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122 MedR 2002, Heft 3 Schmiedl, Das Recht des Vertrags(zahn)arztes auf angemessene Vergütung
und der Versicherten und Arbeitgeber aus Art. 2 Abs. 1GG. Eine derartige Grundrechtskollision ist im Rahmender praktischen Konkordanz zu lösen; dabei sind die Wert-entscheidungen der Grundrechte derart in einen schonen-den Ausgleich zu bringen, dass die einzelnen Rechte zuoptimaler Wirksamkeit gelangen können. Eine Grund-rechtskollision kann damit niemals mit der vollständigenAufgabe einer Grundrechtsposition gelöst werden. Das wä-re aber der Fall, wenn man mit dem Wortlaut des § 71 Abs. 1 S. 1 SGB V von einem generellen Vorrang der Bei-tragssatzstabilität vor dem Recht der Vertrags(zahn)ärzte aufangemessene Vergütung ausgehen würde.
VI. Zusammenfassung
Bei der Vereinbarung vergütungsregelnder Bestandteile vonVerträgen über die vertrags(zahn)ärztliche Versorgung sinddas Recht der Vertrags(zahn)ärzte auf angemessene Vergü-tung gemäß § 72 Abs. 2 SGB V und der Grundsatz der Bei-tragssatzstabilität nach § 71 Abs. 1 SGB V zu beachten.Beide Regelungsvorgaben sind grundrechtlich überlagert.Das Recht der Vertrags(zahn)ärzte ist als Teilhaberecht imRahmen der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG ver-fassungsrechtlich verankert. Die Vergütung der vertrags-(zahn)ärztlichen Leistungen ist dann als angemessen zu be-trachten, wenn sie bei einer durchschnittlich ausgelasteten,dem Stand der Medizin entsprechenden und wirtschaftlichbetriebenen Praxis die Praxiskosten deckt und zusätzlichdem Vertrags(zahn)arzt ein Einkommen ermöglicht, das
nicht unter dem vergleichbaren Einkommen von Klinik-ärzten liegt. Art. 2 Abs. 1 GG hingegen schützt die Versi-cherten und Arbeitgeber vor einer Erhöhung der Sozialver-sicherungsbeiträge infolge einer Anhebung der Beitragssätzezur gesetzlichen Krankenversicherung. Kommt es zu einemRegelungskonflikt zwischen dem Recht der Vertrags-(zahn)ärzte auf angemessene Vergütung und dem Grund-satz der Beitragssatzstabilität, ist die damit verbundeneGrundrechtskollision im Einzelfall im Rahmen der prak-tischen Konkordanz zu lösen. Es gilt das Prinzip des scho-nendsten Ausgleichs, wonach den widerstreitenden GüternGrenzen gezogen werden müssen, damit beide zu optima-ler Wirksamkeit gelangen können. Die generelle Einräu-mung des Vorranges einer Regelungsvorgabe wird daherden verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht gerecht, da siezur einseitigen Preisgabe eines Grundrechtsgehalts führt.Die Rechtsprechung des BSG zum dogmatischen Vorrangder Beitragssatzstabilität ist daher verfassungswidrig. Fernersind die neuen Regelungen über die Ausgabenbudgetie-rung in § 71 SGB V verfassungskonform auszulegen. We-gen der grundrechtlichen Vorgaben ist das Recht auf ange-messene Vergütung im Rahmen des Vorbehaltssatzes des § 71 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2 SGB V zu berücksichtigen. Einenotwendige medizinische Versorgung kann demnach auchunter Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven nichtmehr gewährleistet werden, wenn die als Leistungserbrin-ger tätigen Vertrags(zahn)ärzte nicht angemessen vergütetwerden können.
BU C H B E S P R E C H U N G E N
Medizinische Zwangsbehandlung. Rechtsgrundlagen und ver-fassungsrechtliche Grenzen der Heilbehandlung gegen denWillen des Betroffenen. Von Jochen Heide (Schriften zum Öf-fentlichen Recht, Bd. 855). Verlag Duncker u. Humblot, Berlin2001, 268 S., kart., DM 116,–
Die Kölner juristische Dissertation berücksichtigt Gesetzgebung, Judi-katur und Literatur bis zum Sommer 2000. Das Infektionsschutzgesetzv. 20. 7. 2000 (BGBl I, S. 1045) hat der Autor nicht mehr eingearbei-tet. Die umfassende Monografie gilt den zahlreichen rechtlichenDurchbrechungen des gewichtigen Grundsatzes, nach dem es ein„Behandlungszwangsrecht“ (BGHZ 29, 46, 49) nicht geben darf. Dererste Teil beschreibt und erläutert die rechtlichen Grundlagen derHeilbehandlung ohne oder gegen den Willen des Betroffenen. Ausge-spart bleiben die Heilbehandlung Minderjähriger und diagnostischeEingriffe nach §§ 81 ff. StPO. Der Schwerpunkt liegt auf dem prak-tisch wichtigen Feld der Zwangsbehandlung von nach LandesrechtUntergebrachten und beim Maßregelvollzugsrecht. Der Verfasser be-zieht ferner ein den Strafvollzug, das Gesetz über die Bekämpfung derGeschlechtskrankheiten, Zwangsbehandlungsbefugnisse als Kehrseitestrafbewehrter Behandlungspflichten und Eingriffsmöglichkeiten nachden polizeirechtlichen Generalklauseln. Der zweite Teil des Werksuntersucht die den verschiedenen Formen der Zwangsbehandlung ge-meinsamen verfassungsrechtlichen Probleme. Weil der weit überwie-gende Teil medizinischer Zwangsbehandlungen nicht dem SchutzDritter, sondern des Kranken vor sich selbst dient, wendet der Autordieser besonderen grundrechtlichen Konstellation gesteigerte Auf-merksamkeit zu.
Die Schrift erweist die landesrechtlichen Vorschriften zur Heilbe-handlung ohne oder gegen den Willen der Untergebrachten als„höchst unterschiedlich und zum großen Teil wenig zufriedenstel-lend“. Auch den neueren Unterbringungsgesetzen sei „die erforder-liche Koordinierung mit dem Betreuungsrecht nicht durchgehend ge-lungen“. Schwächen zeigten sich im Blick auf die Informations- undBeteiligungsrechte des Patienten, auch die ärztlichen Dokumenta-tionspflichten. Indessen: „Persönlichkeitszerstörende und medizinischfragwürdige Behandlungen werden zu Recht untersagt“.
Nur ein Teil der Bundesländer hat dem Maßregelvollzug ein eige-nes Gesetz gewidmet, wobei der Autor unterschiedliche Grundten-denzen ausmacht: vier der acht Landesgesetze kennen Zwangsbehand-lungen nur im Ausnahmefall, und diese Gesetze unterscheiden sichvon den jeweiligen Psychisch-Kranken-Gesetzen derselben Länder.Der Autor setzt sich mit diesen Befunden und dabei auch mit Helle(MedR 1993, 137) auf interessante Weise auseinander. In der Betreu-ung erkennt der Verfasser „öffentliche Fürsorge, die in vollem Um-fang der Grundrechtsbindung unterliegt“. Im geltenden Betreuungs-recht fehlte eine hinreichende Ermächtigung, die es erlaubte, den ent-gegenstehenden Willen des Betreuten bei der Durchführung medizi-nischer Behandlung zu überwinden. Auf „die höchst unterschiedlicheUmsetzung des § 1904 BGB in der Praxis“ weist der Verfasser hin.
In ihrem zweiten Teil charakterisiert die Studie Zwangsbehandlun-gen unabhängig von der medizinischen Indikation oder dem verfolg-ten Zweck als Eingriffe in das Recht auf körperliche Unversehrtheit(Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG). Eine Geringfügigkeitsgrenze erkenntsie nicht an. Die heimliche Beibringung von Medikamenten wie auchdie nicht zulässige wissenschaftliche Forschung gegen den Willen derBetroffenen verstießen grundsätzlich gegen die Würde des Menschen.Im Selbstbestimmungsrecht kann der Autor bedenklicherweise ein ei-genständiges Grundrecht durchaus nicht sehen. Eine verfassungsun-mittelbare Rechtsfertigung für zwangsweise Eingriffe zum Schutz desKranken vor sich selbst vermag der Autor nicht zu erkennen. Fürsor-gerisches staatliches Eingreifen hält er gleichwohl im Rahmen einesGesetzvorbehalts für zulässig. Auch in Anbetracht der festzustellendenUngleichbehandlung psychisch und körperlich Kranker ließen sichderartige Eingriffe aber nur dann rechtfertigen, wenn sie gerade demAusgleich individueller Defizite bei der Entscheidungsfähigkeit derBetroffenen dienten. Die Mehrzahl der landesrechtlichen Regeln überdie Unterbringung und den Maßregelvollzug werde diesen Vorgabennicht gerecht.
Das informative Buch verdient mit seinen kritischen Anstößen desInteresse der Fachwelt, insbesondere auch das der Rechtspolitiker.
Prof. Dr. iur. Dr. h. c. Adolf Laufs, Heidelberg