12
O bwohl der indonesische Archipel mit seinen etwa 210 Mio. Einwohnern das viertbevölke- rungsreichste und mit etwa 180–190 Mio. Mus- limen das größte islamische Land der Erde ist, konzentriert sich die journalistische und die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Islamisie- rung zumeist auf den nahöstlichen Raum. Dabei hat der Islam – sowohl als way of life als auch als politische Lehre – eine ungeheure Aufwertung in Südostasien, insbesondere in Malysia und Indone- sien erfahren. Schon in den 70er Jahren nahm in Indonesien das Interesse an der islamischen Lehre zu. Seit Ende der 80er Jahre sah sich das Suharto-Regime genötigt, Muslime zunehmend zu kooptieren. Mit der Einführung der parlamentarischen Demokratie seit dem Rücktritt Suhartos (am 21. Mai 1998) und der Gründung neuer islamischer Parteien und Organisationen ist der Islam zu einer bedeutenden politischen Größe geworden. In diesem Aufsatz soll der Aufstieg orthodox- islamischer Gruppen beschrieben und die mög- liche weitere Entwicklung bewertet werden. 1 Aus der Untersuchung ergibt sich die These, dass zwar die Entstehung eines gesamtindonesischen Islamstaates sehr unwahrscheinlich, dass aber der Zusammenbruch der jungen parlamentarischen Demokratie durch das Zusammenwirken von reak- tionären Kräften, Sezessionisten, gewaltbereiten Islamisten und populistischen Politiker sehr wohl möglich ist. Frühe Entwicklungen Während eine aus Indien stammende Mixtur hin- duistischer und buddhistischer Elemente schon seit dem 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr. die existie- renden animistischen Vorstellungen ergänzte und umformte, drang der Islam erst etwa seit dem 13. Jahrhundert in den Archipel vor. Entlang der Handelsrouten in die Molukken entstand in den folgenden Jahrhunderten eine Reihe von isla- mischen Fürstentümern. Erst im 17. Jahrhundert konnte der Islam in nennenswertem Umfang in das javanische Binnenland vordringen. Über die Handel treibenden Ausländer der Nordküste Javas gelangte eine von persischen und indischen mys- tischen Elementen bereicherte Variante in die javanischen Patrimonialreiche. Diese »sufistischen« Lehren konnten in die bestehenden hindubuddhis- tischen Glaubenssysteme relativ leicht integriert werden. König Agung von Mataram durfte Mitte des 17. Jahrhunderts mit offizieller Bestätigung aus Mekka den Sultanstitel tragen, aber zugleich hielt er an vielen hindubuddhistischen Ideen, Zeremo- nien und Herrschaftsinsignien fest. Im Mataram- Reich wurden also Teile der islamischen Doktrin integriert und Enklaven der Orthodoxie, oft in und um die Islaminternate (Pesantren), geduldet. Grundsätzlich galten die Ulama, die Islamgelehr- ten, aber als subversiv. Amangkurat I. ließ im 17. Jahrhundert 5.000–6.000 von ihnen ermorden, wodurch die Stellung der orthodoxen Muslime für lange Zeit geschwächt wurde. Deshalb schreibt Anderson über die Bedeutung des Islam in jener Zeit und danach: »To use Gramsci’s term, at no point did a ›hegemonic‹ Islamic culture develop in Java. The self-consciousness of pious Muslims re- mained strictly ›corporate‹. Political and cultural subordination went hand in hand.« 2 181 IPG 2/2001 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien ANDREAS UFEN Islam und Politik in Indonesien 1. Teile dieses Aufsatzes überschneiden sich mit einzel- nen Passagen meiner Dissertation: Ufen, A (2001): Herr- schaftsfiguration und Demokratisierung in Indonesien (1965–2000); Hamburg, i. E. Die beste Darstellung der Entwicklung des indonesischen Islam bis 1998: Hefner, R.W. (2000): Civil Islam: Muslims and Democratization in Indonesia; Princeton, New Jersey. 2. Anderson, B.R.O’G (1972): »The Idea of Power in Javanese Culture«; in: Holt, C. (ed.): Culture and Poli- tics in Indonesia; Ithaca, S. 1–69; hier S. 59.

Islam und Politik in Indonesien

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Islam und Politik in Indonesien

Obwohl der indonesische Archipel mit seinenetwa 210 Mio. Einwohnern das viertbevölke-

rungsreichste und mit etwa 180–190 Mio. Mus-limen das größte islamische Land der Erde ist,konzentriert sich die journalistische und die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Islamisie-rung zumeist auf den nahöstlichen Raum. Dabeihat der Islam – sowohl als way of life als auch alspolitische Lehre – eine ungeheure Aufwertung inSüdostasien, insbesondere in Malysia und Indone-sien erfahren.

Schon in den 70er Jahren nahm in Indonesiendas Interesse an der islamischen Lehre zu. SeitEnde der 80er Jahre sah sich das Suharto-Regimegenötigt, Muslime zunehmend zu kooptieren. Mitder Einführung der parlamentarischen Demokratieseit dem Rücktritt Suhartos (am 21. Mai 1998) undder Gründung neuer islamischer Parteien und Organisationen ist der Islam zu einer bedeutendenpolitischen Größe geworden.

In diesem Aufsatz soll der Aufstieg orthodox-islamischer Gruppen beschrieben und die mög-liche weitere Entwicklung bewertet werden.1 Ausder Untersuchung ergibt sich die These, dass zwar die Entstehung eines gesamtindonesischenIslamstaates sehr unwahrscheinlich, dass aber derZusammenbruch der jungen parlamentarischenDemokratie durch das Zusammenwirken von reak-tionären Kräften, Sezessionisten, gewaltbereitenIslamisten und populistischen Politiker sehr wohlmöglich ist.

Frühe Entwicklungen

Während eine aus Indien stammende Mixtur hin-duistischer und buddhistischer Elemente schonseit dem 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr. die existie-renden animistischen Vorstellungen ergänzte undumformte, drang der Islam erst etwa seit dem 13. Jahrhundert in den Archipel vor. Entlang der

Handelsrouten in die Molukken entstand in denfolgenden Jahrhunderten eine Reihe von isla-mischen Fürstentümern. Erst im 17. Jahrhundertkonnte der Islam in nennenswertem Umfang indas javanische Binnenland vordringen. Über dieHandel treibenden Ausländer der Nordküste Javasgelangte eine von persischen und indischen mys-tischen Elementen bereicherte Variante in die javanischen Patrimonialreiche. Diese »sufistischen«Lehren konnten in die bestehenden hindubuddhis-tischen Glaubenssysteme relativ leicht integriertwerden. König Agung von Mataram durfte Mittedes 17. Jahrhunderts mit offizieller Bestätigung ausMekka den Sultanstitel tragen, aber zugleich hielter an vielen hindubuddhistischen Ideen, Zeremo-nien und Herrschaftsinsignien fest. Im Mataram-Reich wurden also Teile der islamischen Doktrinintegriert und Enklaven der Orthodoxie, oft inund um die Islaminternate (Pesantren), geduldet.Grundsätzlich galten die Ulama, die Islamgelehr-ten, aber als subversiv. Amangkurat I. ließ im 17. Jahrhundert 5.000–6.000 von ihnen ermorden,wodurch die Stellung der orthodoxen Muslime fürlange Zeit geschwächt wurde. Deshalb schreibtAnderson über die Bedeutung des Islam in jenerZeit und danach: »To use Gramsci’s term, at nopoint did a ›hegemonic‹ Islamic culture develop inJava. The self-consciousness of pious Muslims re-mained strictly ›corporate‹. Political and culturalsubordination went hand in hand.«2

181IPG 2/2001 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien

ANDREAS UFEN

Islam und Politik in Indonesien

1. Teile dieses Aufsatzes überschneiden sich mit einzel-nen Passagen meiner Dissertation: Ufen, A (2001): Herr-schaftsfiguration und Demokratisierung in Indonesien(1965–2000); Hamburg, i. E. Die beste Darstellung derEntwicklung des indonesischen Islam bis 1998: Hefner,R.W. (2000): Civil Islam: Muslims and Democratizationin Indonesia; Princeton, New Jersey.2. Anderson, B.R.O’G (1972): »The Idea of Power inJavanese Culture«; in: Holt, C. (ed.): Culture and Poli-tics in Indonesia; Ithaca, S. 1–69; hier S. 59.

Page 2: Islam und Politik in Indonesien

Anfang des 17. Jahrhunderts hatten niederlän-dische Kaufleute der Vereinigten OstindischenKompanie (VOC), begonnen, den Gewürzhandelgewaltsam zu monopolisieren. Die Handelsgesell-schaft übte auf die einheimischen Reiche abernoch keinen nachhaltigen Einfluss aus. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts übernahm die nieder-ländische Krone die VOC. In der Folge wurde die Kolonialherrschaft systematisiert. Schon baldsah die neue niederländische Verwaltungselite ineinem Bündnis zwischen den kooptierten »Priyayi«,den Beamtenaristokaten, und den Ulama einegroße Gefahr. Ein solches Bündnis führte 1825–30zum außerordentlich verlustreichen Java-Krieg.Die Niederländer setzten aus Sorge vor den ortho-doxen Muslimen überwiegend synkretistische Mus-lime, »Abangan«, in der kolonialen Verwaltungein.3 Auf diese Weise blieb den orthodoxen Musli-men, den »Santri«, der Zugang zum Staatsapparatversperrt.

Trotzdem gewannen die orthodoxen Muslimeseit Ende des 19. Jahrhunderts unter den Einhei-mischen an Einfluss, weil die Priyayi wegen ihrerAbhängigkeit von den Niederländern zunehmendan Macht und Legitimität einbüßten und weil zurgleichen Zeit reformistische bzw. modernistischeStrömungen aus dem Nahen Osten den indone-sischen Islam zu beleben begannen. Erst um 1900war der Abangan-Santri-Gegensatz völlig ent-wickelt. Der Santrismus wurde zu einer religiösenund politischen, d. h. antikolonialen Doktrin aus-gearbeitet und zunehmend von den klassischen,hindubuddhistischen Traditionen Indonesiens ab-gegrenzt.4

Um 1910 setzte sich der Modernismus unterden Händlerschichten der größeren Städte mehrund mehr durch. Es kam zur Gründung des Sarekat Islam, der ersten großen nationalistischenVereinigung, und der Muslimorganisation Muham-madiyah. 1926 wurde als Reaktion auf den aufkei-menden Modernismus die Nahdatul Ulama (NU,»Renaissance der Ulama«), eine Interessenvertre-tung der traditionalistisch orientierten Islamge-lehrten, die ihre Basis in den javanischen Dörfernhaben, gegründet.

Der Gegensatz zwischen Abangan und Santriund zwischen Traditionalisten und Modernistenprägte den indonesischen Islam über Jahrzehnte,und z. T. lassen sich diese Spaltungen, wenn auchin modifizierter Form, bis heute verfolgen. Es

gab nur für kurze Zeit eine gewisse Einigung isla-mischer Gruppen, etwa 1937 durch den antikolo-nial orientierten Obersten Indonesischen IslamratMIAI5 und durch den während der japanischen Besetzung (1942–45) gegründeten Masyumi6

(1943). Die Spaltungen innerhalb des indone-sischen Islam blieben aber auch in der Hochphasedes antikolonialen Kampfes bestehen.

Seit 1945, also seit Erlangung der Unabhängig-keit, wurde über die Frage diskutiert, welchenStellenwert die Scharia in der Verfassung habenund ob die Republik Indonesien ein islamischerStaat sein sollte. Mit der Formulierung der Jakarta-Charta einigten sich die säkularistisch orientierten Nationalisten und die islamischenFührer in dem Komitee für die Vorbereitung derVerfassung vom 22. Juni 1945 auf einen Kompro-miss.7 Mit der Charta wurde die Anordnung derfünf Prinzipien der Staatsphilosophie, der »Panca-sila«,8 verändert und das nun an erster Stelle

Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien IPG 2/2001182

3. Zum besseren Verständnis des indonesischen Islamunterscheidet man im Anschluss an Clifford Geertz (Geertz 1960: The Religion of Java; London) zwischenden orthodoxen Muslimen, den Santri, und den synkre-tistischen Muslimen, den Abangan. Die – häufig klein-bäuerlichen – Abangan glauben an javanische Göttermeist indischen Ursprungs (nach einer Berechnung waren es Ende des 19. Jahrhundert über 1000), an eineUnzahl von Geistern und an die magischen Kräfte von»dukun«, die als Zauberer, Hexer, Medizinmännerund/oder Wahrsager auftreten.4. Geertz, C. (1991): Religiöse Entwicklungen im Islam.Beobachtet in Marokko und Indonesien; Frankfurt/Main;hier S. 100 ff.5. Majelis Islam A’la Indonesia.6. Majelis Syuro Muslimin Indonesia = Konsultativratder Indonesischen Muslime.7. Die Jakarta-Charta ist bis heute in ihrem Gehalt um-stritten. Der Kernsatz »dengan kewajiban menjalankamsyari’at Islam bagi pemeluk-pemeluknya« bedeutet in derÜbersetzung: »mit der Verpflichtung für die Muslime,die Scharia auszuführen/anzuwenden«.8. Zu den fünf Prinzipien der Staatsphilosophie, derPancasila, zählen: der Glaube an den Alleinigen Gott(Ketuhanan Yang Maha Esa); die gerechte und zivili-sierte Menschlichkeit (Kemanusiaan yang adil dan beradab); die Einheit Indonesiens (Persatuan Indonesia);die weise geführte Demokratie, beruhend auf allgemei-ner Beratung und Volksvertretung (Kerakyatan yang dipimpin oleh hikmat kebijaksanaan dalam permusyawa-ratan/perwakilan) und die soziale Gerechtigkeit für dasgesamte indonesische Volk (Keadilan sosial bagi seluruhrakyat Indonesia); vgl. Wandelt, I. (1989): Der Weg zumPancasila-Menschen; Frankfurt/Main.

Page 3: Islam und Politik in Indonesien

stehende Prinzip des Glaubens an den einen Gottum den Zusatz erweitert, dass Muslime die Schariaanzuwenden hätten. Allerdings sorgte MohammadHatta, damals nach Sukarno die einflussreichstePersönlichkeit in Indonesien, dafür, dass dieserPassus in der dann gültigen Fassung der Präambelund des Verfassungstextes nicht mehr auftauchte.Hatta fürchtete Widerstand insbesondere von christ-lichen Ostindonesiern. Die Änderung wurde spätervon vielen Muslimen als Betrug gewertet.9

Indonesien wurde endgültig im Jahre 1949unabhängig. Zuvor waren die 1945 zurückge-kehrten Niederländer in einem blutigen Krieg an der Wiedererrichtung ihrer Kolonialherrschaftgehindert worden. Erst sechs Jahre später, imJahre 1955, fanden die ersten freien Wahlen statt.Die islamischen Parteien erreichten zusammen nur43,5 % der Stimmen. Der Vorstellung, einen Islam-staat errichten zu können, erwies sich als Illusion,da die Abangan sich zur großen Enttäuschung derorthodoxen Muslime den nichtislamischen Par-teien (der Partai Nasional Indonesia, PNI, und derPartai Komunis Indonesia, PKI) zuwandten.10

Auch in der Konstituante, die 1956–59 eineneue Verfassung ausarbeiten sollte, waren die Ver-handlungen von den Streitigkeiten zwischen ortho-doxen Muslimen und ihren Widersachern geprägt.Zum Zeitpunkt der Auflösung dieser Versamm-lung durch Sukarno (1959) sprachen sich 48 % derAbgeordneten für den Islam als Wertebasis der Republik Indonesien aus, 52 % stimmten für diePancasila.

Nach der Einführung der Gelenkten Demo-kratie, einer populistischen Scheindemokratie,durch Sukarno im Jahre 1959 und dem Verbot vomMasyumi ein Jahr später (wegen der Beteiligungeiniger Masyumi-Politiker an regionalistischen Bewegungen) war der modernistische Islam alsparteipolitische Kraft entscheidend geschwächt.Die NU wurde in eine fragile Allianz von Nationa-listen, religiösen Gruppen und Kommunisten ein-gebunden.11 Die Bürokratie und das Militär warenweiterhin von Abangan beherrscht.

1964/65 steigerten sich die Spannungen zwi-schen den meist grundbesitzenden Santri und der ländlichen Abangan-Unterschicht, da die PKI

in »einseitigen, eigenmächtigen Aktionen« (aksisepihak) begann, die 1960 vom Parlament be-schlossene Landreform durchzusetzen. Die wohl-habenden Bauern konnten die Landbesetzungen

verhindern und rächten sich zu Beginn der NeuenOrdnung mit Massakern an den Kommunistenund ihren Sympathisanten.

Der Islam in der frühen und mittleren Phase derNeuen Ordnung

Die Muslime (etwa der NU-JugendorganisationAnsor oder des Studentenverbandes HMI) hattenerheblichen Anteil an der Zerschlagung der Kom-munistischen Partei und der politischen Linkenüberhaupt. Trotzdem blieben sie aus den Zentrender »Orde Baru«, der »Neuen Ordnung«, unterSuharto (1965–98) weitgehend ausgeschlossen.

Die Neue Ordnung war eine von Präsident Suharto dominierte Militärdiktatur. Das Militär legitimierte sich mit der Doktrin der »dwifungsi«,d. h. der Doppelfunktion im militärischen Bereicheinerseits, im sozialen, politischen und wirtschaft-lichen Bereich andererseits. Die drei offiziell zu- gelassenen Parteien gaben dem Regime einen demokratischen Anstrich. Die RegierungsparteiGolkar (Golongan Karya = funktionale Gruppen12)konnte die weitgehend manipulierten Wahlen immer zu ihren Gunsten entscheiden. Die beidenanderen, allenfalls halboppositionellen Parteien,die 1973 von der Regierung per Gesetz geschaffen

183IPG 2/2001 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien

9. Ramage, D. E. (1995): Politics in Indonesia: Demo-cracy, Islam and the Ideology of Tolerance; London; hier S. 16 f.10. Vor den Wahlen hatte sich der Gegensatz zwischenden Traditionalisten der NU (die sich Anfang der 50erJahre aus dem Masyumi zurückgezogen und eine eigenePartei gegründet hatte) und den beim Masyumi bleiben-den Modernisten wieder etwas verstärkt.11. Sukarno bezeichnete diese Allianz mit demAkronym »Nasakom«. Die drei Silben stehen für Natio-nalismus (Nasionalisme), Religion (agama) und Kom-munismus (komunisme).12. Hinter dem Konzept der funktionalen Gruppenverbirgt sich die auch vom ehemaligen Präsidenten Sukarno propagierte Ideologie, wonach in einer wirt-schaftlich unterentwickelten Gesellschaft wie der indone-sischen, in der sich noch keine Klassenstrukturen gebil-det haben, gerechte Entscheidungen unter Berücksichti-gung sämtlicher Interessengruppen getroffen werdenkönnen. Die funktionalen Gruppen (Frauen, Jugend-liche, Lehrer, Ärzte usw.) unterscheiden sich nicht auf-grund ihrer Klassenlage voneinander, sondern aufgrundihrer Funktion in der arbeitsteiligen Gesellschaft. Golkarnahm für sich in Anspruch, alle wichtigen gesellschaft-lichen Gruppen angemessen zu repräsentieren.

Page 4: Islam und Politik in Indonesien

und danach ständig beaufsichtigt wurden, nämlichdie PDI (Partai Demokrasi Indonesia = Demokra-tische Partei Indonesien) und die islamische PPP

(Partai Persatuan Pembangunan = Vereinigte Ent-wicklungspartei), hatten bis zum Ende der NeuenOrdnung mit ihrem schlechten Image als Legiti-mationsbeschaffer zu kämpfen.

In der Frühphase des Suharto-Regimes (von1965 bis Ende der 60er Jahre) gehörten noch viele muslimische Führer zur neu geschmiedeten Regimekoalition. Danach, bis Ende der 80er Jahre,war diese Beziehung von einer großen Ambivalenz gekennzeichnet: Einerseits gab es weiterhin vieleMuslime, die als Mitglieder der großen Muslim-organisationen Nahdatul Ulama und Muham-madiyah sowie der PPP das Regime unterstützten,andererseits existierten einzelne Gruppierungen,die die Regierungspolitik bekämpften oder zumin-dest kritisierten. Viele Muslime fühlten sich sogardiskriminiert. Von Natsir, der früher Masyumi-Vorsitzender und lange einer der führenden isla-mischen Intellektuellen in Indonesien war, stammtder häufig zitierte Ausspruch, die Muslime seienvom Staat wie »cats with ringworms« behandeltworden.13

Trotz oder gerade wegen dieser Diskriminie-rung kam es seit den 70er, verstärkt aber seit den80er Jahren zu einer allgemeinen Islamisierung. Es wurde mehr und regelmäßiger gebetet, die Moscheen waren an den Freitagen gefüllt, man benutzte häufig arabische Ausdrücke, begrüßtesich in dieser Sprache, und Gebetsnischen wurdenin fast jedem Büro und jedem Geschäft eingerich-tet.

Die so genannte »Normalisierung des Campus-Lebens« im Jahre 1978 (ein Euphemismus für die verschärfte Kontrolle der Universitäten), dieSchwächung der politischen Parteien, insbeson-dere der islamischen, und die Depolitisierungsämtlicher Organisationen, zumal die Durchset-zung der Pancasila als »azas tunggal«, d. h. als dereinzig zugelassenen ideologischen Grundlage vonParteien und Massenorganisationen, bewirktenzwar eine Privatisierung der Religion, nicht aberihre Entpolitisierung. Der Islam wurde zu einerLehre des Widerstandes gegen reiche Sinoindo-nesier und gegen korrupte Politiker, Bürokratenund Militärs. Auch die westlich orientierte, urbaneMittelklasse artikulierte selbstbewusst ihre Inter-essen unter Berufung auf islamische Gedanken.

Von anderen wiederum wurde die Lehre als kon-servativer, traditionalistischer Aufruf zur Abkehrvon der moralischen Verkommenheit des okziden-talen Liberalismus und modernen Kapitalismus gedeutet.

Der allgemeine Trend zur Rückbesinnung aufden Islam ist auch vor dem Hintergrund globalerVeränderungen zu sehen. Die in vielen Ländern zubeobachtende Repolitisierung des Islam dürfteeine Reaktion auf die – von vielen Muslimen sowahrgenommene – globale Vorherrschaft der okzi-dentalen, christlich-jüdischen Kultur sein. Der Islam ist deshalb in den 80er Jahren zuneh-mend zu einer gegen die Verwestlichung gerich-teten »Defensiv-Kultur« geworden.14 Eine weitereUrsache der Wiederbelebung der Religion ist der enorme wirtschaftliche Wandel, der zur Ent-stehung einer neuen Mittelklasse führte. DieseMittelklasse, bestehend aus zumeist in Städten lebenden Professionals sowie kleinen und mitt-leren Unternehmern, interpretierte die islamischeLehre neu.15 Die staatliche Kooptationsstrategie inden 90er Jahren war vor allem auf diese Gruppegerichtet.

Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien IPG 2/2001184

13. Es gibt Staaten, deren Rechtssysteme auf islami-schem Recht, der Scharia, aufbauen und deren politischeGremien in ihrer Struktur und ihren Entscheidungs-befugnissen ausdrücklich von dieser Scharia abgeleitetsind. Andere Staaten erheben den Islam zur Staatsreli-gion, sind aber fast vollständig säkularisiert. In der OrdeBaru (Neuen Ordnung) waren durch die Pancasila meh-rere monotheistische Religionen als gleichberechtigt anerkannt. Das waren neben dem Islam der Protestantis-mus, der Katholizismus, der Buddhismus und der Hin-duismus. Indonesien ist somit ein de facto weitgehendsäkularisierter Sondertypus.14. Vgl. Tibi, B. (1991): Die Krise des modernen Islams –Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-techni-schen Zeitalter; Frankfurt/Main. In Indonesien sind dieorthodoxen, konservativen Muslime i. d. R. antiwestlicheingestellt. Diese Haltung richtet sich besonders gegenden vermeintlich unmoralischen Lebenswandel, gegenden angeblich besonders brutalen Kapitalismus und gegen die »Gottlosigkeit« in den westlichen Ländern. InIndonesien konnte islamische Orthodoxie aber auch einZeichen der Opposition gegen das – zumindest teilweise»verwestlichte« – Suharto-Regime sein.15. Deswegen wird häufig von »neo-Santri« gespro-chen, vgl. Hefner 2000, 105 und 119. Aus der umfang-reichen Literatur zu diesem Thema sei nur erwähnt:Hasbullah, M. (2000): »Cultural Presentation of theMuslim Middle Class in Contemporary Indonesia«, in:Studia Islamika. Indonesian Journal for Islamic Studies;Vol. 7, no. 2, S. 1–57.

Page 5: Islam und Politik in Indonesien

Die Stärkung des Islam in den letzten Jahren der Neuen Ordnung

Im Jahre 1988 verschärfte sich der Konflikt zwischen Suharto und einer Gruppe von Militärsum Benny Murdani, dem christlichen Komman-deur der Streitkräfte, der über ein Netzwerk vonGeheimdiensten verfügte. Suharto versuchte, dieArmee zu schwächen und die Führung stärker unter seine Kontrolle zu bringen. Ein Mittel dafürwar seine Annäherung an islamische Gruppen. Dadurch änderte sich das Verhältnis der Regime-koalition zum Islam und umgekehrt die Haltungvieler Muslime zum Staat. Der Präsident begannseine Reden mit einem »assalamulaikum«. Er pil-gerte nach Mekka und nannte sich seitdem »Muhammad Haji«. Er wollte offenbar eine Artstiller Koalition mit Muslimgruppen eingehen, umden Murdani-Flügel des Militärs, der 1989 im Par-lament eine Debatte über eine politische Öffnung(keterbukaan) begonnen und forciert hatte, besserkontrollieren zu können. Murdani wurde schließ-lich im Jahre 1993 vollends entmachtet.

Die größere Bedeutung des Islam in Indonesienseit Mitte/Ende der 80er Jahre hat aber nicht nur in der Hinwendung des Präsidenten zur Santri-Variante des Islam, sondern auch in verschiedenengesetzlichen Veränderungen und politischen Maß-nahmen16 ihren Niederschlag gefunden:� Die Regierungsausgaben für den Bau von

Moscheen, für die Verbreitung der islamischenLehre und die finanzielle Unterstützung derstaatlichen Islam-Universitäten wurden deutlicherhöht.

� Ein neues Bildungsgesetz legte einen obligato-rischen Religionsunterricht in den staatlichenund privaten Bildungseinrichtungen fest.

� Die islamischen Gerichte wurden bei Fragenvon Heirat, Scheidung und Erbschaft gesetzlichgestärkt; außerdem wurde das islamische Rechtsystematisiert.

� Die Indonesische Vereinigung islamischer Intel-lektueller ICMI (Ikatan Cendekiawan Muslim Se-Indonesia) wurde 1990 gegründet.

� Musliminnen durften seit 1990 in Schulen denjilbab, ein das Gesicht frei lassendes, bis auf dieSchultern reichendes Kopftuch, tragen.

� Islamische Kulturfestivals wurden veranstaltet.� Eine Islambank (Bank Muamalat) wurde errich-

tet.

� Die staatliche Lotterie wurde nach anhaltendenProtesten verboten.

� Es kam zu einer »Vergrünung« (penghijauan)der Parlamente, der Kabinette, des Golkar-Vor-standes17 und der Militärführung. Das heißt, dieAnzahl der orthodoxen Muslime in Spitzenposi-tionen nahm sprunghaft zu. So hatte, um nurein Beispiel zu nennen, Suharto bis Anfang der90er Jahre die Santri aus den höheren Rängendes Militärs ausgeschlossen, weil er den Auf-stieg der Muslime zu einer mächtigen poli-tischen Gruppierung verhindern wollte. Die Generäle Feisal Tanjung und Try Sutrisno warendann die ersten orthodoxen Muslime, die in diehöchsten Militärränge vorstoßen konnten.

Es vertiefte sich im Zuge dieser staatlich geför-derten »Vergrünung«, die auch eine Reaktion aufeine genuine Belebung des Islam als »way of life«und als politische Lehre war, die bestehende Spal-tung zwischen den modernistischen Muslimen, diesich um Amien Rais u. a sammelten, und den »säkularen Nationalisten«, u. a. durch Abdurrah-man Wahid18 und durch Megawati Sukarnoputri,die Tochter des hoch geachteten ehemaligen Präsi-denten Sukarno, vertreten wurden.

Insbesondere die Gründung der Intellektuellen-organisation ICMI verstärkte diese Polarisierung.Für viele modernistische Muslime war mit der Etablierung dieser Organisation der jahrzehnte-langen Unterdrückung durch säkularistisch orien-tierte, häufig christliche Militärs, die mit sinoindo-nesischen, ebenfalls häufig christlichen Industrie-bosse zusammenarbeiteten, ein Ende bereitet. VieleICMI-Mitglieder wollten eine »proportionale« –ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölke-rung entsprechende – Vertretung der orthodoxenMuslime im Militär, in der Verwaltung, in den

185IPG 2/2001 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien

16. Thaba, A.A. (1996): Islam dan negara dalam politikOrde Baru (1966–1994); Jakarta; S. 278 ff.17. Auch im Volkskongress MPR (Majelis Permusyawa-ratan Rakyat) wurde Golkar seit 1993 zunehmend durchbekannte und geachtete islamische Führer bzw. Intellek-tuelle vertreten (siehe: Mas’oed, M./Arfani, R.N. (1994):»SU-MPR dan Pembentukan Kabinet VI«; in: Profil Indo-nesia, Jurnal Tahunan CIDES, Nr. 1, Jakarta).18. Wahid ist Enkel des NU-Gründers und Sohn einesehemaligen Religionsministers. Er studierte an der al-Azhar-Universität in Kairo und an der Universität vonBagdad und arbeitete als Dekan der Theologie-Fakultätder kleinen Hasyim-Asyari-Universität in Jombang undals Generalsekretär eines Islaminternates.

Page 6: Islam und Politik in Indonesien

Ministerien und in der Regierungspartei Golkarerreichen. Einige von ihnen hofften sogar darauf,die wirtschaftliche Übermacht der Sinoindonesierzu brechen und die »Pribumi«, die indigenen Indonesier, nach malaysischem Muster durch »affirmative actions« zu ebenbürtigen Unterneh-mern zu machen.

Doch nicht alle muslimischen Führer waren bereit, sich ICMI anzuschließen. Abdurrahman Wa-hid, der charismatische, hoch angesehene NU-Vor-sitzende, der als liberaler Intellektueller an derSpitze einer in vielen Fragen konservativ-tradito-nalistischen Organisation ohnehin eine Reizfigurwar, warf ICMI »sektiererische« Absichten vor. Ergründete das »Demokratieforum« (Forum Demo-krasi), das allerdings aufgrund dauernder Repres-salien der Militärs nie mehr als ein Intellektuellen-zirkel war. Anders als ICMI stellte das Forum die Demokratisierungsfrage in den Vordergrundund nahm auch angesehene Nichtmuslime auf.Für Wahid war ICMI eine Organisation, die die ohnehin schon gespannten Beziehungen zu denreligiösen Minderheiten durch eine skripturalis-tisch-modernistische Korandeutung noch weiterverschlechterte.19 Die von den Nicht-Santri deut-lich wahrgenommene Gefahr einer die Minder-heiten diskriminierenden Islamisierung sei mitICMI größer geworden. Auch liberale Muslime wieJohan Effendi, Aswab Mahasin und NurcholishMajid teilten einige dieser Vorbehalte. Der eigent-liche Zweck von ICMI war es – so meinten einigeKritiker – zu einer islamischen Partei, einer Neo-Masyumi, zu werden. Von den Nichtmuslimen inIndonesien wurde ICMI mit Argwohn betrachtet,weil es einen Flügel in dieser Organisation gab,dessen Angehörige offen von Kristenisasi, also derübermäßigen Besetzung von Machtpositionendurch Christen sprachen.

Für Suharto war ICMI in erster Linie ein wei-teres Machtinstrument. Er wollte seinen For-schungs- und Technologieminister Habibie zu seinem Vizepräsidenten, vielleicht sogar zu seinemNachfolger aufbauen. Habibie war Herr über eine Reihe von Staatsunternehmen (Flugzeugbau,Schiffbau, Munitionsherstellung etc.), verfügteaber bis zu diesem Zeitpunkt nur über eine unzu-reichende Hausmacht. Suharto machte ihn zumICMI-Vorsitzenden und räumte ihm in der Regie-rungspartei Golkar eine zentrale Stellung ein. DaAnfang der 90er Jahre im Militär einige orthodoxe

Muslime (und Habibie-Vertraute) in höchste Ämter gelangten, stieg auch Habibie in der Hier-archie immer weiter nach oben. 1993 konnten jene Militärs, die eine Zivilisierung und Islamisie-rung befürchteten, noch die Ernennung des For-schungs- und Technologieministers zum Vizeprä-sidenten verhindern. 1998 aber konnte die Habi-bie-Gruppe die Wahl ihres Patrons zum Vizepräsi-denten durchsetzen.

Zu dieser Zeit, im März 1998, befand sich Indonesien bereits in der größten wirtschaftlichenund politischen Krise seit 1965. Die Asienkrisehatte seit dem August 1997 zu einem Verfall der Rupiah, zur Entlassung mehrerer MillionenArbeiter und zu zeitweise dreistelligen Inflations-raten geführt. Im Februar 1998 rief der Indone-sische Ulama-Rat MUI (Majelis Ulama Indonesia)zum Dschihad gegen Spekulanten und Waren hor-tende Geschäftsleute – gemeint waren Sinoindo-nesier – auf. Außerdem forderte Suharto einigeDutzend »Tycoons« öffentlich auf, ihre im Aus-land angelegten Gelder nach Indonesien zu trans-ferieren. Die aufgeheizte antichinesische Stimmungbegünstigte Plünderungen und Ausschreitungenin ganz Indonesien.20 Zur gleich Zeit versuchteder führende Militär und Suharto-SchwiegersohnPrabowo, die Kontakte zu islamistischen Gruppen– darunter die tendenziell fundamentalistischeKISDI-Gruppe21 – auszubauen.22 Im Januar trafensich 4.000 muslimische Aktivisten, u. a. von KISDI

und vom ebenfalls z. T. fundamentalistischen Dewan Dakwah Islamiyah Indonesia,23 mit meh-reren Tausend Kopassus-Soldaten (der Sonder-einsatzgruppe unter dem Befehl Prabowos) imKopassus-Hauptquartier zu einem Fest am Endedes Ramadan.

Jene islamischen Gruppen, die seit jeher eineambivalente Haltung zur Neuen Ordnung ein-genommen hatten, zeigten sich auch in den ersten

Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien IPG 2/2001186

19. Wahid, A. (1995): »Intelektual di Tengah Eksklu-sivisme«; in: Ali-Fauzi, N. (Hg.): ICMI-Antara StatusQua dan Demokratisasi; Bandung; S. 70–75.20. Sidel, J.T. (1998): »Macet Total: Logics of Circula-tion and Accumulation in the Demise of Indonesia’sNew Order«; in: Indonesia 66; S. 159–194; hier S. 182 ff.21. KISDI = Komite Indonesia untuk Solidaritas DuniaIslam = Indonesisches Komitee für die Solidarität der Islamischen Welt; gegründet 1990 von M. Natsir.22. Far Eastern Economic Review, 12.2.1998.23. Indonesischer Rat für islamische Missionierung.

Page 7: Islam und Politik in Indonesien

Monaten des Jahres 1998 unschlüssig. Die NU warin der Phase vor dem Sturz Suhartos gespalten. A. Wahid z. B. wollte um fast jeden Preis die Präsidentschaft Habibies verhindern. Nur ein Flügel um Generalsekretär Ahmad Bagdja, der von NU-Studentenorganisationen bestärkt wurde,scheint die Demokratiebewegung deutlich unter-stützt zu haben. Im April forderte die NU dieStreitkräfte auf, die Reformen zu unterstützen,aber erst am 15. Mai gab es Verlautbarungen aus der NU-Zentrale, wonach der von Suharto erwogene Rücktritt begrüßt wurde. Sogar noch am 19. Mai soll Wahid bei dem Treffen der isla-mischen Führer mit dem noch amtierenden Präsi-denten die halbherzigen Reformpläne Suhartosgebilligt haben.24

Der Amien-Rais-Flügel von Muhammadiyahwar demgegenüber deutlich auf Seiten der Demo-kratiebewegung, wenngleich auch Rais der Wie-derwahl Suhartos zum Präsidenten im März 1998schweren Herzens zustimmte. Seit er Ende 1997von Suharto aus einer Führungsposition bei ICMI

gedrängt worden war, hatte er sich an die Spitzeder Reformbewegung gesetzt. Im Gegensatz zu A. Wahid und eher noch als die zurückhaltend auftretende Megawati Sukarnoputri wurde er zum Idol der Studentenbewegung. Nach einemBericht des Magazins D&R im September 1998soll Suharto sogar einen Mordanschlag auf Rais erwogen haben.

Der ICMI-Generalsekretär Adi Sasono tratschon im Januar mit dem Plan, einen »NationalenDialog« zu führen, an die Öffentlichkeit. Die damit angestrebte informelle Allianz zwischen Rais, Megawati und Wahid scheiterte aber am Widerstand Wahids. Als sich abzeichnete, dass Habibie Vizepräsident werden würde, hielten sichdie kritischen ICMI-Mitglieder wieder etwas stärkerzurück. Unter der Führung von Ahmad Tirtosu-diro und Adi Sasono emanzipierte sich ICMI abernach der Wahl Habibies zunehmend von ihremPatron. Tirtosudiro forderte eine Sondersitzungdes Volkskongresses (MPR), und die ICMI-Führungsprach von einer politischen Krise und kritisiertedie bisherigen Reformvorschläge der Regierungals vage und verspätet.

Zuletzt waren es neun von Suharto zu einemGespräch eingeladene islamische Führer, unter ihnen insbesondere der neomodernistische25 mus-limische Intellektuelle Nurcholish Majid, die den

Präsidenten davon überzeugten, dass er keinenRückhalt mehr in der Bevölkerung hatte.26

Der Islam nach dem Sturz Suhartos

Mit dem Sturz Suhartos und der Ernennung Habibies zu seinem Nachfolger setzte am 21. bzw.22. Mai 1998 eine Übergangsphase ein, in der Habibie und sein neues mit Gefolgsleuten besetz-tes Kabinett notgedrungen eine Reihe von Refor-men durchführten. Sie wurden vom Flügel umMilitärkommandeur Wiranto, der sich gegen denreaktionären Prabowo-Flügel durchgesetzt hatte,unterstützt. Sowohl die internationalen Kapital-geber als auch die außerparlamentarische Opposi-tion, also vor allem die jederzeit zu Protest-aktionen bereiten Studenten und die sich schonseit dem Mai 1998 neu konstituierenden poli-tischen Parteien, waren in der Lage, den Liberali-sierungskurs der neuen Regierung und der nochamtierenden Parlamentarier wesentlich mitzube-stimmen.

Obwohl die neu entstehenden Parteien ver-pflichtet waren, sich zu den Pancasila als einzigerGrundlage zu bekennen, beriefen sich einige wiedie PBB (Partai Bintang Bulan = Partei des Halb-mondes), die PPP (Partai Persatuan Pembangunan= Vereinigte Entwicklungspartei) und die PK (Par-tai Keadilan = Gerechtigkeitspartei) unmittelbar aufden Islam. Andere Parteien, obschon sie deutlicherkennbare islamische Wurzeln hatten, öffnetensich explizit auch für Nichtmuslime. Zu ihnengehörten die von Abdurrahman Wahid dominierteNU-Partei PKB (Partai Kebangkitan Bangsa = Par-tei des Volkserwachens) sowie die PAN (Partai Amanat Nasional = Partei des Nationalen Man-

187IPG 2/2001 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien

24. Vgl.: Mietzner, M. (1998): »Between pesantren andpalace: Nahdlatul Ulama and its role in the transition«;in: Forrester, G. /May, R.J. (eds.): The fall of Soeharto; Bathurst/London, S. 179–199.25. Zum Neomodernismus, einer spezifisch indone-sischen, liberalen Verknüpfung modernistischer und tra-ditionalistischer Denkfiguren: Barton, G. (1995): »Neo-Modernism: A Vital Synthesis of Traditionalist and Modernist Islamic Thought in Indonesia«; in: Studia Islamika; Vol. 2, Nr. 3; S. 1–75.26. Eine detailliertere Darstellung der jüngsten Ereig-nisse findet sich in: Ufen, A.: »Grundzüge der poli-tischen Entwicklung in Indonesien von 1997–2000«; in:Südostasien aktuell 4/2000, 5/2000, 6/2000 und 1/2001.

Page 8: Islam und Politik in Indonesien

dats) unter dem Vorsitz von Amien Rais. Von 141 neu gegründeten Parteien waren etwa 40 isla-misch. Von den zu den Wahlen zugelassenen 48 Parteien waren es 20.

In der Gerechtigkeitspartei PK verbinden sichausgesprochen demokratische Grundüberzeugun-gen mit Vorstellungen von einem tugendhaftenLeben gemäß rigide interpretierter islamischerLehren. So vermeiden Männer und Frauen in dieser Partei jeglichen Körperkontakt. Diese Rück-kehr zu den (vermeintlichen) Ursprüngen der isla-mischen Gemeinschaft bedeutet jedoch keine Ab- kehr von Wissenschaft und Rationalität. Der Partei-vorsitzende ist promovierter Agrarwissenschaftler.

Die Partei des Halbmondes PBB ist eine moder-nistische Partei, die sich für eine Islamisierung der Gesellschaft einsetzt. Für eine solche Islamisie-rung wird die Benachteiligung anderer religiöserGemeinschaften in Kauf genommen. PolitischeMaßnahmen werden ausdrücklich unter Berufungauf die islamische Lehre begründet. Ähnlich ist dieHaltung der Vereinigten Entwicklungspartei PPP,die bereits seit 1973 existiert und in der NeuenOrdnung zu den drei legalen Parteien gehörte. Siewar früher von den Modernisten beherrscht (wes-halb die NU 1984 aus der PPP austrat), öffnete sichaber mit der Wahl von Hamzah Haz, einem NU-Mitglied, zum Parteivorsitzenden stärker den Tra-ditionalisten. Auch die bisherige RegierungsparteiGolkar, die nach dem Mai 1998 zu einer Partei vonvielen wurde, näherte sich stärker dem modernis-tischen Lager.27

Die Partei des nationalen Mandats PAN ist diePartei von Amien Rais, dem populärsten islami-schen Modernisten, der bis 1998 Vorsitzender der28 Millionen Mitglieder zählenden Muhamma-diyah war. Er verfolgte lange ähnlich politischeZiele wie die meisten PBB- und PPP-Mitglieder.Beide Parteien wollten ihn anfänglich sogar auf-nehmen. Rais entschied sich aber dann dafür, eineeigene Partei zu gründen und sich auch der nicht-muslimischen Wählerschaft zu öffnen.28

Die PAN, die PBB, die PPP und die PK gelten als überwiegend modernistische Parteien. Das modernistische Lager war also anders als 1955, alsder Masyumi über 20 % der Stimmen auf sich ver-einigen konnte, gespalten. Die Traditionalisten imUmfeld der Nahdatul Ulama hingegen wurdenvorrangig von der Partei des Volkserwachens PKB

repräsentiert.

Die von der Habibie-Regierung gewährte Versammlungs-, Assoziations- und Pressefreiheitführte innerhalb weniger Wochen zu einer Akti-vierung der jahrzehntelang zum Schweigen ver-urteilten Zivilgesellschaft. Dennoch war die NeueOrdnung noch nicht beseitigt. Nur wenige der besonders korrupten und Suharto-nahen Angehö-rigen der alten Machteliten wurden ausgewechselt.Selbst die große Mehrheit der Parlamentarier, diein der Zeit des Suharto-Regimes die Politik derRegierung abgesegnet hatten, konnte vorerst imParlament bleiben. Es ergab sich also eine seltsameAuseinandersetzung zwischen den noch amtie-renden Status-quo-Kräften, die notgedrungen Reformen verabschieden mussten, und den indiese Ämter drängenden Mitgliedern der neu gegründeten Parteien. Erst mit den Beschlüssendes Volkskongresses (MPR)29 – eines zweiten Parla-mentes, das den Präsidenten wählt und über Ver-fassungsänderungen beschließt – im November1998 und mit den vom nationalen Parlament (DPR)30

im Januar 1999 verabschiedeten neuen Geset-zen war der Weg zu nationalen Wahlen endgültigfrei.

Diese Wahlen im Juni 1999, die von indone-sischen und internationalen Wahlbeobacherorga-nisationen als im Wesentlichen fair und frei ein-gestuft wurden, bestätigten die Machtsteigerungder islamischen Gruppierungen und Parteien. Von

Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien IPG 2/2001188

27. Die Militärs, die lange Golkar beherrscht und inden 90er Jahren zumindest noch im Hintergrund vonBedeutung waren, zogen sich aus der Partei mehr undmehr zurück. Die Suharto-Familie wurde entmachtet,und beim Parteikongress im Juli 1998, bei dem die Weichen für die nächsten Jahre gestellt wurden, konntesich der Flügel um Habibie und Akbar Tanjung (beidegelten als modernistische Muslime) gegen einen nationa-listisch, Pancasila-orientierten Flügel um Ex-General EdiSudrajat durchsetzen.28. Manche Beobachter interpretierten das als den Ver-such, Sinoindonesier als Finanziers zu gewinnen.29. Während die in der Mehrheit eher konservativenParlamentarier über die Gesetzesänderungen berieten,kam es unweit des Parlamentsgeländes zu bürger-kriegsähnlichen Kämpfen zwischen Sicherheitskräften,demonstrierenden Studenten und so genannten Pam-Swakarsa-Truppen (Pengamanan Swakarsa = autonomeSicherheitskräfte). Die etwa 100.000–125.000 Mann starken Truppen bestanden aus muslimischen Jugend-lichen, die leicht bewaffnet waren und die Aufgabe hat-ten, den Volkskongress vor den Protesten der Studentenzu schützen.30. Dewan Perwakilan Rakyat.

Page 9: Islam und Politik in Indonesien

den sieben Parteien mit dem größten Stimmenan-teil sind fünf muslimisch. Die meisten Stimmenunter ihnen erhielt die traditionalistische PKB

(12,6 %, 51 Parlamentssitze), gefolgt von den ehermodernistischen Parteien PPP (10,7 %, 58 Sitze),PAN (7,1 %, 34 Sitze), PBB (1,9 %, 13 Sitze) und PK

(1,4 %, 7 Sitze). Die beiden mit großem Abstandstärksten Parteien im nationalen Parlament sindaber die PDI-P (Partai Demokrasi Indonesia-Perjuangan = Demokratische Partei Indonesien –Kampf, mit 153 Sitzen bei 33,8 % der Stimmen), die von der Sukarno-Tocher Megawati Sukarno-putri geführt wird, und das ehemalige Vehikel der Neuen Ordnung, die Partei Golkar (22,5 %, 120 Sitze), Die PDI-P, die auch von vielen Nicht-muslimen gewählt wird, und Golkar sind tenden-ziell säkularistisch orientiert und gegen eine Politi-sierung der Religion.

Die Wahl des neuen Präsidenten

Nach den Wahlen vom Juni 1999, vor allem abernach Bekanntgabe der Wahlergebnisse und derNeukonstituierung des nationalen Parlaments (DPR),begannen die informellen Verhandlungen über die Zusammenarbeit bei der Präsidentenwahl. Zu-nächst war die Frage, ob sich Megawati (PDI-P) gegen Habibie (Golkar) durchsetzen könnte.Amien Rais, der eine der populärsten Politiker in Indonesien war und bei einer Direktwahl desPräsidenten sicherlich wesentlich besser abge-schnitten hätte als seine eigene Partei, war plötzlichebenso ins zweite Glied gerückt wie der gebrech-liche, fast blinde NU-Führer Abdurrahman Wahid.Megawati galt als die strahlende Siegerin und als die aussichtsreichste Kandidatin für den Präsiden-tenposten.

Die orthodoxen Muslime im Volkskongressverband das Interesse an einer wie auch immer gearteten Islamisierung der indonesischen Gesell-schaft. Sie bildeten deshalb eine lockere Koalition,die den Namen »poros tengah« (Mittelachse) erhielt. Die »Mittelachse« bestand aus den moder-nistischen Parteien PAN, PKB, PBB und PK sowiekleineren Parteien. Ihnen standen die Kräfte umMegawatis PDI-P gegenüber, die etwa über so vieleStimmen im Volkskongress verfügte wie die porostengah. Mit dieser Blockbildung war eine Kon-stante der indonesischen Politik im 20. Jahrhun-

dert wieder sichtbar geworden – die Auseinander-setzung zwischen orthodoxen Muslimen und solchen Gruppierungen, die der Religion im poli-tischen Bereich keine wichtige Funktion zumessenund die Gleichberechtigung der in den Pancasilaaufgeführten Religionen und ihrer Anhänger her-vorheben.

Da weder die poros tengah noch die Megawati-Anhänger über genügend Stimmen verfügten,konnte sich überraschend der liberale Muslim-führer Abdurrahman Wahid, unterstützt von derporos tengah, durchsetzen. Am 20. Oktober 1999wählte der Volkskongress Wahid mit 373 zu 313Stimmen zum vierten Präsidenten der RepublikIndonesien. Damit setzte sich eine große Koalitionmuslimischer Parteien mit Unterstützung derKonservativen, einem dritten Lager im Parlament,gegen die säkular-nationalistischen Megawati-Anhänger durch. Für viele Muslime war eben eineFrau im höchsten Staatsamt undenkbar, zumal sie nicht als orthodoxe Muslimin galt. A.M. Sae-fuddin, ein hoch angesehener PPP-Politiker, Minister im Habibie-Kabinett und lange mög-licher Präsidentschaftskandidat seiner Partei, be- zeichnete Megawati während des Wahlkampfes sogar als Hinduistin, weil sie an einer hinduis-tischen Zeremonie in Bali teilgenommen hatte.Megawati wurde aber von den orthodoxen Mus-limen vor allem unter Verweis auf ihr Geschlechtdie Fähigkeit zur Führung des Landes abgespro-chen.31 Mehrere Spitzenpolitiker und führendeOrganisationen beriefen sich auf den Koran undmeinten, dass eine Frau nicht Präsidentin in einemmehrheitlich muslimischen Land werden könne.Selbst A. Wahid, der sich in den Wochen vor denPräsidentschaftswahlen als intriganter Machtpoli-tiker erwies, äußerte sich – anders als in all denJahren zuvor – in diesem Sinne.

Nach den Wahlen ergaben sich im nationalenParlament (und damit auch im ähnlich zusammen-gesetzten Volkskongress) zwei Konfliktlinien, andenen sich die politischen Auseinandersetzungenzunehmend orientierten. Zum einen war es derGegensatz zwischen den konservativen oder garreaktionären Kräften (große Teile Golkars, die

189IPG 2/2001 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien

31. Vgl. Platzdasch, B. (2000): »Islamic Reaction to a Female President«; in: Manning, C./van Diermen, P.(eds.): Indonesia in transition: social aspects of reformasiand crisis; Singapore; S. 336–350.

Page 10: Islam und Politik in Indonesien

Militär/Polizei-Fraktion, Teile der muslimischenParteien, insbesondere der PPP und der PBB) undden prodemokratischen Kräften, zum anderen derzwischen den muslimischen und den nichtmus-limischen Parteien. Berücksichtigt man, dass esauch in der Militär/Polizei-Fraktion, besonders inder Partai Golkar und – weniger deutlich – in derPDI-P muslimische Flügel gibt, ist eine einfacheGegenüberstellung von muslimischen und nicht-muslimischen Parteien aber nicht möglich. Außer-dem spalten sich die muslimischen Parteien in tra-ditionalistische und modernistisch orientierte auf,und für die dominierenden Flügel der PAN und derPKB ist in vielen Politikbereichen eine Demokrati-sierung Indonesiens und eine Entmachtung der alten Regimekoalition wichtiger als eine Stärkungdes Islam.32

Neuere Entwicklungen in der Ära Abdurrahman Wahid

Indonesien befindet sich gegenwärtig in einemturbulenten Übergang vom Autoritarismus zur par-lamentarischen Demokratie. Das Land wurde amstärksten und nachhaltigsten von der Asienkrisegetroffen, und noch immer zeigen einige der wich-tigsten ökonomischen Indikatoren (Pro-Kopf-Einkommen, Armutsquote, Arbeitslosenrate, Inves-tionsvolumen, Außenhandelsvolumen etc.), dass das Niveau des Jahres 1997 noch längst nicht wieder erreicht ist. Indonesien, das vor wenigenJahren von einigen Beobachtern als Schwellenlandbeschrieben wurde, ist im Moment wieder zu denNiedrigeinkommensländern zu rechnen.

Trotzdem ist der Inselstaat heute wesentlich offener und demokratischer als vor ein paar Jahren. Eine lebhafte und kritische Presse über-nimmt ihre Funktion als »vierte Gewalt« und diewichtigsten Grund- und Menschenrechte werdenseit dem August 2000 zumindest verfassungs-rechtlich anerkannt. Nach den weitgehend freienund fairen Wahlen beginnen die neuen Parlamenteihre genuinen Funktionen zu erfüllen.

Allerdings existieren viele der alten Netzwerkeund Mechanismen noch. Die alten Konglomerate,deren meist sinoindonesischen Bosse von demKorruptionssystem profitierten, werden jetzt mitSteuergeldern vor dem Konkurs gerettet, um eineVerschärfung der wirtschaftlichen Krise zu verhin-dern. Die jahrzehntelange Militärherrschaft hat

zur Bildung informeller, nepotistischer Abhängig-keitsbeziehungen und zur Unterminierung desohnehin kaum entwickelten Rechtssystems beige-tragen. Das Militär hat sich nur zögerlich undhalbherzig von der Doktrin der Doppelfunktion(dwifungsi) distanziert und eine wirkliche Beendi-gung dieser alle gesellschaftlichen Bereiche ein-beziehenden zweiten, »soziopolitischen« Funktionist mittelfristig, d. h. in den nächsten zehn Jahren,nicht zu erwarten. Besonders einige Gebiete außer-halb Javas wie Aceh, Timor, Papua und die Moluk-ken werden immer noch vom Militär und von paramilitärischen Banden beherrscht.

Es hat also kein umfassender Elitenwech-sel stattgefunden. In dem ersten Kabinett, das A. Wahid im Oktober 1999 zusammenstellte, wurden einige Militärs, Vertreter Golkars, Führerder muslimischen Parteien und Mitglieder der PDI-P berücksichtigt. Megawati hat als Vizepräsi-dentin keine deutlich formulierten Rechte, ist aberals mögliche Nachfolgerin Wahids weiterhin eineder wichtigsten Persönlichkeiten. Der Zwang zurRücksichtnahme auf die konservativen Kräfte, z. T.auch die eigene Verstrickung in das Macht- undKorruptionssystem der Neuen Ordnung, lähmenden Reformprozess. Die Muslime – sowohl dieTraditionalisten als auch die Modernisten – ge-hören häufig selbst zu den Blockierern. Das beste Beispiel dafür ist der Umgang mit der eige-nen Vergangenheit. Während viele Muslime vehe-ment für die Aufdeckung verschiedener, vom Militär begangener Massaker – etwa das an Dut-zenden, vielleicht Hunderten demonstrierendenMuslimen in Jakarta (Tanjung Priok) im Jahre1984 – eintreten, wehren sie sich gegen eine Auf-deckung der Ereignisse in den Jahren 1965/66. Damals wurden mehrere Hunderttausend wirk-liche und vermeintliche Kommunisten von Mili- tärs und islamischen Paramilitärs in einem Blut- rausch niedergemetzelt. Als A. Wahid die Auf- hebung eines Dekretes, das die kommunistischePartei und die Verbreitung kommunistischen Gedankengutes verbietet, forderte, stieß er auf

Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien IPG 2/2001190

32. Die PKB-Fraktion hat anfänglich sogar Megawati beiden Präsidentschaftswahlen unterstützen wollen. Erst imletzten Moment wurde sie aber auf Abdurrahman Wahideingeschworen.

Page 11: Islam und Politik in Indonesien

den erbitterten Widerstand der Konservativen undder meisten Muslime.33

Muslime haben in der parlamentarischen Demokratie zusätzliche Anreize erhalten, den poli- tischen Diskurs zu islamisieren, d. h. verstärkt auf islamische Moralbegriffe und Politikkon-zepte zurückzugreifen. Anhänger eines politisier-ten Islam bzw. einer islamisierten Politik streben danach, die Sonderstellung des Islam zu institutio-nalisieren. So wurden während der Sitzung desVolkskongresses im August 2000 wieder Stimmenlaut, die 1945 zwischen Nationalisten und Isla-misten ausgehandelte Jakarta-Charta in die Verfas-sung aufzunehmen. Dabei betonten führende Ver-treter der PBB und der PPP, dass ihre Absichtennicht sektiererisch seien, da gerade die Aufnahmeder Jakarta-Charta eine jahrzehntelange Debattebeenden und religiöse Konflikte mildern würde.Die größten Fraktionen im Parlament lehnten denVorschlag jedoch ab.

Immer wieder kommt es zu hitzigen poli-tischen Debatten zwischen Islamisten und ihrenWidersachern. Es fällt auf, dass diese Auseinander-setzungen sehr häufig nicht die zentralen Ent-scheidungen, die die Zukunft des Landes wesent-lich bestimmen, betreffen. Eine fundierte alter-native Wirtschafts- und Finanzpolitik z. B. habendie Islamisten nicht formuliert. Meistens geht esum politische Fragen von sekundärer Bedeutung:Darf eine Frau Präsidentin werden? Soll Indo-nesien Handelsbeziehungen zu Israel aufnehmen?Wie ist mit dem japanischen Hersteller eines Geschmacksverstärkers zu verfahren, der bei derProduktion ein Schweine-Extrakt verwendet hat?Man gewinnt bei solchen mit großer Vehemenzgeführten politischen Kämpfen den Eindruck, dassder Islam häufig für eine ganz irdische Macht-politik instrumentalisiert wird.

Besonders die kleineren muslimischen Parteienzeigen sich ambivalent im Umgang mit radi-kal-islamistischen Gruppierungen. Ein Beispieldafür ist die Reaktion auf den blutigen Kon-flikt zwischen Christen und Muslimen auf denMolukken.34 Bei einem Treffen von Zehntausen-den Muslimen Anfang 2000 in Jakarta – unter ihnen befanden sich viele radikale, gewaltbereiteIslamisten – bei dem zum Dschihad aufgerufenwurde, war u. a. auch der PAN-Vorsitzende AmienRais anwesend. Rais distanzierte sich auch in späteren Interviews nicht von diesem Treffen und

benutzte den Dschihad-Begriff bewusst mehr-deutig.

Es kursieren viele Verschwörungstheorien, wonach die Konflikte in den Molukken, in Papuaund in Aceh35 auf das Wirken äußerer Mächtezurückzuführen sind. Mehrfach tat sich Verteidi-gungsminister Mahfud MD mit aggressiven anti-amerikanischen Äußerungen hervor. Die Ameri-kaner schlossen auf dem Höhepunkt der Krise eineZeit lang ihre Botschaft und rieten ihren Lands-leuten von einem Indonesienaufenthalt ab, damuslimische Fundamentalisten etwa in Solo (Mitteljava) Hotels nach amerikanischen Touristenabsuchten.

In dieser aufgeheizten Stimmung bekommenradikale Gruppierungen, die einen Islamstaat Indonesien (Negara Islam Indonesia, NII) fordern,Oberwasser. So wurden mehrere Tausend Mitglie-der der Front Pembela Islam (FPI), der Front derVerteidiger des Islam, auf die Molukken entsandt,um sich auf Seiten ihrer Glaubensbrüder am Bürgerkrieg zu beteiligen. Da das Militär und die in Bedrängnis geratenen Reaktionäre an einerDestabilisierung der parlamentarischen Demokra-tie interessiert sind, gibt es zahlreiche Spekula-tionen über eine Finanzierung der FPI durch Teiledes Militärs oder gar durch die mit Suharto immernoch verbundenen Gruppierungen.

Die FPI, die allein in Jakarta mehrere Zehn-tausend Mitglieder in militärisch organisierten

191IPG 2/2001 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien

33. Eine Umfrage der Zeitschrift Tempo enthüllte, dassdie Mehrheit der indonesischen Bevölkerung immernoch die offizielle Version des Suharto-Regimes vomMachtwechsel von Sukarno zu Suharto für bare Münzenimmt. Danach wollte die kommunistische Partei damalsdie Macht in Indonesien übernehmen.34. In Zeiten der wirtschaftlichen und politischen Kriseoder wenn eine alte Hegemonialmacht verschwunden istund kurzfristig neue Konfliktlösungsmechanismen ent-wickelt werden müssen, können religiöse Bindungen inhohem Maße politisiert werden. Blutige Konflikte, dieeigentlich nichtreligiöse Ursachen haben, werden dannmit religiösen Begriffen erklärt und u. U.durch religiöseOrganisationen angeheizt. So stellt sich der Bürgerkriegauf den Molukken, bei dem seit Anfang des Jahres 1999mehrere Tausend Menschen ums Leben kamen, als Kon-flikt zwischen Christen und Muslimen dar.35. In Papua und in Aceh sind nach dem Sturz Suhartos sehr starke sezessionistische Bewegungen ent-standen. Im Dezember 2000 führte Präsident Wahid inder sumatraischen Provinz Aceh eine milde Form derScharia ein, das war ein Zugeständnis an die orthodox-muslimischen Separatisten.

Page 12: Islam und Politik in Indonesien

Gruppen haben soll, wird auch für Überfälle aufVergnügungsstätten verantwortlich gemacht. Undals im Oktober 2000 während der neuerlich aus-gebrochenen Straßenkämpfe zwischen Israelis undPalästinensern eine internationale Konferenz vonParlamentariern in Jakarta stattfand, drohte dieFront damit, die Mitglieder der israelischen Dele-gation umzubringen. Der FPI-Anführer Riza Pah-levi kündigte sogar an, die Hotels in Jakarta nachIsraelis absuchen zu lassen. Darauf hin mussten dieisraelischen Delegierten ihren Besuch absagen.Viele muslimische Parlamentarier distanzieren sichzwar vom Terror der FPI, sind aber nicht bereit, dieFront in toto zu verurteilen.

Das Beispiel Israel zeigt, dass Wahid in seinerAußenpolitik darauf achten muss, dass er den Isla-misten keine Angriffsfläche bietet. Seine Annähe-rung an die »Schurkenstaaten« Irak und Libyenkönnte dabei eine Strategie sein, um seine innen-politischen Gegner zu beruhigen.36

Fazit

Im Laufe mehrerer Jahrhunderte entwickelte sichein Gegensatz zwischen synkretistischen und orthodoxen Muslimen, zwischen Abangan undSantri. Die Santri spalteten sich später zuneh-mend in Modernisten und Traditionalisten. DieseBrüche lassen sich auch gegenwärtig in Indonesienbeobachten. Im politischen Bereich ist heute aberinsbesondere die Auseinandersetzung zwischenSäkularisten, das sind Nicht-Muslime, die großeMehrheit der Abangan, viele NU-Traditionalisten,aber auch die Mehrheit der Modernisten, und Isla-misten (die meisten von ihnen sind Modernisten)von Bedeutung. Bei den Islamisten sind moderate,prodemokratische von antidemokratischen, häufiggewaltbereiten zu unterscheiden.

In der Zeit von 1950–57 entwickelten sich drei die indonesische Politik prägende Hauptkon-flikte, nämlich zwischen zivilen und militärischen,zwischen säkularistischen und islamistischen sowiezwischen kommunistischen und antikommunis-tischen Gruppen. Durch den Autoritarismus Sukarnos und Suhartos wurden die Islamisten (seit1965 auch die Kommunisten) ausgeschaltet. Aller-dings näherte sich das Suharto-Regime seit Endeder 80er Jahre wieder den Vertretern eines poli-tisch verstandenen Islam an. Der Hauptkonflikt bis

1998 war aber jener zwischen dem Regime undden prodemokratischen Kräften. Seit dem SturzSuhartos sind zwei Konfliktlinien von essentiellerBedeutung, nämlich die zwischen den Demokra-ten und den Reaktionären sowie die zwischen Sä-kularisten und Islamisten.

Wenn sich die parlamentarische Demokratie inden nächsten Jahren konsolidieren sollte, wäreeine Mäßigung der radikalen Gruppierungen, vorallem aber der im Parlament vertretenen isla-mischen Parteien, denkbar. Einiges deutet sogardarauf hin, dass die Fraktionen in den musli-mischen Parteien, die bereit sind, Megawati zu unterstützen, wegen der Enttäuschung über deninkonsistenten Regierungsstil Wahids größer werden.37 Es bleibt zu bedenken, dass die großeMehrheit der indonesischen Muslime nicht an derErrichtung eines Islamstaates interessiert ist. Sollteaber die Wirtschaftskrise anhalten und sollten diesezessionistischen Bewegungen und die Kämpfe inden Molukken eine weitere politische Destabilisie-rung bewirken, könnte eine allgemeine Auflösungder Staatsgewalt die islamistischen Kräfte stärken.Es könnte dann zu einer Koalition zwischen Isla-misten und reaktionären Gruppen kommen. DieseKoalition bahnte sich bereits seit Ende der 80erJahre an. Prabowo radikalisierte die Zusammen-arbeit Anfang 1998, und im November 1998 führtesie zu dem Pam-Swakarsa-Einsatz gegen demons-trierende Studenten in Jakarta. Gegenwärtig arbei-ten u. a. die Front Pembela Islam und die LaskarJihad – wahrscheinlich finanziert von den Reak-tionären – an der Wiedererrichtung eines auto-ritären, die islamistischen Gruppierungen privile-gierenden Regimes. �

Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien IPG 2/2001192

36. Saddam Hussein ist in Indonesien in weiten Kreisen – bei den Islamisten wie bei den Nationalistenetwa der PDI-P – hoch geschätzt. Er verkörptert – wie inden frühen 60er Jahren Sukarno – für viele Indonesier denWiderstand der »Dritten Welt« gegen die Weltmacht USA.37. Interview mit Alvin Lie am 4.10.2000 in Jakarta.