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ISLAM IN LIECHTENSTEIN Demografische Entwicklung Vereinigungen Wahrnehmungen Herausforderungen Bericht im Auftrag der Regierung des Fürstentums Liechtenstein Wilfried Marxer Martina Sochin D’Elia Günther Boss Hüseyin I. Çiçek

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ISLAM IN LIECHTENSTEIN Demografische Entwicklung

Vereinigungen Wahrnehmungen

Herausforderungen

Bericht im Auftrag der Regierung

des Fürstentums Liechtenstein

Wilfried Marxer Martina Sochin D’Elia Günther Boss Hüseyin I. Çiçek

Diese Studie entstand im Auftrag der Regierung des Fürstentums Liechtenstein.

Autoren Dr. Wilfried Marxer, Politikwissenschaftler, Direktor und Forschungsleiter Politikwissenschaft des Liechtenstein-Instituts

Dr. Martina Sochin D'Elia, Historikerin, Forschungsbeauftragte am Liechtenstein-Institut

Dr. Günther Boss, Theologe, Forschungsbeauftragter am Liechtenstein-Institut

Dr. Hüseyin I. Çiçek, Politikwissenschaftler und Religionspolitologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa

Unter Mitarbeit von Vitoria Stella De Pieri Sarah Maringele Elias Quaderer Die Verantwortung für die einzelnen Beiträge liegt bei den jeweiligen Autoren. © Liechtenstein-Institut, Bendern September 2017

Liechtenstein-Institut Auf dem Kirchhügel St. Luziweg 2 9487 Bendern Liechtenstein T +423 / 373 30 22 F +423 / 373 54 22 [email protected] www.liechtenstein-institut.li

Islam in Liechtenstein

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ZUSAMMENFASSUNG Im Auftrag der Regierung des Fürstentums Liechtenstein erstellte das Liechtenstein-Institut eine Studie über den Islam in Liechtenstein. Hierzu wurde nationale und internationale For-schungsliteratur gesichtet, es wurden verfügbare statistische Daten und Umfragedaten aus-gewertet sowie Interviews mit Repräsentanten der muslimischen Vereinigungen, mit Behör-den und Jugendarbeitern geführt.

Seit den 1970er-Jahren ist der Anteil der Bevölkerung mit muslimischem Glauben kontinu-ierlich angewachsen auf aktuell rund sechs Prozent und somit mehr als 2000 Personen. Da-von sind rund ein Viertel liechtensteinische Staatsangehörige und rund die Hälfte unter 30 Jahre alt. Die hauptsächlichen Ursprungsländer sind die Türkei und Staaten des ehemaligen Jugoslawien (Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien). Menschen aus diesen Ländern gehören in der Regel der sunnitischen Ausrichtung des Islam an.

Terroranschläge und Kriege im Namen des Islam haben diese Religion in den vergangenen Jahren in Verruf gebracht. Darunter leiden insbesondere Muslime selbst, da sie in der west-lichen Welt zu Rechtfertigungen und Distanzierungen aufgefordert werden, auch wenn sie mit diesen Aktivitäten nichts zu tun haben und ausserdem Muslime verschiedener Glaubens-richtungen zu den hauptsächlichen Opfern gehören. Es ist allerdings auch bekannt, dass im Westen lebende Muslime radikalisiert werden können, Terroraktionen durchführen oder sich als Dschihad-Kämpfer in den Nahen Osten begeben. Daher wird der Islam von vielen Menschen als Bedrohung wahrgenommen. Oft wird die Meinung vertreten, der Islam passe nicht zum Westen. Vorurteile und negative Einstellungen erschweren jedoch die gesell-schaftliche Integration. Zwei Brennpunkte der Integration von Muslimen nimmt diese Studie gezielt in den Blick: Die Frage eines muslimischen Friedhofs in Liechtenstein und das Projekt „Islamischer Religionsunterricht“.

Die Gesellschaft sollte den Islam wie Musliminnen und Muslime differenziert wahrnehmen, ohne dabei die Augen vor möglichen Gefahren zu verschliessen. Begegnungen und Gespräche auf individueller Ebene, aber auch mit den beiden liechtensteinischen Moscheegemeinden – der Türkischen Vereinigung und der Islamischen Gemeinschaft – können dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und die gegenseitigen Bedürfnisse kennenzulernen. Die liechtenstei-nischen Moscheegemeinden haben keinen öffentlich-rechtlichen Status, verfügen weder über eine repräsentative Moschee noch eine muslimische Begräbnisstätte und finanzieren sich durch freiwillige Spenden und Mitgliederbeiträge. In der Frage des muslimischen Reli-gionsunterrichts wurden allerdings bereits mehrjährige Erfahrungen gesammelt. Das Schul-amt bietet einen Wahlunterricht für Kinder mit islamischem Glaubensbekenntnis an, der un-ter staatlicher Kontrolle steht.

Bisher sind in der Offenen Jugendarbeit keine Fälle von radikalisierten muslimischen Jugend-lichen bekannt. Auch sind Imame und Moscheen in Liechtenstein nicht mit Hasspredigten und Aufrufen zur Gewalt gegen Andersdenkende in Erscheinung getreten. Es ist in erster Li-nie Aufgabe der Moscheegemeinden selbst, solche Entwicklungen wie auch ausländische Ein-flüsse mit antiwestlichen und antidemokratischen Tendenzen zu unterbinden.

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INHALTSVERZEICHNIS 1 Einleitung .............................................................................................................................. 6

2 Muslimische Zuwanderung nach Liechtenstein und in den Bodenseeraum ........................ 8 2.1 Einleitung und Forschungsstand ................................................................................ 8 2.2 Geschichte der muslimischen Zuwanderung in Liechtenstein ................................ 11 2.3 Einbettung in die Region (St. Gallen, Vorarlberg) .................................................... 23

3 Islam, Islamophobie und Integration in der internationalen Forschung ........................... 31 3.1 Negative Wahrnehmungen ...................................................................................... 32 3.2 Politisierung und Stereotypisierung des Religiösen................................................. 33 3.3 „Bindestrich-Religionen“ ......................................................................................... 34 3.4 Islam als Bedrohung wahrgenommen .................................................................... 35 3.5 Religionsfreiheit und Akzeptanz der Religionen ...................................................... 36 3.6 Verhältnis von Staat und Religion ............................................................................ 37 3.7 Integrationspotenzial von Religionsgemeinschaften ............................................... 39 3.8 Interreligiöser Dialog ............................................................................................... 40 3.9 Religion und Pflege der Gemeinschaft .................................................................... 42 3.10 Differenzierung nach Nationalität ........................................................................... 42 3.11 Laizismus und Religiosität ........................................................................................ 44

4 Daten zu Muslimen aus diversen Erhebungen in Liechtenstein ........................................ 59 4.1 Datenlage ................................................................................................................. 60 4.2 Bildung und Sprache ................................................................................................ 62 4.3 Staatsbürgerschaft, Stimmrecht, Partizipation ........................................................ 67 4.4 Identität und Integration ......................................................................................... 68 4.5 Religionsausübung ................................................................................................... 70 4.6 Gesellschaft, Kontakte ............................................................................................. 71 4.7 Individuelles Wohlergehen ...................................................................................... 74

5 Muslimisches Leben in Liechtenstein ................................................................................. 79 5.1 Methodische Zugänge und Grenzen ........................................................................ 79 5.2 Zwei Moscheegemeinden ........................................................................................ 81 5.3 Weitere Aktivitäten der Moscheegemeinden ......................................................... 85 5.4 Von Diskriminierungen im Alltag bis zu Islamophobie ............................................ 86 5.5 Moscheegemeinden in Buchs .................................................................................. 87 5.6 Desiderate und Wünsche der Muslime in Liechtenstein ......................................... 88

6 Islamischer Religionsunterricht .......................................................................................... 91 6.1 Islamischer Religionsunterricht als Integrationsprojekt .......................................... 91 6.2 Die Hintergründe und Intentionen: Einführung als Pilotprojekt ............................ 92 6.3 Gegenwärtige Situation und Zukunft des islamischen Religionsunterrichts .......... 95

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7 Islamische Begräbnisstätte in Liechtenstein .................................................................... 100 7.1 Bestattungswesen als Aufgabe der politischen Gemeinden ................................. 100 7.2 Spezifische Voraussetzungen für eine muslimische Bestattung ............................ 102 7.3 Projekt Islamische Begräbnisstätte in Liechtenstein ............................................. 104 7.4 Ablehnung durch die Bürgergenossenschaft Vaduz .............................................. 105 7.5 Islamische Begräbnismöglichkeit als bleibende Aufgabe ...................................... 106

8 Islam und Offene Jugendarbeit Liechtenstein ................................................................. 109

9 Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) und ihr Bezug zu Liechtenstein .......................................................................................................................................... 113 9.1 IGGiÖ, ATIB und IF ................................................................................................. 113 9.2 IGGiÖ und Liechtenstein ........................................................................................ 114 9.3 Umstrittene Kopftuchfrage .................................................................................... 115

10 Anhang .............................................................................................................................. 119 10.1 Interviewleitfaden ................................................................................................. 119 10.2 Glossar ................................................................................................................... 121 10.3 Presseberichterstattung Grüne Moschee .............................................................. 129 10.4 Presseberichterstattung aus Vorarlberg ................................................................ 141

Infoboxen

Dispens vom Schwimmunterricht ................................................................................................. 52

Islamdebatten in der Presseberichterstattung in Liechtenstein ................................................... 53

Islamdebatten in Schweizer Medien ............................................................................................. 56

Zu den „Muslimischen Gemeinschaften“, Auszug aus dem ECRI-Bericht 2013, Art. 69 ............... 89

Presseberichte zum Thema islamische Begräbnisstätte in Liechtenstein .................................. 108

Der Weg zum Jihadismus (Recherche des Tages-Anzeigers)....................................................... 111

Türkisch-Islamische Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich (ATIB) ..... 118

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1 EINLEITUNG Im Juni 2016 erteilte die Regierung des Fürstentums Liechtenstein dem Liechtenstein-Insti-tut den Auftrag, eine Studie über muslimisches Leben in Liechtenstein zu erarbeiten. Die Stu-die wurde gemeinsam vom damaligen Ministerium für Inneres, Justiz und Wirtschaft und vom Ministerium für Gesellschaft getragen. Die Gewaltschutzkommission wurde beauftragt, die Studie zu begleiten und den Bericht der Regierung zur Kenntnis zu bringen.

Für die Ausarbeitung der Studie wurde zunächst ein Konzept erstellt, welches verschiedene zu bearbeitende Aspekte sowie die jeweils geeignete Methode skizzierte. Es war von Anfang an geplant, einen interdisziplinären Zugang zu wählen. Das Forschungsteam setzt sich aus Dr. Wilfried Marxer (Politikwissenschaftler), Dr. Martina Sochin D’Elia (Historike-rin), Dr. Günther Boss (Theologe) – alle drei als Forschende am Liechtenstein-Institut tätig – sowie Dr. Hüseyin I. Çiçek (Politikwissenschaftler und Religionspolitologe), wissenschaftli-cher Mitarbeiter beim Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa, zusammen. Wert-volle Recherchearbeiten wurden ferner auch von den Praktikantinnen Sarah Maringele und Vitoria Stella De Pieri und vom Praktikanten Elias Quaderer durchgeführt. Bei den einzelnen Beiträgen werden jeweils die Namen der Autorinnen und Autoren genannt.

Das erste Kapitel widmet sich der muslimischen Zuwanderung nach Liechtenstein. Es folgt ein Überblick über die internationale Forschungsliteratur mit Relevanz für das hier behan-delte Thema. Im folgenden Kapitel werden die wenigen für Liechtenstein vorhandenen Daten zu Muslimen in Liechtenstein, zum Teil erstmalig, eingehend analysiert. Es folgen drei Kapitel über das muslimische Leben in Liechtenstein, über den muslimischen Religionsunterricht und über die offene Frage einer islamischen Begräbnisstätte in Liechtenstein, schliesslich noch ein Kapitel über den Islam und die Offene Jugendarbeit in Liechtenstein.

In verschiedenen Infoboxen werden weitere Themen kurz beleuchtet:

- Dispens vom Schwimmunterricht;

- Islamdebatten in der Presseberichterstattung in Liechtenstein;

- Islamdebatten in Schweizer Medien;

- Zu den „Muslimischen Gemeinschaften“, Auszug aus dem ECRI-Bericht 2013, Art. 69;

- Presseberichte zum Thema islamische Begräbnisstätte in Liechtenstein;

- Der Weg zum Jihadismus (Recherche des Tages-Anzeigers);

- Türkisch-Islamische Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich (ATIB).

Im Anhang wird der Fragebogen zu einem Leitfadeninterview dokumentiert, verschiedene islamische Dachorganisationen im Ausland werden porträtiert und in einem umfangreichen Glossar relevante Begriffe erläutert.

Die Studie stellt einen Anfang dar und führt hoffentlich zu weiterer und vertiefter Beschäfti-gung mit dem Thema. Es wäre zu wünschen, dass viele Fragen noch weiter beleuchtet wer-den. Es wird in der Studie erwähnt, dass nur wenige Daten vorhanden sind. Umfangreiche Befragungen auf individueller Ebene hätten den Rahmen der Studie gesprengt, und es wären

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auch noch intensivere Medien- und Dokumentenanalysen hilfreich. Nicht zuletzt sollten In-tegrationsbemühungen und deren Erfolg oder Misserfolg regelmässig beobachtet und unter-sucht werden, um zu einer gelungenen Integration und einer Gesellschaft der möglichst ho-hen sozialen Inklusion zu gelangen.

Der Regierung des Fürstentums Liechtenstein sei an dieser Stelle für den Anstoss und den Auftrag für die Studie gedankt. Ein Dank geht auch an alle, die bereit waren, Auskunft zu ge-ben und sich für ein Interview zur Verfügung zu stellen. Gedankt sei auch allen, die Daten bereitgestellt oder auf andere Weise zu dieser Studie beigetragen haben.

Wilfried Marxer | Martina Sochin D’Elia | Günther Boss | Hüseyin I. Çiçek

Bendern/Erlangen, September 2017

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2 MUSLIMISCHE ZUWANDERUNG NACH LIECHTENSTEIN UND IN DEN BODENSEE-RAUM

Martina Sochin D’Elia

Obwohl gegen Ende des 19. Jahrhunderts die bis dahin katholische Homogenität Liechten-

steins durch den Zuzug von evangelischen Industriellen aufgebrochen wurde, setzte eine

wirkliche religiöse Pluralisierung erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts ein. Bis Mitte der

1970er-Jahre hat dies in erster Linie über die Ausdifferenzierung der christlichen Glaubens-

bekenntnisse stattgefunden. Seither hat vor allem der Anteil der muslimischen Bevölkerung

in Liechtenstein stark zugenommen. In der Volkszählung von 1970 wurden nur gerade acht

Muslime angeführt. Laut der neusten Statistik (Volkszählung 2015) sind 5,9 Prozent der

liechtensteinischen Wohnbevölkerung Muslime. Dies entspricht 2’215 Personen.

In diesem Beitrag wird der geschichtliche Verlauf vom homogen katholischen Liechtenstein

zu einer pluralisierten Religionsgesellschaft beschrieben, auch werden neueste Erkenntnisse

aus der Volkszählung 2015 die Muslime betreffend ausgewertet sowie ein kurzer Vergleich

mit den umliegenden Ländern, in erster Linie mit Blick auf den Kanton St. Gallen und auf

Vorarlberg, angeführt.

2.1 Einleitung und Forschungsstand

Über Jahrhunderte hinweg war das Fürstentum Liechtenstein homogen katholisch geprägt. Die Wurzeln dieses tief verankerten Katholizismus reichen bis ins 5. Jahrhundert n. Chr. zu-rück.1 Zur Zeit der Reformation vermochte sich der neue evangelische Glaube in Liechten-stein nicht durchzusetzen. Um zu erklären, weshalb dies der Fall war, muss auf Peter Kaisers „Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein“2 aus dem Jahre 1847 zurückgegriffen werden. Neuere Forschungen dazu liegen nicht vor. Peter Kaiser erwähnt, dass ab dem Jahre 1524, also sieben Jahre nach Luthers Thesenanschlag, das benachbarte Fläsch als erste Bündner Gemeinde einen reformierten Pfarrer gehabt habe. Auch eine ansehnliche Anzahl Menschen aus der Grafschaft Vaduz hätten die Messe beim reformierten Pfarrer in Fläsch besucht. Graf Rudolf von Sulz (1478–1535)3 jedoch hätte eine Aufweichung des katholischen Glaubens in seinem Herrschaftsbereich unterbunden.4 Auch die sich ab 1699 etablierende Herrschaft des

1 Siehe Frommelt 1950, S. 212; Gasser 1999 oder auch Biedermann 2000. 2 Kaiser 1847, S. 354–355. 3 Siehe Heinz Noflatscher, „Sulz, Rudolf V. von“, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein

(HLFL), Bd. 2, S. 918. 4 Siehe Kaiser 1847, S. 354–355; Seger 1967, S. 73; ferner auch Marxer 2005, S. 146–147.

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hochadligen Fürstenhauses von Liechtenstein, dessen Vertreter selbst katholischen Glau-bens waren, änderte an diesen Voraussetzungen nichts. Im Schweizer Rheintal hingegen konnte sich je nach obrigkeitlicher Zuständigkeit, kleinräumig differenziert, der reformierte Glaube teilweise durchsetzen. So sind die Konfessionen im Rheintal teils von Gemeinde zu Gemeinde verschieden, was auf diese Zeit zurückgeht. So ist zum Beispiel die Gemeinde Grabs mehrheitlich evangelisch, während in Gams mehrheitlich Katholiken leben. Mit Aus-nahme des Judentums, das in verschiedenen Gemeinschaften in der Region gepflegt wurde, kurzzeitig auch in Liechtenstein,5 waren nicht-katholische Glaubensgemeinschaften in Liech-tenstein bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlenmässig unbedeutend.

Diese marginale Rolle der nicht-katholischen Glaubensgemeinschaften bis ins 19. Jahrhun-dert spiegelt sich auch in der Forschungsliteratur wider Während zur katholischen Kirchen-geschichte als Pfarreigeschichte und zur Zugehörigkeit Liechtensteins zum Bistum Chur zu-mindest bis zur Errichtung des Erzbistums Vaduz im Jahr 1997 sehr viel geschrieben wurde, wurden nicht-katholische Glaubensgemeinschaften von der Forschung eher stiefmütterlich behandelt. Anlässlich von Jubiläen und Zäsuren sind immer wieder Publikationen entstan-den, so zum Beispiel das Buch zur Geschichte des Dekanats Liechtenstein von Klaus Bieder-mann, die Jubiläumsschriften zum 125-Jahr-Jubiläum der Evangelischen Kirche in Liechten-stein oder zum 40-Jahr-Jubiläum der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Liechtenstein.6 Dem Aspekt Religion im Zusammenhang mit Fragen zum religiösen Zusammenleben, zur Be-gegnung verschiedener Religionen und zu deren Pluralität begann man sich erst in jüngster Vergangenheit zu widmen. Vor bald zehn Jahren ging Wilfried Marxer im Auftrag der liech-tensteinischen Regierung mittels einer repräsentativen Umfrage den Fragen von Glauben, Religiosität, religiöser Toleranz und dem Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften nach.7 Im gleichen Jahr erschien zudem ein Beitrag von Wilfried Marxer und Martina Sochin D’Elia, der erstmals auch die Gemeinschaft der Muslime aus historischer Perspektive be-leuchtete. Das Thema wurde von Martina Sochin D’Elia 2012 unter dem Aspekt des Umgangs mit nicht-katholischen Religionsgemeinschaften nochmals aufgegriffen.8 Alfred Dubach nahm 2011 eine Bestandsaufnahme der religiösen Gemeinschaften im Alpenrheintal vor. Ne-ben dem Katholizismus und den in der Zwischenzeit etablierten evangelischen Glaubensge-meinschaften sind dort auch mehrere Seiten den muslimischen und jüdischen Glaubensge-meinschaften sowie östlichen Religionen und neuen religiös-spirituellen Entwicklungen ge-widmet.9 Günther Boss befasst sich in seinem aktuell laufenden Forschungsprojekt „Religion und Kirche in Staat und Gesellschaft“ mit dem langjährigen Versuch einer Neuordnung des

5 Siehe Karl Heinz Burmeister, „Juden“, in: HLFL, Bd. 1, S. 406; Burmeister 1986; Burmeister 1989. In der

Gemeinde Mauren verweist der Flurname „Jodabüchel“ bis heute auf die jüdische Gemeinde, die zwi-schen 1637 und 1651 in Mauren nachgewiesen werden konnte. Siehe dazu Stricker/Banzer/Hilbe 1999, Bd. 3: Die Gemeinden Planken, Eschen, Mauren, S. 420–421. Auch in Eschen, Gamprin und Schaan weisen Flurnamen auf die Anwesenheit von Juden hin.

6 Siehe Biedermann 2000; Jaquemar/Ritter (Hg.) 2005; Daub [1996]. Siehe des Weiteren auch Möhl 1980 und 1994.

7 Siehe Marxer 2008a; Marxer 2008b. 8 Siehe Sochin 2012; Marxer/Sochin 2008. 9 Siehe Dubach 2011.

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Staatskirchenrechts und widmet sich insbesondere nicht nur der römisch-katholischen Per-spektive, sondern auch derjenigen der evangelischen und orthodoxen Kirchen sowie der Per-spektive der islamischen Verbände.10

Im Gegensatz zu Liechtenstein sind Forschungsperspektiven, die den Islam und das Leben der Muslime aufgreifen – und auf diese soll nun im Folgenden abgestellt werden –, in der Schweiz und in Vorarlberg schon seit geraumer Zeit ein Thema, und es wird intensiv dazu publiziert.11

Auf Bundes- respektive Kantonsebene haben sich verschiedene Stellungnahmen und Be-richte mit der Situation der Muslime oder der Situation von muslimischen Volksgruppen in der Schweiz beschäftigt.12 Historisch gesehen wurden zumindest die wichtigsten Zuwande-rergruppen wie beispielsweise die Türken oder die Kosovaren untersucht.13 Der Islam ist in der schweizerischen Forschungslandschaft aber auch ein allgegenwärtiges Thema, wenn es um Fragen der Integration, des interreligiösen Miteinanders, um Fragen der Pluralisierung und Aspekte des Zusammenlebens geht.14 Das Religionswissenschaftliche Seminar der Uni-versität Luzern setzt sich eingehend mit der muslimischen Bevölkerung auseinander.15 Und nicht zuletzt hat auch die schweizerische Volksabstimmung zur Minarett-Initiative (2009) einiges an Publikationen ausgelöst.16

Auch in Vorarlberg beziehungsweise Österreich wurden Konflikte rund um Moscheebauten von der wissenschaftlichen Forschung aufgegriffen.17 Dies ist vor dem Hintergrund bemer-kenswert, dass europaweit gesehen Österreich das einzige Land ist, in dem der Islam als Kör-perschaft des öffentlichen Rechts anerkannt ist, und dies bereits seit bald 150 Jahren, näm-lich im „Anerkennungsgesetz“ 1874 und dann nochmals bekräftigt im „Islamgesetz“ 1912.18 Das Buch von Elisabeth Dörler zur Verständigung von Muslimen und Christen in Vorarlberg aus dem Jahr 2003 hat bislang nichts an Aktualität eingebüsst und bietet – zumindest was die türkischen Gemeinschaften angeht – einen Überblick über die muslimische Verbands- und Vereinslandschaft in Vorarlberg.19 Kürzlich sind unter der Herausgeberschaft von Peter

10 Siehe http://www.liechtenstein-institut.li/de-ch/personen/persondetailsforschungsprofil.aspx?shmi

d=526&shact=269522862&shmiid=4k__pls____pls__XOhZSIY__eql__ (20. Dezember 2016). 11 In der Folge wird es nur möglich sein, eine kleine und aktuelle Auswahl der grossen Menge an Publikati-

onen zum Thema zu nennen. 12 Siehe Bericht des Bundesrates über die Situation der Muslime in der Schweiz unter besonderer Berück-

sichtigung ihrer vielfältigen Beziehungen zu den staatlichen Behörden in Erfüllung der Postulate 09.4027 Amacker-Amann vom 30. November 2009, 09.4037 Leuenberger vom 2. Dezember 2009 und 10.3018 Malama vom 1. März 2010; Hui 2013; Matteo 2010; Iseni et al. 2014; Haab et al. 2010; Burri Sharani et al. 2010; Widmer 2008.

13 Siehe Ideli 2011; von Aarburg/Gretler 2011. 14 Siehe Matteo/Giugni/Michel 2015; Matteo 2014; Rohrer 2013; Welter 2013; Schneuwly Purdie 2011;

Allenbach/Sökefeld (Hg.) 2010. 15 Siehe Baumann et al. 2017; Baumann et al. 2013; Behloul/Lathion 2007. 16 Siehe Baumann 2015; Tunger-Zanetti 2014; Tanner et al. (Hg.) 2009. 17 Siehe Fürlinger 2013. 18 Siehe Dubach 2011, S. 180. Das Gesetz wurde im Jahr 2015 novelliert, wesentlicher Punkt war dabei die

Absicht, eine zu starke finanzielle ausländische Beteiligung an den Moscheegemeinden zu verhindern. Siehe https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Bundesnormen/NOR40169835/NOR40169835.pdf (24. Februar 2017).

19 Siehe Dörler 2003.

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Melichar, Andreas Rudigier und Gerhard Wanner die Beiträge einer vom Arbeitskreis für In-terregionale Geschichte des mittleren Alpenraums (AIGMA) durchgeführten Tagung zum Thema Migration publiziert worden, die sich wesentlich mit zugewanderten Volksgruppen muslimischen Hintergrunds befassen.20

Zum Islam in Deutschland kann das Buch von Mathias Rohe aus dem Jahr 2016 momentan als Standardwerk bezeichnet werden. Er greift darin nicht nur die Geschichte der Muslime in Deutschland, ihre Organisationen sowie rechtliche Fragen auf, er bietet auch einen grund-sätzlichen Überblick zum Islam, wie er heute in Deutschland anzutreffen ist.21 Darüber hin-aus wurden in den vergangenen Jahren in Deutschland mehrere repräsentative Studien zur religiösen Orientierung der muslimischen Bevölkerung durchgeführt.22

2.2 Geschichte der muslimischen Zuwanderung in Liechten-stein

2.2.1 Ausdifferenzierung der Glaubensrichtungen

Bis ins ausgehende 19. Jahrhundert kann die liechtensteinische Wohnbevölkerung als wei-testgehend homogen dem Katholizismus angehörend beschrieben werden. Das hat sich spä-testens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts – zuerst langsam, dann immer einem rascheren Wandel unterworfen – geändert. In der Zwischenkriegszeit bekannten sich noch fast 98 Pro-zent der Bevölkerung zum Katholizismus. Bei der Volkszählung 1930 beispielsweise wurden 9’681 Katholiken (97,3 Prozent der Wohnbevölkerung), 262 Protestanten (2,6 Prozent) und fünf „Andere“ registriert.

1861 waren in Liechtenstein noch überhaupt keine Andersgläubigen – sprich: sich nicht zum Katholizismus bekennende Personen – zu verzeichnen. Die damalige Volkszählung vermel-det eine hundertprozentige Zugehörigkeit der liechtensteinischen Bevölkerung zum Katho-lizismus. Auch Konfessionslose oder Personen, die sich zu keiner Glaubensrichtung beken-nen wollen, waren zum damaligen Zeitpunkt noch kein Thema.23 Mit einer ersten, beschei-denen Industrialisierungswelle im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, deren Grundvoraus-setzung der Abschluss des Zollvertrags mit Österreich 1852 bildete, kamen schweizerische Arbeitskräfte nach Liechtenstein. Und damit hielt auch die protestantische Konfession sowie die erste protestantische Gemeinschaft in Liechtenstein Einzug.24 In der Volkszählung 1868 waren erstmals drei protestantische Gläubige zu verzeichnen, was damals einem Bevölke-rungsanteil von 0,04 Prozent entsprach. Ab 1880 begann der Anteil der Protestanten in Liechtenstein kontinuierlich zu steigen. Von acht Personen 1880 ging es fortan in den Zehn-Jahres-Schritten, in denen die Volkszählungen durchgeführt wurden, fast stets aufwärts. So waren es, wie schon erwähnt, im Jahr 1930 dann schliesslich 262 Personen (oder 2,6 Prozent der Bevölkerung), die der protestantischen Konfession angehörten. Noch immer dominierte

20 Siehe Hasović 2016; Dragišić 2016; Çiçek 2016; Heinzle 2016. 21 Siehe Rohe 2016. 22 Siehe beispielsweise die Studien neueren Datums: Halm/Sauer 2015; Pollack/Müller 2013. 23 Siehe Amt für Statistik[1962], S. 4. 24 Siehe Ospelt 1974; Jaquemar/Ritter (Hg.) 2005.

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der Katholizismus klar. Die vormals existierende durchgehende Homogenität war damit aber endgültig gebrochen. Laut Volkszählung 2015 ordnen sich aktuell 7,5 Prozent der liechten-steinischen Wohnbevölkerung den evangelischen Kirchen zu. Noch immer ist aber der Ka-tholizismus mit 73,3 Prozent Bekennenden aus der Wohnbevölkerung die Hauptreligion. In den vergangenen vierzig Jahren hat sich die katholische Basis in Liechtenstein jedoch stetig verringert.

Bis in die 1970er-Jahre hatte sich die religiöse Pluralisierung Liechtensteins hauptsächlich auf eine Ausdifferenzierung der christlichen Glaubensbekenntnisse konzentriert. Arbeits-migranten rekrutierten sich bis dahin vornehmlich aus den katholischen Mittelmeerländern. Christlich-orthodoxe Gemeinschaften werden erst seit den 1980er-Jahren in den offiziellen Statistiken aufgeführt. Mit dem verstärkten Zuzug von Ausländerinnen und Ausländern nicht christlicher Religionen findet seit den 1970er-Jahren aber auch eine Differenzierung im Sinne nicht christlicher Glaubensgemeinschaften statt. Seit Ende der 1960er-Jahre hat sich die Arbeitsmigration auf Länder wie die Türkei oder die Staaten Ex-Jugoslawiens ausgewei-tet, die sich – zumindest teilweise – zum Islam bekennen. Seither hat der islamische Bevöl-kerungsanteil in Liechtenstein sowohl zahlenmässig als auch anteilsmässig stark zugenom-men. Aus der Volkszählung 1970 geht hervor, dass damals in Liechtenstein acht männliche Personen islamischer Glaubensrichtung lebten. Die Anzahl muslimischer Einwohner hat in den vergangenen gut vierzig Jahren kontinuierlich zugenommen. Laut der aktuellen Volks-zählung 2015 gibt es nun 2’215 Personen muslimischen Glaubens in Liechtenstein.25 Diese Zunahme beruht nicht nur auf dem immensen Bedarf der Wirtschaft an Arbeitskräften. In der jüngeren Vergangenheit dazu beigetragen hat auch die Erleichterung und Ausweitung der Familienzusammenführung nach dem Beitritt Liechtensteins zum EWR im Jahr 1995.26

25 Die verwendeten Begriffe für die Konfessionen sind bei den Volkszählungen 1960 bis 2015 nicht einheit-

lich. Einzig die Bezeichnung römisch-katholisch wird durchgehend verwendet. Bei den islamischen Ge-meinschaften wurde die Religionszugehörigkeit erstmals 1970 unter der Bezeichnung „Mohammeda-nisch“ erfasst, ebenso 1980 und 1990. Im Jahr 2000 wurden sie unter der Bezeichnung „Islamische Ge-meinschaften“ erhoben, 2010 und 2015 unter der Bezeichnung „Islamisch“. Die einzelnen Glaubensrich-tungen innerhalb des Islam sind in den Volkszählungen nicht erhoben und ausgewiesen. Bei den protes-tantischen Gemeinschaften wird seit 2010 zwischen evangelisch-reformiert und evangelisch-lutherisch unterschieden, 2010 sind ausserdem noch „andere protestantische Gemeinschaften“ erfasst. Christlich-orthodox ist seit 2010 in Gebrauch, vorher hiess es ostkirchlichorthodox oder ostkirchliche Religionsge-meinschaften. Zu unterschiedlichen Erhebungszeiten wurde noch spezifisch nach christkatholisch (1970 bis 1990), anderen christliche Gemeinschaften (1980 bis 2000) und anderen christlichen Kirchen (2010) differenziert. Die jüdische Glaubensrichtung wurde 1960 bis 1990 unter dem Begriff israelitisch erfasst, 2010 unter jüdische Glaubensgemeinschaft. 2010 wurden erstmals Buddhisten separat ausgewiesen. Konfessionslose wurden unter dieser Bezeichnung erstmals 1980 erfasst, danach unter dem Begriff „Keine Zugehörigkeit“. Seit 1980 werden auch Personen „ohne Angabe“ zu ihrer Konfession separat er-fasst. Bei den Befragungen von 1960 bis 2015 wurden teilweise mehrere Kategorien zusammengefasst, so „Andere, ohne Konfession“ (1960) und „Andere, ohne Angabe“ (1970). Bei den Sammelbezeichnungen für weitere Religionszugehörigkeit sind von 1980 bis 2015 die Begriffe „Andere Religionsphilosophien“ (1980), „Andere Religionsgemeinschaften“ (1990), „Andere Kirchen und Religionsgemeinschaften“ (2000), „Andere Religionen“ (2010) und „Übrige Religionen“ (2015) verwendet worden.

26 Zum Familiennachzug in der liechtensteinischen Gesetzgebung siehe Marxer-Gsell/Heeb-Fleck 2002; Marxer, V. 2008, S. 17. Unter anderem auch: Frommelt 2012.

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Abbildung 1: Konfessionszugehörigkeit gemäss Volkszählungen 1960 bis 2015

Hinweis: Islamische Gemeinschaften werden erst seit 1970 separat erhoben, damals unter der Bezeichnung „Mohammedanisch (Islam) Musulmans“.27

In den vergangenen Jahrzehnten hat die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner anderer Glaubensrichtungen sowie die Zahl der Konfessionslosen und derjenigen, die keine Angaben zur eigenen Religion machen, sprunghaft zugenommen. Von 152 Personen im Jahr 1960 stieg die Gesamtzahl dieser drei Segmente auf 4’548 im Jahr 2015. Mit 2’623 sind dabei Konfessi-onslose in der Mehrheit, gefolgt von 1’253 Personen ohne Angaben zu ihrer Religion und 672 mit anderen Religionen. Starken Zuwachs haben aber auch die Gemeinschaften von Personen mit muslimischem und christlich-orthodoxem Glauben erfahren.

Laut Volkszählung 2015 bekennen sich heute noch 73,3 Prozent der Einwohner Liechten-steins zum Katholizismus, 7,5 Prozent zu den beiden in Liechtenstein vertretenen evangeli-schen Gemeinden. 5,9 Prozent verstehen sich als Muslime, 1,25 Prozent als Christlich-Ortho-doxe. Die Anzahl der Personen, die in den Volkszählungen die Kategorien „Andere“, „Konfes-sionslos“ oder „ohne Angabe“ wählten, hat in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen und liegt laut Volkszählung 2015 bei 1,8 Prozent, 7 Prozent respektive 3,3 Prozent.

27 Amt für Statistik des Fürstentums Liechtenstein 1972, S. 38.

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10%

20%

30%

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100%

1960 1970 1980 1990 2000 2010 2015

Römisch-katholisch Protestantische Gemeinschaften

Christlich-orthodoxe Gemeinschaften Islamische Gemeinschaften

Andere, ohne Konfession, ohne Angabe

Islam in Liechtenstein

14

Abbildung 2: Konfessionszugehörigkeit gemäss Volkszählungen 1960 bis 2015 (ohne römisch-katholisch)

Tabelle 1: Konfessionszugehörigkeit gemäss Volkszählungen 2010 und 2015 detail-liert

Religions- zugehörigkeit

2010

prozentuale Verteilung 2010

2015

prozentuale Verteilung 2015

Total 36’149 100.0% 37’622 100.0%

Römisch-katholisch 27’450 75.9% 27’576 73.3%

Keine Zugehörigkeit 1’952 5.4% 2’623 7.0%

Evangelisch-reformiert 2’343 6.5% 2’364 6.3%

Islamisch 1’960 5.4% 2’215 5.9%

Christlich-orthodox 415 1.1% 472 1.3%

Evangelisch-lutherisch 461 1.3% 447 1.2%

Übrige Religionen 643 1.8% 672 1.8%

Ohne Angabe 925 2.6% 1’253 3.3% Quelle: Volkszählungsdaten, siehe Quellenverzeichnis am Ende dieses Beitrages.

2.2.2 Konfession und Nationalität

Wie weiter oben im Detail schon ausgeführt, sind nicht-katholische Religionen und Konfes-sionen vor allem infolge von Zuwanderung nach Liechtenstein gelangt. Die bedeutendsten Herkunftsländer von nach Liechtenstein Zugewanderten sind die Nachbarstaaten Schweiz, Österreich und Deutschland. Gemäss Bevölkerungsstatistik 2015 lebten Ende des Jahres

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1960 1970 1980 1990 2000 2010 2015

Protestantische Gemeinschaften Christlich-orthodoxe Gemeinschaften

Islamische Gemeinschaften Andere, ohne Konfession, ohne Angabe

Islam in Liechtenstein

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2015 3’599 Schweizer, 2’199 Österreicher und 1’539 Deutsche in Liechtenstein.28 Diese be-kennen sich zum grossen Teil zum christlichen Glauben. In allen drei Staaten leben nur rund 5 bis 6 Prozent Muslime, die meisten davon sind Migranten oder Nachkommen von Zuge-wanderten.

Eine fast ausschliesslich katholische Bevölkerung weisen Italien, Portugal und Spanien auf, wenn von Konfessionslosen als jeweils zweitgrösster Gruppe abgesehen wird. Andere Reli-gionsgemeinschaften und Konfessionen rangieren in diesen Staaten weit dahinter.

Von den anderen, relativ bedeutenden Herkunftsländern von nach Liechtenstein zugewan-derten Personen weisen die Türkei und der Kosovo eine fast ausschliesslich muslimische Be-völkerung mit meist sunnitischer Ausrichtung auf, während in Bosnien etwa 50 Prozent, in Mazedonien rund ein Drittel sunnitische Muslime leben.

In Serbien und Kroatien als weiteren ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken leben dage-gen vor allem serbisch-orthodoxe Christen (Serbien) beziehungsweise Katholiken (Kroa-tien).

Dies sind nur Annäherungsversuche, um sich die konfessionelle Herkunft der Zugewander-ten zu vergegenwärtigen, da kein liechtensteinisches statistisches Material dazu existiert.

Die einzelnen Glaubensrichtungen innerhalb des Islam wurden in den vergangenen Volks-zählungen nicht erhoben und sind dementsprechend auch nicht ausgewiesen. Die Volkszäh-lung 2015 stellt diesbezüglich ein Novum dar, indem – im Falle des muslimischen Glaubens – noch präzisiert werden konnte, um welche Religionsgemeinschaft es sich genau handelt. Die Detailergebnisse dazu liegen allerdings noch nicht vor.

Abbildung 3: Verbreitungsgebiet des Islam, ohne Differenzierung nach islamischer Glaubensrichtung (Sunniten, Schiiten u.a.)29

28 Amt für Statistik 2015, S. 30. 29 Siehe http://www.payer.de/islam/islam.htm (14. Juni 2017).

Islam in Liechtenstein

16

Wie erwähnt, fand die Zuwanderung von Muslimen nach Liechtenstein insbesondere aus dem ehemaligen Jugoslawien – beziehungsweise nach dessen Aufteilung aus dem Kosovo, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien – sowie aus der Türkei statt. Von 1980 bis 2015 nahm die Zahl der türkischen Staatsangehörigen in Liechtenstein von 222 auf 696 zu. Die Zahlen für die ex-jugoslawischen Staaten sind erst für die jüngere Zeit separat ausgewiesen. 2015 lebten 410 Personen aus dem Kosovo in Liechtenstein, 293 aus Bosnien-Herzegowina und 142 aus Mazedonien. Diese Zahlen spiegeln allerdings nicht die ganze Zuwanderungs-entwicklung wider, da im Falle einer Einbürgerung die vormalige Staatsbürgerschaft nicht mehr in der Statistik auftaucht.

Tabelle 2: Ausländer/-innen nach fremdsprachigen Herkunftsländern seit 1980 (Anzahl der zwölf im Jahr 2015 zahlenmässig bedeutendsten Herkunftsländer; Prozent an Gesamtbevölkerung für 2015)30

1980 1990 2000 2005 2010 2015 2015 in %

Italien 980 872 1’028 1’208 1’148 1’188 3.2

Portugal* 222 446 561 620 715 1.9

Türkei* 222 478 887 894 778 696 1.8

Kosovo* 305 410 1.1

Spanien 216 206 367 461 326 369 1.0

Bosnien-Herze-gowina 285 335 303 293 0.8

Jugoslawien/ Serbien* 412 411 408 537 331 272 1.8

Mazedonien 83 119 132 142 0.4

Kroatien 115 121 131 123 0.3

Brasilien 32 47 83 80 0.2

Frankreich 66 56 65 78 0.2

Niederlande 57 65 68 70 0.2

* Für die Türkei 1980 wurde der Wert vom 31.12.1982 und für Portugal 1990 der Wert vom 31.12.1992 verwendet, da erstmals separat ausgewiesen. Kroatien und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien erklärten 1991 die Unabhängigkeit von Jugoslawien, 1992 Bosnien-Herzego-wina. Montenegro erklärte sich 2006 als unabhängig von Serbien, 2008 der Kosovo.

Die nach Liechtenstein zugewanderten Muslime sind vor dem Hintergrund der obigen Tabel-len weitgehend dem Sunnitentum zuzuordnen. In der Türkei ist die sunnitische Glaubens-richtung die mit Abstand wichtigste, gefolgt von der alevitischen – etwa von Kurden – und der alawitischen aus der Grenzregion zu Syrien. Auf dem Balkan verbreitete sich der Islam vor allem mit der Ausdehnung des Osmanischen Reichs im 15. Jahrhundert. Die sunnitische Glaubensrichtung ist daher dort vom türkischen Sunnitentum geprägt. Die theologischen

30 Marxer 2015, S. 9.

Islam in Liechtenstein

17

Hintergründe der Muslime aus dem ehemaligen Jugoslawien sind deshalb denen der türki-schen Muslime relativ ähnlich.31 Die beiden weiteren islamischen Hauptströmungen – Schii-tismus und Ibadismus – sind in der liechtensteinischen Wohnbevölkerung kaum repräsen-tiert.

Mit der Zunahme der muslimischen Bevölkerung in Liechtenstein ging eine weitere Entwick-lung einher. Der Islam ist über die vergangenen Jahrzehnte hinweg zunehmend auch „liech-tensteinisch“ geworden. Die gerade einmal acht sich zum Islam bekennenden Personen, die 1970 in Liechtenstein wohnhaft waren, waren im besagten Jahr alle Ausländer. Spätestens seit den 2000er-Jahren ist diesbezüglich ein grundlegender Wandel festzustellen. Immer mehr Muslime sind Liechtensteiner. Dies rührt daher, dass zum einen die ältere Generation schon lange genug in Liechtenstein niedergelassen ist, um die 30-jährige Wohnsitzfrist zu erfüllen und sich einbürgern zu lassen, und dass zum anderen deren Kinder, die hier geboren wurden, diese 30-jährige Wohnsitzfrist nach den geltenden rechtlichen Bestimmungen schon vor Erfüllung ihres 20. Lebensjahres erreichen. Wie die unten stehende Tabelle ver-muten lässt, haben sich muslimische Einwohner ganz offensichtlich auch oft einbürgern las-sen. Das deckt sich auch mit den Erkenntnissen aus einer anderen Studie, die besagt, dass sich beispielsweise türkische Einwohner überproportional häufig einbürgern lassen im Ver-gleich zu anderen Nationalitäten.32

Insgesamt kann beobachtet werden, dass seit den 2000er-Jahren der Anteil an muslimischen Liechtensteinern stark zugenommen hat. Laut der Volkszählung 2015 sind knapp ein Viertel aller in Liechtenstein wohnhaften Muslime im Besitze eines liechtensteinischen Passes.

Tabelle 3: Anteil Ausländer/-innen und Liechtensteiner/-innen bei den in Liechten-stein wohnhaften Muslimen (1970 bis 2015) (Anzahl Personen, Prozent der musli-mischen Bevölkerung)

Muslime

Liechtensteiner/-innen Ausländer/-innen

Anzahl Personen Prozent Anzahl Personen Prozent

1970 0 0.0 % 8 100.0 %

1980 5 1.2 % 416 98.8 %

1990 9 1.3 % 680 98.7 %

2000 66 4.1 % 1’527 95.9 %

2010 353 18.0 % 1’607 82.0 %

2015 537 24.2 % 1’678 75.8 %

Quelle: Volkszählungsdaten, siehe Quellenverzeichnis am Ende dieses Beitrages.

31 Siehe Dubach 2011, S. 187. 32 Siehe Sochin D’Elia 2012, S. 29.

Islam in Liechtenstein

18

2.2.3 Muslime in Liechtenstein im Jahr 2015

Die Volkszählung 2015 enthielt unter anderem eine Frage zur Religion. Es wurde jedoch erst ein Überblick über die Ergebnisse der Volkszählung veröffentlicht.33 Für die vorliegende Stu-die wurden allerdings vom Amt für Statistik einige Daten für eine Sonderauswertung zur Verfügung gestellt.

Im Folgenden sollen einige grundsätzliche statistische Angaben zum Leben von Muslimen in Liechtenstein im Jahr 2015 gemacht werden.

Demografische Angaben

Es leben annähernd gleich viele männliche wie weibliche Muslime in Liechtenstein. Bei der Volkszählung 2015 wurden 1’128 Muslime und 1’087 Musliminnen gezählt. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung besteht nur eine geringe Abweichung von 1,3 Prozentpunkten zuguns-ten der Männer.

Tabelle 4: Muslime in Liechtenstein 2015 nach Geschlecht im Vergleich zur Gesamtbevölkerung

Muslime Gesamtbevölkerung (Prozent) Anzahl Personen Prozent

Männlich 1’128 50.9 49.6

Weiblich 1’087 49.1 50.4

Gesamt 2’215 100.0 100.0

Quelle: Volkszählung 2015 (Separatauswertung).

Bei den weiteren, für die Analyse zur Verfügung stehenden Variablen besteht zwischen den männlichen und weiblichen Muslimen in Liechtenstein einzig in Bezug auf die Staatsbürger-schaft ein signifikanter Unterschied. Während männliche Muslime in 27 Prozent aller Fälle über die liechtensteinische Staatsbürgerschaft verfügen, sind es bei den Frauen nur 21 Pro-zent.

Verteilung nach Altersklassen

Gemäss Volkszählung 2015 leben 530 Personen muslimischen Glaubens in Liechtenstein, die unter 15 Jahre alt sind. Das sind 23,9 Prozent aller Muslime in Liechtenstein. Verglichen mit der Gesamtbevölkerung sind Muslime in den jüngeren Altersklassen bis 15 Jahre und von 15 bis 29 Jahren übervertreten. Das Alterssegment von 30 bis 49 Jahren stellt bei den Muslimen wie auch in der Gesamtbevölkerung rund 30 Prozent der Population dar. In den älteren Seg-menten sind die Muslime hingegen deutlich unterrepräsentiert.

33 Siehe Amt für Statistik 2016a.

Islam in Liechtenstein

19

Tabelle 5: Muslime in Liechtenstein 2015 nach Altersklassen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung

Muslime Gesamtbevölkerung (Prozent) Anzahl Personen Prozent

Unter 15 Jahre 530 23.9 14.9

15–29 Jahre 591 26.7 17.7

30–49 Jahre 682 30.8 28.7

50–64 Jahre 323 14.6 22.2

65+ Jahre 89 4.0 16.5

Gesamt 2’215 100.0 100.0 Quelle: Volkszählung 2015 (Separatauswertung). Bevölkerungsstatistik 2015.

Zwischen den Altersklassen besteht bei mehreren Variablen ein signifikanter Unterschied. Die Jüngeren verfügen überdurchschnittlich häufig über die liechtensteinische Staatsbürger-schaft. 32 Prozent der unter 15-Jährigen sind Liechtensteiner. Bei den 15- bis 29-Jährigen sind es 28 Prozent, bei den 30- bis 49-Jährigen 21 Prozent, bei den 50- bis 64-Jährigen 13 Prozent und bei den über 64-Jährigen 12 Prozent. Das ist nicht weiter erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die bis 29-Jährigen zum grössten Teil in Liechtenstein geboren wurden und damit die notwendige 30-jährige Wohnsitzfrist zur Einbürgerung erfüllen oder aber Eltern haben, die bereits eingebürgert worden sind und ihr liechtensteinisches Bürgerrecht an ihre Kinder weitergegeben haben.

In den jüngeren Altersklassen überwiegt Deutsch als Hauptsprache. Bei 67 beziehungsweise 77 Prozent der unter 15-Jährigen sowie der 15- bis 29-Jährigen ist Deutsch die Hauptsprache. Bei den 30- bis 49-Jährigen geben 53 Prozent Deutsch als Hauptsprache an, bei den 50- bis 64-Jährigen 30 Prozent, bei den noch Älteren nur noch 24 Prozent. Es sind Türkisch, Alba-nisch und Serbisch beziehungsweise Kroatisch, die neben Deutsch als weitere wichtige Spra-chen angegeben werden. Ein sehr ähnliches Bild zeigt sich bei der Angabe der in der Familie gesprochenen Sprache. In den beiden untersten Alterssegmenten ist die Umgangssprache in der Familie in 70 beziehungsweise 76 Prozent der Fälle Deutsch, im ältesten Segment nur in 26 Prozent der Fälle.

Besonders deutlich ist der Unterschied in Bezug auf Geburtsland. 93 Prozent der unter 15-Jährigen sind seit der Geburt in Liechtenstein wohnhaft. Bei den 15- bis 29-Jährigen sind es noch 50 Prozent. Die Älteren wurden fast alle im Ausland geboren. Nur 6 Prozent der 30- bis 49-Jährigen sind seit ihrer Geburt in Liechtenstein. Bei den 50- bis 64-Jährigen sind es nur zwei Prozent, alle über 65-Jährigen geben an, zugewandert zu sein. Diese Angaben decken sich mit den anderen oben dargestellten Statistiken, die über die Zuwanderung und die Ent-wicklung der Konfession in Liechtenstein seit den 1970er-Jahren Aufschluss geben.

Insgesamt wurde bei 92 Prozent der muslimischen Bevölkerung kein Elternteil in Liechten-stein, in Österreich oder in der Schweiz geboren. Oder umgekehrt: Nur bei 8 Prozent aller in Liechtenstein wohnhaften Muslime ist zumindest ein Elternteil entweder in Liechtenstein,

Islam in Liechtenstein

20

Österreich oder der Schweiz geboren. Das gilt insbesondere für alle über 15-Jährigen: Nur bei 2 bis 5 Prozent dieser Altersklasse wurde ein Elternteil in einem dieser drei Staaten ge-boren, bei den unter 15-Jährigen waren es 21 Prozent. In drei Prozent der Fälle sind beide Eltern in einem der genannten Länder geboren. Hier zeigt sich der langsame Übergang von der zweiten zur dritten Generation.

Beim Frauen- und Männeranteil in den verschiedenen Alterssegmenten zeigt sich hingegen kein signifikanter Unterschied.

Staatsbürgerschaft

Wie oben bereits dargestellt, verfügen gemäss Volkszählung 2015 24,2 Prozent der in Liech-tenstein wohnhaften Muslime über die liechtensteinische Staatsbürgerschaft. Drei Viertel (75,8 Prozent) sind Ausländer/-innen. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung mit einem Aus-länderanteil von 34 Prozent weist die muslimische Bevölkerungsgruppe somit erwartungs-gemäss einen weitaus höheren Ausländeranteil auf.

Tabelle 6: Muslime in Liechtenstein 2015 nach Staatsbürgerschaft im Vergleich zur Gesamtbevölkerung

Muslime Gesamtbevölkerung (Prozent) Anzahl

Personen Prozent

Ausländische Staatsbürgerschaft 1’678 75.8 34.0

Liechtensteinische Staatsbürgerschaft 537 24.2 66.0

Gesamt 2’215 100.0 100.0

Quelle: Volkszählung 2015 (Separatauswertung).

Es zeigen sich bei allen analysierten Variablen signifikante Unterschiede, je nachdem ob die in Liechtenstein wohnhaften Muslime die liechtensteinische Staatsangehörigkeit besitzen o-der nicht:

� In 80 Prozent der Fälle geben die liechtensteinischen Muslime Deutsch als Hauptsprache an, während dies bei den ausländischen Muslimen nur 51 Prozent tun. Ähnlich verhält es sich in Bezug auf die in der Familie gesprochene Sprache.

� Knapp zwei Drittel (64 Prozent) der liechtensteinischen Muslime sind seit ihrer Geburt in Liechtenstein wohnhaft. Bei den ausländischen Muslimen sind dies nur 29 Prozent.

� Bei den liechtensteinischen Muslimen wurde in 20 Prozent der Fälle mindestens ein El-ternteil in Liechtenstein, Österreich oder der Schweiz geboren. Bei den ausländischen Muslimen ist dieser Anteil wesentlich kleiner und beträgt lediglich 4 Prozent.

� Auch das Geschlechterverhältnis unterscheidet sich merklich. Bei den liechtensteini-schen Muslimen sind 57 Prozent männlich, bei den ausländischen nur 49 Prozent.

Islam in Liechtenstein

21

� Auch die Altersverteilung unterscheidet sich signifikant und deckt sich mit den weiter oben genannten Erkenntnissen. Die liechtensteinischen Muslime sind in den beiden jüngeren Segmenten, den unter 15-Jährigen und den 15- bis 29-Jährigen, vergleichsweise stärker vertreten, während die ausländischen Muslime in den älteren Segmenten im Vergleich zu den Muslimen mit liechtensteinischer Staatsbürgerschaft stärker vertreten sind.

Hauptsprache und Familiensprache der Musliminnen und Muslime in Liechtenstein

58,3 Prozent der Muslime in Liechtenstein geben an, dass Deutsch ihre Hauptsprache ist (Ge-samtbevölkerung: 91,5 Prozent). Für insgesamt 41,7 Prozent ist somit Deutsch nicht die Hauptsprache, was aber nicht bedeutet, dass sie kein Deutsch sprechen. 19,7 Prozent der in Liechtenstein wohnhaften Muslime geben Türkisch als Hauptsprache an, 10,3 Prozent Alba-nisch, 7,4 Prozent Serbisch oder Kroatisch.34 Andere Sprachen werden nur von wenigen Mus-limen als Hauptsprachen angegeben.

Tabelle 7: Muslime in Liechtenstein 2015 nach Hauptsprache im Vergleich zur Gesamtbevölkerung

Muslime Gesamtbevölkerung (Prozent) Anzahl

Personen Prozent

Deutsch 1’291 58.3 91.5

Türkisch 436 19.7 1.3

Albanisch 229 10.3 0.6

Serbisch/Kroatisch 164 7.4 0.7

Arabisch 39 1.8 0.1

Andere Sprache 56 2.5 5.7

Gesamt 2’215 100.0 100.0 Quelle: Volkszählung 2015 (Separatauswertung).

Im Vergleich zur eigenen Hauptsprache ist die zuhause oder mit Angehörigen gesprochene Sprache etwas häufiger Deutsch in einer Dialektform oder in Standarddeutsch. Wenn also beispielsweise Serbisch oder Kroatisch die persönliche Hauptsprache ist (164 Personen), be-deutet dies nicht unbedingt, dass diese ebenfalls zuhause die Hauptsprache ist. Mindestens 40 Prozent der Muslime sprechen zuhause eine andere Sprache als ihre Hauptsprache, mit hoher Wahrscheinlichkeit Deutsch in irgendeiner Form. Für die meisten ist jedoch die eigene Hauptsprache auch die, die sie zuhause und mit Angehörigen am meisten verwenden.

34 Albanisch und Serbisch sind die Amtssprachen in Kosovo.

Islam in Liechtenstein

22

Tabelle 8: Muslime in Liechtenstein 2015 nach Sprache zuhause oder mit Angehörigen

Anzahl Personen

Sprache zuhause oder mit Angehörigen (Prozent)

Eigene Haupt-sprache (Prozent)

Deutsch inkl. Dialekt 1’389 62.7 58.3

Türkisch 423 19.1 19.7

Albanisch 193 8.7 10.3

Serbisch/Kroatisch 124 5.6 7.4

Andere Sprache 83 3.7 4.3

Keine Angabe 3 0.1 0

Gesamt 2’215 100.0 100.0

Quelle: Volkszählung 2015 (Separatauswertung). Geburtsort der Eltern

Nur von insgesamt 29 Personen muslimischen Glaubens (1,3 Prozent aller Muslime) wurden beide Elternteile in Liechtenstein, Österreich oder der Schweiz (FL/A/CH) geboren. Von 5,5 Prozent der Muslime ist ein Elternteil in einem der drei genannten Staaten zur Welt gekom-men, bei mehr als 90 Prozent der in Liechtenstein wohnhaften Muslime sind beide Elternteile ausserhalb der drei genannten Staaten zur Welt gekommen.

Tabelle 9: Muslime in Liechtenstein 2015 nach Geburtsland der Eltern im Vergleich zur Gesamtbevölkerung

Muslime Gesamtbevölkerung (Prozent) Anzahl Personen Prozent

Beide Eltern in FL/A/CH geboren 29 1.3 36.0

Ein Elternteil in FL/A/CH geboren 122 5.5 8.0

Kein Elternteil in FL/A/CH geboren 2’041 92.1 56.0

Ohne Angabe 23 1.0

Gesamt 2’215 100.0 100.0

Quelle: Volkszählung 2015 (Separatauswertung).

151 Personen geben an, dass mindestens ein Elternteil in Liechtenstein, Österreich oder der Schweiz geboren wurde. Davon sind 87 Prozent unter 30 Jahre alt. Erwartungsgemäss zeigt sich ein deutlicher Einfluss auf mehrere andere Variablen, ob die Eltern oder ein Elternteil in Liechtenstein, Österreich oder der Schweiz geboren wurden oder nicht:

� Sofern ein Elternteil oder beide Elternteile in Liechtenstein, Österreich oder der Schweiz geboren wurden, geben 75 Prozent Deutsch als Hauptsprache an. Wenn kein Elternteil

Islam in Liechtenstein

23

in einem der genannten Länder seit Geburt lebt, wird nur in 57 Prozent aller Fälle Deutsch als Hauptsprache angegeben.

� Die Wahrscheinlichkeit einer liechtensteinischen Staatsbürgerschaft nimmt zu, wenn beide oder zumindest ein Elternteil in Liechtenstein, Österreich oder der Schweiz gebo-ren wurden. 70 Prozent dieser Personen besitzen die liechtensteinische Staatsbürger-schaft. Bei den anderen beträgt der Anteil lediglich 21 Prozent.

� 84 Prozent derjenigen, von denen ein oder beide Elternteile in Liechtenstein, Österreich oder der Schweiz geboren wurden, sind selbst schon seit Geburt in Liechtenstein wohn-haft. Bei den anderen sind es lediglich 35 Prozent.

2.3 Einbettung in die Region (St . Gallen, Vorarlberg)

Nicht nur in Liechtenstein, sondern auch im benachbarten Vorarlberg sowie im Kanton St. Gallen hat das muslimische Leben einen wichtigen Stellenwert. Im Kanton St. Gallen steht der Islam nach den beiden christlichen Konfessionen an dritter Stelle (2014),35 im traditio-nell katholischen Bundesland Vorarlberg sogar an zweiter Stelle.36 Vorarlberg weist mit gut 11 Prozent muslimischen Mitbürgern einen wesentlich höheren muslimischen Anteil aus als der österreichische Durchschnitt (2016: 6,9 Prozent).37

Abbildung 4: Glaubensbekenntnisse in Vorarlberg (per 30. Juni 2016)

Quelle: Statistik Vorarlberg, Sonderauswertung nach Religionszugehörigkeit und Staatsbürgerschaft des Landes Vorarlberg.

Auch im Kanton St. Gallen sind im Vergleich zur gesamten Schweiz überproportional viele Muslime wohnhaft. Mit 7,1 Prozent muslimischem Bevölkerungsanteil liegt der Kanton

35 Siehe Abbildung 5. 36 Siehe Dubach 2011, S. 174. 37 Die Angaben entsprechen geschätzten Zahlen der Datenbank https://de.statista.com. Siehe

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/19292/umfrage/gesamtbevoelkerung-in-oesterreich/ und https://de.statista.com/statistik/daten/studie/312152/umfrage/anzahl-der-muslime-in-oesterre ich/ (24. Februar 2017).

66%11%

8%

9%6%

römisch-katholisch

islamisch

ohne Bekenntnis

unbekannt

andere

Islam in Liechtenstein

24

St. Gallen zwei Prozentpunkte über dem Schweizer Durchschnitt (2014).38 Aus den Struk-turerhebungsdaten der Schweiz [2014] ist auch ersichtlich, dass Muslime im Vergleich zu anderen Religionsgemeinschaften überproportional häufig einen Migrationshintergrund ha-ben, sei es, dass deren Eltern oder sie selbst in die Schweiz zugewandert sind. Das dürfte, wenn auch die Daten dazu noch nicht vorliegen, auch auf Liechtenstein zutreffen.

Abbildung 5: Glaubensbekenntnisse im Kanton St. Gallen (per 31. Dezember 2014)

Quelle: Fachstelle für Statistik des Kantons St. Gallen.

Abbildung 6: Konfessionszugehörigkeit nach Migrationsstatus in der Schweiz 2014

Quelle: Bundesamt für Statistik 2016, S. 7.

38 Siehe die Tabelle der Fachstelle für Statistik des Kantons St. Gallen.

47%

22%

7%

8%

16%

römisch-katholisch

evangelisch

islamisch

andere

ohne Konfession

Islam in Liechtenstein

25

Während in Liechtenstein laut Volkszählung 2015 24,2 Prozent aller Muslime die liechten-steinische Staatsbürgerschaft besitzen, ist dieser Anteil im benachbarten Vorarlberg wesent-lich höher. Dort ist über die Hälfte, nämlich 53,45 Prozent der gesamten in Vorarlberg wohn-haften muslimischen Bevölkerung, im Besitze eines österreichischen Passes.39 Nach den Muslimen mit österreichischer Staatsangehörigkeit rangieren an zweiter Stelle mit 28,9 Pro-zent Muslime türkischer Nationalität. Zusammen machen sie 82,3 Prozent aller in Vorarlberg lebenden Muslime aus. Die restlichen knapp zwanzig Prozent verteilen sich auf die folgenden Nationalitäten: Bosnien-Herzegowina (3,6 Prozent), Russland (2,9 Prozent), Syrien (2,6 Pro-zent), Afghanistan (2,4 Prozent) und Deutschland (1,1 Prozent) sowie weitere Nationalitäten mit weniger als 1 Prozent an der Bevölkerung.40

Quellen

Amt für Statistik (2016a): Volkszählung 2015. Erste Ergebnisse, Vaduz 2016. Online abrufbar unter: http://www.llv.li/files/as/vz2015-erste-ergebnisse.pdf) (20. Januar 2017).

Amt für Statistik (2016b): Bevölkerungsstatistik 31. Dezember 2015.

Amt für Statistik (2013): Volkszählung 2010. Bevölkerungsstruktur. Band 1. Vaduz.

Amt für Statistik [1962]: Wohnbevölkerung – Volkszählungen 1812–1930.

Amt für Statistik des Fürstentums Liechtenstein (1972): Liechtensteinische Volkszählung. Band 1. Gemeinden. Demographische Merkmale, Wirtschaftssektoren, Haushaltungen. Vaduz.

Amt für Volkswirtschaft (1997): Liechtensteinische Volkszählung 1990. Band 1: Bevölke-rungsstruktur. Vaduz.

Amt für Volkswirtschaft (1983): Volkszählung. 2. Dezember 1980. Band 1. Demographische Merkmale, Wirtschaftssektoren, Haushaltungen. Vaduz.

Amt für Volkswirtschaft, Abteilung Statistik (2005): Liechtensteinische Volkszählung 2000. Bevölkerungsstruktur. Band 1. Vaduz.

Bundesamt für Statistik (2016): Religiöse und spirituelle Praktiken und Glaubensformen in der Schweiz. Erste Ergebnisse der Erhebung zur Sprache, Religion und Kultur 2014. Neuchâtel.

Fachstelle für Statistik Kanton St. Gallen (2017): Sonderauswertung Konfessionszugehörig-keit, St. Gallen.Fürstliche Regierung (1963): Volkszählung. 1. Dezember 1960. Vaduz.

Statistik Vorarlberg (2016): Sonderauswertung nach Religionszugehörigkeit und Staatsbür-gerschaft des Landes Vorarlberg, Bregenz.

39 Zum Vergleich: In Deutschland sind 45 Prozent aller Muslime im Besitze eines deutschen Passes. Siehe

die Schätzungen von Rohe 2016, S. 78. 40 Siehe dazu die Zahlen der Landesstelle für Statistik Vorarlberg, Sonderauswertung nach Religionszuge-

hörigkeit und Staatsbürgerschaft des Landes Vorarlberg.

Islam in Liechtenstein

26

Literatur

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Allenbach, Brigit/Sökefeld, Martin (Hg.) (2010): Muslime in der Schweiz. Zürich: Seismo (So-zialer Zusammenhalt und kultureller Pluralismus).

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Islam in Liechtenstein

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3 ISLAM, ISLAMOPHOBIE UND INTEGRATION IN DER INTERNATIONALEN FORSCHUNG

Wilfried Marxer

Die Integrationsforschung hat zahllose Studien und Berichte hervorgebracht. Dabei hat sich

der Schwerpunkt angesichts terroristischer Attentate im Namen des Islam von der Frage der

Integration von Ausländern oder Gastarbeitern zur Frage der Integration von Muslimen ent-

wickelt. Die negativen Schlagzeilen zum Islam beherrschen die Medienberichte und begüns-

tigen die Stereotypisierung von Wahrnehmungen des Islam und der Musliminnen und Mus-

lime. Die Religionsfreiheit und die Tatsache, dass Menschen muslimischen Glaubens in den

traditionell christlich geprägten Staaten dauerhaft leben, stellt die Gesellschaft und die Po-

litik allerdings vor eine klare Aufgabe: Nach Wegen zu einem friedlichen Dialog, Verständ-

nis, wechselseitiger Akzeptanz und zielgerichteter Unterstützung zu suchen und dabei die

zivilisatorischen Errungenschaften der Demokratie und der freiheitlichen Gesellschaft zu be-

wahren.

In diesem Kapitel wird die aktuelle wissenschaftliche Forschung über den Islam in westli-chen, insbesondere in den deutschsprachigen Ländern vorgestellt und reflektiert. Die Lage in Liechtenstein unterscheidet sich sicherlich von derjenigen in der Schweiz, Deutschland oder Österreich. Dennoch dürften zahlreiche Parallelen existieren und die Forschungser-gebnisse auch für Liechtenstein hohe Relevanz aufweisen.

Zunächst ist es hilfreich, ein paar Begriffe zu erläutern. Pfahl-Traughber plädiert für eine klare begriffliche Unterscheidung betreffend die Einstellungen zum Islam, die hier in geraff-ter Form wiedergegeben werden.1 „Islamophobie“ bedeutet eine ausgeprägte Angst vor dem Islam als subjektive Einstellung. „Islamfeindlichkeit“ bedeutet eine fundamentale Ablehnung des Islam als Religion und dessen Deutung als gefährlich, unmoralisch und verwerflich, was nicht mit einer Feindschaft gegenüber Muslimen als Menschen einhergehen muss. „Islamkri-tik“ meint, dass einzelne Bestandteile oder Auslegungen der Religion und deren Wirken in der Gesellschaft hinterfragt werden. Diese drei Begriffe beziehen sich auf die Religion. „Mus-limfeindlichkeit“ bedeutet dagegen die Ablehnung und Diskriminierung von Einzelnen oder Gruppen aufgrund ihres Glaubens. „Muslimenkritik“ schliesslich bezieht sich auf Einstellun-gen und Handlungen von Anhängern des Islam, ohne zu verallgemeinern. Eine solche Kritik erachtet Pfahl-Traughber als mitunter richtig und notwendig.

1 Pfahl-Traughber 2011, S. 67f.

Islam in Liechtenstein

32

3.1 Negative Wahrnehmungen

Die aktuelle Integrationsdiskussion ist sehr stark beeinflusst von der negativen Wahrneh-mung des Islam in der Öffentlichkeit. Es gibt diesbezüglich keine spezifischen Erhebungen neueren Datums zu Liechtenstein. Die Religionsumfrage von 2008 zeigte damals jedoch deut-lich, dass im Vergleich der Religionen und Konfessionen gegenüber dem Islam mit Abstand die grössten Vorbehalte bestehen.2 Gegenüber dem Islam hatten insgesamt 32 Prozent eine eher oder sogar sehr negative Einstellung, bei anderen Religionen bewegte sich die negative Einstellung zwischen 7 Prozent (Buddhismus) und 17 Prozent (Judentum).3 Die Umfrageda-ten des Bertelsmann Religionsmonitors zeigen zudem, dass in den westeuropäischen Staaten von rund 45 Prozent (United Kingdom) bis rund 65 Prozent (Spanien) der Befragten die Mei-nung vertreten wird, dass der Islam nicht in die westliche Welt passe.4

Die allgemeine Gefühlslage – auch ausserhalb der Landesgrenzen – kann so beschrieben wer-den, dass der Islam angesichts weltweiter Entwicklungen und Ereignisse gegenwärtig stark mit Terrorismus in Verbindung gebracht wird, speziell seit den Anschlägen vom 11. Septem-ber 2001 – 9/11 – in den USA. Aber auch schon vorher hat Samuel Huntington (1996) einen Gegensatz der Kulturen diagnostiziert und später hat in Deutschland Thilo Sarrazin (2010) mit seiner provokanten These „Deutschland schafft sich ab“ die Debatte angeheizt.5 Dies sind nur wenige Beispiele islamkritischer und migrationsskeptischer Publikationen. In Deutsch-land – aber wohl auch in vielen anderen Staaten – wird die Islamfeindlichkeit überdurch-schnittlich bei Bürgern mit rechter politischer Einstellung und in rechtsextremen Kreisen ge-pflegt und ersetzt dort teilweise den vormals stärker betonten Antisemitismus.6 Ressenti-ments den Muslimen gegenüber sind aber auch in der breiten Bevölkerung vorhanden, ja sogar zunehmend, wie Umfragen regelmässig belegen.7 Dies zeigt auch die Medienanalyse der liechtensteinischen Zeitungen mit den entsprechenden Debatten und Leserbriefen (siehe Infobox zu den Islamdebatten). Behloul weist im Schweizer Kontext ebenfalls auf eine Ver-schiebung der Wahrnehmung hin: „Insbesondere in der Zeit nach 9/11 hat die Tendenz zu einer Überbetonung der Rolle der Religion in der Kategorisierung von Migranten und ihren Nachkommen aus muslimisch geprägten Ländern eine neuartige Relevanz erlangt.“8 Die Ka-tegorisierung bestimmter Gruppen von Zugewanderten habe dabei sprachlich eine Entwick-lung vom „Gastarbeiter“ über den „Ausländer“ zum „Muslim“ durchgemacht.

2 Marxer 2008a, S. 52; 2008b. 3 Marxer 2008b, S. 53. 4 Pickel 2013, S. 30. 5 Huntington, „The Clash of Civilizations“, 1996 (auf Deutsch unter dem Titel „Kampf der Kulturen“ er-

schienen); Sarrazin, „Deutschland schafft sich ab“, 2010 (kritisch dazu Bade 2013). 6 Siehe Weinspach 2011; Benz 2011. 7 Zick 2011, S. 41. 8 Behloul 2010, S. 45.

Islam in Liechtenstein

33

Basierend auf umfangreichen Erhebungen des Bertelsmann Religionsmonitors und der Stu-die von Halm und Sauer9 stellt auch El-Menouar fest, dass fromme Muslime auf dem Arbeits-markt besondere Schwierigkeiten haben und mit einem geringeren Einkommen rechnen müssen, selbst wenn sie über die gleiche Ausbildung verfügen wie andere.10

3.2 Politisierung und Stereotypisierung des Religiösen

In diesen Diskussionen erfolgt eine Politisierung des Religiösen und es werden teils künstli-che Gegensätze zwischen dem Eigenen und dem Fremden konstruiert und hochstilisiert,11 wie man es vormals zwischen christlichen Konfessionen, auch in Liechtenstein, gekannt hat.12 Während sich die Ressentiments gegen Fremde früher stärker an der Nationalität ori-entierten – siehe etwa die Überfremdungsinitiativen in der Schweiz in den 1970er-Jahren –, haben diese in der Gegenwart eine zusätzliche religiöse Komponente bekommen.13 Wenn man an Debatten über das Kopftuch, den Nikhab oder den Burkini denkt, stehen dabei Frauen speziell im Licht der Öffentlichkeit,14 interessanterweise mehr als bärtige Männer, deren Aussehen eigentlich weit stärker Assoziationen zum Terrorismus wecken könnte als eine Frau mit Kopftuch.

Statt Vorurteile zu pflegen, wird empfohlen, mehr Neugier für die Identität der Zugewander-ten wie auch für deren religiöse Identität zu zeigen. Zick hält fest, dass die Islamfeindlichkeit eine soziale Konfliktlage ausdrückt und Potenzial für grössere soziale Spannungen beinhal-tet. „Es scheint“, so schreibt er, „dass es vielen Menschen nicht mehr gelingt, den Islam ohne abfällige Bewertung zu beurteilen und Muslimen ohne einen negativen stereotypisierenden Blick zu begegnen. Sie werden als Fremdgruppe wahrgenommen, zu der eigentlich Distanz erwünscht ist. Zugleich wird aber von den Muslimen eine Assimilation gefordert, die qua Vorurteil gar nicht gelingen kann.“15

Dass Stereotypisierungen völlig an der Realität vorbeigehen, zeigt die breit angelegte Feld-forschung von Göle, die mit ihrem Forschungsteam Muslime in 21 Städten Europas inter-viewt hat. Sie kommt zum Ergebnis: „Die Kategorisierung der ‚Muslime‘ ist während der so-ziologischen Feldforschung in tausend Stücke auseinandergebrochen und erfuhr zahlreiche Erweiterungen auf Grund grosser Unterschiede zwischen der einen und der anderen Grup-pierung in Bezug auf ethnische Zugehörigkeit, Route der Migrationsbewegung, Verhältnis zum Glauben und zu den europäischen Normen.“16 Die Forschung von Göle ist besonders wertvoll, weil die Alltagssituationen von Musliminnen und Muslimen im europäischen Um-feld differenziert beleuchtet und das Bild eines facettenreich gelebten, europäischen Islam entsteht. Bezogen auf Deutschland bietet vor allem Rohe eine umfassende Darstellung über

9 Halm und Sauer 2017. 10 El-Menouar 2017, S. 6. 11 Hafez 2012. 12 Zum Verhältnis zwischen Katholiken und Protestanten in Liechtenstein: Sochin 2012; Marxer und Sochin

2008. 13 Imhof et al. 2012. 14 Baghdadi 2010. 15 Zick 2011, S. 44. 16 Göle 2016.

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die Zuwanderung von Muslimen, deren Organisationen und Einrichtungen, das muslimische Leben in Deutschland und die aktuellen Reibungspunkte.17

Eine Stereotypisierung verbietet sich auch, da es „den“ Islam nicht gibt, schon gar nicht als Gegenideologie gegen den Westen. Güller beschreibt die verschiedenen Epochen, Wege und Interpretationen des Islam bis hin zu vergangenen und aktuellen innerislamischen Reform-bewegungen.18 Wenn man die Religionsfreiheit aufrechterhalten will, was für Mitgliedsstaa-ten des Europarates und Unterzeichnerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonven-tion selbstverständlich sein sollte, kann der Islam als Glaubensrichtung nicht verboten wer-den. Daher stellt sich vielmehr die Frage, wie sich die demokratischen Staaten zum Islam stellen und welche Massnahmen – weniger Verbote als Unterstützungsmassnahmen – ziel-führend sind, um den religiösen und sozialen Frieden zu wahren. Amirpur zeigt andere Fa-cetten des Islam, nämlich einen modernen Islam, der für Gleichberechtigung der Geschlech-ter, Freiheit, religiöse Toleranz und Menschenrechte steht.19

3.3 „Bindestrich-Religionen“

Zur Charakteristik von Vorurteilen gehört, dass etwas undifferenziert wahrgenommen wird, so also auch häufig der Islam. Amirpur hat dagegen in einer breit angelegten Studie eine aus-serordentliche Vielfalt an islamischen Ausprägungen und Alltagsverhalten von Musliminnen und Muslimen in Europa festgestellt. Wenn zwischen den und innerhalb der christlichen Konfessionen ein Kontinuum von rigider bis fluider Religiosität konstatiert wird,20 ist dies für die kaum zentral organisierten islamischen Glaubensrichtungen ebenso zu erwarten und festzustellen. Nicht auszuschliessen ist auch eine wachsende Herausbildung doppelter oder multipler religiöser Identitäten – auch mit „Bindestrich-Religion“ tituliert –, wobei dies aus dogmatischer Sicht prinzipiell wohl infrage gestellt wird, während im religiösen Alltag das Vermengen religiöser Praktiken unterschiedlicher konfessioneller und religiöser Glaubens-richtungen realistischer erscheint.21 Ausserdem kann es auch zu Veränderungen der indivi-duellen Religiosität im Verlauf des Lebens und nicht zuletzt im Kontext einer Migrationsbio-grafie kommen. Denkbar ist sowohl eine Abschwächung wie auch eine Akzentuierung der eigenen muslimischen Religiosität bei einem Wohnsitzwechsel von einem muslimisch ge-prägten in ein stärker christlich geprägtes Land. Dies gilt ebenso für die nachfolgenden Ge-nerationen, bei denen die religiöse Bindung im Vergleich zu den Eltern nachlassen kann, an-dererseits der Islam aber auch identitätsstiftend wirken kann.

Ob und zwischen welchen Glaubensrichtungen eine Annäherung stattfindet, muss hier da-hingestellt bleiben. Die Friedhofs- und Bestattungsfrage (siehe den Beitrag von Günther Boss in dieser Studie) kann ein Beispiel einer solchen Annäherung sein, wobei es keine klaren Grenzziehungen gibt. Matteo stellt etwa aufgrund von Interviews mit Muslimen in der

17 Rohe 2016. 18 Güller 2011. 19 Amirpur 2013. 20 Arens 2017. 21 Siehe hierzu Müller 2017; Krech 2008 mit Daten des Religionsmonitors in Deutschland.

Islam in Liechtenstein

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Schweiz ein Dilemma fest: Einerseits bewegen sie sich in einem Spannungsfeld zwischen In-tegration, Assimilation und Anerkennung der Verschiedenartigkeit vis-à-vis der Mehrheits-gesellschaft; andererseits befinden sie sich aber auch in innermuslimischen Konfliktlagen, wenn es etwa um religiöse Praktiken und Traditionen geht.22

3.4 Islam als Bedrohung wahrgenommen

Pickel weist im Einklang mit vielen anderen Autoren und Autorinnen darauf hin, dass gegen-wärtig speziell der Islam von vielen Menschen in Europa als Bedrohung wahrgenommen wird und Angst – Islamophobie – auslöst.23 Zum Bertelsmann Religionsmonitor liefern auch Pollack und Müller interessante Zahlen, bezogen auf die Stichprobe in Deutschland. Demzu-folge werden das Christentum, der Hinduismus und der Buddhismus von 10 bis 15 Prozent als Bedrohung wahrgenommen. Beim Judentum steigt dieser Wert auf 19 Prozent, beim Is-lam auf 49 Prozent in Westdeutschland beziehungsweise 57 Prozent in Ostdeutschland. Der Atheismus wird übrigens von 36 beziehungsweise 16 Prozent als Bedrohung wahrgenom-men. Der von Huntington postulierte „Kampf der Kulturen“ bekommt dadurch einen religiö-sen Drall. Die empfundene Bedrohung durch den Islam, geringe Kenntnis des Islam und grup-penbezogene Vorurteile münden in vielen europäischen Staaten „in dominante Zuschreibun-gen wie Fanatismus, Gewalttätigkeit, Antimodernität und Konfliktbehaftetheit, die in Europa mehrheitlich geteilt werden.“24

Dabei ist bemerkenswert, dass die Ablehnungshaltungen geringer werden, je mehr Kontakte zu Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft bestehen. Umgekehrt benötigt man keine direk-ten Kontakte, um negative Einstellungen zu entwickeln, denn diese gedeihen auch ohne di-rekte Kontakte – oder sogar besser – aufgrund von medial vermittelten, parasozialen Kon-takten.25 Allenbach und Herzig haben aufgrund von Fokusgruppengesprächen mit Schülerin-nen und Schülern verschiedener Schulstufen festgestellt, dass solche Zuschreibungen und Stereotype bereits bei Kindern und Jugendlichen wirksam sind, wobei die Religion im Schul-alltag allerdings kaum eine Rolle spielte.26

Bezüglich der Islamophobie ist auch der Befund von Bleisch Bouzar aufgrund von Interviews mit Musliminnen in Deutschland bemerkenswert. Demnach dürften sowohl der Koran wie auch die Auslegungen und Empfehlungen von Imamen in Bezug auf Lebensführung und Ent-scheidungen nur einen beschränkten Einfluss auf das Alltagsleben haben. Dies ist insofern nicht unwichtig, als oftmals extreme Passagen aus dem Koran oder Teile von Predigten von Imamen den Weg an die Öffentlichkeit finden. Ähnlich wie beim Christentum dürfte es auch bei den meisten Musliminnen und Muslimen – selbst solchen, die religiös sind und regelmäs-sig an kollektiven Gebeten teilnehmen – keinen automatischen Transfer von religiösen Vor-gaben in den eigenen Alltag geben. Die interviewten Frauen konsultieren unterschiedliche

22 Matteo 2010, S. 32–33. 23 Pickel 2017; 2013. 24 Pickel 2017, S. 60; Pickel, 2013, S. 29. 25 Ebd., S. 61. 26 Allenbach und Herzig 2010, S. 303.

Islam in Liechtenstein

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Personen und Quellen, allenfalls auch mehrere, bei der Suche nach Antworten. Je nach Thema und Frage sind dies Gelehrte, Familienmitglieder, das Internet, der Koran, nicht zuletzt aber auch andere Frauen oder Freundinnen.27 In Interviews mit 30 systematisch ausgewählten muslimischen Personen in der Schweiz gelangt Matteo zu einem ähnlich differenzierten Bild.28

Andererseits entwirft Keller-Messahli ein kritisches Bild eines konservativen Islam und der Tätigkeit der Imame in der Schweiz.29 In ihrem Plädoyer fordert sie eine stärkere Kontrolle islamistischer Prediger. In einem Interview in der NZZ am Sonntag kurz vor Erscheinen ihres neuesten Buches meint sie: „Wenn ein politischer Wille da ist, kann die Schweiz ausländische islamistische Prediger konsequent ausweisen oder ihre Einreise in die Schweiz verhindern. Unsere Behörden könnten auch entschlossener mit Organisationen und Personen im Aus-land kooperieren, die islamistische Prediger in ihren Ländern bekämpfen und übrigens auch Listen solcher Prediger führen, die sich oft auf Tourneen in Europa befinden.“30

3.5 Religionsfreiheit und Akzeptanz der Religionen

Dabei können die Daten des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung von 2008 durchaus Grund zur Hoffnung geben, wenn man die Umfragedaten zur Türkei heranzieht, wo die Wur-zeln eines Grossteils der Muslime in Liechtenstein liegen. Mehr als 70 Prozent der Befragten in der Türkei stimmten der Aussage zu, dass jede Religion einen wahren Kern habe. 66 Pro-zent fanden, man sollte allen Religionen gegenüber offen sein. Andererseits ist es nicht er-staunlich, dass nur 19 Prozent auf Lehren verschiedener religiöser Traditionen zurückgrei-fen, dass für 53 Prozent vor allem die eigene Religion Recht hat und 72 Prozent der Meinung waren, dass vor allem Mitglieder der eigenen Religion zum Heil gelangen.31 Die Bindung an die Religion ist demnach in der Türkei deutlich höher als in unserem geografischen Umfeld.

Zum Vergleich stimmten in der Schweiz 31 Prozent der Bevölkerung eher oder ganz zu, dass sie auf Lehren verschiedener Traditionen zurückgreifen, in Österreich 27 Prozent, in Deutschland (alte, westliche Bundesländer) 23 Prozent, in Deutschland (neue, östliche Bun-desländer) 19 Prozent.32 Dass die Muslime etwas stärker an die exklusive Wahrheit ihrer ei-genen Religion glauben, zeigte sich auch bei der Religionsumfrage in Liechtenstein im Jahr 2008: 27 Prozent der befragten Muslime fanden, dass es die Wahrheit nur in einer Religion gebe, bei den Befragten anderer Religionen waren es nur rund 6 bis 8 Prozent.33

Sowohl die Verfassung wie auch die Europäische Menschenrechtskonvention, die von Liech-tenstein ratifiziert wurde, verbieten eine Diskriminierung aufgrund der Religion oder des Glaubensbekenntnisses. Im Unterschied zu anderen Grundrechten handelt es sich dabei

27 Bleisch Bouzar 2010, S. 260f. 28 Matteo 2010, S. 11 und 28. 29 Keller-Messahli 2017. 30 NZZ am Sonntag vom 27.8.2017. 31 Krämer 2008, S. 226-229. 32 Müller und Pollack 2008, S. 173. 33 Marxer 2008b, S. 55.

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nicht nur um ein Individualrecht, sondern auch um ein Gruppenrecht für Kirchen und Religi-onsgemeinschaften, wobei als weitere Besonderheit die Religionsfreiheit anfällig für Kollisi-onen mit anderen Grundrechten wie Meinungsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit, Kunstfreiheit und anderen ist.34 Raiser betont, dass das Prinzip der Religionsfreiheit auf zwei Seiten wirken muss: „Seine Funktion ist es, den öffentlichen Raum vor zwei Extremen zu schützen, d. h. vor den Hegemonieansprüchen institutioneller Politik sowie vor religiösen und kulturellen Do-minanzbestrebungen.“35

Ceming stellt allerdings speziell dem Islam unter den Weltreligionen das schlechteste Zeug-nis hinsichtlich der Anerkennung der Menschenrechte aus. Den Hauptgrund sieht sie darin, dass ein Grossteil der islamischen Theologen auf einer wörtlichen Auslegung des Koran be-steht (siehe „Rechtsschulen“ im Glossar im Anhang). Während sich das Judentum und das Christentum „im Lauf der Geschichte zu einer positiven Anerkennung von allgemein verbind-lichen Menschenrechtsnormen, und zwar zunächst gegen den Widerstand ihrer offiziellen religiösen Vertreter“ bekannten,36 ist dieser Prozess im Islam noch nicht erfolgreich durch-laufen worden. Sie stellt zudem fest, dass säkularistische, reformerische Ideen innerhalb der islamischen Welt eher in der Defensive sind.

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Studie des Zentrums für Religionsfor-schung der Universität Luzern über muslimische Jugendliche in der Schweiz. Die leitfaden-gestützten Interviews mit 61 jungen Frauen und Männern im Alter von 15 bis 30 Jahren be-legt sehr unterschiedliche Zugänge dieser Personengruppe zum Religiösen. Es erweist sich, dass Erklärungen und Meinungen von Eltern, Freunden und Vertrauenspersonen in Mo-scheegemeinden eine wichtige Rolle spielen, während der Einfluss von Imamen und umstrit-tenen Internetpredigern kleiner als oft angenommen ist.37 Viele der Befragten sind zudem erst durch die grosse mediale Aufmerksamkeit, die dem Religiösen in den letzten Jahren zu-kam, zu einer vertieften Reflexion über die Religion gestossen worden.38

3.6 Verhältnis von Staat und Religion

Dass sich die Staaten mit religiösen Fragen befassen und eine Haltung dazu einnehmen, steht ausser Frage. Viefhues-Bailey unterscheidet mit Verweis auf den Soziologen Ahmet T. Kuru vier Typen von Staaten in Bezug auf das Verhältnis zwischen Staat und Religion: Religiöse Staaten wie der Vatikan oder Iran; Staaten mit etablierten Religionen wie Dänemark oder Grossbritannien; säkulare Staaten ohne staatliche Präferenz für eine bestimmte Religion wie Frankreich oder die Vereinigten Staaten; schliesslich antireligiöse Staaten wie China oder Nordkorea.39 Aufgrund der besonderen Stellung der katholischen Religion in der Verfassung

34 Potz 2012, S. 65. 35 Raiser 2012, S. 136. Zur Religionsfreiheit in Liechtenstein siehe Wille 2012; zum Verhältnis von Staat

und Religionen in der Schweiz Winzeler 2008. 36 Ceming 2010, S. 250. 37 Baumann et al. 2017, S. 19-26. 38 Baumann et al. 2017, S. 11. 39 Viefhues-Bailey 2013, S. 312.

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müsste Liechtenstein wohl der zweiten Kategorie zugeordnet werden. Doch selbst bei säku-laren Staaten ist es nicht so, dass die Religion keine Rolle spielt, da beispielsweise in vielen westlichen, säkularen Staaten dennoch stark auf christliche Werte verwiesen wird, nicht zu-letzt in den Vereinigten Staaten.

Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Religion, gegenwärtig auch besonders fokus-siert auf das Verhältnis zwischen Religion und Demokratie, zieht sich durch alle Erdteile und Jahrhunderte.40 Dabei geht es etwa um die Frage, inwiefern Religion oder religiöse Instanzen den Staat und die Politik prägen und beeinflussen, aber auch darum, wie der Staat oder eine Gesellschaft verschiedene Religionen wahrnimmt, fördert und unterstützt – oder aber dis-kriminiert. Dies bezieht sich nicht nur auf aussereuropäische, traditionalistische Gemein-schaften, sondern zieht sich beispielsweise auch durch die Geschichte der Volksabstimmun-gen mit teilweise minderheitenfeindlichen Vorlagen in der Schweiz.41

Mit Blick auf die Europäische Union und deren Mitgliedsstaaten skizziert Sprungk vier mög-liche Wege, wie sich das Verhältnis von Staat und Religion in der Zukunft entwickeln kann: Stärkung der Mehrheitsreligion; Stärkung der Minderheitsreligion(en); Säkularisierung; kein Wandel.42 Die EU hat offenbar bisher keine entscheidenden Impulse für den einen oder anderen Weg gegeben, sondern überlässt es weitgehend den Nationalstaaten, wie sie das Verhältnis zwischen Staat und Religion regeln wollen. Auch für Liechtenstein stellen die ei-gene Verfassung sowie wesentlich auch die Europäische Menschenrechtskonvention die ent-scheidenden rechtlichen Leitplanken dar. Es hat sich seit der Einrichtung des Erzbistums Vaduz im Jahr 1997 in der Stellung und Funktion der Kirche zwar einiges geändert (siehe etwa die Neuorganisation der Jugendarbeit und der Erwachsenenbildung).43 Andererseits ist aber einiges in der Schwebe: Verhandlungen zwischen der katholischen Kirche und den Ge-meinden über die Neuordnung der Besitzverhältnisse und viele weitere Fragen konnten weitgehend, aber nicht vollständig abgeschlossen werden, der Entwurf für ein Konkordat liegt vor und ein Religionsgemeinschaftengesetz wurde verabschiedet, soll aber erst mit dem Konkordat in Kraft treten (siehe Beiträge zum Islam in Liechtenstein und zum Religionsun-terricht in diesem Bericht). Alles deutet darauf hin, dass ein Schritt in Richtung Säkularisie-rung des Staates erfolgen wird, wenngleich die katholische Kirche wohl auch in Zukunft unter allen Religionen Liechtensteins eine dominante Rolle spielen wird. Die Minderheitenreligio-nen würden in diesem Zuge etwas gestärkt und je nach Organisation und Mitgliederzahl auch öffentlich anerkannt.

40 Siehe Beiträge in Werkner et al. 2009. 41 Christmann 2011 und weitere Beiträge in Vatter (Hg.) 2011. 42 Sprungk 2013, S. 247. 43 Ausführlich bei Biedermann 2000. Die Errichtung des Erzbistums war sehr umstritten und hat innerhalb

der katholischen Kirche zu grossen Spannungen geführt. Dabei wurde unter anderem auch der Verein für eine offene Kirche gegründet, der sich kritisch mit dem konservativen Kurs im Erzbistum auseinan-dersetzt.

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3.7 Integrationspotenzial von Religionsgemeinschaften

Wie lässt sich das Verhältnis zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften im Sinne eines friedlichen Miteinanders verbessern? Roost Vischer berichtet in einem Beitrag aus dem Alltag der Integrationsbemühungen und der damit einhergehenden Probleme in Basel-Stadt, wo sie als Koordinatorin für Religionsfragen wirkt.44 Hier kann nur stichwortartig wiedergegeben werden, welche Institutionen, Akteure und Themen dabei eine Rolle spielen. Die Basler Mus-lim-Kommission ist der lose Dachverband der Moscheevereine; das Interreligiöse Forum Basel fokussiert auf den interreligiösen Dialog; ein Runder Tisch der Religionen beider Basel wurde initiiert. Themen, die sich stellen, sind etwa die Friedhofsfrage beziehungsweise Gräberfelder, die Kopftuchfrage oder das Schulschwimmen. Es zeigt sich, dass in den meisten Städten und Regionen ähnliche soziale Spannungen zu lösen sind. In der Integrationsarbeit kann also auf viele funktionierende Beispiele zurückgegriffen und von entsprechenden Erfahrungen – posi-tiven wie negativen – gelernt und profitiert werden.

Dass ein Suchen nach richtigen Einschätzungen und Interpretationen im Gange ist, weitge-hend auch von Unkenntnis oder einseitigen Zuschreibungen motiviert, zeigen die Reaktionen und Koalitionen, die von Sauer beschrieben werden.45 Besonders heterogen wirken etwa die Versuche, auf das Tragen oder Nicht-Tragen von Kopftüchern oder anderen Erscheinungen zu reagieren. Solche als Symbole muslimischen Glaubens identifizierten Kleidungsstücke muslimischer Frauen lösen in der öffentlichen Diskussion, im politischen Diskurs und in der nationalen Rechtssetzung divergierende Reaktionen aus. Sauer stellt dabei eigenartige Koa-litionen fest: „SäkularistInnen argumentieren z.T. ähnlich wie IslamgegnerInnen für ein Ver-bot, einige KatholikInnen führen dieselben Argumente wie Feministinnen gegen muslimi-sche religiöse Körperverhüllungen ins Feld, und MultikulturalistInnen begründen eine tole-rante Haltung mit ähnlichen Deutungsmustern wie wieder andere VertreterInnen der Katho-lischen Kirche.“46 Sie kritisiert, dass das Nicht-Regeln und Nicht-Entscheiden von solchen Fragen – als „religious governance“ charakterisiert – mitunter negative Effekte nach sich zie-hen kann, weil der Staat dann das Feld anderen Akteuren überlässt. Dies kann nicht nur zu kontroversen und diffamierenden öffentlichen Debatten führen, sondern auch der Diskrimi-nierung von Minderheitenreligionen Vorschub leisten.

Vor zu viel Toleranz und Verständnis warnt allerdings Koopmans aufgrund eingehender Fak-tenanalysen.47 Er fordert eine stärkere Assimilation der Zugewanderten in die Aufnahmege-sellschaft und scheut sich auch nicht, hierfür den umstrittenen Begriff der „Leitkultur“ zu verwenden. Seine Datenanalysen zeigen, dass die Beherrschung der Sprache des Aufnahme-landes, die Anpassung an Gepflogenheiten, die damit einhergehende Verbesserung der Situ-ation auf dem Arbeitsmarkt und in der Aus- und Weiterbildung letztendlich zu wirksamerer Integration führen als eine Haltung, die viel von der Aufnahmegesellschaft, aber wenig von den Zuwandernden verlangt.

44 Roost Vischer 2010. 45 Sauer 2012. 46 Sauer 2012, S. 50. 47 Koopmans 2017.

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Wichtig erscheint, bestehende Vorurteile abzubauen und statt einer Defizitorientierung das Potenzial von Migranten zu entdecken. Nagel hat in einer Mesoperspektive die Integrations-leistung und das Potenzial spezifisch von religiösen Migrantengemeinden im bundesdeutschen Kontext analysiert, wobei die islamischen Gemeinden wie auch andere eingeschlossen wa-ren.48 Dabei wurde eine breite Palette an Integrationsleistungen solcher Gemeinschaften fest-gestellt: situative Hilfen wie Nothilfe, Ämterhilfe, Hausaufgabenhilfe; ferner stärker struktu-rierte und formalisierte Angebote in der Jugend- und Altenarbeit, Weiterbildung und Kultur-pflege. Die religiösen Migrantengemeinden – solche wurden explizit untersucht – wirkten auch identitätsstiftend und vernetzend. Dies wird auch in der Studie von Halm und Sauer im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz bestätigt.49 Baumann kommt zu einem ähnlichen Befund für die Schweiz, nämlich dass sich „viele religiöse Versammlungs- und Andachtsstätten in der Diaspora zu multifunktionalen Dienstleistungsorten entwickelt haben, Unterstützung, Bera-tung und soziale Angebote bereitstellen und das Selbstvertrauen und den Selbstwert von Im-migranten und Immigrantinnen stärken und gruppenbezogenes ‚bonding-Sozialkapital‘ för-dern, welches zu gruppenübergreifendem ‚bridging-Sozialkapital‘ anleiten kann.“ Er hebt be-sonders auch das Potenzial von Sakralbauten wie Moscheen hervor, wenn sie „Frauen und Ju-gendlichen eigene Räumlichkeiten und Entfaltungsmöglichkeiten eröffnen.“50 Gleichzeitig kön-nen allerdings auch desintegrative Prozesse und mitunter radikalisierende Formen in einzel-nen Fällen wahrgenommen werden. Es zeigte sich allerdings in der Untersuchung von Nagel in Deutschland, dass nicht muslimische Gemeinden bezüglich einer Zusammenarbeit mit Musli-men skeptischer waren als betreffend eine Zusammenarbeit mit Migrantengemeinden anderer Glaubensrichtungen.51

Weingardt weist darauf hin, dass sich Religion besonders gut eignet, um Konflikte anzuzett-len, da es um Werte und Identität geht und Konflikte damit schnell emotional aufgeladen werden können. Er betont aber auch, dass Religion auch verbinden und Frieden stiften kann und nicht selten auch ein Motor für Entwicklung sein kann.52

3.8 Interreligiöser Dialog

Wichtig ist hinsichtlich der Integrationsziele auch ein funktionierender interreligiöser Dia-log. Hierfür gibt es viele gelungene Beispiele.53 Für einen interkulturellen und insbesondere interreligiösen Dialog ist nicht nur die soziale Verständigung zwischen Gruppen notwendig, ebenso zu berücksichtigen sind der religiöse Hintergrund, religiöse Dogmen und allenfalls Unvereinbarkeiten zwischen den Religionen. Bernhardt zeigt in geraffter Form auf, wie es mit der Offenheit diesbezüglich in den verschiedenen Religionen (Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus) steht, ferner welche Interpretationen der betreffenden Glaubensrichtung einem interreligiösen Dialog im Wege stehen. Für alle fünf untersuchten Religionen hält er fest, dass die Vorgaben der Tradition nur einen Bestimmungsfaktor neben

48 Nagel 2017. 49 Halm/Sauer 2015. 50 Baumann 2016, S. 111f. 51 Nagel 2017, S. 158. 52 Weingardt 2016. 53 Siehe etwa Beiträge in Könemann und Vischer 2008.

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situativen Gegebenheiten, kollektiven und individuellen Mentalitäten darstellen. Er attestiert aber auch allen fünf Religionen Dialogpotenzial, das sich aus der eigenen Dogmatik und Tra-dition ergibt, wenn er festhält: „Dialogische Bezugsformen setzen die Anerkennung der be-gegnenden Religionskultur in ihrem Ruf auf Selbstentfaltung voraus. Diese Anerkennung kann formal im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung gewährt werden. Sie kann aber auch inhaltlich aus den Quellen der eigenen religiösen Tradition begründet werden. Alle fünf der hier daraufhin befragten Religionen tragen starke Potenziale für eine solche Anerken-nung in sich.“ 54 Integrativ könnte demzufolge wirken, wenn solche dialogischen Bezugsfor-men gefördert und unterstützt würden.

Freise formuliert vier Ziele des interkulturellen und interreligiösen Dialogs: Horizonterwei-terung und Bereicherung des eigenen Glaubens; gegenseitiger Respekt und Anerkennung des Anderen in seinem Anderssein; friedliche Konfliktbearbeitung; spiritueller Dialog. Für ihn bewegt sich der interreligiöse Dialog im Bereich des dritten Ziels (friedliche Konfliktbearbei-tung) zwischen den beiden Polen der individuellen Freiheitsrechte und der kollektiven Schutzrechte.55 Das heisst, dass Religionen Respekt gegenüber anderen Religionen haben müssen, auch wenn sie sich missionierend betätigen. Andererseits muss auch für religiöse Minderheiten ein Recht auf öffentliche Religionsausübung gewährleistet sein. Diesbezüglich sind alle Religionen wie auch alle religiösen Gruppen und Gemeinschaften in die Pflicht ge-nommen, wobei nicht nur die Prämissen der Religion, sondern auch die Mehrheitsverhält-nisse und anderes eine Rolle spielen.

Die Bedeutung eines interreligiösen und interkulturellen Dialogs hebt auch El-Menouar, ba-sierend auf Analysen des Bertelsmann Religionsmonitors hervor. Ihre zwei weiteren Emp-fehlungen: Gleichberechtigte Partizipation auf allen Ebenen fördern sowie kulturelle und re-ligiöse Diversität anerkennen.56 Gleichlautend ist das Fazit von Halm und Sauer in der Studie über Muslime in Europa, ebenfalls auf den Bertelsmann-Daten basierend.57 Eingehender widmen sich Halm und Sauer (2017) der Integration von Muslimen in Europa, wiederum ba-sierend auf den Bertelsmann-Daten.58 Auch dort werden die Daten aus dem Bertelsmann Re-ligionsmonitor von 2017 verwendet.59 Ein Ansatzpunkt ist dabei gegeben, wenn im eigenen Freundeskreis nicht nur Angehörige der eigenen Glaubensrichtung vorkommen. Diesbezüg-lich zeigen die Daten, dass bei mehr als der Hälfte der Befragten der Freundeskreis von Mus-

54 Bernhardt 2008, S. 64. 55 Freise 2011, S. 61. 56 El-Menouar 2017, S. 6. El-Menouar bietet in ihrer Studie auch einen Vergleich der Staaten Deutschland,

Österreich, Schweiz, Vereinigtes Königreich und Frankreich, basierend auf den Daten des Bertelsmann Religionsmonitors.

57 Halm und Sauer 2017a. Siehe auch die Sonderstudie von Halm und Sauer (2017b) zu Deutschland. 58 Halm und Sauer 2017a. 59 Die Bertelsmann Stiftung hat 2007 und 2013 bereits eine Religionsumfrage parallel in mehreren Staaten

durchgeführt und diese zwischen Juli 2016 und März 2017 wiederholt. Befragt wurden mehr als 10‘000 Personen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, dem Vereinigten Königreich und der Türkei. Erstmals wurden religiöse Minderheiten gezielt befragt, sodass auch die muslimische Glaubens-richtung in der Befragung stark repräsentiert ist. Zur Rolle der Religion und deren Potenzial zur Ent-wicklung eines gesellschaftlichen Zusammenhalts auch Traunmüller 2013 mit Daten aus dem Bertels-mann Religionsmonitor 2013.

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limen zu mehr als 50 Prozent aus Personen mit anderer Glaubensrichtung besteht. Beson-ders hoch ist dieser Wert in der Schweiz (77 Prozent), am tiefsten im Vereinigten Königreich (50 Prozent).60

3.9 Religion und Pflege der Gemeinschaft

Hafner-Al Jabaji hebt die unterschiedliche Bedeutung von Religion und Gesellschaft in verschie-denen Religionen der Gegenwart hervor. Während in der christlich dominierten Welt eine Sä-kularisierung feststellbar ist, sind für zugewanderte Muslime die Pflege der Gemeinschaft und der nichtindividualisierte Kultus wichtige Teile ihres Religionsverständnisses, aber auch eine Reaktion auf ihre Migrationssituation. Zudem gibt Hafner-Al Jabaji zu bedenken, dass der in-terreligiöse Dialog ein Dialog zwischen Mehrheit und Minderheit ist: „Naturgemäss kommt der Mehrheit ein dominanter, normativer Charakter zu, sodass Fragen und Diskussionspunkte je-weils vom christlichen oder säkularen Standpunkt aus gestellt werden. Auch die Definitions-macht liegt in der Regel bei der Mehrheit. So definiert letztlich die schweizerische Gesellschaft, was das Minarett für Muslime bedeutet und was nicht. Analog bestimmt sie, was das Kopftuch symbolisiert.“61 Sie weist in ihrem Beitrag auf das Dilemma der Muslime hin, dass sie sich zwi-schen verschiedenen Welten bewegen, vielfach auf der schwierigen Suche nach einer eigenen Identität sind, die naturgemäss eine multiple Identität ist. Muslime werden jedoch sehr schnell auf ein einziges Identitätsmerkmal, nämlich die Religion, reduziert. Die Autorin plädiert für ei-nen Islam schweizerischer Prägung und geht dabei von zwei Annahmen aus: „1. Ein in der schweizerischen Gesellschaft integrierter Islam bedeutet, dass der Islam integraler Bestandteil der schweizerischen Gesellschaft ist. 2. In der Schweiz integrierte Muslime betrachten ihre schweizerische Identität als Teil ihrer muslimischen Identität und ihre muslimische Identität als Teil ihrer schweizerischen Identität“.62 Eine Reihe weiterer Bedingungen für eine gelin-gende Integration werden formuliert, etwa die öffentlich-rechtliche Anerkennung des Islam, die Sichtbarkeit des Islam in Form von Moscheen oder islamischen Friedhöfen, Massnahmen für Frauen und Jugendliche, um nur einige zu nennen. Andererseits soll der Islam in der Schweiz schweizerisch sein, das heisst nicht in türkische, bosnische oder albanische Zentren aufgespalten sein.

3.10 Differenzierung nach Nationalität

Vor dem Hintergrund der Zusammensetzung der muslimischen Bevölkerung in Liechtenstein – vor allem aus Republiken des ehemaligen Jugoslawien sowie aus der Türkei – ist die Analyse von Behloul besonders interessant.63 Bosnien beispielsweise ist ein europäisches Land, wes-halb der Islam im Prinzip und aus deren Sicht nicht als aussereuropäische Erscheinung abge-stempelt werden könne. In der Schweiz wird dabei festgestellt, dass sich die Bosniaken diesen Umstand zunutze machen, indem sie sich stärker über die Kultur als die Religion definieren,

60 Halm und Sauer 2017a, S. 30. Die Befragung bezieht sich auf Deutschland, Österreich, die Schweiz, Frank-

reich und das Vereinigten Königreich 61 Hafner-Al Jabaji 2008, S. 97. 62 Ebd., S. 102. 63 Behloul 2010.

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ihre Form des Islam als moderat betonen und als europäischen Islam auffassen, der die staat-lichen Strukturen und rechtlichen Rahmenbedingungen nicht infrage stellt. Zudem gelten die Migranten aus diesem Herkunftsgebiet aufgrund der atheistischen Ausrichtung des ehemali-gen Jugoslawien meist als nicht streng gläubig. Bis in die 1980er-Jahre besuchten sie mangels eigener Einrichtungen im Bedarfsfall türkische Moscheevereine und deren Einrichtungen, da es für die Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien nur sogenannte „jugoslawische Klubs“ gab. Erst mit dem Ausbruch des Krieges in Bosnien 1992 wurde die Religion gemäss Behloul zu einem zuverlässigen Refugium für bosnische Muslime, die meisten bosnischen Moscheever-eine oder -gemeinden entstanden in dieser Periode.64

In Deutschland wurde festgestellt, dass die Gruppe der türkischen Migranten im Hinblick auf die strukturelle Integration relativ schlecht abschneidet, und zwar „nicht nur im Vergleich zu Migranten aus anderen südeuropäischen Anwerbeländern und zu Aussiedlern, sondern auch im Vergleich zu Migranten aus einigen anderen muslimischen Herkunftsländern“.65 Dies muss allerdings für den schweizerisch-liechtensteinischen Raum nicht unbedingt analog der Fall sein, wie das recht unterschiedliche Abstimmungsverhalten der in der Schweiz und in Deutschland wohnhaften türkischen Staatsangehörigen beim 2017 durchgeführten Referen-dum über eine neue türkische Verfassung gezeigt hat. Nach Deutschland ist vermutlich ein deutlich höherer Anteil türkischer Staatsangehöriger mit formal tiefem Bildungsabschluss zugewandert als in die Schweiz, wo auch der Anteil der kurdischen türkischen Staatsangehö-rigen höher ist.66

Aufschlussreich ist auch eine neue Studie aus Österreich, in welcher bei rund 1000 Personen muslimischen Glaubens nach dem Schneeballprinzip quantitative Interviews durchgeführt wurden.67 Es ging dabei um einen Vergleich der Einstellungen von Flüchtlingen, Zuwande-rInnen und in Österreich geborenen MuslimInnen. Trotz eingeräumter methodischer Schwä-chen hinsichtlich Repräsentativität und anderer Aspekte können einige Feststellungen ge-troffen werden. So bestätigt sich, dass die Religiosität bei Herkunft aus Bosnien-Herzegowina weit weniger ausgeprägt ist als beispielsweise bei türkischer Herkunft. Den stärksten Ein-fluss des Islam weisen Personen aus Somalia und Tschetschenien auf. 69 Prozent der Soma-lier bezeichnen sich als sehr gläubig, 50 Prozent der Personen aus Tschetschenien. Unter den Türkischstämmigen sind es 37 Prozent, bei den BosnierInnen 12 Prozent.68 Entsprechend variiert das Antwortverhalten in Bezug auf Fragen zur Bedeutung islamischer Rechtsvor-schriften, wie wichtig es ist, dass die Partnerin/der Partner ebenfalls muslimischen Glaubens ist oder ob es verboten sein sollte, sich über den Islam lustig zu machen.69 Neben dem Glau-ben spielen aber offensichtlich auch andere kulturelle Einflüsse eine Rolle. So befürworten

64 Behloul 2010, S. 56–58; ausführlich zu Europäisierung und Islam in Bosnien-Herzegowina: Kudo 2016. 65 Haug/Müssig/Stichs 2007, S. 345. 66 In Deutschland stimmten mehr als 60 Prozent für die von Präsident Erdogan vorgeschlagene Verfas-

sungsänderung, in der Schweiz weniger als 40 Prozent. Quelle: Staatliche Nachrichtenagentur Anadolu; zahlreiche Medienberichte in Zeitungen, Fernsehen etc.

67 Filzmaier/Perlot 2017. 68 Filzmaier/Perlot 2017, S. 22. 69 Filzmaier/Perlot 2017, S. 25, 30, 33.

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44 Prozent der Personen aus Somalia ein Verbot der Gesichtsverschleierung – mehr als die-jenigen aus Bosnien-Herzegowina (40 Prozent) oder der Türkei (37 Prozent), während nur 18 Prozent mit tschetschenischer Herkunft für ein Verbot von Niqab oder Burka sind.70

Offen bleibt gegenwärtig, ob die Unterscheidung beziehungsweise unterschiedliche Wahr-nehmung von Muslimen je nach Herkunft Konsequenzen hat: Werden sie entsprechend tat-sächlich eher als europäischer, moderater wahrgenommen beziehungsweise mit aussereu-ropäischem, radikalem Islam assoziiert? Abgesehen davon, dass dies eine weitere Stigmati-sierung und Stereotypisierung bedeutet, ist durchaus denkbar, dass aus dem Blickwinkel der Mehrheitsgesellschaft zwischen „gutem“ und „schlechtem“ Islam unterschieden wird und diese Attribute den betreffenden Gruppen kollektiv zugeschrieben werden. Es ist aber auch denkbar, dass sich die eher positive Wahrnehmung mit der Zeit auf alle überträgt, umgekehrt auch, dass sich die negative Wahrnehmung undifferenziert auf alle Gruppen und Gruppen-mitglieder überträgt. Ferner aber auch die Möglichkeit, dass man sich aufgrund eigener Er-fahrungen, Begegnungen und Erlebnisse ein differenziertes Bild vom Islam und den Musli-minnen und Muslimen schafft. Generell stellt sich die Aufgabe, Vertrauen aufzubauen und die Gegenseite besser kennen und verstehen zu lernen.

3.11 Laizismus und Religiosität

Es kann aktuell auch nicht ignoriert werden, dass der Islam im türkischen Staat unter Minis-terpräsident Erdogan zunehmend an Bedeutung gewinnt. Koenig bezeichnete im Jahr 2009 Frankreich und die Türkei noch als zwei laizistische, säkulare Staaten. In der Türkei geht der Laizismus auf die Bewegung der Jungtürken und Kemal Atatürk zurück.71 Nach dem Sieg die-ser Reformbewegung wurde in der Verfassung von 1923 der Laizismus verankert. Seitdem hat vor allem das Militär als Pfleger des Erbes von Atatürk in der Türkei immer darauf ge-achtet, dass der Islam nicht nur keinen direkten Einfluss auf den Staat nehmen kann, sondern sogar mehr oder weniger unter der Kontrolle des Staates steht. Obwohl die Türkei die Idee des Laizismus von Frankreich übernommen hat, unterscheiden sich diese beiden Staaten in religiösen Fragen sehr stark. Frankreich ist mehrheitlich katholisch mit einer klaren Autori-tät einer Amtskirche, in der Türkei dominiert der Islam, allerdings in unterschiedlichen Glau-bensrichtungen und mit dezentralen Autoritäten. In den vergangenen Jahrzehnten gab es im-mer wieder Bewegungen und Parteien in der Türkei, die einen starken Bezug zum Islam auf-wiesen und ebenso immer wieder verboten wurden. In den letzten Jahren scheint sich das Blatt aber gewendet zu haben. Ein Militärputsch ist 2016 gescheitert, gefolgt von massenwei-sen Verhaftungen von Mitgliedern des Militärs, von Staatsangestellten, Wissenschaftlern und Journalisten. Die AKP unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan dominiert das politi-sche Geschehen klar und das Militär als Hüter des Laizismus in der Türkei ist weitgehend entmachtet.

70 Filzmaier/Perlot 2017, S. 26. 71 Ausführlich bei Koenig 2009, S. 387–390.

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Während im laizistischen Frankreich die Religiosität stark abgenommen hat, ist die türkische Bevölkerung bis in die Gegenwart sehr religiös. In Frankreich bezeichneten sich gemäss Re-ligionsmonitor der Bertelsmann Stiftung 13,3 Prozent als sehr religiös, 42,4 Prozent als reli-giös, 44,3 Prozent als nicht religiös. In der Türkei bezeichneten sich 51,3 Prozent als sehr religiös, 47,9 Prozent als religiös und nur 0,8 Prozent als nicht religiös. 13 Prozent machten keine Angaben.72 Allerdings zeigte der Religionsmonitor auch, dass die türkische Bevölke-rung im Vergleich zu anderen ausgewählten Staaten (Nigeria, Marokko, Indonesien, Israel) in der religiösen Praxis, etwa im privaten oder gemeinschaftlichen Beten, unterdurchschnitt-lich aktiv ist.73 Säkulare Normen werden gemäss Religionsmonitor in der Türkei besonders stark von der Mittelklasse und Oberschicht gepflegt, ferner auch von den Staatsangestellten und den Mitgliedern des Militärs.74

Die Daten des Religionsmonitors zeigen in einem Vergleich europäischer Staaten, dass bei-spielsweise Italien oder Polen in Bezug auf Religiosität mit der Türkei vergleichbar sind: 56 Prozent in Italien und 44 Prozent in Polen bezeichneten sich als ziemlich oder sehr religiös. In der Schweiz waren es 20 Prozent, in Österreich 23 Prozent, in Deutschland-West 18 Pro-zent, in Deutschland-Ost 6 Prozent.75

Eine Neuauflage des Bertelsmann Religionsmonitors 2013 bestätigt diese Erkenntnisse. Pi-ckel (2013, S. 22) weist unter anderem zudem aus, wie religiös sich Angehörige einzelner Glaubensgemeinschaften in Europa insgesamt selbst einschätzen. Den Spitzenrang belegen die Evangelikalen mit rund 70 Prozent, die sich als hochreligiös bezeichnen. Es folgen die Schiiten und Sunniten mit rund 50 Prozent. Etwa 30 Prozent der Katholiken und Juden be-zeichnen sich als hochreligiös, rund 20 Prozent der Protestanten, der Christlich-Orthodoxen und der Buddhisten, weniger als 20 Prozent der Aleviten sowie erwartungsgemäss kaum Konfessionslose.

Der Streifzug durch die Forschungsliteratur zum Islam im deutschsprachigen Raum bezie-hungsweise in den Nachbarstaaten Liechtensteins zeigt ein sehr differenziertes Bild. Den Is-lam in Singularform charakterisieren zu wollen, scheitert nicht nur daran, dass es sehr un-terschiedliche islamische Strömungen gibt. Auch innerhalb einzelner Strömungen wie auch je nach Herkunftsgebiet, nicht zuletzt auch auf individueller Ebene, zeigt sich eine grosse Vielfalt an Ausprägungen und religiösem Verhalten. Zwischen der Dogmatik von Religionen und Konfessionen und dem gelebten Alltag der Religionsangehörigen können grosse Unter-schiede bestehen. Für eine Beurteilung der Situation ist auf jeden Fall notwendig, die Aus-richtung und Funktion von kirchlichen Funktionsträgern – im Falle des Islam die entspre-chenden Vereine oder islamischen Gemeinschaften, deren Funktionäre wie auch der Vorbe-ter (Imame) – als Massstab zu nehmen. Hierzu gibt der Beitrag von Günther Boss zum mus-limischen Leben in Liechtenstein in dieser Studie Hinweise.

72 Siehe Koenig 2009, S. 381; Krämer 2008, S. 222 sowie weitere Beiträge bei Bertelsmann Stiftung 2009. 73 Heine und Spielhaus 2009, S. 595–599. 74 Ebd., S. 596. 75 Müller und Pollack 2008, S. 171.

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INFOBOX DISPENS VOM SCHWIMMUNTERRICHT 2012 erhob ein muslimisches Elternpaar aus Basel Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verletzung seiner Glaubensfreiheit. Die Eltern hatten sich im Jahr 2008 ge-weigert, ihre Töchter im damaligen Alter von sieben und neun Jahren in den gemischten, obligato-rischen Schwimmunterricht der Primarschule zu schicken. Daraufhin hatte 2010 das Basler Erzie-hungsdepartment aufgrund wiederholter Verletzung der elterlichen Pflichten den Eltern eine Busse in Höhe von CHF 1400 auferlegt, was von allen weiteren Instanzen bestätigt wurde.1 Auch der Eu-ropäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte sich in dieser Sache hinter die Schweizer Instanzen und wies am 10. Januar 2017 im einstimmig gefassten Urteil2 die Beschwerde mit der Begründung ab, die schulische Integration der Kinder gehe der Beachtung religiöser Gebote einzel-ner Bevölkerungsteile grundsätzlich vor. Mit diesem Urteil stärkte der EGMR auch die seit 2008 verschärfte Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts,3 wonach es gelte, besonders Kin-der islamischer Glaubenszugehörigkeit bereits auf der Schulstufe zu integrieren.4

Auch der Liechtensteinische Staatsgerichtshof (StGH) beschäftigte sich im Jahr 2012 mit einer ähnlichen Klage, jedoch waren die Beschwerdeführer nicht islamische Glaubensangehörige, son-dern Anhänger einer christlichen Glaubensgemeinschaft, der palmarianisch-katholischen Kirche. Auch in diesem Falle sollten die Kinder auf Wunsch der Erziehungsberechtigten vom schulischen Schwimmunterricht freigestellt werden, da die Teilnahme daran zu einer Exklusion aus der Glau-bensgemeinschaft führe. Genauso wie die Schweizer Gerichte gewichtete auch der StGH das Kin-deswohl höher, jedoch führte dies zu einem anderen Urteil: „Der Zwang der Kinder der Beschwer-deführer zur Teilnahme am Schwimmunterricht ist somit unzumutbar und stellt einen unzulässi-gen Eingriff in die Glaubens-, Gewissens-, und Religionsfreiheit dar.“5 Die Kinder wurden somit vom Schwimmunterricht dispensiert. Das Urteil löste Diskussionen aus, auch unter juristischen Experten gab es keine einheitliche Meinung. So kritisierte beispielsweise Prof. Dr. Andreas Kley, Professor für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie an der Universität Zürich, die mangelhafte Begründung des Urteils und diagnostizierte „eine objek-tive und offensichtliche Verletzung des Art. 9 i.V.m. Art. 14 EMRK.“6

Obwohl die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in Liechtenstein anwendbar ist, können Gerichte offensichtlich zu sehr unterschiedlichen Beurteilungen von Sachverhalten, in diesem Fall bezogen auf eine Dispens vom Schwimmunterricht, kommen. Ein Fall, bei welchem es in Liechtenstein zu einer Dispensierung vom Schwimmunterricht beziehungsweise zu einer be-treffenden Klage vor dem StGH mit Bezugnahme auf die islamische Religion gekommen wäre, ist nicht bekannt. Vitoria Stella De Pieri 1 BGer, 2C_666/2011, Urteil vom 7. März 2012. 2 EGMR, Osmanoğlu und Kocabaş gegen Schweiz, n° 29086/12, Urteil vom 10. Januar 2017, abrufbar un-

ter: http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-170346. 3 Siehe insbesondere BGE 135 I 79, abrufbar unter: http://relevancy.bger.ch/cgi-bin/JumpCGI?id=BGE-

135-I-79. 4 https://www.nzz.ch/schweiz/europaeischer-gerichtshof-zum-obligatorischer-schwimmunterricht-re

ligionsfreiheit-nicht-verletzt-ld.138953. 5 StGH 2012/130, abrufbar unter: http://www.gerichtsentscheide.li/default.aspx?mode=suche&

txt=Schwimmunterricht&vonjahr=2012&id=3888&backurl=?mode=suche%26txt=Schwimmunterricht %26vonjahr=2012

6 Kley, Andreas (2013): Bemerkung zur Glaubens- und Gewissensfreiheit; Verpflichtung zur Teilnahme am Schwimmunterricht; Art. 15 BV, Art. 9 EMRK, in: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Ver-waltungsrecht Jg. 114/8.

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INFOBOX ISLAMDEBATTEN IN DER PRESSEBERICHT- ERSTATTUNG IN LIECHTENSTEIN Im Folgenden wird ein Überblick über Islamdebatten in der öffentlichen Presseberichterstattung Liechtensteins in den vergangenen Jahren gegeben. Der Untersuchungszeitraum wurde auf die Zeit vom 1. Oktober 2014 bis 15. März 2017 beschränkt. Als Quellen dienen die beiden Tageszei-tungen Liechtensteiner Vaterland und Liechtensteiner Volksblatt inklusive Online-Ausgaben.

„Islam heisst nicht Salam“ Besonders hohe mediale Präsenz erreichte das Buch „Islam heisst nicht Salam“ des ehemaligen Gymnasiallehrers Dr. Manfred Schlapp, welches auch eine Debatte, weitgehend in Form von Le-serbriefen, auslöste. Der in Innsbruck geborene Philosoph und Altphilologe gibt in seinem Buch einen umfassenden, auf den Koran gestützten Überblick über die muslimische Welt von ihren An-fängen bis heute. Die Art der Berichterstattung variierte zwischen den Tageszeitungen: Während das Liechtensteiner Vaterland lobende Worte an Manfred Schlapp richtete und dem Autor und seinem Buch mehrere Doppelseiten widmete, nahm das Liechtensteiner Volksblatt eine eher kri-tische Position ein, wobei sich auch Experten wie z. B. Oliver Wäckerlig, Doktorand am Religions-wissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich, äusserten. Am darauf Bezug nehmenden Le-serbriefaustausch waren hauptsächlich Univ.-Prof. Dr. Eva Rieger aus Vaduz, Dipl. Ing. Mohamed Elghazzali aus Feldkirch und der Autor selbst, Dr. Manfred Schlapp, beteiligt. Sowohl Eva Rieger als auch Mohamed Elghazzali nahmen ähnliche Positionen gegenüber Autor und Buch ein, wobei sie hauptsächlich den Inhalt als mangelhaft oder falsch kritisierten: Während Eva Rieger das Buch als „knappe, anderthalbseitige Zusammenfassungen von Büchern, gespickt mit Ausrufungszei-chen und ohne jeglichen wissenschaftlichen Apparat“ bezeichnet, stellt Herr Elghazzali fest: „Manfred Schlapp klammert sich genauso wie die radikalen Islamisten an einzelne Verse ohne geschichtlichen Kontext und ohne den Gesamtzusammenhang des Korans zu verstehen“. Die De-batte eskalierte, als Schlapp in seinen Antworten kaum sachlichen Bezug zur geäusserten Kritik nahm und andere Leserbriefschreiber mit Sätzen wie „Bleiben Sie doch bei Ihrer Musik!“ und „Für wie dumm halten Sie die Liechtensteiner?“ auf persönlicher Ebene angriff.

Islamo- und Xenophobie Gewisse Leserbriefe deuten islamo- bzw. xenophobe Tendenzen an, besonders deutlich im Leser-brief „Wer ist Moslem?“ von Wolfgang-Leo Krenn aus Schaanwald, veröffentlich am 20. August 2016 im Volksblatt. Mit dem Satz „Wie, zum Teufel, können die so dumm sein?“ wird eine Welle von Klischees und Stereotypen eingeleitet, mittels derer Muslime sowie deren Rituale, Sitten und Bräuche kritisiert und beleidigt werden: Drogenkonsum, der Erwerb von Maschinengewehren und polygame Eheverhältnisse werden als Erkennungszeichen von Muslimen angeführt, ab-schliessend auch der Nicht-Konsum von Schweinefleisch: „Wenn Sie Ihren Hintern mit blosser Hand abputzen, aber ein Schweinesteak für unrein halten, sind Sie wahrscheinlich ein Moslem.“ Die am 24. August 2016 abgedruckte Antwort von Kastriot Xhoxhaj unter der Überschrift „Xeno-philie“ fiel nüchtern aus: Nach der Widerlegung der angeführten Klischees und kurzen biografi-schen Angaben führt Kastriot Xhoxhaj aus, dass er, obwohl es schwer sei, „jeden Tag, mit platten Sprüchen über meine Religion und meine Herkunft konfrontiert zu werden“, stolz auf sie sei und sie eine „Bereicherung für jede westliche Gesellschaft sein“ könne.

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Auch die Furcht vor einer „allmählichen Islamisierung Europas“ und die angeblich gescheiterte Integration im Zuge der Flüchtlingskrise werden in zahlreichen Leserbriefen thematisiert. Ob-wohl diese Diskussion ihren Fokus hauptsächlich auf die Flüchtlingsproblematik in Europa rich-tet, ist der Islam ebenfalls von grosser Bedeutung und oft Mittelpunkt der Kritik, nicht zuletzt aufgrund der Skepsis, dass möglicherweise islamistische Terrorbewegungen durch die Flücht-lingsströme ihren Zugang nach Europa finden. Ein Leserbrief von Urs Kindle aus Mauren bringt diese Angst besonders deutlich zum Ausdruck.

Das Volksblatt-Interview vom 13. Januar 2015 mit Akif Özmen, Mitglied der Islamischen Gemein-schaft des Fürstentums Liechtenstein, scheint mit dem Titel „Özmen: Leider sind die Beleidigun-gen von Muslimen salonfähig geworden“ die Tendenz wachsender Islamfeindlichkeit zu unter-streichen, jedoch beschreibt Akif Özmen im Verlauf des Interviews das Zusammenleben von Mus-limen und Nicht-Muslimen in Liechtenstein als sehr gut.

Islam im Landtag Der Landtag sowie auch die Regierung zeigten sich bemüht darum, die Verbreitung radikalen Ge-dankenguts sowie terroristische Radikalisierungsprozesse zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu erkennen und in weiterer Folge zu unterbinden. Die negativen Äusserungen zum Christentum und die Forderung eines jungen Übersetzers zur Einführung der Scharia in Liechtenstein wäh-rend einer Exkursion in der Grünen Moschee in Triesen waren der Hintergrund für eine Kleine Anfrage der Landtagsvizepräsidentin Violanda Lanter-Koller am 1. Oktober 2014 im Landtag, in welcher sie auf die Auswüchse von nicht ausschliesslich muslimischem, sondern generell radika-lem Gedankengut aufmerksam macht und fordert, dem nach Möglichkeit gegenzusteuern, „dies nicht zuletzt um auch die gemässigten Vertreter einer Religion zu schützen“. Hierfür will die Re-gierung den Dialog mit muslimischen Organisationen fördern, berichtete das Volksblatt am 7. Mai 2015.

Am 7. Juni 2017 bezog sich der Abgeordnete Johannes Hasler im Landtag in einer Kleinen Anfrage auf den Vorfall von 2014 und wollte wissen, ob von dieser Person aktuell eine Gefährdung aus-gehe. Gemäss Innenministerin Dominique Gantenbein bestehe gemäss polizeilicher Erkenntnisse zwar eine abstrakte, aber keine konkrete Gefahr für die innere Sicherheit des Landes. Die polizei-lichen Ermittlungsergebnisse wurden auch der Staatsanwaltschaft zur Kenntnis gebracht, die je-doch keinen ausreichenden Diskriminierungs-Verdacht gemäss §283 StGB für die Einleitung ei-nes Strafverfahrens erkannte. Im Oktober 2016 brachte die Landespolizei die Ermittlungsergeb-nisse auch dem APA zur Kenntnis und ersuchte um Prüfung von ausländerrechtlichen Massnah-men. Insbesondere wurde das APA ersucht, einen Widerruf der Niederlassungsbewillung nach Art. 49 Abs. 1 Bst. b AuG und eine Ausweisung nach Art. 53 AuG Abs. 1 Bst. b zu prüfen (Land-tagsprotokoll v. 7./8./9. Juni 2017; Liechtensteiner Volksblatt vom 13. Juni 2017, S. 3).

Kopftuch und Burkini Des Weiteren sorgten Themen rund um die Bekleidung islamischer Glaubensangehöriger für Ge-sprächsstoff. Das Tragen eines Kopftuchs erweist sich bisher in Liechtenstein als unproblema-tisch und wurde hauptsächlich im Rahmen der Debatte um Kleidervorschriften an Schulen in den Medien thematisiert. In einem Volksblatt-Artikel vom 15. Dezember 2015 wurde das von Schüle-rinnen getragene Kopftuch im Vergleich zu anderen an Schulen getragenen problematischen Klei-dungsstücken, wie beispielsweise bauchfreie Oberteile und Hotpants, als weniger umstritten dar-gestellt. Für grosse mediale Aufmerksamkeit sorgte der Schweizer Kanton Tessin, als die Antipa-thie gegenüber Burkas gestützt auf eine Volksinitiative in der kantonalen Verfassung verankert wurde: In der Volksabstimmung am 22. September 2013 standen 63 494 Ja-Stimmen 32 377

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Nein-Stimmen gegenüber. Die Verfassungsänderung (Art. 9a: Verbot der Verhüllung des eigenen Gesichts) trat am 1. Juli 2016 in Kraft und machte das Tessin zum ersten Kanton mit einem sowohl gegen Gesichtsverhüllungen aus religiösen Gründen (genannt werden in den Gesetzesmaterialien Burka und Niqab) als auch gegen Vermummungen gewaltbereiter Personen gerichteten allgemei-nen Verbot der Gesichtsverhüllung. Beide liechtensteinischen Tageszeitungen berichteten eben-falls über die beiden Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14. März 2017, welches es Arbeitgebern unter bestimmten Voraussetzungen erlauben soll, religiöse und politische Zei-chen wie z. B. das aus religiösen Gründen getragene Kopftuch am Arbeitsplatz zu verbieten.

Eine nicht repräsentative Online-Umfrage (Ted-Umfrage) des Liechtensteiner Vaterlandes im März 2017 (Frage: „Sollen Burkinis in den liechtensteinischen Badeanstalten verboten werden?“) fiel mit 68.47% Ja-Stimmen gegen 22.26% Nein- und 9.27% Mir-egal-Stimmen deutlich gegen den Burkini aus. Der Burkini ist eine zweiteilige Badebekleidung für Frauen, die mit Ausnahme von Händen, Füssen und Gesicht den gesamten Körper bedeckt. In seinem Leserbrief vom 15. März 2017 nahm Peter Marxer aus Vaduz kritisch Stellung zum Burkini-Verbot beziehungsweise zu einer Verordnung, welche Ganzkörperanzüge verbietet, denn dies würde auch Sportler und Sportlerinnen ausschliessen, die zum Betreiben einer Sportart einen Ganzkörperneoprenanzug benötigen, z. B. Taucher. Darüber hinaus fand das Thema in den liechtensteinischen Medien bis-her keinen weiteren medialen Anklang.

Auch weitere Themen erlangten starke Präsenz in den liechtensteinischen Zeitungen, so bei-spielsweise die Verweigerung eines Schülers in Basel, der Lehrerin morgens die Hand zu geben. Die Zahl an betreffenden Artikeln zu solchen Themen ist allerdings eher gering. Nichtsdestotrotz regten viele dieser Themen zu Diskussionen an und zeigten, an welcher Thematik sich die wach-sende Skepsis in Bezug auf die islamische Religion entzünden kann. Vitoria Stella De Pieri

1 BGer, 2C_666/2011, Urteil vom 7. März 2012. 2 EGMR, Osmanoğlu und Kocabaş gegen Schweiz, n° 29086/12, Urteil vom 10. Januar 2017, abrufbar un-

ter: http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-170346. 3 Siehe insbesondere BGE 135 I 79, abrufbar unter: http://relevancy.bger.ch/cgi-bin/JumpCGI?id=BGE-

135-I-79. 4 https://www.nzz.ch/schweiz/europaeischer-gerichtshof-zum-obligatorischer-schwimmunterricht-

religionsfreiheit-nicht-verletzt-ld.138953 5 StGH 2012/130, abrufbar unter: http://www.gerichtsentscheide.li/default.aspx?mode=suche&

txt=Schwimmunterricht&vonjahr=2012&id=3888&backurl=?mode=suche%26txt=Schwimmunterricht %26vonjahr=2012

6 Kley, Andreas (2013): Bemerkung zur Glaubens- und Gewissensfreiheit; Verpflichtung zur Teilnahme am Schwimmunterricht; Art. 15 BV, Art. 9 EMRK, in: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Ver-waltungsrecht Jg. 114/8.

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INFOBOX ISLAMDEBATTEN IN SCHWEIZER MEDIEN Dieser Beitrag bietet einen Überblick über den Islam als Thema in Schweizer Medien anhand einiger ausgewählter Themen. Als Quellen dienen die beiden Schweizer Zeitungen Neue Zürcher Zeitung und Tages-Anzeiger, jeweils inklusive Onlinebeiträgen, sowie NZZ am Sonntag und Sonntags-Zeitung. Die Zeitungen der beiden Medienhäuser werden in Liechtenstein relativ häufig gelesen und sie beeinflus-sen auch die liechtensteinischen Medien. Eine umfassende Analyse der Medienberichte in der Schweiz ist nicht das Ziel, sondern ein Überblick wichtiger Themen, über welche berichtet wird. Der Beobach-tungszeitraum beschränkt sich auf ein Jahr, beginnend mit April 2016.

An-Nur-Moschee Seit 2009 wurde in der Winterthurer Moschee des umstrittenen muslimischen Kulturvereins An-Nur ein Hort radikalen Gedankenguts vermutet. Wie die Sonntags-Zeitung vom 6. November 2016 berichtete, hatte bereits 2015 ein Geschwisterpaar, welches sich nach Besuchen der An-Nur-Mo-schee dem sogenannten Islamischen Staat anschloss, für Schlagzeilen gesorgt. Aus behördlicher Sicht schien bis dahin eine Beobachtung der Situation zu genügen. Nach einem in der Sonntags-Zeitung am 16. Oktober 2016 veröffentlichten Bericht des Journalisten und Terrorismus-Exper-ten Shams Ul-Haq, in dem die An-Nur-Moschee aufgrund von aggressiven Predigten, in denen öf-fentlich zum Mord aufgerufen wurde, als besonders gefährlich eingestuft wurde,1 führte die Zür-cher Kantonspolizei in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft am Morgen des 2. November 2016 eine Razzia durch, bei der vier Personen aus dem Umfeld des Gotteshauses in Untersu-chungshaft genommen wurden, darunter der aus Äthiopien stammende Imam Shaikh Abdur-rahman sowie der Präsident des Vereins. Letzterer wurde einige Tage nach der Verhaftung zu-sammen mit einem weiteren Beschuldigten wieder freigelassen. Der Stadtrat begrüsste die Razzia und liess verlauten, er werde weiterhin alles daran setzen, der Radikalisierung vorzubeugen und Extremismus in welcher Form auch immer zu bekämpfen.2 Auch der Vorstand der Vereinigung Islamischer Organisationen in Zürich (VIOZ) distanzierte sich von der An-Nur-Moschee: Einstim-mig wurde die Suspendierung der Mitgliedschaft des An-Nur-Vereins beschlossen.3 Präsident Mahmoud El Guindi berichtete der NZZ am Sonntag vom 6. November 2016, man werde die Ent-wicklungen beobachten, „[w]enn sich die Lage nicht zum Besseren wendet, kann es auch zu einem definitiven Ausschluss kommen.“4 Die Schliessung der Moschee wurde auf Ende des Jahres 2016 angekündet, was auch von der Schweizerischen Volkspartei gefordert wurde.5 Auch der Chefredakteur der Sonntags-Zeitung, Arthur Rutishauser, äussert sich kritisch zu den Ereignissen: „Die Muslime stellen die Toleranz auf eine harte Probe. Nicht nur, dass einige ihrer Anführer offen eine Lebensphilosophie vertreten, die man bei uns seit der Aufklärung überwun-den glaubt – ein Teil schreckt nicht einmal vor Gewalt gegenüber denjenigen zurück, die nicht in ihr Weltbild passen“, kommentiert er in der Sonntags-Zeitung vom 6. November 2016.

Geldströme und weitere Einflüsse aus dem Ausland – Saudi-Arabien Als besonders problematisch wird vielfach die intransparente Finanzierung von Moscheen be-zeichnet. Oftmals werden Vereine oder Stiftungen durch Beiträge aus Saudi-Arabien, Katar, Ku-wait, Albanien sowie aus der Türkei unterstützt, wobei die Gründe und Zusammenhänge recht diffus erscheinen. So finanziert beispielsweise die Islamische Weltliga, eine saudi-arabische, regierungsgesteuerte Nichtregierungsorganisation, die sich als kulturelle und religiöse Vertretung des Islams versteht,

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zahlreiche muslimische Organisationen und Verbände, die dem ihrer Ansicht nach „einzig wahren Glauben“ – sprich dem Wahhabismus sowie dem Salafismus – nahestehen und um dessen Ver-breitung bemüht sind. Besonders die Errichtung von Moscheen in der Schweiz wird durch die Weltliga gefördert.6 Obwohl die Basler König-Faysal-Stiftung, welche für die Finanzierung der Fa-ysal-Moschee aufkommt, nach eigenen Angaben keine Beiträge des saudi-arabischen Staates mehr bezieht, wird vom Bund geprüft, inwiefern das Geld zweck- und gesetzeskonform eingesetzt wird.7 Die finanziellen Mittel aus dem Ausland haben ausser der möglichen Unterstützung radi-kaler Gruppierungen weitere Auswirkungen: Geldgeber erhalten Rechte zur Besetzung hoher Stellen in Verbänden und Organisationen und üben somit grossen Einfluss auf die Gestaltung der Vereine aus. So darf beispielsweise die Islamische Weltliga in Genf die Stiftungsräte wählen, was zur Folge hat, dass acht von dreizehn Mitgliedern aus Saudi-Arabien stammen. Auch der Präsi-dentenposten der Genfer Moschee „Petit-Saconnex“ ist dem Generalsekretär der Islamischen Weltliga vorbehalten, berichtete der Tages-Anzeiger online am 24. Dezember 2016.8

– Türkei Eindeutige Beweise für die türkische Finanzierung radikaler Gruppierungen konnten aufgrund mangelnder Transparenz nicht sichergestellt werden, jedoch wird bereits gegen die Türkisch-Is-lamische Stiftung für die Schweiz (TISS) eine Untersuchung durch die Eidgenössische Stiftungs-aufsicht geführt,9 weitere islamische Stiftungen werden beobachtet.10 Besonders offensichtlich scheint die Verbindung der TISS, die 50 Moscheevereine unterstützt, mit dem türkischen Staats-apparat. Der Präsident des Stiftungsrates ist der oberste Geistliche der Türkei und enger Vertrau-ter von Recep Tayyip Erdogan: Mehmet Görmez, Chef des Religionsministeriums. Obwohl die Ge-schäftsleitung ihre politische Unabhängigkeit betont, wird die Stiftung als verlängerter Arm des türkischen Präsidenten Erdogan angesehen. Nicht nur finanzielle Unterstützung wird geleistet, auch Imame werden aus der Türkei entsendet und durch das türkische Religionsministerium ent-lohnt. Obwohl sprachliche Kenntnisse auf Sprachniveau B1 zum Erhalt der Bewilligung voraus-gesetzt werden, sprechen die meisten nur sehr schlecht Deutsch und vertreten häufig einen streng konservativen Islam. Redaktionsleiterin Andrea Bleicher kommentiert die Situation in der am 17. April 2016 erschienenen Ausgabe der Sonntags-Zeitung wie folgt: „Erdogans Export-Imame sind ein Problem. Sie predigen ein Weltbild, das nicht in unsere Gesellschaft passt. Ihre Auftraggeber nutzen aber nur, was in der Schweiz versäumt wird.“11 Auch die Union Europäisch-Türkischer Demokraten, eine Lobby-Organisation der türkischen Regierungspartei AKP mit Sitz im Industriegebiet von Spreitenbach, spielt eine bedeutende Rolle im Schweizer „Erdogan-Ge-flecht“.12

– Katar Dem Islamischem Zentralrat der Schweiz (IZRS) werden Verbindungen zu der katarischen, mög-licherweise terrorunterstützenden Wohltätigkeitsorganisation Eid Al Thani Charity nachgesagt. Beim Interview mit der NZZ am Sonntag vom 27. November 2016 weicht der Sprecher des IZRS, Qaasim Illi, Fragen bezüglich des Geldes aus: „Der Zentralrat finanziert sich durch Mitgliederbei-träge, Spenden und Gönnerbeiträge. Über die Quellen und Beträge wird keine Korrespondenz ge-führt.“ Der Soziologe und Religionswissenschaftler Johannes Saal und die Islamexpertin Saida Keller-Messahli vermuten „enge Verbindungen zwischen radikalislamischen Kreisen in Katar und Kuwait und dem Islamischen Zentralrat Schweiz.“13

Innenpolitisch werden in der Schweiz Massnahmen gegen den ausländischen Geldfluss gefordert: FDP-Nationalrätin Doris Fiala forderte mittels Motion mehr Kontrollmöglichkeiten rund um kirch-liche und religiöse Stiftungen sowie einen verpflichtenden Handelsregistereintrag für Vereine, die aus dem Ausland unterstützt werden. Damit solle mehr Transparenz geschaffen werden.14

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Kontrolle von Imamen Die Infiltration ausländischer Einflüsse erfolgt nicht nur auf finanzieller und administrativer Ebene, auch die Beschäftigung von Vorbetern (Imamen) ist von grosser Bedeutung, berichtete der Tages-Anzeiger im Juni 2016. Viele in der Schweiz tätige Imame studierten in Saudi-Arabien, wo der wahhabitische Staatsislam zu einer wortgetreuen Auslegung des Korans zurückkehren will. Durch die grosse Einflussnahme Saudi-Arabiens nach dem Krieg auf dem Balkan finden sich unter den Studenten sowohl der Islamischen Universität Medina als auch der zahlreichen Universitäten in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad viele Männer aus Bosnien, Mazedonien, Kosovo und Al-banien. Oft sehen sich Imame einem politischen Islam verpflichtet, was in Einwanderungsgesell-schaften vermehrt zu Problemen führen kann.15 Deshalb fordern auch Schweizer Nationalräte diesbezüglich härtere Massnahmen: Von klar definierten Mindestanforderungen über strengere Kontrollen der Zulassung bis hin zum Entzug der Aufenthaltsbewilligung bei Radikalisierung. Auch Isabelle Noth und Hansjörg Znoj, Professoren der Universität Bern, sehen Handlungsbedarf und entwickeln einen Test, mittels welchem radikale Tendenzen erkannt werden sollen.16 Eine erste Durchführung war auf Mai 2017 geplant. Die Universität Freiburg reagiert insofern, als dass ab Herbst 2017 das Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG)17 neu das Master-nebenprogramm „Islam und Gesellschaft“18 anbieten wird, das sich nicht nur, aber auch an Ver-antwortliche muslimischer Einrichtungen richtet.19 Vitoria Stella De Pieri 1 http://mobile2.12app.ch/articles/17384733. 2 https://www.nzz.ch/zuerich/aktuell/jihadisten-in-winterthur-fuenf-fakten-zur-annur-moschee-

ld.126119. 3 http://vioz.ch/medien-ueber-vioz/vioz-beschluss-vom-4-november-2016-suspendierung-der-

mitgliedschaft-des-kultur-vereins-an-nur/. 4 NZZ am Sonntag, 6.11.2016, S. 11. 5 Tages-Anzeiger, 18.10.2016, S. 19. 6 https://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/arabisches-geld-fuer-schweizer-moscheen-ld.128077. 7 https://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/geldfluesse-der-basler-koenig-faysal-stiftung-aufsicht-un-

tersucht-moschee-stiftung-ld.14382. 8 http://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/Umstrittene-Saudis-steuern-die-groesste-Moschee-

der-Schweiz/story/25945975. 9 Die Eidgenössische Stiftungsaufsicht hat zur Aufgabe, gemeinnützige Stiftungen daraufhin zu überprü-

fen, ob sie ihr Stiftungsvermögen dem Zweck der Stiftung entsprechend einsetzen: https://www.edi.ad-min.ch/edi/de/home/fachstellen/eidgenoessische-stiftungsaufsicht.html.

10 Sonntags-Zeitung, 24.4.2016, S. 5. 11 Sonntags-Zeitung, 17.4.2016, S. 2/3. 12 Sonntags-Zeitung, 5.3.2017, S. 16/17. 13 Ebd. 14 https://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/moscheen-in-der-schweiz-muslimische-vereine-sollen-

kontrolliert-werden-ld.126656; Motionen 16.4130 und 16.4129, abrufbar unter: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20164130 und https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20164129.

15 http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/drehscheibe-fuer-salafistische-imame/story/16304925

16 https://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/imame-sollen-zum-eignungstest-ld.137570 17 http://www.unifr.ch/szig/de. 18 http://www.unifr.ch/szig/de/studies/. 19 http://www.srf.ch/sendungen/sternstunde-religion/ausbildung-fuer-imame-in-der-schweiz.

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4 DATEN ZU MUSLIMEN AUS DIVERSEN ERHEBUNGEN IN LIECHTENSTEIN

Wilfried Marxer

Liechtenstein ist schwach an Daten und Studien, die sich auf religiöse Minderheiten wie die

islamischen Gemeinschaften beziehen und Rückschlüsse auf Besonderheiten dieser Bevölke-

rungsgruppe zulassen. Aus den verfügbaren Daten und Untersuchungen kann entnommen

werden, dass die muslimische Bevölkerungsgruppe in Liechtenstein in Bezug auf formale Bil-

dung und Beherrschung der deutschen Sprache unterdurchschnittlich ausgestattet ist. Im

Vergleich zu den anderen Einwohnerinnen und Einwohnern, mehrheitlich mit liechtenstei-

nischer Staatsbürgerschaft, sind sie auch in Bezug auf gesellschaftliche Kontakte, Akzeptanz

in der Gesellschaft, individuelles Wohlergehen, Gesundheit und weitere Aspekte eher im

Nachteil. In Fragen der Religion, Religiosität und des religiösen Lebens zeichnet sich dage-

gen die muslimische Bevölkerung durch eine stärkere Bindung an die religiöse Tradition aus.

Mit einem Ausländeranteil von mehr als einem Drittel stellt sich in Liechtenstein automatisch die Frage der gesellschaftlichen Integration. Allerdings ist festzuhalten, dass sich der Auslän-deranteil bereits seit den 1970er-Jahren auf dem Niveau von rund einem Drittel, meist sogar etwas darüber, bewegt. Der Grossteil der Ausländerinnen und Ausländer in Liechtenstein stammt ausserdem aus den Nachbarstaaten Schweiz, Österreich und Deutschland, bei denen weder seitens der kulturellen Tradition noch aufgrund der gemeinsamen deutschen Sprache gravierende Integrationshindernisse bestehen.1

Etwas anders stellt sich die Situation bei Zugewanderten aus fremdsprachigen Regionen dar. Wie im Beitrag über die Zuwanderung in dieser Studie bereits aufgezeigt wurde, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg Arbeitskräfte aus fremdsprachigen Ländern schwerpunktmäs-sig aus den Mittelmeerländern rekrutiert, die mehrheitlich katholisch geprägt sind (Italien, Spanien, Portugal). Lediglich aus bestimmten Provinzen des damaligen Jugoslawien sowie aus der Türkei kamen auch muslimische Zuwanderer in nennenswerter Zahl als Arbeits-kräfte nach Liechtenstein.

In diesem Beitrag wird die Integration speziell der muslimischen Bevölkerungsgruppe in Liechtenstein beleuchtet. Dabei wird einerseits die gesellschaftliche Stellung der Muslime untersucht, soweit überhaupt Daten hierzu vorhanden sind. Ferner werden auch die öffent-liche Wahrnehmung und die Debatten über den Islam in den liechtensteinischen Medien auf-gezeigt. Mangels spezifischer Untersuchungen zum Fall Liechtenstein – und da auch die liech-tensteinische Diskussion weitgehend von medialen Einflüssen und Entwicklungen in den

1 Ausführlicher Sochin 2012; Marxer (Hg.) 2012.

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Nachbarstaaten, aber auch Ereignissen im weiteren Europa und weltweit geprägt ist –, wer-den auch relevante Studien und Ereignisse ohne direkten Liechtensteinbezug mitberücksich-tigt.

Die nachfolgenden Abschnitte basieren einerseits auf Interviews mit Personen aus der Tür-kei und dem ehemaligen Jugoslawien im Rahmen einer Sonderstudie im Jahr 2012. Anderer-seits werden die Daten aus der weiter oben beschriebenen Umfrage zum Sozialkapital von 2008 einer Sekundärauswertung unterzogen und somit erstmals gezielt hinsichtlich der muslimischen Bevölkerung analysiert.

Die breit angelegte Gesundheitsbefragung von 2012 hätte mitunter interessante Informatio-nen liefern können, es wurde jedoch keine Frage gestellt, die Rückschluss auf die Religion oder Konfession gibt. Ebenso wenig differenzieren die Krankenkassen- und die Unfallversi-cherungsstatistik nach Religion oder Konfession. Es liegen auch keine Daten nach Staatsbür-gerschaft vor, die indirekte Hinweise auf den Gesundheitszustand und Leistungen von Kran-ken- und Unfallversicherungskassen für Muslime geben.

4.1 Datenlage

Bezogen auf Liechtenstein existieren nur wenige Daten und Statistiken, aufgrund deren spe-ziell auf die Situation, die Einstellungen und das Verhalten der Bevölkerungsgruppe der Mus-lime geschlossen werden kann. Die amtliche Statistik erfasst mit Volkszählungen lediglich die demografische Entwicklung. Weiteren Aufschluss geben die Daten aus der Sozialkapi-talumfrage von 2008, aus der Religionsumfrage von 2008 sowie aus einer qualitativen Befra-gung von Zugewanderten aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei von 2012. Aus Gründen des Datenschutzes wird es ohnehin immer schwieriger, im Rahmen der amtlichen Statistik und bei öffentlichen Personenregistern die Religionszugehörigkeit abzufragen, zu erfassen und auszuweisen.

4.1.1 Volkszählungsdaten

Volkszählungsdaten wurden bis 2010 im zehnjährigen Turnus erhoben. Seit 2015 wird die Volkszählung kombiniert mit Registerdaten. Zu den Volkszählungen liegen jeweils schriftli-che Berichte vor (siehe Quellen am Ende des Beitrags), sodass statistische Datenanalysen mit der Kombination verschiedener Variablen im Nachhinein nur möglich sind, wenn der Daten-satz verfügbar ist.

4.1.2 Sozialkapitalstudie von 2008

Im Auftrag der Regierung des Fürstentums Liechtenstein führte Angelika Hagen 2008 eine Bevölkerungsumfrage in Liechtenstein zum Thema Zusammenleben, Gesundheit und Wohl-befinden durch. Diese Befragung war Teil eines internationalen Forschungsprojektes der OECD und des Netzwerkes „Gesunde Städte“. Es wurde die Wohnbevölkerung Liechtensteins ab dem vollendeten 15. Lebensjahr mittels eines schriftlichen Fragebogens befragt, wobei in Frage 46 auch nach dem Glaubensbekenntnis gefragt wurde. Insgesamt konnten 4’759 Fra-gebogen verwertet werden, wovon 2’634 von Frauen, 2’014 von Männern stammten (111

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ohne Angabe). Die Ergebnisse der Sozialkapitalstudie sind publiziert worden und damit öf-fentlich zugänglich. Eine Analyse mit speziellem Blick auf den muslimischen Teil der Bevöl-kerung erfolgte allerdings nicht.

Für die vorliegende Studie konnten die Daten der Umfrage von 2008 einer Sekundärauswer-tung unterzogen werden. Der Fragebogen enthielt auch eine Frage zum Glaubensbekenntnis. Bei der grossen Zahl an Teilnehmenden ergab sich immerhin eine Zahl von 136 Personen, die sich zum Islam bekennen. Im Unterschied zu vielen anderen Umfragen mit einer deutlich kleineren Stichprobe weist das Segment der Muslime in der Sozialkapitalumfrage somit eine beachtliche Grösse auf.

Dennoch muss auf zwei Schwachstellen hingewiesen werden. Erstens liegt die Befragung be-reits ein knappes Jahrzehnt zurück. Es ist zwar nicht unbedingt davon auszugehen, dass sich die Einstellungen der Bevölkerung in dieser Zeit grundlegend geändert haben. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass Differenzen, die sich zwischen dem muslimischen und dem nicht-muslimischen Teil der Bevölkerung 2008 gezeigt haben, inzwischen grösser oder kleiner geworden sind und überhaupt Einstellungsänderungen in den verschiedenen Bevöl-kerungssegmenten eingetreten sind. Eine Neuauflage einer Sozialkapitalstudie für Liechten-stein steht noch aus.

Zweitens wies die Befragung zwar einen beachtlichen Rücklauf von 4’759 gültigen Fragebo-gen auf. Angesichts der knapp 30’000 versandten Fragebogen betrug der Rücklauf dennoch nur 15,9 Prozent. Es ist daher nicht gesichert, dass diese 15,9 Prozent einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung darstellen. Dies ist auch nachträglich oder aufgrund der vor-handenen Daten nicht nachprüfbar.

Grundsätzlich sind die hier durchgeführten Datenanalysen mit den erwähnten Vorbehalten zu betrachten. Da es jedoch keine anderen Daten gibt, müssen diese methodischen Probleme in Kauf genommen werden.

4.1.3 Religionsumfrage 2008

Im Jahr 2008 wurde im Auftrag der liechtensteinischen Regierung eine repräsentative tele-fonische Umfrage zu Fragen der Religion, Religiosität und religiöser Toleranz sowie dem Ver-hältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften in der Bevölkerung Liechtensteins durchgeführt. Die Befragung umfasste 600 Einwohnerinnen und Einwohner Liechtensteins ab 16 Jahren, unabhängig von Nationalität und Konfession. Bei dieser Umfrage besteht das Problem darin, dass entsprechend dem Bevölkerungsanteil der Muslime in Liechtenstein die Zahl der befragten Muslime sehr tief ist und daher eine stark differenzierte statistische Aus-wertung – etwa nach Altersgruppen – für dieses Segment nicht möglich ist.

4.1.4 Studie Türkei/Ex-Jugoslawien 2012

Im Jahr 2012 wurde die Studie „Herkunft Türkei und Ex-Jugoslawien – Wohnsitzland Liech-tenstein“ durchgeführt. Dabei ging es nicht in erster Linie um den religiösen Hintergrund, aber mit der Auswahl der Herkunftsländer war immerhin das Bevölkerungssegment, wel-ches den Grossteil der Muslime in Liechtenstein bildet, angesprochen. In der Studie wurden

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zu den beiden Gruppen je 30 persönliche Interviews mit Frauen und Männern mithilfe eines teilstandardisierten Fragebogens durchgeführt. Die Auswahl der Interviewten erfolgte nach dem Zufallsprinzip. Mit den 60 Interviews wurden insgesamt 204 Haushaltsmitglieder er-fasst. Von den 30 Befragten aus jugoslawischen Nachfolgestaaten hatten 26 eine entspre-chende Nationalität, drei die liechtensteinische, eine Person die österreichische. Von den 30 befragten Türkinnen und Türken hatten 11 die liechtensteinische, 19 die türkische Staats-bürgerschaft.

Alle Befragten mit türkischer Herkunft waren Muslime. Von den Befragten aus Ex-Jugosla-wien waren 14 muslimisch, 11 orthodox, 5 katholisch.

4.2 Bildung und Sprache

Die Datenlage zur Religionszugehörigkeit ist auch in anderen Ländern schwach, aber in Liechtenstein noch ausgeprägter als anderswo. Liedhegener und Odermatt (2017) haben die Daten in europäischen Staaten analysiert und dabei selbst in der grundsätzlichen Frage der Religionszugehörigkeit gravierende Lücken und konträre Daten festgestellt. Je nach statisti-scher Erhebungsmethode und Ziel, je nach Fragen, die in Umfragen gestellt werden, ferner je nachdem ob die Befragten eher entlang objektiver Kriterien wie etwa die behördlich re-gistrierte Religionszugehörigkeit antworten oder das subjektive Empfinden und die religiöse und soziale Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft als Massstab nehmen, weichen die gewonnenen Daten stark voneinander ab.

Dass die sprachliche Integration mit der Zeit deutliche Fortschritte macht, zeigen die Daten des Bertelsmann Religionsmonitors von 2017. Halm und Sauer stellen bezogen auf Deutsch-land, Österreich, die Schweiz, Frankreich und das Vereinigte Königreich fest, dass die zweite Generation von Musliminnen und Muslimen mehrheitlich die Sprache des Aufnahmelandes als erste Sprache lernte, eventuell gemeinsam mit der Sprache des Herkunftslandes. Die Spannweite reicht von 57 Prozent (Schweiz) bis 93 Prozent (Frankreich).2

4.2.1 Abgeschlossene Schulausbildung

In Liechtenstein zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Muslimen und Nicht-Muslimen in Bezug auf die abgeschlossene Schulausbildung. 41 Prozent der Muslime gaben in der Sozialkapitalstudie 2008 die Pflichtschule ohne weitere Ausbildung als höchste abge-schlossene Schulausbildung an (10 Prozent bei den Nicht-Muslimen). Bei den höheren Aus-bildungen sind die Muslime jeweils deutlich unterrepräsentiert.

2 Halm und Sauer 2017, S. 28.

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Tabelle 1: Höchste abgeschlossene Schulausbildung (in Prozent)

Abgeschlossene Schulausbildung Muslime Nicht-Muslime Total

Pflichtschule ohne weitere Ausbildung 41 10 11

Lehre/Fachschule 27 41 40

Mittlere Schule ohne Matura 9 15 15

Matura 6 9 9

Hochschule/Universität 4 20 20

Keine Angabe 13 5 5

Gesamt 100 100 100

N 136 4’623 4’759 Quelle: Datensatz zur Sozialkapitalstudie (siehe Hagen 2008a; 2008b).

4.2.2 Sprache: Volkszählungen 1960 bis 2010

Auf die Bedeutung von Bildung und Sprache für die Integration wird in der Literatur regel-mässig verwiesen.3 1960 gaben bei der Volkszählung 97 Prozent an, dass Deutsch ihre Mut-tersprache sei. Nur 3 Prozent hatten eine andere Sprache als Muttersprache. Der Anteil mit Deutsch als Muttersprache sank danach kontinuierlich auf 93 Prozent (1970) und 91 Prozent (1980). Bei den weiteren Volkszählungen wurde statt nach der Muttersprache nach der Hauptsprache gefragt. Der Anteil mit Deutsch als Hauptsprache sank weiter auf 90 Prozent im Jahr 1990 und 88 Prozent im Jahr 2000. Bis zur bisher jüngsten detailliert ausgewiesenen Volkszählung von 2010 war hingegen der Bevölkerungsanteil mit Deutsch als Hauptsprache markant auf 95 Prozent gestiegen und hatte damit schon fast wieder das Niveau von 1960 erreicht.

Abbildung 1: Deutsch und andere Sprachen als Muttersprache (1960, 1970, 1980) beziehungsweise Hauptsprache (1990, 2000, 2010)

Quelle: Volkszählungsdaten, siehe Quellenverzeichnis am Ende dieses Beitrages. Eigene Berechnungen. Im Detail sehen die Volkszählungsdaten wie in der nachstehenden Tabelle aufgeführt aus. 1960 wurde nach der Muttersprache gefragt: 16’101 gaben Deutsch als ihre Muttersprache

3 Siehe hierzu beispielhaft die Analyse und das Fazit der Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“,

Haug/Müssig/Stichs 2009, S. 207–251; 346–347.

97% 93% 91% 90% 88% 95%

0%

20%

40%

60%

80%

100%

1960 1970 1980 1990 2000 2010

Andere Sprache

Deutsch

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an, 311 Italienisch, 64 Französisch, 20 Rätoromanisch und 132 eine andere Sprache. Die wichtigste nichtdeutsche Muttersprache war somit Italienisch und die Zahl derjenigen mit einer nichtdeutschen Muttersprache insgesamt sehr gering. In der Folge nahm die Zahl der Bevölkerung mit einer anderen Sprache als Deutsch als Muttersprache oder Hauptsprache deutlich zu und erreichte in den 10-jährlich erfolgenden Erhebungen der Volkszählung bei der Zählung im Jahr 2000 den Höhepunkt. Bis zur darauffolgenden Volkszählung im Jahr 2010 halbierte sich dagegen die Zahl der Personen mit nichtdeutscher Hauptsprache in allen fremdsprachigen Segmenten.

Tabelle 2: Muttersprache (1960, 1970, 1980) beziehungsweise Hauptsprache (1990, 2000, 2010) der Wohnbevölkerung (Zahl)

Quelle: Volkszählungen.

Sehr detailliert wurden die Hauptsprachen in den Publikationen zu den Volkszählungen 1990, 2000 und 2010 ausgewiesen. Diesen Statistiken ist zu entnehmen, dass Deutsch als Hauptsprache immer mehr Fuss gefasst hat. Während 1990 insgesamt 90,0 Prozent der Wohnbevölkerung Deutsch als ihre Hauptsprache angaben, 2010 nur noch 87,7 Prozent, wa-ren dies im Jahr 2010 bereits 94,5 Prozent. Ein Rückgang der Hauptsprache ist sowohl bei der Gruppe der frühen Rekrutierungsländer des Mittelmeerraumes wie auch bei der Gruppe der slawischen und türkischen Sprachen sowie der Gruppe der weiteren Sprachen festzu-stellen.

4 In der Volkszählung 1990, Band 1, S. 528, werden nur die Hauptsprachen der Ausländer ausgewiesen.

Bei der Volkszählung 2000 (Band Religion und Hauptsprache) wurden dagegen auf S. 17 die Hauptspra-chen zwischen 1990 und 2000 verglichen, sodass auf diese Daten betreffend das Jahr 1990 zurückgegrif-fen werden kann. Amt für Volkswirtschaft 1997; 2005.

Hauptsprache/Muttersprache 1960 1970 1980 19904 2000 2010

Deutsch 16’101 19’893 22’892 26’130 29’205 34’171

Italienisch 311 738 653 730 979 412

Französisch 64 84 152 164 158 39

Rätoromanisch 20 60 102 54 56

Spanisch 438 577 227

Portugiesisch 195 440 284

Sprachen Ex-Jugoslawiens 393 503

Serbisch/Kroatisch 244

Albanisch 61 206 143

Türkisch 471 604 268

Englisch 151 169 59

Andere 132 575 1416 245 410 302

TOTAL 16’628 21’350 25’215 29’032 33’307 36’149

davon fremdsprachig 527 1’457 2’323 2’902 4’102 1’978

Anteil fremdsprachig 3.2% 6.8% 9.2% 10.0% 12.3% 5.5%

Islam in Liechtenstein

65

Tabelle 3: Hauptsprache der Wohnbevölkerung 1990 und 2010 (Zahl und Prozent)

Hauptsprache 1990 2000 2010

Zahl Prozent Zahl Prozent Zahl Prozent

Deutsch 26’130 90.0 29’205 87.7 34’171 94.5

Italienisch, Spanisch, Portugiesisch

1’363 4.7 1’996 6.0 923 2.6

Ex-jugoslawische Sprachen, Türkisch, Albanisch

925 3.2 1’313 3.9 655 1.8

Andere Sprachen 614 1.8 793 1.2 400 1.1

TOTAL 29’032 100.0 33’307 100.0 36’149 100.0

Quelle: Volkszählungen. Eigene Berechnungen.

Weiter kann festgestellt werden, dass sich eine nichtdeutsche Hauptsprache nicht auf Auslände-rinnen und Ausländer beschränkt. Hier spielt die Einbürgerung aufgrund von Heirat, erleichter-ter Einbürgerung oder anderen Einbürgerungswegen eine massgebliche Rolle. Diese Zahl ist al-lerdings verschwindend gering: 37 Männer und 49 Frauen mit liechtensteinischer Nationalität gaben eine andere Sprache als Deutsch als ihre Hauptsprache an. Bei den ausländischen Männern (932) und Frauen (969) war diese Zahl erwartungsgemäss deutlich höher.

Tabelle 4: Hauptsprache der ständigen Bevölkerung nach Heimat und Geschlecht 2010

Hauptsprache Liechtensteiner Ausländer Total Total

Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Alle

Deutsch 11’767 12’292 5’150 4’962 16’917 17’254 34’171

Italienisch 2 2 258 150 260 152 412

Portugiesisch 1 0 146 137 147 137 284

Türkisch 9 5 96 158 105 163 268

Serbisch/Kroatisch 3 5 108 128 111 133 244

Spanisch 4 5 109 109 113 114 227

Albanisch 1 0 64 78 65 78 143

Andere Sprachen 17 32 151 200 168 232 400

Total nichtdeutsche Sprachen

37 49 932 960 969 1’009 1’978

TOTAL 11’804 12’341 6’082 5’922 17’886 18’263 36’149

Quelle: Volkszählung 2010, Band 1, Bevölkerungsstruktur, S. 24 (Tab. 1.01). Ein wiederum etwas modifiziertes Bild zeigt sich, wenn die vorläufigen Zahlen aus der Volks-zählung 2015 herangezogen werden. Die für eine Sonderauswertung vom Amt für Statistik zur Verfügung gestellten Daten,5 die lediglich die Daten von in Liechtenstein wohnhaften 5 An dieser Stelle geht der Dank an das Amt für Statistik, Sachbearbeiter Harry Winkler, für den für diese

Studie relevanten Datenauszug.

Islam in Liechtenstein

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Muslimen beiderlei Geschlechts beinhalten, zeigen explizit, welches die Hauptsprachen der Musliminnen und Muslime in Liechtenstein sind. Die folgende Auswertung bezieht sich auf Frage 1 des Fragebogens, also auf die Frage nach der Sprache, in welcher man denkt und die man am besten beherrscht. Diese Frage wurde 2010 und 2015 identisch gemäss nachstehen-dem Auszug aus dem Fragebogen gestellt.

Abbildung 2: Auszug aus dem Fragebogen zu den Volkszählungen 2010 und 2015

Quelle: Amt für Statistik. http://www.llv.li/files/as/vz-2015-fragebogen.pdf [29.12.2016]

58,3 Prozent der Muslime in Liechtenstein (1’291 Personen) geben an, dass Deutsch ihre Hauptsprache ist. Unter den nichtdeutschen Sprachen ragen Türkisch, Albanisch und Ser-bisch/Kroatisch heraus. Nur in wenigen Fällen sind arabische, afrikanische, westasiatische oder andere Sprachen die Hauptsprache der muslimischen Wohnbevölkerung Liechten-steins. Dies untermauert den Befund des Beitrags über die muslimische Zuwanderung und demografische Zusammensetzung in dieser Studie, wonach die Muslime in Liechtenstein hauptsächlich aus der Türkei und aus dem ehemaligen Jugoslawien, insbesondere dem Ko-sovo (mit Albanisch als zweiter Amtssprache) stammen.

Weit mehr als die Hälfte bezeichnet nicht die Sprache ihres Herkunftslandes oder des Her-kunftslandes ihrer Eltern als die Hauptsprache, sondern Deutsch. Dies ist besonders ausge-prägt bei den 537 Muslimen mit liechtensteinischer Staatsbürgerschaft der Fall, von denen 80 Prozent Deutsch als Hauptsprache angeben. Ferner zeigt sich, dass die Jüngeren, insbe-sondere die 15- bis 29-Jährigen, Deutsch besonders häufig als Hauptsprache angeben: Für 77 Prozent ist dies der Fall. Am tiefsten ist der Wert mit 24 Prozent im Alterssegment ab 65 Jahren.

Islam in Liechtenstein

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Tabelle 5: Hauptsprache der Muslime in Liechtenstein 2015

Häufigkeit Prozent

Deutsch 1’291 58.3

Türkisch 436 19.7

Albanisch 229 10.3

Serbisch und Kroatisch 164 7.4

Arabisch 39 1.8

Afrikanische Sprachen 18 .8

Westasiatische Sprachen 16 .7

Übrige Sprachen 22 1.0

Total andere Sprachen als Deutsch

924 41.7

Gesamt 2’215 100.0

Die Volkszählungsdaten zeigen, dass die Sprache als Integrationshindernis an Bedeutung verliert. Nur rund 5 Prozent der Bevölkerung gaben bei der Volkszählung 2010 an, dass nicht Deutsch ihre Hauptsprache ist. Selbst wenn sie eine andere Sprache als Deutsch als Haupt-sprache aufweisen, ist damit nicht gesagt, dass sie Deutsch nicht beherrschen. Die Zahl der-jenigen, die überhaupt kein Deutsch verstehen und sprechen können, ist vermutlich weit ge-ringer.

4.3 Staatsbürgerschaft, Stimmrecht, Partizipation

In Liechtenstein besteht kein Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer, we-der auf Gemeindeebene noch auf Landesebene. Ob Ausländer/-innen ein Stimm- und Wahl-recht trotz Wohnsitz in Liechtenstein in ihrem Herkunftsland besitzen, ist Angelegenheit der jeweiligen nationalen Gesetzgebung. Handelt es sich um Bürger/-innen von EU-Mitglieds-staaten, steht den betreffenden Personen das Recht zu, in anderen EU-Mitgliedsstaaten, in denen sie Aufenthalt haben, auf kommunaler Ebene mitzubestimmen. Ferner steht ihnen das Recht zu, bei Europäischen Bürgerinitiativen teilzunehmen.

Für Muslime mit liechtensteinischer Staatsbürgerschaft gelten selbstverständlich die Be-stimmungen für liechtensteinische Staatsangehörige. Gemäss Volkszählung 2015 verfügen 537 Personen, die nach eigenen Angaben dem islamischen Glauben angehören, über die liechtensteinische Staatsbürgerschaft, während 1’678 Personen muslimischen Glaubens Ausländer sind. Knapp ein Viertel der Muslime besitzt somit die liechtensteinische Staats-bürgerschaft und kann an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen.

Bei der Volksabstimmung vom 13. Dezember 2015 waren 19’649 Personen landesweit stimmberechtigt. Die 537 Muslime stellen somit 2,7 Prozent der Wählerschaft. Gemessen an der bestehenden Anzahl an Mandaten im Landtag und den Gemeinden würde eine repräsen-tative Vertretung der Muslime bedeuten, dass 0,7 Landtagsmandate auf Muslime entfallen,

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ebenso 3,1 Gemeinderatsmandate (die Vorsteher eingerechnet). Obwohl die Konfessionszu-gehörigkeit der Abgeordneten nicht erhoben wird, ist gegenwärtig nicht davon auszugehen, dass die Muslime in den politischen Gremien ihrem Wähleranteil entsprechend repräsentiert sind. Bezogen auf den Bevölkerungsanteil ist die Unterrepräsentation noch grösser.

4.4 Identität und Integration

4.4.1 Multiple Identität

Bemerkenswert war bei der Befragung 2012 der Umstand, dass die eigene, selbstgefühlte Identität der Befragten in Liechtenstein anders wahrgenommen wird als in deren Herkunfts-land. 9 Personen aus Ex-Jugoslawien gaben an, dass sie sich in Liechtenstein als Liechtenstei-ner oder eher als Liechtensteiner fühlen, während sich 15 eher mit dem Herkunftsland iden-tifizieren (Rest: Beides oder Weder-noch/Keine Angabe). Wenn sie aber im Herkunftsland auf Besuch sind, fühlen sich mehr, nämlich 11, eher oder ganz als Liechtensteiner/-innen.

Bei den Türkischstämmigen fühlten sich 6 in Liechtenstein eher oder ganz als Liechtenstei-ner/-innen, 22 als eher oder ganz Türken. In der Türkei fühlen sich dagegen 11 eher oder ganz als Liechtensteiner/-innen und nur noch 17 eher oder ganz als Türken.

4.4.2 Identität: Liechtenstein, Europa

Es ist wenig erstaunlich, dass sich die Muslime 2008 in Liechtenstein weniger stark als Liech-tensteiner/-innen sahen als Nicht-Muslime, da sie ja zu einem Grossteil nicht über die liech-tensteinische Staatsbürgerschaft verfügten.

Tabelle 6: „Sehen Sie sich selbst als Liechtensteiner/-in?“

Identifikation Muslime (%) Nicht-Muslime (%)

Voll und ganz 16 48

Stark 29 24

Halbwegs 23 13

Kaum/Gar nicht 9 7

Keine Angabe 23 8

Total 100 100

N=Zahl der Antwortenden 136 4’623

Quelle: Datensatz zur Befragung Sozialkapital von 2008 (siehe Hagen 2008a; 2008b). Eigene Sonder-auswertung.

4.4.3 Vergleich mit Österreich und der Schweiz

Interessant ist, wie die Befragten 2008 darauf antworteten, ob es in bestimmten Bereichen in Liechtenstein besser, etwa gleich oder schlechter als in Österreich beziehungsweise der Schweiz sei. Es wurde nach der Lebensqualität, dem Zusammenhalt in der Familie, dem Ge-meinschaftsleben, den finanziellen Verhältnissen, dem Bildungswesen, der Altenpflege, den

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medizinischen Einrichtungen, der Lebensfreude und der Demokratie und Mitbestimmung gefragt.

Die Muslime gaben Liechtenstein im Vergleich mit Österreich in verschiedenen Bereichen deutlich bessere Noten als die Nicht-Muslime. 73 Prozent der Muslime gegenüber 57 Prozent der Nicht-Muslime fanden Liechtenstein in Bezug auf die Lebensqualität besser, 36 gegen-über 12 Prozent bezüglich des Gemeinschaftslebens, 54 gegenüber 39 Prozent in Bezug auf das Bildungswesen, 51 gegenüber 38 Prozent in der Altenpflege, 48 gegenüber 26 Prozent bezüglich medizinischer Einrichtungen, 40 gegenüber 13 Prozent betreffend die Lebens-freude, schliesslich 45 gegenüber 35 Prozent hinsichtlich der Demokratie und Mitbestim-mung.

Zwischen der Schweiz und Liechtenstein wurden generell weit weniger starke Unterschiede festgestellt und zudem sind die Unterschiede der Wahrnehmung zwischen den Muslimen und Nicht-Muslimen nur marginal.

4.4.4 Merkmale Liechtensteins

In einem weiteren Schritt wurde in der Sozialkapitalbefragung 2008 danach gefragt, wie Liechtenstein in Bezug auf verschiedene Merkmale eingeschätzt wird, also als wie fortschritt-lich/innovativ, konservativ, liberal, christlich, sozial, exklusiv, weltoffen und ruhig/friedlich.

Von den Muslimen wurde Liechtenstein etwas fortschrittlicher, sozialer, weltoffener und friedlicher eingeschätzt als von den Nicht-Muslimen. Bei den anderen Merkmalen zeigen sich keine klaren Differenzen.

4.4.5 Akzeptanz in Liechtenstein

In der Umfrage von 2012 zeigten sich die befragten Muslime besorgt über die Akzeptanz in Liechtenstein („Fühlen Sie sich in Liechtenstein willkommen?“). Hierzu antworteten 5 von 30 Befragten mit Herkunftsland Ex-Jugoslawien und 4 von 30 Befragten mit Herkunftsland Türkei mit „Eher nein“ oder „Nein, gar nicht“. 8 dieser 9 Fälle waren Muslime, die sich also besonders stark von Vorurteilen und Ablehnung betroffen fühlen. Die Studie hielt fest, dass sich Befragte mit längerer Aufenthaltsdauer und besseren Deutschkenntnissen eher akzep-tiert fühlten als andere.

4.4.6 Vertrauen in Inst itutionen

In der Sozialkapitalbefragung von 2008 wurde nach dem Vertrauen in zahlreiche Institutio-nen gefragt: Kirche/Pfarrgemeinde, Medien, Bildungssystem, soziale Sicherheit, politisches System und weiteres. Es zeigen sich einige Besonderheiten. Muslime brachten mehreren ab-gefragten Institutionen grösseres Vertrauen entgegen als Nicht-Muslime. Dies betrifft das Bildungssystem, die Gesundheitsversorgung, die innere Sicherheit und das politische Sys-tem. Bei zahlreichen weiteren Institutionen zeigten sich keine signifikanten Differenzen. Hin-gegen war das Vertrauen in die Kirche/Pfarrgemeinde bei den Muslimen tiefer als bei den Nicht-Muslimen. Hier waren sicherlich die christlichen Kirchen im Blickfeld, die aber auch in der nicht-muslimischen Bevölkerung kein sehr grosses Vertrauen geniessen: 3 Prozent der

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Muslime und 5 Prozent der Nicht-Muslime brachten der Kirche/Pfarrgemeinde sehr grosses Vertrauen entgegen, 14 Prozent der Muslime und 24 Prozent der Nicht-Muslime grosses Ver-trauen. 23 Prozent der Muslime und 43 Prozent der Nicht-Muslime äusserten hingegen ein geringes Vertrauen, 33 bzw. 22 Prozent gar kein Vertrauen.

Im Weiteren zeigte es sich, dass beispielsweise in Bezug auf die Gesundheitsversorgung, die innere Sicherheit und das politische System die Muslime stärker polarisiert antworteten: Sie wiesen die höheren Anteile an Personen mit sehr grossem Vertrauen auf, aber auch über-durchschnittlich viele, die gar kein Vertrauen in diese Institutionen haben: 7 Prozent der Muslime verglichen mit 2 Prozent der Nicht-Muslime hatten gar kein Vertrauen in die Ge-sundheitsversorgung, bei der inneren Sicherheit (Justiz, Polizei) waren es 6 gegenüber 3 Pro-zent, in Bezug auf das politische System 12 gegenüber 5 Prozent.

4.4.7 Subjektiv empfundene Integration

Die meisten der 60 Befragten in der Studie von 2012 fühlten sich selbst „eher gut“ oder sogar „sehr gut“ in Liechtenstein integriert. Nur je zwei aus den beiden befragten Gruppen fühlten sich „eher schlecht“ integriert. Auch bei dieser Frage zeigte sich ein Zusammenhang mit den eigenen Deutschkenntnissen: Gute Deutschkenntnisse korrelierten stark mit selbst empfun-dener guter Integration.

4.5 Religionsausübung

Obwohl für die Muslime in Liechtenstein keine deutlich als Moschee erkennbare Gebetsstätte existiert und zudem die muslimische Bevölkerung weder von der religiösen Ausrichtung noch von der ethnischen Herkunft homogen ist, zeigten sich nur wenige der Befragten 2012 unzufrieden hinsichtlich der Ausübung der Religion. Die Frage lautete: „Können Sie die Reli-gion wunschgemäss ausüben?“ Von allen 60 Befragten antworteten nur eine orthodoxe Per-son und zwei muslimische mit „eher nein“. Alle anderen antworteten mit „ja, sehr“ oder „eher ja“.

4.5.1 Religiosität

In der Religionsumfrage von 2008 hatte sich gezeigt, dass die damals befragten Muslime eine engere Bindung an die eigenen religiösen Institutionen aufweisen als Befragte anderer Reli-gionsgemeinschaften und in Summe religiöser sind als die anderen Befragten. Dies zeigt sich etwa in der Frage nach dem Glauben an verschiedene Glaubensinhalte, so etwa die Existenz des Himmels und der Hölle oder von religiösen Wundern wie auch der Häufigkeit des Gebets und von Gottesdienstbesuchen. 27 Prozent der Muslime fanden zudem, dass es die Wahrheit nur in einer Religion gebe, im Vergleich zu 6 bis 8 Prozent in anderen Segmenten.

4.5.2 Sinnfindung, Begeisterung, Ergriffenheit

Auf die Frage, wie stark bestimmte Bereiche (Religion, Spiritualität, Natur, Musik etc.) grosse Gefühle wecken, gaben 32 Prozent der Muslime in der Sozialkapitalumfrage von 2008 an,

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dass dies bei der Religion „sehr stark“ der Fall sei (7 Prozent der Nicht-Muslime). Weitere 26 Prozent gaben „stark“ an (17 Prozent der Nicht-Muslime). Religion vermag also bei Muslimen deutlich stärkere Gefühle zu wecken als bei den Nicht-Muslimen.

Spiritualität kann dagegen bei Nicht-Muslimen häufiger sehr starke oder starke Gefühle aus-lösen: 8 Prozent gaben dies an, verglichen mit 4 Prozent bei den Muslimen. Die Natur kann bei 32 Prozent der Muslime und 47 Prozent der Nicht-Muslime sehr starke Gefühle wecken, bei weiteren 33 beziehungsweise 37 Prozent starke Gefühle. Auch in Bezug auf Musik spra-chen die Nicht-Muslime stärker an: 31 Prozent der Nicht-Muslime gegenüber 26 Prozent der Muslime können durch Musik sehr starke Gefühle erleben, weitere 37 der Nicht-Muslime und 26 Prozent der Muslime starke Gefühle

Bemerkenswert ist auch, dass Muslime sehr viel häufiger starke Gefühle – basierend auf der Religion – gemeinsam mit anderen erleben. 58 Prozent erleben starke oder sogar sehr starke Gefühle durch die Religion, fast alle davon (56 Prozent) in Gemeinschaft mit anderen. Dage-gen erleben nur 24 Prozent der Nicht-Muslime starke oder sehr starke Gefühle mit Religion, dabei deutlich weniger (17 Prozent) gemeinsam mit anderen.

4.6 Gesellschaft, Kontakte

4.6.1 Gesel lschaftl iche Kontakte, Zeitaufwand für verschiedene Lebensbereiche

Zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen zeigen sich einige signifikante Unterschiede in Be-zug auf die sozialen Kontakte (Mehrfachnennungen möglich). In der Sozialkapitalbefragung 2008 wurde erhoben, ob man viel, wenig oder gar keine Zeit für bestimmte Lebensbereiche aufwendet.

Demzufolge verwendeten Muslime weniger Zeit als die anderen für Geselligkeit in Gasthäu-sern und bei Festen, ebenso für die Erwerbstätigkeit sowie für Kunst, Musik oder Tanz. Auch für Sport wendeten sie nach eigenen Angaben weniger Zeit auf als die anderen. Umgekehrt gaben 21 Prozent der Muslime (6 Prozent der Nicht-Muslime) an, viel Zeit für Religion auf-zuwenden, 33 Prozent gaben hierfür wenig Zeit an (Nicht-Muslime: 32 Prozent), während 30 Prozent (Nicht-Muslime: 52 Prozent) angaben, hierfür gar keine Zeit aufzuwenden (Rest: Keine Angabe).

4.6.2 Rat und Hilfe in Krisen und Notlagen

Die Muslime geben in der Befragung an, dass sie weniger Menschen haben, von denen sie in Krisen, Schwierigkeiten und Notlagen Rat und Hilfe bekommen können. 49 Prozent gaben 2008 an, dass dies vier oder mehr Personen seien, bei den Nicht-Muslimen waren es 65 Pro-zent. 4 Prozent der Muslime hatten niemanden (1 Prozent der Nicht-Muslime), 5 Prozent nur eine Person (3 Prozent der Nicht-Muslime). Das soziale Netz scheint somit bei den Muslimen signifikant kleiner als bei den anderen.

Signifikante Differenzen zeigen sich auch bei der Frage, aus welchem Kreis die unterstützen-den Personen stammen (Mehrfachnennungen möglich). Neben einigen nicht-signifikanten

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Variablen zeigten sich bei folgenden klare Differenzen: 52 Prozent der Muslime fanden Un-terstützung in der Partnerschaft (67 Prozent der Nicht-Muslime), 49 Prozent der Muslime konnten sich auf den Freundeskreis abstützen (66 Prozent der Nicht-Muslime), andererseits fanden 24 Prozent der Muslime (auch) Hilfe im Ausland (10 Prozent der Nicht-Muslime).

4.6.3 Aussprache, Vertrauen, Unterstützung, Anerkennung

Auf die Frage, bei wem man offene Aussprache und Vertrauen findet, antworteten in der So-zialkapitalstudie von 2008 65 Prozent der Muslime, aber nur 49 Prozent der Nicht-Muslime, dass sie dies sehr oft in der Familie finden. Bei Freunden und Bekannten fanden die Muslime dagegen etwas weniger oft Unterstützung als die anderen. Deutlich ist der Unterschied be-treffend Aussprache und Vertrauen im religiösen Umfeld: 12 Prozent der Muslime fanden dies dort sehr oft (nur 2 Prozent der Nicht-Muslime), 8 Prozent oft (4 Prozent der Nicht-Muslime).

Das religiöse Umfeld ist zwar für Muslime wie Nicht-Muslime nicht so bedeutend wie etwa die Familie, Freunde oder Bekannte, aber für die Muslime doch bedeutender als für die Nicht-Muslime.

Bei der Frage, bei wem man Anerkennung und Bestätigung erlebt, zeigt sich ein ähnliches Bild: 17 Prozent der Muslime gaben an, dass sie dies im religiösen Umfeld sehr oft oder im-mer wieder bekommen, während dies bei den Nicht-Muslimen nur 6 Prozent angaben.

Das gleiche Bild zeigt sich bei der Frage, von wem man Hilfe und Unterstützung bekommt: wiederum gaben 17 Prozent der Muslime an, dass dies im religiösen Umfeld geschieht, wäh-rend sich bei den Nicht-Muslimen nur 6 Prozent darauf stützen können.

Bei vielen weiteren Variablen (Familie, Partnerschaft, Freunde und Bekannte etc.) zeigen sich dagegen keine signifikanten Unterschiede.

4.6.4 Unverständnis und Unfreundlichkeit

Einzig in Bezug auf den Arbeitsplatz zeigt sich ein Unterschied, ob man auf Unverständnis oder Unfreundlichkeit stösst: 5 Prozent der Muslime gaben 2008 an, dass sie sehr oft Unver-ständnis und Unfreundlichkeit am Arbeitsplatz erleben, während dies bei den anderen nur 2 Prozent sind.

4.6.5 Grösse des Bekanntenkreises

In Bezug auf die Grösse des Bekanntenkreises – also Menschen, die zwar nicht zum engsten Freundeskreis gehören, aber mit denen man immer wieder zusammenkommt – zeigt sich kein signifikanter Unterschied. Je rund ein Drittel gaben 2008 vier bis zehn beziehungsweise elf bis dreissig Personen an. Das können Personen aus der weiteren Verwandtschaft sein, Arbeitskollegen/Arbeitskolleginnen, Personen aus der Nachbarschaft, dem kulturellen Be-reich oder andere.

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Signifikante Unterschiede zeigen sich bei der Frage, aus welchen Bereichen diese Bekannten stammen (Mehrfachnennungen möglich): Die Muslime gaben weniger oft an, dass diese Be-kannten aus dem Bereich des Sports (14 vs. 33 Prozent) oder aus dem Bereich der Kultur stammen (3 vs. 14 Prozent). Dagegen stammen diese Bekannten bei den Muslimen signifi-kant häufiger aus dem religiösen Bereich (26 Prozent) als bei den Nicht-Muslimen (8 Pro-zent).

4.6.6 Ehrenamt

23 Prozent der Muslime und 35 Prozent der Nicht-Muslime gaben 2008 an, dass sie ehren-amtlich tätig seien, das heisst freiwillig und unbezahlt tätig sind für andere, die nicht im ei-genen Haushalt leben.

Auf die Frage, in welchen Bereichen dieses Ehrenamt erfolgt (Kultur, Umweltschutz, Sport, religiöse Dienste, politische Arbeit etc. – Mehrfachnennungen möglich) zeigen sich vor allem zwei deutliche Unterschiede: Knapp die Hälfte der Muslime, die ein Ehrenamt ausüben, taten dies im religiösen Bereich, während dies bei den Nicht-Muslimen nur 10 Prozent waren. Um-gekehrt gaben 13 Prozent der Nicht-Muslime ein politisches Ehrenamt an, jedoch überhaupt keine Muslime.

Ferner gab die Hälfte der Muslime an, das Ehrenamt rein privat auszuüben, während dies nur bei 21 Prozent der Nicht-Muslime der Fall war. Diese sind viel stärker innerhalb einer Orga-nisation oder Gruppe ehrenamtlich tätig.

Nur je rund ein Drittel der befragten Muslime und Nicht-Muslime gab an, künftig keine eh-renamtliche Tätigkeit übernehmen zu wollen oder gab keine Antwort auf diese Frage. Ein Grossteil wäre also potenziell zu ehrenamtlicher Tätigkeit bereit.

Aus einer Vielzahl von Bereichen, in welchen man sich eine allfällige ehrenamtliche Tätigkeit vorstellen könnte (ältere Menschen, Jugendliche, Kranke, Flüchtlinge, Nachbarschaft, Sport-verein, Feuerwehr u.a.) zeigen sich bei vier Bereichen signifikante Unterschiede. Die Muslime mit potenzieller Bereitschaft zum Ehrenamt bekunden eine solche Bereitschaft überdurch-schnittlich oft im Flüchtlingswesen und in religiösen Diensten: 30 Prozent können sich ein Ehrenamt im Flüchtlingswesen vorstellen (16 Prozent der Nicht-Muslime), 12 Prozent im re-ligiösen Dienst (6 Prozent der Nicht-Muslime). Die Nicht-Muslime zeigen dagegen über-durchschnittliche Präferenzen bei Sportvereinen: 38 Prozent der potenziell ehrenamtlich Tä-tigen können sich ein künftiges Engagement in einem Sportverein vorstellen (23 Prozent der Muslime). Ähnlich ist das Verhältnis in Bezug auf Tiere: 34 Prozent der Nicht-Muslime und 16 Prozent der Muslime könnten sich hierfür eine ehrenamtliche Tätigkeit vorstellen.

Dies deckt sich mit Erhebungen in anderen Staaten. Liedhegener stellte für die Schweiz in einer Sekundäranalyse der Daten des Freiwilligen-Monitors 2009 der Schweiz fest, dass ei-nerseits die Religiosität einen Zusammenhang mit dem ehrenamtlichen Engagement auf-weist.6 Insbesondere zwischen den stark Religiösen (Frommen) mit einem überdurch-schnittlichen und den Säkularen mit einem unterdurchschnittlichen Engagement zeigt sich

6 Liedhegener 2016.

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ein Unterschied. Zwischen den Religionsgemeinschaften zeigen sich ebenfalls deutliche Dif-ferenzen: Im Segment der Engagierten sind beispielsweise die Muslime stark unterrepräsen-tiert. Am stärksten engagieren sich die Evangelisch-Freikirchlichen und die Evangelisch-Re-formierten. Die Ursache liegt allerdings nicht so sehr in der Religion, sondern weit mehr in der Staatsbürgerschaft, da sich Schweizer Bürger/-innen stärker ehrenamtlich engagieren als Migranten und Migrantinnen beziehungsweise Ausländerinnen und Ausländer. Eine Kor-relation zwischen Religiosität und ehrenamtlichem Engagement wurde auch beim Religions-monitor 2008 der Bertelsmann Stiftung in Bezug auf Deutschland festgestellt: 19 Prozent der Nichtreligiösen engagierten sich, 26 Prozent der Religiösen, 43 Prozent der Hochreligiösen.

Halm und Sauer stellen in der Studie zuhanden der Deutschen Islam Konferenz, basierend auf einer breit angelegten Umfrage unter muslimischen Gemeinden, fest, dass hauptamtliche Kräfte und eine fortschreitende Organisationsentwicklung ein bisher brachliegendes Poten-zial an ehrenamtlicher Tätigkeit aktivieren könnten.7

4.7 Individuelles Wohlergehen

4.7.1 Lebenssinn, Enttäuschungen, Gefühlslage

Weitere Fragen in der Sozialkapitalumfrage von 2008 waren, ob das Leben bis jetzt klare Ziele oder einen Sinn hatte, ob man schon von Menschen, auf die man gezählt hatte, ent-täuscht worden ist und wie oft man schon das Gefühl hatte, in einer ungewohnten Situation zu sein und nicht zu wissen, was man tun soll. In all diesen Fragen zeigen sich nur marginale Differenzen zwischen den Muslimen und Nicht-Muslimen.

Hingegen zeigt sich eine signifikante Differenz bezüglich der Gefühlslage zur Zeit der Um-frage. 22 Prozent der Muslime gaben an, fröhlich, ausgeglichen und glücklich zu sein, vergli-chen mit 36 Prozent der Nicht-Muslime. Weitere 28 Prozent der Muslime waren meistens fröhlich, verglichen mit 39 Prozent der Nicht-Muslime. Zusammen sind dies 50 Prozent der Muslime gegenüber 74 Prozent der Nicht-Muslime, die (mindestens meistens) fröhlich, aus-geglichen und glücklich sind.

4.7.2 Angst und Ärger

Die folgende Frage erhob, wie oft Gefühle von Angst und Ärger auftreten, speziell in Bezug auf Kriminalität, Gewalt, Ärger mit Nachbarn, Ärger mit Verkehrsstaus, Ärger mit Lärm- oder Geruchsbelästigung, Angst vor Verlust der Arbeit sowie Angst vor Verlust von Ansprüchen aus der Sozialhilfe oder Notstandshilfe sowie vor Verlust des Aufenthaltsrechts.

Deutliche Differenzen zeigen sich nur in Bezug auf Verlust der Arbeit und Verlust von An-sprüchen. 11 Prozent der Muslime gaben an, „sehr oft“ Angst vor Arbeitsplatzverlust zu ha-ben, 16 Prozent „öfter“. Bei den Nicht-Muslimen waren es 3 beziehungsweise 6 Prozent. Auf der anderen Seite der Skala hatten 37 Prozent der Muslime nie Angst vor Verlust der Arbeit, verglichen mit 57 Prozent der Nicht-Muslime.

7 Halm und Sauer 2015, S. 106.

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Ähnlich präsentiert sich das Bild in Bezug auf Ansprüche aus Sozialhilfe und auf andere staat-liche Leistungen: 11 Prozent der Muslime hatten „sehr oft“ Angst vor einem Verlust, 20 Pro-zent „öfter“. Bei den Nicht-Muslimen waren es 3 beziehungsweise 5 Prozent. Nie Angst hatten 40 Prozent der Muslime und 67 Prozent der Nicht-Muslime.

4.7.3 Bewertung verschiedener Lebensaspekte

Die nächsten Fragen betrafen die Wohn- und Lebensqualität, Qualität von Arbeit, Freizeit, die finanziellen Verhältnisse, menschliche Beziehungen, Gesundheitszustand, Lebensfreude, Zu-friedenheit mit dem eigenen Leben sowie dem eigenen Leben vor drei Jahren, also 2005.

Bei den meisten Variablen zeigen sich deutliche Differenzen. In allen Fällen bewerteten die Nicht-Muslime ihre eigene Situation deutlich positiver als die Muslime.

Tabelle 7: Bewertung verschiedener Lebensaspekte (Nur „sehr gut“ und „sehr schlecht“; in Prozent)

Aspekt Sehr gut Sehr schlecht

Muslime Nicht- Muslime

Muslime Nicht- Muslime

Lebensqualität 48 59 2 0

Arbeit, Beruf 16 34 10 2

Freizeit 21 44 2 1

Finanzielle Verhältnisse 10 25 12 2

Menschliche Beziehungen 21 37 3 1

Gesundheitszustand 29 38 7 1

Zufriedenheit mit eigenem Leben

26 40 4 1

Eigenes Leben vor drei Jahren 25 33 5 2

Quelle: Datensatz zur Sozialkapitalstudie (siehe Hagen 2008a; 2008b). Eigene Sonderauswertung.

4.7.4 Beurteilung Gesundheitszustand und Pflegebedürftigkeit

Eine weitere Frage war, wie der Gesundheitszustand in den letzten zwölf Monaten beurteilt wird. Fünf Antwortkategorien waren vorgegeben, von völlig gesund bis über einen Monat lang andauernde Schmerzen. Annähernd gleich viele taxierten sich als völlig gesund, nämlich 54 Prozent der Muslime und 57 Prozent der Nicht-Muslime. Bei der nächsten Stufe (geringe Dauerbeeinträchtigung) lag der Anteil bei den Nicht-Muslimen mit 32 Prozent höher als bei den Muslimen mit 21 Prozent. Die folgenden beiden Stufen wurden von beiden Segmenten kaum angekreuzt. In der Kategorie mit der stärksten Beeinträchtigung (über einen Monat lang andauernde Schmerzen) waren die Muslime mit 9 Prozent indes deutlich stärker betrof-fen als die Nicht-Muslime mit 3 Prozent.

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10 Prozent der Muslime gaben auch an, dass sie pflege- oder betreuungsbedürftig seien, wäh-rend dies bei den Nicht-Muslimen nur 2 Prozent waren. Dieses Ergebnis ist umso erstaunli-cher, als die Muslime in den Altersklassen ab 60 Jahren unterrepräsentiert sind. Tatsächlich zeigt es sich, dass die Pflegebedürftigkeit bei den Nicht-Muslimen erst im Alterssegment der über 70-Jährigen auf 8 Prozent ansteigt, während sich in den jüngeren Altersklassen zwi-schen 0,7 und 2,5 Prozent als pflege- oder betreuungsbedürftig erklären. Bei den Muslimen hingegen bewegte sich der Anteil Pflege- und Betreuungsbedürftiger gemäss Umfrage auch in den jüngeren Segmenten zwischen rund 8 und 15 Prozent.

Bei der Anschlussfrage, von wem man Betreuung oder Pflege bekommt (Angehörige, Nach-barschaft, Betreutes Wohnen, Pflegeheim etc.), zeigt sich zwischen den Muslimen und Nicht-Muslimen kein signifikanter Unterschied.

Der Blick auf die wenigen verfügbaren Daten zeigt ein Bild der Lage der Muslime in Liechten-stein, die in groben Zügen mit derjenigen in den Nachbarstaaten vergleichbar ist. In Bezug auf den höchsten formalen Bildungsabschluss wie auch der Sprachkompetenz sind Defizite zu vermuten, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in beruflichen Positionen und dem Ein-kommen widerspiegeln, auch wenn kein kausaler statistischer Nachweis aufgrund der weni-gen vorhanden Daten erbracht werden kann. Im Durchschnitt geben Muslime in Liechten-stein ferner an, dass sie ein kleineres soziales Netz, weniger gesellschaftliche Kontakte und eine geringere Akzeptanz in der Gesellschaft aufweisen. Eher schlechter wird auch das indi-viduelle Wohlergehen und die Gesundheit bewertet. Die Religion spielt bei den Zugewander-ten Musliminnen und Muslimen eine etwas grössere Rolle als bei den anderen Einwoh-nern/innen Liechtensteins. Ob dies unmittelbar mit der Religion des Islam und deren spezi-fischen Dogmen zusammenhängt oder einer konservativ-traditionellen Kultur des Her-kunftslandes, kann aufgrund der Daten weder bestätigt noch widerlegt werden.

Quellen

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Amt für Volkswirtschaft (1983): Volkszählung. 2. Dezember 1980. Band 1. Demographische Merkmale, Wirtschaftssektoren, Haushaltungen. Vaduz.

Amt für Volkswirtschaft, Abteilung Statistik (2005): Liechtensteinische Volkszählung 2000. Bevölkerungsstruktur. Band 1. Vaduz.

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Sozialkapitalstudie 2008

Befragung zu Sozialkapital und Gesundheit der Regierung des Fürstentums Liechtenstein. Fragebogen „Zusammen in Liechtenstein leben“. Eine Studie der Regierung zum sozialen Miteinander der Bevölkerung. Hagen Consult. 2008 (siehe Literatur unter Hagen, Ange-lika 2008a, 2008b, 2008c).

Gesundheitsbefragung und weitere Statistiken

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Amt für Statistik (2014): Liechtensteinische Gesundheitsbefragung 2012. Vaduz.

Literatur

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Hagen, Angelika (2008b): Befragung zu Sozialkapital und Gesundheit des Fürstentums Liech-tenstein. Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung. Powerpoint-Darstellung. Im Auftrag des Ressorts Soziales. Hg. v. Hagen Consult. Wien.

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Halm, Dirk/Sauer, Martina (2015): Soziale Dienstleistungen der in der Deutschen Islam Kon-ferenz vertretenen religiösen Dachverbände und ihrer Gemeinden. Studie im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsfor-schung. Institut an der Universität Duisburg-Essen. Berlin: Bundesministerium des Inne-ren. Online abrufbar.

Haug, Sonja/Müssig, Stephanie/Stichs, Anja (2009): Muslimisches Leben in Deutschland. Stu-die im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Berlin: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Online abrufbar.

Kaufmann, Bruno (2017): Der transnationale Aktivbürger – Zu den bisherigen Erfahrungen mit der Europäischen Bürgerinitiative. In: Werner Höbsch und Wilfried Marxer (Hg.): Community Education. Stark durch Bildung. Vaduz/Bendern: Europäisches Institut für in-terkulturelle und interreligiöse Forschung/Liechtenstein-Institut, S. 166–176.

Krech, Volkhard (2008): Exklusivität, Bricolage und Dialogbereitschaft. Wie die Deutschen mit religiöser Vielfalt umgehen. In: Bertelsmann Stiftung (Hg.): Religionsmonitor. Güters-loh: Gütersloher Verlagshaus, S. 33–43.

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Liedhegener, Antonius (2016): Ein kleiner, aber feiner Unterschied. Religion, zivilgesell-schaftliches Engagement und gesellschaftliche Integration in der Schweiz. In: Edmund Arens, Martin Baumann und Antonius Liedhegener (Hg.): Integrationspotenziale von Re-ligion und Zivilgesellschaft. Theoretische und empirische Befunde. Zürich, Baden-Baden: Pano Verlag; Nomos Verlagsgesellschaft (Schriftenreihe des Zentrums für Religion, Wirt-schaft und Politik, 14), S. 121–181.

Liedhegener, Antonius/Odermatt, Anastas (2017): Umstrittene Religionszugehörigkeit. Eu-ropas religiöse Pluralität zwischen vertrauten Kategorien und neuen religiösen Identitä-ten. In: Edmund Arens, Martin Baumann, Antonius Liedhegener, Wolfgang W. Müller und Markus Ries (Hg.): Religiöse Identitäten und gesellschaftliche Integration. Zürich, Baden-Baden: Pano Verlag; Nomos Verlagsgesellschaft (Schriftenreihe des Zentrums für Reli-gion, Wirtschaft und Politik, 18), S. 69–104.

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Marxer, Wilfried (Hg.) (2012): Migration. Fakten und Analysen zu Liechtenstein. Bendern: Liechtenstein-Institut.

Marxer, Wilfried/Krüggeler, Michael (2015): Liechtenstein. In: Thomas Riggs (Hg.): Encyclo-pedia of Religious Practices. Second Edition. Farmington Hills: Gale (Vol. 3), S. 313–318.

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5 MUSLIMISCHES LEBEN IN LIECHTENSTEIN

Günther Boss

Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern von muslimischen Vereinigungen in Liechten-

stein zeigen, dass in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart mit zahlreichen Schwie-

rigkeiten und Vorurteilen zu kämpfen ist, sodass sich auch Frustration breit macht. Die Ter-

roranschläge im Namen des Islam haben die Sachlage noch erschwert. Aber auch unabhän-

gig davon hatten und haben Muslime Schwierigkeiten, würdige Gebets- und Begegnungs-

räume zu beziehen, auch fehlt nach wie vor eine muslimische Begräbnisstätte. Neben man-

gelnder gesellschaftlicher Akzeptanz wird auch fehlende politische und finanzielle Unter-

stützung beklagt.

5.1 Methodische Zugänge und Grenzen

Dieses Kapitel unternimmt den Versuch, die gegenwärtige Glaubens- und Lebenswelt der muslimischen Bevölkerung in Liechtenstein zu beschreiben. Zu diesem Aspekt liegt kaum ak-tuelle Literatur vor. Der wichtigste Aufsatz zu diesem Thema von Martina Sochin und Wilfried Marxer stammt aus dem Jahr 2008; er bleibt grundlegend, kann aber die jüngsten Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre nicht abbilden.1

Für die folgenden Ausführungen wurden deshalb nebst Literaturrecherchen weitere metho-dische Mittel gewählt. Zum einen wurden aktuelle Internetrecherchen durchgeführt. Diese bleiben inhaltlich begrenzt, da die muslimischen Vereine und Kreise in Liechtenstein im In-ternet kaum präsent sind (zu den Gründen siehe unten). Aufschlussreicher waren deshalb direkte Gespräche und Leitfadeninterviews mit Personen, die muslimischen Glaubens sind oder durch ihre institutionelle Verantwortung über spezifische Einblicke in die muslimische Lebenswelt verfügen. In der Regel wurden die muslimischen Gesprächspartner einzeln zu ausführlichen Leitfadeninterviews eingeladen (Fragenkatalog zu den Leitfadeninterviews im Anhang). Die Fachleute aus den verschiedenen Institutionen wurden eher zu spezifischen Themenfeldern befragt. Die Gespräche fanden zwischen Juli 2016 und März 2017 statt.2

Im Rahmen dieser schlank konzipierten Studie konnten nur ausgewählte, möglichst reprä-sentative Stimmen eingefangen werden. Diese können aber später durch weitere Stimmen oder Perspektiven ergänzt werden. Folgende Personen standen uns im Rahmen dieser Studie für Gespräche zur Verfügung: Claudia Lins, Integrationsbeauftragte beim Ausländer- und Passamt (Vaduz), Suat Türkyilmaz, Vizepräsident des Türkischen Vereins und Mitglied der Grünen Moschee in Triesen, Halit Oergen, Vorstandsmitglied der Islamischen Gemeinschaft

1 Marxer/Sochin 2008. Ferner auch Hinweise auf Religionsgemeinschaften bei Dubach 2011. 2 Alle Leitfadeninterviews sind protokolliert und am Liechtenstein-Institut hinterlegt.

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des Fürstentums Liechtenstein und Mitglied der Moschee in Sevelen (SG), Selma Kahveci, Vi-zepräsidentin des Türkischen Frauenvereins, Blagica Alilovic, damals Geschäftsführerin der Stiftung Mintegra in Buchs (SG), Aglaia Maria Mika, Islambeauftragte der Diözese Feldkirch.

Die beiden liechtensteinischen Moscheegemeinden wie auch die meisten unserer muslimi-schen Gesprächspartner sind deutlich von einem türkischen Hintergrund geprägt. Dieser starke Einfluss des türkisch geprägten Islam, dem auch Erfahrungen mit einem laizistischen Staat inhärent sind, entspricht auch den Migrationsbewegungen nach Liechtenstein seit den 1970er-Jahren. In Liechtenstein sind besonders die Türken und teils die Bosnier durch ei-gene Organisationen präsent. Andere, wie etwa die Kosovo-Albaner, sind weder in islami-schen Gemeinschaften noch in Ausländervereinen organisiert, sodass es schwierig ist, an sie zu gelangen.

Pauschalisierend lässt sich sagen, dass die Moscheen und Verbände in Vorarlberg und Liech-tenstein mehrheitlich von türkischstämmigen Gruppen geprägt sind, während sich Bosnier eher nach Buchs (SG) orientieren.3 Generell gilt, dass man in den muslimischen Kreisen mit grenzüberschreitenden Bewegungen rechnen muss, da sich Muslime in der Regel nach den Moscheen oder Verbänden orientieren, die ihrer Herkunftskultur am nächsten stehen. Diese grenzüberschreitenden Bewegungen lassen sich im Übrigen bei allen Migrantinnen und Mig-ranten beobachten, nicht nur bei solchen muslimischen Glaubens.

Im Folgenden sollen die Interviews in Form einer thematisch gegliederten Paraphrase wie-dergegeben werden. Die Gesprächspartner werden dabei nicht namentlich zitiert, sondern einheitlich mit dem Kürzel GP (für Gesprächspartner, Gesprächspartnerin) wiedergegeben. Das Ziel ist es, die Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung der Musliminnen und Mus-lime in Liechtenstein möglichst authentisch wiederzugeben. Erfasst werden soll die musli-mische Binnenperspektive, nicht eine kritische Aussenperspektive. Die Auskünfte und Selbsteinschätzungen der muslimischen GP werden denn auch nicht durch andere Stimmen oder islamkritische Positionen aus der Fachliteratur kommentiert, sondern möglichst direkt abgebildet.

Es gehört zu den Grundsätzen der modernen Religionswissenschaft und Religionsphäno-menologie, dass man eine Religion zunächst aus den zentralen Inhalten (Bibel, Koran usw.) und den alltäglichen, verbreiteten Verhaltensweisen erschliessen muss.4 Jede Religion kennt auch extreme Ränder und fundamentalistische Auswüchse. Diese sollen hier nicht ausge-blendet werden, aber man kann eine Religion nicht ausschliesslich von diesen extremen Rän-

3 Siehe auch Marxer/Sochin 2008, S. 220, die erwähnen, dass sich die Türkische Vereinigung im Fürsten-

tum Liechtenstein und die Islamische Gemeinschaft im Fürstentum Liechtenstein zwar als Vertreter für alle Muslime Liechtensteins sehen, aber einer türkischen Tradition entstammen. Es wird darauf hinge-wiesen, dass sich die aus Bosnien-Herzegowina und Albanien stammenden Muslime vornehmlich in ei-nem Gebetsraum in Buchs (SG) treffen.

4 Vgl. dazu Artikel „Religionswissenschaft“, in: Eicher (Hg.), Handbuch, S. 422–430; Artikel „Religionswis-senschaft“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Band 8, Spalte 1081–1082.

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dern her verstehen. In diesem Sinne sind die folgenden Ausführungen einer religionsempa-thischen Perspektive verpflichtet, welche die durchschnittlich-alltägliche Lebenswelt der Muslime in Liechtenstein erschliessen möchte.5

In allen Gesprächen kam zum Ausdruck, dass es für die Muslime eine mitunter beklemmende Erfahrung ist, dass sie immer dann von offizieller Seite befragt werden, wenn irgendwo auf der Welt ein islamistischer Terroranschlag verübt wurde – so etwa nach den Anschlägen in New York vom 11. September 2001 oder nach dem Anschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ in Paris am 7. Januar 2015. Dies empfinden sie als belastend, zumal sie sich grund-sätzlich von Gewalt und insbesondere dem islamistischen Terrorismus distanzieren. Die GP für diese Studie, die hauptsächlich der zweiten Generation der türkischen Einwanderer an-gehören, haben einheitlich beschrieben, dass mit dem 11. September 2001 auch in Liechten-stein „wie ein Schalter umgelegt“ wurde. Hatten sie die Integration in ihrer Kindheit und Ju-gend in den 1980er- und 1990er-Jahren als unproblematisch und das gesellschaftliche Klima als freundlich erlebt, so änderte sich mit 9/11 vieles. Eine Art von Generalverdacht erfasste alle Muslime, auch solche, die seit Jahrzehnten friedlich in Liechtenstein leben.

5.2 Zwei Moscheegemeinden

5.2.1 Ausgangspunkt Türkischer Verein

Bereits im Jahr 1974 wurde in Liechtenstein der Türkische Verein gegründet.6 In der Schule Ebenholz in Vaduz stand dem Verein bis 1992 ein Raum zur Verfügung. Dieser hatte jedoch nicht den Charakter eines Gebetsraums oder einer Moschee, sondern diente für Versamm-lungen, Begegnungen und Feiern. Aus den Reihen des Türkischen Vereins stammten auch der Wunsch und die Initiative, in Liechtenstein eine Moschee einzurichten und, wenn möglich, einen Imam anzustellen. Wie mehrere GP heraushoben, soll es durch die Vermittlung von Fürst Franz Josef II. ermöglicht worden sein, im alten Wasserwerk in Eschen, Reservoir Güdingen, ab 1980 eine Moschee zu unterhalten. Die Moschee trägt seit damals den Namen „Grüne Moschee“, was dem grünen Anstrich des Wasserwerks zu verdanken sei; gleichzeitig mag der Name an die berühmte Grüne Moschee in Bursa (Türkei) erinnern.

Der Türkische Verein entfaltete zunächst viele Aktivitäten, die nicht unmittelbar religiösen Charakter hatten (Türkischer Fussballverein beim USV Eschen-Mauren, Türkische Elternver-einigung usw.). Ihre religiöse Sozialisierung haben unsere GP massgeblich in ihrer Familie erfahren oder durch das Selbststudium. Erst später kam die Unterweisung in der Moschee hinzu, während der islamische Religionsunterricht an den Primarschulen ein junges Projekt ist, das sie allerdings durch ihre Kinder kennen. Vom katholischen oder evangelischen Reli-gionsunterricht an der Primarschule waren sie dispensiert. Einzelne haben aber freiwillig daran teilgenommen und sich dadurch auch Kenntnisse der christlichen Religion angeeignet.

5 Als vorbildlich für eine solche Methodik kann für Deutschland das aktuelle Buch des Islamwissenschaft-

lers Mathias Rohe (2016) gelten. Rohe gelingt es eindrücklich, die muslimische Alltagskultur in Deutsch-land zu beschreiben, ohne dabei Themen wie Islamismus oder muslimischen Extremismus auszublen-den.

6 Siehe auch Marxer/Sochin 2008, S. 219–222; kurze Darstellung auch bei Dubach 2011, S. 187–189.

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Generell lässt sich feststellen, dass in den Kreisen der engagierten Muslime die Kenntnisse des Christentums wesentlich ausgeprägter sind als die Kenntnisse des Islam unter Christen. Wie unsere GP betonten, baue der Islam, der ja religionsgeschichtlich jünger ist, auf dem Ju-dentum und dem Christentum auf, Maria und Jesus etwa spielten auch im Koran eine Rolle, so gebe es von vornherein viele Bezugspunkte.

5.2.2 Grüne Moschee in Triesen

Die Moscheegemeinde von Eschen hat sich um das Jahr 1990 in zwei Gemeinden aufgespal-ten, sodass heute zwei liechtensteinische Moscheegemeinden existieren. Hier soll zunächst die Moscheegemeinde beschrieben werden, welche weiterhin den Namen „Grüne Moschee“ trägt. Danach wird die jüngere Moscheegemeinde von Sevelen (bzw. Nendeln) charakteri-siert.

Heute befindet sich die Grüne Moschee nicht mehr in Eschen, sondern im Industriegebiet von Triesen, eingemietet in einer Industriehalle.7 Sie wird weiterhin vom Türkischen Verein ge-tragen, der sich nach einem Unterbruch 2001 neu konstituierte und den Namen „Türkische Vereinigung in Liechtenstein“ annahm.8

Aus der Grünen Moschee in Eschen musste die Moscheegemeinde 1997 aufgrund von „si-cherheitstechnischen und baugesetzlichen Mängeln“ ausziehen.9 Die GP sprechen unumwun-den von einem „Rauswurf“. Die Moschee sei in Eschen nicht mehr erwünscht gewesen; die Fenster seien mehrmals mit Steinen eingeworfen worden, sodass man Gitter montieren musste. Das Reservoir Güdingen wurde 1997 abgebrochen.

Die Grüne Moschee sei immer wieder bemüht gewesen, einen Imam an ihrer Moschee anzu-stellen, der gut ausgebildet sei und auch türkisch sprechen könne. Von 1982 bis 1984 war Ramzan Eren als erster Imam an der Grünen Moschee tätig. Bis Ende der 1990er-Jahre musste man dann wieder ohne hauptamtlichen Imam auskommen. Gegenwärtig ist mit Adem Dursum an der Grünen Moschee in Triesen ein Imam fest angestellt. Er wird vom Attaché in Bern, also von der türkischen Religionsbehörde Diyanet (siehe Glossar im Anhang) gestellt und entlöhnt. Er wohnt mit seiner Familie in Triesen (der Islam kennt keine Zölibatsver-pflichtung) und geniesst in der Moscheegemeinde hohes Ansehen. Auch seine Frau sei theo-logisch ausgebildet und unterrichte an der Moschee.

Die Grüne Moschee in Triesen ist demnach die einzige Moschee, die derzeit einen fest ange-stellten Imam in Liechtenstein kennt. Die Entschädigung erfolgt über die türkische Religions-behörde Diyanet, die Moscheegemeinde muss aber für die Mietkosten für den Imam und für die Moschee und weitere Kosten aufkommen. Ein GP beziffert die anfallenden monatlichen Kosten auf CHF 5’500. Mit Ausnahme des Jahres 2006 erhalte die Moscheegemeinde kein Geld von Land oder Gemeinden. Derzeit zählt der Verein 126 Mitglieder, die monatlich einen

7 Siehe Gemeinderatsbeschluss der Gemeinde Triesen vom 12. November 1996. 8 Siehe dazu die Statuten der Türkischen Vereinigung im Fürstentum Liechtenstein, 7. November 2000. 9 Liechtensteiner Volksblatt, 18.7.1995 und 19.9.1997 sowie Landtagsprotokoll vom 18.9.1997 (Nr.

42/1997).

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Beitrag von CHF 25 bezahlen. Weitere Einkünfte müssen über Vereinsaktivitäten oder Spen-den generiert werden. Die GP empfinden es als ungerecht, dass sie durch ihre staatlichen Steuern die katholische Kirche und die evangelischen Kirchen mitfinanzieren, selber aber keine Finanzmittel für ihre religiösen Aktivitäten vom Staat erhalten.10

Der wichtigste Anlass in der Moschee ist jeweils das wöchentliche Freitagsgebet. Es findet am Freitagmittag statt – die Zeit richtet sich nach dem Sonnenstand, im Februar beispiels-weise um 12.45 Uhr. Für die muslimischen Männer ist es religiöse Pflicht, am Freitag in Ge-meinschaft zu beten. Frauen können daran auch teilnehmen. Dies kommt auch vereinzelt vor, ist aber weder Pflicht noch Konvention. Ein GP schätzt die Zahl der Männer am Freitagsgebet in Triesen auf etwa 90. Davon seien etwa 60 Männer mit türkischem Hintergrund anwesend, etwa 30 aus anderen geografischen Räumen; auch Asylbewerber, die gerade in der Gegend seien, nähmen teil. Die Moschee sei prinzipiell für alle offen. Das Gebet finde in arabischer Sprache statt, sodass ein Muslim in jeder Weltgegend unmittelbar am Freitagsgebet teilneh-men könne – etwa analog zur lateinischen Liturgie in der katholischen Kirche vor dem Zwei-ten Vatikanischen Konzil. Ein GP führte aus: „Wir schauen auf Reisen einfach im Internet, wo die nächste Moschee liegt“. Die Unterweisung/Predigt des Imam erfolge in der Grünen Mo-schee dann in türkischer und/oder deutscher Sprache.

Die GP legen höchsten Wert darauf, dass der Imam für sie die Rolle eines Vorbeters, Seelsor-gers und Korandeuters habe, aber keine politische Funktion wahrnehme. Sie würden die staatlichen Gesetze sowie die Unterscheidung von Religion und Staat voll und ganz akzeptie-ren. Es gehöre eher zum schiitischen Islam, also z. B. zum Iran, dass der Imam zugleich eine politische Funktion ausfülle. Ihnen als Sunniten sei dies fremd. Im Übrigen spiele für sie die Unterscheidung in Sunniten, Schiiten, Aleviten usw., wie man sie in Handbüchern finde, im alltäglichen Leben praktisch keine Rolle (Erläuterungen zu den religiösen Richtungen des Is-lam im Stichwortverzeichnis).

10 Nur in den Jahren 2006 und 2007 waren für die beiden Vertreter der muslimischen Religionsgemein-

schaften zusammen CHF 25’000 budgetiert, vgl. RA 2006/238-2501.02 und RA 2007/455-2501.2. Der ECRI-Bericht aus dem Jahr 2013 hält in Art. 69 fest: „ECRI wurde von den Behörden informiert, dass die muslimische Gemeinschaft keinerlei finanzielle Hilfen vom Staat erhält, weil sie es versäumt hat, sich als Dachorganisation zu organisieren, conditio sine qua non für den Bezug von Mitteln.“ – Die römisch-ka-tholische Kirche sowie die beiden evangelischen Kirchen werden direkt aus dem allgemeinen Staats-haushalt alimentiert. Der überwiegende Teil wird dabei durch die politischen Gemeinden getragen. Der Bericht und Antrag betreffend die Neuregelung des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemein-schaften Nr. 114/2012 hält folgende Zahlen fest: „Von Seiten des Landes werden pro Jahr Beiträge in der Höhe von CHF 300’000 an die katholische Kirche (Erzbistum Vaduz), CHF 40’000 an die evangelische Kirche und CHF 10’000 an die evangelisch-lutherische Kirche ausgerichtet. Daneben trägt das Land Kos-ten für den Religionsunterricht in der Höhe von rund CHF 260’000. Die Beiträge der Gemeinden an die katholische Kirche für deren laufende Kosten (Personal, Betriebskosten, usw.) betragen durchschnittlich rund CHF 5,6 Millionen pro Jahr (inklusive der Kosten für den Religionsunterricht auf Primarschul-ebene). Die Beiträge der Gemeinden an die anderen Religionsgemeinschaften betragen durchschnittlich rund CHF 200’000. Daneben tragen die Gemeinden derzeit noch Kosten für die Instandhaltung zahlrei-cher kirchlicher Gebäude (Kirchen, Kapellen, Pfarrhäuser), die im Durchschnitt rund CHF 1,5 Millionen pro Jahr betrugen. Diese durchschnittlichen Zahlen wurden aufgrund der Daten für die Jahre 2002 bis 2010 ermittelt“ (BuA 2012/114, S. 21). Siehe dazu auch: Amt für Auswärtige Angelegenheiten (Hg.) 2007, S. 91.

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5.2.3 Die Moscheegemeinde in Nendeln beziehungsweise Sevelen

Um das Jahr 1990 spaltete sich die Moscheegemeinde auf, sodass heute zwei liechtensteini-sche Moscheegemeinden existieren, die aber beide einen türkischen Hintergrund aufweisen. Neu wurde nebst dem Türkischen Verein die „Islamische Gemeinschaft im Fürstentum Liech-tenstein“ (IGFL) gegründet.11 Die heutige Generation kann nicht mehr präzise angeben, wel-ches damals der exakte Grund für die Aufspaltung war. Ein GP vermutet, dass sich die IGFL eher der Milli-Göruş-Bewegung (siehe Glossar) nahe fühle.

Die IGFL unterhielt zunächst eine Moschee in Buchs, ab 1994 in Triesen bei der Holzbau Schurte AG, wo sie etwa 12 Jahre blieb. Der anschliessende Umzug nach Nendeln erwies sich als Fiasko. Die Gemeinschaft hatte in Nendeln eine Industriehalle gemietet, doch die politi-sche Gemeinde stellte sich auf den Standpunkt, dass die Nutzung als Gebetsraum nicht zo-nenkonform sei.12 Nach längerem Gerichtsstreit über alle drei Instanzen musste die IGFL in Nendeln ausziehen und hing in der Luft, bis sie in Sevelen geeignete Räume mieten konnte.

Lokal der Islamischen Gemeinschaft in Sevelen.

Nach Schätzungen eines GP nahmen in Nendeln ca. 120 Personen am Freitagsgebet teil, in Sevelen seien es aktuell etwa 100. Etwa 60 Prozent davon seien Muslime aus Liechtenstein. Neben vorwiegend türkischen Muslimen seien auch Schweizer, Bosniaken und Albaner in ihrer Moschee vertreten. Auch hier findet das Gebet auf Arabisch statt; die Predigt wird in einem festen Zyklus entweder auf Türkisch oder auf Deutsch gehalten.

11 Siehe dazu auch die Statuten der Islamischen Gemeinschaft im Fürstentum Liechtenstein, 16. Mai 1995. 12 Siehe dazu den Entscheid des Staatsgerichtshofes, StGH 2007/91; Protokoll des Gemeinderats Eschen

vom 6. Dezember 2006.

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Auch die IGFL finanziert sich über freiwillige Gönnerbeiträge und Spenden. Ein Grossteil der Mitglieder würde 100 CHF pro Monat beitragen. Transparenz sei ihnen hier wichtig, jeder Rappen sei deklariert. Die IGFL finanziere sich selber und sei unabhängig von Finanzzuschüs-sen aus dem Ausland. Diese finanzielle Autonomie sei der Gemeinschaft sehr wichtig. Nur für gewisse Anlässe (Pilgerfahrten o.ä.) suche man die Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Islamischen Gesellschaft oder mit Diyanet.

Die Moschee in Sevelen kann denn auch keinen Imam bezahlen. Hier übernehmen „Laien“ die Funktion des Imam. Ein Imam sei für sie ein reiner Vorbeter, dies sei für sie das klassische Verständnis eines Imam, und diese Aufgabe könne auch gut ein kompetentes Mitglied über-nehmen. Die IGFL bietet in ihrer Moschee auch verschiedene Kurse mit Religionsunterricht für Kinder und Jugendliche an. Dazu sind mehrere Gemeindemitglieder ehrenamtlich tätig. Ein GP betont, die Religionslehrer seien darum bemüht, den jungen Menschen zu zeigen, dass die Terrormiliz IS und ähnliche islamistische Gruppen mit dem wahren Islam nichts zu tun hätten. Sie würden eine intensive Sensibilisierungsarbeit leisten, damit aus der Moschee in Sevelen keine radikalisierten Jugendlichen entwachsen.

5.3 Weitere Aktivitäten der Moscheegemeinden

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Liechtenstein zwei Moscheegemeinden kennt, in Triesen und in Sevelen (mit Vereinssitzen in Triesen und Nendeln). Sie sind in Liechtenstein privatrechtlich organisiert, als Vereine eingetragen und nach eigenen Angaben nicht in ein grösseres ausländisches Netzwerk direkt eingebunden. Sie finanzieren sich autonom über Mitgliederbeiträge und Spenden. Eine Ausnahme bildet die Moscheegemeinde in Triesen in-sofern, als ihr Imam durch die türkische Religionsbehörde Diyanet zur Verfügung gestellt wird. Diese Zusammenhänge sind aber bekannt und transparent.

Die IGFL im Fürstentum Liechtenstein sucht intensiv nach Räumlichkeiten in Liechtenstein, um von Sevelen wieder nach Liechtenstein zu wechseln („Wir sind doch ein Liechtensteiner Verein.“). Dies sei jedoch nahezu unmöglich, da jeweils grosse Hindernisse im Weg stünden, eine geeignete Lokalität zu finden (Fragen der Zonenkonformität, Ablehnung durch Anwoh-ner usw.).

Jede Moscheegemeinde kennt nebst dem Freitagsgebet auch weitere Angebote wie Religi-onsunterricht, Koranschule usw. Die Gemeinden vermitteln auch Angebote für Pilgerfahrten, dies allerdings in Zusammenarbeit mit entsprechenden grösseren, ausländischen Organisa-tionen.

Einen eigentlichen Initiationsritus wie die christlichen Kirchen mit der Taufe würden sie nicht kennen, sagen unsere GP. Die erste Voraussetzung für einen Muslim sei die Glaubens-bekundung: „Es gibt keine Gottheit ausser Gott und Muhammad ist der Gesandte Gottes.“13 Sie würden auch keine missionarische Tätigkeit entfalten oder andere Menschen für den Is-lam gewinnen wollen. Die Aktivitäten der sogenannten „Salafisten“ mit ihrer Koranverteilak-tion, die in Deutschland für Debatten sorgen, seien ihnen fremd.

13 Vgl. dazu Artikel „Glaubenszeugnis (isl.)“, in: Heinzmann (Hg.) 2013, S. 269.

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Im Internet sind die beiden Moscheegemeinden kaum präsent, weder in Form einer Webseite noch in den Social Media. Unsere GP begründen dies einerseits mit dem Mangel an finanziel-len und personellen Ressourcen für solche Aktivitäten, andererseits mit einer gewissen Frustration wegen anhaltender Anfeindungen. So hat etwa die IGFL erst eine Startseite auf-geschaltet (www.igfl.li), die Webseite aber bisher nicht weiter komplettiert.

Für die Öffentlichkeit veranstalten beide Moscheegemeinden jährlich einen „Tag der offenen Tür“ beziehungsweise einen „Tag der offenen Moschee“. Regelmässig sind dabei Vertreter des Fürstenhauses zu Gast, aber auch weitere politische Kreise (siehe Presseberichterstat-tung im Anhang).

Die Rolle der Frauen innerhalb der islamischen Bevölkerung bedürfte einer eingehenderen Untersuchung, als es im Rahmen dieser Studie möglich ist. Die befragten Frauen fühlen sich jedenfalls ebenso emanzipiert wie ihre Zeitgenossinnen anderer Religionen und Weltan-schauungen. Im Türkischen Frauenverein sind einige Musliminnen organisiert. Sie veranstal-ten Weiterbildungen und Kurse, organisieren aber auch Basare oder Verpflegungsstände, mit denen sie die Aktivitäten der Moschee mittragen.

Während einige GP es für einfacher halten, wenn Ehen zwischen Musliminnen und Muslimen geschlossen werden, haben andere GP auch Erfahrungen mit gemischtreligiösen Ehen und sehen darin „überhaupt kein Problem“.

Was die moralische Observanz anbelangt, findet man im Islam heute dieselbe Bandbreite wie in anderen Religionen. Von strenger Observanz, die auf den Konsum von Schweinefleisch und Alkohol ganz verzichtet und nur Halal-Fleisch14 isst, bis hin zu einem moralischen Laxismus finden sich alle Spielarten.

Dass sich Jugendliche wieder stärker mit dem Islam und entsprechender Ethik und Symbolik identifizieren, wie es teilweise in Deutschland beobachtet wird,15 können unsere GP für Liechtenstein nicht bestätigen. Der allgemeine Trend zur Säkularisierung erfasse auch die muslimischen Jugendlichen, und die religiösen Traditionen würden sich deutlich verlieren.

5.4 Von Diskriminierungen im Alltag bis zu Islamophobie

Wie erwähnt, beschreiben die GP die 2000er-Jahre bezüglich der gesellschaftlichen Akzep-tanz in Liechtenstein als wesentlich schwieriger als die Jahrzehnte davor. Sie distanzieren sich auch in unseren Gesprächen, bevor eine entsprechende Frage überhaupt gestellt wird, von jeder Form des islamistischen Terrors. „Warum soll ich mich andauernd entschuldigen für Taten, die mit dem Islam nichts zu tun haben? Was habe ich als Muslim mit einem Jugend-lichen zu tun, der tätowiert ist und Drogen nimmt und nun beim IS Menschen umbringt und im Fernsehen kommt? Das ist kein Muslim!“ – So ähnlich führt ein GP aus.

Auf die Frage nach Diskriminierungen im Alltag oder gar Formen der Islamfeindschaft fallen unseren GP viele Erlebnisse in Liechtenstein ein. Diskriminierungen erlebten sie sehr oft, z. B. bei der Miete von Wohnungen, bei der Lehrstellensuche ihrer Kinder, bei der Stellensuche

14 Halal bedeutet das „religiös Erlaubte“, siehe Heinzmann (Hg.) 2013, S. 593. 15 Siehe Rohe 2016, S. 88.

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usw. Besonders schwierig sei es für Frauen, die sich dafür entschieden hätten, bedeckt zu gehen, d. h. ein Kopftuch zu tragen. Für Akademikerinnen sei es mit Kopftuch nahezu unmög-lich, in Liechtenstein eine Stelle zu finden; dies sei eher im urbanen Raum möglich. Ein GP hatte eine Wohnung gemietet. Als seine Vermieterin feststellte, dass seine Frau Kopftuch trägt, wollte sie den Mietvertrag unmittelbar auflösen. Eine GP hat von ihren Nachbarn sofort zu hören bekommen, jetzt stinke es dann die ganze Zeit nach Knoblauch. „Dabei koche ich doch selten mit Knoblauch“, führt sie weiter aus. Es ist also oft eine Mischung aus religiösen Vorbehalten und kulturellen Vorurteilen, die zu Diskriminierungen im Alltag führen.

Solche Diskriminierungen im Alltag scheinen demnach weit verbreitet zu sein. Daneben er-lebten die GP aber auch gewisse Benachteiligungen durch staatliche Behörden. Insbesondere empfinden sie es als frustrierend, dass sie bis heute keine angemessene Räumlichkeit für eine Moschee in Liechtenstein finden konnten.

Einen aktiven Dialog mit der katholischen Kirche oder den weiteren christlichen Kirchen er-leben die GP in Liechtenstein nicht. Das Erzbistum Vaduz kennt keinen Islambeauftragten oder eine Dialogkommission Kirche-Islam, wie es heute praktisch in allen katholischen Diö-zesen mit einem namhaften muslimischen Bevölkerungsanteil üblich ist.16 Im Gegenteil, die Erfahrungen mit der katholischen Kirche seien eher niederschmetternd. Der Imam habe wie-derholt eine katholische Kirche aufgesucht, um dort still zu beten – bis ihn der Ortsgeistliche der Kirche verwiesen habe.

Stark islamkritische oder islamfeindliche Angriffe, wie sie in Leserbriefen oder Interviews in Liechtenstein immer wieder vorkommen (siehe Anhang mit Überblick über Medienberichte), finden durch die Muslime keine Entgegnung. Warum? Unsere GP sagen, dass sie es leid seien, immer wieder auf dieselben Vorwürfe reagieren zu müssen, und dass sich bei ihnen auch eine gewisse Frustration eingestellt habe, was den Stellenwert der Muslime in Liechtenstein anbelange.

5.5 Moscheegemeinden in Buchs

„Der Rhein ist für die Muslime keine Grenze“, betont eine GP. So ist festzustellen, dass insbe-sondere die Bosniaken eher die Moscheegemeinden in Buchs aufsuchen. Die Stadt Buchs weist einen muslimischen Bevölkerungsanteil von über 10 Prozent auf (Schweiz: rund 5 Pro-zent), was auch daran liegen dürfte, dass Buchs für Einreisende aus dem östlichen Raum sozusagen die erste Schweizer Stadt und Anlaufstelle nach der Grenze bildet.

Drei Moscheen sind in Buchs von Bedeutung. Die Bosniaken unterhalten eine Moschee an der Fabrikstrasse 16, die etwas grosszügiger ausgestaltet ist als die Grüne Moschee in Triesen. Für die ganzjährige Finanzierung eines Imam fehlt aber das Geld, sodass nur zeitweise ein Imam dort tätig ist. Während in Bosnien heute eine gezielte Finanzierung der Moscheege-meinden aus dem arabischen Raum beobachtet wird, dürfte eine solche Auslandsfinanzie-rung im eher unbedeutenden Buchs kaum der Fall sein – sonst hätte man schon lange einen

16 Die Diözese Feldkirch unterhält beispielsweise ein „Büro für Interkulturelles, Lebensgestaltung und

Ethik“, welches auch für den „Dialog mit dem Islam“ zuständig ist. Die Schweizerische Bischofskonferenz (SBK) hat eine „Kommission für den Dialog mit den Muslimen“ eingesetzt.

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Imam angestellt. Zudem würde eine stark politisch gefärbte Botschaft des Imam in Buchs sofort auffallen und auf Misstrauen in der Stadtpolitik stossen, wie es die GP einschätzen. Präsident des „Islamischen Kulturzentrums der Bosniaken“ ist derzeit Herr Selmir Loznica.

Nebst dieser grossen Moschee der Bosniaken kennt Buchs zwei weitere kleine Moscheege-meinden: Die Kosovo-Albaner unterhalten den „Albanisch-Islamischen Verein ‚Bashkim’ Buchs/FL“. Die mazedonischen Albaner die „Xhamia-El Nur’“. Vorbeter bzw. Imam ist dort Zeqiria Rustemi, der u.a. auch in einem lebhaften Dialog und Austausch mit der katholischen Pfarrei Buchs steht.

Islamischen Religionsunterricht an den Schulen kennt man in Buchs nicht (Wil/SG bilde eine Ausnahme im Kanton St. Gallen), wohl aber HSK-Unterricht (Heimatliche Sprache und Kul-tur). Auch die Moscheegemeinden in Buchs müssen sich durch freiwillige Beiträge und Spen-den finanzieren; sie erhalten keine Beiträge vom Staat.

5.6 Desiderate und Wünsche der Muslime in Liechtenstein

„Wir haben es doch gut hier“, sagt ein GP. Allerdings wünsche er sich eine angemessene Mo-schee, die Weiterführung des islamischen Religionsunterrichts an der Primarschule und end-lich einen islamischen Friedhof. Ein anderer GP sagt unumwunden, dass es die Muslime in Österreich oder in der Schweiz besser hätten als in Liechtenstein. Insbesondere das Islamge-setz in Österreich sei vorbildlich.

Ob der Wunsch besteht, gemäss dem geplanten Religionsgemeinschaftengesetz eine staatlich anerkannte Religion zu werden? Diesen Wunsch bejahen viele GP; die Forderung des Staates, dafür einen gemeinsamen Dachverband zu bilden, beantworten sie aber unterschiedlich. Ei-nige GP halten es derzeit für unmöglich, die verschiedenen muslimischen Gruppen zusam-menzuführen und in einer gemeinsamen Organisation zu vereinen. Andere GP halten einen solchen Dachverband für sinnvoll und problemlos realisierbar.

Insgesamt wünschen sich alle GP eine stärkere Unterstützung durch die Regierung und die Behörden für ihre Anliegen. So wäre es etwa hilfreich, wenn die Regierung ihren Wunsch nach einer angemessenen Moschee oder nach einem islamischen Friedhof aktiv mittragen und unterstützen würde. Ein GP schlägt vor, die Regierung solle doch einen Islambeauftrag-ten benennen.

Mehrere GP wiesen auf den ECRI-Bericht über Liechtenstein aus dem Jahr 2013 hin. Dort seien ihre Desiderate und offenen Problemstellungen präzise benannt worden. Die „Euro-pean Commission against Racism and Intolerance (Commission européenne contre le ra-cisme et l’intolerance)“ erarbeitet alle fünf Jahre einen solchen Bericht. Die einschlägigen Be-merkungen zum Islam in Liechtenstein aus dem Bericht 2013 seien hier ausführlich zitiert.17 Sie können zugleich wichtige Punkte dieses Kapitels nochmals bündeln:

17 ECRI-Bericht über Liechtenstein 2013, Artikel 67–69.

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INFOBOX ZU DEN „MUSLIMISCHEN GEMEINSCHAFTEN“, AUSZUG AUS DEM ECRI-BERICHT 2013, ART. 69 69. ECRI stellt fest, dass es weiterhin an geeigneten Räumlichkeiten für religiöse und kul-turelle Aktivitäten sowie Friedhöfen mangelt, auf denen die Verstorbenen gemäß musli-mischer Sitte beigesetzt werden können. In Bezug auf Ersteres behaupten Vertreter der muslimischen Gemeinschaften, dass sie 2010 gezwungen wurden, die Nutzung eines Ge-betsraumes aufgrund Nichteinhaltung der städtebaulichen Verordnung für dieses Gebiet aufzugeben, obwohl man ihnen zuvor die Konformität bestätigt hatte. Laut diesen Ver-tretern wurde in den folgenden zwei Jahren kein geeigneter kultureller/Gebetsraum ge-funden. Darüber hinaus wollte kein Rechtsanwalt ihre Sache vor Gericht vertreten, wodurch sie den Eindruck gewannen, von der Gesellschaft ausgegrenzt zu sein. ECRI ist der Meinung, die Behörden sollten diesbezüglich den Dialog mit dieser Gemeinschaft fortführen, um den Inhalt ihrer Beschwerden zu bestimmen und eine geeignete Lösung zu finden. ECRI stellt des Weiteren fest, dass es bezüglich des Baus einer Moschee keine Entwicklungen gegeben hat. Laut den Vertretern der muslimischen Gemeinschaft ist dies vorwiegend auf unzureichende Mittel für den Kauf eines Grundstücks und die Durchfüh-rung der erforderlichen Bauarbeiten zurückzuführen. ECRI wurde von den Behörden in-formiert, dass die muslimische Gemeinschaft keinerlei finanzielle Hilfen vom Staat er-hält, weil sie es versäumt hat, sich als Dachorganisation zu organisieren, conditio sine qua non für den Bezug von Mitteln. ECRI erinnert in diesem Zusammenhang an das Urteil des EGMR im Fall Hasan und Chaush v. Bulgarien, Nr. 30985/96 vom 26. Oktober 2000, in dem es feststellte, dass ein staatliches Vorgehen mit dem Ziel, eine religiöse Gemein-schaft gegen ihren Willen zu einer einzelnen Organisation zusammenzufassen, einen Ein-griff in die Religionsfreiheit darstellt.

Quelle: ECRI – Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (2013): ECRI-Bericht über Liechtenstein (Vierte Prüfungsrunde). Verabschiedet am 5. Dezember 2012/Veröffentlicht am 19. Feb-ruar 2013. Strasbourg.

Quellen

ECRI – Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (2013): ECRI-Bericht über Liechtenstein (Vierte Prüfungsrunde). Verabschiedet am 5. Dezember 2012/Veröffent-licht am 19. Februar 2013. Strasbourg.

Regierung des Fürstentums Liechtenstein [2013]: Entwurf des Abkommens zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und dem Heiligen Stuhl. Online unter http://www.regie rung.li/downloads (abgerufen am 25. Juli 2017).

Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2012): Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein betreffend die Neuregelung des Verhältnisses

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zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, BuA 2012/114, vom 2. Oktober 2012, RA 2012/1873-5800.

Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2012): Stellungnahme der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein zu den anlässlich der ersten Lesung betreffend die Neuregelung des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaften aufge-worfenen Fragen vom 4. Dezember 2012, Nr. 154/2012.

Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2011): Vernehmlassungsbericht der Regierung betreffend die Neuregelung des Verhältnisses zwischen Staat und Glaubensgemeinschaf-ten vom 31. Mai 2011, RA 2011/1419-5800.

Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2008): Vernehmlassungsbericht der Regierung betreffend Neuordnung des Staatskirchenrechts vom 10. Juni 2008.

Literatur

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Rohe, Matthias (2016): Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, München: C.H. Beck.

Islam in Liechtenstein

91

6 ISLAMISCHER RELIGIONSUNTERRICHT

Günther Boss

Seit dem Schuljahr 2007/2008 wird versuchsweise ein islamischer Religionsunterricht an

verschiedenen Primarschulen Liechtensteins angeboten. Er orientiert sich betreffend Lehr-

plan und Lehrmittel aktuell weitgehend an der österreichischen Praxis. Im Schuljahr

2016/2017 besuchten 67 von 180 Primarschülern und Primarschülerinnen muslimischen

Glaubens den freiwilligen islamischen Religionsunterricht. Mit einer im Juli 2017 erlassenen

Verordnung wurde der Wahlunterricht für Kinder mit islamischem Glaubensbekenntnis

rechtlich verankert.

Die religiöse Bildung nimmt eine Schlüsselrolle ein für eine friedliche Begegnung zwischen Religionen und Kulturen. Kinder und Jugendliche sollten mit ihrem eigenen religiösen Hin-tergrund vertraut sein, aber auch interreligiöse Kenntnisse über andere Religionen und Tra-ditionen erwerben. Seit 2007 existiert im Primarschulbereich in Liechtenstein das Angebot des islamischen Religionsunterrichts. Nach den positiv ausgefallenen Evaluationen des An-gebots bestehen derzeit Bestrebungen, dieses Integrationsprojekt dauerhaft zu institutiona-lisieren.

6.1 Islamischer Religionsunterricht als Integrationsprojekt

Der islamische Religionsunterricht an den Primarschulen in Liechtenstein ist ein relativ jun-ges Angebot. Es besteht seit dem Schuljahr 2007/2008 im Sinne eines Integrationsprojektes.

Traditionell wurde und wird an den Primarschulen des Landes konfessioneller Religionsun-terricht durch die katholische oder die evangelische(n) Kirche(n) erteilt. Dafür sind auch die gesetzlichen Grundlagen in Liechtenstein gegeben.1 Auch das geplante Religionsgemein-schaftengesetz (RelGG) sieht vor, dass an den Primarschulen der konfessionelle Religionsun-terricht weiterhin integriert bleibt.2

1 Dafür einschlägig sind besonders Art. 15 und Art. 16 LV sowie Art. 1 und Art. 8 Schulgesetz (SchulG),

LGBl. 1972 Nr. 7. 2 Vgl. Protokoll der Landtagssitzung vom Dezember 2012. In dieser Sitzung wurde das Religionsgemein-

schaftengesetz (RelGG) in zweiter Lesung beraten (Traktandum 18 vom 20. Dezember 2012). Es konnte und kann allerdings noch nicht in Kraft treten und ist noch nicht kundgemacht, da es an ein – bisher nicht paraphiertes – Konkordat mit dem Heiligen Stuhl gekoppelt wurde. Das RelGG von letzter Hand sieht weiterhin konfessionellen Religionsunterricht im Primarschulbereich vor; an den weiterführenden Schulen soll aber nurmehr das Fach „Religion und Kultur“ angeboten werden. Konfessioneller Religions-unterricht würde demnach an den weiterführenden Schulen wegfallen. Siehe auch Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein betreffend die Neuregelung des Verhält-nisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, BuA 2012/114, vom 2. Oktober 2012 (darin enthal-ten die Vorschläge für die Abänderung der Verfassung, der Entwurf für ein RelGG sowie verschiedene weitere vorzunehmende Gesetzesanpassungen).

Islam in Liechtenstein

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Die Regierung hat für das Schuljahr 2007/2008 die Einführung eines islamischen Religions-unterrichts beschlossen, der allerdings nicht den Status des konfessionellen Religionsunter-richts einnimmt. Bei der Beantwortung einer Kleinen Anfrage des Landtagsabgeordneten Jürgen Beck vom 25. April 2007 betonte Regierungschef Otmar Hasler, dass es sich um die versuchsweise Einführung „im Sinne eines Pilotprojekts“ handle. „Beim islamischen Religi-onsunterricht geht es also um ein gezieltes Integrationsprojekt und nicht um die Frage des Stellenwerts von Religionsgemeinschaften.“3

Bis heute (2017), also seit rund 10 Jahren, konnte das Projekt „Islamischer Religionsunter-richt“ an den Primarschulen fortgeführt werden. Die bisherigen Evaluationen des Projekts durch das Schulamt sind durchwegs positiv ausgefallen. Deshalb wird gegenwärtig seitens der zuständigen staatlichen Behörden die Frage bearbeitet, welche (gesetzlichen) Vorausset-zungen geschaffen werden müssten, um mittelfristig von der Integrationsmassnahme zu ei-ner Dauerlösung zu gelangen. Das Schulamt ist mit seiner Koordinationsstelle für den Fach-bereich Religion federführend mit diesen Fragestellungen befasst.4

6.2 Die Hintergründe und Intentionen: Einführung als Pilotprojekt

Die von der Regierung nach den Terroranschlägen in New York vom 11. September 2001 eingesetzte Arbeitsgruppe „Integration der Muslime“ (siehe Beitrag von Günther Boss über Muslimisches Leben in Liechtenstein) identifizierte schon bald das Bedürfnis, den muslimi-schen Schülerinnen und Schülern eine qualifizierte religiöse Unterweisung an den staatli-chen Schulen anzubieten. Damit sollte die religiöse Sozialisierung in der Familie oder in den Moscheegemeinden ergänzt werden durch einen zeitgemässen islamischen Religionsunter-richt, der pädagogisch und didaktisch zum liechtensteinischen Schulwesen passt und regel-mässig evaluiert wird.

Am 23. August 2006 hat die Regierung zu diesem Zweck eine Unterarbeitsgruppe eingesetzt, welche sich spezifisch mit dem Thema „Religionsunterricht für Primarschüler islamischer Religionszugehörigkeit“ befassen sollte.5 Dieser Unterarbeitsgruppe gehörten Dr. Stefan Hirschlehner, Referent für Religionsunterricht am Schulamt, sowie Dr. Yücel Özkaya, Vertre-ter der Arbeitsgruppe „Integration von Muslimen“ und gewählter Vertreter des Türkischen Vereins sowie der Islamischen Gemeinschaft, an. Die beiden genannten Personen dürfen als wichtige Mentoren und Initiatoren des Projekts „Islamischer Religionsunterricht“ gelten.

3 Ebd. – Ähnlich lautet die Antwort der Regierung auf eine Kleine Anfrage der Landtagsabgeordneten Ka-

rin Rüdisser-Quaderer zum „Inspektorat zum Religionsunterricht“ vom 30. September 2015. Regie-rungsrätin Aurelia Frick führte darin aus: „Etwas anders gelagert ist der islamische Religionsunterricht. Er wird im Rahmen der liechtensteinischen Integrationspolitik vom Schulamt organisiert und angebo-ten, ohne Bestandteil des ordentlichen Schulbetriebs zu sein.“

4 Der Verfasser dankt Dr. theol. Sandra Büchel-Thalmaier, Koordinationsperson für den Fachbereich Reli-gion am Schulamt, für die wertvollen Informationen zum Thema. Unter dem Aktenzeichen 4119.1 sind beim Schulamt alle wichtigen Dokumente zum Projekt „Islamischer Religionsunterricht“ archiviert. Schulamtsleiter Arnold Kind sei gedankt für die Möglichkeit, im Rahmen dieser Studie Einsicht in diese Akten nehmen zu dürfen.

5 RA 2005/1659-2501.2.

Islam in Liechtenstein

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Ihnen wurde im März 2007 durch die Regierung auch die Organisation und Evaluation des islamischen Religionsunterrichts übertragen.6

Die Aufgabe der Unterarbeitsgruppe war es, eine Bedarfsabklärung vorzunehmen sowie ei-nen Lehrplan und ein Konzept für die Durchführung eines islamischen Religionsunterrichts zu unterbreiten.7 Von Beginn an war geplant, dass dieser Religionsunterricht durch qualifi-zierte Fachlehrpersonen in deutscher Sprache abzuhalten ist und lediglich auf Primarschul-stufe angeboten wird. Die deutsche Sprache wurde als Voraussetzung für eine gelingende Integration angesehen. An den weiterführenden Schulen besteht zudem bereits das Wahl-pflichtfach „Religion und Kultur“, in dessen Lehrplan die grossen Weltreligionen, und ent-sprechend auch der Islam, feste Unterrichtsinhalte sind.

Auf der Grundlage dieser Abklärungen hat die Regierung in ihrer Sitzung vom 27. März 2007 folgenden Beschluss gefasst: „2. Die Regierung fördert und unterstützt die Durchführung ei-nes Religionsunterrichts für Primarschüler muslimischer Religionszugehörigkeit in deut-scher Sprache im Sinne eines Pilotprojektes im Schuljahr 2007/2008.“8

Die Kosten für dieses Pilotprojekt wurden nicht durch das Budget des Schulamts getragen, sondern durch das Konto 103.365.00 „Integrationsmassnahmen“ beim Ausländer- und Pass-amt (APA). Die Finanzierung durch das APA wurde in den Folgejahren beibehalten. Zur ad-ministrativen Vereinfachung werden neu seit 2016 die Lehrpersonen mittels Arbeitsvertrag vom Schulamt angestellt.

Da im Schulgesetz eine direkte Rechtsgrundlage für islamischen Religionsunterricht an staat-lichen Schulen fehlt, stützte sich die Unterarbeitsgruppe auf die Verordnung vom 19. Dezem-ber 1995 über die Förderung der Kinder von Wanderarbeitnehmern in der Muttersprache und in heimatkundlicher Landeskunde.9 Dort wird in Artikel 3, Absatz 1 festgehalten: „Die Förderung beinhaltet insbesondere die Zurverfügungstellung von a) Randstunden im Rah-men des Stundenplanes; b) Schulraum im erforderlichen Ausmass“.

Die Orientierung an dieser Verordnung ist nicht ganz abwegig, zumal auch in den umliegen-den Ländern der islamische Religionsunterricht vielfach aus den Heimatkunde-Curricula er-wachsen war. Die Verordnung entspricht aber nicht in allen Punkten dem Projekt „Islami-scher Religionsunterricht“, da der Unterricht gerade nicht in den jeweiligen Muttersprachen erteilt werden sollte, sondern auf Deutsch.

Im August 2007 startete an fünf Primarschulen der islamische Religionsunterricht: Vaduz-Äule, Schaan, Nendeln, Mauren und Eschen.10 Insgesamt nahmen im ersten Jahr 86 Schüle-rinnen und Schüler am islamischen Religionsunterricht teil (Stand April 2008). Die bisher

6 RA 2007/796-2501.2. 7 Zur Bedarfsabklärung erhielten die Eltern muslimischer Kinder im Dezember 2006 einen Informations-

brief mit entsprechendem Fragetalon (Schulamt Vaduz, StH/4119.1). Zudem wurde im Frühjahr 2007 eine öffentliche Informationsveranstaltung durchgeführt.

8 RA 2007/796-2501-2 sowie für das folgende Schuljahr 2008/2009 RA 2008/1876-2501.2. 9 LGBl. 1996 Nr. 7. 10 Die folgenden Angaben sind entnommen aus: Stefan Hirschlehner, Bericht Islamischer Religionsunter-

richt vom 25. April 2008, Schulamt Vaduz, Aktenzeichen 4119.1. – Beachte dazu auch den früheren, von Dr. Stefan Hirschlehner und Dr. Yücel Özkaya unterzeichneten Abschlussbericht der Unterarbeitsgruppe

Islam in Liechtenstein

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engagierten muslimischen Religionslehrerinnen und –lehrer haben eine entsprechende Aus-bildung in Deutschland, Österreich oder der Schweiz absolviert.

Die gegenwärtigen Religionslehrkräfte sind auch in Vorarlberg im Bereich des islamischen Religionsunterrichts tätig. Sie sind sowohl vom Schulamt der Islamischen Glaubensgemein-schaft in Österreich (IGGiÖ) wie auch vom Landesschulrat für Vorarlberg für die Tätigkeit als Religionslehrer(in) anerkannt.11 Österreich kennt eine Doppelstruktur und gemischte Ver-antwortung von islamischem Dachverband und staatlicher Schulbehörde, das heisst nament-lich zwischen Islamischer Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) und dem jeweiligen Landesschulrat (z.B. Landesschulrat für Vorarlberg). In Liechtenstein stellt sich die Struktur anders dar, weil hier kein entsprechender islamischer Dachverband existiert. Der islamische Religionsunterricht wird in Liechtenstein direkt vom staatlichen Schulamt organisiert, be-gleitet und kontrolliert.

Generell orientiert sich der islamische Religionsunterricht in Liechtenstein vorwiegend an österreichischen Modellen. Die Unterarbeitsgruppe hatte verschiedene Lehrpläne und Pra-xisbeispiele in Deutschland, der Schweiz und in Österreich studiert. Diese Länder hatten be-reits mehrjährige Erfahrungen mit islamischem Religionsunterricht an öffentlichen Schulen gesammelt.

In Österreich geniesst der Islam den Status als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“. Er wurde bereits mit dem Islamgesetz im Jahr 1912 (Novelle 2015) als Religionsgesellschaft anerkannt. Entsprechend weit entwickelt sind auch die islamischen Bildungsangebote in Ös-terreich. So bietet etwa die Universität Wien einen Masterstudiengang „Islamische Religions-pädagogik“ am Institut für Islamische Studien an.12 Der leitende Professor Ednan Aslan gilt als dezidierter Vertreter eines „Islam europäischer Prägung“.13 Die Universität Innsbruck un-terhält ein Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik und bietet ein Bachelor-studium „Islamische Religionspädagogik“ an.14 Die Professur hat derzeit Zekirija Sejdini inne, der auch bereits auf Einladung des FL-Schulamtes zu Lehrerfortbildungen in Liechtenstein zu Gast war.15

Das 2015 novellierte Islamgesetz sieht in § 24 vor, an der Universität Wien die islamisch-theologische Ausbildung zu „erhalten“ und mit sechs Lehrkräften zu stärken, „zum Zwecke der theologischen Forschung und Lehre und für die wissenschaftliche Heranbildung des geistlichen Nachwuchses islamischer Religionsgesellschaften“.

Auf diesem Hintergrund ist es naheliegend, dass der österreichische Lehrplan, der vom Bun-desministerium für Unterricht, Kunst und Kultur im Jahr 2011 erlassen worden ist, heute die

„Islamischer Religionsunterricht“ zuhanden der Arbeitsgruppe „Integration der Muslime“ und zuhanden der Regierung vom 27. Februar 2007, Schulamt Vaduz, Aktenzeichen 4119.1.

11 Siehe dazu http://www.derislam.at/schulamt/. Die IGGiÖ unterhält ein eigenes Schulamt, das nicht iden-tisch ist mit dem staatlichen Schulamt. Zur staatlichen Schulbehörde, dem „Landesschulrat für Vorarl-berg“, siehe www.lsr-vbg.gv.at

12 http://www.islamische-religionspaedagogik.at/home.html 13 Vgl. Aslan 2016. 14 https://www.uibk.ac.at/islam-theol/. 15 Zu Prof. Zekirija Sejdini siehe http://sejdini.at/; zu seinem Vortrag im Haus Gutenberg am 29. Mai 2015

siehe Boss 2015a.

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Basis für den Unterricht in Liechtenstein bildet.16 Der österreichische Lehrplan für islami-schen Religionsunterricht „orientiert sich am Islam der Mitte und lehnt jeglichen Radikalis-mus und Extremismus ab.“17 Auch die in Liechtenstein eingesetzten Lehrmittel „Islam-stunde“ entsprechen dem österreichischen Lehrplan und finden in Österreich Verwendung.18

Diese Orientierung an der österreichischen Praxis hat sich bislang für Liechtenstein bewährt, ist aber keine zwingende Notwendigkeit. Auch Deutschland weist langjährige Erfahrungen mit islamischem Religionsunterricht auf. Die Universitäten Erlangen und Münster beispiels-weise spielen seit Langem in den Bereichen der Islamwissenschaften oder der islamischen Religionspädagogik eine Vorreiterrolle. In der Schweiz bieten mehrere Universitäten das Fach „Islamwissenschaften“ an. Die Universität Fribourg hat neu ein „Zentrum für Islam und Gesellschaft“ aufgebaut. Diese Beispiele zeigen, dass sich das liechtensteinische Schulamt al-lenfalls auch an Ausbildungsgängen und Lehrmitteln aus Deutschland oder der Schweiz ori-entieren könnte, demnach mehrere Alternativen offen stehen.

6.3 Gegenwärtige Situation und Zukunft des islamischen Religionsunterrichts

Zum ersten Durchführungsjahr 2007/2008 finden sich im „Bericht Islamischer Religionsun-terricht“ vom 25. April 2008 folgende statistische Angaben: „Die Anzahl muslimischer Kinder im Bereich der Primarschule beträgt im Schuljahr 2007/2008 198. Das sind 9,5% der Pri-marschüler. Am islamischen Religionsunterricht nehmen mittlerweile 86 Schülerinnen und Schüler teil (Stand: April 2008). Das sind 43% aller muslimischen Schüler im Primarschulbe-reich.“19

Die Zahlen zum Besuch des islamischen Religionsunterrichts werden jährlich im Rechen-schaftsbericht der Regierung unter „Schulamt – Religionsunterricht“ veröffentlicht. Die Da-ten zur Religionszugehörigkeit werden beim Schuleintritt erhoben und in der Datenbank des Schulamts und der Schulen bzw. Schulverwaltungen erfasst; die Rechtsgrundlage dafür bil-den die Artikel 80 und 81 des Schulgesetzes.

Aus dem Pilotprojekt „Islamischer Religionsunterricht“ im Schuljahr 2007/2008 ist unter-dessen eine mehrjährige Praxis geworden. Im Schuljahr 2015/2016 nutzten 60 Schülerinnen und Schüler das Angebot. Für das Schuljahr 2016/2017 liegen folgende Zahlen vor: Insge-samt 1’885 Primarschüler/-innen, davon 180 muslimisch (das entspricht 9,55 Prozent, liegt also deutlich über den rund 5,9 Prozent Muslime in der gesamten Wohnbevölkerung), davon besuchen 67 den muslimischen Religionsunterricht.

16 Lehrplan für den islamischen Religionsunterricht an Pflichtschulen, mittleren und höheren Schulen, Fassung

vom 12.9.2016, abrufbar über www.ris.bka.gv.at 17 Ebenda, Anlage 1: Allgemeine Bestimmungen der Lehrpläne für den Islamischen Religionsunterricht, S. 1. 18 Islamstunde. Religionsbuch für die Volksschule, Bände 1–7, erschienen im Veritas-Verlag, Linz und im

Oldenbourg Verlag, Wien. – Beim Veritas-Verlag handelt es sich um den grössten Bildungsverlag Öster-reichs. Er stellt weit verbreitete Schulbücher für alle Stufen und Fächer her, die vom österreichischen Staat subventioniert werden. Für die Redaktion der „Islamstunde“ wurde ein wissenschaftlicher Beirat mit anerkannten Fachleuten beigezogen.

19 Der Bericht wurde verfasst von Stefan Hirschlehner, Schulamt Vaduz, Aktenzeichen 4119.1.

Islam in Liechtenstein

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In diesen beiden zuletzt genannten Schuljahren wurde der islamische Religionsunterricht in sechs Gemeinden angeboten: Triesen, Vaduz, Schaan, Gamprin, Eschen/Nendeln, Mau-ren/Schaanwald. Die Gruppen werden in der Regel klassen- und jahrgangsübergreifend ge-führt, um eine sinnvolle Klassengrösse zu erreichen.20 Dem staatlichen Schulamt obliegt die Aufgabe, regelmässig Unterrichtsbesuche und Evaluationen durchzuführen.

Bei den Leitfadeninterviews mit Musliminnen und Muslimen, die das Liechtenstein-Institut im Rahmen dieser Studie 2016/2017 durchgeführt hat, wurde auch nach den Erfahrungen mit dem Projekt „Islamischer Religionsunterricht“ gefragt.21 Mehrere GP kennen das Angebot durch ihre Kinder. Die Einschätzungen fielen dabei durchwegs positiv aus: Die Kinder wür-den diesen Unterricht gerne besuchen und zu Hause viel davon erzählen. Als wichtigsten Punkt nannten alle Befragten, dass die Unterrichtssprache Deutsch sei und die Kinder dadurch in die Lage versetzt würden, sich mit Mitschüler/-innen anderer Religionen auf Deutsch, mit der entsprechenden deutschen Begrifflichkeit, über ihre Religion austauschen zu können. Dadurch könnten die Kinder in einen konstruktiven Dialog mit ihrer eigenen und mit anderen Religionen treten und aus einer möglichen religiösen Isolierung herausfinden.

Alle GP haben auch betont, dass sie die verschiedenen Bildungsangebote für Kinder und Ju-gendliche in ihren Moscheegemeinden (Triesen und Sevelen) nicht als Korrektiv oder gar Konkurrenz, sondern als Ergänzung zum islamischen Religionsunterricht an der Primar-schule verstehen. Es wurde denn auch der Wunsch geäussert, dass der islamische Religions-unterricht an den Primarschulen in Zukunft weitergeführt werde.

Wie oben ausgeführt, ist das Schulamt bestrebt, den islamischen Religionsunterricht auf Pri-marschulebene dauerhaft zu institutionalisieren. Bisher wurden die Religionslehrpersonen auf Honorarbasis aus dem Konto für Integrationsmassnahmen beim APA entschädigt. Seit 2016 werden die Religionslehrpersonen nun direkt beim Schulamt angestellt. In ähnlicher Weise wie in den Nachbarstaaten Österreich und Deutschland möchte das Schulamt eine pä-dagogisch und sachlich fundierte muslimische Bildung unterstützen. Entsprechend werden die hierzu notwendigen Grundlagen geprüft. Dazu gehört auch die Überprüfung und Präzi-sierung der Anstellungsbedingungen für Fachlehrpersonen im Bereich islamischer Religi-onsunterricht: Welche theologischen, religionswissenschaftlichen, didaktischen und pädago-gischen Ausbildungen und Kompetenzen werden bei entsprechenden Fachlehrkräften vo-rausgesetzt?

Die grösste Herausforderung dürfte im Moment aber die Schaffung von entsprechenden ge-setzlichen Grundlagen für einen islamischen Religionsunterricht sein.22 Verfassung und

20 Der Grundsatz, dass mindestens acht Teilnehmende eine Lektion besuchen müssen, damit sie durchge-

führt wird, gilt hier allerdings nicht, da es sich um ein Projekt handelt (Hinweis von Sandra Büchel-Thalmaier).

21 Alle Dokumente sind hinterlegt am Liechtenstein-Institut, Bendern 2017. 22 Darauf wiesen bereits Schulamtsleiter Guido Wolfinger und Stefan Hirschlehner in ihrer Stellungnahme

zum „Projektantrag zur Einführung eines islamischen Religionsunterrichts als Integrationsmassnahme“ vom 25. Oktober 2005, GW/StH/ij-4119.1, hin.

Islam in Liechtenstein

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Schulgesetz gehen beim Thema Religionsunterricht – sicherlich auch zeitbedingt, die Verfas-sung stammt von 1921 – ganz von christlichen Kirchen und Konfessionen aus; der Islam fin-det darin keine Erwähnung.

Artikel 1 des Schulgesetzes betont die Erziehung der Menschen in den öffentlichen Schulen nach christlichen Grundsätzen – was den Dialog mit dem Islam allerdings nicht ausschliessen, sondern einschliessen würde.23 Gemäss Artikel 8, Absatz 3 des Schulgesetzes ist für die Lehr-pläne für den Religionsunterricht die betreffende Kirche zuständig. Nichtchristliche Religi-onsgemeinschaften finden in Verfassung und Gesetz bisher keine direkte Legitimation für die Abhaltung von Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Wollte man den islamischen Reli-gionsunterricht dauerhaft institutionalisieren, wären hier entsprechende Gesetzesnovellen erforderlich.

Nachdem der Landtag im geplanten Religionsgemeinschaftengesetz (RelGG) ausdrücklich am konfessionellen Religionsunterricht im Primarschulbereich festhält, kann man fragen, ob man diesen Grundsatz nicht auf alle grösseren Religionsgemeinschaften anwenden sollte. Im Primarschulbereich ist der Religionsunterricht in Liechtenstein noch deutlich bekenntnisge-bunden ausgerichtet. An den weiterführenden Schulen besteht mit dem Fach „Religion und Kultur“ ein Fach, das einen stärker religionskundlichen bzw. religionswissenschaftlichen Zu-gang wählt. Zum Dialog und Verständnis verschiedener religiöser Kulturen ist wohl beides hilfreich, Kenntnisse der eigenen Überlieferungstradition wie auch Kenntnisse und Ver-ständnis für die verschiedenen Glaubens- und Lebenswelten der grossen Weltreligionen.24

Vor diesem Hintergrund stellt sich für den Gesetzgeber die Frage, ob im Primarschulbereich nicht auch einer Weltreligion wie dem Islam, zu dem sich heute 5,9 Prozent der Wohnbevöl-kerung Liechtensteins zählen (Volkszählung 2015), in analoger Weise ein bekenntnisgebun-dener Religionsunterricht zustehen würde. Dies würde auch dem Prinzip der Gleichbehand-lung (Parität) der Religionsgemeinschaften durch den Staat entsprechen.25

Sollte der bekenntnisgebundene Religionsunterricht dereinst ganz aus den staatlichen Lehr-plänen genommen werden, wäre das Christentum genauso betroffen wie der Islam. „Sollte es nämlich einmal dazu kommen, dass im Primarschulbereich kein katholischer Religionsun-terricht angeboten wird, dann ist die Frage nach einem muslimischen Religionsunterricht hinfällig“, heisst es in einer Stellungnahme des Schulamtes vom Oktober 2005.26 Wer also den

23 Beachte etwa die Wertschätzung und dialogische Haltung gegenüber den Muslimen, welche die katholi-

sche Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nicht christlichen Religionen „Nostra aetate“ (dort besonders Art. 3) grundlegt und einfordert. Dazu Boss 2015b; Siebenrock 2005.

24 Zum Verhältnis von bekenntnisgebundenem und bekenntnisunabhängigem Religionsunterricht siehe Ja-kobs et al. (Hg.) 2013.

25 Alle bisherigen Entwürfe zur Neuordnung des Staatskirchenrechts gehen vom Prinzip der Parität unter den Religionsgemeinschaften aus. Vgl. Vernehmlassungsbericht der Regierung betreffend Neuordnung des Staatskirchenrechts vom 14. November 2008, besonders S. 13; Vernehmlassungsbericht der Regie-rung betreffend die Neuregelung des Verhältnisses zwischen Staat und Glaubensgemeinschaften vom 26. August 2011, besonders S. 10–11.

26 So urteilten Guido Wolfinger und Stefan Hirschlehner bereits in ihrer Stellungnahme vom 25. Oktober 2005, Schulamt Vaduz, Aktenzeichen GW/StH/ij-4119.1.

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Standpunkt vertritt, dass zu einer umfassenden Allgemeinbildung immer auch eine qualifi-zierte religiöse Bildung gehört, wird einen islamischen Religionsunterricht an den Primar-schulen begrüssen.

Aktueller Nachtrag August 2017: Am 4. Juli 2017 hat die Regierung eine Verordnung erlas-sen, welche am 1. August 2017 in Kraft tritt und die Situation für den islamischen Religions-unterricht rechtlich ordnet. Die „Verordnung vom 4. Juli 2017 betreffend die Abänderung der Verordnung über den Lehrplan für den Kindergarten, die Primar- und Sekundarschulen“ (LGBl. 2017 Nr. 182) ergänzt die bisherigen Bestimmungen wie folgt: „Art. 6d) Islamischer Religionsunterricht: Das Schulamt kann einen Wahlunterricht für Kinder mit islamischem Glaubensbekenntnis organisieren.“ – Damit ist dem Desiderat einer besseren rechtlichen Ab-sicherung des islamischen Religionsunterrichts, welches in diesem Kapitel thematisiert wurde, entsprochen worden. Weiterhin auf der politischen Agenda bleibt die Aufgabe, auf Verfassungs- und Gesetzesebene das liechtensteinische Staatskirchenrecht in seinen Grund-lagen zu modernisieren.

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Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2012): Stellungnahme der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein zu den anlässlich der ersten Lesung betreffend die Neuregelung des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaften aufge-worfenen Fragen vom 4. Dezember 2012, Nr. 154/2012.

Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2011): Vernehmlassungsbericht der Regierung betreffend die Neuregelung des Verhältnisses zwischen Staat und Glaubensgemeinschaf-ten vom 31. Mai 2011, RA 2011/1419-5800.

Regierung des Fürstentums Liechtenstein (2008): Vernehmlassungsbericht der Regierung betreffend Neuordnung des Staatskirchenrechts vom 10. Juni 2008.

Verordnung vom 4. Juli 2017 betreffend die Abänderung der Verordnung über den Lehrplan für den Kindergarten, die Primar- und Sekundarschulen. LGBl. 2017 Nr. 182.

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Islam in Liechtenstein

100

7 ISLAMISCHE BEGRÄBNISSTÄTTE IN LIECHTENSTEIN

Günther Boss

Das Bestattungswesen gehört zum Aufgabenbereich der Gemeinden. Die Zuwanderung von

Menschen nicht christlichen Glaubens lässt es immer dringlicher werden, für diese Bevölke-

rungsgruppen eine geeignete Lösung zu finden. Die Unterschiede in den Bestattungsritualen

haben die Gemeinden Liechtensteins bewogen, eine zentrale muslimische Begräbnisstätte zu

schaffen, wie es in Altach in Vorarlberg realisiert ist. Ein geeigneter Standort in Schaan ist

allerdings im November 2016 vom Eigentümer der Parzelle, der Bürgergenossenschaft

Vaduz, abgelehnt worden. Eine Lösung muss dennoch gesucht werden, da zunehmend eine

Rückführung in das Heimatland nicht mehr möglich oder zumutbar ist, zumal für muslimi-

sche Bürgerinnen und Bürger mit liechtensteinischer Staatsbürgerschaft.

Wie in den meisten umliegenden Ländern, so gehört auch in Liechtenstein das Bestattungs-wesen zu den kommunalen Aufgaben. Die ordnungsgemässe Bestattung der Verstorbenen fällt also in den Zuständigkeitsbereich der politischen Gemeinden. Die Gemeinden sind ver-pflichtet, allen Einwohnerinnen und Einwohnern, unabhängig von ihrer religiösen oder welt-anschaulichen Orientierung, eine angemessene Bestattung zu gewährleisten.

Da der Islam spezifische Bestattungsvorschriften kennt, welche auf den bestehenden Gemein-defriedhöfen praktisch nicht umsetzbar sind, wird seit Längerem die Realisierung einer zent-ralen islamischen Begräbnisstätte in Liechtenstein diskutiert. Als Vorbild gilt dabei der islami-sche Friedhof im vorarlbergischen Altach. Die jüngsten Planungen der Vorsteherkonferenz für einen zentralen islamischen Friedhof wurden allerdings 2016 durchkreuzt, weil die Bürgerge-nossenschaft Vaduz die vorgesehene Parzelle nicht zur Verfügung stellt.

7.1 Bestattungswesen als Aufgabe der politischen Gemein-den1

Durch die frühe Christianisierung im 4./5. Jahrhundert und durch die lange ungebrochene katholische Tradition des Landes waren die Friedhöfe über Jahrhunderte hinweg eng ver-bunden mit der katholischen Kirche und geprägt von einer christlichen Ausstattung und Symbolik. In den meisten Gemeinden wurden die Friedhöfe in unmittelbarer Nachbarschaft zu den katholischen Kirchenbauten errichtet. „Die Friedhöfe sind in der Regel um die Kirche herum angelegt und ihr Unterhalt war zu einer Aufgabe der Gemeinde geworden.“2

1 Der Verfasser erarbeitete im Jahr 2016 für die Vorsteherkonferenz und für die Bürgergenossenschaft

Vaduz ein entsprechendes Exposé, an das sich dieser erste Abschnitt anlehnt. 2 Siehe Reiner Sörries, „Friedhof“, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein, Bd. 1, S. 251f.,

hier S. 252.

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Generell lässt sich feststellen, dass das Begräbniswesen seit etwa zweihundert Jahren immer stärker von einer rein kirchlichen Aufgabe zu einer gemischten Angelegenheit (res mixta) zwischen Kirche und Staat wurde. Herbert Wille führt dazu in seinem Standardwerk „Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein“ aus: „Zu den gemischten Belangen ist auch das Be-gräbniswesen zu zählen, das anfänglich als ausschliesslich kirchliche Angelegenheit dem kirchlichen Rechte unterstand und erst im Zuge der letzten zwei Jahrhunderte infolge der wachsenden Bedeutung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vermehrt unter die Staatsaufsicht geraten ist. Insoweit nicht Kultakte einer Kirche betroffen sind, ist das Bestat-tungswesen – insbesondere dessen gesundheitspolizeiliche Seite – staatliche Aufgabe.“3 Wille erläutert weiter, dass die Anlegung von Friedhöfen in den Aufgabenbereich der politi-schen Gemeinden fällt und dass Friedhöfe in rechtlicher Hinsicht als „unselbständige Anstal-ten des öffentlichen Rechts“ zu qualifizieren sind. Den Gemeinden steht es auch zu, die Nut-zung der Friedhöfe in einer entsprechenden Anstaltsordnung („Friedhofsordnung“) festzu-legen.4

Heute stellt sich der Sachverhalt so dar, dass alle Gemeinden Liechtensteins das Bestattungs-wesen als ihre Verantwortung sehen und wahrnehmen. Durch die rasche Modernisierung, die religiöse Pluralisierung der Bevölkerung und durch Änderungen der Bestattungsarten – die katholische Kirche erlaubt seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) auch die Kremation und Urnenbeisetzung – hat diese Verantwortung noch an Bedeutung gewonnen. Die Friedhöfe sind weiterhin geprägt von einer christlichen Symbolik, und für entsprechende Kulthandlungen und Beerdigungsrituale sind in der Regel die Kirchen und deren Repräsen-tanten zuständig. Gleichwohl muss die politische Gemeinde Bestattungen auch für nicht-ka-tholische oder nicht christliche Einwohner/-innen gewährleisten. Alois Ospelt urteilte schon im Jahr 1999, dass der Bereich des Bestattungswesens auch nach der Neuordnung des Staats-kirchenrechts wohl Aufgabe der Gemeinde bleiben müsse, „denn auf eine Bestattung auf dem Friedhof haben alle Einwohner der Gemeinde Anspruch. Die Verfügung über die Begräbnis-plätze steht wohl den bürgerlichen Behörden zu.“5

Die liechtensteinischen Gemeinden erlassen heute Friedhofsordnungen bzw. Friedhofsreg-lemente sowie entsprechende Gebührenordnungen – diese sind in der Regel im Internet auf den Webseiten der Gemeinden abrufbar. Gemäss dem Prinzip der Subsidiarität fallen diese Aufgaben, welche die Gemeinden selber regeln können, nicht in den Zuständigkeitsbereich des Landes.6 Die Friedhöfe sind auch im Grundbuch auf die politischen Gemeinden eingetra-gen. Die vorgesehene Neuordnung des Staatskirchenrechts hält an diesem Grundsatz fest. Der Entwurf des Abkommens mit dem Heiligen Stuhl aus dem Jahr 2013 (bisher nicht unter-zeichnet) bestätigt in Artikel 8: „Das Friedhofswesen liegt im Zuständigkeitsbereich der Ge-meinden.“7 Wo der Friedhof aus historischen Gründen im Besitz der katholischen Pfarrei ist

3 Wille 1972, S. 211f., siehe auch 387f. und 406. 4 Ebd. 5 Ospelt 1999, S. 144f. 6 Vgl. Gemeindegesetz (GemG) vom 20. März 1996, Art. 12. 7 Das Ministerium für Präsidiales und Finanzen stellt diesen Entwurf als Download zur Verfügung:

http://www.regierung.li/media/attachments/Entwurf_Abkommen_mit_dem_Heiligen_Stuhl_inklusive_ Anhaenge_636254426134062751.pdf?t=636359868014984590 (abgerufen am 25. Juli 2017).

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(z. B. in Schellenberg), soll er zukünftig auch in den Besitz der politischen Gemeinde überge-hen.

Alle diese genannten historischen und rechtlichen Entwicklungen sowie die stärkere religi-öse Pluralisierung der Wohnbevölkerung Liechtensteins machen es plausibel, dass das Be-stattungswesen heute im Zuständigkeitsbereich der politischen Gemeinden liegt und dort auch in Zukunft bleiben sollte. Daraus folgt, dass die Gemeinden auch für die Bestattung von Verstorbenen muslimischen Glaubens verantwortlich sind und entsprechende Bedingungen schaffen müssen.

7.2 Spezifische Voraussetzungen für eine muslimische Bestattung

Wie jede Religion, so kennt auch der Islam ganz bestimmte Vorstellungen und Bedingungen für die Bestattung seiner Toten. Das ist religionsgeschichtlich nicht aussergewöhnlich, son-dern entspricht dem normalen Befund, dass die Bestattungsarten auf tief verankerten, reli-giösen und weltanschaulichen Überzeugungen beruhen. Zwischen den islamischen Todes- und Bestattungsvorstellungen zeigen sich sogar manche Analogien zum Judentum und zum Christentum.

Als kennzeichnend für eine islamische Bestattung können folgende Punkte gelten:8 Die Toten sollen in „jungfräulicher“ Erde bestattet werden, also in einem Boden, in dem noch keine To-ten bestattet wurden und auch keine Gebeine liegen. Das Grab soll nach Mekka ausgerichtet werden. Das Grab soll im Prinzip bis zum Ende der Tage bestehen bleiben, also nicht aufge-hoben oder aufgelöst werden. Die Integrität des Leichnams und der Gebeine ist für Muslime, wie auch für Juden und die frühen Christen, ein zentraler Aspekt ihres Glaubens an die Auf-erstehung. Sie teilen gemeinsam den Glauben an eine leibliche Auferstehung am Ende der Tage – wobei die konkreten Vorstellungen über diese „leibliche“ Auferstehung im Laufe der Religions- und Kulturgeschichte viele Wandlungen durchlaufen haben. An diesem Punkt tref-fen komplexe Fragen einer theologischen Anthropologie und Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen) zusammen.9 Es geht dabei um die Begriffe „Seele“ und „Leib“ und die anthro-pologische Frage, welcher ontologische Aspekt (Seinsgrösse) der eigentliche Identitätsträger des Menschen sei, der auch für die Auferstehungswirklichkeit bleibend bedeutsam ist.

Die katholische Theologie behilft sich in ihrer Befürwortung einer Kremation heute meistens mittels der Unterscheidung der Begriffe „Körper“ und „Leib“. Während mit dem Körper das biologisch-chemische Substrat gemeint ist, das verweslich ist, meint der Leib alle unsere

8 Vgl. zum Folgenden den Artikel „Bestattung“ in: Krause/Müller (Hg.) 1980, S. 730–757; Artikel „Bestat-

tungsvorschriften (isl.)“, in: Heinzmann (Hg.) 2013, S. 103; Gemeinde Altach (Hg.) o.J.; Interview mit Halit Örgen in: Liechtensteiner Volksblatt vom 11. September 2014, S. 3; Gemeinden des Fürstentums Liech-tenstein (Hg.) 2016, bes. S 5–7: Ablauf einer muslimischen Beerdigung; Die meist gestellten Fragen zum Thema muslimische Begräbnisstätte; Interview mit Hamit Örgen in: Liechtensteiner Volksblatt, 21. April 2017, S. 1 und S. 5.

9 Aus der Fülle an Literatur zu diesem Thema seien drei Bücher genannt, die in der theologischen Wissen-schaft zu bedeutenden Standardwerken geworden sind: Greshake/Lohfink (Hg.) 1975; Greshake/Kre-mer 1992; Kehl 1988.

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raumzeitlichen Beziehungen nach aussen. Diese durch Max Scheler eingeführte Differenzie-rung ist aber kein allgemeiner Konsens. So ist es auch für viele Christen – besonders etwa für orthodoxe Christen – nach wie vor stossend, wenn Gräber bereits nach wenigen Jahren auf-gehoben werden. Kulturgeschichtlich gesehen ist also der Wunsch der Muslime nach „ewiger Grabesruhe“ nicht eine Ausnahmeerscheinung, sondern – zumindest für die Zeit der Vormo-derne – der Normalfall für die abrahamitischen Religionen.10

In bestimmten Ausnahmefällen kennt auch der Islam eine Mehrfachbestattung. So kann etwa ein Ehepaar im selben Grab auf zwei Ebenen bestattet werden, oder es kann im Beisein eines Imam ein Grab geöffnet werden. Ausnahmeregeln gelten auch z. B. in einer Kriegssituation.

Nebst den drei zentralen Bedingungen („unbenutzte“ Erde, Ausrichtung nach Mekka, keine Aufhebung der Grabesruhe) kennt der Islam, zumindest in einer strengen Lesart, noch wei-tere Anforderungen. So sollen auf dem Friedhof keine Symbole einer anderen Religion sicht-bar sein, also auch keine christlichen Kreuze, Engelsfiguren, Kirchengebäude usw. Dieser Punkt wird aber unterschiedlich bewertet. So sind auf den liechtensteinischen Gemeinde-friedhöfen durchaus bereits Muslime auf ihren eigenen Wunsch hin bestattet worden (z. B. in Triesen). Vaduz ist bisher die einzige Gemeinde, die einen „neuen“ Randteil des Friedhofs für muslimische Bestattungen bereitgestellt hat. Dieser wurde bisher allerdings nicht für Be-stattungen genutzt.11

Aus dem Gesagten wird klar, dass ein islamisches Begräbnis unter Einhaltung aller entspre-chenden Bestattungsvorschriften auf den bestehenden Gemeindefriedhöfen kaum möglich ist. Kommt hinzu, dass die Friedhofsreglemente der Gemeinden eine Aufhebung der Gräber vorsehen – in der Regel nach 20 bis 25 Jahren. Auch für die im Islam übliche rituelle Toten-waschung fehlen auf den bestehenden Friedhöfen die Räumlichkeiten. Sie wird heute in der Regel im Spital durchgeführt, was als provisorische Lösung angesehen wird. Abdankungen in den bestehenden Totenkapellen bzw. Abdankungshallen wurden durchaus bereits abge-halten, der Leichnam wurde allerdings danach zur Beisetzung ins Ausland überführt. Bei der Grünen Moschee in Triesen müssen die Abdankungen derzeit mitten auf einem Autopark-platz in der Industriezone Triesen stattfinden, was die Moscheegemeinde und die trauernden Angehörigen als unwürdig empfinden.

10 Als abrahamitische Religionen gelten diejenigen monotheistischen Religionen, die sich auf Abraham be-

ziehen. Dies umfasst insbesondere die drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam. 11 Der Verfasser dankt Erich Ospelt, Mesmer an der Pfarrkirche Vaduz, für zahlreiche Hinweise zur heute

gängigen Praxis des Bestattungswesens.

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Abdankung für eine muslimische Frau, die seit vielen Jahren in Liechtenstein lebte. (Bild: Suat Türkiylmaz)

7.3 Projekt Islamische Begräbnisstätte in Liechtenstein

Während die erste Generation der türkischen Gastarbeiter noch selbst eine Überführung der Toten in die Türkei wünschte und in der Regel dort bestattet wurde, leben in Liechtenstein mittlerweile eine zweite und dritte Generation muslimischer Einwohner/-innen. Sie haben zu rund einem Viertel die liechtensteinische Staatsbürgerschaft inne (vgl. Kapitel „Muslimi-sche Zuwanderung nach Liechtenstein und in den Bodenseeraum“ in dieser Studie). Sie wün-schen – und haben auch das Recht dazu –, dereinst in Liechtenstein bestattet zu werden. Kommt hinzu, dass für sie eine Rückführung und Bestattung in ihren Ursprungsländern auf-grund der Staatsangehörigkeit rechtlich vielfach gar nicht mehr möglich ist, und dass sie zum Herkunftsland oft auch keinen persönlichen Bezug mehr haben (z. B. hinsichtlich Grabpflege, Grabbesuchen usw.).

Wieder war es die nach den Terroranschlägen in New York vom 11. September 2001 eingesetzte Arbeitsgruppe „Integration der Muslime“ (vgl. Kapitel „Islam, Islamophobie und Integration in der internationalen Forschung“ in dieser Studie), die sich auch des Bestattungswesens annahm. Zusammen mit der Vorsteherkonferenz und der Regierung setzte sich die Gruppe wiederholt mit dem Thema eines muslimischen Friedhofs in Liechtenstein auseinander.

Die Regierung und die Vorsteherkonferenz kamen zum Schluss, dass möglichst eine zentrale Lösung für das ganze Land anzustreben sei. Die Verantwortung für die Realisierung liegt aber ganz bei den Gemeinden.

Nach der Evaluation zahlreicher Grundstücke wurde 2012 zum ersten Mal die Vaduzer Par-zelle Nr. 1001 „Forst“ als mögliches Grundstück in die Diskussion eingebracht. Dieses Grund-stück liegt im Gemeindegebiet von Schaan, ist aber im Besitz der Bürgergenossenschaft Vaduz. Es folgten religiöse und baurechtliche Abklärungen, die federführend von Architekt Alex Wohlwend vorgenommen wurden.12 Das Grundstück liegt an einem zentralen Standort im Land und wurde als ideal für die Realisierung eines muslimischen Friedhofs bewertet. Der Vorstand der Vaduzer Bürgergenossenschaft war in den Evaluierungsprozess einbezogen.

12 Architektur Wohlwend, Vaduz und Eschen; dort auch alle Unterlagen.

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Die Gemeinden des Landes sowie die Regierung unterstützten das Projekt. Wie die Doku-mentation zuhanden der Bürgergenossenschaft Vaduz festhält, obläge die Erstellung, Finan-zierung und Trägerschaft des Friedhofs den Gemeinden des Landes Liechtenstein. „Die Ver-waltung und andere organisatorische Einzelheiten für den Unterhalt würden analog den be-stehenden Friedhofsreglementen geregelt. Vertragspartner der Vaduzer Bürgergenossen-schaft wären die Gemeinden Liechtensteins.“13

In der Planung der islamischen Begräbnisstätte orientierte man sich vor allem am islami-schen Friedhof im vorarlbergischen Altach.14 Der Friedhof in Altach konnte nach mehrjähri-ger Planungsphase im Jahr 2012 eröffnet werden. Vorausgegangen war intensive Überzeu-gungsarbeit bei den politischen Gemeinden, beim Land Vorarlberg wie auch bei den verschie-denen islamischen Gruppierungen und Moscheegemeinden. Dieser Friedhof steht nun allen Muslimen in Vorarlberg zur Verfügung, nicht aber z. B. Muslimen aus Liechtenstein. Er „dient allen Angehörigen des Islams, die zum Zeitpunkt ihres Ablebens ihren Hauptwohnsitz in Vor-arlberg haben, als Begräbnisstätte.“15

Auch das architektonische Programm für Liechtenstein richtete sich ganz nach dem Modell Altach: Vorgesehen waren ein Raum für die rituelle Waschung sowie ein Gebetsraum. Nicht geplant war der Bau einer Moschee oder eines Minaretts, zumal dies für einen islamischen Friedhof nicht erforderlich ist und die politische Seite betonte, dass sie nicht für die Errich-tung von religiösen Kultstätten zuständig sei. Es wurde versucht, möglichst alle Moscheege-meinden und islamischen Richtungen in Liechtenstein in die Vorarbeiten einzubinden.16 Ein Architekturwettbewerb wurde noch nicht durchgeführt, zumal man zunächst in einem Grundsatzentscheid das Votum der Bürgergenossenschaft Vaduz einholen wollte.

7.4 Ablehnung durch die Bürgergenossenschaft Vaduz

Am 28. November 2016 führte die Bürgergenossenschaft Vaduz im Rathaussaal Vaduz eine „Ausserordentliche Genossenschaftsversammlung“ durch. Den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern lag eine 16-seitige Dokumentation vor, welche eine chronologische Herleitung und Begründung für die Notwendigkeit eines zentralen islamischen Friedhofs in Liechtenstein enthält. Ebenfalls finden sich darin mehrere Situationspläne, und die baurechtlichen Aspekte werden erläutert.

Der Antrag an die Vaduzer Bürgergenossenschaftsversammlung lautete: „Die Gemeinden des Fürstentums Liechtenstein ersuchen die Genossenschaftsversammlung der Bürgergenos-senschaft Vaduz die Grundsatzentscheidung zu fällen, ihnen eine Teilfläche von 10’370 m2

der Vaduzer Parzelle Nr. 1001 an der Feldkircher Strasse gelegen für den Bau einer Muslimi-schen Begräbnisstätte ... dauernd entgeltlich zur Verfügung zu stellen.“17

Der öffentliche Teil der Bürgergenossenschaftsversammlung geriet rasch zu einem heftigen Schlagabtausch. Mehrere Votanten verwiesen auf den weltweiten islamistischen Terror und

13 Gemeinden des Fürstentums Liechtenstein (Hg.) 2016, S. 4f. 14 Siehe dazu Gemeinde Altach (Gottfried Brändle) (Hg.) o.J. 15 Ebd., S. 3. 16 Auflistung aller Mitglieder der Arbeitsgruppe in Bürgergenossenschaft Vaduz (2016), S. III. 17 Gemeinden des Fürstentums Liechtenstein 2016, S. 8.

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beschimpften die Muslime pauschal als gewalttätig und gefährlich. Daneben wurden aber auch viele sachliche Fragen gestellt, etwa in Bezug auf die Zonenkonformität, die Dimensionen, die Vertragsbedingungen, die Rolle der Vorsteherkonferenz als Vertragspartner usw. Schliesslich stimmten 34 Mitglieder für den Antrag, 77 dagegen. Das Liechtensteiner Vaterland titelte am 30. November 2016: „Schockiert über die Art der Diskussion“ und entspricht damit den per-sönlichen Eindrücken des Verfassers, der am Abend als Experte zugegen war.18 Die anwesen-den muslimischen Gäste waren den Anschuldigungen wehrlos ausgesetzt.

7.5 Islamische Begräbnismöglichkeit als bleibende Aufgabe

In unseren Leitfadeninterviews mit Musliminnen und Muslimen zeigten sich alle GP nachhal-tig irritiert über den Verlauf der Versammlung. Sie befürchten, dass sich das Projekt einer islamischen Begräbnisstätte in dieser Stimmungslage auf Jahre hinaus nicht wird realisieren lassen. Allerdings wurde das Vorhaben möglicherweise auch unprofessionell aufgegleist, zu kurzatmig und zu sehr als „Top-down-Projekt“. Für den islamischen Friedhof in Altach war in Vorarlberg ein mehrjähriger Prozess der Aufklärung und Bewusstseinsbildung initiiert worden, der in Liechtenstein so nicht stattfand. In der Broschüre „Islamischer Friedhof Altach“ wird festgehalten: „Der Wunsch nach einer eigenen Begräbnisstätte für Muslime löste eine beispiellose Zusammenarbeit zwischen dem Vorarlberger Gemeindeverband, dem Land Vorarlberg und den islamischen Gemeinschaften aus. Unterstützt von der Integrationsfach-stelle ‚okay. zusammen leben‘ [Leitung: Dr. Eva Grabherr, Anm. d. Autors] und der Katholi-schen Kirche Vorarlbergs konnte in Altach ein geeigneter Standort gefunden und entspre-chend den Vorgaben des Islams ein Friedhof errichtet werden. … Somit steht der Friedhof auch als Symbol eines erfolgreichen Zusammenschlusses aller 96 Gemeinden des Landes, die damit ein deutliches Zeichen bei einer wichtigen Frage der Integration setzen.“19 Auch die katholische Diözese Feldkirch hat zusammen mit ihrer damaligen Islambeauftragten Elisa-beth Dörler das Projekt aktiv unterstützt. Das Erzbistum Vaduz hatte sich in einer frühen Stellungnahme des Generalvikars Markus Walser vom 5. November 2007 zwar für einen ei-genen islamischen Friedhof in Liechtenstein ausgesprochen, dem Projekt aber später keine weitere Unterstützung oder Mitarbeit angedeihen lassen.20

Jedenfalls bleibt die Aufgabe der politischen Gemeinden Liechtensteins drängend, für Ver-storbene muslimischen Glaubens eine angemessene Begräbnismöglichkeit zur Verfügung zu stellen. Der negative Entscheid vom 28. November 2016 hat diese Aufgabe eher erschwert als erleichtert. Die oft gehörte Forderung, die Muslime sollten sich eben anpassen, sollten sich auf den bestehenden Friedhöfen bestatten lassen und eine Aufhebung der Gräber nach 25 Jahren akzeptieren, ist religionsphänomenologisch unrealistisch. Die Bestattungssitten der Muslime werden sich nicht innerhalb weniger Jahre ändern, und sie brauchen es auch

18 Weitere Berichte in Liechtensteiner Volksblatt und Liechtensteiner Vaterland vom 29. November und

30. November 2016. 19 Gemeinde Altach (Gottfried Brändle) (Hg.) o.J., S. 3. 20 Die Stellungnahme findet sich unter http://www.erzbistum-vaduz.li/medien/20071105.htm (abgeru-

fen am 25. Juli 2017). Im Fokus der Stellungnahme steht das Anliegen, die islamischen Gräber nicht auf den bestehenden Gemeindefriedhöfen unterzubringen, weniger die aktive Unterstützung für den Bau eines islamischen Friedhofs.

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nicht. Es gehört zur Religionsfreiheit, dass man seine religiösen Überzeugungen auch im öf-fentlichen Raum leben darf und sich nicht darin der Mehrheitsgesellschaft anpassen muss. Kommt hinzu, dass die relativ rasche Aufhebung der Gräber auf den Gemeindefriedhöfen in Liechtenstein auch manchen Christen Schwierigkeiten bereitet, sodass eine breite Diskus-sion dieser Praxis ohnehin hilfreich wäre.

Quellen

Bürgergenossenschaft Vaduz (2016): Ausserordentliche Genossenschaftsversammlung vom 28. November 2016 [Sitzungsunterlagen].

Erzbistum Vaduz (2007): Stellungnahme seitens des Erzbistums Vaduz zu einem Pressebe-richt betreffend die Frage islamischer Friedhöfe im Fürstentum Liechtenstein. Online ab-rufbar.

Gemeinde Altach (Gottfried Brändle) (Hg.) (o.J.): Islamischer Friedhof Altach. Rankweil.

Gemeinden des Fürstentums Liechtensteins (Hg.) (2016): Dokumentation für die Vaduzer Bürgergenossenschaftsversammlung vom 28. November 2016. Abklärungen und Konzep-terarbeitung für eine Muslimische Begräbnisstätte in Liechtenstein. Vaduz.

Literatur

Brunhart, Arthur (Projektleiter) (2013): Historisches Lexikon des Fürstentums Liechten-stein. 2 Bände. Vaduz/Zürich: Verlag des Historischen Vereins für das Fürstentum Liech-tenstein/Chronos Verlag.

Greshake, Gisbert/Kremer, Jakob (1992): Resurrectio mortuorum. Zum theologischen Ver-ständnis der leiblichen Auferstehung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Greshake, Gisbert/Lohfink, Gerhard (Hg.) (1975): Naherwartung, Auferstehung, Unsterblich-keit. Untersuchungen zur christlichen Eschatologie (= Quaestiones disputatae Band 71). Freiburg i. Br.: Herder.

Heinzmann, Richard (Hg.) (2013): Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam. 2 Bde. Freiburg/Basel/Wien: Herder.

Kehl, Medard (1988): Eschatologie (2. Auflage). Würzburg: Echter.

Krause, Gerhard/Müller, Gerhard (Hg.) (1980): Theologische Realenzyklopädie, Band V. Ber-lin/New York: de Gruyter.

Ospelt, Alois (1999): Pfarrei – Gemeinde – Pfarrgemeinde: Vermögensverhältnisse, Kirchen-gutsverwaltung und Kirchenrechnungsführung am Beispiel von Vaduz. In: Herbert Wille und Georges Baur (Hg.): Staat und Kirche. Grundsätzliche und aktuelle Probleme (= Liech-tenstein Politische Schriften 26). Vaduz: Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft, S. 114–150.

Wille, Herbert (1972): Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein (Freiburger Veröffent-lichungen aus dem Gebiete von Kirche und Staat, 15). Freiburg: Universitätsverlag.

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INFOBOX PRESSEBERICHTE ZUM THEMA ISLAMISCHE BEGRÄBNISSTÄTTE IN LIECHTENSTEIN Die Diskussionen um die Errichtung einer muslimischen Begräbnisstätte in Liechtenstein ha-ben landesweit mediale Aufmerksamkeit gefunden. Das Liechtensteiner Volksblatt und das Liechtensteiner Vaterland, auf welche hier ausschliesslich fokussiert wird, informierten so-wohl vor als auch nach der Versammlung und Abstimmung der Bürgergenossenschaft Vaduz am 28. November 2016 in zahlreichen Artikeln über die Situation, wobei das Volksblatt be-reits seit 2014 der Problematik grössere Aufmerksamkeit gewidmet hatte.1 Der wachsende Bedarf für einen muslimischen Friedhof wurde in beiden Zeitungen immer wieder betont und teils auch mit Einwohnerzahlen der Volkszählung 2010 verdeutlicht.2 Stellungnahmen von Experten wurden ebenfalls mit einbezogen. So erklärte Halit Örgen von der Islamischen Gemeinschaft des Fürstentums Liechtenstein (IGFL) im Herbst 2014 dem Volksblatt, wie is-lamische Bestattungsrituale konkret durchgeführt werden.3 Er verwies schon damals auf die Notwendigkeit eines muslimischen Friedhofs in Liechtenstein: „Es ist seltsam, wenn Liech-tensteiner nicht in ihrem Land begraben werden.“4 Nach dem Entscheid, bei dem 77 Mitglieder der Bürgergenossenschaft Vaduz mit einem Nein gegen 34 Ja-Stimmen das Ansuchen mit deutlicher Mehrheit ablehnten, berichteten beide Zeitungen über die Enttäuschung seitens der Befürworter nicht nur bezüglich des negativen Entscheids, sondern auch über die Art der Diskussion: „Zum Teil wurde massiv gegen die Regeln des Anstands verstossen“, auch „[f]ür sachliche Argumente war die Mehrheit nicht mehr offen“ berichtet Günther Boss, Experte der Arbeitsgruppe „Islamische Begräbnisstätte“, dem Liechtensteiner Vaterland.5 Auch Leserbriefe zum Thema wurden abgedruckt. Der DU-Abgeordnete Pio Schurti positionierte sich am Tag der Abstimmung kritisch, er zweifelt den tatsächlichen Bedarf einer islamischen Begräbnisstätte an: „Jede Gemeinde Liechtensteins hat einen Friedhof. Ein Gottes-, Allah- bzw. Jahwe-Acker für alle genügt.“6 Einige Tage nach der Abstimmung befürwortete Leo Suter aus Triesen zwar die Errichtung einer Begräbnisstätte für islamische Mitbewohner, jedoch müsse man Kompromisse in der Umsetzung, besonders betont wird die Grösse, eingehen.7 Im Grossen und Ganzen enthielten sich beide Zeitungsredaktionen einer normativen Wertung und bemühten sich um eine um-fangreiche, sachliche Schilderung der Thematik. Vitoria Stella De Pieri

1 Liechtensteiner Volksblatt, 11.9.2014. 2 Liechtensteiner Volksblatt: 15.11.2016, S. 1, 3; 29.11.2016, S. 1; 30.11.2016, S. 5; Liechtensteiner Vater-

land: 15.11.2016, S. 1; 29.11.2016, S. 3; 30.11.2016, S. 1. 3 Liechtensteiner Volksblatt: 11.9.2014, S. 3; 15.11.2016, S. 3. 4 Liechtensteiner Volksblatt, 11.9.2014, S. 3. 5 Liechtensteiner Vaterland, 30.11.2016, S. 1. 6 Liechtensteiner Volksblatt, 28.11.2016, S. 6. 7 Liechtensteiner Volksblatt, 6.12.2016, S. 4; Liechtensteiner Vaterland, 6.12.2016, S. 9.

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8 ISLAM UND OFFENE JUGENDARBEIT LIECHTENSTEIN

Hüseyin I. Çiçek

Die Angebote der Offenen Jugendarbeit werden eher von männlichen als weiblichen Jugend-

lichen muslimischen Glaubens genutzt. Falls eine Radikalisierung beobachtet würde, könnte

die Hilfe der Fachgruppe Extremismus, in welcher das Amt für Soziale Dienste, die Schulso-

zialarbeit, der Schulpsychologische Dienst und die Offene Jugendarbeit vertreten sind, in An-

spruch genommen werden. Die Sprache kann ein Kommunikationshindernis darstellen. Ein

engerer Einbezug der Eltern der Jugendlichen und ein grösseres Interesse von deren Seite

wäre aus Sicht der Jugendarbeit wünschenswert.

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Gespräche,1 die mit verschiedenen Mitarbeitern der Offenen Jugendarbeit in Liechtenstein (OJA) geführt wurden. Die Ausführungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und sind somit keine repräsentative Bestandsauf-nahme.

Das Interesse der OJA am Islam oder an der muslimischen Jugend ist – nach meiner Einschät-zung – sehr stark: Die mediale Präsenz des „Islam“ (Daesh/Islamischer Staat, Naher Osten, Syrienkrieg, Türkei/Erdogan etc.) sowie auch die Interaktion mit muslimischen Jugendlichen vor Ort sind dafür verantwortlich. OJA-Mitarbeiter sprachen häufig über ihre geringen Kenntnisse der muslimischen Geschichte und der verschiedenen Strömungen innerhalb des Islam. Sie haben in ihren Einrichtungen Kontakt mit bosnischen, albanischen, türkischen, kurdischen oder anderen muslimischen Gruppen, können aber durch Gespräche nicht eruie-ren, welcher theologischen Ausrichtung sie die Jugendlichen zuordnen könnten bzw. sollten. Ein erhöhter Wissensstand – so zumindest die Meinung der OJA-Mitarbeiter – könnte sie un-terstützen in ihren Bestrebungen, nichtmuslimische und muslimische Jugendliche mehr ins Gespräch zu bringen. Darüber hinaus möchten die OJA-Mitarbeiter keine theologischen Aus-einandersetzungen führen bzw. nicht über Glaubensinhalte diskutieren, sondern das Wissen vielmehr dafür nutzen, um extreme religiöse Anschauungen frühzeitig zu erkennen. Dies vor allem, weil Jugendliche sich für politische Entwicklungen interessieren würden und die ge-genwärtige Situation es auch nicht zulasse, an solchen Themen vorbeizugehen. Eine besorg-niserregende Entwicklung in Liechtenstein sei – laut OJA-Mitarbeitern – aktuell nicht wahr-zunehmen.

Es gäbe zwischen nicht muslimischen und muslimischen Jugendlichen Interessenkonflikte, die jedoch nicht auf die religiöse Differenz zurückzuführen seien. Laut OJA-Mitarbeitern würden

1 Die Gespräche wurden persönlich mit Marcel Lampert, Hamid Lechab und Harald Kreuzer, via E-Mail mit

Leo Veit, Julian Ribaux, Herbert Wilscher und im Rahmen einer Fortbildung zum Thema Islam mit Ale-xandra Neyer, Bettina Schwung, Christine Hotz, Jutta Diem, Lisa Meier und Lorena Beck geführt.

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Konflikte zwischen den Jugendlichen dennoch mitunter auf die Religion oder Nationalität zu-rückgeführt, weil die Jugendlichen dadurch ihre eigene Position(en) stärken wollen.

Eine Herausforderung für OJA-Mitarbeiter sei die Sprache. So seien sie nicht in der Lage, die nichtdeutschsprachigen Jugendlichen und ihre vielseitigen Interessen zu deuten. Viele OJA-Mitarbeiter sind – laut eigenen Angaben – mit muslimischen Jugendlichen auf Facebook (o-der über andere soziale Medien) befreundet und treffen einige von ihnen in den Jugendtreffs. Trotz der sprachlichen Differenzen bieten diese Jugendtreffs und die sozialen Medien eine Möglichkeit des Austausches und der gesellschaftlichen Integration. Letzteres sei kein Grund zur Sorge, vielmehr eine bisher noch zu wenig genutzte Chance, um mit den Jugendlichen besser zu interagieren. Das Interesse der OJA-Mitarbeiter rührt daher, dass sich ein relativ grosser Teil der europäischen dschihadistischen Szene durch das Internet radikalisiert.2

Fast alle OJA-Mitarbeiter wünschen beziehungsweise möchten bessere Verbindungen zu den Eltern der muslimischen Jugendlichen. Ein Grund für die fehlenden oder schlechten Interakti-onen sei fehlendes Interesse vonseiten der Eltern. Hier gibt es verschiedene Erklärungen, etwa dass die Eltern aufgrund ihres Berufs wenig Zeit hätten. Ebenso werden die sprachlichen Hin-dernisse der Eltern erwähnt, was den Kontakt mit den Mitarbeitern der OJA schwierig mache. Eine gute Kommunikationsbasis zwischen den Eltern und OJA-Mitarbeitern sei wichtig, damit die Jugendlichen von zuhause aus ermutigt würden, in Jugendtreffs zu gehen, und somit die Möglichkeit erhielten, stärker in soziale Netzwerke eingebunden zu sein. Hinzu kommt laut OJA-Mitarbeitern, dass Jugendliche aus schwierigen familiären Verhältnissen „eher“ für extre-mistisches Gedankengut offen seien. Die Kooperation mit den Eltern würde möglicherweise einen besseren Blick in die Lebenswelt der Jugendlichen ermöglichen.

Auffallend sei, dass mehr männliche muslimische Jugendliche in Jugendtreffs anzutreffen sind als jugendliche Musliminnen. Ob das darauf zurückzuführen ist, dass religiöse Traditio-nen Mädchen und junge Frauen davon abhalten, sei nicht bekannt. Auch in diesem Zusam-menhang ist es, laut OJA, wichtig, die Eltern mehr in die Arbeit der OJA einzubinden. Ob pat-riarchale Gesellschaftsverhältnisse oder ein individuelles Desinteresse für die Situation ver-antwortlich sind, können die OJA-Mitarbeiter nicht sagen. Eine Strategie, die es ermöglichen würde, stärker auf Musliminnen zuzugehen und sie in die OJA einzubinden, fehle.

Im Falle einer Radikalisierung beziehungsweise sofern sich ein Verdacht erhärtet, kann die Hilfe der Fachgruppe Extremismus in Anspruch genommen werden, in welcher neben der OJA auch das Amt für Soziale Dienste, die Schulsozialarbeit und der Schulpsychologische Dienst vertreten sind. Das Vorgehen stützt sich weitgehend auf einen Massnahmenkatalog, der zur Bekämpfung des Extremismus entworfen wurde.

Literatur

Neumann, Peter (2015): Die neuen Dschihadisten. IS, Europa und die nächste Welle des Ter-rorismus. Berlin: Econ.

Neumann, Peter (2009): Old and new Terrorism. Cambridge: Polity Press.

2 Siehe dazu Neumann 2009, 2015.

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INFOBOX DER WEG ZUM JIHADISMUS (RECHERCHE DES TAGES-ANZEIGERS) Der Tages-Anzeiger veröffentlichte in seiner Ausgabe vom 28. Juni 2017 auf einer Doppelseite umfangreiche Recherchen über Schweizer Jihad-Kämpfer.1 Die Recherchen, die nach Angaben der Autoren mehr als zwei Jahre dauerten, ergeben eine Zahl von 72 Personen mit Bezug zur Schweiz, die vermutlich als Jihadisten nach Syrien oder in den Irak ausgereist sind (64) oder dies beabsich-tigten (8). Die meisten stammen demnach aus den Gegenden Winterthur (12), Lausanne (9), Genf (5), Biel und Thurgau (je 4) sowie Bern und Zürich (je 3). Für weitere Orte oder Regionen werden 2 oder 1 Jihad-Reisende/r vermutet.

Aufgrund geografischer „Hotspots“ vermuten die Autoren, dass die Radikalisierung weniger über das Internet als über charismatische Extremisten, radikale Imame oder Führerpersönlichkeiten in Jugend- und Kampfsportgruppen erfolgt (siehe hierzu das Beispiel der An-Nur-Moschee in Winterthur in der Infobox „Islamdebatten in Schweizer Medien“ von Vitoria Stella De Pieri in die-sem Bericht).

Aus liechtensteinischer Sicht ist interessant, dass die Autoren für das Rheintal, die beiden Appen-zell, Graubünden und Glarus – also für die Liechtenstein geografisch nahe liegenden Kantone – keine Jihadreisenden eruiert haben (Liechtenstein und Vorarlberg werden nicht ausgewiesen). Folgende statistischen Auswertungen zu den 72 erfassten Fällen sind aufschlussreich:

� 83 % Männer, 17 % Frauen;

� 35 % Schweizer (davon rund zwei Drittel mit Migrationshintergrund), 65 % Ausländer;

� Als Herkunftsgebiete liegt der Balkan (v.a. Bosnien) mit grossem Abstand an erster Stelle, gefolgt von Nordafrika (v.a. Tunesien) und dem Nahen Osten, weiters Kurden, Türken, Italie-ner und Somalier;

� 17 % sind 15–19 Jahre alt, 26 % 20–24 Jahre, 17 % 25–29 Jahre, 18 % 30–34 Jahre, 8 % 35+ Jahre (keine Angabe zu 10 Personen beziehungsweise 14%);

� 3 Ausreisen erfolgten demnach vor 2013, 12 im Jahr 2013, 20 im Jahr 2014, 19 im Jahr 2015, 9 im Jahr 2016;

� 11 (15 %) hatten sich zuvor an „Lies!“-Koranverteilaktionen beteiligt;

� 19 % sollen Konvertiten sein;

� 13 seien umgekommen, 15 Rückkehrer.

Die Autoren bezweifeln aufgrund ihrer Recherchen, dass es keine Muster der Radikalisierung gebe, wie vielfach behauptet wird. Bei aller Vielfalt würden ihre Erhebungen nahelegen, dass Jiha-disten vor allem Männer mit Wurzeln in bestimmten Herkunftsgebieten und jüngeren Alters seien, wenngleich mit einer gewissen Altersbandbreite. Unter den Jihadisten befänden sich ferner viele Personen mit geringem Bildungsstand und „groben biografischen Brüchen“, die sich etwa in abgebrochener Lehre, psychischen Problemen, Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit von Sozialhilfe zeigten.

Den hohen Anteil an bosnischen Jihad-Kämpfern erklären sich die Autoren damit, dass im Bosni-enkrieg auch ausländische Jihadisten, vor allem Araber, kämpften. Diese sollen nach dem Ende des Bürgerkriegs eigene Dörfer und Enklaven gebildet haben, in denen sich Brennpunkte der Ra-dikalisierung mit Ausstrahlung bis in die Schweiz entwickelten. Wilfried Marxer

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112

1 Tages-Anzeiger, 28. Juni 2017, S. 4–5. Titel: Der Weg zum Jihadismus; Untertitel: Die meisten Schweizer Jihad-Kämpfer wurden durch charismatische Extremisten und Gleichgesinnte radikalisiert, mehrere Orte fallen dabei auf. Das Internet wirkte hingegen nur als Katalysator; Autoren: Kurt Perla und Thomas Knellwolf. Die Autoren berufen sich auf eine Vielzahl an mündlichen, elektronischen und schriftlichen Quellen (Familienmitglieder, Freunde der Jihadisten etc.), soziale Medien wurden beobachtet und aus-gewertet. Die Zahl der von ihnen erfassten vermutlichen Jihadisten mit Bezug zur Schweiz, die nach Sy-rien oder in den Irak gereist sind (72), weiche kaum von derjenigen ab, die der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) bekannt gibt, nämlich 74. Die Namenliste des NDB ist allerdings geheim. Die Autoren ge-ben an, dass sie 49 Namen eruieren konnten, beim Rest soll es sich um ungesicherte Fälle handeln. Die Erhebung ist mit Unsicherheiten behaftet, wie sie selbst attestieren, was aber themenbedingt wohl kaum zu vermeiden ist. Die Autoren vermuten, dass bei weiteren Recherchen die Zahl der mutmasslichen Jiha-disten vor allem aus den Regionen Basel und Tessin ansteigen könnte.

Islam in Liechtenstein

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9 ISLAMISCHE GLAUBENSGEMEINSCHAFT IN ÖSTERREICH (IGGIÖ) UND IHR BEZUG ZU LIECHTENSTEIN

Hüseyin I. Çiçek

Die IGGiÖ ist Ansprechpartner der österreichischen Republik und verantwortlich für die re-

ligiösen Fragen aller in Österreich lebenden Muslime. Zwischen ihr und der Türkisch-Islami-

schen Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich (ATIB) und der Islami-

schen Föderation (IF) gibt es jedoch Spannungen. Da der muslimische Religionsunterricht in

Liechtenstein eng an die IGGiÖ angelehnt erfolgt, gibt es auch einen potenziellen Einfluss in

Liechtenstein. Es muss daher darauf geachtet werden, dass keine einseitig konservative Aus-

legung des Korans, etwa in der Kopftuchfrage, unterrichtet wird.

Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ)1 untersteht dem österreichi-schen Rechtssystem (neues Islamgesetz 2015)2. Die offizielle Anerkennung als Körperschaft erfolgte 1979. 1987 entschied der Verfassungsgerichtshof, dass die IGGiÖ alle muslimischen (sunnitisch oder schiitisch) Rechtsschulen anerkennen bzw. diese repräsentieren muss. So-mit ist die IGGiÖ Ansprechpartner der österreichischen Republik; darüber hinaus ist sie ver-antwortlich für die religiösen Fragen aller in Österreich lebenden Muslime. In diesem Zusam-menhang halten die Statuten der IGGiÖ explizit fest, dass die IGGiÖ alle in Österreich leben-den Muslime, unabhängig von Herkunft, Geschlecht sowie ethnischer Zugehörigkeit, vertritt. Die IGGiÖ besteht aus vier Religionsgemeinden: Wien, Linz, Graz, Bregenz. Diese sind dafür verantwortlich, dass die Interessen der Muslime auf Bundesebene sowie Landesebene ver-treten werden. Der Gemeindeausschuss ist das geschäftsführende Organ der jeweiligen Reli-gionsgemeinde.3 Der Alleinvertretungsanspruch der IGGiÖ wird von – vor allem türkischen – muslimischen Gemeinschaften immer wieder infrage gestellt.

9.1 IGGiÖ, ATIB und IF

Ein schwieriges sowie konfliktreiches Verhältnis besteht vor allem zwischen der Türkisch-Islamischen Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich (ATIB) sowie der Islamischen Föderation (IF) zur IGGiÖ. ATIB untersteht dem Diyanet (siehe Glossar im An-hang), welches wiederum vom türkischen Staat politisch gesteuert wird. Während ATIB tür-kische Vereine bzw. Moscheen vor allem über ihre nationale Zugehörigkeit erreichen und

1 http://www.derislam.at/. 2 http://www.derislam.at/?c=content&cssid=Islamgesetz%202015&navid=1177&par=10, Zugriff am

26.3.2017. 3 http://www.derislam.at/?c=content&cssid=Rel.%20Gemeinden&navid=30&par=0, Zugriff am 22.2.

2017.

Islam in Liechtenstein

114

gewinnen will, so ist es das Ziel der IGGiÖ, die in Österreich lebenden Muslime unabhängig ihrer Herkunft und ohne äusseren politischen Einfluss zu repräsentieren. Eine Lösung dieses Problems ist derzeit nicht in Aussicht, zumal viele türkische Muslime aus den Reihen der ATIB oder der IF in der IGGiÖ wichtige Positionen innehaben und somit ihre religiösen Über-zeugungen mithilfe der IGGiÖ in die muslimische Einwanderungsgesellschaft tragen wollen.

Detaillierte Zahlen zu den Mitgliedern türkischer Vereine bzw. Moscheen liegen nicht vor. Innerhalb islamischer Gemeinschaften gibt es keinen formalen Akt der Aufnahme in die Glau-bensgemeinschaft. Es ist üblich, dass, wenn ein Individuum Mitglied eines Vereins bzw. einer Moschee ist, die Familie desselben ebenso Teil der Moscheegemeinschaft ist. In den letzten Jahren wurde mit Blick auf den islamischen Religionsunterricht erst begonnen, detaillierte Zahlen zu erheben. Ob sich alle Muslime von den bestehenden Organisationen vertreten füh-len, kann nicht explizit beantwortet werden. Laut der umfassenden Studie der Deutschen Is-lam Konferenz (DIK) von 2012 sind die muslimischen Dachverbände weder als Vertreter al-ler Muslime in Deutschland zu klassifizieren, noch darf deren Einfluss zu gering eingestuft werden.4 Auch mit Blick auf Österreich kommen Analysen zu vergleichbaren Ergebnissen.5

Die Einschätzung, dass türkisch-islamische bzw. türkische Vereine in Vorarlberg erst nach den Ereignissen vom 11. September 2001 eine „lose Zusammenarbeit“ begonnen haben, ist nicht haltbar.6 Die politischen Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden in Vor-arlberg sind Belege für ein Kooperieren türkisch-islamischer bzw. türkischer Vereine, die durch gemeinsame Aktionen (Demonstrationen, Kundgebungen etc.) seit den 1990er-Jahren den österreichischen Staat zu strengeren Massnahmen gegenüber türkisch-linken und kur-disch-nationalistischen Gruppen aufriefen. Ebenso traten sie im Zuge der ausländerfeindli-chen Übergriffe in Deutschland in den 1990er-Jahre gemeinsam auf.

9.2 IGGiÖ und Liechtenstein

Wie bereits aus den in dieser Studie vorgelegten Statistiken und Ausführungen ersichtlich (siehe den Beitrag von Martina Sochin D’Elia), führt die wachsende Zahl der Muslime in Liechtenstein dazu, dass auch in Liechtenstein insbesondere im Bereich des (muslimischen) Religionsunterrichts neue Wege gegangen werden. Im Wesentlichen (siehe dazu den Beitrag von Günther Boss) orientiert sich der religiöse Schulunterricht für muslimische Kinder an den österreichischen Verhältnissen. Das heisst, dass auch in Liechtenstein u. a. Mitglieder der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich den Religionsunterricht gestalten.

Die IGGiÖ untersteht, wie erwähnt, dem österreichischen Rechtssystem und wird von ver-schiedenen türkischen, bosnischen und anderen ethnischen Gruppierungen dominiert, ver-waltet und beeinflusst. Ihre Arbeit sowie ihre Positionen sind in Österreich nicht unumstrit-ten.7 Von mehreren Faktoren, die hierfür eine wichtige Rolle spielen, sollen hier nur die zwei 4 Halm et al. 2012. 5 Siehe Heine et al. (Hg.). 6 Siehe Dubach 2011. 7 Vgl. die Kritik des Islamwissenschaftlers Ednan Aslan von der Universität Wien unter https://kurier.

at/politik/inland/ednan-aslan-der-islam-wie-er-jetzt-ist-ist-nicht-zukunftsfaehig/241.241.494, Zugriff am 23.3.2017.

Islam in Liechtenstein

115

folgenden genannt werden: a) die Dominanz türkisch-islamischer Organisationen bzw. Mit-glieder wie etwa der Milli Görüş oder der ATIB, wobei letztere explizit den theologischen Vorgaben der Diyanet in der Türkei folgt;8 b) die dominierenden Gruppen innerhalb der IG-GiÖ vertreten theologisch eine ausgesprochen konservative Tradition des Islam.9 So werden beispielsweise in den von der IGGiÖ befürworteten islamischen Schulbüchern vorrangig die arabisch-islamische Kultur oder die arabisch-islamische Geschichte behandelt, wohingegen muslimische Traditionen ausserhalb des genannten Kulturkreises oder der geografischen Lage wenig bis keine Beachtung finden.10

Darüber hinaus wird der Pluralität muslimischer (Glaubens-)Richtungen in der islamischen Welt nur wenig Rechnung getragen und der arabischen Sprache als Sprache des Islams und des Korans eine fast ausschliessliche Rolle zugewiesen. Den nicht-arabischen muslimischen Lebenswelten sowie Realitäten wird infolgedessen wenig Gewicht beigemessen.11 Die aus-schliessliche Dominanz des Arabischen wird von konservativen als auch radikal-religiösen Gruppen gerne als Argument verwendet, um die Existenz einer homogenen islamischen Ge-meinschaft zu behaupten und Abweichungen als nicht wirklich islamisch zu kennzeichnen.

Mit Blick auf die IGGiÖ bzw. die Orientierung Liechtensteins am österreichischen Religions-unterricht erscheint es ratsam, die Stellungnahmen der Organisation zu wichtigen gesell-schaftspolitischen Positionen, wie etwa den Geschlechterrollen oder dem Verhältnis zu Nicht-Muslimen, vor allem Juden, Christen und Atheisten, sowie zum Kopftuch, in den Blick zu nehmen. Dies gilt umso mehr dann, wenn, wie bei den islamischen Organisationen (siehe Glossar in Anhang) in Liechtenstein oder auch sonst in Europa öfters der Fall ist, diese ihre religiöse Weltanschauung nur in sehr beschränktem Masse selbstkritisch-reflexiv, sondern vielmehr dezidiert aus einer bestimmten, zumeist eher traditionellen Lesart der religiösen Tradition heraus definieren. Auch in Liechtenstein sind IGGiÖ-Mitglieder aktiv und u. a. mit der Ausrichtung des Religionsunterrichts betraut.

9.3 Umstrittene Kopftuchfrage

Im Folgenden sei beispielhaft die vor Kurzem erschienene fetwa (Rechtsgutachten, siehe un-ten) zum Kopftuch12 thematisiert, zumal solche Rechtsgutachten immer auch Auswirkungen auf die muslimische Gesellschaft haben. Wie Ednan Aslan, Professor für islamische Religions-pädagogik an der Universität Wien, festhält, werden in den Schulbüchern der IGGiÖ „musli-mische Frauen immer mit Kopftuch abgebildet“, obwohl die Verpflichtung der Frauen zum Tragen eines Kopftuches innerhalb der islamischen Theologie höchst umstritten ist. Gerade das junge Integrationsprojekt „Islamischer Religionsunterricht“ in Liechtenstein sollte die in

8 http://derstandard.at/2000052615853/Die-bedenkliche-Rolle-der-tuerkischen-Atib, Zugriff am 12.3.

2017. Zu Milli Görüş, ATIB und Diyanet siehe Glossar im Anhang. 9 https://kurier.at/politik/inland/erdogans-einfluss-auf-die-iggioe/205.513.257, Zugriff am 12.3.2017. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 http://www.derislam.at/index.php?c=content&p=beitragdet&v=beitraege&cssid=Stellungnahmen&n

avid=1180&par=50&bid=53, Zugriff am 12.3.2017.

Islam in Liechtenstein

116

Österreich stattfindenden kritischen Diskussionen ernstnehmen, um dadurch eine konstruk-tive Diskussionsplattform zu ermöglichen.

Die IGGiÖ nimmt immer wieder an öffentlichen Diskussionen über das authentische musli-mische Leben in Österreich sowie Europa teil. Zuletzt wurde auch eine Stellungnahme zur Verhüllung im Islam veröffentlicht.13 Die Art der Argumentation ist alarmierend: Die IGGiÖ beschreibt das Tragen eines Kopftuches als „absolute Pflicht“, als sogenannte fard, und setzt das Kleidergebot somit de facto auf eine Stufe mit den heiligen fünf Säulen des Islam: Glau-bensbekenntnis, Gebet, Ramadan, Fasten und Pilgerfahrt nach Mekka. Der IGGiÖ-Lesart isla-mischer Glaubenslehre zufolge werden Muslime, die nicht nach den absoluten Glaubensre-geln leben, im Diesseits und/oder Jenseits durch Gott bestraft. Die Haltung der IGGiÖ sugge-riert somit, dass gläubige Frauen zum Tragen eines Kopftuchs verpflichtet sind und diejeni-gen, die dieser Pflicht nicht nachkommen, mit göttlichen Strafen rechnen müssen; und dies, obwohl in derselben Stellungnahme betont wird, dass „Frauen und Männer, die sich nicht an die religiösen Kleidungsgebote halten, keinesfalls von anderen abgewertet werden dürfen“.

Ein weiteres, hier nur exemplarisch erwähntes Problem besteht darin, dass die frühislami-sche Geschichte zur Zeit des Propheten oftmals simplifiziert dargestellt und selektiv zur Un-termauerung der eigenen Argumentation genutzt wird. So versucht auch die IGGiÖ, die ei-gene Position zum Tragen des Kopftuchs in das koranische Narrativ um den Propheten und seine Ehefrauen einzubetten. Während das Verhüllen des weiblichen Haupthaares zur Zeit Mohammads der Unterscheidung von freien Frauen und Sklavinnen diente, versucht die IG-GiÖ, ausgewählte Textstellen im Koran ohne jeglichen Kontextbezug direkt auf die Gegen-wart zu übertragen. Damit wird suggeriert, es bestünde eine einheitliche innerislamische Sichtweise zur Frage der Verhüllung bzw. Verschleierung.

Gerade aber im Religionsunterricht wäre es von grosser Bedeutung, Kinder und Jugendliche nicht einfach nur mit einfachen Lehrmeinungen zu konfrontieren, sondern ihnen vielmehr zu einem fruchtbaren Zugang zur Komplexität der eigenen Glaubenstradition zu verhelfen. Das erwähnte Rechtsurteil erschwert somit grundlegend die notwendige kontroverse, zu-gleich aber auch fruchtbare Diskussion über Emanzipation und die kritisch-historische Aus-einandersetzung mit der eigenen Religion.

Die Einführung des islamischen Religionsunterrichts in Liechtenstein ist zweifellos ein wich-tiger und notwendiger Schritt. Gleichzeitig ist es jedoch notwendig, sich mit der konservativ-theologischen Haltung der IGGiÖ bzw. ihrer Mitglieder und den von ihr für den Religionsun-terricht zur Verfügung gestellten Unterrichtsmaterialien kritisch auseinanderzusetzen. Wie bereits angeführt, führen die umstrittenen Aussagen z. B. zum Kopftuch immer wieder zu kontroversen Diskussionen. All dies sollte bei zukünftigen Analysen bzw. Betrachtungen der Religionspädagogik sowie gesellschaftlichen Entwicklungen noch stärker berücksichtigt werden.

13 http://www.derislam.at/index.php?c=content&p=beitragdet&v=beitraege&cssid=Stellungnahmen&n

avid=1180&par=50&bid=53, Zugriff am 12.3.2017.

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Literatur

Dubach, Alfred (2011): Religiöse Vielfalt im Alpenrheintal. Eine Bestandesaufnahme der re-ligiösen Gemeinschaften, Vereinigungen und Werke, mit Kurzportraits. Unter Mitarbeit von Wilfried Marxer und André Ritter. Hg. v. Liechtenstein-Institut und Europäisches Institut für interkulturelle und interreligiöse Forschung. Vaduz (Typoskript). Online ab-rufbar.

Halm, Dirk/Sauer, Martina/Schmidt, Jana/Stichs, Anja (2012): Islamisches Gemeindeleben in Deutschland – im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Herausgegeben vom Bundes-amt für Migration und Flüchtlinge. Online abrufbar.

Heine, Susanne et al. (Hg.) (2012): Muslime in Österreich. Geschichte, Lebenswelt, Religion. Grundlagen für den Dialog. Innsbruck: Tyrolia-Verlag.

Islam in Liechtenstein

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INFOBOX TÜRKISCH-ISLAMISCHE UNION FÜR KULTURELLE UND SOZIALE ZUSAMMENARBEIT IN ÖSTERREICH (ATIB) In Vorarlberg gehören 13 Vereine dem Dachverband ATIB an, nämlich Bezau, Bludenz, Bregenz, Dornbirn, Frastanz, Hard, Höchst, Hörbranz, Hohenems, Lustenau, Mäder, Nenzing und Rankweil. Mit 63 Moscheen und 65 Imamen ist ATIB der grösste muslimische Verband Österreichs. 1994 wurde ATIB in Österreich gegründet. Die engen Beziehungen mit dem türkischen „Amt für religi-öse Angelegenheiten“ (Diyanet, siehe Glossar im Anhang) sorgen seit geraumer Zeit bzw. seit dem letzten gescheiterten Putsch in der Türkei für heftige Kritik aus Deutschland und Österreich. Die Verflechtungen zwischen dem Diyanet und dem türkischen Staat gehen auf den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zurück, der im Zuge seiner laizistischen Staatspolitik die Religion unter ein strenges staatliches Regelungssystem stellte. Der Kalte Krieg ermöglichte, dass sich laizis-tisch-nationalistische und islamisch-konservative Gruppen in der Türkei aufgrund der gemeinsa-men antikommunistischen Haltung annäherten, wechselseitig die Regierungen stellten und dadurch einen erheblichen Einfluss auf die Religionspolitik des türkischen Nationalstaates nah-men. Die wachsende türkische Einwanderungsgesellschaft und die Gewissheit, dass viele türki-sche Bürger ihre neue Heimat nicht mehr verlassen würden, sowie deren Interesse an religiöser Versorgung veranlasste das Diyanet, in Deutschland und Österreich tätig zu werden. Seit 2002, auf Anordnung der AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi – Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung oder Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), kooperiert die ATIB mit allen türkisch-musli-mischen sowie türkisch-nationalistischen Vereinen bzw. Moscheen und versucht, sie auf die ei-gene politische Linie zu bringen. Ein berühmter Slogan der AKP, der immer wieder auch in Deutschland und Österreich anzutreffen ist, lautet: „Eine Fahne, ein Volk, ein Staat.“ Die Finanzie-rung der ATIB- sowie DITIB-Moscheen im Ausland erfolgt durch das Amt Diyanet, Spenden und Mitgliedsbeiträge. Hüseyin I. Çiçek 1 http://www.atib.at/index.php?id=43, Zugriff am 20.2.2017. 2 http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-01/spionage-verdacht-ditib-dachverband-mo-

scheegemeinden-ermittlungen-bundesanwaltschaft, Zugriff am 20.2.2017; http://orf.at/stories/ 2378887/, Zugriff am 20.2.2017.

3 DITIB ist das deutsche Pendant zu ATIB: Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (Diynet Isleri Türk Islam Birligi, DITIB). Die Union ist der Dachverband für die Koordinierung der türkisch-islamischen Moscheegemeinden in Deutschland.

Islam in Liechtenstein – Anhang

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10 ANHANG

10.1 Interviewleitfaden

a) Persönlicher Einstieg

� Biografische Angaben zur Person: Alter, Herkunft, Beruf, Familiensituation usw.

� Wie wurden Sie religiös sozialisiert? Fand die religiöse Unterweisung in der Familie statt, in der Schule, ausserhalb der Schule?

� Wie ausgeprägt ist heute Ihr religiöses Engagement?

� Welcher Gruppe, Vereinigung oder Moschee fühlen Sie sich zugehörig?

� Wie gross sind Ihre Kenntnisse des Koran?

� Wie gross sind Ihre Kenntnisse anderer Religionen und religiöser Schriften?

b) Religiöse Aktivitäten der Moscheen bzw. der Islamischen Vereinigungen

� Welche religiösen Angebote macht die Moschee? (abgesehen von Gebet und Predigt)

� Lässt sich die Moschee einer spezifischen Richtung innerhalb des Islam zuordnen (eher liberal, eher streng)?

� Welche Sprache(n) werden in Ihrer Moschee gesprochen, aus welchen Nationalitäten setzen sich die Mitglieder zusammen?

� Welche sozialen Dienste werden angeboten (für Männer, Frauen, Kinder, Jugendliche; Freizeitgestaltung, Pilgerfahrten)?

� Beteiligt sich die Moschee am interreligiösen Dialog? Bestehen Kontakte zur katholi-schen Kirche, zu den evangelischen Kirchen oder anderen Religionsgemeinschaften?

� Wie finanziert sich die Moschee? Durch Spenden der Mitglieder, durch obligatorische Ab-gaben oder durch Zuwendungen des Staates?

� Werden in der Moschee Kenntnisse über den Koran und über die islamische Religions-geschichte vermittelt?

� Wie ist die Moscheegemeinde organisiert? Als Verein, als Verband, als staatliches Insti-tut?

� Pflegt die Moscheegemeinde Beziehungen ins Ausland, in die Schweiz, nach Österreich, nach Deutschland oder mit anderen Staaten?

� Welche Rolle nehmen Frauen in Ihrer Moscheegemeinde ein? Welche Heiratspraxis und welches Eheverständnis sind bei Ihnen massgebend? Gibt es auch interreligiöse Ehen?

c) Verhältnis zu Staat und Gesellschaft

� Wie beurteilen Sie die Situation der Muslime in Liechtenstein?

� Können Sie von Situationen, die Sie in Liechtenstein erlebt haben, erzählen, die Sie als Muslim/als Muslimin geprägt haben?

Islam in Liechtenstein – Anhang

120

� Haben Sie prägende Erfahrungen mit Islamophobie oder Ausländerfeindlichkeit ge-macht? Wenn ja, welche?

� Kennen Sie das geplante Religionsgemeinschaftengesetz und haben Sie Interesse daran, dass der Islam eine staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft in Liechtenstein wird?

� Würden Sie einen Zusammenschluss der islamischen Vereinigungen zu einem gemeinsa-men Dachverband begrüssen?

� Begrüssen Sie das Projekt einer islamischen Begräbnisstätte in Liechtenstein und denken Sie, dass dieses Angebot von allen Muslimen genutzt würde?

� Anerkennen alle Muslime in Liechtenstein die staatliche Rechtsordnung und die Unter-scheidung zwischen Staat und Religion?

� Sehen Sie in Ihrer Moscheegemeinde auch radikalisierende Tendenzen oder Sympathien für die Aktionen des sogenannten „Islamischen Staates“?

� Welche Wünsche haben Sie generell an die Gesellschaft und an das Land Liechtenstein?

� Welche Rolle wird der Islam in der Zukunft Liechtensteins spielen?

Islam in Liechtenstein – Anhang

121

10.2 Glossar

Ahmadiya

Mîrzâ Ghulâm Ahmad (1835–1908) gründete 1889 in Pakistan die Ahmadiya. Sie ist eine sunnitische

Reformbewegung des 19. Jahrhunderts. Die Anhänger glauben, dass der christliche Messias und isla-

mische Mahdi (der von Gott Rechtgeleitete) in der Person von Ahmad zu Vollkommenheit gelangt sei.

Die Verschmelzung von christlicher und muslimischer Heilslehre ist das Ergebnis einer Auseinander-

setzung mit der britischen Kolonialmacht sowie christlichen Missionaren. Am Beginn der Bewegung

trat Ahmad als Erneuerer auf, später bezeichnete er sich als Messias und Prophet zugleich. Für die

Anhänger der Ahmadiya ist somit der Prophet Mohammad nicht der letzte Prophet des Islam. Diese

Sichtweise hatte fatale Auswirkungen auf die Bewegung, die Mitglieder wurden von anderen Muslimen

als Abtrünnige sowie Ketzer klassifiziert und abgelehnt. Konflikte innerhalb der Bewegung führten

dazu, dass sie sich 1914 spaltete. Ihre religiösen Überzeugungen sowie internen Konflikte provozier-

ten und führten dazu, dass die Bewegung ab 1974 von der pakistanischen Regierung gezielt verfolgt

und zerschlagen wurde. Seit 1984 dürfen sich die Anhänger der Bewegung nicht mehr als Muslime

bezeichnen. Eine theologische Lehre der Ahmadiya besagt, dass Jesus nicht am Kreuz starb, sondern

friedvoll in Kaschmir.

Literatur: Kaushik, Surendra N. (1996): Ahmadiya community in Pakistan. Discrimination, travail, and

alienation. New Delhi: South Asian Publ.

Alawiten

Muhammad ibn Nusair an-Namîrî ist der Gründervater der Alawiten(Nusairîya)-Bewegung in (haupt-

sächlich) Westsyrien bzw. anderen Regionen des Nahen Ostens. Sie entstand im 9. Jahrhundert. Der

Gründer erklärte sich zum Propheten und entwickelte eine religiöse Tradition mit mythischen Lehren.

Im Zentrum der religiösen Lehre steht u. a. der Schwiegersohn des Propheten Muhammad, Alî ibn Abî

Tâlib, dem ein göttlicher Charakter zugesprochen wird. Letzteres wird vom sunnitischen Islam strikt

abgelehnt. Anhänger der Alawiten gehören u. a. zu den Gründern der säkular-nationalistischen Bewe-

gungen des Nahen Ostens, wie etwa der Baath-Partei.

Literatur: Bar-Asher, Meʾir M. (2002): The Nuṣayrī-'Alawī religion an enquiry into its theology and liturgy.

Leiden [u.a.]: Brill.

Aleviten

Die in der Türkei lebenden Aleviten werden auch (abschätzig) als „Kizilbaş“ (Rotkopf) bezeichnet. Die

Aleviten leben hauptsächlich im Südosten der Türkei. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Industria-

lisierung der Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Mobilisierung geführt hat und ein grosser

Teil der Gemeinschaft heute ausserhalb Anatoliens anzutreffen ist. Die Aleviten sind keine homogene

Gruppe; ein Teil spricht Zaza or Kurmandschi (kurdischen Dialekte). Laut verschiedenen Quellen ent-

stand die Bewegung zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert auf dem Territorium der heutigen Türkei.

Im Osmanischen Reich wurden die Mitglieder als Ketzer verfolgt. Letzteres führte dazu, dass die Ale-

viten sich religiös und gesellschaftlich isolierten. Sie besitzen keine Heiligen Bücher. Im Zentrum ihrer

religiösen Lehre steht der Schwiegersohn des Propheten, Ali. Ihr Gebetshaus bzw. Zusammenkommen

Islam in Liechtenstein – Anhang

122

bezeichnen sie als Cem. Sunnitische oder schiitische Glaubenslehren lehnen sie ab. Frauen und Männer

sitzen gemeinsam in einem Kreis. Seit den 1990er-Jahren versuchen Aleviten in der Türkei und Europa

eine eigene Theologie zu entwickeln. Der türkische Staat lehnt eine Anerkennung der Gruppe als reli-

giöse Körperschaft bzw. Gemeinschaft ab.

Literatur: Engin, İsmail (2000): Aleviler/Alewiten. Hamburg: Deutsches Orient-Institut.

Diyanet

Das „Präsidium für Religiöse Angelegenheiten“ (Diyanet İşleri Bakanlığı) wurde 1924 in der Türkei

etabliert. Der türkische Staatsgründer Mustafa Kemal (Atatürk) und seine Anhänger wollten einen tür-

kischen Islam im Einklang mit der kemalistisch-nationalistischen Gesellschaftsordnung konzipieren

und richteten das Präsidium (Diyanet) ein. In der heutigen Türkei regelt das Präsidium (die Diyanet)

alle religiösen Angelegenheiten. Ihrem Aufgabenbereich sind unterstellt: religiöse Dienste, religiöse

Erziehung, Wallfahrtswesen, religiöse Veröffentlichungen und Aussenbeziehungen. Das Präsidium ist

keine unabhängige Institution, sondern wird vom türkischen Staat kontrolliert bzw. verwaltet. Auch

wird der Präsident des Präsidiums nicht gewählt, sondern vom türkischen Ministerpräsidenten er-

nannt. Somit stellt der Präsident des Präsidiums die höchste religiöse Autorität in der Türkei dar und

nur ihm ist es in seiner geistlichen Tracht erlaubt, an die Öffentlichkeit zu treten. Als Präsident für die

Auslandseinrichtungen fungiert der Religionsattaché in der jeweiligen türkischen Botschaft. Somit un-

tersteht der Diplomat den direkten Anweisungen aus Ankara. Zahlreiche Vereine und Moscheen in Eu-

ropa (DITIB oder ATIB), Russland Australien oder USA sind dem Präsidium (Diyanet) unterstellt. Ihre

Mitglieder sind u. a. in türkischen Botschaften oder Konsulaten tätig.

Gülen-Bewegung

Die bedeutendste Untergruppe der Nurcu Cemaati (siehe Eintrag im Glossar) ist die von Fethullah Gü-

len ins Leben gerufene Hizmet-Bewegung (Gülen-Bewegung). Hizmet kann in diesem Zusammenhang

als geistiger sowie sozialer Dienst am Menschen übersetzt werden. Gegenwärtig wird die Gemeinschaft

seitens des türkischen Staates für den gescheiterten Putsch am 15. Juli 2016 verantwortlich gemacht.

Ende der 1950er-Jahre wurde Fethullah Gülen Mitglied der Nurcu Cemaati. Aufgrund interner Macht-

querelen (man war sich uneins darüber, wie die theologischen Vorgaben, Empfehlungen und Pflichten

Said Nursis umzusetzen sind) entschied sich Fethullah Gülen ab den 1980er-Jahren, sich von der Nurcu

Cemaati zu distanzieren. Bereits in den 1990er-Jahren konnte er mit seinen Anhängern ein grosses

Netzwerk gründen und bspw. über Tageszeitungen (bspw. Zaman) und Fernsehsender (Samanyolu

TV) grossen Einfluss auf die türkische Bevölkerung ausüben. Ende der 1990er Jahre wurde er seitens

verschiedener türkischer Regierungsorganisationen angeschuldigt, die Türkei in einen islamistischen

Staat umwandeln zu wollen. Um der staatlichen Verfolgung zu entgehen, reiste Fethullah Gülen in die

USA aus. Die Gülen-Bewegung ist, abgesehen vom Mediensektor, sehr stark im Bereich Bildung und

interreligiöser Dialog tätig, ebenso in der Subventionierung von Moscheebauten und Korankursen. In

der Türkei gehören viele hundert private Schulen der Gruppe. Nach dem Putsch wurden viele geschlos-

sen. Die Gülen-Bewegung ist im Ausland sehr aktiv, so bspw. in Russland, im Balkan, in Asien und West-

europa. Alleine in den USA betreibt die Bewegung 150 private Bildungseinrichtungen. Im Unterschied

zu ATIB/DITIB beziehungsweise Diyanet (siehe Glossar) untersteht die Hizmet-Bewegung nicht dem

Islam in Liechtenstein – Anhang

123

türkischen Staat. Formal – laut der Gülen-Bewegung – sind die einzelnen Einrichtungen und Instituti-

onen unabhängig und können ihre Vorgehensweise selbst bestimmen, trotzdem ist die Bewegung über

enge mediale oder individuelle Netzwerke miteinander verbunden.

Literatur: Eißler, Friedmann (Hg.) (2015): Die Gülen-Bewegung (Hizmet). Herkunft, Strukturen, Ziele, Er-

fahrungen. Berlin: Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen; Seufert, Günter (2013): Über-

dehnt sich die Bewegung von Fethullah Gülen? Eine türkische Religionsgemeinde als nationaler und in-

ternationaler Akteur. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik.

Hadith

Der Hadith ist neben dem Koran die zweitwichtigste Quelle für islamische (religiöse und rechtliche)

Normen. Der Begriff kann mit „Erzählung, Gespräch“ übersetzt werden. Dabei handelt es sich um Aus-

sprüche, Anordnungen und Handlungen des Propheten. Hinzu kommen auch Überlieferungen von

Muslimen der ersten Stunde bzw. den Gefährten des Propheten, die die muslimischen Gemeindemit-

glieder über die Aussprüche, Anordnungen etc. des Propheten informiert haben. Die Entstehung der

islamischen Hadith-Tradition (Wissenschaft) hängt massgeblich mit den religiösen sowie politischen

Krisen der Muslime nach dem Tode des Propheten zusammen (Staatswerdung bzw. Frage nach der

richtigen oder gottgewollten religiösen Autorität). 60 bis 120 Jahre nachdem der Prophet verstorben

war, wurde versucht, „alle“ Hadithe zu sammeln und zu einen. Zu den wichtigsten Hadithen bzw. den-

jenigen, die als authentisch oder gesund beschrieben werden, gehören seit dem 9. bzw. 10 Jahrhundert

die von al-Bukhârî (gest. 870) und Muslim (gest. 875) gesammelten Hadithe. Vier weitere Hadithe, die

Muslimen zur Verfügung stehen, jedoch „weniger“ authentisch angesehen werden, sind von Abû Dâ’ûd

(gest. 889), at-Tirmidhî (gest. 892), an-Nasâ’î (gest. 915) und Ibn Mâja (gest. 886) gesammelt worden.

Literatur: Rohe, Mathias (2011): Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart. 3., aktualisierte und

erweiterte Auflage. München: C. H. Beck; Motzki, Harald (1991): Die Anfänge der islamischen Jurispru-

denz. Ihre Entwicklung in Mekka bis zur Mitte des 2./8. Jahrhunderts. Zugl.: Hamburg, Univ., Habil.-Schrift,

1988/89. Stuttgart: Steiner in Komm.

Islam

„Unterwerfung oder völlige Hingabe“ werden zur Übersetzung des Begriffs angeführt. Ein Muslim ist

somit jemand, der sich Gott unterwirft sowie völlig hingibt. Das Glaubensbekenntnis (Schahada: „Ich

bezeuge, es gibt keinen Gott ausser Gott. Ich bezeuge, Muhammad ist sein Prophet/Gesandter“) ist ein

äusserlicher Akt, der Menschen nominell zu Muslimen macht. Im Islam gibt es die Auffassung, dass der

„Islam“ (als Unterwerfung oder völlige Hingabe) seit Anbeginn der Menschheit existiert und somit alle

Menschen als „Muslime“ geboren werden. Der Islam bzw. Koran erkennt die Offenbarungen sowie Pro-

pheten vor Muhammad an, zeichnet jedoch den Propheten des Islam als „Siegel aller Propheten“ aus.

Literatur: Ende, Werner/Steinbach, Udo/Laut, Renate (Hg.) (2005): Der Islam in der Gegenwart. 5., aktu-

alisierte und erweiterte Auflage. München: C. H. Beck.

Mahdi

Der durch Gott Rechtgeleitete bzw. Mahdi stellt in islamischen Eschatologien eine besondere Person

dar. Er ist verantwortlich dafür, dass in muslimischen Gemeinschaften vor dem Ende aller irdischen

Islam in Liechtenstein – Anhang

124

Zeit die Gesellschaft rechtgeleitet dem Jüngsten Gericht entgegengeht. Während die Sunniten die Iden-

tität des Mahdi mehrdeutig bzw. offenliessen, so haben verschiedene schiitische Richtungen die Figur

eindeutig ausgezeichnet. Für die Zwölferschiiten ist es der 12. Imam, der als Mahdi ausgezeichnet wird;

für die Ismailiten ist es der siebte. In der Geschichte der Muslime haben sich verschiede Führer zum

Mahdi erklärt, bspw. der Gründer der Ahmadiya, der sich zur Erneuerung berufen sah.

Literatur: Halm, Heinz (1996): The empire of the Mahdi the rise of the Fatimids. Leiden u.a.: Brill; Oeser,

Erhard (2012): Das Reich des Mahdi. Aufstieg und Untergang des ersten islamischen Gottesstaates. 1885

1897. Darmstadt: Primus.

Milli Görüş bzw. Wohlfahrtspartei

Ausserhalb der Türkei nennen sich Organisationen, die im politischen Umfeld der Wohlfahrtspartei

(Refah Partisi) sozialisiert wurden oder sich dieser ideologisch verpflichtet fühlen, Milli Görüş. Wich-

tigster Führer der Wohlfahrtspartei war Necmettin Erbakan. Ab den 1970er-Jahren konnte Erbakan

die türkische Politik und den türkischen Islamismus wesentlich mitprägen. Nur das türkische Militär

konnte immer wieder durch Eingreifen – zuletzt 1997 – dessen politische Karriere beenden. Im Gegen-

satz zu islamistischen Gruppen im Nahen Osten wandte sich Erbakan gegen Gewalt und konnte islami-

sche Lehren in der türkischen Bildungspolitik einfügen. Vor allem ermöglichte er die Gründung von

religiösen Bildungsstätten, in denen islamische Prediger und Vorbeter ausgebildet wurden. Offen

sprach er sich gegen Säkularismus und Laizismus aus. Im Zuge des deutsch-türkischen Anwerbeab-

kommens in den 1960er-Jahren konnte sich eine grosse Anhängerschaft in Deutschland und später in

Österreich etablieren.

Nurcu Cemaati

Diese Bewegung entstand in der Türkei und orientiert sich nach den theologischen Ideen sowie Schrif-

ten von Said Nursi (1876–1960). Nur bedeutet Licht; viele theologischen Abhandlungen Nursis haben

den Anspruch, Muslimen die notwendige Einsicht bzw. Erleuchtung zu ermöglichen, damit sie mit ih-

ren religiösen Traditionen in der Moderne (Wissenschaft sowie Technologie) ankommen. Die Schriften

Nursis werden von dessen Anhängern den anderen Heiligen Schriften des Islam gleichgestellt. Die Ge-

meinschaft teilt sich in viele Untergruppen. Eine davon ist die Gülen-Bewegung.

Literatur: Markham, Ian (Hg.) (2005): Globalization, ethics and Islam. The case of Bediuzzaman Said

Nursi. Aldershot u.a.: Ashgate; Nereid, Camilla T. (1997): In the light of Said Nursi. Turkish nationalism

and the religious alternative. Bergen: Centre for Middle Eastern and Islamic Studies.

Ramadan

Für Muslime ein wichtiges Ereignis, nachdem Gottes Offenbarung in jenem Monat an den Propheten

des Islam ergangen war, und zum anderen steht der Zeitraum für das alljährliche Fasten, das zur abso-

luten Pflicht (fard) bzw. zu den fünf Säulen des Islam zählt. Abgesehen von den gottesdienstlichen

Handlungen, soll das Ereignis den Gläubigen helfen, ihre nafs (Begehren) zu kontrollieren bzw. zu

überdenken.

Literatur: Heine, Peter (2003): Islam zur Einführung. Hamburg: Junius.

Islam in Liechtenstein – Anhang

125

Rechtsschulen

Die hanafitische (auf Abu Hanifia, gest. 767, zurückgehend), die malikitische (auf Malik ibn Anas, gest.

795, zurückgehend), die schafiitische (auf ash-Shafii, gest. 820, zurückgehend) und die hanbalitische

(auf Ahmad ibn Hanbal, gest. 795, zurückgehend) werden von Sunniten als die vier islamischen Rechts-

schulen akzeptiert. Je nach Rechtsschule wird der Islam theologisch und rechtlich unterschiedlich in-

terpretiert sowie ausgelegt. Parallel dazu existieren viele schiitische Rechtsschulen. Mit Blick auf das

islamische Recht können die Rechtsschulen in Fragen über Eheverträge, Sklaven, Ehebruch, Konver-

sion, Apostasie, Werkverträge, Scheidung etc. zu ähnlichen oder unvereinbaren Rechtsbestimmungen

kommen. Neuere Bewegungen im Islam seit dem 19. Jahrhundert versuchen, die Tradition der Rechts-

schulen zu überwinden, indem sie einer individuellen oder wortgetreuen Auslegung der Heiligen Quel-

len den Vorrang überlassen. Die Zugehörigkeit zu einer Rechtsschule gibt Auskunft über die Ausübung

der religiösen Tradition.

Literatur: Khoury, Adel T. (1980): Das islamische Rechtssystem. Grundlagen und Rechtsschulen. Köln:

Christl.-Islam. Begegnung Dokumentationsleitstelle; Rohe, Mathias (2011): Das islamische Recht. Ge-

schichte und Gegenwart. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. München: C. H. Beck.

Salafiya

Übersetzt bedeutet der Begriff „die [frommen] Altvorderen“. Er bezieht sich auf die früheste Gefolg-

schaft des Propheten Mohammad, die als Modell Gemeinschaft für Muslime weltweit dienen soll. Sa-

lafiya wird von liberalen sowie fundamentalistischen Muslimen unterschiedlich interpretiert.

Literatur: Weissmann, Itzchak (2004): Taste of modernity. Sufism, Salafiyya, and Arabism in late Ottoman

Damascus. 2., unveränderte Auflage. Leiden u.a.: Brill.

Schiiten

Die innerislamischen Machtkämpfe um die legitime Nachfolge des muslimischen Religionsgründers

führten nach dessen Tod zur Spaltung in Sunniten und Schiiten. Laut der sunnitischen Rechtsprechung

gibt es vier rechtgeleitete Kalifen (Vertreter des Gesandten Gottes, Fürst der Gläubigen oder Vorbeter),

Abû Bakr, Umar, Uthmân und Ali. Schiiten erkennen nur Ali als rechtmässigen Kalifen an und lehnen

die anderen ab. Sie berufen sich dabei auf Aussagen des Propheten. Die Zwölferschia stellt die grösste

Fraktion unter den Schiiten. Ihre Imamatslehre besteht aus zwölf Imamen, zu den ersten drei gehören

Ali und seine Söhne Hasan und Husain. Das Imamat ist an die Blutsbande gebunden – mit Ausnahme

Alis – und wird nur an die männlichen der Nachkommen der Prophetenfamilie vererbt. Sie gelten nach

dieser Tradition als unfehlbar und sündenlos. Laut der Zwölferschia lebt der 12. Imam (Mahdi) in der

Verborgenheit und wird als der Rechtgeleitete zurückkommen und die Muslime in Gerechtigkeit und

Einheit vereinen. Abgesehen vom letzten Imam werden die übrigen elf auch als Märtyrer bezeichnet.

Vor allem das Martyrium Husain spielt in der Heilstheologie der Zwölferschia eine besondere Rolle.

Schiiten glauben daran, dass der Koran erschaffen sei. Somit beruht die schiitische Theologie und

Rechtsprechung auf der Heiligen Schrift der Muslime, den Geboten sowie Verboten des Propheten und

der Imame sowie den Geistlichen bzw. Gelehrten. Aufgrund der theologischen Spaltung und Ablehnung

der sunnitischen Herrscher entwickelte sich die schiitische Rechtsfindung sehr kritisch gegenüber Au-

Islam in Liechtenstein – Anhang

126

toritäten. Rechtsgelehrte versuchten sich von sunnitischen Machtzentren fernzuhalten, trotzdem kön-

nen politische Allianzen nachgewiesen werden. Letzteres war nur möglich, da die Rechtslehre Schiiten,

die hohe politische Ämter kleideten, die Option einräumte, ihr Bekenntnis zum eigenen oder Schutz

der Gemeinschaft zu verbergen (Taqiya). Im 18. Jahrhundert entwickelte sich innerhalb der Zwölfer-

schia eine Rechtstradition, die die Gemeinde in Gelehrte und Gläubige teilte. Solange der zwölfte Imam

noch im Verborgenen weilt, so sei es ausnahmslos das Prärogativ der Gelehrten, ihn zu vertreten sowie

die Heilige Schrift und andere Rechtsquellen zu interpretieren. Gläubige dürfen den obersten Gelehr-

ten bzw. Rechtsgelehrten bestimmen. Ihre Entscheidungen sind temporär und können durch andere

Rechtsgelehrte aufgehoben werden.

Literatur: Fiedler, Markus (2016): Die Schia im Islam. Eine Einführung in Entstehung, Geschichte und re-

ligiöses Denken der Schiiten. Nordhausen: Verlag Traugott Bautz; Halm, Heinz (2015): Die Schiiten. 2.,

überarbeitete und aktualisierte Auflage, Original-Ausgabe München: C. H. Beck

Sunniten

Als Sunniten werden Muslime bezeichnet, die den vier islamischen Rechtsschulen angehören; die vier

rechtgeleiteten Kalifen werden als rechtmässige Nachfolger des Propheten anerkannt und der Sunna

folgen.

Sunna

Als gewohnte Handlung bzw. eingeführter Brauch wird die Sunna übersetzt. Sie ist neben Koran und

Hadith eine weitere wichtige Quelle für religiöse Normen. Entstanden ist die Tradition in der formati-

ven bzw. frühen Zeit des Islam. Nach dem Tod des Propheten fungierten die Gefährten „des Gesandten

Gottes“ als Vorbilder für die muslimische Gemeinschaft und konnten Informationen bzw. Auskunft

über das Handeln sowie Bräuche des Propheten weitergeben. Schiiten erkennen die vier rechtgeleite-

ten Kalifen nicht an.

Literatur: Duderija, Adis (Hg.) (2015): The Sunna and its status in Islamic law. The search for a sound

hadith. Basingstoke, Hampshire, New York: Palgrave Macmillan.

Sure

Die Kapitel des Korans werden als Suren bezeichnet. Insgesamt gibt es 114 Suren. Suren werden in

Verse unterteilt. Die kürzeste hat nur drei Verse, die längste 286. Die Namen der Kapitel bzw. der Suren

sind aus dem Text entnommen und dienen als Schlüsselwörter. Alle Suren bis auf die neunte beginnen

mit „Basmala“ (Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes). Sie können in mekkanische und

medinensische Suren unterteilt werden. Somit entsteht eine Chronologie bezüglich ihrer Offenbarung;

gleichzeitig ist eine definitive zeitliche Zuordnung nicht möglich.

Literatur: Neuwirth, Angelika (2013): Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, 3.

Auflage. Berlin: Verlag der Weltreligionen; Neuwirth, Angelika (2016): Der Koran. Handkommentar mit

Übersetzung. Berlin: Verlag der Weltreligionen.

Islam in Liechtenstein – Anhang

127

Wahhabiten

Als Wahhabiten werden Anhänger des Muhammad ibn Abd al-Wahhâb (1703–1791) bezeichnet, der

im 18. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel den Islam „erneuern“ wollte, da Muslime nicht mehr

ihre wirklichen Glaubenstraditionen lebten und Glaubensinhalte predigten. Beispielsweise lehnen die

Anhänger Wahhabs die weitverbreitete islamische Volkstradition der Heiligenverehrung und Fürspra-

che strikt ab. Alle islamischen Lehrmeinungen dürfen sich nur aus dem Koran, Hadith oder Sunna ab-

leiten lassen. Beispielsweise darf nach wahhabitischer Lehre der Geburtstag des Propheten nicht ge-

feiert werden, da er von den genannten Quellen nicht abgeleitet werden kann. Die Auslegungen der

vier Rechtsschulen werden abgelehnt. Muslime, die nach wahhabitischer Lehre vom Glauben abgefal-

len sind, dürfen getötet werden. Diese muslimische Tradition wird vor allem in Saudi-Arabien und an-

deren Golfstaaten praktiziert. Die politische Allianz zwischen Wahhab und dem Stamm der Saud auf

der arabischen Halbinsel sowie deren gemeinsame militärischen Erfolge führten zu einer raschen Aus-

breitung dieser islamischen Tradition.

Literatur: Ḥajjï, Tarek (2016): The Plague of radicalism. From Wahhabism & MBs to ISIS. Third edition.

Delemont: Edition Roznameh; Peskes, Esther (Hg.) (2016): Doctrine - Wahhabism and the exclusive Mus-

lim community. Berlin: Gerlach Press.

Weitere Stichworte

Kopftuchdiskussion: Die Haltung der IGGiÖ

Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) ist Bestandteil des österreichischen

Rechtssystems. Auch in Liechtenstein sind IGGiÖ-Mitglieder aktiv und u.a. mit dem Religionsunterricht

betraut.

Die IGGIÖ nimmt immer wieder an öffentlichen Diskussionen über das authentische muslimische Le-

ben in Österreich sowie Europa teil. Zuletzt wurde auch eine Stellungnahme zur Verhüllung im Islam

veröffentlicht.1 Die Art der Argumentation ist dabei sehr problematisch und gefährlich. Der Grund: Die

IGGIÖ beschreibt das Tragen eines Kopftuches als „absolute Pflicht“, als fard, und setzt das Kleiderge-

bot somit de facto auf eine Stufe mit den heiligen fünf Säulen des Islam, Glaubensbekenntnis, Gebet,

Ramadan, Fasten und Pilgerfahrt nach Mekka. Nach islamischer Glaubenslehre werden Muslime, die

nicht nach den absoluten Glaubensregeln leben, im Diesseits und (oder) Jenseits durch Gott bestraft.

Die Haltung der IGGIÖ suggeriert somit, dass Gläubige ein Kopftuch tragen müssen und diejenigen, die

es nicht tun, mit göttlichen Strafen rechnen müssen, auch wenn in der Stellungnahme selber betont

wird, dass „Frauen und Männer, die sich nicht an die religiösen Kleidungsgebote halten, keinesfalls von

anderen abgewertet werden dürfen“.

Ein weiteres Problem ist, dass die islamische Geschichte oftmals simplifiziert und zur Untermauerung

der eigenen Argumentation genutzt wird. Die IGGiÖ versucht, die eigene Position mit Blick auf das

Kopftuch in das koranische Narrativ um den Propheten und seinen Ehefrauen einzubetten. Während

das Verhüllen zur Zeit Mohammads der Unterscheidung von freien Frauen und Sklavinnen diente, so

1 http://www.derislam.at/index.php?c=content&p=beitragdet&v=beitraege&cssid=Stellungnahmen&na

vid=1180&par=50&bid=53 (Zugriff am 12.3.2017).

Islam in Liechtenstein – Anhang

128

versucht die IGGIÖ, die Textstellen im Koran ohne Kontextbezug auf die Gegenwart zu übertragen.

Dadurch wird suggeriert, dass eine einheitliche innerislamische Sichtweise mit Blick auf die Frage der

Verhüllung vorhanden sei.

Fazit: Gerade im Religionsunterricht ist es wichtig, Kinder und Jugendliche nicht mit einfachen Lehr-

meinungen zu konfrontieren und die Komplexität der eigenen Glaubenstradition zu verschleiern. Das

Rechtsurteil erschwert eine kontroverse Diskussion über Emanzipation und die kritisch-historische

Auseinandersetzung mit der eigenen Religion.

Radikalisierung

Seit mehreren Jahren ist festzustellen, dass radikale islamische Ideologien bzw. Gruppen auf in Europa

geborene und aufgewachsene Muslime sowie Konvertiten eine besondere Faszination ausüben. Solche

Entwicklungen sind schwer zu unterbinden, zumal radikal islamische Bewegungen Jugendliche u.a.

dadurch für ihre Ziele gewinnen, indem sie ihnen mehr Anerkennung bzw. theologische Fähigkeiten

versprechen. Laut dschihadistischen Gruppen ist jeder Muslim in der Lage, den Koran und die Überlie-

ferungen ohne Unterstützung zu verstehen und die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Somit „ermög-

lichen“ sie es Jugendlichen, sich „selbstbestimmt“ für radikale Ansichten zu begeistern. Laut verschie-

denen Sozialwissenschaftlern sind auch schwierige Umweltbedingungen sowie persönliche Schwä-

chen von Jugendlichen ein Anreiz, radikalen Gruppen beizutreten. Der Verteidiger des vor Kurzem in

Vorarlberg wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilten tschetschenischen

IS-Anhängers machte vor allem dessen schwierige Lebensgeschichte für seine Teilnahme an einer Ter-

rororganisation am Syrienkrieg verantwortlich.2

Viele verschiedene Online-Diskussionsplattformen und YouTube-Kanäle bieten Jugendlichen die Mög-

lichkeit, mit radikalen Predigern in Interaktion zu treten3. Heute sind nicht nur transnationale islamis-

tische Gruppen im Internet aktiv, sondern auch radikale Prediger, die aus Deutschland oder anderen

europäischen Ländern kommen. Pierre Vogel wäre u. a. ein Beispiel hierfür. Sie versuchen mit Verweis

auf aktuelle Konflikte, die Jugendlichen auf eine globale Unterdrückung der Muslime hinzuweisen. Die

Simplifizierung internationaler und regionaler Konflikte führt u. a. zu Sympathie und Zustim-

mung. Hüseyin I. Çiçek

2 http://www.vol.at/vorarlbergs-erster-terrorprozess-is-dschihadist-vor-gericht/5159758 (Zugriff am

13.3.2017). 3 Siehe Neumann, Peter (2015): Die neuen Dschihadisten. IS, Europa und die nächste Welle des Terroris-

mus. Berlin: Econ.

Islam in Liechtenstein – Anhang

129

10.3 Presseberichterstattung Grüne Moschee

Liechtensteiner Vaterland, 18.5.1988

Islam in Liechtenstein – Anhang

130

Liechtensteiner Vaterland, 18.7.1995

Liechtensteiner Vaterland, 24.10.1994

Islam in Liechtenstein – Anhang

131

Liechtensteiner Volksblatt, 18.7.1997

Liechtensteiner Volksblatt, 5.9.1997

Islam in Liechtenstein – Anhang

132

Liechtensteiner Volksblatt, 19.9.1997

Liechtensteiner Vaterland, 6.11.2009

Liechtensteiner Vaterland, 23.11.2001

Liechtensteiner Vaterland, 7.11.2009

Islam in Liechtenstein – Anhang

133

Liechtensteiner Vaterland, 27.5.2013

Islam in Liechtenstein – Anhang

134

Liechtensteiner Volksblatt, 3.10.2014

Islam in Liechtenstein – Anhang

135

Liechtensteiner Volksblatt, 22.10.2014

Islam in Liechtenstein – Anhang

136

Liechtensteiner Vaterland, 22.10.2014

Liechtensteiner Vaterland, 10.11.2014

Islam in Liechtenstein – Anhang

137

Islam in Liechtenstein – Anhang

138

Lie-Zeit, 30.11.2014

Islam in Liechtenstein – Anhang

139

Lie-Zeit, 30.11.2014

Islam in Liechtenstein – Anhang

140

Lie-Zeit, 30.11.2014

Islam in Liechtenstein – Anhang

141

10.4 Presseberichterstattung aus Vorarlberg

Islam in Liechtenstein – Anhang

142

vol.at, 21. Juli 2017