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FORUM für Kinder und Jugendarbeit 2/2007 21 Ist Pippi L. ein Fall für den Kinderschutz? Fachkundige Stellungnahmen zu einem Fall aus der Weltliteratur Pippi Langstrumpf – wer kennt sie nicht? Viele haben schon als Kind ihre Kraft und ihren Mut bewundert, sie um Freiheit und Unabhängigkeit beneidet. Aber was wäre, wenn Pippi keine Kunstfigur wäre, sondern ein Kind in Hamburg? Wie würde die Jugendhilfe heute auf ein Kind reagieren, das wie Pippi L. lebt: ganz ohne Eltern oder andere Erwachsene, also ohne Auf- sicht, in einer riesigen Villa mit einem Pferd und einem Affen. Von Hygiene scheint sie wenig zu halten, auch nicht von gesunder Ernährung. Ihre Klei- dung wirkt oft unangemessen für die Witterung. Zur Schule geht sie nur, wenn sie mag, bisher hat sie noch nicht einmal gelernt, bis zehn zu zählen. Überdies hat sie große Mengen Bar- geld unbekannter Herkunft im Haus. Ist Pippi L. also ein Kinderschutzfall? Muss sie ins Heim oder in eine Pflege- familie? Wenn ja – besser milieunah oder ganz weit weg? Offen oder lieber geschlossen? Und wenn nicht: Was macht Pippi so stark, dass sie frei und unabhängig leben und überleben kann? Wir haben nachgefragt und von ver- schiedenen Fachleuten, darunter auch zwei Kindern, kompetente Einschät- zungen und persönliche Ansichten er- halten und Anregungen, welche Ange- bote Pippi L. gemacht werden könnten. Ist Pippi L. ein Fall für den Kinder- schutz?

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Anmerkungen:

1.) Erstmals beschrieben worden ist dasWunderland der Intermediärräume vondem genialen Donald Winnicott, einemenglischen Psychoanalytiker und Kin-derarzt, in seinem Buch: Vom Spiel zurKreativität (1979, Stuttgart: Klett-Cotta)

2.) Milch, W. (2000): Kleinkindforschungund psychosomatische Störungen. Psy-chotherapeut 45, 18-24.

Literatur:

Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. ZurEntmystifizierung der Gesundheit. Tü-bingen: dgvt-Verlag.

Dornes, M. (1993): Der kompetente Säug-ling. Die präverbale Entwicklung desMenschen. Frankfurt/M.: Fischer.

Lindgren, A. (1977): Das entschwundeneLand. Hamburg: Oetinger.

Schiffer, E. (1993/1997): Warum Huckle-berry Finn nicht süchtig wurde. Anstif-tung gegen Sucht und Selbstzerstörungbei Kindern und Jugendlichen. Wein-heim und Basel: Beltz.

Schiffer, E. (2001): Wie Gesundheit ent-steht. Salutogenese: Schatzsuche stattFehlerfahndung. Weinheim und Basel:Beltz.

Schiffer, E. & H. (2002): Nachdenken überZappelphilipp – ADS: Beweg-Gründeund Hilfen. Weinheim und Basel: Beltz.

Schiffer, E. & H. (2004): LernGesundheit.Lebensfreude und Lernfreude in derSchule und anderswo. Weinheim undBasel: Beltz.

Schiffer, E. (2007): Reise zur Gelassenheit.Den sicheren Ort in sich entdecken. Frei-burg/Brsg.: Herder.

Twain, M. (1980): Huckleberry Finns Aben-teuer. Berlin: Verlag Neues Leben. Li-zenzausgabe für den Herder-Verlag,Freiburg/Brsg.

Winnicott, W. Donald (1979): Vom Spielzur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta.

FORUM für Kinder und Jugendarbeit 2/2007 21

Warum Huck l ebe r r y F i nn und P i pp i Langs t rump f so gesund und . . .

Ist Pippi L. ein Fallfür den Kinderschutz?

Fachkundige Stellungnahmen zu einem Fall aus der Weltliteratur

Pippi Langstrumpf – wer kennt sienicht? Viele haben schon als Kind ihreKraft und ihren Mut bewundert, sie umFreiheit und Unabhängigkeit beneidet.Aber was wäre, wenn Pippi keineKunstfigur wäre, sondern ein Kind inHamburg? Wie würde die Jugendhilfeheute auf ein Kind reagieren, das wiePippi L. lebt: ganz ohne Eltern oderandere Erwachsene, also ohne Auf-sicht, in einer riesigen Villa mit einemPferd und einem Affen. Von Hygienescheint sie wenig zu halten, auch nichtvon gesunder Ernährung. Ihre Klei-dung wirkt oft unangemessen für dieWitterung. Zur Schule geht sie nur,wenn sie mag, bisher hat sie noch nichteinmal gelernt, bis zehn zu zählen.Überdies hat sie große Mengen Bar-

geld unbekannter Herkunft im Haus.Ist Pippi L. also ein Kinderschutzfall?Muss sie ins Heim oder in eine Pflege-familie? Wenn ja – besser milieunahoder ganz weit weg? Offen oder liebergeschlossen? Und wenn nicht: Wasmacht Pippi so stark, dass sie frei undunabhängig leben und überlebenkann?

Wir haben nachgefragt und von ver-schiedenen Fachleuten, darunter auchzwei Kindern, kompetente Einschät-zungen und persönliche Ansichten er-halten und Anregungen, welche Ange-bote Pippi L. gemacht werden könnten.

Ist Pippi L. ein Fall für den Kinder-schutz?

Dr. Eckhard Schiffer

ist Chefarzt der Abteilung für psychotherapeutischeMedizin und Psychosomatik am ChristlichenKrankenhaus Quakenbrück. Er ist analytisch orientierterPsychotherapeut und hat zusätzlich ein philosophischesStudium absolviert.

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Fabian Tietz: Also, ich bin ein Freund der Freiheit der selbst-ständigen Lebenskünstler und Pippi L. ist für mich ein Kind,das selbstständig und verantwortungsbewusst leben kann undeine eigene Weltsicht besitzt und diese auch vertritt. Daherspreche ich mich dagegen aus, Pippi L. als Kinderschutzfallanzusehen und ihr damit das, was wir für gut und richtig emp-finden, aufzuoktroyieren. Pippi ist KEIN Kinderschutzfall!

Fabian Tietz ist Student der Sozial- und Organisationspäd-agogik an der Universität Hildesheim.

Christiane Mettlau: Ein Mädchen lebt allein in einem Haus.Offensichtlich ist die Kleine sich Tag und Nacht selbst über-lassen und besucht die Schule nicht mehr. Ein Hausbesuch istfällig. Im Haus findet sich ein unübersichtliches, kunterbuntesSammelsurium von Sachen, ein Pferd auf dem Flur, ein Affeauf dem Küchentisch, von Vater oder Mutter keine Spur. Nurein Mädchen in auffälliger, nicht wetterfester Kleidung ist zuHause und will nicht mehr in die Schule gehen. Sie hat esschon mal ausprobiert, aber es fehle ihr die Lust dazu, gibt siedem Besucher bereitwillig Auskunft und stemmt ihn dannkurzerhand in die Luft und setzt ihn vor die Tür. „Unglaublichdieses Mädchen“, denkt der Schulverwaltungsbeamte. SeinBericht spricht von „oppositionellem Verhalten, Gewaltbe-reitschaft und totaler Schulverweigerung“ – ein Fall für denSchulzwang.

Die Richtlinien zum Umgang mit Schulpflichtverletzungensind bundesweit strenger geworden. Die unlustige Schülerinsoll jetzt durch die Polizei in die Schule begleitet werden.Aber halt, die Personalien: Langstrumpf, Pippi-Lotta, zehnJahre alt – eine Sensation! Dpa meldet: „Pippi Langstrumpf… das mutigste und stärkste Mädchen der Welt … berühmtfür ihr selbstbestimmtes Leben, für ihre Großzügigkeit undTierliebe … soll gegen ihren Willen zur Schule gehen … DiePolizei hat den Schulzwang durchgesetzt … Villa Kunterbuntist verwaist … Pferd und Affe sind im Tierheim.“ Und plötz-lich ist die Welt ein bisschen ärmer geworden. Nein! Lieberein Happy End für Pippi!

Gut, dann lasst mehr Pädagogen die Schulen stärken, damitsie eine Heimat für alle Kinder werden können. Die guteNachricht hieße dann: „Pippi Langstrumpf will freiwillig einedeutsche Schule besuchen. Sie sagt im Interview: „Ich warlange genug Sachensucherin. Jetzt will ich alle Sachen verste-hen. In der Schule bekomme ich Antworten auf meine Fragen.Hier zu sein, macht mir Spaß.“

Christiane Mettlau ist Schulverwaltungsbeamtin in Ham-burg.

Fritz Düwer: Pippi braucht ja nichts, deswegen ist sie sostark und unabhängig. In unserem Land ist das natürlich nurglatte Kinderbuchromantik. Sie würde sofort auffallen, weilsie dem Schulzwang nicht nachkommt. In diesem Fall würdeeine sozialpädagogische Familienhilfe ausreichen. Natürlichmüsste noch geklärt werden, woher ihre freien Geldreservenkommen. Illegal und steuerfrei, das geht auf keinen Fall. Au-ßerdem steht zu befürchten, das ihr Freiheitswille und ihr au-tonomes Verhalten Schule machen und sie einen schlechtenEinfluss auf andere Kinder ausübt. Davor müssen Pippi undalle anderen Kinder geschützt werden. Sollte die schlaue Pip-pi allen Einflüsterungen und wohlmeinenden Ratschlägenzum Trotz nicht Folge leisten wollen, so würde ich sie mit ei-ner Eins-zu-eins-Betreuung nach Portugal schicken. Da ist esschön warm und sie kennt die Sprache nicht. Dort würde siesicher integrative Einsichten günstiger aufnehmen und ange-passte Lösungen für sich entwickeln.

Pippi ist für alle Kinder so attraktiv, weil sie sich selbstnach einem ungebundenen Leben wie es Pippi führt sehnen –ohne Bevormundung und Kontrolle, mit viel Lachen undspaßigen Einfällen. Pippi könnte aber für viele ein Modellsein, nicht nur zu träumen, sondern diese Träume auch zu Le-ben. Kinder sind gierig danach, spannendes zu Lernen, ihreUmwelt und das Leben zu begreifen, Spaß und Abenteuerzu erleben. Wir brauchen dafür nur die geeigneten Kinder-gärten und die Schulen zu bauen und die Erwachsenen dafürfortzubilden: Dort sind Erwachsene Partner von Kindern,sie entwickeln, gemeinsam mit den Kindern, Lehrpläne unddie Organisation ihrer Schulen und Kindergärten. Kinder ler-nen von Kindern und Erwachsenen und umgekehrt, in gegen-seitiger Achtung und gegenseitigem Respekt. Das Kindsteht mit seinem Lernwillen und der entsprechenden Zeit,die es für die unterschiedliche körperliche und geistige Ent-wicklung braucht, im Mittelpunkt. Die Differenz ist Pro-gramm. Das Kind bekommt die notwendige Unterstützungvon den Erwachsenen und durch andere Kinder, frei gewähltohne Bevormundung und Kontrolle, nur durch Wärme, Liebe

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Pippi ist für alle Kinder so attraktiv,weil sie sich selbst nach einem

ungebundenen Leben sehnen – ohneBevormundung und Kontrolle.

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und Fachlichkeit. – Das alles ist ja nicht neu, Modelle dafürgibt es seit Jahrzehnten. Aber in einer Gesellschaft, in der sichnicht die Arbeit nach dem Menschen richtet, sondern derMensch sich nach der Arbeit bücken muss, das Geld der Mit-telpunkt ist und Vorrang vor allem Menschlichen hat, woKultur und Bildung nach Geld betteln müssen, bleibt Pippi einTraum und Sozialromantik und für Kinder ein spannendesLeseabenteuer.

Fritz Düwer ist Sozialpädagoge, Mitglied im Jugendhilfe-ausschuss Eimsbüttel und Mitautor des Buches „AggressiveJugendliche. Jugendarbeit zwischen Kneipe und Knast“.

Thomas: Ich hasse Pippi Langstrumpf! Soviel ich weiß, istihr Vater Pirat und er wurde gefangen von irgendwelchenLeuten und die Mutter ist auch irgendwie verschwunden. Ei-gentlich passt niemand auf sie auf, aber da ist so eine Frau,vom Sozialamt oder so. Aber Pippi, die will das nicht, dass dieaufpasst, die hat doch die Villa Kunterbunt. Ich meine, diemuss nicht ins Heim, die kann zu Hause bleiben, so wie siesich benimmt. Perfekt ist die. Sie macht die Wohnung selbersauber und sie macht alles alleine. Zusammen mit ihrem Pferdund ihrem Affen. Und dass sie nicht in die Schule geht – daversäumt sie ja nichts. Das, was in der Schule gelernt wird,das ist doch Pippifax!

Thomas ist Schüler und 11 Jahre alt

Christine Garbe: Für das Kind Pippi L. wären ja wohl nichtwir vom bezirklichen ASD, sondern FIT zuständig. Das Mä-del hat ja Goldmünzen, deren Herkunft nicht bekannt ist, gehtnicht zur Schule und wäre bestimmt heute geschlossen unter-gebracht!

Christine Garbe ist Abteilungsleiterin des Allgemeinen Sozia-len Dienstes Meiendorf/Oldenfelde.

Mirko Hippler: Betrachtet man diesen Fall unter staatli-chen/behördlichen Aspekten, können PädagogInnen, Jugend-amt, Polizei, RichterInnen oder andere Personen, die glaubenzu wissen, was ein Kind für eine gesunde Entwicklungbraucht, schnell zu dem Schluss kommen, dass Pippi L. unbe-dingt in ein Heim muss. Wir sind aber der Überzeugung, dasszum jetzigen Zeitpunkt keine Gefährdung für das Kind be-steht: Sie ist in materieller Hinsicht mehr als ausreichend ver-sorgt (großer Koffer mit Goldstücken). Sie ist in ein funktio-nierendes soziales Netz eingebunden und hat die Möglichkeit,sich Hilfe und Unterstützung bei den bürgerlichen Eltern ihrerbesten Freunde zu holen. Zudem ist das Jugendamt, TantePryssilius, über ihre Situation informiert.

In Anbetracht der familiären Situation (Mutter ist tot, Vatersitzt unschuldig im Gefängnis) ist es überaus erstaunlich,welch positive Entwicklung Pippi L. bislang gemacht hat.Pippi L. hat ein feines Gespür für die Problemlagen ihrer Mit-menschen. So kauft sie für alle Kinder des Ortes Süßigkeitenund Weihnachtsgeschenke. Sogar den beiden Schurken Don-ner-Karlsson und Blom, die ihr Gold klauen wollten, gibt sieetwas von ihrem Gold ab und vertreibt sie dann aus dem Dorf.Sie sorgt somit nebenbei übrigens auch für die „Innere Sicher-heit“ im Ort.

Das leidige Thema mit dem Schulbesuch könnte gelöst wer-den, indem die Schule in eine freie Schule umgewandelt wür-de, wo Kinder selbstbestimmt lernen und entscheiden kön-nen, wann sie kommen und gehen. Bezogen auf ihre Aktio-nen, bei denen sie sich möglicherweise selbst in Gefahrbringt, und in Anbetracht ihres gelegentlichen Fehlverhaltensgegenüber der Polizei könnte man bei strenger Betrachtungvielleicht auch von Jugenddelinquenz sprechen. Insgesamtsind wir im ASP-Wegenkamp-Team aber zu dem Ergebnisgekommen, dass Pippi L. unbedingt in der Villa Kunterbuntwohnen bleiben muss!

Mirko Hippler ist Mitarbeiter des Abenteuerspielplatzes We-genkamp.

Anke Mohnert: Aus der Perspektive der Arbeit im Sperrge-biet gehört Pippi L. zunächst einmal nicht in die Gruppe dersich prostituierenden, illegale Drogen gebrauchenden Mäd-chen. Doch ist sie vielleicht gefährdet?

Auf den allerersten Blick scheint Pippi ein klassischer Fall fürdie Jugendhilfe zu sein, im Extremfall könnten sich hier sogarBefürworterInnen der Geschlossenen Unterbringung durch-setzen, denn immerhin scheint Pippi völlig sich selbst über-lassen und ohne Schulbildung zu sein. Nach unserer Erinne-rung war sie überhaupt nur ein einziges Mal in der Schule –ein typischer Fall von Schulverweigerung?

Nach längerer Betrachtung des Falls möchten wir begründen,warum Pippis Kindeswohl nicht wirklich gefährdet ist: DerAspekt der Schulpflicht ist der einzig wirklich kritische. Wiekann erreicht werden, dass das Kind etwas lernt? Bei Pippi

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I s t P i pp i L . e i n Fa l l f ü r den K i nde rschu t z?

Wie würde die Jugendhilfe heuteauf ein Kind reagieren, das wie

Pippi Langstrumpf lebt?

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sind kreative Lösungen gefordert. Eine einfache Integration indie Regelschule kann bei Pippi nicht motivierend wirken. Isteine Hausbeschulung schon ausprobiert worden? Selbstbe-stimmtes Lernen unter Einbeziehung der eigenen Interessen?Übrigens nicht nur für Pippi wünschenswert!

Das Wichtigste, und das wird häufig nicht genannt, ist ihre fi-nanzielle Unabhängigkeit. Der Vater hat für seine Tochter fi-nanziell gut gesorgt. Eine Kiste voller Gold schützt Pippi voreinem Leben in Armut. (Aber wir wollen ja auch etwas kri-tisch sein – das Gold könnte man natürlich gewinnbringendanlegen, eine Aufbewahrung im Hause ist einfach nicht zeit-gemäß.) Und da sie finanziell unabhängig ist, muss sie nichtzwangsläufig eine Berufsausbildung haben, zumal sie ja ex-trem kreativ und erfinderisch ist. Sie könnte z. B. ein Patentauf ihren besonderen Klebstoff anmelden.

Wie sieht es nun mit Pippis körperlicher Unversehrtheit aus?Pippi ist physisch und psychisch gesund, kann sich selbst er-nähren, sie riecht auch nicht streng, und da sie wirklich starkist, kann sie sich vor gewalttätigen Übergriffen schützen. Da-bei übernimmt sie auch noch Verantwortung für andere, wirdenken da an Annika und Tommi. Im Übrigen nimmt sie kei-ne Drogen, wenn man mal von ihrem Tabakkonsum absieht.

Wie sieht ihr soziales Netzwerk aus? Ob ihr Vater für sie er-reichbar ist, können wir nicht mehr so recht erinnern. Aber erscheint auch nicht unersetzbar. Pippi freundet sich mit denKindern der Nachbarfamilie an und wird auch von deren El-tern nach anfänglichem Misstrauen geschätzt. Hier sind quasi„Ersatzeltern“ vorhanden. Zusätzlich gibt es eine „Betreue-rin“, die bei Pippi nach dem Rechten sieht. Ist das nicht schoneine ambulante Betreuung?

Fazit: Pippi ist stark, selbstbewusst, für ihr Alter sehr selbst-ständig, kann sich sozial integrieren, übernimmt alltäglicheVerantwortung (Sorge für Pferd und Affe), ist emotional reif,

hat unglaublich vielfältige Fähigkeiten und ist mitwirkungs-bereit (sie geht immerhin einmal in die Schule).

Pippi ist KEIN Kinderschutzfall, noch nicht einmal nach § 8aSGB VIII, könnte aber bei massiven und konfrontativen Maß-nahmen, die ohne ihre Einbeziehung und Mitbestimmung er-folgen, ein Fall für die Jugendhilfe werden!

Anke Mohnert ist Mitarbeiterin im Café Sperrgebiet.

Marvin: Pippi Langstrumpf ist doch nur ein Märchen. Aberwenn die echt wäre und bei uns nebenan wohnen würde, dannhätte die bestimmt Ärger. Weil sie nicht in die Schule gehenwill und einfach macht was sie will. Die hat doch niemanden,der auf sie aufpasst. Aber eigentlich braucht sie auch keineAufpasser. Eigentlich kann man die doch auch in Ruhe lassen.Man kann ihr doch helfen, wenn das Pferd krank ist oder so.Oder wenn die Heizung im Winter nicht geht.

Marvin ist Schüler und 11 Jahre alt.

Johannes Schnurr: Ich habe selbst schon oft darüber nach-gedacht, was wir wohl heute mit Pippi machen würden. JungeMenschen wie Pippi kennen wir in der Jugendhilfe, sie berei-chern unsere Wohngruppen und unsere Tagesgruppen, weilsie ideenreich und spontan sind, sich nicht einordnen lassenund trotzdem friedliebend und freigebig bleiben. Jede gute Ju-gendhilfeeinrichtung wird sich über ein Kind wie Pippi freuenund überlegen, was sie dem Mädchen bieten kann. Vielesbringt sie ja mit, aber einiges wird sie bestimmt auch vermis-sen, zum Beispiel Erwachsene, die sie ins Leben begleiten,die mit ihr über ihre Mama reden, die oben im Himmel ist,und die ihr erklären, warum ihr Papa gerade nicht kommenkann und die Piraten im Takatuka-Land bekämpfen muss. DieJugendhilfeeinrichtung müsste natürlich Rücksicht auf Pippisunkonventionellen Lebensstil nehmen, sie dürfte sie zum Bei-spiel unter keinen Umständen von ihren Tieren trennen.

Aber solche Einrichtungen gibt es ja zum Glück! Einrichtun-gen, in denen Menschen arbeiten, die alles tun, um Kindernein zu Hause nach ihren Bedürfnissen zu bieten oder sie indem zu Hause, das sie sich ausgesucht haben, zu begleiten.Auch auf die Schule wird Pippi sich bestimmt einlassen,wenn man dort versucht, ihren wachen Geist anzusprechen.Also: Für gute PädagogInnen ist Pippi eine Freude, für eineGruppe von Kindern ein unschätzbarer Gewinn. Aber ein„Fall“ wird Pippi ganz bestimmt niemals werden.

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Unter staatlichen/behördlichen Aspektenkönnen PädagogInnen oder andere

Personen schnell zu dem Schluss kommen,dass Pippi L. unbedingt in ein Heim muss.

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Wir „JugendhelferInnen“ können uns ruhig zutrauen, dass wirPippi etwas zu bieten haben, auch ohne ihre Besonderheit undihren Charme zu zerstören. Die Jugendhilfe ist nicht soschlecht, dass sie einem besonderen Kind nichts zu bieten hätte.

Johannes Schnurr ist Diplompädagoge und freiberuflich alsBerater und Fortbildner in der Jugendhilfe tätig.

Marion Thom: Pippi ist kein Fall für die Jugendhilfe, son-dern eine bestens geeignete Projektionsfigur für die grandio-sen Fantasien von Kindern dieses Alters bzw. der Kinder inuns Erwachsenen.

Was macht Pippi so stark? Pippi hat Tiere, um die sie sich sor-gen kann, sie hat Freunde, die sie toll finden und die sich umsie sorgen, sie hat über ihre Freunde familiäre Anbindung (Pa-tenfamilie) und sie hat sichere innere Repräsentanzen vonMutter und Vater. Des Weiteren ist sie eingebunden in einenmehr oder weniger akzeptierenden Sozialraum, in dem dieRollen und Werte (noch) verlässliche sind. Sie darf in diesemSozialraum sogar eine einzigartige Rolle übernehmen, sicherzum Teil auch stellvertretend für die Wünsche „vernünftiger“lebender MitbürgerInnen. Und last but not least sind ihre fi-nanziellen Mittel unbegrenzt.

Herzlichen Glückwunsch, Pippi, dir ein langes, freudvollesLeben.

Marion Thom leitet die Ambulante Hilfe und Erziehungsbera-tung, Abendrothhaus.

Lara: Ich hätte Angst, so allein in dem großen Haus. Wo dochEinbrecher kommen. Aber Pippi, die hat solchen Mut, so wiesonst nur Erwachsene. Die kann schon ganz allein auf sichaufpassen. Und die Einbrecher, die haben sogar Angst vorPippi! Hätte ich auch, wenn ich ein Einbrecher wäre. Pippi istso stark, dass sie ihr großes Pferd tragen kann. Pippi mussnicht in die Schule gehen, die weiß schon so viel. Aber sie hatgesagt, dass sie die anderen Kinder, die hinmüssen, beneidet.Wegen der Ferien. Wer nicht zur Schule geht, der hat auch

keine Ferien, hat sie gesagt. Liebe Pippi, komm doch in dieSchule, dann machen wir zusammen Ferien am Meer!

Lara ist Schülerin und 8 Jahre alt.

Merle Voß: Nein. Pippi Langstrumpf gehört nicht in einePflegefamilie und auch nicht in ein Heim. Pippi ist ein un-glaublich starkes Mädchen, das, obwohl sie viel Unsinn imKopf hat, hervorragend für sich selbst und ihr Pferd KleinerOnkel sorgen kann.

Durch die Goldstücke von ihrem Vater, der unregelmäßig zuBesuch kommt, ist sie finanziell abgesichert und kann sichmit Nahrungsmitteln und warmer Kleidung (falls sie welchehaben wollen sollte) versorgen. Nie wird erwähnt, dass PippiLangstrumpf Hunger leidet oder krank wäre. Und sollte dochmal etwas passieren: Pippi ist in ein starkes Netzwerk inte-griert, das aus Nachbarn und FreundInnen wie Tommi undAnnika besteht. Diese – und sicher auch deren Eltern – wür-den notfalls helfen und eingreifen.

Wenn man dieses glückliche freie Mädchen in ein Heim ste-cken oder einer Pflegefamilie anvertrauen, ihr Regeln vor-schreiben würde, dann würde die wunderbare Pippi Lang-strumpf nicht mehr dieselbe sein, ihr Ich verlieren, ihre Per-sönlichkeit. Sie wäre nicht mehr Pippi Langstrumpf. Und diegilt es doch zu schützen, oder?

Merle Voß studiert Sozial- und Organisationspädagogik ander Universität Hildesheim.

Reyhan: Pippi Langstrumpf nervt, die ist eine Angeberin. Diespielt sich immer in den Vordergrund. Erwachsene machendas ja ständig, ohne dass jemand was sagt, da ist mir Pippi lie-ber. Ich weiß nicht mehr genau, aber ich glaube, dass Pippi al-les Mögliche auf die Reihe gekriegt hat. Mehr als die Bullenund die Einbrecher, oder? Die jagt Pippi Langstrumpf immerweg.

Reyhan ist Schülerin und 13 Jahre alt.

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I s t P i pp i L . e i n Fa l l f ü r den K i nde rschu t z?

Fabian Tietz ist Student der Sozial- und Organisations-pädagogik an der Universität Hildesheim.

Christiane Mettlau ist Schulverwaltungsbeamtin inHamburg.

Fritz Düwer ist Sozialpädagoge, Mitglied im Jugend-hilfeausschuss Eimsbüttel und Mitautor des Buches„Aggressive Jugendliche. Jugendarbeit zwischenKneipe und Knast“.

Thomas ist Schüler und 11 Jahre alt.

Christine Garbe ist Abteilungsleiterin des Allgemei-nen Sozialen Dienstes Meiendorf/Oldenfelde.

Mirko Hippler ist Mitarbeiter des Abenteuerspielplat-zes Wegenkamp.

Anke Mohnert ist Mitarbeiterin im Café Sperrgebiet.

Marvin ist Schüler und 11 Jahre alt

Johannes Schnurr ist Diplompädagoge und freibe-ruflich als Berater und Fortbildner in der Jugendhilfe tätig.

Marion Thom leitet die Ambulante Hilfe und Erzie-hungsberatung, Abendrothhaus.

Lara ist Schülerin und 8 Jahre alt.

Merle Voß studiert Sozial- und Organisationspädagogikan der Universität Hildesheim.

Reyhan ist Schülerin und 13 Jahre alt

Bilder aus: Astrid Lindgren (1968):Pippi Langstrumpf. Hamburg: Oetinger