meine Tochter hat sie ihr aber erklärt. Mein Kind soll nichtdenken, dass dies eine Strafe sei, sondern dass es für uns richtig ist. Ich möchte

31 Interview mit Safie im April 2013 in Sofia.32 Interview mit Studentinnen des Islamischen Hochschulinstituts in Sofia im Juli 2009.

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nicht, dass sie sich wegen ihrer Religion schämt. So wird sie auch den Anderen zei-gen, dass bestimmte Essensvorschriften für uns wichtig sind. Wir dürften uns nichtabkapseln. Es ist wichtig, dass wir uns gegenseitig kennenlernen“ (Smoljan).

„Das ist nicht immer einfach“, fügte eine weitere Frau hinzu:

„Ich möchte zum Beispiel nicht, dass meine Tochter Weihnachten feiert. Es ist einchristlicher Tag. Wenn sie aber zum Kindergarten geht, wird ihr das beigebracht. Ichkönnte sie zu Hause behalten. Oder ich könnte ihr das Geschenk zeigen und sagen,dass es von den Eltern ist und nicht vom Weihnachtsmann. Schließlich hat manmich doch dazu gebracht, ein Geschenk zu kaufen. Obwohl ich es nicht will. Mirwäre es lieber, das Geschenk zum Bairam zu kaufen“ (Smoljan).

In den Debatten um Ehe, Haushalt und Familie treten ähnliche Denk- und Argumentati-onsmuster zutage. Einerseits übernahmen die Frauen traditionelle Rollenmuster, indem sieKindererziehung und Familie als das Wichtigste in ihrem Leben akzeptierten. Einige vonihnen meinten sogar, dass führende Positionen in der Gesellschaft für Frauen nicht be-stimmt seien. Auf eine etwas idealisierte Art und Weise sprachen sie über das „amerikani-sche“ Modell, nach dem die Frau für Haushalt und Kindererziehung zuständig sein solle,bis sie ins Berufsleben einsteigen könne. Die jungen Frauen distanzierten sich somit vonfeministischen Emanzipationsmodellen, insbesondere solchen, die von der Frau verlangen,eine doppelte Rolle als Berufstätige und als Hausfrau einzunehmen. Zugleich übten siedeutlich Kritik an patriarchalischer Rollenverteilung und Männerdominanz. Tradition wirdnicht selten mit patriarchalen Strukturen gleichgesetzt: „Der traditionelle Islam verlangt,dass die Frau unter dem Mann steht. Nichts darf verändert werden“, argumentierte Hadžer.„Bei uns sagt man, ‚Die Menschen bitte in die Moschee, die Frauen unten.‘ Sind wir dennkeine Menschen?“

Die Frauen von Smoljan sprachen bei einem der Treffen in der Moschee davon, dass dieBeziehungen zwischen Mann und Frau in der Gegenwart verdreht seien:

„Wir sehen das sogar in den türkischen Serien, die zurzeit sehr beliebt sind. DerMann steht an erster Stelle und die Frau soll alles für ihn tun. Nach dem Islam istdas nicht richtig. Die Männer finden es zwar gut, weil es ihnen so passt. Auch vieleFrauen finden sich damit ab und meinen, dass dies ihre Pflicht sei. Es ist aber nichtrichtig. Die Pflicht des Mannes ist, Geld zu verdienen, die der Frau, sich um dieKinder zu kümmern. Hier enden die Pflichten. Es ist nirgendwo festgehalten, dassder Mann sich nicht im Haushalt beteiligen soll.“

Wichtig sei zu wissen, welche Pflichten und welche Rechte die muslimische Frau habe:

„Ich möchte nicht, dass einer kommt und mir sagt, was ich zu tun habe. Ich kann le-sen, ich kann mich selbst informieren. Wir wollen, dass mit unseren Familien allesin Ordnung ist, und wir wollen nach den Regeln unserer Religion leben. Wir wollennicht den Rahmen des Erlaubten überschreiten, wünschen uns aber auch, dass unsereRechte respektiert werden“ (Smoljan).

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Zwischen religiöser Erneuerung und innerer Diversifizierung254

Die interviewten Frauen erzählten von einer lebhaften Diskussion über die Beziehungenzwischen den Geschlechtern. Sie hatten eine Sure des Korans gelesen und aufgrund derLektüre den Mann mit dem Tag und die Frau mit der Nacht verglichen:

„Die Rolle des Mannes als ‚Tag‘ ist pragmatisch; seine Aufgabe ist es, sich um denLebensunterhalt der Familie zu kümmern“, argumentierten sie. „Die Frau ist wie dieNacht. Sie ist geheimnis- und gefühlvoll. Der Tag beeilt sich, zur Nacht zu kommen.Die Nacht gibt ihm Ruhe und Wärme. Heute haben sich diese Rollen jedoch geän-dert. Die Frau strebt danach, Tag zu werden und sich wie der Mann um das Ein-kommen der Familie zu kümmern. Sie geht den ganzen Tag arbeiten und weiß nicht,was in dieser Zeit mit den Kindern passiert. Nach der Arbeit geht die Frau nachHause und wird zur Nacht. Dort wartet Kochen, Putzen, sich um die Kinder küm-mern. Der Mann erwartet, dass sie ihm Ruhe und Wärme gibt. So werden die Rollendurcheinandergebracht und am Ende ist vieles falsch. Nur wenn jeder seine Verant-wortung übernimmt, gibt es eine glückliche Familie“ (Smoljan).

Damit berufen sich die befragten Frauen auf eine relativ klar definierte Einteilung der Ge-schlechterrollen in eine männliche und eine weibliche. Während dem Mann die Aufgabendes Versorgers zukommen, konzentriert sich die Rolle der Frau auf das häusliche Wohl derFamilie. Der erste Wunsch einer modernen emanzipierten Frau sei es, nach der Geburt desKindes schnell wieder zur Arbeit zu gehen. Für muslimische Frauen, die sich nach denPflichten und Rechten im Islam richten, gelte das nicht. Für sie seien die Kinder das Wich-tigste. Wenn die Frau diese Funktion nicht erfülle, sei das ein Problem für die ganze Gesell-schaft. Nicht zufällig gebe es heute viele Aggressionen unter den Jugendlichen.

Zu Konflikten komme es aber dann, wenn die Frau nicht nur eine Hausfrau sein wolleoder der Mann die Frau respektlos behandele. Es sind vor allem die auf religiösem Wissenberuhenden Islamversionen, die es in diesem Fall den Frauen erlauben, Kritik an der Män-nerdominanz und an einer „falsch verstandenen Tradition“ zu üben. In diesem Diskursdeuten die Frauen die Vorherrschaft des Mannes als Ausdruck mangelnden Respekts ge-genüber dem Islam. Der Rekurs auf den richtig verstandenen Islam dient ihnen dazu, ihreTeilnahme am öffentlichen Leben religiös zu legitimieren und die Kontrolle in Frage zustellen, die über sie ausgeübt wird. Die befragten Frauen betonen, die früheren Generatio-nen hatten mangels religiösen Wissens den Islam falsch interpretiert und ihn zumeist aufRituale und durch Männer dominierte Verbote reduziert. Die jungen Frauen stellen demIslam ihrer Eltern ihre eigenen Versionen gegenüber, wobei sie sich auf die heiligen Texteberufen. Durch den Rückgriff auf die authentischen Quellen wird das tradierte Rollenver-ständnis aufgebrochen und neu definiert. Im Namen des Islam zweifeln sie die unterprivile-gierte Stellung der Frau an und sehen in den Zeiten des Propheten Muhammeds ein Modell,das eine gesellschaftliche Aufwertung der Frau legitimiert. Nicht selten äußerten sie dieMeinung, muslimische Frauen seien gegenüber den nichtmuslimischen privilegiert, weil sieden Ausnutzungsverhältnissen moderner Gesellschaften entkommen.

„Die muslimische Frau zieht muslimische Kleidung an, um ihre Würde zu schützenund zu verhindern, dass sie zu einem Werbeartikel wird“, meinte Hadžer in einemGespräch. „Es ist kein Geheimnis, was heute in der Welt geschieht – Prostitution,uneheliche Kinder ... Die Frau wird als bloße Reklame für verschiedene Produkte

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Das Recht auf Differenz und Sichtbarkeit. Die Frauengruppen 255

benutzt, in den meisten Fällen ist sie fast nackt. Deshalb trägt die Frau im Islam die-se Kleidung, um aufgrund ihrer intellektuellen und persönlichen Eigenschaften undnicht nach der Schönheit geschätzt zu werden. Für die Entwicklung einer Gesell-schaft ist die innere und nicht die äußere Schönheit wichtig. Die Gesellschaftbraucht Moral“ (Hadžer, Rudozem).

Diese Argumentation birgt einerseits die Gefahr einer Abschottung. Sie kann aber auch alsGegenreaktion verstanden werden, um sich vor den in der Öffentlichkeit kursierenden is-lambezogenen Narrativen zu schützen. Somit wird ein Gegenbild sowohl zum Islam derEltern entworfen als auch zum dominanten Diskurs innerhalb der bulgarischen Öffentlich-keit, der den Islam als frauenfeindliche Religion abstempelt. In ihren Diskursen kehren dieFrauen nicht selten Stereotype um, sodass der Islam als tolerant und respektvoll gegenüberder Frau erscheint während die Frau in Bulgarien und in westlichen Gesellschaften äußerenSchönheitsidealen verfalle und dadurch zum Objekt des Sexismus und der Ausnutzungwerde.

Die Diskurse der jungen Musliminnen sind nicht frei von Ambivalenzen. So besinnensie sich einerseits auf ihre Rolle als Mutter und Hüterin des Hauses, andererseits bestehensie auf ihrer Partizipation am öffentlichen Leben. Indem sie die Bedeutung der Frau alsMutter und Hausfrau betonen, bemächtigen sie sich eigenhändig traditioneller Geschlech-terrollen und bekräftigen damit eine geringere Beteiligung der Frau am öffentlichen Lebenin der Gesellschaft. Die Kindererziehung wird dementsprechend als große Verantwortunggesehen und von den Frauen als das Wichtigste in der Gesellschaft gedeutet. Die Realitätsieht jedoch komplexer aus als die Argumentation der Frauen. Nach ihren eigenen Lebens-situationen und -zielen gefragt, distanzieren sie sich von einer klar definierten Rollenvertei-lung der Geschlechter. Insbesondere diejenigen Frauen, die berufstätig sind oder studieren,wollen sich nicht auf eine Hausfrauenrolle reduzieren lassen. Dies hat eine Flexibilisierungder Rollenverteilung zur Folge. Die Frauen greifen nicht selten auf das „Modell des Pro-pheten“ zurück, um die Wichtigkeit zu betonen, auch den Mann in Haushalt und Kinderer-ziehung einzubinden. Folglich können oder sollen Rollen in Familie und Öffentlichkeitumverteilt und neu gedeutet werden. Einer eindeutigen Rollenzuweisung steht vor allemdas Streben nach Bildung und Wissen entgegen. Das Interesse der Frauen an Bildung istnicht nur für die Erziehung der nächsten Generation wichtig, sondern nimmt auch in ihrenLebensentwürfen eine besondere Stellung ein. Durch die aktive Teilnahme am öffentlichenLeben, sei es durch einen Beruf oder durch ein Studium, verschiebt sich die klar gezogeneGrenze zwischen „erlaubter“ und als „problematisch“ angesehener Partizipation der musli-mischen Frau. Die Vorgabe stabiler Geschlechterrollen wird rhetorisch beibehalten, in derUmsetzung scheint sie jedoch flexibel zu sein.

Aufschlussreich ist ferner die Stellung der befragten Frauen zur Polygamie. Einerseitsstellen sie die polygame Form der Familie – so wie sie in den heiligen Schriften beschrie-ben wird – nicht in Frage. Zugleich zweifeln sie im Namen des Islam die Polygamie an:

„Wenn unser Prophet es für richtig hält, kann ich ihm nicht widersprechen. Es istaber sehr schwierig, kaum realisierbar, eine polygame Familie zu haben“, sagteMilena I., eine der bekanntesten bulgarischen Konvertitinnen in einem Interview imApril 2013. „Polygamie bedeutet nicht einfach fremdzugehen. Der Mann übernimmtdie gleiche Verantwortung für die Frauen und für die Kinder. Die Kinder sind nicht

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unehelich. Aus finanziellen Gründen ist das aber nicht möglich. Was theoretischmöglich ist, bedeutet nicht, dass es passiert.“33

„Als theologischen Standpunkt akzeptiere ich es“, meinte auch Safie, eine jüngere Pomakinaus Sarnica, „aber als Mensch lehne ich die Polygamie ab.“34 Sie erklärte die Entstehungdieses Familienmodells aus dem historischen Kontext. Damals, zur Zeit des Propheten, seies weit verbreitet gewesen sein, dass ein Mann mehrere Frauen hatte. Deshalb sei es nochnicht möglich gewesen, eine Begrenzung resolut durchzusetzen, und die Zahl der Frauenwurde auf vier beschränkt:

„Es ist aber nicht natürlich“, argumentierte sie. „Die ersten Menschen waren zwei,Adam und Eva. So wie ein Mann nicht akzeptieren würde, dass die Frau einen zwei-ten Mann hat, ist es auch umgekehrt. Die Frau will das auch nicht. Für mich bestehtdie Familie aus Mann, Frau und den Kindern. Das verstehe ich, wenn ich den Koranlese. Der Koran befürwortet die Unterdrückung der Frau nicht.“35

Dieses Beispiel zeigt, dass die befragten Frauen den Koran nicht einfach auf einen Verhal-tenskodex reduzieren, der im Alltag strikt eingehalten werden müsse. Vielmehr sehen sieim Koran Botschaften, die aus dem historischen Kontext zu deuten sind, bevor sie auf ihreeigene Lebenssituation übertragen werden.

Weitere Themen, die während der Forschungsaufenthalte unter muslimischen Frauenpräsent waren, waren ihr „Recht“ auf Hausgeburt, das Vermeiden von Impfungen für dieKinder und das Kopftuchverbot an einigen bulgarischen Schulen. Der Wunsch, die Kinderzuhause zu entbinden, korrelierte nicht zuletzt mit einer guten Portion Misstrauen gegen-über den Ärzten. Zugleich wollten die betroffenen Frauen aber auch selbst bestimmen:

„Wenn du dein Kind zu Hause bekommst, vermeidest du den gesamten Stress unddie Medikamente, die sie dir verabreichen. Wir verlassen uns auf Gott. Diese Gesell-schaft versklavt uns, das zu tun, was als richtig angesehen wird. Keiner erzählt dir,was sie mit dir machen und warum sie es machen“ (Smoljan).

Ähnliche Argumente wurden in Bezug auf die Kinder-Impfungen vorgebracht. Es seiselbstverständlich, dass dies und anderes gemacht werden müsse. Keiner erkläre jedoch,warum und was für ein Impfstoff das sei (Smoljan).

Das Recht auf eigene Entscheidung wurde auch in Bezug auf das Tragen des Kopftuchsin den Schulen zum Ausdruck gebracht. Die Kontroversen über das Kopftuch in staatlichenBildungseinrichtungen gingen auch nach dem Fall der zwei Schülerinnen des GymnasiumsKarl Marx in Smoljan weiter, die 2006 wegen ihrer Kopftücher von der Schule verwiesenwurden.36 Mehrere Mädchen haben seitdem Beschwerde bei der Kommission zum Schutzvor Diskriminierung eingereicht, da sie aufgrund ihrer Weigerung, das Kopftuch abzulegen,die Schule nicht besuchen durften.37 An bulgarischen Schulen ist es grundsätzlich nicht

33 Interview mit Milena I. im April 2013 in Sofia.34 Interview mit Safie im April 2013 in Sofia.35 Ebda.36 Siehe dazu Kapitel II, 3.37 Stellvertretend kann auf Saide Mehmet aus dem Dorf Gorno Kraište hingewiesen werden. Saide wurde

wegen ihrer Weigerung, das Kopftuch abzusetzen von der Grundschule Javorov in Momcilgrad 2011

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verboten, ein Kopftuch zu tragen. Ausnahmen machen jedoch Bildungseinrichtungen, andenen Schuluniformen Pflicht sind.38 Insbesondere in den gemischten Gebieten Bulgariensführte diese Regelung zu Konflikten. Betroffene Frauen meinten, dass die Vorschrifteneingeführt worden seien, um das Tragen muslimischer Kleidung in den Schulen zu begren-zen. Die Konfliktfälle wurden im Kreis der befragten Frauen mit Aufmerksamkeit verfolgtund lebhaft diskutiert. Nicht selten handelte es sich bei den Betroffenen um Bekannte oderFreundinnen.

Zu weiteren Kontroversen, an denen muslimische Frauen von Rudozem und Madan be-teiligt waren, kam es im Juni 2010, als im Zuge der Einführung neuer EU-Reisepässe inBulgarien biometrische Passfotos erstellt werden sollten. Nach der amtlichen Verordnungkonnten muslimische Frauen das Kopftuch aufbehalten, sollten jedoch einen Teil der Haaresowie die Ohren frei lassen. Einige der Frauen waren damit nicht einverstanden. Daraufhinhatte der Mufti von Smoljan ein Protestschreiben bei der lokalen Polizei sowie dem Minis-terium für innere Angelegenheiten eingereicht, in dem er Ausnahmeregelungen für musli-mische Frauen forderte. Diese Forderung wurde zurückgewiesen.39 In seinem Artikel „Dasmuslimische Kopftuch laut des Gesetzes“, der in der lokalen Zeitung Otzvuk veröffentlichtwurde, schrieb er, dass die muslimische Kleidung für eine muslimische Frau „Prinzip,Norm und Pflicht“ sei. Er machte aber auch deutlich, dass die Gesetze für alle gelten, auchfür muslimische Frauen. Sollte der Gesetzgeber entscheiden, dass keine Änderung möglichsei, müssten bulgarische Muslime das Gesetz akzeptieren.40

Auch wenn nicht ohne Ambivalenzen, sind gläubige kopftuchtragende Frauen in Bulga-rien darum bemüht, sich zugleich als fromme Musliminnen und aktive Bürgerinnen in derGesellschaft zu behaupten. Es scheint, dass sich die Frauen um eine Anerkennung in dop-pelter Hinsicht bemühen: gegenüber der säkularen Umgebung, aber auch innerhalb dertraditional orientierten lokalen muslimischen Gemeinde. Dies tun sie insbesondere, indemsie sich religiöses Wissen aneignen. Dem Tragen des Kopftuchs kommt in diesem Zusam-menhang eine symbolische Bedeutung für den Kampf um Anerkennung als „muslimischeBürgerin“ zu. Indem sich die Frauen in der Öffentlichkeit bedecken, signalisieren sie, dasssie ihre von der Bevölkerungsmehrheit abweichende Einstellung nicht verbergen wollen.Auf diese Weise distanzieren sich die befragten Frauen vom „passiven“ Islam. Der Diskursüber Gleichheit und Gleichberechtigung der Geschlechter richtet sich nicht zuletzt gegendie patriarchal dominierte Tradition, die von den Frauen mit Männerdominanz assoziiertwird. Zwar findet einerseits eine Besinnung auf die Mutterrolle statt, angestrebt wird jedochkeineswegs ein Rückzug in die Familie. Die Debatte führt zum Teil in einen Gegendiskurs,

verwiesen. Siehe dazu: Saide Mehmet čaka rezrešenie za zabradkata v isljamskoto školo v Momčilgrad,in: Rodopi vom 08.01.2013.

37 Eine Gesetzesänderung, durch die das Tragen religiöser Symbole an Schulen verboten werden sollte,wurde 2009 vom Parlament zurückgewiesen. Mehr dazu: DPS pak šte spăne proektozakona zaučilištnoto obrazovanie, in: Bulgaria News, 26. März 2009.

38 Siehe dazu: Ministerstvoto na obrazovanieto: Religiozni simvoli, koito protivorečat na celite naobrazovanieto, sledva da bădat organičavani v săvremennoto učilište, svetsko po harakter, in: AgencijaFokus, 30 Mai 2012.

39 Velislava Panova, „Ne” na rekata săs zabrdakite, in: Novinar, 29. Juni 2010; Ekimdžiev, Arhaično eiziskvaneto da se vižda kosata na snimkite v pasportite, in: Darik, 30. Juni 2010.

40 Nedžmi Dabov, Mjusjulmanskata zabradka spored zakona, in: Otzvuk, 12-13 Juli 2010.

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der eine „privilegierte Stellung“ der muslimischen Frau hervorhebt und ein Gegenbild zumdominanten Diskurs innerhalb der bulgarischen Öffentlichkeit entwirft.

Wichtig ist hier festzuhalten, dass in Bulgarien auch das Muftiamt religiöse Seminarefür Frauen anbietet, die eine ähnliche Funktion – Wissensvermittlung und Vernetzung vonGleichgesinnten – erfüllen. 2010 wurden fünf weibliche Waizen in Sofia, Smoljan, Silistra,Pazardžik und Kardžali vom Muftiamt eingestellt.41 Die Aufgaben der eingestellten Frauengleichen denen, die sie bereits vor der Einstellung ausgeübt hatten: Lektüre religiöser Tex-te, religiöse Vorträge und die Durchführung von Korankursen für muslimische Mädchen.Diese Initiative zeigt, dass die zentrale Behörde der bulgarischen Muslime daran interes-siert ist, vorhandene Tendenzen unter bulgarischen Muslimen zu kanalisieren, nicht zuletztum die Kontrolle über die islamische Szene nicht zu verlieren.

Die Frauengruppen sind aber zugleich ein Beispiel dafür, wie relativ autonome Ge-meinden von Gläubigen entstehen, deren Mitglieder darum bemüht sind, sich innerhalbeiner größeren Gruppe von „traditionellen Muslimen“ zu behaupten. Diese jungen Muslimeverstehen den Islam nicht als bloße kulturelle Zugehörigkeit, sondern als Religion. Sie sindfromme Menschen, die Zusammenkünfte, gemeinsame Gebete und religiösen Unterrichtorganisieren, ohne eine bestimmte Form von Institutionalisierung oder religiöser Autoritätzu benötigen. Der Weg zu Gott ist ein individueller. Das religiöse Bewusstsein entsteht indiesem Fall über die Stufe der Reflexion und nicht durch Konformität. Diese Muslimelehnen die lokalen muslimischen Traditionen nicht unbedingt ab und betrachten ihre Mit-bürger, die ein eher lockeres Verhältnis zum Islam haben, nicht als „Ungläubige“. Sie wol-len ihre eigene Religiosität definieren sowie religiöse Normen und Werte genauer bestim-men. Auf der anderen Seite findet sich eine Mehrheit der Muslime in Bulgarien, für welchedie Religion keine besondere spirituelle Bedeutung hat und eher als Zugehörigkeit undTradition verstanden wird. Für die Frauen, um die es hier geht, empfinden sie eine Mi-schung aus Bewunderung und Misstrauen.

4. Die rituelle Praxis

Im Kontext der Transformation und Umgestaltung des islamisch-religiösen Lebens sindinsbesondere Aspekte der alltäglichen Religiosität zum Gegenstand von Reformüberlegun-gen geworden. So werden unter anderem religiöse Praktiken wie der mevlid (die Feierlich-keiten, mit denen der Geburt des Propheten Mohammed gedacht wird), die Verehrung vonHeiligen, einige Begräbnisrituale sowie einzelne synkretistische Erscheinungen in derGlaubenswelt der Muslime durch jüngere Reformer als abweichend von islamischen Vor-schriften kritisiert. Von Interesse ist dabei, was genau (und warum) kritisiert wird. Hinsicht-lich der Begräbnisrituale sind vor allem zwei Elemente zu nennen, die auf verschiedeneHintergründe zurückgehen: 1) das Nichtbeachten „korrekter“ Bestattung von Muslimen,indem Sarg, Kleidung und weitere Gegenstände bei der Erdbestattung verwendet wurden42

41 Glavno mjuftiistvo s novo načinanie, 05. März 2010, in: www. Genmufti.net/bg/news-from-bulgaria(12.03. 2011).

42 Gemäß islamischen Vorschriften soll der Tote nach einer rituellen Waschung in ein Leichentuch gehülltund ohne Sarg in die Erde gelegt werden. Die Vorbereitung für die Beerdigung und die Totengebete

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sowie 2) das Praktizieren von Ritualen, in denen vorislamische beziehungsweise synkretis-tische Einflüsse eingegangen sind. Zur Frage der „korrekten“ Bestattung ist des Weiterenzu erwähnen, dass eine nicht-islamische Bestattungsweise, wie zum Beispiel die Verwen-dung eines Sarges, erst ab Mitte der 1980er Jahre in Bulgarien administrativ verordnetwurde. Bis dahin hatten die Muslime diesbezüglich unter keinem direkten Druck gestandenund nur einzelne Vertreter der Gemeinschaft waren diesen Gebräuchen gefolgt.

Von den Praktiken, die auf volkstümliche Glaubenselemente hindeuten, ist an ersterStelle der sogenannte devir-Brauch zu erwähnen. Hierbei wird durch den Imam oder einenanderen religiösen Spezialisten, der das Ritual durchführt, zunächst bestimmt, wie häufigder Verstorbene seine Pflichten als Muslim verletzt hat, wobei insbesondere das Nicht-Durchführen des täglichen Ritualgebets und das Einhalten der Fastenzeiten berücksichtigtwird. Aufgrund dieser Schätzung wird eine Summe errechnet, die von den Familienmitglie-dern als fitre (freiwillige Spende)43 zu entrichten ist, um die Sünden des Verstorbenen„wieder gut zu machen“. Die religiösen Spezialisten haben dabei ihr eigenes System, umdie Höhe der Spende zu bestimmen. Jedes verpasste Gebet kostet etwa 2 Leva, so dass fürjeden Tag 10 Leva für nicht erfüllte religiöse Pflichten zu zahlen sind. Zunächst werden dieersten 12 Lebensjahre abgezogen. Angenommen, der Verstorbene wurde 62 Jahre alt, blei-ben also 50 Jahre. Diese werden dann mit 365 Tagen und 10 Leva multipliziert und esergibt sich die Summe von insgesamt 182.500 Leva (91.250 Euro). Da eine solche Summedie finanziellen Möglichkeiten der meisten Familien übersteigt, kommt der devir (wörtlichübersetzt „Drehen“) zur Hilfe. Die Familienmitglieder geben eine symbolische Summe(zwischen 300 und 1.000 bulgarische Leva), die während des Rituals in einer wiederholen-den Handlung durch die am Ritual beteiligten Männer immer wieder gespendet wird. Dabeiwird Gott um Vergebung gebeten.44

„Insbesondere bei den Begräbnissen gibt es bei uns viele Ungenauigkeiten“, erzähl-te der Regionalmufti von Smoljan, Nedžmi Dabov. „Der Sarg, der Anzug oder dieSchuhe, mit denen der Verstorbene begraben wird – das sind die äußeren Erschei-nungen. Tiefer geht die Überzeugung, dass diesem oder jenem seine Sünden verge-ben werden können. Auf diese Art und Weise übernimmt eine Gruppe von Men-schen die Verpflichtung, die Sünden eines verstorbenen Menschen wieder gut zumachen. Das ist jedoch nicht möglich, da es reglementierte Verpflichtungen gegen-über Gott wie auch den Menschen gibt. Man will, dass alle ins Paradies kommen.Das ist ein guter Wunsch, aber man soll zu Lebzeiten daran denken. […] Ein sinnlo-ser Brauch, der dem Islam nicht entspricht.“45

sind möglichst schnell durchzuführen. An der eigentlichen Beerdigung nehmen grundsätzlich nurMänner teil. Siehe dazu Adel Khoury/ Ludwig Hagemann/ Peter Heine, Islam-Lexikon. A-Z:Geschichten, Ideen, Gestalten, Freiburg: Herder, 2006, 95f.

43 Fitre ist eine Armenspende. Wenn ein Muslim aus gesundheitlichen Gründen nicht fasten kann, „zahlt“er dafür. Es wird pro Tag so viel gegeben, dass sich ein Bedürftiger ein Frühstück und ein Abendessenleisten kann. In Bulgarien werden dafür etwa 2 Leva berechnet.

44 Die Informationen stammen aus teilnehmender Beobachtung während einer muslimischen Bestattungim Dorf Gradežnica (Teteven Gemeinde) im Juni 2006.

45 Interview mit dem Regionalmufti von Smoljan, Nedžmi Dabov, im September 2011.

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Wie Dabov weiter berichtete, variiert die Praxis des Rituals von Gemeinde zu Gemeindedeutlich. In Regionen, in denen „die Tradition noch stark ist und in denen es ältere Men-schen gibt“, sei dieser Brauch jedoch etwas Heiliges:

„Falls ein Mensch ohne die Ausführung des devirs begraben wird, beginnen seineAngehörigen zu träumen und geraten in eine Art Mystik. Vorwiegend für ältereMenschen ist das eine tiefe Überzeugung. Wir erzählen ihnen, wie es nach dem Ko-ran und den hadithen richtig ist, für sie ist das jedoch kein Argument. Sie haben ihreeigenen Argumente. Das kennen sie so seit vielen Jahren und es kann für sie nicht inFrage gestellt werden.“46

Nicht nur Vertreter der älteren Generation wandten sich gegen die „unkorrekte“ Bestattungvon Muslimen. Es gab auch weitere Vorfälle, bei denen es Imame ablehnten, einen Muslimoder eine Muslimin zu bestatten, falls dies nicht nach islamischen Vorschriften geschieht.47

Die häufigsten Gründe dafür waren ein nichtmuslimischer Name, das Verwenden einesSargs sowie Religionsübertritte in der Familie. So berichteten die Frauen, die sich in derMoschee von Smoljan treffen, dass es in ihrer Region zwei bis drei Imame gibt, die auf ein„richtiges“ Begräbnis bestehen.48 „Wenn du keinen islamischen Namen hast, bist du für siekein Muslim. Ja solche Fälle gibt es bei uns“, äußerten sie.

„Meine Familie war selber betroffen“, erzählte eine der Frauen. „Meine Cousinenentschieden sich, zum Christentum zu konvertieren. Das ist ihre Entscheidung undich verurteile sie nicht. Nach dem Tod meiner Oma lehnte es der damalige Imamvon Nedelino jedoch ab, sie zu begraben, mit der Begründung, dass die EnkelinnenChristinnen seien. Für unsere Familie war das ein großes Problem. Mein Vater hatüberall gesucht, bis er jemanden aus dem Nachbardorf gefunden hat, der ein musli-misches Begräbnis durchführen konnte. Meine Oma war eine gläubige Muslimin, siehat den namas regelmäßig errichtet, hat gefastet. Bis heute will mein Vater demImam nicht verzeihen. Der Vorfall geschah 1992. Später hat der Imam es bereut.Damals waren die Muslime strenger gegenüber Konversionen zum Christentum, daes mehrere solche Fälle gab. Die Haltung des Imams war aber nicht richtig. Mankann niemanden zwingen, sich zu einer bestimmten Religion zu bekennen. Auchheute gibt es unter uns Personen, die zum Christentum konvertieren. In Nedelinogibt es sogar eine Kirche. Meiner Meinung nach stört das keinen. Gegenüber derKirche ist die Moschee. Jeder soll selber entscheiden.“49

Weitere Vorfälle der Ablehnung einer Bestattung gab es in Devin (Smoljan-Region). Diesewurden vor allem durch den Strafprozess bekannt, der am 18. September 2012 in der süd-bulgarischen Stadt Pazardžik begann.50 In ihrem Plädoyer bezog sich die Staatsanwältin aufdrei Fälle, bei denen der Imam von Devin eine Bestattung aufgrund eines nichtmuslimi-

46 Nedžmi Dabov, September 2011.47 Vgl. Kapitel VII, 2.48 Gruppeninterview mit Kopftuch tragenden Frauen in Smoljan, September 2011.49 Smoljan, September 2011.50 Der Prozess stellte eine Fortsetzung der Razzia dar, die am 6. Oktober 2010 durch die Agentur für

Nationale Sicherheit durchgeführt wurde und in deren Verlauf islamische Geistliche verhaftet wurden.Vgl. dazu Kapitel I, 2.

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schen Namens sowie der Verwendung eines Sargs abgelehnt hatte. Die Absagen des Imamsführten in zwei Fällen dazu, dass die Familienangehörigen Beschwerde bei der Kommissi-on zum Schutz vor Diskriminierung und bei der Direktion für Religionsangelegenheiteneinreichten, weil sie sich diskriminiert fühlten.51 Die Staatsanwältin verwies zudem auf eineVerordnung des Regionalmuftis von Smoljan, Nedžmi Dabov, die im Januar 2009 örtlicheImame aufforderte, sich bei den Begräbnisritualen an die muslimischen Vorschriften zuhalten. Laut betroffener Angehöriger soll diese Verordnung Imame ermutigt haben, „unkor-rekte“ Begräbnisse abzulehnen. Im März 2009 wurde durch die Fatwa-Kommission beimObersten Muftiamt in Sofia ebenfalls eine fatwa erlassen, in der erklärt wurde, wie einemuslimische Bestattung durchzuführen sei.52

In einem Interview im September 2010 betonte der Regionalmufti von Smoljan, dasZiel seiner Verordnung sei keineswegs eine Ablehnung von Begräbnissen gewesen.53 AlsMufti sei er aber dazu verpflichtet, darauf zu achten, dass sich die Imame an die islami-schen Vorschriften halten.

„In einigen Regionen wie Nedelino, Zlatograd, Smoljan und Devin ist es weit ver-breitet, die Verstorbenen in einem Sarg zu begraben“, argumentierte er. „Als islami-scher Geistlicher kann ich das nicht gutheißen. Richtig ist, den Verstorbenen in wei-ßem Stoff (kafan) in die Erde zu legen.“

Er erzählte ferner, dass ein Begräbnis im Dorf Starcevo der Anlass für seine Verordnunggewesen sei. Eine bekannte Persönlichkeit, die zur früheren Nomenklatur gehörte und einehöhere gesellschaftliche Stellung innehatte54, war gestorben. Der Mann war dem Imamzufolge ein überzeugter Kommunist und Atheist. Auch nach seinem Tod habe er bestimmenwollen, was der Imam zu tun habe. Sein Begräbnis habe seinen persönlichen Wünschenentsprechend und nicht nach den Regeln des Islam durchgeführt werden sollen. Der Imamlehnte das ab. Da der Fall große mediale Aufmerksamkeit verursachte, fühlte sich der Muftivon Smoljan verpflichtet, etwas zu unternehmen.

„Ich bekomme immer wieder Anrufe“, fügte er hinzu. „Alle beginnen ähnlich: Je-mand ist gestorben. Er war Arzt, Anwalt, Professor etc., es geht um den sozialenStatus. Dann wurde mir mitgeteilt, wie wir ihn zu begraben haben. Es hat ja über-haupt kein Sinn, mich anzurufen. Keiner interessiert sich für meine Meinung. ImIslam ist das Begräbnis eines Muslims geregelt. Eine fatwa muss sich nach denschriftlichen Quellen richten und nicht nach dem sozialen Status. Auch bei derFatwa-Kommission in Sofia kommen häufig Anfragen aus dieser Region: Sind Kis-sen, Anzüge, Schuhe, Sarg etc. erlaubt? Die Antwort ist nein, weil wir Geistliche

51 Plädoyer der Staatsanwältin Popova, Internet:<http://www.capital.bg/getatt.php?filename=o_2265912.doc>, (12.03.2013).

52 Vgl. dazu Kapitel III, 2. Während des Strafprozesses galten die Fälle als Beweis für die „salafistischenAnsichten“ von Dabov, der einer der Angeklagten war. Im Plädoyer äußerte die Staatsanwältin Popova,dass „sich eine Tendenz zur Durchsetzung der angeklagten Ideologie [Salafismus] auch durch dieFatwa-Kommission beim Obersten Muftiamt erkennen“ lasse.

53 Interview mit Nedžmi Dabov im September 2010. Ein weiteres Interview folgte ein Jahr später imSeptember 2011.

54 Es handelte sich um den Direktor von GORUBSO, eines der bedeutendsten Unternehmen in dieserRegion.

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sind und als solche an die schriftlichen Quellen gebunden sind. Unsere Meinung istaber nicht obligatorisch.“

Dabov meinte schließlich, dass es immer wieder Imame gegeben habe, die unkorrekte Be-gräbnisse abgelehnt hätten. Es handele sich jedoch um Einzelfälle, die nicht überbewertetwerden sollten. Wie auch immer seine Argumentation zu bewerten ist, es kann nicht bestrit-ten werden, dass seine Verordnung zusätzliche Spannungen in der Region erzeugte undbereits vorhandenen Konfrontationen einen neuen Schub gab.

Eine weitere Konfliktquelle im Zusammenhang mit der rituellen Praxis der bulgarischenMuslime bilden die Verehrung von Heiligen und der damit verbundene Besuch von Heili-gengräbern, wobei die Haltung bulgarischer Imame und Muftis hier unterschiedlich aus-fällt.55 Insgesamt ist überwiegend Akzeptanz festzustellen. Kritisiert wird vor allem dieTatsache, dass Opfergabe, Gelübde, Bitte und Dank an die Heiligen selbst und nicht an Gottgerichtet sind. Daneben erregt die Tatsache Anstoß, dass Gegenstände, die sich einige Zeitam Heiligengrab befanden, in der Magie und der Volksmedizin verwendet wurden. Hierkommt häufig auch Kritik von Muslimen, die keine Vertreter der bulgarischen Ulema oderdes Moscheepersonals sind. So erzählte die 16-jährige Neli, eine Pomakin aus Rudozem,die sich für den Islam engagiert und in ihrer Kleidung und ihrem sozialen Verhalten dieislamischen Normen beachtet:

„Bei uns sagt man, dass jemand, der das Heiligengrab von Jenihan Baba sieben Malumkreist, praktisch seine Pilgerfahrt nach Mekka durchgeführt hat. Im Koran undder Sunna des Propheten ist jedoch deutlich festgehalten, dass der hadž einzig undallein in Mekka durchgeführt werden kann. Diejenigen, die das Gegenteil behaupten,verdrehen diese Tatsache.“56

Wie in zahlreichen traditionellen islamischen Gesellschaften ist der Glaube an djinnen undGeister auch unter bulgarischen Muslimen weit verbreitet. Da von den djinnen im Korandie Rede ist, gilt der Glaube an sie und der Umgang mit ihnen nicht als Zeichen einer „unis-lamischen“ Haltung.57 Problematisch wird es jedoch, wenn sich Menschen an eine Wahrsa-gerin oder einen christlichen Pfarrer wenden, weil sie glauben, durch einen djinn Schadenerlitten zu haben. Sowohl zur Frage nach der korrekten Bestattung als auch zum Umgangmit Heiligen und djinnen wurden entsprechende fatwas (islamische Rechtsgutachten) durchdie 2007 beim Muftiamt eingerichtete fatwa-Kommission erstellt.58

Ein weiterer Brauch, der unter bulgarischen Muslimen eine lange Tradition hat und inletzter Zeit Anlass zu Kontroversen gab, ist das mevlid. Der Begriff steht ursprünglich fürFeierlichkeiten anlässlich des Prophetengeburtstages. In Bulgarien bezeichnet man damit

55 So kritisierten Ali Hairaddin und der ehemalige Regionalmufti von Smoljan, Salvi Širkov, die Wie-dererrichtung der unter Muslimen populären türbe Eni Han Baba am Gipfel Svoboda, Zentralrhodopen.

56 Interview mit Neli im Oktober 2010.57 Nach traditionellen islamischen Vorstellungen ist die ganze Welt von diesen unsichtbaren Wesen be-

völkert. Wenn ein Mensch einen djinn verärgert hat, kann es geschehen, dass dieser sich mit Krankhei-ten rächt, die dann durch Heiler zu heilen sind. Siehe mehr dazu Peter Heine, Ethnologie des Nahen undMittleren Ostens, Berlin: Reimer, 1998, 181.

58 Siehe dazu „Das Muftiamt: Aktivitäten und Kernbereiche“ (Kapitel III).

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Die rituelle Praxis 263

jedoch vorrangig ein dem Propheten gewidmetes Gedicht59, das bei verschiedenen Anläs-sen, vor allem bei Gedenkfeiern, rezitiert wird. Dies geschieht gewöhnlich am 40. oder aneinigen Orten am 52. Tag nach der Beerdigung. Begleitet wird die Rezitation von einemgroßen, teuren Festmahl mit bis zu elf Gängen (Fleischsuppe, Butterreis, Reis mit Fleisch,Halwa …), an dem 100 bis 500 Gäste teilnehmen. Fast jede Moschee in Bulgarien hältgroße Kessel für diesen Zweck bereit. Am Ende des mevlids soll das sevab (Gnade, Verge-bung) für den Toten und seine Familie erbeten werden. Der großzügige und kostspieligeCharakter der Feierlichkeiten sowie das Ritualisieren des mevlids hat scharfe Kritik jünge-rer Muslime hervorgerufen:

„Für mich ist das eine Verschwendung. Ein nahestehender Mensch ist verstorben,und statt zu trauern, müssen sich die Familienmitglieder verschulden. Sie tun dasnicht, weil Gott es so will, sondern weil die anderen es auch so machen. Bis zu1.000 Leva müssen einige Familien als Kredit aufnehmen, um die Kosten zu decken.Viele Familien bei uns sind in der Tabakproduktion tätig, womit sie nicht mehr als5.000 Leva pro Jahr verdienen können. In diesem Fall bringt ihnen die Traditionnichts Gutes. Wenn sie mevlid feiern wollen, ist die Moschee heute offen. Dort kannman nur mit einem Teekessel šerbet [Zuckersirup] die gleiche Belohnung von Gotthaben, wenn er dies will.“60

Das Muftiamt hat mehrmals – durch die Erstellung von fatwas wie auch in veröffentlichtenArtikeln – zum Thema mevlid Stellung genommen. Dabei setzte sich die Meinung durch,dass es sich um eine Tradition der bulgarischen Muslime handele, die als gute Erneuerung(also keine bida’) zu bewerten sei.61 Einige Vertreter des Muftiamts, wie der stellvertreten-de Obermufti, Vedat Ahmed, heben die stark soziale Komponente hervor, andere richtenihre Kritik vor allem auf die hohen Kosten, die damit verbunden sind. In einem Artikel, derin der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Mjusjulmani (der Zeitschrift des Muftiamtes) 2007veröffentlicht wurde, wird darauf hingewiesen, dass es im Islam kein Gebot zum mevlidgebe. Indem dieser Brauch die Menschen dazu veranlasst, „fromme Handlungen durchzu-führen sowie Gott und den Propheten zu ehren“, könne er jedoch nicht als unzulässigeInnovation betrachtet werden.62 Kritisiert werden auch in diesem Fall die Bewirtung derGäste, die wie bei einer Hochzeit ausfalle, und die Tatsache, dass die Rezitation des Ge-dichts gegen Bezahlung durchgeführt wird.

Nicht alle bulgarischen Muslime teilen diese Position. Es gibt einzelne Personen wieauch kleinere Gruppierungen, die sich gegen den Brauch wenden und ihn als Irrglaubenbeziehungsweise Abweichung vom islamischen Glauben verurteilen. So veröffentlichteeine Gruppe von Muslimen auf der lokalen Webseite der Moschee-Gemeinde in Rudozemeinen Text, in dem das mevlid als shirk (Beigesellung, Vielgötterei) beziehungsweise als„Innovation“ in der Religion (bida’) bezeichnet wird.63 Sie riefen bulgarische Muslime auf,

59 Verfasst vom osmanischen Gelehrten und Dichter Süleyman Çelebi (gest. 1422).60 Interview mit Izbištali im September 2011.61 Siehe dazu u.a. fatwas des Muftiamtes, in: Vaprosi i otgovori, unter:

<http://www.grandmufti.bg/en/faqs.html>, (04. Dezember 2012).62 Kevser Atar, Četene na mevlid, in: Mjusjulmani, Mai 2007, 21-23.63 Mevlid. Vsičko svărzano s tazi oda, vaprosite, koito vaznikvat pred religioznite učeni v borbata s

novovavedenijata vom 28. Mai 2012, unter: <http://islqmrudozem.ovo.bg/load/m_e_v_l_i_d/1-1-0-420>

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Zwischen religiöser Erneuerung und innerer Diversifizierung264

sich davor zu hüten, an solchen sündhaften Handlungen teilzunehmen. Das mevlid sei ausfolgenden Gründen eine Sünde:

1. Der Glaube an eine Pflicht zum mevlid an bestimmten Tagen nach dem Tod sei falsch;2. Männer und Frauen versammeln sich zusammen an einem Ort und das sei haram;3. Es werde die falsche Überzeugung vermittelt, dass diejenigen, die keine guten Muslime

waren, durch das Rezitieren des mevlid Vergebung erhalten;4. mevlid wird gegen Bezahlung durchgeführt;5. An bestimmten Stellen der Rezitation richten sich die Teilnehmer nach Kaaba (Mekka)

und halten ihre Hände wie beim rituellen Gebet. Das sei nicht richtig, da die Ausrich-tung nach Kaaba mit dem Zweck ibadet etwas sei, das nur für Allah geschehen dürfe;

6. Die Teilnehmer stehen auf, weil sie glauben, dass in diesem Moment der GesandteAllahs zu ihnen komme, dem sie ihre Verehrung zeigen wollen. Dies sei jedoch einegroße Sünde;

7. Dem mevlid selbst wird mehr Bedeutung als dem Koran und der hadith zugemessen;8. Unabhängig von der konkreten Form und den Absichten der Beteiligten gebe es keinen

Zweifel daran, dass es eine erfundene haram [unislamische Neuerung, Sünde] sei, dasmevlid zu feiern.64

Unabhängige Prediger und Islam-Lehrer, die als inoffizielle oder halboffizielle religiöseFührer lokal agieren, wenden sich ebenfalls gelegentlich gegen „unislamische“ volkstümli-che Bräuche, zu denen das mevlid gehört. Als Beispiele können der Imam von Velingrad,Hjusein Hodža, und der Hafus Umer Mudakov dienen, die Vorträge in den lokalenMoscheen halten. Sie kritisieren das mevlid als unislamisch und setzen sich für eine stren-gere rituelle Praxis ein. Keiner der beiden hat einen Arbeitsvertrag mit dem Muftiamt abge-schlossen.65

Auch die Frauen, die sich in der Moschee von Smoljan treffen, sehen das mevlid nichtim Einklang mit den authentischen Quellen.66 Sie würden deshalb aber niemanden verurtei-len. Es seien nur wenige, die ihre Ansicht teilen. Die Mehrheit der Muslime halte an demBrauch fest:

„In der Realität folgen bei uns so gut wie alle diesem Ritual. Es sind nur einzelne,die es in Frage stellen. Sogar während des Bairams, bevor die Menschen in dieMoschee gehen, rezitieren sie das mevlid. Die Tradition geht ungehindert weiter.Man würde uns lynchen, falls wir etwas dagegen sagen würden.“

Grund dafür sei die Unwissenheit der Menschen, meinten sie:

(04. Dezember 2012).64 Ebda.65 Hjusein Hodža, dessen Predigten im Internet zu finden sind, kann aufgrund der von ihm vertretenen

Thesen durchaus dem puristischen salafistischen Spektrum zugeordnet werden. Paradoxerweise wurdeer während des Strafprozesses in Pazardžik als Zeuge geladen. Er beschuldigte Ali Hairaddin sowiehochrangige Mitglieder des Muftiamtes wie Said Mutlu (Imam in Sarnica, Mitglied der Fatwa-Kommission), Ali Hodža (Vaiz in Avramovo) und Abdulah Salih (ehemaliger Regionalmufti vonPazardžik) „salafistischer Ansichten“.

66 Smoljan, September 2011.

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Die rituelle Praxis 265

„Viele volkstümliche Bräuche kommen von unseren Vorfahren. Sie haben im Ver-lauf der Zeit vieles in der Religion verändert, weil es für sie so einfacher und be-quemer war. Deshalb kam es zu bida’ [Abweichungen]. Während des Kommunis-mus kamen die Informationen auf geheimen Wegen aus der Türkei. Jeder hat denIslam so weitergegeben, wie er ihn verstand. Für die meisten von uns sind all dieseVolksbräuche richtig und es ist sehr schwierig, sie vom Gegenteil zu überzeugen.Sie folgen der Religion der Ahnen und nicht der Religion des Islam.“67

Hinwendung an Wahrsagerinnen oder christliche Geistliche, magische Handlungen alsAbwehr gegen Krankheiten sowie das Mitfeiern von Weihnachten, Ostern, Silvester oderdes 8. März (Internationaler Frauentag) werden ebenfalls durch verschiedene Akteure alsunislamisch kritisiert und abgelehnt. Hier besteht die größte Übereinstimmung zwischender offiziellen Position des Muftiamts und derjenigen von kritischen Muslimen außerhalbder Strukturen.68 Es zeigt sich insgesamt eine gewisse Abneigung unter Teilen der islami-schen Erneuerer gegenüber einigen Formen von Mystizismus sowie verschiedener Aspekteislamischer Volksgläubigkeit, die als „unislamische Neuerungen“ (bida') beziehungsweiseals Aberglaube zurückgewiesen werden. Diese ablehnende Haltung erscheint jedoch – wiewährend der Forschungsaufenthalte zu beobachten war – nicht besonders konsistent, dennauf Druck der Umgebung sind die Betreffenden gezwungen, ihre ablehnenden Positionenzu relativieren, um die Einheit der Muslime nicht zu gefährden. Wichtig dabei ist, zwischenKritik einerseits und der religiösen Praxis andererseits zu unterscheiden. Strategien derIndoktrination sind nicht mit aktuellen Erfahrungen der praktizierten Muslime gleichzuset-zen. Ein nicht zu unterscheidender Aspekt ist zudem die Regulierungskraft des religiösenMarktes. So werden zum Beispiel bulgarische Imame gemieden, die nicht bereit sind, denErwartungen der Gläubigen entgegenzukommen, und an ihrer Stelle werden andere religiö-se Spezialisten aufgesucht.69 Es gibt in dieser Situation zwei Möglichkeiten, auf die Anfor-derungen der Muslime zu reagieren: sich weiterhin zu weigern, lokale Praktiken und Sach-verhalte anzuerkennen und somit in die Isolation zu geraten, oder sie stillschweigend oderauch aktiv zu akzeptieren.

Zwei Beispiele können in diesem Zusammenhang zur Veranschaulichung dienen. Daserste führt zu einer kleineren Gemeinde der bulgarischen Pomaken, die sich nördlich desBalkangebirges in den Dörfern Glogovo, Galata und Gradežnica niedergelassen haben. DerAnlass, zu dem sich die Dorfbewohner von Gradežnica im Juli 2006 versammelten, war einBegräbnis.70 Der Imam, ein junger Pomake, hatte gerade seine Ausbildung am IslamischenHochschulinstitut in Sofia abgeschlossen und erzählte mit Stolz, wie wichtig es angesichtsder Unwissenheit im Dorf sei, dass dort jemand wisse, was im Islam „korrekt“ und was„unkorrekt“ sei. Die „Unwissenheit“ hatte mehrere Gesichter. Eines davon war eine Frau

67 Ebda.68 Siehe dazu die vom Muftiamt erstellten fatwas sowie einzelne Beiträge der muslimischen ZeitschriftenIkra und Musulmansko obštestvo.

69 Dies führt dazu, dass islamische Bestattungen, die gewöhnlich schnell durchgeführt werden sollen, sichüber mehrere Tage hinziehen, da verschiedene Spezialisten aufgesucht werden müssen.

70 Forschungsaufenthalt der Autorin im Rahmen des am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlindurchgeführten Forschungsprojekts „Religion und Konstituierung von Identitäten. Zum Erbe muslimi-scher Minderheiten in Bulgarien und Makedonien“.

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mittleren Alters, die ihre Lebensgeschichte erzählte (Abb. 14). Für die Zuhörer war dieseine ungewöhnliche: Von der Geburt, über die Heirat und das Familienleben war so gut wiealles, was im Leben dieser Frau geschah, aus ihrer Sicht eine Folge magischer Kräfte. Ein-mal sei ihre Schwiegertochter krank gewesen, und natürlich waren wieder die bösen Kräfteschuld. Die Frau erzählte, wie eine „Spezialistin“ den bösen Geist vertrieb, die sie zu die-sem Zweck aufgesucht hatte. Am Ende habe man ihn sogar sehen können: einen kleinenSchatten, wie einen schmalen beweglichen Punkt, auf den man treten konnte. Die Überzeu-gungskraft dieser Frau war so beeindruckend, dass es kaum noch möglich war, an ihrerDarstellung zu zweifeln.

Vor dem Haus auf zwei Stühlen auf die Straße gestellt, befand sich ein schlichter Sarg,in dem der Verstorbene mit weißem Stoff bedeckt lag. Ob er Kleidung trug, war nicht zusehen. Auf der Brust und neben dem Kissen (ein rot gefärbtes Fell) waren verschiedeneGegenstände drapiert, unter denen sich Geld und Blumen befanden (siehe Abb. 11). Nachdieser Aufbahrung bereitete der Imam das erste Ritual vor, den devir. Zwei Muslime undder Imam zogen sich in ein Zimmer zurück. Im Kreis sitzend übergaben sie einander ineiner wiederholenden Handlung von einem Teilnehmer zum nächsten immer wieder einTuch, in dem Geld eingewickelt war, um so Gnade und sevap für den Verstorbenen zuerbitten (Abb. 13). Wie es schien, hatte der Verstorbene zu Lebzeiten viele seiner Pflichtenals Muslim nicht erfüllt, so dass sich das Ritual in die Länge zog. In dieser Zeit konnte mansich das Zimmer anschauen. Auf dem Boden neben dem Bett befand sich eine Lampe, aufder die „Heilige Maria“ abgebildet war, und an der Wand gegenüber hing ein Poster, aufdem ebenfalls die „Heilige Maria“ zu sehen war. Es stellte sich unerwartet die Frage: ist dasein muslimisches Haus?

Abb. 11: Bestattung im Dorf Gradežnica (Teteven Gemeinde), 15. Juli 2006.

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Die rituelle Praxis 267

Abb.12: Brauch devir. Der Imam berechnet die „Sünden“.

Abb.13: Brauch devir. Dorf Gradežnica (Teteven Gemeinde).

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Abb. 14: „Warum ich geboren wurde? Das war eine Magie.“

Das zweite Beispiel handelt ebenfalls von einem jungen Muslim, der seine Ausbildungim islamischen Recht (fiqh) in Jordanien abgeschlossen hatte. Nachdem er einige Zeit keineArbeit finden konnte, wurde er Imam des Dorfes Vievo (Südbulgarien). Als er seine Tätig-keit als Imam aufnahm, wollten die Dorfbewohner vor allem zwei Dinge von ihm wissen:ob er Magie entgegenwirken konnte und ob er bereit wäre, das mevlid durchzuführen. Inbeiden Fällen war die Antwort ablehnend, zur Enttäuschung nicht nur der Dorfbewohner,sondern auch des Imams selbst. Danach wandte sich keiner mehr an ihn. Weder konnte erden geplanten Koran-Kurs durchführen, noch wurde er mit Bestattungszeremonien beauf-tragt. Im Dorf gab es genug andere Spezialisten, bei denen die Bedürfnisse der Dorfbewoh-ner mehr Gehör fanden. Nur einige Männer kamen von Freitag zu Freitag in die Moschee,um dort das Gebet zu verrichten. Als ich nach einem Jahr den besagten Imam wieder traf,war seine Enttäuschung aufgrund fehlender Anerkennung nur schwer zu verbergen.71

Aus dem Geschilderten lassen sich mehrere Schlüsse ziehen, von denen an dieser Stellezwei erwähnt werden sollen: 1) Die Anerkennung und Autorität religiöser Führer sind keine„Einbahnstraße“. Sie sind auf Kommunikation und die Bereitschaft angewiesen, auf dieBedürfnisse der Gläubigen einzugehen. 2) Es scheint, dass die Ablehnung bestimmter reli-giöser Handlungen zu keinen besonderen Konflikten in den lokalen Gemeinden führt.Grund dafür ist, dass es immer auch andere religiöse Spezialisten gibt, an die man sich bei

71 Der Imam gehörte zu den „Stammgastgebern“ der Autorin, so dass während der Forschungsaufenthaltewiederholt Gespräche mit ihm möglich waren.

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Dynamik und Diversität des religiösen Feldes 269

verschiedenen Anlässen wenden kann. In diesem Zusammenhang und in Anlehnung an diemachttheoretische Analyse von Pierre Bourdieu können die Konkurrenzbeziehungen, indenen die unterschiedlichen Spezialisten innerhalb des religiösen Feldes um die Gunst derGläubigen werben, als dynamisches und zugleich regulierendes Element dieses Feldesbetrachtet werden.72 Die religiösen Experten üben einerseits Macht über die Laien aus,andererseits beeinflussen die religiösen Interessen der Laien, wer im religiösen Feld eineMachtposition hat.

5. Dynamik und Diversität des religiösen Feldes

Um die Variabilität der Religion zu erfassen, bezeichnet Bourdieu die Religion als Feld.73

Zwischen den Akteuren, die im Feld die verschiedenen Positionen besetzen, findet einstetiger Konkurrenzkampf statt, bei dem es um die Verbesserung oder zumindest den Erhaltder eigenen Position in Relation zu anderen Positionen geht. Für die Akteure im religiösenFeld sei entscheidend, religiöses Kapital zu akkumulieren. Dieses Kapital erarbeiten siesich, indem sie religiöses Wissen über die Welt und das Dasein produzieren beziehungs-weise sich aneignen und damit zu anerkannten religiösen Experten werden, die auf diereligiösen Bedürfnisse bestimmter Laiengruppen antworten können. Die symbolischeMacht der religiösen Experten besteht darin, „dauerhaft und tiefgreifend Einfluss auf diePraxis und Weltsicht der Laien zu nehmen, indem sie ihnen einen religiösen Habitus auf-zwingen und einprägen“.74 Es sei dieses Interesse an der Wahrnehmung und der Bewertungder Laien hinsichtlich des Religiösen, das den Konkurrenzkampf im religiösen Feld antrei-be. Die involvierten Akteure kämpfen miteinander um das Monopol auf die legitime Aus-übung religiöser Macht. Dabei geht Bourdieu davon aus, dass der Machtkampf zwischenden verschiedenen Akteuren, die religiöse Arbeit verrichten, durch die Laien entschiedenwird, „da die religiöse Macht das Produkt einer Transaktion zwischen den religiösen Akteu-ren und den Laien ist“.75 Religiöse Eliten können ihre Position verlieren, wenn ihnen dieAnerkennung verweigert wird. Dadurch entsteht eine Art religiöser Partikularismus. Es sindletztendlich die praktizierenden Muslime, die durch ihre Nachfrage islamische Autoritätsowie die Formen, welche die religiösen Praktiken und Glaubensinhalte zu einem bestimm-ten Zeitpunkt annehmen, legitimieren.76

Die Kompromissbereitschaft, die während der Forschungsaufenthalte unter bulgarischenImamen und Muftis zu beobachten war, kann insgesamt als groß bezeichnet werden. Zwarwurden fatwas zu all den oben erwähnten Sachverhalten durch das Muftiamt erstellt.77 DieFrage, welche Praktiken und Vorstellungen als islamisch beziehungsweise nicht-islamischbezeichnet werden können, scheint im bulgarischen Kontext für die Identifikation als

72 Pierre Bourdieu, Religion, Schriften zur Kultursoziologie 5, Konstanz: UVK 2009, 59.73 Pierre Bourdieu, Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz: UVK, 2000,

19.74 Bourdieu, Das religiöse Feld, 17.75 Ebda., 28.76 Bourdieu, Religion, 59.77 Mehr dazu siehe Kapitel III, 2.

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Muslim jedoch keine weiteren Konsequenzen zu haben. So berichtete der Regionalmuftivon Smoljan, Nedžmi Dabov, in einem im September 2010 durchgeführten Interview:

„Diejenigen von uns, die versucht haben, mit Emotionen und Eifer die Gläubigenunter Druck zu setzen, die konnten nichts erreichen. Das hat sie dazu gebracht, sichanzupassen. Und auch wenn wir selbst bestimmte Rituale nicht praktizieren wollen,so müssen wir zumindest Rücksicht darauf nehmen. Deshalb ist die Art und Weise,wie wir Informationen weitergeben, ziemlich verschleiert.“

Nach einem längeren Gespräch mit dem Leiter der Abteilung Iršad des Muftamtes, MustafaIzbištali, in dem es um neue Generationen, Rituale und Konflikte zwischen den Generatio-nen ging, war ihm wichtig, unmissverständlich zusammenzufassen:

„Die Tatsache, dass einige von uns sich nicht an die religiösen Vorschriften halten,macht sie keineswegs zu Nicht-Muslimen. Das bringt sie nicht außerhalb des Islam.Jeder, der das Glaubensbekenntnis ausspricht, ‚Es gibt keinen Gott außer Allah undMuhammad ist sein Gesandter‘, ist ein Muslim. Und das ist die allgemein akzeptier-te und dominierende Meinung sowohl des Muftiamtes als auch der Mehrheit derMuslime in Bulgarien.“78

Auch lokale unabhängige Akteure, die Kritik an volkstümlichen Bräuchen und traditionel-len Überlieferungen üben, müssen – ähnlich wie die etablierten Autoritäten – Rücksicht aufdie Realität nehmen, wenn sie Anerkennung in den lokalen Gemeinden finden wollen. Diesbringt sie dazu, ihre Kritik zumindest abzumildern. Die Verurteilung von lokalspezifischenislamischen Praktiken als „Innovationen“ in der Religion (bida’) übt einerseits Druck aufdie Gläubigen aus, stößt aber auch auf deutliche Grenzen. Dem Rationalisierungsdruck ausTeilen der muslimischen Elite stellt sich der Partikularismus der breiteren Masse derMuslime entgegen, denen die Feinheit des Dogmas und der Theologie gleichgültig sind.Die Vermittlung islamischer Tradition im bulgarischen Kontext erweist sich somit als sozi-aler Prozess, der nicht auf das Muster eines one-way-flow reduziert werden kann. Vielmehrlässt sich ein komplexer Aushandlungsprozess beobachten, bei dem religiöse Spezialistenund Mitglieder der islamischen Gemeinschaft in einem dialektischen Verhältnis zueinanderstehen. Wer sind diese religiösen Akteure?

Sie finden sich zunächst besonders im Kreis der Ulemas sowie des offiziellen religiösenPersonals der Moscheen, die ihr religiöses Wissen, meist in Form der wichtigsten Texte,durch Religionsunterricht, islamische Feste sowie die Freitagspredigt (khutba) unter denMuslimen vermitteln. Durch ihre Anbindung an islamische Bildungsstätten sowie an dielokalen Moscheen haben sie eine gute Ausgangsposition, um ihre Autorität und somit Deu-tungshoheit in den muslimischen Gemeinden zur Geltung zu bringen.79 Der normativeislamische Diskurs in Bulgarien ist gegenwärtig vor allem in der Institution der Fatwa-Kommission beim Muftiamt verkörpert, der einzigen von der islamischen Glaubensgemein-schaft autorisierten Instanz für die Erstellung von islamischen Rechtsgutachten im Land.

78 Interview mit Izbištali, September 2011.79 Zur „religiösen Autorität“ im Islam siehe: Gudrun Krämer/ Sabine Schmidtke (Hg.), Introduction, in:

Speaking for Islam: Religious Authorities in Muslim Societies, Leiden [u.a.]: Brill, 2006.

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Dynamik und Diversität des religiösen Feldes 271

Die Muftis sind von Amts wegen dazu autorisiert, zu rituellen und dogmatischen FragenStellung zu nehmen und den Gläubigen den richtigen Weg zu weisen.

Neben den organisierten religiösen Autoritäten findet sich eine wachsende Zahl von un-abhängigen Lehrern und Predigern, die vorwiegend lokal agieren. Auch sie erheben denAnspruch, den religiösen Laien die normativen Grundlagen des Islams zu vermitteln. Indemsie sich nicht an die Vorgaben des Muftiamtes halten müssen, verfügen sie zugleich übereinen breiten Spielraum, um sich verschiedener, weit auseinandergehender islamischerIdeen und Konzepte zu bedienen – von mystischen Elementen bis hin zu fundamentalistischausgerichteten Doktrinen. Eine besondere Herausforderung für etablierte Vermittler islami-schen Wissens stellen die Neufundamentalisten dar, die eine de-kulturalisierte Form desIslam verkünden und gängige muslimische Praktiken verwerfen. Sie heben die Kluft zwi-schen Glauben und Kultur hervor und betrachten Muslime, die sich nicht an ihre eigeneDoktrin halten, als Abtrünnige. Diese Akteure werden vor allem in einem kleinen Kreis derAnhänger bekannt und ihr Einfluss ist begrenzt.

Islamisches Wissen kann aber auch von jeder Person selbstständig erworben werden,die Zugang zur islamischen Literatur hat. Dieser Ansatz, jedem des Lesens und Schreibensfähigen Muslim einen individuellen Zugang zu den heiligen Texten zu geben, hat im Laufedes letzten Jahrzehnts auch in Bulgarien die Grundlagen für ein neues Verständnis desGlaubens geschaffen, in welchem die Vermittlung des religiösen Wissens durch etablierteExperten als zunehmend überflüssig betrachtet wird. Diese jungen Muslime, die eine indi-viduelle Interpretation der sakralen Quellen fordern, nutzen verschiedene Kanäle der Wis-sensvermittlung. Vor allem das Internet stellt ein konventionelles, einfach zu bedienendesWerkzeug dar, mit dem sie auf neue Informationsquellen und islamisches Wissen zugreifenkönnen. In der letzten Dekade sind zahlreiche muslimische Webseiten in Bulgarien einge-richtet worden, auf denen religiöse Vorträge, Videos, Erzählungen, Rubriken, religiöseTexte, Filme und Diskussionen enthalten sind.80 Damit wächst neben dem Angebot anBeratung auch die Möglichkeit des Austausches unter Gleichgesinnten und Interessierten.In der Rubrik „Fragen und Antworten“ werden verschiedene Stellungnahmen zu Aspektender religiösen Lebensführung auf der Grundlage des Islam veröffentlicht. Indem jungeMuslime die heiligen Quellen individuell deuten, fordern sie zugleich das Deutungsmono-pol der traditionellen islamischen Bildungseliten heraus. Davon zeugt nicht zuletzt derwachsende Anteil von Frauen, die sich auf religiösem Gebiet engagieren. Die Tatsache,dass sie ihre Forderungen anhand der heiligen Schriften begründen, verleiht ihnen eineInterpretationsautorität, die auf Wissenserwerb fußt und zum klassischen Repertoire mus-limischer Reformer zählt. Die Folge dieser Entwicklung ist eine neuartige Diversität derAkteurs- und Diskurslandschaft, wobei die jungen Muslime durch ihr Wissen und persönli-ches Charisma die Basis einer neuen muslimischen Elite bilden. Das Beispiel der kopftucht-ragenden Frauen macht zudem deutlich, dass auch kleinere Netzwerke, die sonst abge-schlossen wirken, durch die hohe Bedeutung, die der Kindererziehung und Bildung

80 Einige der bekanntesten islamischen Webseiten während des Untersuchungsraumes waren:http://dobraduma.com/, http://muslimsbg.com/, http://islam.start.bg/, https://islamio.com/bg/govoriteli/,www.muslimabg.com, www.islambg.com, www.islamofbulgaria.net, http://islam.forumup.com,www.koranbg.com, www.iman-islam.alle.bg, www.way-to-allah.com sowie das Forum Isljam zamjusjulmanite i ne mjusjulmanite: <http://islambulgaria.blogspot.de/> (05.01.2012).

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beigemessen wird, bei der Weitergabe islamischer Werte an die nächste Generation einewichtige Rolle spielen können. Auch diese unabhängigen Akteure müssen sich jedoch andie Regeln ihrer Gemeinden halten, wenn sie nicht als Außenseiter betrachtet werden wol-len. Sobald sie tradierte Werte allzu sehr in Frage stellen, werden sie Restriktionen ausge-setzt. Die Pluralisierung des Angebots an religiöser Unterweisung schmälert zudem nichtnotwendigerweise die Bedeutung der traditionellen Vermittlungskanäle.

Die Begriffsbestimmung einer islamischen Elite wird auch dadurch erschwert, dass is-lamische Autorität über weitere Merkmale wie Begabungen bei der Vermittlung zu Gottund mit magischer Kompetenz begründet werden kann. Die Akteure, die sich für religiöseErneuerung einsetzen, können deshalb nicht als homogene Gruppe betrachtet werden. Eshandelt sich um einzelne Individuen mit divergierenden Motiven und heterogenen Auffas-sungen vom Islam, die nicht zuletzt auch zu Konflikten führen können. Dem Modell PierreBourdieus entsprechend sind die Akteure mit dem meisten religiösen Kapital am macht-vollsten. Sie können die Spielregeln im Feld gestalten und festlegen, was als richtig gilt.Akteure, die über weniger Kapital und somit Macht verfügen, sind dagegen in ihren Hand-lungsmöglichkeiten innerhalb des Feldes eingeschränkt. Sie könnten aber eine heterodoxeoder konkurrierende Weltsicht einbringen und etablierte religiöse Spezialisten damit her-ausfordern.81

All diese divergierenden Akteure können in ihrer jeweiligen Vermittlungsrolle nur dannerfolgreich sein, wenn die von ihnen vertretenen Ideen unter bedeutenden Teilen derMuslime rezipiert werden und auf Akzeptanz stoßen, wobei sich religiöse Interessen bis-weilen mit sozialen oder ökonomischen überschneiden. Die Legitimationsbestätigung be-ziehungsweise -ablehnung der religiösen Führungsrolle islamischer Akteure ist das Produkteiner komplexen Dynamik von Interessen. Lokaler Islam beruht folglich nicht nur auf isla-mischen Schriften. Lokaler Islam definiert sich über Rituale und Texte, die schriftlich fi-xiert oder mündlich tradiert innerhalb des lokalen Kontextes bekannt sind. Diese Ritualeund Texte entstehen über die Interaktion von lokaler Kultur und Islam. Die Rolle der „ein-fachen“ Gläubigen bei der Konstruktion einer lokalen islamischen Lebenswelt sollte kei-nesfalls unterschätzt werden. Gellners Polarisierung von „orthodoxer Mitte gegenüber ab-weichender Irrlehre“ beziehungsweise „Wissen gegenüber Unwissenheit“82 findet deshalbim bulgarischen Kontext kaum Bestätigung. Wie ließe sich denn die Aussage, dass all dasislamisch sei, was Muslime als islamisch bezeichnen, in diese Polarität einordnen? DerIslam in Bulgarien stellt sich vielmehr als eine hierarchische Gesamtheit dar, innerhalbderen sich unterschiedliche „Ebenen“ analytisch herausschälen lassen, etwa agrarischeRiten und Heiligenkult, aber auch durch Vorschriften geregelte Praxis und Dogmen.

Ein Ansatz zur analytischen Erfassung muslimischer Diversität wurde bereits in den1950er Jahren von dem amerikanischen Kulturanthropologen Robert Redfield angeboten.Seinen Thesen zufolge lassen sich religiöse Phänomene in einem Verhältnis von Great undLittle Tradition beschreiben.83 Eine Great Tradition ist eine zentrumsbezogene, reflexive,

81 Pierre Bourdieu, Soziologische Fragen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1993, 109.82 Ernest Gellner, Leben im Islam. Religion als Gesellschaftsordnung, Stuttgart: Klett-Cotta, 1985

[Original: Muslim Society. Cambridge 1981], 18.83 Robert Redfield, Peasant Society and Culture. An Anthropological Approach to Civilization, Chicago:

Chicago Press, 1956.

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Dynamik und Diversität des religiösen Feldes 273

orthodoxe Form der Religion, die an wichtigen Bildungseinrichtungen der religiösen Lehrekultiviert und überliefert wird. Eine Little Tradition stellt dagegen die pluralistische, lokale,populäre und unreflektierte Form der Peripherie dar, die vorwiegend von der Landbevölke-rung und im kleinstädtischen Milieu im Alltag praktiziert wird und vielfach Elemente vonlokaler Praxis und Tradition inkorporiert. Von besonderem Interesse ist hier nicht einemögliche Dichotomie zwischen den beiden Traditionen, sondern vor allem Redfields Hin-weis darauf, dass zwischen Great und Little Tradition ein konstanter Austausch stattfinde.84

Eine Great Tradition muss letztendlich vermittelt werden, um zu einer Little Tradition zuwerden. Schließlich hat auch die Tendenz der Orthodoxie, die lokalen Sitten und Kulte alsÜberbleibsel und Abweichung anzusehen, ein Gegengewicht, indem sie versucht, dieseFormen von Religiosität in sich aufzunehmen oder zumindest stillschweigend zu akzeptie-ren.

Talal Asad, ein führender Kulturanthropologe und postkolonialer Denker, übernimmtRedfields These einer Interaktion zwischen den beiden Traditionselementen und spricht inseiner 1986 erschienen Studie The Idea of an Anthropology of Islam von einer diskursivenTradition:

„If one wants to write anthropology of Islam one should begin, as Muslims do, fromthe concept of a discursive tradition that includes and relates itself to the foundingtexts of the Qur’an and the hadith. Islam is neither a distinctive social structure nor aheterogeneous collection of beliefs, artefacts, customs, and morals. It is a traditi-on.”85

Laut Asad besteht eine islamische Tradition im Wesentlichen aus Diskursen, welche dasZiel haben, ihren Anhängern Leitlinien zu geben. Die Leitlinien betreffen die korrekteForm einer bestimmten religiösen Handlung, die eine eigene Geschichte hat. Die Diskursebeziehen sich zunächst auf die normativen Grundlagen des Islam, den Koran und diehadith, die für gläubige Muslime als Fundament des eigenen Glaubens und Handelns gel-ten. Islamische Narrative sind aber stets auch als in der Gesellschaft situierte Diskurse zubetrachten, wo sie gelehrt, weitergegeben, autorisiert, interpretiert und transformiert wer-den. Die Art und Weise, wie darüber debattiert wird, welche Handlungen die Muslime als„richtig“ und welche als „falsch“ zu betrachten haben, ist nicht beliebig, sondern resultiertaus den spezifischen Erfahrungen, dem kollektiven Wissen und den über Generationenhinweg überlieferten lokalen Traditionen einer Glaubensgemeinschaft. Tradition ist der Ort,an dem Gemeinschaften verhandeln, was als „gut“ oder „böse“, „falsch“ oder „richtig“ zugelten hat. Daher versteht Asad den Begriff Tradition nicht als Gegensatz zu Moderne,sondern die Moderne selbst als aus verschiedenen Traditionen gespeist. Traditionen setzenStandards, die in spezifischen Begründungszusammenhängen legitimiert werden. Der Islamals diskursive Tradition unterliegt damit einer konstanten Modifikation durch eine sichwandelnde Umwelt, wobei Narrative ineinander übergehen. Um zu klären, wie im Diskursentschieden wird, was haram und halal, was islamisch und nicht-islamisch ist, liefert Asad

84 Ders, The Social Organization of Tradition, in: Jack Potter/ May Diaz/ George Foster (Hg.), PeasantSociety: A Reader, Boston: Little, Brown, 1967, 25-34, 27.

85 Talal Asad, The Idea of an Anthropology of Islam, in: Occasional Papers Series, Washington, D.C.:Center for Contemporary Arab Studies, 1986, 14.

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mit seiner Definition von Orthodoxie wichtige Impulse in der Debatte um einen regionaldiversifizierten Islam:

„…orthodoxy is not a mere body of opinion but a distinctive relationship – a rela-tionship of power. Wherever Muslims have the power to regulate, uphold, require,or adjust correct practices, and to condemn, exclude, undermine, or replace incor-rect ones, there is the domain of orthodoxy.”86

Damit wird Orthodoxie zum Produkt lokaler Machtverhältnisse und erhält je nach regiona-ler Ausprägung verschiedene Bedeutungen, die innerhalb des traditionellen Rahmens aufder Ebene der Akteure diskutiert werden. Diskussionen und Konflikte über die Form undBedeutung von Aspekten der Tradition sind Bestandteil jeder diskursiven Tradition selbst.Dementsprechend sind auch heterogene Praktiken nicht als „unislamisch“ anzusehen, son-dern sind Bestandteil dieser Diskurse.

Was in Bulgarien bedeutet, ein „guter“ Muslim zu sein, wird schließlich durch mehrereAkteure ausgehandelt: Vertreter der offiziellen bulgarischen Ulema, inoffizielle (u.a. auchexterne) muslimische Aktivisten sowie einzelne fromme Muslime, die über verschiedeneMachtressourcen verfügen. Die Frage der Macht ist in der Entwicklung von Tradition zent-ral. Infolge der Bemühungen islamischer Erneuerer kann angenommen werden, dass diePraxis der bulgarischen Muslime rationaler, reflexiver und auch „genauer“ wird. Sie ist undbleibt aber ein Bestandteil der „diskursiven Tradition“, die gelebte soziale Praktiken, kano-nische Texte und Diskurs in einem Modell verbindet. Das bedeutet nicht, dass lokale Trans-formationen der diskursiven Tradition gegenüber translokalen, globalen Tendenzen undislamischen Vernetzungen gleichgültig bleiben. Neuere Sichtweisen und Doktrinen desIslam – soweit sie von bulgarischen Muslimen rezipiert werden – erfahren jedoch eineUminterpretation durch das Prisma des lokalen Kontexts und der lokalen Empfänger, wer-den selektiert und an die bulgarische Realität angepasst. Auch Bourdieu weist darauf hin,dass es sich beim religiösen Feld um ein Kampffeld unterschiedlicher Bedeutungsstrategienhandelt, das nur wenige Fixpunkte des legitimen Argumentierens (z.B. den Koran) kennt,im Übrigen aber ausdifferenziert und heterogen ist – entgegen den gängigen Vorstellungenvom Fundamentalismus.

Für bulgarische Muslime kann der Islam schließlich – wie für jede andere Religion –mehrere Bedeutungshorizonte ausfüllen: Er kann Zugehörigkeit und Zuversicht vermitteln,zur Gewohnheit werden und Prestigequelle sein, aber auch Spiritualität inspirieren undeinen individuellen Weg zu Gott darstellen.

6. Fazit: Wiedererwachen des Islam?

Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts haben soziale Praktiken von Muslimen in Bulgarieneine Transformation erfahren. Religiöse Freiheiten, erhöhte Mobilität und das Nachrückenneuer Generationen von Muslimen markieren das Spannungsverhältnis, in dem sich musli-mische Glaubensgemeinschaften in Bulgarien befinden und das für aktuelle Prozesse reli-giöser Erneuerung konstitutiv ist. Das „Gesicht“ des bulgarischen Islam hat sich verändert.

86 Ebda., 15.

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Fazit: Wiedererwachen des Islam? 275

Er wird „bunter“ und ist nicht mehr so isoliert wie vor 1990. Man könnte sagen, der bulga-rische Islam ist jünger und neugieriger, zugleich aber auch vielfältiger und chaotischergeworden. Den neuen Generationen reichen die tradierten Kenntnisse ihrer Eltern nichtmehr aus. Sie verlangen nach einer flexiblen, den Bedürfnissen einer modernen Gesell-schaft angepassten religiösen Ausbildung. Dem Bild des alten Hodžas, der selten die Gren-ze seiner Gemeinde verließ und sein religiöses Wissen zum Teil durch mündliche Überlie-ferung erwarb, tritt heute ein neues Bild entgegen: der Imam, der über eine theologische(wie auch säkulare) Ausbildung verfügt, sich in gesellschaftlichen und sozialen Fragenengagiert und sowohl flexibel als auch mobil ist. Durch die Kontakte, die bulgarischeMuslime sowohl zu Regionen mit muslimischer Mehrheit als auch zu muslimischen Ge-meinden in Westeuropa aufnehmen konnten – sei es durch ein Studium, einen Auslandsauf-enthalt oder einfach durch das Internet –, fühlen sie sich als Teil globaler Prozesse. Zu-gleich folgt der Islam in Bulgarien einem eigenen Weg.

Der seit 1989 beobachtbare Prozess der Erneuerung des Islam in Bulgarien wird vor al-lem von jüngeren Vertretern der Ulema sowie muslimischen Intellektuellen und einzelnenfrommen Muslimen getragen, die in den Jahren nach der politischen Wende herangewach-sen sind. Einige von ihnen haben in der Türkei, in einem arabischen Land, an einer traditio-nellen islamischen Universität wie der Al-Azhar in Kairo oder (mehrheitlich) in Bulgarienstudiert. Neuerlich gibt es die Möglichkeit, die immer mehr an Attraktivität gewinnt, einislamisch-pädagogisches Studium in Wien, in den Niederlanden oder in einem anderenwesteuropäischen Land zu absolvieren. Es sind vor allem Muslime pomakischer Herkunft,die sich für eine Ausbildung an einer arabisch-islamischen Bildungsstätte interessieren, dasie arabische Sprachkenntnisse erwerben, sich aber auch von einem als „türkisch“ bezeich-neten Islam abgrenzen wollen. Auch Mitglieder des Obersten Muftiamtes folgen gerneeiner Einladung zu einem islamischen Seminar oder einem Treffen in der Türkei, Jordanienoder Saudi-Arabien, aber auch in London, Wien und Sarajevo.87 Dennoch spielen die Kon-takte zu den arabisch-islamischen Ländern – im Gegensatz zu den Behauptungen in derbulgarischen Öffentlichkeit – für die Herausbildung der Gruppen, die sich für die Erneue-rung des Islam in Bulgarien einsetzen, keine bedeutende Rolle.

„Erneuerung“ des Islam im bulgarischen Kontext bedeutet einerseits Bemühungen umseine Präsenz im öffentlichen Leben, etwa durch die Gründung von Moscheen, die Einfüh-rung des islamischen Religionsunterrichts in den Schulen oder die Veröffentlichung vonLiteratur über Fragen des islamischen Glaubens. „Erneuerung“ bedeutet aber auch eineaktive Auseinandersetzung mit islamischen Normen, die unter anderem Veränderungen imLeben der Muslime bewirken. Indem das Muftiamt die wichtigsten Bereiche des organisier-ten islamisch-religiösen Lebens verwaltet – islamische Bildungseinrichtungen, Einstellungund Beaufsichtigung des Moscheepersonals sowie religiöse, publizistische und humanitäreAktivitäten –, erweist es sich als zentraler Akteur der Erneuerung. Durch fatwas wird zurituellen und dogmatischen Fragen Stellung genommen und die normative Grundlage desislamischen Diskurses geprägt. Mit der wachsenden Zahl von Muslimen, die nach 1989eine islamische Ausbildung erhalten hatten, konnten sich aber auch unabhängige Akteureund informale islamische Netzwerke etablieren, die sich ebenfalls für Innovation und Er-

87 Zahlreiche Informationen dazu finden sich auf den Seiten des zentralen Presseorgans der bulgarischenMuslime, Mjusjulmani, sowie auf der Homepage des Muftiamtes.

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neuerung im Islam einsetzen und vor allem auf dem Zivilsektor aktiv sind. Neben demSichtbarwerden islamischer Symbolik beobachtet man die Entstehung neuer Formen derReligiosität, die weniger durch einen Konformismus mit überlieferten Traditionen bestimmtsind, sondern vielmehr durch bewusste Entscheidungen auf dem Gebiet der Glaubensaus-übung. Junge Muslime und Musliminnen setzen sich mit Fragen des religiösen Wissens undder religiösen Autorität auseinander und fordern einen individuellen Zugang zur Religion.Religiös zu sein ist demnach eine Angelegenheit der freien Wahl und zunehmend vomDruck religiöser Autoritäten entkoppelt. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammen-hang die wachsende Bedeutung des Internets und virtueller sozialer Netzwerke, die zurKommunikation über religiöse Fragen genutzt werden. Die Interpretation muslimischerTraditionen verläuft häufig durch Distanzierungen zu beidem, der Elterngeneration, dervorgeworfen wird, dem Volksislam verhaftet zu sein, und den dominanten Diskursen derGesellschaft, die nicht selten durch islamfeindliche Narrative geprägt sind. Die „Überle-genheit" an religiösem Wissen beziehungsweise an Kulturkapital bildet den Dreh- undAngelpunkt für die Reinterpretation religiöser Traditionen.

Dass Gläubige sich alternativer Wege des Wissens bedienen, bedeutet aber nicht, dasssie sich nicht mit ihrer traditionellen Kultur verbunden fühlen. Tradition als Komplex loka-ler Glaubensvorstellungen und Gewohnheiten, die über Generationen hinweg geteilt wird,ist beständig und bleibt ein entscheidender Bezugspunkt für die Gläubigen, um neue Ideenund alternative Quellen des Wissens einzuordnen und zu rezipieren. Zwar werden frommeMuslime nicht selten von ihrer Umgebung als die „Strengen“ bzw. die „Neuen“ bezeichnet.Die lokale Kultur und die durch sie konnotierten Familienmodelle und Geschlechterrollenbestimmen dennoch nach wie vor die wichtigsten Entscheidungen im Leben der Gläubigen;vor allem die Eheschließung sowie das Verhältnis zu Eltern und Gemeindemitgliedern. Inähnlicher Weise zeigt das Beharren auf islamischen Bräuchen, auf Sufi-Praktiken und ver-schiedenen Formen des Volksglaubens, die Beständigkeit der Tradition. Solche Ritualeüberdauern und bewahren ihr Eigenleben, auch wenn sie in Gegensatz zu Lehren der offizi-ellen islamischen Hierarchien stehen.

Ein weiterer Trend, der das national organisierte religiöse Feld beeinflusst hat, kommtmit dem Eindringen verschiedener äußerer Einflüsse in die muslimisch besiedelten Gebietenach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Die Liberalisierung der religiösen Sphäreund die Etablierung neuer Kommunikationskanäle ermöglichten die Entstehung eines le-bendigen und wettbewerbsorientierten Marktes, auf dem ausländische Akteure und Ideen –so u.a. Missionare, Migranten, humanitäre Organisationen, islamische Vereine und virtuelleInternet-Netzwerke – mit den etablierten Institutionen um Einfluss ringen. Nicht nur reichesaudi-arabische Organisationen und Stiftungen aus dem Nahen Osten, sondern auch türki-sche Organisationen und Netzwerke sind im gesamten südosteuropäischen Raum präsent.Unter den ausländischen islamischen Akteuren ist vor allem die Türkei hervorzuheben, deres gelungen ist, sich mit ihren offiziellen religiösen Institutionen sowie ihren religiös be-gründeten Organisationen und islamischen Netzwerken als der bedeutendste ausländischePartner in dieser Region zu etablieren. Die verschiedenen ausländischen Akteure und ihreBotschaften schafften es teilweise, die zentrale Institution der bulgarischen Muslime zuinfiltrieren und Gruppen anzusprechen, die unter den Schwierigkeiten des wirtschaftlichenZusammenbruchs litten. Deshalb waren sie für eine Botschaft der Gerechtigkeit inmittender korrupten postkommunistischen Realität empfänglich. Auch der Salafismus – ein ent-

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Fazit: Wiedererwachen des Islam? 277

kulturalisierter transnationaler und hochgradig rationalisierter Islam – konnte sich partiellunter einer begrenzten Anzahl der Muslime verbreiten. Obwohl das Wirkpotential des Sa-lafismus für die Zukunft nicht zu unterschätzen ist, konnten sich salafistische Ideen wederim religiösen Feld Bulgariens fest verankern noch eine breite gesellschaftliche Basis ge-winnen.

Die Analyse des Wiedererwachens des Islam im bulgarischen Kontext zeigt ferner, dassdie Annahme klarer ethno-religiöser Identitäten, die das politisch geregelte religiöse Feldvermitteln soll, den vielfältigen Formen der Religiosität der Gläubigen nicht gerecht wird.Der Islam stellt nach wie vor eine wichtige Quelle der kollektiven Identitätsbildung fürbulgarische Muslime dar. Die Erfahrung der Religiosität ist aber zugleich zu einer persona-lisierten individuellen Einstellung geworden, die von offiziellen Strukturen und Rezeptenlosgelöst ist. Das Ergebnis ist die Neudefinition des Islam als bewusst gelebte Religion undnicht nur als kollektive Identität oder „Zugehörigkeit“. Ein Beispiel für das Neuausverhan-deln der Balance zwischen ethno-nationalen und religiösen Identitäten sind die Pomaken.Obwohl einige Vertreter der pomakischen Gemeinschaft bestrebt sind, sich von einem als„türkisch“ bezeichneten Islam abzugrenzen, beanspruchen sie weder eigene religiöse Insti-tutionen noch einen ethnisch geprägten „Sonderweg“. Die Festigung kollektiver Identitätenverläuft in diesem Fall durch eine Ent-Ethnisierung des Religiösen, indem Rückgriff aufeinen reinen, ethnisch gesäuberten Islam genommen wird, um sich vom Islam als Erbe der„Türken“ zu distanzieren. Diese Ent-Ethnisierung des Islam bedeutet nicht notwendiger-weise eine Dekulturation, sondern bringt eine Neuinterpretation des Verhältnisses zwischenreligiösen, kulturellen und politischen Grenzen mit sich, indem der Glaube zu einer freienWahl wird. Identitätsmarker werden grundsätzlich dort gesucht, wo die eigene Identitätnicht selbstverständlich ist. Multiple Identitäten sind häufig in peripheren Räumen anzutref-fen, in denen religiöse und staatliche Institutionen weniger in der Lage sind, die Präferen-zen der Gläubigen zu erreichen und zu bestimmen.

Auch unter Teilen der muslimischen Roma lässt sich eine partielle Re-Islamisierungethnischer Identitäten feststellen. So führt die soziale Marginalisierung in einigen vonRoma bewohnten Gebieten (z.B. das Wohnviertel Iztok in Pazardžik) dazu, dass Religionkompensatorische Aspekte annimmt, indem sie ihren Anhängern eine neue soziale Identitätverleiht. Bei der Mehrheit der bulgarischen Türken ist die ethnisch-nationale Zugehörigkeitdagegen viel stärker betont als bei slawischen Muslimen oder muslimischen Roma. Auchwenn türkisch-muslimische Eliten sich ebenfalls für einen reformierten Islam einsetzen,lassen sich unter ihnen in der Regel keine Spannungen oder Konkurrenzverhältnisse zwi-schen religiösen und ethnischen Zugehörigkeiten erkennen. Viele von ihnen unterhaltenenge Beziehungen zur Türkei und erhoffen sich von ihr Schutz oder Förderung.

Ein weiterer Aspekt religiöser Erneuerung ist die Bedeutung der religiösen Vorschriftenim täglichen Leben. So nimmt eine kleine Gruppe unter den Muslimen – und zwar ohneethnische Unterschiede – die islamischen Vorschriften viel ernster als ihre Eltern es je getanhaben. Sie studieren bewusst die Quellen des Islam, um sich dem „wahren“ Islam zu nä-hern. Die bewusste Suche nach einem „wahren Islam“ mit dem Ziel, diesen dann so weitwie möglich zu praktizieren, ist jedoch nur bei einer begrenzten Anzahl der Muslime zubeobachten. Sehr viel öfter sieht man, dass sie sich mit dem Islam und der islamischenGemeinschaft identifizieren, im täglichen Leben jedoch nicht oder kaum in Übereinstim-mung mit den islamischen Vorschriften leben. Die symbolische Identifizierung kann aber

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auch als Trotzreaktion auf die Diskriminierungserfahrungen verstanden werden. Bei derVermittlung islamischer Ideen und Konzepte im bulgarischen Kontext handelt es sich umkeinen one-way-flow, sondern es findet ein komplexer Aushandlungsprozess statt, bei demislamische Aktivisten, einzelne fromme Muslime und Mitglieder der lokalen muslimischenGemeinden in einer Wechselbeziehung zueinander stehen. Orthodoxie ist ein Produkt loka-ler Machtverhältnisse und steht in kontinuierlichem Wandel.

Eine Frage, die sich innerhalb der Islam-Debatten in Bulgarien gegenwärtig stellt, lau-tet: Was macht den traditionellen bulgarischen Islam aus? Was kann man darunter verste-hen? Ist es der „zahme, friedfertige, rurale, praxisorientierte, türkische“ Islam, wie er amhäufigsten in der bulgarischen Öffentlichkeit dargestellt wird, um ihn dann in idealisiertemLicht „dem fremden, radikalen, arabischen Islam“ gegenüberzustellen?88 Oder handelt essich, wie der Regionalmufti von Smoljan bemerkt, um eine Variante des Islam, die infolgeder aggressiven Politik der Kommunisten entstanden ist? Durch sie sei der Islam auf den„einfachen“ Ritus begrenzt worden und weitere Aktivitäten frommer Muslime seien in derÖffentlichkeit weder üblich noch erwünscht.89 Für die kopftuchtragenden Frauen, die sichin den lokalen Moscheen treffen, bedeutet „traditionaler Islam“ wiederum Patriarchalitätund Männerdominanz sowie Ablehnung von Veränderungen. „Weder noch“, meint derLeiter des Medienzentrums des Muftiamtes und stellvertretende Obermufti Birali Birali.„Der bulgarische Islam ist räumlich und zeitlich veränderbar. Er wandelt sich mit der Tradi-tion zusammen, ist aber zugleich auch immer ein Teil der Gegenwart.“90 Es macht alsoeinen Unterschied, wer für den Islam spricht.

Staatliche Behörden und die Verwaltung der bulgarischen Muslime verbünden sichnicht selten, um die offizielle traditionelle Linie zu schützen und konkurrierende Formendes Glaubens als „fremd“ zu identifizieren. Der von der Regierung geförderte „offizielle“Islam fußt auf einem Konzept, das die Aufrechterhaltung zentraler religiöser Hierarchieneinschließt, die vom Staat genehmigt und kontrolliert werden. Die staatlich kontrolliertenzentralen Hierarchien bilden dabei die einzige offiziell anerkannte Autorität über die Ange-legenheiten der muslimischen Glaubensgemeinschaft. Als Machtkämpfe die zentralisiertenislamischen Strukturen erschütterten, war der bulgarische Staat daher letztendlich daraninteressiert, die Probleme zu beheben und den gewählten Obermufti zu bestätigen. Von derVerwaltung der bulgarischen Muslime wird erwartet, die staatliche Aufsicht über die Ge-meinschaft der Gläubigen zu gewährleisten und „unerwünschten“ Einflüssen im religiösenBereich entgegenzuwirken. Durch die Bestätigung des islamischen Establishments setzt derStaat die komplizierte Beziehung zwischen politischen und islamischen Strukturen fort.Diese Strukturen verhärten und reproduzieren starre Grenzen sowie Kategorien, die denIslam selbst und seine Wahrnehmung prägen.

Auf nationaler Ebene beruhen die Wahrnehmung kultureller Differenzen zwischenMehrheitsgesellschaft und Muslimen sowie die damit verbundenen Stereotypen häufig auf

88 Siehe stellvertretend dazu Ljuba Manolova, V Bălgarija ima počva za ortodoksalnija arabski radikalenislam, in: Agencija Fokus vom 2. April 2007; Radikalnijat islam v presata prez poslednite godini, in:Agencija Fokus vom 16. März 2009 sowie Denica Kamenova, Poslednija šans an dăržavata da izdăržimjusjulmanskija izpit, in: Dnevnik vom 13. September 2006.

89 Interview mit Nedžmi Dabov im Oktober 2010.90 Interview mit Birali Birali im Oktober 2010.

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Vereinfachung. Muslime werden nicht selten als eine Art ethnische „fünfte Kolonie“ be-trachtet und gelten als Überreste einer vergangenen Zeit, die sich nie erfolgreich in denhomogenen, modernen, europäischen und letztendlich orthodoxen Nationalstaat integrierenließen. Folglich müssen die Ausdrucksformen des Islam unterdrückt und einer staatlichenÜberwachung unterstellt werden. Innerhalb nationalistischer Darstellungen werden verän-derte islamische Praktiken und Überzeugungen nicht selten mit fremden Einflüssen ver-bunden, die infolge der Liberalisierung des religiösen Sektors in die muslimisch besiedeltenGebiete eingedrungen sind. Sowohl Vertreter der Politik als auch die Medien greifen aufStereotype zurück, nach denen das islamische Wiedererwachen durch arabische Organisati-onen, die in Verbindung zu einem „radikalen Islam“ stehen, aus dem Nahen Osten impor-tiert wurde. Durch die „Externalisierung“ der Wiederbelebung des Islams blickt der Staatauf die neuen praktizierenden Muslime als eine Art verpflanzte Glaubensgemeinschaft, dieden über Jahrhunderte entstandenen endogenen, bulgarischen Islam untergräbt.

Die sicherheitspolitisch motivierte Inhaftierung von Imamen in Bulgarien hat viel mehrmit einer Widerbelebung nationalistischer Narrative als mit realen Gefahren für die „natio-nale Sicherheit“ zu tun. Am 19. März 2014 wurden alle Angeklagten, die im Oktober 2010im Zuge der der Razzia der Staatlichen Agentur für Nationale Sicherheit verhafteten wur-den, wegen „Verbreitung antidemokratischer Ideologie“ verurteilt.91 Mit „antidemokrati-scher Ideologie“ war der Salafismus gemeint. Die Beweise, dass die Angeklagten tatsäch-lich Vertreter dieser Ideologie waren, blieben jedoch fraglich.92 Letztendlich wurden dieangeklagten Imame, Muftis und Lehrer wegen der bei einigen von ihnen gefundenen isla-mischen Literatur sowie ihren realen oder vermeintlichen Kontakten zu der saudi-arabischen Stiftung Al-Waqf al-Islami verurteilt.93 Menschenrechtsaktivisten und unabhän-gige Beobachter kritisierten den Verlauf des Verfahrens und wiesen darauf hin, dass dieZeugenaussagen und ein Teil der Sachverständigen so inkompetent und ihre Aussagen somanipuliert waren, dass es letztlich keine Chance für einen gerechten Strafprozess gegebenhätte.94 Als problematisch erwies sich ferner, dass der Imam von Pazardžik, Achmed MussaAchmed, der nicht zu den offiziellen Strukturen der islamischen Glaubensgemeinschaftgehörte, zusammen mit hochrangigen Mitgliedern des Muftiamtes vor Gericht stand, darun-ter zwei Regionalmuftis, ein ehemaliger Regionalmufti, ein Mitglied der Fatwa-Kommission sowie weitere Imame und Vaizen. Das Ziel des Strafprozesses, der in derÖffentlichkeit unter dem Namen „Der Prozess gegen die 13 Imame“ bekannt wurde, waranscheinend präventiv. Fraglich ist jedoch, ob durch ihn eine wirkungsvolle Prävention

91 Siehe dazu die „Einleitung“. Dies waren nicht die ersten Verhaftungen von bulgarischen Muslimen. ImJahr 2007 und 2008 sowie im März 2009 wurden ähnliche Aktionen der Agentur für Nationale Sicher-heit durchgeführt.

92 Die Gerichtsakten enthalten nähere Informationen über die Anklage, das Urteil und die Zeugenaussa-gen. Siehe dazu: Strafverfahren Nr.330/2012, online:<http://www.court-pz.info/2014_1/0070f512_33031914. htm> (20.3.2015).

93 Mehr zur Stiftung Al-Waqf al-Islami siehe Kapitel V sowie Strafverfahren Nr.330/2012.94 Siehe stellvertretend: Antonina Željazkova, Nakărnihme dostoinstvoto na mjusjulmanite, isljamskia

svjat sledi slučvaštoto se, in: Dnevnik, vom 30.10.2012; Ders. Deloto sreštu imamite – vredjašto nanacionalnata sigurnost presledvane na mjusjulmanski duhovnici, in: Dnevnik, vom 20.3.2014; JulijanaMetodieva, BHK za deloto sreštu imamite: Njama otkade da doidat poslanijata kak da mislim drugostta,in: Dnevnik vom 01.12.2012; Menschenrechte in Bulgarien im Jahr 2012, Sofia: Bulgarisches Helsinki-Komitee (BHK), 2013.

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erreicht wurde oder nicht viel mehr das Gegenteil. Durch die Diskreditierung muslimischerEliten, die innerhalb der Glaubensgemeinschaft als Autoritäten gelten, fühlten sich bulgari-sche Muslime diskriminiert und ihre Loyalität zum bulgarischen Staat wurde in Frage ge-stellt. Der Prozess hat zudem die Beziehungen zwischen den Muslimen und der Mehrheits-gesellschaft beeinträchtigt und auf beiden Seiten Ängste und Misstrauen geweckt.

Der Strafprozess warf unter anderem auch die Frage auf, ob der Salafismus eine krimi-nelle Doktrin ist. Diese ist heute nicht nur in Bulgarien aktuell. Der Respekt vor anderenAuffassungen, die freie Wahl der Zugehörigkeit zu einer Religion oder die Achtung demo-kratisch legitimierter Mehrheitsentscheidungen – all dies ist mit einer salafistischen Inter-pretation des Islams unvereinbar. Zieht man außerdem in Betracht, dass viele junge Musli-me aus Europa nach Syrien und in den Irak gegangen sind, um sich dort der TerrormilizIslamischer Staat (IS) anzuschließen, und dass zumindest vermutet wird, salafistische Ideenkönnten zur Radikalisierung dieser jungen Menschen beigetragen haben, dann ist die Frageberechtigt und bedeutsam, ob der Salafismus „gefährlich“ sei. Zugleich ist die Religions-freiheit ein zentrales Grundrecht und darf von staatlicher Seite nicht grundlos eingeschränktwerden. Es gilt zu unterscheiden zwischen einem Islam, der die Religion der Mehrheit derMuslime in Bulgarien darstellt, und einem Islam, der zu Gewalt und Hass aufruft. Einfrommer Muslim ist keineswegs Anlass für Präventionsmaßnahmen.95 Im Zeitalter desInternets und gestiegener Mobilität können bulgarische Muslime von äußeren Einflüssennicht isoliert werden. Der Staat kann sich radikalen Einflüssen jedoch nur mit der Unter-stützung der Muslime selbst widersetzen. Statt repressiver Maßnahmen ist hier ein Dialoggefordert.

Heute sind die muslimischen Gemeinden und Individuen in Bulgarien sehr heterogen.Einige von ihnen wollen ihre religiösen Traditionen so weit wie möglich bewahren, anderesind weitgehend säkularisiert. Wieder andere versuchen, in säkularem Umfeld einer reinreligiösen Praxis nachzugehen. Schließlich gibt es die „strengeren“, die sich selbst als „diewahren Muslime“ bezeichnen und von der Vorstellung einer fundamentalistischen Markedes Islam fasziniert sind. Sie kritisieren die traditionelle muslimische Kultur ihrer Vorfah-ren in ähnlicher Weise wie die säkularisierten Gesellschaften, seien es Westliche oder Öst-liche. Die Vertreter solcher Ideen stellen im bulgarischen Kontext jedoch nur eine äußerstkleine und marginalisierte Gruppe dar. Ihr Einfluss ist begrenzt. Es wäre auch falsch, fun-damentalistische Tendenzen mit Radikalismus gleichzusetzen. Fundamentalismus ist eindauerhafter Aspekt jeder Religion. Daher macht es keinen Sinn, von außerhalb einen „gutenIslam“ zu befördern. Problematisch wird es, wenn sich das religiöse Wiedererwachen –entweder unter fundamentalistischen oder spiritualistischen Formen – vom kulturellenBezug entkoppelt und dadurch von der im bulgarischen Islam tief verwurzelten religiösenToleranz löst. Doch obwohl in Bulgarien unter einigen muslimischen Gruppierungen neo-

95 Dies bedeutet nicht, dass es in Bulgarien keine Anhänger der salafistischen Doktrin gebe. Ein Beispieldafür ist das Roma-Wohnviertel in Pazardžik, wo sich eine kleine Gruppierung von ca. 300 bis 500 Per-sonen um den Imam Achmed Mussa gruppierte. Mussa konvertierte während seines Aufenthalts inÖsterreich zum Islam. Nach seiner Rückkehr wurde er unter einer kleinen Gruppe der Bewohner zur re-ligiösen Autorität. Beim Wohnviertel Iztok handelt es sich um ein Ghetto, das nicht einmal an den öf-fentlichen Verkehr angeschlossen ist. Die meisten seiner Bewohner sind arbeitslos. HoheKriminalitätsraten, eingeschränkter Zugang zur Bildung und zum Gesundheitswesen kennzeichnen denAlltag.

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Fazit: Wiedererwachen des Islam? 281

fundamentalistisches Gedankengut verbreitet wird, bleibt es weitgehend ohne Wirkung.Warum? Die Wunschvorstellung einer De-Kulturalisierung der Neofundamentalisten stehtin starkem Kontrast zur bulgarischen Realität. Diese zeigt oft das Gegenteil: Auch undgerade diejenigen, die sich als aktive Muslime verstehen, sind in ihrer lokalen Umgebunggut integriert und sozial engagiert, wobei ihre Aktivitäten von den Nachbarn und anderenGemeindemitgliedern beobachtend verfolgt werden.

Sollte es dem bulgarischen Staat jedoch nicht gelingen, das Vertrauen der bulgarischenMuslime zu gewinnen, oder sollte es – etwa aufgrund ihrer sozialen und wirtschaftlichenMarginalisierung oder durch Anschuldigungen der „Radikalisierung“ – zu einer weiterenAbkapselung der einzelnen muslimischen Gemeinden kommen, kann nicht ausgeschlossenwerden, dass verschiedene Arten der Radikalisierung entstehen. Eine neue Generation Ju-gendlicher könnte durch eine islamistische Mobilisierung in Versuchung geführt werden,aber auch Vertreter des traditionellen konservativen Milieus könnten sich in ihren lokalenGemeinden vom Staat abkapseln.

Der Prozess religiöser Erneuerung, der in den Jahren nach 1989 in den muslimisch be-siedelten Gebieten Bulgariens zu beobachten ist, kann schließlich nicht mit einer breitenRe-Islamisierung gleichgesetzt werden. Trotz der Bedeutung, die der Religion bei derSelbstbestimmung eines Teiles der muslimischen Bevölkerung zukommt, ist unter ihnennach wie vor ein hoher Grad der Säkularisierung gegeben. Zwar übten einige religiöseFührer wie auch Familienstrukturen einen Konsolidierungsdruck auf einzelne Gemeinde-mitglieder aus. Auf der Ebene des Alltagslebens ist es jedoch zu keiner bedeutenden Steige-rung der Religiosität gekommen. Den Ergebnissen einer im Jahr 2011 von der Neuen Bul-garischen Universität durchgeführten Umfrage zufolge ist es nicht die Religion, sonderndie schlechte wirtschaftliche Lage, die Krise in der Gesellschaft und die Arbeitslosigkeit,die den Alltag der Menschen muslimischen Hintergrunds in Bulgarien bestimmen.96 Sonimmt Religion erst den vierten Platz auf der Werteskala der bulgarischen Muslime ein.Wichtiger waren den Befragten Familie (von rund 95% als „sehr wichtig“ eingestuft), Ar-beit (93%) sowie Freunde und Bekannte (60%).97 Aus derselben Umfrage geht hervor, dass28,5% der befragten Muslime sich als „tief religiös“ ansehen, 41% keine Moschee besu-chen und nur ein kleiner Anteil von rund 8% der Meinung ist, dass „es nur eine wahre Reli-gion gibt“. Darüber hinaus geben knapp 40% der Befragten an, dass sie Schweinefleischkonsumieren, beim Alkohol sind es gut 43%. Zugleich beschneiden 88% ihre Kinder und96% begraben ihre Toten nach der islamischen Tradition.98 Diese Ergebnisse zeigen, dassnicht die kanonischen Bestimmungen islamischer Quellen, sondern islamisch konnotierteTraditionen und Übergangsriten eine höhere Stellung in der Lebenswelt der bulgarischenMuslime einnehmen. Der Islam wie auch andere Religionen mag im Kern auf das Verhält-nis des Menschen zum Übernatürlichen zielen, er kann aber auch eine andere, weltlicheBedeutung annehmen: als Ethik, als Ausdruck konservativer oder progressiver Gesinnung,als Bestandteil der Identitätsbildung von Individuen und Gruppen oder als Leitlinie gesell-schaftlicher Veränderung. „Der Islam“ ist nicht nur Religion. Er ist auch Kultur, Traditionund ein Sprachcode zur Formulierung persönlicher wie auch kollektiver Identität.

96 Vladislav Veličkov, Bălgarskite mjusjulmani meždu bita i religijta, in: Kultura vom 13. Januar 2012.97 Ebda.98 Ebda.

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Zwischen religiöser Erneuerung und innerer Diversifizierung282

In der Situation nach 1989 lässt sich die veränderte Rolle einer wiederkehrenden Religi-osität unter Teilen der Muslime beobachten, die von einem neuen Selbstbewusstsein beglei-tet wird. Die Religion scheint nicht mehr nur eine private Angelegenheit zu sein, sondernsie fordert einen sichtbaren Platz im öffentlichen Raum ein, wobei neue religiöse Akteuredie Szene betreten und sich als Teil der Zivilgesellschaft positionieren wollen. Soweit manvon einer „Rückkehr des Religiösen“ unter muslimischen Bevölkerungsgruppen im post-kommunistischen Bulgarien sprechen kann, ist dies nicht irgendeine Art von Pan-Islamismus oder sogar einer einheitlichen religiösen Wiederbelebung. Diese Entwicklungträgt vielmehr dazu bei, die Religion politisch, institutionell und ideologisch autonomer zumachen. In seinem 2009 erschienen Buch „Europas Angst vor der Religion“ meint derReligionssoziologe Jose Casanova: „Wir sollten Prozesse der Säkularisierung und der reli-giösen Transformation als fortlaufende, sich wechselseitig konstituierende, globale Prozes-se auffassen, anstatt sie als sich gegenseitig ausschließende Entwicklungen zu betrach-ten.“99 Casanova sieht Säkularisierung weder als Verschwinden noch als Privatisierung vonReligion, sondern als Ausdifferenzierung eines religiösen Feldes, die keinen Verzicht aufdie öffentliche Verbreitung ethischer Standpunkte implizieren muss.100 In der Annahmeeiner Privatisierung der Religion sieht er einen zentralen Fehler der Säkularisierungstheorie.Deshalb benötigt man ein Verständnis von Öffentlichkeit, welches die Beziehung zwischenReligion und Zivilgesellschaft sichtbar macht.101

Die Prozesse religiöser Erneuerung unter bulgarischen Muslimen stehen nicht zuletzt ineinem breiteren europäischen Kontext. Eine Frage, die sich für die heutige und die nachfol-gende Generation europäischer Muslime stellt, ist die der religiösen Identität. Was ist derIslam im europäischen Kontext, und was bedeutet es, ein Muslim zu sein? Ein wichtigerFaktor in diesem Prozess ist die Zunahme der Islamfeindlichkeit, nicht zuletzt infolge derTerroranschläge vom 11. September 2001. Ansprüche auf öffentlich sichtbar gelebte isla-mische Religiosität sind sowohl in west- als auch osteuropäischen Gesellschaften Gegen-stand heftiger Auseinandersetzungen zwischen säkularen oder machtpolitisch orientiertenKräften einerseits und religiösen Vertretern muslimischer Gruppen andererseits. Die öffent-lichen Auseinandersetzungen um das muslimische Kopftuch oder um neue repräsentativeMoscheebauten lassen diese Positionen deutlich erkennen. Eine andere Entwicklung, dieseit den 1990er Jahren unter Muslimen in Europa beobachtet werden kann, ist der „Prozessder Selbstanalyse: die Unterscheidung zwischen dem, was für das Muslimsein essentiell ist,und der an zeitliche und örtliche Gegebenheiten geknüpften Kultur und Lebensweisen“.102

Viele junge Menschen setzen ihr Wissen und ihre Fähigkeiten ganz bewusst ein, um dieseUnterschiede herauszuarbeiten.

Wichtig für muslimische Bevölkerungsgruppen im Balkanraum ist aber auch der Zu-gang zu europäischen Institutionen und zu einem breiteren normativen Raum, der in engemZusammenhang mit dem Prozess des EU-Beitritts steht. Durch diesen wurden sie zu einem

99 Jose Casanova, Europas Angst vor der Religion, Berlin: University Press, 2009, 94.100 Jose Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago: Chicago University of Chicago

Press, 1994.101 Casanova, Public Religions.102 Jørgen S. Nielsen, The Emerging Space of European Islam: Germany, Balkans and Turkey, Vortrag

auf der Tagung: Bosnisch, türkisch, deutsch oder …, Hohenheim, 15.–16.11.2013.

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Fazit: Wiedererwachen des Islam? 283

Teil des europäischen Projekts. Die Balkan-Muslime bringen einerseits ihre langen histori-schen Erfahrungen mit eigenen islamischen Institutionen in einem säkularen Staat mit,andererseits setzen sie sich mit den Beitritts-Kriterien der EU auseinander: Demokratie,Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft. Gleichzeitig nehmen die Muslime die Institutionenauf der EU-Ebene und das Rechtsprinzip der Gleichberechtigung als internationalen Schutzgegen restriktive nationale Politik und Ideologie wahr. Überall auf dem Balkan habenMuslime festgestellt, dass die demokratischen Anforderungen der EU das Spektrum derreligiösen Rechte und Ansprüche erweitern, die sie in der Öffentlichkeit vertreten können.Muslimische Verbände und Gruppen berufen sich auf die Normen und Werte der EU, diemit dem Standard der Demokratie, der Meinungsfreiheit, des Eigentums und des Minder-heitenschutzes verbunden sind, um ihre Ansprüche zu behaupten.

An der südöstlichen Grenze des Balkans scheint die Türkei mit dem kemalistischen Er-be zu ringen, ein Land, in dem das Verhältnis zwischen der türkischen Nation und demIslam höchst ambivalent war und ist. Von einem demokratisch regierten Staat ist inzwi-schen kaum noch die Rede. Ohne die Türkei, ob sie zu Europa gehört oder nicht, ist derIslam in Europa jedoch kaum denkbar. Auch wenn viele Balkan-Muslime ihr Verhältnis zudiesem zurzeit zerrissenen und konfliktbeladenen Land überdenken werden, kann ange-nommen werden, dass die Türkei mit ihren religiösen Lehrtraditionen und ihrer historischenVerbundenheit durch vielfältige Beziehungen zu muslimischen Bevölkerungsgruppen imBalkanraum auch in Zukunft ein wichtiges Referenzland in dieser Region bleiben wird.

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Karten

Karte 1: Südosteuropa

Quelle: stepmap.de

Bulgarien

200 km

Bosnien

Kroatien

Slowenien

Serbien

KosovoMontenegro

Albanien

Mazedonien

TürkeiGriechenland

Rumänien

Moldavien

Ungarn

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Karten306

Karte 2: Administrative Gliederung Bulgarien

Karte 3: Verteilung der Muslime (in Prozent)

Quelle: Census of the Population and Housing in Bulgaria in 2011, National Statistical Institute. EigeneDarstellung.

Rumänien

Serbien

RepublikMakedonien

Griechenland

Türkei

SchwarzesMeer

Vraca

Vidin

MontanaPleven

Ruse

Silistra

Dobrič

VelikoTărnovo

Loveč

TărgovišteŠumen

Varma

BezirkSofia

SofiaPernik

Kjustendil

Blagoevgrad

Pazardžik

PlovdivStaraZagora

Sliven Burgas

Jambol

Haskovo

Smoljan

Kărdžali

Gabrovo

Razgrad

Rumänien

Serbien

RepublikMakedonien

Griechenland

Türkei

SchwarzesMeer

2%

<1%1%<1%

<1%

16%

12%

3%

7%

40%70%

12%

4%

4%

6%

12%

38%

51%

38%

34%

16%

6%

13%8%

1%

<1%

<1% <1%

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307

Karte 4: Verteilung der Türken und Roma (in Prozent)

T = Türken; R = RomaQuelle: Census of the Population and Housing in Bulgaria in 2011, National Statistical Institute, Verteilungder Bevölkerung nach ethnischer Zugehörigkeit und Muttersprache. Eigene Berechnung.

Karte 5: Verteilung der Pomaken und Aleviten

P = Pomaken; A = Aleviten. Eigene Darstellung.

Rumänien

Serbien

RepublikMakedonien

Griechenland

Türkei

36% T

13,5% T8,8% R

7% T

30% T35,8% T

13% T<1% T

<1% T

Sofia<1%

6% T

5,7% T

8,3% R

5% T

66% T

12,5% T

6,5% T

4,9% R

4,8% T

5,6% T

9,7% T11,8% R

3% T

8,5% R

<1% T<1% T <1% T

3,6% T12,7 R

3% T6,7% T

13% T 50% T

SchwarzesMeer

Rumänien

Serbien

RepublikMakedonien

Griechenland

Türkei

SchwarzesMeer

Pleven

Ruse

SilistraAAA

DobričRazgrad

Varna

Burgas

HaskovoAsenovgrad

PlovdivPazardžik

AA AAA

KardžaliA

AA

PPP

P

PPP

PPPP

PPP

PPP

SmoljanGoce Delčev

BlagoevgradP P

PPP

SofiaTetevenPP

P

AAAAA

AAA

Karten

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