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|IV Das reaktionäre Moment von Mahlers Musik ist ihr Naives. Von jeher hat dessen Verschränkung mit Un- naivem bei ihm als Widerspruch besonders aufge- reizt; die Physiognomik einer Musik, in der allbe- kannte volkstümliche Wendungen mit Bedeutung ge- laden werden, während sie umgekehrt keine Zweifel hegt an der Selbstverständlichkeit des hoch getriebe- nen symphonischen Anspruchs. Unmittelbares und Mittelbares werden verkoppelt, weil die symphoni- sche Form nicht mehr musikalischen Sinn, als zwin- genden Zusammenhang sowohl wie als Wahrheitsge- halt, garantiert, und weil die Form ihn suchen muß. Aus einer Art von musikalischem bloßen Dasein, jenem Volkstümlichen, sind die Vermittlungen her- auszuholen, durch die es als sinnvoll erst sich recht- fertigt. Damit nähert Mahlers Form geschichtsphilo- sophisch sich der des Romans. Pedester ist der Mu- sikstoff, sublim der Vortrag. Nicht anders war die Konfiguration von Inhalt und Stil im Roman aller Ro- mane, der Flaubertschen Madame Bovary. Episch ist Mahler Gestus, das naive Paßt auf, jetzt will ich euch einmal etwas vorspielen, wie ihr es noch nie gehört habt. Gleich Romanen erweckt jede seiner Symphoni- en die Erwartung des Besonderen als Geschenks. 10674 GS 13, 209 IV Roman 10673 Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften

IV. Romanpop-sheet-music.com/Files/8ea382c906e06563a5f95486d... · 2015. 2. 23. · Pedester ist der Mu-sikstoff, sublim der Vortrag. Nicht anders war die Konfiguration von Inhalt

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    Das reaktionäre Moment von Mahlers Musik ist ihrNaives. Von jeher hat dessen Verschränkung mit Un-naivem bei ihm als Widerspruch besonders aufge-reizt; die Physiognomik einer Musik, in der allbe-kannte volkstümliche Wendungen mit Bedeutung ge-laden werden, während sie umgekehrt keine Zweifelhegt an der Selbstverständlichkeit des hoch getriebe-nen symphonischen Anspruchs. Unmittelbares undMittelbares werden verkoppelt, weil die symphoni-sche Form nicht mehr musikalischen Sinn, als zwin-genden Zusammenhang sowohl wie als Wahrheitsge-halt, garantiert, und weil die Form ihn suchen muß.Aus einer Art von musikalischem bloßen Dasein,jenem Volkstümlichen, sind die Vermittlungen her-auszuholen, durch die es als sinnvoll erst sich recht-fertigt. Damit nähert Mahlers Form geschichtsphilo-sophisch sich der des Romans. Pedester ist der Mu-sikstoff, sublim der Vortrag. Nicht anders war dieKonfiguration von Inhalt und Stil im Roman aller Ro-mane, der Flaubertschen Madame Bovary. Episch istMahler Gestus, das naive Paßt auf, jetzt will ich eucheinmal etwas vorspielen, wie ihr es noch nie gehörthabt. Gleich Romanen erweckt jede seiner Symphoni-en die Erwartung des Besonderen als Geschenks.

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  • Guido Adlers Beobachtung, daß noch keiner, auchkein Gegner, bei Mahler je sich gelangweilt habe,spricht darauf an. Der frühe Mahler freute sich desmusikalischen Materials, in dem es hoch hergehensoll; an Scheffelschen Phantasien mochte es dabeinicht mangeln. Seine Spiritualität hatte einen Fondmusikalischer Unterwelt. Daß er manchmal »Vortragohne alle Parodie« und manchmal »mit Parodie« ver-langt, ohne daß die Themen selbst die Entscheidungübers eine oder andere erlaubten, verrät ihre Span-nung zum Hochfliegenden mit Worten. Nicht Musikzwar will etwas erzählen, aber der Komponist willMusik machen, wie sonst einer erzählt. Analog zurphilosophischen Terminologie wäre der |Habitus no-minalistisch zu nennen. Die Bewegung des musikali-schen Begriffs fängt unten, gewissermaßen mit denTatsachen von Erfahrung an, um sie in der Einheitihrer Sukzession zu vermitteln und schließlich ausdem Ganzen den Funken zu schlagen, der über jeneTatsachen hinaus zündet, anstatt daß von oben, voneiner Ontologie der Formen her komponiert würde.Insofern arbeitet Mahler entscheidend auf die Ab-schaffung der Tradition hin. Auf dem Grunde der mu-sikalischen Romanform liegt eine Idiosynkrasie, dielängst schon vor Mahler muß gespürt worden sein,die er als erster jedoch nicht verdrängte. Sie haßt vor-auszuwissen, wie Musik weitergeht. Das Weiß ich

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  • schon beleidigt musikalische Intelligenz, spirituelleNervosität, die Mahlersche Ungeduld. Hat nach Mah-ler Musik ihre fixierten Elemente kassiert und zuSpielmarken entwertet, so begehrt er schon innerhalbder herkömmlichen musikalischen Logik wider dieseauf. Aber er konstruiert nicht neue Formen, sondernbringt vernachlässigte, mißachtete, ausgeschiedene inBewegung, die nicht unter die offizielle Formontolo-gie fielen, welche das kompositorische Subjekt vonsich aus weder mehr zu füllen vermag, noch aner-kennt. Eingesprengte, dinghafte Warencharaktere derMusik sind das notwendige Korrelat zum Mahler-schen Nominalismus, der keine harmonische Synthe-sis mit vorgedachter Totalität mehr erlaubt. Nur alsentzweigesprungene amalgamiert sich die symphoni-sche Objektivität mit den subjektiven Einzelintentio-nen. Märsche und Ländler bei ihm gleichen der Erb-schaft von Abenteuerroman und Kolportage im bür-gerlichen Roman. Der Revisionsprozeß der Musikgegen ihre Spaltung in eine obere und untere Sphäre,die beiden ihre Male eingrub, wird von Mahler so be-trieben, daß die in Gärung geratene untere Musik-sphäre über Stock und Stein hinweg restituieren soll,was die Stimmigkeit der oberen einbüßte. Dem mes-sen die Schichten der Verständlichkeit Mahlers sichan. Er dürfte den Untertitel des Zarathustra beanspru-chen, Musik für alle und keinen. Trotz ihres konser-

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  • vativen Materials ist sie eminent modern darin, daßsie kein sinnhaftes Ganzes surrogiert, sondern dementfremdet Zufälligen sich hinwirft, um darin va ban-que ihre Chance wahrzunehmen. Hat bis Mahlerwahrhaft anachronistisch die Musik sich der Kritikdes Geistes an den an sich seienden Ideen und Formengesperrt und |sich benommen, als wölbte über ihr sichder platonische Sternenhimmel, so hat Mahler erst-mals musikalisch aus einem Stand des Bewußtseinsdie musikalische Konsequenz gezogen, das übernichts verfügt als über die notdürftig zusammenge-bündelte Fülle seiner Einzelregungen und Erfahrun-gen und die Hoffnung, daß aus ihnen etwas aufgehe,was sie noch nicht sind, ohne daß sie doch verfälschtwürden. Daß Mahler vom Beethovenschen Typus in-tensiver Verschränkung, des Knotens, prinzipiell ab-geht, auf dramaturgische Konzentration verzichtet, istnicht damit zureichend erklärt, daß nach dem Beetho-venschen non plus ultra auf diesem Boden nicht mehrfortzuschreiten gewesen wäre. Sondern der Klassizis-mus Beethovenscher erster Sätze: der Eroica, derFünften und der Siebenten war für Mahler nicht mehrexemplarisch, weil die Beethovensche Lösung, diebereits subjektiv angegriffenen objektiven Formen ausSubjektivität noch einmal zu erzeugen, mit Wahrheitnicht mehr zu reproduzieren war. Die Differenz desepischen Kompositionsideals vom klassizistischen

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  • Typus wird desto sichtbarer, je mehr Mahler diesemsich zu nähern scheint. Das Hauptthema des Finalesder Fünften Symphonie orientiert sich ähnlich anBeethoven wie das in der Ersten von Brahms, miteiner huldigenden Reminiszenz an die Hammerkla-viersonate1. Aber dies Hauptthema ist eines nur proforma, beherrscht den Satz nicht, sondern wird vonanderen überwuchert, gewissermaßen vor der Tür desSatzinneren gehalten. Denn es meldet eben jenen sym-phonischen Anspruch älteren Stils an, den eines zuzergliedernden und dramatisch zu entwickelnden Mo-dells, dem die Struktur der Mahlerschen Symphonikunangemessen wurde, weil sie nicht mehr auf die em-phatische Bestätigung des musikalischen Immanenz-zusammenhangs durch sich selbst zählen kann, derenPathos den klassizistischen Symphonietypus durch-tönt. Schon bei Beethoven drohte die statische Sym-metrie der Reprisen den dynamischen Anspruch zudesavouieren. Die nach ihm anwachsende Gefahr aka-demischer Form gründet im Gehalt. Das Beethoven-sche Pathos, die Bekräftigung von Sinn im Augen-blick der symphonischen Entladung kehrt einen As-pekt des Dekorativen und Illusionären hervor. Beet-hovens mächtigste symphonische Sätze zelebrierenein »Das ist es« in der Wiederholung dessen, was oh-nehin schon war, präsentieren die |bloße wiederer-reichte Identität als das Andere, behaupten sie als

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  • sinnhaft. Der klassizistische Beethoven verherrlichtwas ist, weil es nicht anders sein kann, als es ist,indem er seine Unwiderstehlichkeit vorführt. »Dererste Satz der Eroika, der Pastorale, der Neunten sindim Grunde nur Kommentare dessen, was in ihren er-sten Takten geschieht. Die gewaltigsten Steigerungen,die Beethoven geschaffen hat: die Linien vom Anfangder fünften und der siebenten Sinfonie bis zu ihrenAbschlüssen entrollen sich mit der niederzwingendenLogik, die die Offenbarung eines in seiner Folgerich-tigkeit unabweisbaren Geschehens mit sich bringt. Esträgt in sich die Unerschütterlichkeit der mathemati-schen Formel und steht vom ersten Augenblick an bisin seine letzten Folgerungen hinein als elementareTatsache da. Gerade in der unanfechtbaren logischenGewalt dieser Kunst ruhte die Kraft, ruht heute nochdie einzigartige Wirkung der Beethovenschen Sinfo-nik. Aus ihr ergab sich das grundlegende organischeGesetz, dem Beethoven auch in der Neunten sichnicht zu entziehen vermochte, dieses Gesetz, das zurKonzentration der geistigen Grundideen in den Vor-dersatz, in den Anfang, in das Thema zwang und denganzen Organismus als in sich Fertiges aus diesemAnfang hervorspringen ließ.«2 Was ihn, nach demgroßartig retrospektiven ersten Satz der NeuntenSymphonie, zu den letzten Quartetten bewog, magnicht durchaus verschieden sein von dem dunklen

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  • Drang, der längst vor den Jahren seiner MeisterschaftMahler motivierte: offensichtlich war er vom letztenBeethoven, vor allem von op. 135 überaus beein-druckt. Deutsche Philosophie und Musik waren seitKant und Beethoven System. Was darin nicht auf-ging, sein Korrektiv, flüchtete in die Literatur: denRoman und eine halb apokryphe Tradition des Dra-mas, bis die Kategorie des Lebens, zur Bildung aus-gelaugt und meist schon reaktionär, um die Wendezum zwanzigsten Jahrhundert auch philosophiefähigwurde. Demgegenüber hat Mahlers Musik originärNietzsches Erkenntnis eingeholt, daß das System undseine lückenlose Einheit, der Schein der Versöhnung,nicht redlich sei. Seine Musik nimmt es auf mit demextensiven Leben, stürzt sich geschlossenen Auges indie Zeit, ohne doch Leben als Ersatzmetaphysik zu in-stallieren, parallel zur objektiven Tendenz des Ro-mans. Das Potential dazu wuchs ihm aus der vomdeutschen |Idealismus verschonten, teils vorbürgerlichfeudalen, teils josephinisch-skeptischen österreichi-schen Luft zu, während ihm gleichwohl das sympho-nisch-integrale Wesen noch gegenwärtig genug war,um ihn vor einer Formgesinnung zu behüten, die demschwächlich atomistischen Hören Avancen macht.»Er nahm dem Thema als solchem die BeethovenscheBedeutung des konzentrierten Mottos und gab ihmdurch üppigere melodische Ausbreitung den Charak-

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  • ter der ihr Wesen erst allmählich enthüllenden An-fangslinie. Diese neue Art organischer Anlage beding-te eine neue Art auch der thematischen Gestaltung.Die thematische Arbeit Beethovenscher Prägung,diese unheimlich großartige Spiegelung schärfster Ge-dankenzusammendrängung und unbeirrbaren Zielbe-wußtseins fand keine innere Begründung mehr in demneuen sinfonischen Stil, der das unablässige Wollenaus einem Mittelpunkt geistigen Schaffens herausnicht kannte, sondern im Gegenteil zunächst in derMannigfaltigkeit seiner Erscheinungen die Kräftesammeln mußte. So fiel die straffe, thematisch organi-sche Technik Beethovens, vielmehr sie wurde zum ne-bengeordneten Hilfsmittel.«3 Nur hat Bekker unter-schätzt, daß Mahler auch die konstruktiven Kräfte desSystems, wie immer er an ihnen irr geworden seinmochte, mobilisierte. Im produktiven Konflikt derkontradiktorischen Elemente hat er seine Stunde.Darum ist es so töricht, ihn als Komponisten zwi-schen den Zeiten zu begönnern. Musikalisch fehlte es für seine Anschauungsweisenicht durchaus an Tradition, an einem quasi erzählen-den, ausatmenden Unterstrom, der in ihm nach obendrang. Immer wieder paaren sich gerade bei Beetho-ven mit den symphonischen Konzentraten, die virtuellZeit einstehen lassen, Werke, deren Dauer ihnen dieeines glückvollen, zugleich bewegten und in sich ru-

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  • henden Lebens wird. Unter den Symphonien nimmtdie Pastorale dies Interesse am unbefangensten wahr;zu den bedeutendsten Sätzen des Typus rechnet dererste des F-Dur-Quartetts op. 59, Nr. 1. Er wirdgegen Ende der sogenannten mittleren Periode Beet-hoven immer wesentlicher; so in den ersten Sätzendes großen B-Dur-Trios op. 97 und der letzten Vio-linsonate, Stücken oberster Dignität. In Beethovenselber hat Vertrauen auf die extensive Fülle und aufdie Möglichkeit, passiv Einheit in der |Mannigfaltig-keit zu entdecken, der tragisch-klassizistischen Stil-idee einer Musik des handelnden Subjekts die Waagegehalten. Schubert, dem diese Idee bereits verblaßt,wird vom epischen Typus Beethovens um so mehr an-gezogen. In den Klaviersonaten mißachtet er zuweilenmit Nonchalance die Einheit wie später, aus Dumpf-heit, Bruckner in dem, was man als Formlosigkeit be-mängelte. Von allen Vorformen der Mahlerschen Ge-staltungsweise dürfte der erste Satz der Schubertschenh-moll-Symphonie die wichtigste sein; ihn hat We-bern als eine ganz frische Konzeption des Symphoni-schen überhaupt verehrt. Mahler ward fasziniert vonder ungebundenen Anlage unterhalb der üblichen; vonder Frage danach, wohin die einzelnen Themen, unab-hängig von ihrem abstrakten Stellenwert, wollen; vonder Trauer eines Ganzen, das nicht prätendiert, alsGanzes wäre es bereits im Sicheren. Unter diesem As-

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  • pekt übrigens mag sich enträtseln, warum Schubertsgroßartigster Entwurf Fragment blieb, der erste ganzund gar organische, von rationalistischen vérités éter-nelles gereinigte Satz der Musik. Daraus wird Mah-lers ästhetisches Programm. Bei den Österreichern vorihm ward die Absage an die synthetische Einheit derApperzeption, die konstitutive Arbeit und Anstren-gung des Subjekts bestraft durch häufiges Erlahmen,Erschlaffen der symphonischen Bögen, schließlichdurch Einbuße an organisierendem Geist selber, antechnischer Legitimation. Das sucht Mahler an derTradition, die seine eigene ist, zu korrigieren. Der ihmzugeschriebene Ausspruch über Bruckner, seinenFreund: Halb Gott, halb Trottel, ist zumindest gut er-funden; Bauer-Lechner zufolge hat er über Brucknerwie über Schubert4 genug Kritisches gesagt. Was eraber an Bruckner tadelte, war nichts anderes, als daßbei diesem die emanzipierten, verselbständigten Ein-zelmomente und die tradierten Normen der Architek-tur auseinanderklafften. Verschleiert Mahlers Musik,vom Trio der Ersten über den Choral der Fünften undden Schluß der Siebenten bis zur Anlage des Finalesder Neunten und zum Ton des ersten Satzes der Zehn-ten, nie seine Dankbarkeit für Bruckner, so trachtetgleichwohl sein epischer Impuls, durch Konstruktionseiner selbst mächtig zu werden, während er, unre-flektiert, bei Schubert und Bruckner oftmals verrinnt.

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  • Dem Moment von Lässigkeit gesellt sich Aktivität,|aber keine feldherrnhaft planende, sondern eine vonSchritt zu Schritt sich fortbewegende wie im Marsch.Was immer Bruckners walddunkle Unberührtheit vorMahlers Gebrochenheit vorauszuhaben scheint –diese ist dem Klobigen an Bruckner überlegen, jenerein wenig verstockten Statik, die kein festeres Funda-ment hat, als daß in St. Florian Nietzsche noch nichtsich herumsprach. Mahler verhielt sich zu Brucknerwie Kafka zu Robert Walser. Österreichisch aber warnoch sein Korrektiv gegen die österreichische Traditi-on: Mozart, in dem der einheitsstiftende Geist und dieunbeschnittene Freiheit der Details sich zusammenfin-den. Daher wohl das hommage à Mozart am Anfangder Vierten. Asymmetrie und Unregelmäßigkeit derEinzelgestalten wie der Komplexe, oft auch des Form-ganzen, sind nicht Zufälle des Mahlerschen Naturells,sondern notwendig aus der epischen Intention. Sieliebt das nicht schon Eingeplante, nicht Veranstaltete,das, dem keine Gewalt widerfährt, und dort, wo sieihm bereits widerfuhr, die Abweichung. Mahlers Ab-weichungen sind nie Substitute wie bei Strauss, nieüberraschender Ersatz für Erwartetes. Jede Irregulari-tät steht auch spezifisch für sich selbst. Gleichwohlreflektiert Mahler in dem, was wohl musikalische Em-pirie heißen mag, auf den Sinn des Ganzen, denBruckner noch autoritätsgläubig von der symphoni-

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  • schen Form als solcher erborgte. Er ist dessen einge-denk, was schließlich noch an der radikalsten, aufge-löstesten Musik seine Wahrheit behält: daß verwan-delt, verkappt, unsichtbar objektive Formtypen,Topoi, wiederkehren, wo hartnäckige Empfindlichkeitsie vermeidet. Für solche Wiederkehr sorgen bei ihmdie Trümmer, aus denen er seine Architektur schich-tet, wie wohl normannische Baumeister in Süditalienmit dorischen Säulen hantierten. Als spröde Stoffmas-sen ragen sie hinein, Repräsentanten des Moments imEpischen, das auf bloße Subjektivität nicht zu redu-zieren ist. Was dinghaft, hart, selbst zufällig demSubjekt gegenübersteht, soll von der Komposition indie Erfahrung des immanenten Subjekts der Musikeingebracht werden. Dadurch wird die kompositori-sche Situation, aus der Mahler spricht, prekär. Dennweder ist die Musiksprache schon so entqualifiziert,daß das kompositorische Subjekt rein darüber verfü-gen könnte, aller vorausgesetzten musiksprachlichen|Formen und Elemente ledig; noch sind diese umge-kehrt noch so intakt, daß sie von sich aus das Ganzezu organisieren vermöchten. Die Anfälligkeit vonMahlers Musik, die von ihrem ersten Auftreten an be-merkt wurde, folgt daraus, nicht aus der Schwächedessen, was Ernst Bloch vor einem Menschenalterseine »bloße Talentgabe«5 nannte. Die Gebrochenheitdes Mahlerschen Tons ist das Echo jener objektiven

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  • Aporie, des Zwiespalts von Gott und Trottel. Beidewerden unterm Blick seiner Musik gleich fragwürdig,der Gott zum unvermittelt dogmatischen Gebot derForm, der Trottel zur kontingenten, sinnverlassenen,potentiell albernen Einzelheit, die aus sich keinenstringenten Zusammenhang entläßt.

    Der Begriff des Epischen begründet gewisse Exzentri-zitäten Mahlers, die ihm sonst leicht angekreidet wer-den könnten. Bei aller kritischen Wachsamkeit gegenLeerlauf und Formelkram wie den der BrucknerschenSequenzen scheut Mahler nicht – wie Beethovenetwa – vor überzähligen Takten zurück, vor Augen-blicken, in denen, nach dem Maß musikalischer Akti-on, nichts geschieht, sondern wo die Musik Zustandwird. Noch in der überaus kontrollierten NeuntenSymphonie steht, sogleich nach dem Ende der Exposi-tion des ersten Satzes, nicht nur ein voller Takt, indem der Paukenwirbel des vorhergehenden Schlußak-kords ausklingt, sondern die harmonische Rückungdurch den Hinzutritt des ges zum b beansprucht einenweiteren für sich, noch ohne motivischen Inhalt, wäh-rend dieser, das Harfenmotiv der Einleitung, erst imdritten Takt in der Pauke erscheint6. Ein Komponist,der das Verweilen fürchtete, hätte diesen Einsatz be-reits gleichzeitig mit dem des ges erfolgen lassen.Raffiniert unbekümmert läßt Mahler in einem Feld

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  • mitten aus dem ersten Satz der Vierten Symphonie dieBewegung verebben, um danach frisch fortzufahren7.Anstatt daß der äußere Fluß auf Kosten des Ruhebe-dürfnisses der thematischen Gestalt emsig angesporntwürde, vertraut Mahler auf den inneren; nur die größ-ten Komponisten können derart die Zügel schleifenlassen, ohne daß das Ganze ihnen entglitte. DieWerke des Dirigenten Mahler werden nicht angestecktvom Gestus des Praktikers, der in der Kompositiongewissermaßen mit dem Finger schnalzt und dafürsorgt, |daß es Zug um Zug geht, daß nur ja keiner weg-höre. Überhaupt ist Mahlers Musik nirgends entstelltdurch die Bescheid wissende Erfahrung des Interpre-ten. Nie wird von den empirisch gegebenen Möglich-keiten her komponiert, nie passen die Symphonien derpraktischen Übung sich an. Konzessionslos folgen sieder Imagination; die praktische Erfahrung tritt sekun-där, als kritische Instanz hinzu, die darauf achtet, daßdas Vorgestellte auch in der Erscheinung sich realisie-re; insofern ist Mahler der Gegentyp jener späterenArt von Sachlichkeit, wie Hindemith sie verkörpert.Solche tyrannische Rücksichtslosigkeit gegenüberdem Wirkungszusammenhang steht der epischen In-tention bei; die agogische Bezeichnung »Zeit lassen«,die gelegentlich vorkommt, beschreibt seine Reakti-onsweise insgesamt. Wie solche Geduld mit der Un-geduld in Konstellation tritt, rechnet zu seinen Eigen-

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  • heiten: einem Bewußtsein, das weder die Zeit verleug-net, noch vor ihr kapituliert. Mahlers episch-musikalische Gesinnung trifft aufeine Gesellschaft, in der Musik so wenig mehr ›erzäh-len‹ wie aufspielen kann. Der abscheulichen Aura desWortes Musikant entgeht Mahler, indem sein Forma-priori eher dem des Romans als dem des Epos sichanbildet, trotz der Courage zum Verweilen ohne dasGehabe von gelassener Seinsverbundenheit. Er fesseltzuerst dadurch, daß es immer anders weitergeht, alsman denkt, spannend im prägnanten Sinn. ErwinStein hat das in einem verschollenen Aufsatz aus›Pult und Taktstock‹ vor Dezennien angemerkt. Be-kannt ist Mahlers passioniertes Verhältnis zu Dosto-jewsky8, der um 1890 noch für anderes stand als imZeitalter Möllers van den Bruck. Bei einem Ausflugmit Schönberg und dessen Schülern soll Mahler die-sen einmal weniger Kontrapunktstudium und mehrDostojewskylektüre empfohlen haben, um von We-bern die heroisch schüchterne Antwort zu vernehmen:Entschuldigen Sie, Herr Direktor, aber wir haben denStrindberg. Die wahrscheinlich apokryphe Geschichtebelichtet zugleich den Unterschied zwischen der ro-manhaften Musikgesinnung und der expressionisti-schen der nächsten, voll emanzipierten Komponisten-generation. An den großen Roman mahnt aber nichtnur, daß Mahlers Musik oft so klingt, als wolle sie

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  • etwas erzählen. Romanhaft ist die Kurve, die sie be-schreibt, das sich Erheben zu |großen Situationen, dasZusammenstürzen in sich9. Gesten werden vollführtwie die der Nastassja des Idioten, welche die Bankno-ten ins Feuer wirft; oder wie jener bei Balzac, wo derals spanischer Kanonikus vermummte VerbrecherJacques Collin den jungen Lucien Rubempré vomSelbstmord zurückhält und zur befristeten splendeurbefördert; vielleicht auch die Esthers, die für den Ge-liebten sich aufopfert, ohne zu ahnen, daß unterdessendie Roulette des Lebens beide aus aller Misere geret-tet hätte. Wie in Romanen gedeiht bei Mahler Glückam Rand der Katastrophe. Überall wirken bei ihmdessen Bilder offen oder latent als Kraftzentren.Glück ist ihm die Figur des Sinnes im prosaischenLeben, für dessen utopische Erfüllung der unverhoffteund unsichtbare Gewinn des Spielers einsteht. Esbleibt bei Mahler so sehr an sein Gegenteil gekettetwie das des Spielers an Verlust und Ruin. Ohne Ver-nunft und selbsterhaltende Kontrolle sich genießendund verschwendend tragen die Elevationen im Finaleder Sechsten Symphonie teleologisch den Untergangin sich. In unermüdlicher Überforderung, zu keinerResignation bereit, zeichnet Mahlers Musik ein Elek-trokardiogramm, Geschichte des brechenden Herzens.Wo sie sich übernimmt, drückt sie die Möglichkeitder Welt aus, welche die Welt verweigert und für die

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  • in der Sprache der Welt die Worte fehlen: dies Aller-wahrste ist als ihre Unwahrhaftigkeit anrüchig. Wiein den großen Romanen – so wie musikalisch vorhervielleicht nur im zweiten Akt der Walküre – soll dieephemere Erfüllung alles andere aufwiegen: an keineGestalt von Ewigkeit glaubt er als an die vergängli-che. Gleich der Philosophie, der Hegelschen Phäno-menologie, ist Musik bei Mahler das gegenständlicheLeben noch einmal, durchs Subjekt hindurch, undseine Wiederkunft im Innenraum verklärt es zumschäumenden Absoluten. So ist die Konkretheit derRomanlektüre von anderer Dimension als die distink-te Wahrnehmung der Geschehnisse. Das Ohr läßt vonMusik sich fortschwemmen wie das Auge des Lesersvon Seite zu Seite; der stumme Lärm der Worte kon-vergiert mit dem musikalischen Geheimnis. Aber eslöst sich nicht. Die Welt zu schildern, welche epischeMusik meint, bleibt dieser verwehrt: sie ist so deut-lich wie kryptisch. Die Wesenskategorien der gegen-ständlichen Realität kann sie zu den Ihren machennur, wofern sie wider |die gegenständliche Unmittel-barkeit sich abblendet; sie entfernte sich von derWelt, wo sie diese symbolisieren oder gar abbildenwollte. Das haben Schopenhauer und die romantischeÄsthetik dort erfahren, wo sie dem Schattenhaften undTraumhaften der Musik nachsannen. Nicht sowohlaber malt Musik schattenhafte und traumhafte Zwi-

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  • schenzustände der Seele, als daß sie nach Logik undErscheinung selber der von Traum und Schatten ver-wandt ist. Wesenhaft wird sie, als Wirklichkeit suigeneris, durch Entwirklichung. Dies Medium, dasaller Musik, wird in Mahler gewissermaßen thema-tisch. Zweimal schreibt er »schattenhaft« als Vor-tragsbezeichnung, im Scherzo der Siebenten und imersten Satz der Neunten Symphonie10. Das Gleichnisaus dem optischen Bereich indiziert Auswendigkeitals Komplement des musikalischen Innenraums.Indem alles Musikalische, gesteigert bis zur sinnli-chen Gewißheit, jenen Innenraum besetzt, wird nichtsals bloßer Stoff verschmäht und ausgeschieden. Immusikalischen Raum gedeiht eine Empirie zweitenGrades, nicht länger, wie die andere, dem Kunstwerkheteronom. Die Innerlichkeit von Musik assimiliertAuswendiges, anstatt Innerliches darzustellen, zu ver-äußerlichen. Soviel ist wahr an jener psychoanalyti-schen Theorie, welche Musik als Abwehr der Para-noia interpretiert: sie behütet das Subjekt vor derÜberflutung der Realität durch subjektive Projektion.Weder verwechselt sie die Welt, die sie als Ihresglei-chen nennt, mit sich, noch sind ihre Kategorien losge-lassene des bloßen Subjekts: zugeeignet bleiben siedie der Welt. Wäre diese unmittelbar dem Wesengleichgesetzt – und nach Schopenhauers Einsicht istMusik Wesen unmittelbar – so wäre Musik der

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  • Wahnsinn. Diesem ist alle große Musik geraubt; injeglicher steckt Identifikation des Inwendigen mit demÄußeren, aber er hat über das Resultat keine Macht.Die Trennung von Wesen und Gegenstand sanktio-niert Musik als ihre eigene Grenze zum Gegenständli-chen: so ergreift sie das Wesen. Daß Mahler, der seinLeben in der Oper zubrachte und dessen symphoni-sche Bewegung der der Oper so vielfach parallel geht,keine Opern schrieb, mag aus der Transfiguration desGegenständlichen ins inwendige Bilderreich sich er-klären. Seine Symphonie ist opera assoluta. Wie dieOper steigt Mahlers romanhafte Symphonik aus Lei-denschaft auf und flutet zurück; Partien der |Erfüllungwie die seinen kennen Oper und Roman besser alssonst absolute Musik. Mahlers Beziehung zum Roman als Form läßt sichdemonstrieren etwa an seiner Neigung, neue Themeneinzuführen oder wenigstens thematische Materialienso zu verkleiden, daß sie im Verlauf der Sätze ganzneu wirken. Nach Ansätzen in den ersten Sätzen derErsten und Vierten wird diese Tendenz prononciert imzweiten Satz der Fünften, wo nach einem der langsa-men Einschübe eine einigermaßen sekundäre Exposi-tionsgestalt11 aufgegriffen und umformuliert12 wird,als beträte helfend, unerwartet eine zuvor nicht beach-tete Person die Szene wie bei Balzac und schon im äl-teren romantischen Roman bei Walter Scott; Proust

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  • soll darauf aufmerksam gemacht haben, daß in Musikzuweilen neue Themen das Zentrum eroberten wie bisdahin unbemerkte Nebenfiguren in Romanen. DieFormkategorie des neuen Themas stammt paradox ausder dramatischesten aller Symphonien. Aber geradeder singuläre Fall der Eroica verleiht der MahlerschenFormintention Relief. Bei Beethoven kommt das neueThema der mit Grund überdimensionierten Durchfüh-rung zu Hilfe, als vermöchte diese der längst vergan-genen Exposition schon gar nicht recht mehr sich zuerinnern. Trotzdem überrascht das neue Thema ei-gentlich gar nicht, sondern tritt ein wie ein Vorberei-tetes, Bekanntes; nicht zufällig haben die Analytikerimmer wieder versucht, es aus dem Expositionsmate-rial abzuleiten. Die klassizistische Idee der Sympho-nie rechnet mit einer definiten, in sich geschlossenenMannigfaltigkeit wie die aristotelische Poetik mit dendrei Einheiten. Das schlechthin neu erscheinendeThema frevelt an ihrem Ökonomieprinzip, dem derReduktion aller Ereignisse auf ein Minimum von Set-zungen; einem Vollständigkeitsaxiom, das die inte-grale Musik so sehr sich zu eigen gemacht hat wie diewissenschaftlichen Systeme das Ihre seit Descartes'Discours de la méthode. Unvorgesehene thematischeBestandteile zerstören die Fiktion, Musik sei ein rei-ner Deduktionszusammenhang, in dem alles, was ge-schieht, mit eindeutiger Notwendigkeit folgt. Auch

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  • darin waren Schönberg und seine Schule dem klassi-zistischen Ideal des ›Obligaten‹, das heute seine frag-würdigen Momente hervorkehrt, treuer als Mahler.Bei diesem werden selbst Gestalten, die wie in derFünften tatsächlich |aus Vorhergegangenem motivischentwickelt waren, zu frischen, der Maschinerie desVerlaufs entrückten. Wo die dramatische Symphonieihre Idee zu ergreifen glaubt in der dem Modell derdiskursiven Logik nachgeahmten Unerbittlichkeitihrer Verklammerung, sucht die Romansymphonikaus jener den Ausweg: möchte ins Freie. Dabei blei-ben die Mahlerschen Themen insgesamt wie Roman-figuren kennbar, noch als sich entwickelnde mit sichselbst identischen Wesens. Auch darin differiert ervom klassizistischen Musikideal, wo der Vorrang desGanzen über die Teile der unbestrittene des Werdensüber alles Seiende ist; wo das Ganze virtuell die The-men selber hervorbringt und sie dialektisch durch-dringt. Umgekehrt aber ist bei Mahler die thematischeGestalt auch so wenig gleichgültig gegen den sym-phonischen Verlauf wie Romanfiguren gegen die Zeit,in der sie agieren. Impulse treiben sie an, als gleichewerden sie zu anderen, schrumpfen, erweitern sich, al-tern wohl gar. Solche sich eingrabende Modifikationeines Festen ist so unklassizistisch wie die Duldungbestimmten musikalischen Einzeldaseins, der unaus-löschliche Charakter der thematischen Figuren. So-

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  • bald die traditionelle große Musik nicht durchführteund ›arbeitete‹, begnügte sie sich mit konservierter ar-chitektonischer Identität; kehrte in ihr Identischeswieder, so war es, abgesehen von der Tonart, iden-tisch und nichts sonst. Die Mahlersche Symphonik je-doch sabotiert diese Alternative. Nichts darin wirdvon der Dynamik ganz verzehrt, nichts aber bleibt je,was es war. Zeit wandert ein in die Charaktere undverändert sie wie die empirische die Gesichter. Der dramatisch-klassizistischen Symphonie ver-kürzt Zeit sich durch Vergeistigung, als hätte sie denfeudalen Wunsch, Langeweile zu töten, Zeit totzu-schlagen, zum ästhetischen Gesetz verinnerlicht. Derepische Symphonietypus aber kostet die Zeit aus,überläßt sich ihr, möchte die physikalisch meßbarezur lebendigen Dauer konkretisieren. Dauer selber istihr die imago von Sinn; vielleicht aus Gegenwehr da-gegen, daß Dauer in der Produktionsweise des spätenIndustrialismus und den diesem angepaßten Bewußt-seinsformen kassiert zu werden beginnt. Nicht längersoll über die Zeit mit musikalischem trompe l'oreillebetrogen werden; sie soll nicht den Augenblick |vor-täuschen, der sie nicht ist. Die Antithesis dazu warenschon Schuberts himmlische Längen. Nicht bloß sinddie Melodien, von denen dessen Instrumentalsätze zu-weilen nicht sich losreißen mögen, so sehr ein Ansich, daß der Gedanke an Entwicklung ihnen gegen-

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  • über nicht sich ziemte. Sondern Zeit mit Musik aus-füllen, der Vergängnis widerstehen durch das, was zuverweilen sein Recht hat, wird selber zum musikali-schen Wunschbild. Auch es hat seine Vorgeschichte;schwer genug fiel es noch der Periode Bachs, derMusik zeitliche Extension zu erringen. – Über dieMahlerschen Längen zu lamentieren ist nicht würdi-ger als jene Gesinnung, die gekürzte Fassungen vonFielding oder Balzac oder Dostojewsky verhökert. Al-lerdings stellt ausschweifende zeitliche Extension beiMahler an die zum Waren-Hören Dressierten kaumgeringere Anforderungen als früher die symphonischeVerdichtung: wo diese wacheste Konzentration ver-langt, verlangt jene die vorbehaltlose Bereitschaft vonGeduld. Mahler macht kein Zugeständnis an denKomfort des easy listening ohne Erinnerung und Er-wartung. Dauer wird auskomponiert. Mochte es denZeitgenossen Beethovens vor der gerafften Zeit seinerSymphonien schaudern wie vor den angeblich denNerven schädlichen ersten Eisenbahnen, so schaudertes denen, die Mahler um fünfzig Jahre überlebten, vorihm wie den Habitués der Flugzeuge vor einer Seerei-se. Die Mahlersche Dauer mahnt sie daran, daß sieselber Dauer verloren haben; vielleicht fürchten sie,gar nicht mehr zu leben. Das wehren sie ab mit derÜberlegenheit des wichtigen Mannes, der versichert,er habe keine Zeit, und damit seine eigene schmähli-

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  • che Wahrheit ausplaudert. Aberwitzig, Mahler undBruckner durch Striche genießbar zu machen, die,nach dem Wort Otto Klemperers, ihre Sätze verlän-gern und nicht verkürzen. Nichts darin ist entbehrlich;wo etwas fehlt, wird das Ganze zum Chaos. Fast hun-dert Jahre nach Schubert ist für Mahlers Musik diebloße Länge nicht mehr göttlich. So geduldig sie indie Zeit sich ergießt, so ungeduldig horcht sie darauf,ob der musikalische Inhalt diese auch füllt; die kriti-sche Frage ist das Agens ihrer Form. Kraft rücksichts-loser Durchbildung der Details und ihrer Relationenkündigt sie den Konformismus, mit dem österrei-chisch gemütlichen den aller zum Konsum verkom-menen musikalischen Kultur. |Ihrer Dauer wiegen dieAugenblicke, die moments musicaux nicht wenigerschwer als Schubert, auf den das Wort zurückdatiert.Denn nur vermittelt durch deren Intensität, nicht alsvollgestopfte Strecke wird ihr die extensive Zeit zurFülle.

    Das Bindeglied zwischen dem romanhaften Wesenund dem Mahlerschen Duktus sind die Lieder. IhreFunktion für die Mahlersche Symphonik läßt sichnicht, nach dem Muster von Wagners Wesendonkge-sängen, unter den gängigen Begriff von Vorstudiensubsumieren. Durch ihr eigenes symphonisches Ele-ment unterscheiden sie sich von fast jeder anderen

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  • musikalischen Lyrik derselben Epoche; die archaisti-sche Textwahl, welche vom psychologisch individu-ierten Ich geflissentlich sich distanziert, schafft dafürdie Bedingung. Richard Specht hat zu den kleinenPartiturausgaben der Mahlerschen Orchesterliedereine unsägliche Einleitung beigesteuert. Er schrecktnicht vor der Behauptung zurück: »In früheren Jahr-hunderten mag man in Marktflecken, unter Soldaten,Hirten, Landleuten so gesungen haben«13, ohne daßihn an solchem Unsinn die »einzigartige Instrumenta-tion« irremachte: »hier ist eine Delikatesse, eine Viel-falt der Farbentönung erreicht, die erst unserer Zeit,der Zeit nach Wagner und Berlioz, erreichbar gewor-den ist«14, während doch jene Künste nicht nur dieWiedergabe auf Messen und Märkten ausschließen,die es ohnehin nicht mehr gibt, sondern dem Begriffdes Volkslieds ins Gesicht schlagen. Inmitten solcherKontaminationen jedoch überrascht Specht mit derBemerkung, es handele sich bei Mahler nicht um sub-jektive Lyrik. Paul Bekker hat die Einsicht fruchtbargemacht: »Lied und Monumentaltrieb streben in Mah-ler zueinander. Das Lied wird aus der Enge subjekti-ven Gefühlsausdruckes hinaufgehoben in die weithinleuchtende, klingende Sphäre des sinfonischen Stiles.Dieser wiederum bereichert seine nach außen drän-gende Kraft an der Intimität persönlichsten Empfin-dens. Dies erscheint paradox, und doch liegt in sol-

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  • cher Vereinigung der Gegensätze eine Erklärung fürdas seltsame, Innen- und Außenwelt umspannende,Persönlichstes und Fernstes in sein Ausdrucksbereicheinbeziehende Wesen Gustav Mahlers. Eine Erklä-rung für seine äußerlich oft so widerspruchsvolleKunst, die scheinbar heterogenste Stilelemente |wahl-los durcheinander würfelt. Eine Erklärung für die Ge-gensätze in der Beurteilung und Bewertung seinesSchaffens.«15 Erst im Lied von der Erde, das sichSymphonie nennt, wird die Idee subjektiver Lyrik,und nicht umstandslos, zu der Mahlers. Darin ist erein Außenseiter in der Geschichte des deutschen Lie-des von Schubert bis Schönberg und Webern; eherauf der Linie Mussorgskys, an dem solche Objektivi-tät gelegentlich konstatiert wurde, oder der Janáčeks;vielleicht tastete auch Hugo Wolf an Stellen, welchedie übliche Grenze des komponierbaren Texts über-schreiten, nach Ähnlichem; gerade in diesem Momentmag Mahler mit dem slawischen Osten, als einemVorbürgerlichen, noch nicht durchaus Individuiertenwesentlich sich berühren. Wem Mahler diese Liederin den Mund legt, ist ein anderer als das kompositori-sche Subjekt. Sie singen nicht von sich, sondern er-zählen, epische Lyrik, so wie die Kinderlieder, anderen Verhalten wenigstens die früheren der Mahler-schen als gebrochene Wiederkehr von Tanz- undSpielmelodien sich anlehnen. Ihr Strom ist gleichsam

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  • Bericht, Ausdruck dessen Kommentar. Solche stili-sierte Objektivität bildet das homogene Medium vonMahlers Liedern und Symphonien. Jene entfalten sichin den Symphonien so, wie sie es prinzipiell an sichschon vermocht hätten. Die Totalität der Symphonienist die der Welt, von der in den Liedern gesungenwird. Die zum Absurden tendierende, durch Montagedivergenter Gedichte bewirkte Irrationalität der Wun-derhorntexte, die Goethe in seiner Rezension ver-merkte16, ist von Mahlers Kompositionsweise vindi-ziert: sie lädt jenen musikalischen Sinnzusammen-hang ein, der so wenig begrifflich ist wie psycholo-gisch. Volkselement und Subjektiv-Kompositorischesverhalten so sich zueinander, daß der Bodensatz desAbsurden, Unterschlupf der Musik im Text, von jenernach ihrem eigenen Gesetz organisiert, ›rationalisiert‹wird. Wie aber Mahlers Liedkompositionen zu denGedichten stehen, so verfahren seine Symphonien ins-gesamt mit ihren thematischen Kernen. Das Einheit-smoment von Lyrik und Symphonie ist die Ballade,und Mahler plauderte wohl aus der Schule, wenn er ineinem rein instrumentalen Satz, in einem Augenblickatemloser Anspannung, ein älteres Instrumentalstückzitierte, das den Titel Ballade trägt: die Chopinsche ing-moll im zweiten |Satz der Fünften Symphonie17.Balladenhaft objektiv sind die Mahlerschen Lieder alsStrophenlieder, während subjektive Lyrik den Stro-

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  • phenbau dem des Gedichts und der musikalischenForm opfert. Daher die besondere Schwierigkeit derInterpretation von Mahlers Orchesterliedern. Sie reali-sieren den strophischen Charakter und wandeln dochdie Strophen mit fortschreitender Erzählung ab. Wassie erzählen, ist der musikalische Inhalt selber; ihntragen sie vor. Daß Musik sich selber vortrage, sichselbst zum Inhalt habe, ohne Erzähltes erzähle, istkeine Tautologie, auch keine Metapher für den Habi-tus des Erzählenden, der vielem von Mahler fragloszukommt. Das Verhältnis von Vortrag und Vorgetra-genem in Musik seines Typus ist das zwischen denpartikularen Momenten und dem Zug. Das Vorgetra-gene sind die konkreten Einzelgestalten, der musikali-sche ›Inhalt‹ im engeren Sinn. Der Vortrag aber istder Strom des Ganzen. Indem jene Einzelmomente aufihm schwimmen, stellt er sie gewissermaßen dar; dieReflexion der Details durch den Zusammenhang istdesselben Wesens wie die eines Erzählten durch dieErzählung. So vulgär dem Kunstwerk gegenüber dieTrennung von Form und Inhalt, so schwächlich ist dieabstrakte Versicherung ihrer Identität; nur wo beideMomente auch auseinander gehalten sind, werden siebestimmbar als eines. Als vermittelte bleiben sie inihrer Unterschiedenheit erhalten, und eben das er-reicht der epische Gestus der sich vortragendenMusik. In ihm nimmt bei Mahler das Rätsel jeglicher

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  • Kunst Gestalt an, die den Betrachter, je besser er sieversteht, desto hartnäckiger mit der Frage, was sie seiund solle, quält. Gleich dem Erzähler sagt MahlersMusik nie zweimal das Gleiche gleich: so greift Sub-jektivität ein. Durch sie wird das Unvorhersehbare,Kontingente, das sie berichtet, zur Überraschung alsForm, dem Prinzip des immer ganz Anderen, das ei-gentlich erst emphatisch Zeit konstitutiert. Nie dürfendenn auch Mahlers Lieder ohne zeitliche Artikulationwie an einem Band aufgeführt werden – nur die Re-welge bestätigt mit der Vortragsbezeichnung »Ineinem fort« als Ausnahme die Regel, um eines Mar-sches willen, den selbst der Tod nicht unterbricht.Jene artifizielle Objektivität der Mahlerschen Lieder,Urbild seiner symphonischen, dürfte erhellen, warumalle, nach den drei |ersten Heften, mit Orchesterbeglei-tung gesetzt sind. Mahler sträubte sich gegen das Kla-vier als das zu seiner Zeit bereits dinghaft klapperndeInstrument subjektiver Lyrik, während das Orchesterein Doppeltes vermag: die kompositorische Vorstel-lung genau in konkreter Farbe registrieren, und durchdas chorische Volumen, das ihm noch im Pianissimobleibt, eine Art innere Großheit bewirken. Der bloßeKlang stellt ein Wir als musikalisches Subjekt vor,wo das Klavierlied des neunzehnten Jahrhunderts inder Wohnung der bürgerlichen Privatperson sich ein-richtete. Als Balladen organisieren sich die Mahler-

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  • schen Lieder nach dem Formgesetz des Erzählten, einZeitkontinuum aus aufeinanderfolgenden, miteinanderwesentlich zusammenhängenden und doch abgesetz-ten Ereignissen. Die strophische, dabei nirgends me-chanisch, zeitfremd wiederholende Schichtung musi-kalischer Felder wird übertragen auf die Symphonik.Während ihre Objektivität sich stützt auf den altenWiederholungszwang, bricht sie ihn zugleich in derimmerwährenden Produktion von Neuem. Aus derZeitlosigkeit des Immergleichen läßt Mahler histori-sche Zeit entspringen. Er nimmt damit die ursprüngli-che antimythologische Tendenz des Epos und voll-ends dann des Romans18 auf. Am unverhohlenstennähern sich ihm manche von Mahlers ersten Sätzen,die am wenigsten durch die Statik von tanzartigenSchemata behindert sind. Fertig zu werden haben siemit der Reprise. Entweder verkürzen sie diese so, daßsie gegenüber der Vormacht von Entwicklung kaummehr zählt, oder modifizieren sie radikal. Im erstenSatz der Dritten Symphonie ist das Sonatenschemawirklich nur noch dünne Hülle über dem inwendigen,ungebundenen Formverlauf. Mahler riskiert darinmehr als jemals wieder, überbietet durch Komplizitätmit dem Chaos selbst das Finale der Ersten. Nichtweniger monströs ist die Länge des Satzes als dieDisproportionen. Die panische Fülle, die das beherr-schende musikalische Subjekt virtuell ausradiert, wirft

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  • jeglicher Kritik sich in die Speere. Wie nicht seltenkompositorische Innovatoren, scheint Mahler davorerschrocken zu sein; das nächste Werk war die höchststilisierte, gestraffte Vierte. Auffällig im ersten Satzder Dritten der Verzicht auf alle bewährten Vermitt-lungskategorien. Ähnlich dem expressionistischenSchönberg werden die Komplexe |nicht kunstvoll in-einander übergeführt. Auftrumpfend barbarisch, ver-bindet Mahler sie eben noch durch den bloßenSchlagzeugrhythmus, ein abstraktes Pochen der Zeit.Verschmäht ist das Glättende, Harmonisierende dervermittelnden Arbeit; Mahler wartet nur mit Brockenauf, nicht mit Brühe. Schon inmitten der Einleitungwird verwegen eine leere Hörkulisse jenseits der mu-sikalischen Bewegung aufgestellt19. Nicht bloß nachSchulregeln scheint später die Überleitung zur Repri-se durch bloße Trommeln absurd20. Aber angesichtsder genialen Stelle torkeln solche Einwände hilfloswie die Ästhetik des juste milieu. Die Durchführungwird weggefegt, als wäre das kompositorische Sub-jekt des Eingriffs in seine Musik überdrüssig undließe sie gewähren, damit sie unbelästigt zu sichselbst komme. Themen üblichen Stils fehlen, wieschon im ersten Satz der Zweiten, wo ein Hauptthemasubstituiert wird durch ein Rezitativ der Bässe unddessen cantus firmus-ähnliche Gegenstimmen. Im er-sten Satz der Dritten aber sind die Komplexe, aus

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  • denen er sich fügt, überhaupt nicht mehr tektonischda, sondern werden vor den Ohren des Hörers; beson-ders kraß, wo in der Reprise der Marsch nicht einfacheintritt, sondern, als wäre er latent immer weiterge-spielt worden, allmählich wieder hörbar wird21. DasKopfthema, das man zunächst mit einem Hauptthemaverwechseln könnte, ist nach Bekkers Bemerkungeher ein Sigel denn Material der Verarbeitung. Seinecharakteristischen abwärtsschreitenden Sekundinter-valle jedoch sind bereits die eines der später wichtig-sten Marschmotive22. Die Proportionen des Satzessind vorweltlich. Die improvisatorische, in zwei Rie-senstrophen gebaute Einleitung überschattet dieMarschexposition und -reprise, die dem Sonatensche-ma entsprächen; balanciert wird die Einleitung allen-falls von der ebenso unmäßigen Durchführung. Die li-terarische Idee des großen Pan hat das Formgefühl er-obert; Form selber wird schreckhaft-ungeheuerlich,Objektivation des Chaos; nichts anderes ist die Wahr-heit des diesem Satz gegenüber besonders mißbrauch-ten Naturbegriffs. Immer wieder schallen rhythmischirreguläre Holzbläserfragmente als Naturstimmen her-ein; die Kombination von Marsch und Improvisationstreift das Zufallsprinzip. Nirgends übt Mahler weni-ger Zensur am Banalen; da wird »Ich hab mich erge-ben mit Herz und mit Hand«, da |die Sommernachts-traumouverture von Mendelssohn vernehmbar, und

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  • das patriotische Lied vom Feldmarschall aus Schulge-sangsbüchern pfeift dazwischen, als hätte es nie denalten Blücher gemeint. Der Satz reckt und dehnt sichnach allen Dimensionen wie ein Riesenkörper. FürPolyphonie hat er nichts übrig. Das Hauptmodell derDurchführung, der b-moll-Einsatz23, wird zwar einpaar Takte lang solo aufgestellt, als sollte er fugiertwerden, beißt sich dann aber höchst fugenwidrig aufeiner Note fest, und wer auf die wohlerzogene Ant-wort wartet, wird gefoppt. Ältere idiomatische Ele-mente wie die Schubertschen Doppelschläge sind po-tenziert zum antizivilisatorischen Überfall. – Der letz-te Satz der Sechsten erbte von diesem die Frage nachder Möglichkeit gleichsam mehrbändiger musikali-scher Romane und reagierte mit unerbittlicher Kon-struktion. Die Dritte aber dreht dem Gedanken anOrdnung eine Nase und ist dabei doch so prall unddicht komponiert, daß es nirgends erschlafft. Die Or-ganisiertheit des Desorganisierten dankt sie einemsingulären Zeitbewußtsein. Erreicht ihr erster Satzeine eigentliche Allegro-Exposition, ist diese nichteinfach, wie der Rhythmus es suggeriert, ein langerMarsch, sondern der Teil verläuft so, als ob das musi-kalische Subjekt mit einer Kapelle mitzöge, die aller-hand Märsche nacheinander spielt. Impuls der Formist die Vorstellung einer räumlich bewegten Musik-quelle24. Wie manche jüngste Musik hat der Satz,

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  • seiner inneren Struktur nach, kein festes, sondern einlabiles Bezugssystem. Dabei resultiert kein impres-sionistisches, raumhaft-unzeitliches Ineinander derKlänge wie in Debussys Feux d'Artifice, mit der Fan-fare des 14. Juli, sondern die aneinandergereihtenTeilmärsche stiften durch genaue Proportionen artiku-lierte Geschichte. Einmal wird es durchbruchsähn-lich25, ein Marschabgesang schließt sich an26, bis,doch ganz ohne Ausdruck des Katastrophischen, eherals öffnete sich jäh ein neuer Aspekt, die gesamteMarschmusik zusammenbricht27. Die exzessiv ver-größerte Durchführung dann sammelt das antiarchi-tektonische Wesen der Exposition doch noch in dieArchitektur ein. Ihr Bau entspricht, wie nicht seltenbei Mahler, und wie gelegentlich schon im WienerKlassizismus, den gröbsten Umrissen nach dem, wasvorher bis zur Durchführung geschieht, selbstver-ständlich ohne |plumpe Parallelen. Sie ließe sich alsgleichsam erste, aufs äußerste variierte Reprise analy-sieren, auf die dann eine zweite, die im engeren Sinn,folgt. Durch die angedeutete Wiederholung wird rück-wirkend die Exposition zum architektonischen Trakt,während die gänzlich lockere Behandlung der Durch-führung, die nirgends zweckrational auf ein Ziel hin-steuert und am Ende sich verläuft28, der antiarchitek-tonischen Intention treu bleibt. Reprisenähnlich istzunächst der erste Durchführungsabschnitt als Alle-

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  • gro-Äquivalent der Einleitung29. Er mündet miteinem blassen Nachsatz des Englischhorns30 in dienächste Partie. Diese dann ist ein Analogon zumvagen Vorfeld des ursprünglichen Marsches; ihr teiltsich das Verblassen der Einleitung mit31. Der dritteTeil benutzt Marschbestandteile, aber, in Konsequenzder schwächeren Belichtung, lyrischen Tons, einedeutlich eingeschobene Episode in Ges32. Der vierteDurchführungsteil schließlich setzt, wie manchmaldie letzten, entscheidenden Durchführungspartien beiBeethoven, mit jähem Entschluß ein33, so heftig vonder Tendenz des Satzes sich losreißend, wie diesevorher die Kontrollen überflutete.

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