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Ist Kunst widerständig? Eine Revision von kritischer Theorie und Postmoderne Regine Prange (Frankfurt a.M.): Nach ’68: Kunst(geschichte) als Ideologie(kritik) Nach Marx ist Ideologie, als Widerspiegelung der materiellen Produktionsverhältnisse, ein objektiv notwendig falsches Bewusstsein. Die Kunst und ihre Wissenschaft als Ideologieproduzenten können den ›Überbau‹ nicht verlassen. Sie können aber in der kritischen Rückwendung auf sich selbst die historische Gestalt ihrer objektiven Notwendigkeit offenlegen, ein Bewusstsein des falschen Bewusstseins stiften, das in der Form der Negation die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft aufrechterhält. In dieser Weise argumentieren Theodor W. Adornos Arbeiten zur Ästhetik, welche die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie für einen kritischen Kunstbegriff produktiv zu machen suchten. Die kunsthistorische Protestbewegung, die sich 1968 in Ulm formierte und sich 1970 beim Kunsthistorikertag in Köln um Martin Warnke sammelte, nahm diesen Ansatz nicht auf, obgleich sie eine von Marxscher Begrifflichkeit abgeleitete ideologiekritische und wie Adorno explizit antifaschistische Stoßrichtung vertrat. Schon zu dieser Zeit sorgte parallel eine ›Ent-Marxifizierung‹ der Intelligenzia (Fredric Jameson) dafür, dass Ideologiekritik hingegen für obsolet erklärt wurde. An ihre Stelle trat die Diskursanalyse, die das dialektische Modell von Basis und Überbau verabschiedete und kritisches Potential allein in der Materialität der Zeichenproduktion verankerte, ohne auf zugrundeliegende soziale Kräfte zu reflektieren. Auch die aktuell wirkungsmächtige, nach der Wirtschaftskrise von 2008 in die Diskussion zurückgekehrte Marx-Rezeption geht, fußend auf Louis Althusser, von einem abstrakt positiven Ideologiebegriff aus, der die Frage nach der Wahrheit und ihrer Durchsetzungskraft aufgibt. Diese im Feld der zeitgenössischen Kunsttheorie verbreitete Position legitimiert sich durch die Verteidigung des je Einzelnen gegenüber dem Anspruch eines Allgemeinen, verteidigt letztlich also den vermeintlich wertneutralen Positivismus der bürgerlichen Wissenschaft. Der klassisch marxistischen Ideologiekritik wirft man autoritären Paternalismus vor und stellt ihm korrigierend ein abstraktes Gleichheitsideal (Jürgen Habermas, Jacques Rancière) entgegen. Fortsetzung und Entfaltung des marxistischen Kritik-Konzepts lassen sich hingegen exemplarisch im essayistischen Filmwerk eines Alexander Kluge erarbeiten, das die Montage als kritische Methode einsetzt. Dies wird an einigen Einstellungen aus Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital (2008) gezeigt. Vita 1991 Promotion an der Freien Universität Berlin mit einer Dissertationsschrift zum Thema ‚Das Kristalline als Kunstsymbol. Bruno Taut und Paul Klee‘; 1992-1998 wissenschaftliche Assistenz am Kunstgeschichtlichen Institut der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, dort 1998 Habilitation zum Thema ‚Das ikonoklastische Bild. Mondrian und die Selbstkritik der Kunst‘. Nach Gastprofessuren an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Goethe- Universität Frankfurt a.M. 1999 Professur für Kunstgeschichte an der Philipps-Universität Marburg; seit 2001 Inhaberin des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Kunstgeschichte, Kunst- und Medientheorie an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte und Theorie der Bildkünste und der Architektur seit der Romantik, zur Methodengeschichte der Disziplin Kunstgeschichte und ihrem Verhältnis zur philosophischen Ästhetik und Kritischen Theorie; außerdem Untersuchungen zur Filmtheorie und Filmanalyse, insbesondere in Bezug auf das Werk von Jean-Luc Godard. 

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Ist Kunst widerständig? Eine Revision von kritischer Theorie und Postmoderne

Regine Prange (Frankfurt a.M.): Nach ’68: Kunst(geschichte) als Ideologie(kritik)

Nach Marx ist Ideologie, als Widerspiegelung der materiellen Produktionsverhältnisse, ein objektiv notwendig falsches Bewusstsein. Die Kunst und ihre Wissenschaft als Ideologieproduzenten können den ›Überbau‹ nicht verlassen. Sie können aber in der kritischen Rückwendung auf sich selbst die historische Gestalt ihrer objektiven Notwendigkeit offenlegen, ein Bewusstsein des falschen Bewusstseins stiften, das in der Form der Negation die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft aufrechterhält. In dieser Weise argumentieren Theodor W. Adornos Arbeiten zur Ästhetik, welche die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie für einen kritischen Kunstbegriff produktiv zu machen suchten. Die kunsthistorische Protestbewegung, die sich 1968 in Ulm formierte und sich 1970 beim Kunsthistorikertag in Köln um Martin Warnke sammelte, nahm diesen Ansatz nicht auf, obgleich sie eine von Marxscher Begrifflichkeit abgeleitete ideologiekritische undwie Adorno explizit antifaschistische Stoßrichtung vertrat. Schon zu dieser Zeit sorgte parallel eine ›Ent­Marxifizierung‹ der Intelligenzia (Fredric Jameson) dafür, dass Ideologiekritik hingegen für obsolet erklärt wurde. An ihre Stelle trat die Diskursanalyse, die das dialektische Modell von Basis und Überbau verabschiedete und kritisches Potential allein in der Materialität der Zeichenproduktion verankerte, ohne auf zugrundeliegende soziale Kräfte zu reflektieren. Auch die aktuell wirkungsmächtige, nach der Wirtschaftskrise von 2008 in die Diskussion zurückgekehrte Marx­Rezeption geht, fußend auf Louis Althusser, von einem abstrakt positiven Ideologiebegriff aus, der die Frage nach der Wahrheit und ihrer Durchsetzungskraft aufgibt. Diese im Feld der zeitgenössischen Kunsttheorie verbreitete Position legitimiert sich durch die Verteidigung des je Einzelnen gegenüber dem Anspruch eines Allgemeinen, verteidigt letztlich also den vermeintlich wertneutralen Positivismus der bürgerlichen Wissenschaft. Der klassisch marxistischen Ideologiekritik wirft man autoritären Paternalismus vor und stellt ihm korrigierend ein abstraktes Gleichheitsideal (Jürgen Habermas, Jacques Rancière) entgegen. Fortsetzung und Entfaltung des marxistischen Kritik­Konzepts lassen sich hingegen exemplarisch im essayistischen Filmwerk eines Alexander Kluge erarbeiten, dasdie Montage als kritische Methode einsetzt. Dies wird an einigen Einstellungen aus Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital (2008) gezeigt.

Vita

1991 Promotion an der Freien Universität Berlin mit einer Dissertationsschrift zum Thema ‚Das Kristalline als Kunstsymbol. Bruno Taut und Paul Klee‘; 1992­1998 wissenschaftliche Assistenz am Kunstgeschichtlichen Institut der Eberhard­Karls­Universität Tübingen, dort 1998 Habilitation zum Thema ‚Das ikonoklastische Bild. Mondrian und die Selbstkritik der Kunst‘. Nach Gastprofessuren an der Humboldt­Universität zu Berlin und an der Goethe­Universität Frankfurt a.M. 1999 Professur für Kunstgeschichte an der Philipps­Universität Marburg; seit 2001 Inhaberin des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Kunstgeschichte, Kunst­ und Medientheorie an der Goethe­Universität Frankfurt a.M. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte und Theorie der Bildkünste und der Architektur seit der Romantik, zur Methodengeschichte der Disziplin Kunstgeschichte und ihrem Verhältnis zurphilosophischen Ästhetik und Kritischen Theorie; außerdem Untersuchungen zur Filmtheorie und Filmanalyse, insbesondere in Bezug auf das Werk von Jean­Luc Godard. 

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Thorsten Schneider (Münster, Kunstakademie): O.K. Werckmeister und die kritischeKunstwissenschaft

Innerhalb der bundesdeutschen Kunstgeschichte besteht ein breiter Konsens über die Bedeutung einer „kritischer Kunstgeschichte/­wissenschaft“, die sich nach 1970 artikulierte, ohne dass daraus eine homogene Gruppe mit definierter Programmatik, vergleichbar der „Kritischen Theorie“, entstanden wäre. Nur noch selten wird heute über die damaligen Thesen gestritten. Dabei erscheint eine Re­Lektüre besonders erkenntnisversprechend. Anhand einer exemplarischen Analyse von einschlägigen Texten, mit denen Kunsthistoriker wie Martin Warnke oder Horst Bredekamp ihre akademischen Karrieren begründeten, kann gezeigt werden, wie der Gang durch die Institutionen das Selbstverständnis „kritischer Kunstgeschichte“ veränderte. O.K. Werckmeisters Texte bieten dazu eine vielversprechende Perspektive an, die manches relativieren mag und gerade deshalb für eine Einordnung des Erreichten unverzichtbar erscheint. Die vorgeschlagene Diskursanalyse versteht sich als ein Beitrag zu einer Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte nach 1945 und möchte die nach 1968 angestoßene Gesellschaft­ und Methodenkritik auf ihre Aktualität für gegenwärtige Forschung befragen.

Vita

Thorsten Schneider studierte Literatur­, Kunst­ und Medienwissenschaften sowie Philosophie an den Universitäten Heidelberg, Konstanz und Bochum. Derzeit arbeitet er an einer Dissertation zur „kritischen Kunstgeschichte“ in der BRD um 1970 (Kunstakademie Münster). Er unterrichtete u.a. an der EVH Bochum und der Kunstakademie Düsseldorf sowie derzeit an der Kunstakademie Münster und der Münster School of Architecture. 2018 erhielt er das Kuratoren Stipendium des Landes NRW in Schloss Ringenberg. Seit 2011 realisiert er darüber hinaus Ausstellungen und Kunstprojekte. Als freier Kritiker schreibt er und produziert auch die Radiosendung des Institut für Betrachtung in Köln. 

Dietrich Erben (München, TU): Architekturkritik als interventionistische Strategie: Der Fall Manfredo Tafuri

Der Vortrag widmet sich dem Kritikbegriff Manfredo Tafuris auf der Gundlage von dessen beiden methodologischen Hauptwerken „Teorie e storia dell’architettura“ (1968) und „Progetto e utopia“ (1973). Tafuri geht es, so die Grundüberlegung des Vortrags, nicht um die Widerstandmöglichkeiten von Architektur, sondern um die Widerstandsmöglichkeiten der Kritik: Gerade weil er für die Architektur eine Systemopposition bezweifelt, fordert er sie umso dringlicher von Geschichtsschreibung und Kritik. Dabei distanziert er sich von der „operativen“ Kritik der Moderne­Vertreter, fordert aber weiterhin interventionistische Strategien. Der Vortrag stellt Tafuris Kritikbegriff in den Grundzügen dar. Im Sinne einer Kritik von Tafuris Kritikbegriff akzentuiert er zugleich die von Tafuri aufgeworfene Problematik der historischen „Krise“ einerseits und der Technik andererseits. Dabei kann die auch bei Tafuri weitgehend ausgebliebene Diskussion über die Technisierung der Lebenswelt als symptomatisch für die Kulturkritik jener Ära von „1968“ insgesamt gelten. 

VitaSeit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design an der Technischen Universität München; Arbeitsschwerpunkte in der Kunst­ und 

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Architekturgeschichte seit der Frühen Neuzeit, insbesondere der politischen Ikonographie, der Architekturtheorie und der Geschichte der internationalen Kunstbeziehungen. Neuere Buchpublikationen: Architekturtheorie. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2017. Hg. (mit Tobias Zervosen): Das eigene Leben als ästhetische Fiktion. Berufsautobiographien und Professionsgeschichte, Bielefeld 2018. Hg.: Das Buch als Entwurf. Textgattungen in der Geschichte der Architekturtheorie. Ein Handbuch, Paderborn (erscheint 2018). 

Birte Kleine­Benne (Berlin): Theorie­ und Kunst­Kritik mit Foucaults „reflektierter Unfügsamkeit“

Inmitten der Erarbeitung meines Themenvorschlags für den Workshop Ist Kunst wider­ständig?, bei dem es sich um institutionskritische künstlerische Praxen und deren Verken­nen durch einen modernistischen Prämissen­Einsatz der Kunsttheorie sowie hieraus ableitend um die Frage handeln sollte, was eigentlich aus der Modernismuskritik geworden sei und ob sich z. B. die zu kritisieren­de Ausblendung der Prämissen durch die Autonomie­Ästhetik nun gerade bei deren KritikerInnen und wiederum bei deren KritikerInnen wiederhole1, erhielt ich (und mit mir etwa einhundert weitere KunstbetriebsteilnehmerInnen) am 12.5.2017 eine E­Mail. Ab­sender: [email protected], Betreff: Adorno­Relevance#no.2k190301. Das ange­hängte Zertifikat2 von 160 KB, datiert auf den 15.1.2015, legt fest, dass die „kunsttheore­tischen Überlegungen von Theodor Wiesengrund Adorno nicht überbewertet werden [soll­ten]“, ist mit einem Nominalwert von 4 800 Euro und der Creative­Commons­Linzenz by, nc, nd3 ausgestattet. Die Ansammlung kunsthistorischer und –theoretischer Verweise (wie auf den Geburtstag von Beuys am 12.5., auf Beuys Aktion Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet am 11.12.1964, auf das Zertifikat als ein Format der Concep­tual Art und auf die roten und grünen Farbtupfer, die Duchamp einem Druck zusammen mit der Bezeichnung Pharmacie. Marcel Duchamp / 1914 hinzufügte) werden mit dem For­mat der E­Mail, dem .png­Mail­Anhang und der namentlichen Nennung von etwa ein­hundert EmpfängerInnen aus Theorie, Geschichte, Feuilleton und Ausstellungswesen im Textkörper der E­Mail digital kontextualisiert und medialisiert.Die künstlerische Arbeit veranlasste mich, meinen Themenvorschlag zu erweitern: In mei­nem Vortrag stelle ich einen Bezug zu Michel Foucaults Vortrag Was ist Kritik? von 1978 her (Foucault bezeichnet Kritik als „die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft“ mit der „Funktion der Entunterwerfung“4) und frage, wie „heute“ eine „reflektierte Unfügsamkeit“5 und zwar sowohl in der Kunst­ als auch in der Theorieproduktion aussehen kann. Dafür sollen neben Beispielen künstlerischer Institutionskritik auch markante institutionskritische Impulse (aus) der Kunstgeschichte, wie Martin Warnkes 1970 auf dem Kölner Kunsthistori­kertag initiierte Kritik der Kunstgeschichte und Wolfgang Kemps 1991 formulierte Forde­rung nach einer Komplexität in der Kunstgeschichte in den Blick genommen werden. Mit dieser Ausrichtung meines Vortrags möchte ich sowohl künstlerische als auch theore­tische Formen der Institutionskritik thematisieren, werde dabei dem noch immer wirksa­men Erbe an Begriffen, Konzeptionen, Prämissen, 

1 Vgl. hierzu auch Helmut Draxler am 6.6.2014 auf der Konferenz Phantasma und Politik #8 – Die Kunst des Phantasmas im Berliner Hebbel am Ufer, vgl. auch http://artlabor.eyes2k.net/?p=1419.2 http://geheimrat.com/Adorno-Relevance.html.3 Namensnennung, nicht kommerziell, keine Bearbeitung.4 Michel Foucault, Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 15.5 Ebd.

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Theorien und Tricks der modernistischen Autonomie­Ästhetik begegnen und damit die epistemischen und medialen Abhängigkeiten perspektivieren.

Vita

Birte Kleine­Benne, Dr. phil., 2006 Promotion in Hamburg. Lehraufträge, Gast­ und Vertre­tungsprofessuren an der Universität der Künste Berlin, der Universität Hamburg, der Burg Giebichenstein/Kunsthochschule Halle und der Ludwig­Maximilians­Universität München. Geplante Habilitation 2019. Ab Sommersemester 2019 einjährige Vertretungsprofessur an der LMU München, Institut für Kunstgeschichte. Theoretische und angewandte Forschun­gen zu zeitgenössischen bzw. sog. nächsten Formen von Kunst­ und Theorieproduktion, von Präsentations­, Rezeptions­ und Vermittlungsformen, die ihrerseits Bild­, Kunst­, Äs­thetik­ und Wissenstheorien sowie dazugehörige Geschichten der Moderne in­formieren. Forschung, Lehre, Publikationen, kuratorische Tätigkeiten und Weiteres: http://bkb.eyes2k.net

Christine Tauber (München): Einleitung: Jacques Rancières „neuer Mensch“ oder Warum Revolutionen selten widerständige Kunst hervorbringen

Vita

Studium der Kunstgeschichte, Geschichte, Germanistik, Romanistik und Philosophie in Bonn und Paris, 1989 Maîtrise an der Sorbonne (Paris IV), Promotion 1996 am Histori-schen Seminar der Universität Bonn über „Jacob Burckhardts ‚Cicerone’. Eine Aufgabe zum Genießen“ (publ. 2000), Lehrtätigkeit in Bonn, Konstanz, Basel, Zürich und München,Mitherausgeberin mehrerer Bände in der kritischen Jacob-Burckhardt-Gesamtausgabe, freie Mitarbeiterin der Frankfurter Allgemeine Zeitung und der Süddeutschen Zeitung, Ha-bilitation an der Universität Konstanz 2005 über „Manierismus und Herrschaftspraxis. Zur Kunst der Politik und zur Kunstpolitik am Hof von François Ier“ (publ. 2009), 2009/10 Gast-professur Ludwig-Maximilians-Universität München, Gerda-Henkel-Forschungsstipendium,seit Juli 2010 Verantwortliche Redakteurin der Kunstchronik am Zentralinstitut für Kunstge-schichte und seit 2015 apl. Professorin am Institut für Kunstgeschichte der LMU. For-schungsschwerpunkt: Kunstgeschichtsschreibung und Historiographie des 19. Jahr-hunderts, Italienische und Französische Renaissance, Manierismus, Kunstpolitik und Kulturgeschichte des Revolutionszeitalters, Kunstpatronage, Postmoderne Kunsttheorie.

Jürgen Müller (Dresden, TU): Das subversive Bild in der frühen Neuzeit

In einer vormodernen Welt wird Kritik in der Regel nicht direkt formuliert. Sie adressiert den problematischen Sachverhalt zumeist indirekt und bedarf in hermeneutischer Hinsicht der Mithilfe durch den Betrachter. Bilder argumentieren ironisch. Sie deuten an und legen Botschaften an, die aber nicht explizit ausfallen. Im Referat sollen zwei Formen eines kritisch­indirekten Sprechens in den Blick geraten: das Kryptoporträt und die Inversion.

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Vita

Jürgen Müller (*1961) hat seit 2002 den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kunstgeschichtean der Technischen Universität Dresden inne. Er studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie an den Universitäten von Bochum, Münster, Paris, Pisa und Amsterdam. Nach seiner Assistentenzeit an der Universität Hamburg führten ihn Gastprofessuren nachParis, Berlin, Marburg und Bordeaux. Im Jahre 2006 erhielt er die Rudolf­Wittkower­Forschungsprofessur an der Bibliotheca Hertziana. Darüber hinaus war er Senior Fellow am IKKM in Weimar und am Alfried­Krupp­Wissenschaftskolleg/Greifswald. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der altdeutschen und altniederländischen Malerei sowie in den Bereichen Fotografie und Film.

Thomas Helbig (Berlin, HU): „Politisch Filme machen“ – Der Pariser Mai als Null­ und Wendepunkt im Werk von Jean­Luc Godard

Das Jahr 1968 markiert im Werk des französischen Filmkünstlers Jean­Luc Godard eine entscheidende Demarkationslinie seines Filmschaffens. Die politisch sich ankündigenden Umbrüche korrespondieren auf beeindruckende Weise mit der Neujustierung seines Filmdenkens und der Suche nach einer alternativen Filmform. Noch bevor die Mai­Unruhen an der Pariser Université Paris Nanterre kulminierten, hatte Godard in seinem Film La Chinoise (1967) die Spannweite zwischen intellektuellem und gewalttätigem Widerstand anhand einer maoistischen Aktivistenzelle bereits ausgelotet. In den keinerlei Zwischenton zulassenden Primärfarben des Films, stellt sich deren Dogmatismus geradezu unübersehbar heraus. Auch Godards im darauffolgenden Jahr begonnener Film Le gai savoir (1969) gleicht einem Kammerspiel, das diesmal jedoch in eine ideologische Ausnüchterung(szelle) verlegt scheint. Die beiden Protagonisten streben einen unhintergehbaren Nullpunkt an, auf dessen Basis sie die Frage danach zu stellen versuchen, wie und auf welchen Wegen sicheres Wissen erlangt werden könne. Inmitten der Pariser Mai­Unruhen geschieht dies keineswegs zum Selbstzweck. Der nietzscheanische Nihilismus dient vielmehr als Ausgangspunkt zur Konfiguration einer neuen Wissenschaft. Deren Fokus scheint insbesondere aus der Perspektive kunsthistorischer Reflexion überraschend: „Zu viele Bilder – Wir müssen reagieren!“, heißt es an einer Stelle in Le gai savoir. Noch bevor der iconic turn der Kunst­ und Bildwissenschaften ausgerufen wurde, hatte der Filmemacher eine Filmform etabliert, die als Instrument bildkritischer Reflexion fungieren sollte. Eine analytisch vergleichende Betrachtung der beiden Filme unter diesem Blickwinkel ist jedoch bislang ausgeblieben. Während La Chinoise sich eher dem Wort als dem Bild verschreibt, das es nur richtig auszulegen gälte (Mao, Marx, Althusser gegen Descartes und Kant) setzt Le gai savoir aufeine neu angelegte Alphabetisierung, in der Bild und Wort in ein dialektisches Verhältnis treten (Nietzsche, Foucault gegen Hegel). Aber nicht nur die Inhalte von Godards Filmen ändern sich ab 1968 schlagartig. Mit dem Wechsel zum 16mm­Format und der Gründung des Autorenkollektivs der „Dziga Vertov Gruppe“ läutet Godard eine Phase seines Schaffens ein, die ästhetisch, ethisch und politisch ohne Kompromisse ist. „Was tun“ fragt Godard 1970 in seinem 39­Punkte­Manifest, um dann in Anlehnung an eine Wendung bei Brecht festzustellen: „1. Wir müssen politische Filme machen; 2. Wir müssen politisch Filme machen“.

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Vita

Thomas Helbig ist Stipendiat der Gerda Henkel Stiftung mit einem Promotionsprojekt zu Jean­Luc Godards ‚Histoire(s) du cinéma‘ sowie assoziiertes Mitglied in der Abteilung ‚DasTechnische Bild‘ am Hermann von Helmholtz­Zentrum für Kulturtechnik, an der Humboldt­Universität zu Berlin, wo das gemeinsam von Prof. Dr. Claudia Blümle, Prof. Dr. Michael Diers und Prof. Dr. Volker Pantenburg betreute Promotionsprojekt angesiedelt ist. Von 2013–16 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle der Aby Warburg Edition am Institut für Kunst­ und Bildgeschichte der Humboldt­Universität zu Berlin, wo er zusammen mit Prof. Dr. Michael Diers und Dr. Steffen Haug die Edition einer Auswahlausgabe der Briefe Aby Warburgs vorbereitet hat (Band V.1,2 „Briefe”, Gesammelte Schriften, Studienausgabe, De Gruyter). Von 2002–13 Studium der Bildenden Kunst, Kunstgeschichte und Philosophie in Dresden und Berlin. 

Johannes Vincent Knecht (Berlin, FU): Fett, das nicht kalt wird – zur Resistenz und Wirksamkeit von Joseph Beuys

Je konsequenter der Materialismus unsere Gegenwart formt, desto aktueller könnten Beuys’ Opposition, seine Gegenreden und Hoffnungen erscheinen. Tatsächlich wirkt er wie aus der Zeit gefallen: Während sein Werk im Kanonisch­Klischeehaften erstarrt, hat sein gestalterisches und gesellschaftliches Tun jede Dynamik und Fruchtbarkeit verloren. Die Gründe für das Versanden seiner künstlerisch­politischen Impulse scheinen offenkundig: Auch ohne die jüngst vertieft dargelegte Kontamination und Fiktionalität seiner Biographie sind die auratische Eigentlichkeit seiner Anliegen, sein Erlösungsanspruch und sein im Kern romantischer Idealismus dem Zeitgeist ebenso fremdwie die weihevolle Haltung von Werk und Rede. Die Frage nach seiner beständigen Widerständigkeit stellt sich mithin in mehrfacher Hinsicht: Haben seine Objekte, Dokumente und Hinterlassenschaften etwas von ihrer interagierenden, dissidenten Kraft bewahrt? Widersetzen sie sich ihrer musealen Bändigung? Haben sie in Bezug auf die Gegenwart diagnostische oder kurative Wirkung? Wie können unverbrauchte Blicke auf das Phänomen Beuys geworfen werden, die ihrerseits den perpetuierten Stereotypen von Provokateur, Schamane oder Scharlatan widerstehen?

Vita

Johannes Vincent Knecht, Studium der Kunstgeschichte, Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaften in Berlin und Edinburgh. Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Magisterarbeit zu Anselm Kiefer. Gegenwärtig Abfassung einer Doktorarbeit zu Perspektiven des Ornamentalen in der romanischen Bauskulptur bei Prof. Eberhard König an der Freien Universität Berlin. Lehrbeauftragter am Institut für Kunstwissenschaft der Hochschule für bildende Künste in Essen und an der Leibniz­Universität Hannover. 2012 Mitbegründer des Berliner Arbeitskreises Kunstgeschichte desMittelalters.

O.K. Werckmeister (Berlin): Politischer Widerstand in der sowjetischen und deutschen Kunst, 1932-1939

Since the start of the 19th century, if not earlier, it was commonplace for artists to use their work to express social or political dissent. It was the consequence of their transition from professional dependency on patronage to offering their work on the open market. Freedomof creation entailed freedom of expression for an artistic culture where the market had 

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become part of the public sphere. By the time of the Depression, the ideological options were clearly drawn. For social or political dissent to turn into opposition, it had to be positioned between communism, ‘fascism,’ and democracy. For opposition to turn into resistance, it had to face oppression. And for resistance to turn from defiance into activism,it had to link up with political opposition movements. It is necessary to abide by these distinctions, since in the current culture the heavy­handed term ‘resistance’ tends to be all too easily borrowed from the manifold struggles against dictatorship— particularly during World War II—to validate artistic postures of dissent, even though the historical record of those struggles only rarely shows artistic participation. 

Vita

Otto Karl Werckmeister (geboren 1934) lebt nach langjährigen Professuren für Kunstgeschichte an der University of California in Los Angeles, California, und an der Northwestern University in Evanston, Illinois, seit 2001 wieder in Berlin. Letzte Bücher: Linke Ikonen, München, 1997, Der Medusa­Effekt: Bildstrategien seit dem 11. September,Berlin, 2005, und Die Demontage von Hans Bellmers Puppe, Berlin, 2011. In Vorbereitung: The Political Confrontation of the Arts: From the Great Depression to the Second World War, 1929­1939 (erscheint 2019)

Christian Drobe (Universität Halle­Wittenberg): Kritische Arbeit mit Bildern? Das Spätwerk von Peter Weiss und Rolf Dieter Brinkmann als Experimentierfeld zwischen Moderne und Postmoderne

Die linke, marxistisch orientierte Theorie blieb in ihrer Geschichte überraschend häufig derklassischen Bildung und dem bürgerlichen Kanon verpflichtet, besonders bei Georg Lukács. Bei Adorno verschoben sich die Interessen zwar deutlich bis zur klassischen Moderne, aber letztlich blieb er Apologet eines Systems, das sich um 1800 etabliert hatte. Die Avantgarde konnte nur in den Parametern gedacht werden, die das Kunstsystem in den letzten 200 Jahren seit ihrer Ausdifferenzierung bereitgestellt hatte. Es ist diese Fixierung auf die moderne Institution Kunst und ihrem traditionalistisch organisierten Kanon, die die kritische Bewegung nach der 68er­Revolution scheitern ließ. Als Reflex entstanden in den 1970er Jahren Arbeiten der bildenden Kunst und Literatur, die erstmals das Denken mit Bildern vorantrieben.Wenn Rolf Dieter Brinkmanns Collagen in Rom. Blicke exemplarisch im freien Spiel populärkultureller Assoziationen den traditionellen Kanon aufbrachen, war Kunst auf eine neue Weise widerständig geworden. Peter Weiss blieb demgegenüber in seiner Ästhetik des Widerstands zwar der klassischen Moderne mit seinem latent genealogischen Bilder­Denken verpflichtet, etablierte aber den Totalanspruch eines ästhetischen Regimes, das die kritische Relektüre der gesamten Kunstgeschichte initialisieren wollte. Nähe und Fernebeider Strategien können werkseitig Auskunft geben über die Möglichkeiten einer kritischen Kunstwissenschaft seit den 1970er Jahren, die sich nicht nur den Herausforderungen der Postmoderne stellt, sondern bis heute als Vorgeschichte der Bildwissenschaft ihrer Aktualisierung harrt.

Vita

Christian Drobe schloss zunächst an der Martin­Luther­Universität Halle­Wittenberg einen Magisterstudiengang in der Germanistik und Geschichte ab, bevor er 2012 zur Kunstgeschichte kam. Am kunsthistorischen Institut hat er im März 2015 seinen Masterabschluss mit einer Arbeit zur Kunst und Literatur der konservativen Moderne bei 

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Rudolf Schlichter und Ernst Jünger abgelegt. Daran schließt unmittelbar das derzeitige Dissertationsprojekt zur Klassikrezeption in der Moderne bei Prof. Dr. Olaf Peters an. Aktuelle Vorträge zu Emil Nolde und Wilhelm Vöge unterstreichen das Forschungsinteresse an der klassischen Moderne und der Fachgeschichte.

Holger Kuhn (Lüneburg, Leuphana Universität): „The Common Sense“. Affektive Widerständigkeit bei Melanie Gilligan und Rosi Braidotti

Die filmischen Arbeiten der Künstlerin Melanie Gilligan umkreisen die Frage, wie die Kommunikation durch und mit digitalen Maschinen sich mit der Finanzialisierung aller Lebensbereiche verbindet. Anhand ihrer jüngeren Science­Fiction Serie „The Common Sense“ (2014) wirft der Vortrag die Frage auf, wie sich Formationen von Widerständigkeit beschreiben lassen, die auf aktuelle Ausprägungen des neoliberalen Spätkapitalismus reagieren.„The Common Sense“ spielt in einer nahen Zukunft, in der sich die Frage nach der kapitalistischen Vereinnahmung des gesamten Leben in verschärfter Form zeigt. Denn einkleines Gerät namens thepatch hat es unnötig gemacht, Affekte und Emotionen sprachlich, visuell oder in sonstigen ‚externen‘ Medien zu artikulieren, da sie ‚unmittelbar‘ von den anderen Menschen, die durch das patch miteinander vernetzt sind, gespürt werden können. Die Serie geht anhand dieses fiktionalen Settings dem Zusammenhang zwischen vernetzten Affekten und vernetzten Kapitalströmen nach. Insbesondere verzeichnet sie, wie Affekte und Emotionen in die Kette der Mehrwertproduktion eingeschlossen sind und die menschliche Kommunikationsfähigkeit warenförmig wird.Die Serie verdeutlicht, dass das aktuelle Nachdenken über Schulden, über Verschuldung oder über Ausbeutungsmechanismen im Zeichen ‚immaterieller Arbeit‘ um eine weitere Ebene ergänzt werden muss. Im Anschluss an Maurizio Lazzaratos Buch „Signs and Machines“ (2014) diskutiert der Vortrag, inwiefern die vorherrschenden Techniken neoliberaler Selbstoptimierung und Vernetzung nicht mehr „logozentrisch“, sondern vielmehr „maschinozentrisch“ sind. Neoliberale Gouvernementalität steuert nicht nur die individuierten (verschuldeten) Subjekte, sondern kapitalisiert solche prä­ und transindividuellen Affekte und Intensitäten in Menschen­Maschinen­Assemblagen, die für Félix Guattari und Gilles Deleuze noch als Momente des Widerständigen ins Spiel gebracht werden konnten.

Vita

Holger Kuhn arbeitet seit 2016 als Postdoc am DFG­Graduiertenkolleg „Kulturen der Kritik.Formen, Medien, Effekte“ an der Leuphana Universität Lüneburg, in dessen Rahmen er „Szenen der Kapitalismuskritik in der Kunst seit 2008“ erforscht. 2012­2016 arbeitete er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunstgeschichte. Zuvor hat er eineDissertation zum Nachleben religiöser Bild­ und Medientechniken in Kaufmannsbildern des 16. Jahrhundert verfasst. Zuletzt erschienen sind „Die Heilige Sippe und die Mediengeschichte des Triptychons“, Emsdetten: Edition Imorde, 2018 und „Die leibhaftige Münze. Quentin Massys’ Goldwäger und die altniederländische Malerei“, Paderborn: Fink, 2015. Das Studium der Kunstgeschichte und der Germanistik absolvierte er in Bochum und Fribourg (Schweiz). Forschungsschwerpunkte sind moderne und zeitgenössische Kunst, Malerei des 16. Jahrhunderts, Kunst und Kritik sowie Bildrhetorik, Medien­ und Phototheorie.

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Peter Geimer (Berlin, FU): Subversiv, reflexiv, kritisch ­ zur rhetorischen Überfrachtung zeitgenössischer Kunst

„Zur   Selbstverständlichkeit   wurde,   dass   nichts,   was   die   Kunst   betrifft,   mehrselbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihrExistenzrecht.“ Dieser berühmte Satz aus Adornos Ästhetischer Theorie würde in dieserForm heute (leider) nicht mehr geschrieben werden können. Denn in kunsthistorischenMonographien,  in Katalogbeiträgen und Kritiken zur zeitgenössischen Kunst werden  ihr„Existenzrecht“ und ihr „Verhältnis zum Ganzen“ in der Regel als historisch überlieferteSelbstverständlichkeit vorausgesetzt. Nicht zuletzt ihr Potential an ‚Subversivität‘ scheintder zeitgenössischen Kunst wie eine natürliche Eigenschaft mit auf den Weg gegeben zusein.   In  Kommentaren zu  politische Kunst  zeigen sich  entsprechende Zuschreibungenetwa  in  einer  häufig  vorgenommen Zweiteilung:  zwischen  einer  naiven,  unreflektiertenBildproduktion der Massenmedien einerseits, einer diese ‚unterlaufenden‘ und scheinbarvon Hause aus reflexiven Bildpraxis politischer   Kunst andererseits.  Mein Eindruck  ist,dass   solche   Urteile   häufig   eher   ritualisiert   und   als   Versatzstücke   aufgerufen   statttatsächlich   im einzelnen ästhetisch  begründet  und dargestellt   zu  werden.  Am Beispielkonkreter Fallstudien fragt der Vortrag nach den Motiven und Gründen dieser rhetorischenFlankierung zeitgenössischer Kunst sowie nach möglichen Alternativen.

Vita

Peter Geimer, Professor für Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und dort Ko­Sprecher   der   DFG­Kolleg­Forschergruppe   "BildEvidenz.   Geschichte   und   Ästhetik".Monographien: Fliegen. Ein Porträt, Berlin 2018; Derrida ist nicht zu Hause. Begegnungenmit  Abwesenden.  Mit   einem Nachwort   von  Marcel  Beyer,  Hamburg  2013;  Bilder  ausVersehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg 2010;  Theorien derFotografie, Hamburg 2009 (4. Aufl. 2014),  Die Vergangenheit der Kunst. Strategien derNachträglichkeit im 18. Jahrhundert, Weimar 2002.  

Christian Janecke (Offenbach, Hochschule für Gestaltung): Kunstwiderständler in Kassel

Wo das Widerständige der Kunst sein Unterpfand immer seltener in den Werken findet, wodas Künstlertum kompromittiert erscheint, dort heften sich die Hoffnungen zuletzt an die Adressaten des Kunsterlebens. Exemplarisch lässt sich diese Entwicklung aufzeigen anhand des Selbstverständnisses und Auftretens der Documenta in jüngerer Zeit. Statt Neuerungen der Kunst gibt es dort fünfjährlich neue Narrative, die im Vorfeld medial verkündet, mit dicken Readern plausibilisiert und in penibel vorbereiteten Führungen vorortindoktriniert werden – unterdessen es Lehrenden und Studierenden von Kunstakademien als Vertretern reaktionären „Funktionärswissens“ streng verboten ist, etwa Seminargespäche vor den Werken abzuhalten.Nicht den Kunstwerken, dem Publikum wird in Kassel stete Wandlung zugemutet – bis hin zur hochfahrenden Forderung eines „Du musst Dein Leben ändern“ auf der jüngsten Documenta. Die Kürung der Besucher zu Instanzen des Widerstandes (auch gegen die eigene Lebensform!) bedarf, um als Überfrachtung oder Verstiegenheit nicht aufzufliegen, gewissermaßen savonarolischer Flucht nach vorn, begleitet von einer Immunisierung gegen jegliche Kritik – und in hartnäckiger Ausblendung jenes Betriebs, jener Routinen und touristischen Züge, die eben unvermeidlich auch zu einer Massenveranstaltung für Hunderttausende gehören.

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Vita

Christian Janecke, Dr. phil. habil., ist ord. Professor für Kunstgeschichte an der HfG Offenbach. Seiner Dissertation zum Zufall in der Kunst folgten Bücher zur Modetheorie, darunter zu Frisuren und zum Schminken, sowie zu Verhältnissen von Kunst und Theater, im Besonderen zur Performance Art. Neben Künstlermonographien entstand zuletzt Maschen der Kunst (2011). Zahlreiche Aufsätze erschienen zur jüngeren Kunst, oft in systematischer Hinsicht, teils zu Wechselwirkungen mit Design, Wissenschaft, Bühne, Zoo, Modell.   [www.hfg­offenbach.de/de/people/christian­janecke]

Ines Kleesattel (Zürich, Hochschule der Künste): „...so komplex ist die Welt in der Tat“. Adornos Wahrheitsästhetik und das kritisch­emanzipatorische Wissen von „Künstlerischer Forschung“

Mit Blick auf kritisch­forschende Gegenwartskunst unternimmt der Vortrag eine Reaktualisierung von Adornos ästhetischer Theorie, die sich gegen Beschwörungen der Kunst als einer politik­ und erkenntnisfreien »dunklen Kraft« (Ch. Menke) stellt, wie sie in der philosophischen Ästhetik bis heute wirkmächtig sind. Anders als Adorno von verschiedenen Autor*innen wiederholt vorgeworfen wurde, sind dessen Konzeptionen von »Wahrheit« und »Materialität« keinesfalls unvereinbar mit den Pluralisierungen und Entgrenzungen der jüngeren Kunstgeschichte. Ich werde darlegen, inwiefern ein Rückgriff auf Adornos Ästhetik heute hilfreich ist, um zeitgenössische »Künstlerische Forschung« differenzierter zu bewerten. Vor allem in seinen Ästhetik­Vorlesungen von 1958/59 und 1961/62 insistiert Adorno darauf, dass Vielschichtigkeit und Eigenlogik der Kunstwerke nichts gänzlich Vages und Unbestimmtes sind, und dass anstelle einer Kantianisch formalen Ästhetik gesellschafts­ wie kunstkritische Konkretion gefordert ist. Anknüpfend daran zeige ich an ausgewählten Fallbeispielen, inwiefern zeitgenössischer Kunst (nicht generell, aber unter Umständen) ein kritisch­emanzipatorisches Erkenntnispotenzial eignet. Mein Vortrag wird argumentieren, dass insbesondere recherchebasierte Kunst, die immanent transdisziplinär und mehrstimmig ist, Kunstfeld­überschreitende Rezeptionsmöglichkeiten bietet, welche neuen Formen der Kunstkritik nahelegen.

Vita

Ines Kleesattel ist Kunst­ und Kulturwissenschaftlerin und Philosophin. An der Zürcher Hochschule der Künste ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut for Cultural Studies in the Arts und Dozentin im Departement Kulturanalysen und Vermittlung. Forschungsscherpunkte: künstlerische Epistemologie und Multiperspektivität, postkonzeptuelle Kunst, polylogische Kunstkritik, politische ästhetische Theorie und Praxis. Buchpublikationen: The Future is Unwritten. Position und Politik kunstkritischer Praxis, hg. mit Pablo Müller, Diaphanes 2018; Scripted Culture. Kulturöffentlichkeit und Digitalisierung, hg. mit Ruedi Widmer, Diaphanes 2018; Politische Kunst­Kritik. Zwischen Rancière und Adorno, Turia+Kant 2016; Politik der Kunst. Über Möglichkeiten das Ästhetische politisch zu denken, hg. mit Leonhard Emmerling, Transcript 2016.

Michael Jekel (Frankfurt am Main): Quentin Tarantinos Pulp Fiction zwischen selbstreferentieller Medialität und subkulturellem Realismus

Seinen zweiten Kinofilm Pulp Fiction (1994) hat Tarantino aus drei verschiedenen narrativen Strängen zusammengefügt, die jedoch nicht in chronologischer Folge nacheinander erzählt werden; stattdessen wird die zeitliche Abfolge aufgebrochen und der

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Gesamtablauf in eine ganz andere Reihenfolge umgestellt. Als verbindende Klammer um dieses ummontierte dreifache Narrativ herum dient ein bewaffneter Raubüberfall auf ein Schnellrestaurant in einem südlichen Stadtteil von Los Angeles, der, aus unterschiedlichenBlickwinkeln gefilmt, sowohl als Anfangsszene wie auch am Schluss von Pulp Fiction gezeigt wird. In der die Chronologie durchbrechenden Wiederholung dieses ungewöhnlichen Raubüberfalls werden die drei verschiedenen, relativ eigenständigen Erzählstränge zum Schluss sowohl in formaler wie auch in inhaltlicher Weise vereinheitlichend zusammengeführt. Oft wird Tarantino als ein postmoderner Eklektiker interpretiert, in dessen Werk vor allem ein selbstreflexiv und ästhetisch motiviertes Interesse an kunstvoll montierten und effektvoll kombinierten Rückverweisen auf das Medium Film rezipierbar ist, ohne dass ein Bezug zur gesellschaftlichen Realität beabsichtigt wäre. Anhaltspunkte in Tarantinos Filmen, an denen ein solcher Bezug womöglich doch belegbar sein könnte, finden sich eher auf scheinbaren Nebenschauplätzen, etwa in den ausgedehnten Gesprächssituationen, in denen Tarantino es gelingt, den in seinen Filmen aufgegriffenen unterschiedlichen subkulturellen Milieus eine realistische Tiefenschärfe zu verleihen; über solche subkulturelle Kontexte hinaus kann ebenfalls aber auch das in Pulp Fiction zum Einsatz gebrachte Montageverfahren als Hinweis auf eine realistische Arbeitsweise gedeutet werden. 

Vita

Studium der Fächer Philosophie, Kunstgeschichte, Vergleichende Religionswissenschaft und Architektur an der Goethe­Universität Frankfurt (Magister Artium) mit einer Abschlussarbeit zum Thema Materialismus und Empiriokritizismus und an der Technischen Universität Berlin (Dipl.­Ing.) mit einer Abschlussarbeit zum Thema Architektur des Flusses.  Dissertationsvorhaben am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Kunstgeschichte, Kunst­ undMedientheorie der Frankfurter Goethe­Universität zum Thema Realismus im filmischen Werk von Quentin Tarantino. 

Florian Schmidt (Frankfurt a. M.): Theodor. W. Adorno und das Projekt einer ‘Ästhetischen Theorie’ nach der modernen Kunstwissenschaft

Das Zentrum der von Theodor W. Adorno mit dem Fragment namens Ästhetische Theorie vorgelegte Argumentation wird durch eine Paradoxie beschrieben. Sie basiert auf einem doppelten Aufruf von autonomietheoretischer und sozialer Bestimmung des Kunstgegenstandes. Kritische wie affirmative Bezugnahmen auf Adornos Fragment treffensich in der Einschätzung, dass das Projekt angesichts dieser Aporie nur durch eine therapeutische Lektüre kunstwissenschaftlich tauglich zu machen ist, und plädieren so wechselseitig für eine Auf­ oder aber Abwertung von ästhetischer Eigenlogik oder gesellschaftlichem Wirkungszusammenhang. In Tuchfühlung mit den einschlägigen Vorschlägen der Entparadoxierung des adornitischen Projekts plädiert das Papier dafür, erneut die Frage zu stellen, was unter einer Ästhetischen Theorie zu verstehen sein könnte, die sich beiden Vorschlägen widersetzt, indem sie sich an einer Bestimmung der Autonomie des Kunstgegenstandes versucht, der seine gesellschaftliche Natur nicht mehr bloß äußerlich zur Seite steht.

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Studium der Fächer Philosophie, Kunstgeschichte und Politikwissenschaft in Kassel und Frankfurt am Main. Abschluss mit einer Magisterarbeit zu Hegels Phänomenologie des Geistes. Seit 2016 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunstgeschichtlichen Institut Frankfurt am Main. Dissertationsprojekt zur Geschichte der Kunst des post­revolutionären Russland mit einem Schwerpunkt auf Lazar („El“) Lissitzkys Werk.

Verena Krieger (Universität Jena): Das „Prinzip Montage“ – heute. Kontinuitäten und Transformationen in Theorie und Praxis

Die zeitgenössischen Künstler Marcel Odenbach (*1953 in Köln) und Thomas Hirschhorn (*1957 in Bern) reflektieren historische und aktuelle politische Themen im Medium der Fotocollage. Das legt es nahe, im Blick auf diese Werke auf die kunsttheoretische Debatteder 1930er Jahre zu rekurrieren, in der dem Montageprinzip ein besonderes kritisches Potenzial zugesprochen wurde. In meinem Beitrag untersuche ich Papiercollagen der beiden Künstler und befrage diese auf ihren jeweils charakteristischen Montagestil. Die klassischen Montagetheorien von Ernst Bloch, Walter Benjamin, Günther Anders, WielandHerzfelde u.a. bilden dabei den diskursiven Hintergrund, wobei die kontextuellen Differenzen zwischen der künstlerisch­politischen Situation in den 1930er Jahren und heute mit einbezogen werden. Zugleich ziehe ich jüngere kunsttheoretische Positionen heran, insbesondere diejenige Jacques Rancières. Ich interessiere mich dafür, ob und wie sich die postulierten kritischen und Widerstandsqualitäten von Montage in Odenbachs undHirschhorns Werk analytisch fassen lassen, und wie diese im Kontext historischer Montagepraktiken zu verorten sind. Inwiefern kann Montage auch in der heutigen Kunstproduktion als Ausdruck einer widerständigen Ästhetik verstanden werden? 

Vita

Verena Krieger hält den Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Friedrich­Schiller­UniversitätJena. Zuvor lehrte sie an Universitäten und Kunsthochschulen in Wien, Bern, Stuttgart, Karlsruhe und München. Ihre Interessensschwerpunkte im Bereich der modernen und zeitgenössischen Kunst sind das politische Engagement der Kunst, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Ambiguität (in) der Kunst, Kartographie als künstlerisches Medium, Genderfragen, Konzepte der Kreativität, Temporalstrukturen in der Kunst. Jüngste Publikationen (Auswahl):Modes of Aesthetic Ambiguity in Contemporary Art. Conceptualizing Ambiguity in Art History. In: Frauke Berndt (Hg.), Ambiguity in Contemporary Art and Theory, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 62, 2018.BRANDSCHUTZ. Aktuelle künstlerische Strategien gegen intolerante Mentalitäten (Hg.), Weimar 2018.Documenta 14: Auf der Suche nach "Ästhetiken des Widerstands", in: Kunstchronik, Jg. 70, 2017, H. 12, S. 647­655.Die Ambivalenz der Passage. Dani Karavans Gedenkort für Walter Benjamin. In: Burcu Dogramaci/Elizabeth Otto (Hg.), Passagen des Exils/Passages of Exile. Jahrbuch Exilforschung, Bd. 35, 2017.‘When exhibitions become politics’. Geschichte und Strategien politischer Kunstausstellungen seit den 1960er Jahren (hg. mit Elisabeth Fritz), Köln/Weimar/Wien 2017.

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Sebastian Jung. Neue Heimat Paradies. Eine künstlerische Recherche über Geflüchtete, Angekommene und immer schon Dagewesene (hg. mit Peter Fauser), Bielefeld/Berlin 2016.