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Jack London - Der Seewolf

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Jack London

Der Seewolf

Verlag Das Beste

Stuttgart · Zürich · Wien

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Der Schriftsteller Humphrey van Weyden wird alsSchiffbrüchiger von dem Schoner Ghost in der Bucht vonSan Franzisko aufgefischt.Für den Geretteten beginnt damit jedoch ein neuesMartyrium: Das Schiff, das ihn aufgenommen hat, erweistsich als schwimmende Hölle, ein Robbenfänger, auf demunvorstellbare Brutalität und Rohheit zum Alltag gehören.An ein Entrinnen ist nicht zu denken, da der gefürchteteKapitän Wolf Larsen den Schiffbrüchigen kurzerhandseiner Mannschaft einverleibt hat.So erkennt van Weyden, während die Ghost denFanggründen vor Japan entgegensegelt, daß ihm nichtsanderes bleibt, als den Kampf gegen den „Seewolf"Larsen aufzunehmen - einen Mann, für den einMenschenleben keinerlei Wert besitzt...

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Erstes Kapitelich weiß kaum, wo beginnen, wenn ich zuweilen

auch im Scherz Charley Furuseth alle Schuld gebe.Er besaß ein Sommerhaus in Mill Valley, bezog esaber nur, wenn er sich die Wintermonate vertreibenund Nietzsche und Schopenhauer lesen wollte.Kam der Sommer, so zog er ein heißes, staubigesDasein in der Stadt mit unablässiger Arbeit vor.Wäre es nicht meine Gewohnheit gewesen, ihnallwöchentlich zum Wochenende zu besuchen, sohätte ich mich eben an jenem Montagmorgen imJanuar nicht auf den Wassern der Bucht von SanFranzisko befunden.

Das Schiff, auf dem ich mitfuhr, bot alleSicherheit. Die Martinez war eine neue Dampffähre,die ihre vierte oder fünfte Fahrt auf der RouteSausalito-San Franzisko zurücklegte. Aber derdichte Nebel, der die Bucht wie mit einer Deckeüberzog, war gefahrdrohend. In der Tat erinnere ichmich noch der sanften Erregung, mit der ich meinenPlatz auf dem Oberdeck gerade unterhalb desLotsenhauses eingenommen hatte, während dieGeheimnisse des Nebels meine Phantasieumspannten.

Ich dachte daran, wie bequem die Arbeitsteilungwar, die mich der Mühe enthob, Nebel, Winde,Gezeiten und Schifffahrtskunde zu studieren, undmir doch erlaubte, meinen Freund jenseits derBucht zu besuchen. Ich stellte Betrachtungen überden Vorteil der Spezialisierung des Menschen an.Das Sonderwissen eines Lotsen und eines

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Kapitäns genügte für viele Tausende, dieebensowenig von See und Schiffahrt verstandenwie ich. Und ich wiederum hatte es nichtnötig,meine Kräfte auf das Studium unzähligerDinge zu verschwenden, sondern konnte mich aufeinige wenige konzentrieren, wie augenblicklich aufeine Untersuchung der Stellung E. A. Poes zu derübrigen amerikanischen Literatur - worüber ich,nebenbei bemerkt, gerade einen Aufsatz in derZeitschrift Atlantic geschrieben hatte.

Als ich an Bord gekommen war, hatte ich beimDurchschreiten der Kajüte einen beleibten Herrnmit den Augen verschlungen, der in die Atlantic undoffenbar gerade in meinen Aufsatz vertieft war.

Ein Mann mit rotem Gesicht unterbrach meineBetrachtungen. Er warf geräuschvoll die Kajütentürhinter sich zu und stapfte schwerfällig aufs Deck.Der Rotgesichtige warf einen raschen Blick auf dasLotsenhaus, betrachtete den Nebel, stapfte hin undher (es sah aus, als hätte er Prothesen) und bliebendlich spreizbeinig und mit einem Ausdruck herberFreude im Gesicht neben mir stehen. Ich ging wohlnicht fehl in meiner Vermutung, daß er seine Tageauf dem Meere verbracht hatte.

„Scheußliches Wetter! Ein Wetter, das einemvorzeitig graue Haare verschafft!" rief er und nicktein die Richtung des Lotsenhauses.

„Ich hätte nicht geglaubt, daß hier besondereKunst nötig sei!" antwortete ich. „Es sieht soeinfach aus wie das Abc. Der Kompaß gibt dieRichtung an. Entfernung und Fahrgeschwindigkeitsind bekannt. Man sollte meinen, daß alles mit

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mathematischer Genauigkeit zu berechnen wäre!"„Kunst!" schnaubte er. „Einfach wie das Abc!

Mathematische Genauigkeit!" Er schien sich zurecken, stemmte sich nach hinten gegen den Windund starrte mich an: „Wie steht es zum Beispiel mit,Ebbe und Flut hier unter der Golden Gate?" fragteoder brüllte er vielmehr. „Welche Fahrt macht dieEbbe? Wie läuft die Strömung, he? Bitte, horchenSie mal! Die Glocke einer Ankerboje. Wir sindgerade darüber! Merken Sie, wie wir den Kursändern?"

Aus dem Nebel erklang das klagende Stöhneneiner Schiffsglocke, und ich sah, wie der Lotse dasSteuerrad mit großer Schnelligkeit drehte. DasLäuten, das eben noch vor uns zu tönen schien,kam jetzt von der Seite. Unsere eigene Schiffspfeifefauchte heiser, und eine schrille kleine Pfeife, diewie verrückt pfiff, war gerade vor uns undanscheinend sehr nahe. Auf der Martinez wurdenGongs angeschlagen.

Unsere Schaufelräder hielten an, ihr Pulsschlagstarb, setzte dann wieder ein. Die schrille kleinePfeife voraus klang wie das Zirpen einer Grille indem Geschrei großer Tiere, schoß seitwärts durchden Nebel und wurde schnell schwach und immerschwächer.

„Den sticht der Hafer", sagte er. „Ich wünschtefast, wir hätten den kleinen Hammel in den Grundgebohrt!"

Sein unberechtigter Wutausbruch belustigtemich, und während er in seiner Empörung auf undab stapfte, überließ ich mich wieder der Romantik

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des Nebels. Und wahrlich: Romantisch war dieserNebel, wie der graue Schatten unendlicherMysterien, die über diesem dahingleitendenFleckchen Erde brüteten, während die Menschen,winzige Sonnenstäubchen und -fünkchen, zukrankhaftem Wohlgefallen an der Arbeit verdammt,ihre Holz- und Stahlmechanismen durch das Herzdieses Mysteriums zu jagen suchten, sich blindlingsihren Weg durchs Unsichtbare bahnten und sichWorte der Zuversicht zuschrien, obgleich ihnen dasHerz vor Ungewißheit und Furcht zitterte. DasLachen meines Gefährten brachte mich wieder zumir. Auch ich hatte getastet und gezappelt,während ich mir einbildete, scharfsichtig dasGeheimnis zu durchschauen.

„Hallo! Da kommt uns jemand ins Gehege!"sagte er. „Hören Sie? Er kommt schnell. Geradevoraus! Ich wette, er hört uns noch nicht. Es weht inder falschen Richtung."

Die frische Brise kam uns gerade entgegen, undich hörte deutlich die Schiffspfeife einwenig'seitwärts und dabei dicht vor uns.

„Fähre?" fragte ich.Er nickte und fügte dann hinzu: „Würde sonst

nicht so wie nach der Richtschnur laufen!" Er lachteunterdrückt. „Da oben werden sie unruhig."

Ich blickte hinauf. Der Kapitän hatte Kopf undSchultern zum Lotsenhaus herausgestreckt undstarrte gespannt in den Nebel, als könnte er ihndurch bloße Willensanstrengung durchdringen.Sein Gesicht war besorgt wie jetzt auch das meinesGefährten, der an die Reling gestapft war und

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ebenso gespannt in die Richtung starrte, aus der erdie unmittelbare Gefahr vermutete.

Dann kam es. Es geschah mit unfaßbarerSchnelligkeit. Der Nebel wich, wie von einem Keilgespalten. Der Bug eines Dampfschiffes tauchteauf, zu beiden Seiten Nebelfetzen mitziehend wieSeegras auf der Schnauze des Leviathans. Ichkonnte das Lotsenhaus sehen und bemerkte einenweißbärtigen Mann, der sich, auf die Ellbogengestützt, weit hinauslehnte. Er trug eine blaueUniform, und ich entsinne mich noch, wie sauberund freundlich er aussah. Seine Ruhe wirkte unterdiesen Umständen furchtbar. Er beugte sich demSchicksal, marschierte Schulter an Schulter mit ihmund berechnete kühl den Schlag. Wie er sodalehnte, warf er uns einen ruhigen undnachdenklichen Blick zu, als berechne er genauden Punkt des Zusammenstoßes, und nahm nichtdie geringste Notiz von unserm Lotsen, der, blaßvor Wut, schrie: „Nun habt ihr's fertiggebracht!"

Als ich mich umsah, nahm ich wahr, daß dieBemerkung zu einleuchtend war, um noch einerErläuterung zu bedürfen.

„Halten Sie sich an irgend etwas fest", sagte derMann mit dem roten Gesicht zu mir. Er poltertenicht mehr. Es schien, als wäre er von derübernatürlichen Ruhe des andern angesteckt.

Ehe ich noch seinen Rat befolgen konnte, warder Zusammenstoß schon erfolgt. Wir mußten wohlgerade mittschiffs getroffen worden sein. Ich sahnichts, und der fremde Dampfer war schon ausmeinem Gesichtskreis geglitten.

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Die Martinez krängte stark, das Holzwerkkrachte und splitterte. Ich wurde auf das feuchteDeck geschleudert, und bevor ich mich aufrichtenkonnte, hörte ich auch schon das Kreischen derFrauen. Es waren die unbeschreiblichsten,haarsträubendsten Töne, die ich je gehört, michpackte ein panischer Schrecken. Mir fiel ein, daß inder Kajüte ein Haufen Rettungsgürtel lag, ich wurdeaber von der wildstürmenden Menge Männer undFrauen an der Tür aufgehalten und zurückgedrängt.Ich weiß nicht mehr, was in den nächsten Minutengeschah, wenn ich auch die deutliche Vorstellunghabe, daß ich von den Gestellen an DeckRettungsgürtel herunterriß, die der Mann mit demroten Gesicht den hysterischen Frauen umlegte.Dieses Bild ist meinem Gedächtnis so scharf unddeutlich eingeprägt wie ein wirkliches Bild. Es istein Gemälde, das ich immer noch vor mir sehe: diezackigen Ränder des Loches in der Kajütenwand,durch das der graue Nebel hereinwirbelte undkreiste - die leeren Sitze, auf denen alles herumlag,was den Eindruck plötzlicher wilder Fluchterweckte: Pakete, Handtäschchen, Schirme,Überzieher; der beleibte Herr, der meinen Aufsatzstudiert hatte und jetzt, in Kork und Segelleineneingeschlossen, die Zeitschrift noch in der Handhielt und mich mit eintöniger Dringlichkeit fragte, obich an eine Gefahr glaube; der Mann mit dem rotenGesicht, der schwerfällig auf seinen Prothesenstapfte und tapfer einer Frau nach der andern denRettungsgürtel umschnallte, und schließlich dasTollhaus kreischender Weiber.

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Das Entsetzen trieb mich an Deck hinaus. Ichfühlte mich krank, elend und voller Ekel. Ich setztemich auf eine Bank. Schemenhaft sah und hörteich, wie Männer umherliefen und versuchten, dieBoote hinabzulassen. Die Szene war genauso, wieich sie aus Beschreibungen in Büchern kannte. DasTauwerk klemmte sich fest. Nichts klappte. EinBoot mit Frauen und Kindern wurde an den Davitshinuntergefiert. Es füllte sich mit Wasser undkenterte. Ein anderes hing noch mit einem Endeoben, während das andere schon unten war, undso blieb es hängen. Der fremde Dampfer, der unserUnglück verschuldet hatte, ließ nichts von sichhören, obwohl man meinte, daß er uns zweifellosBoote zu Hilfe schicken würde.

Ich stieg zum unteren Deck hinunter.Anscheinend sank die Maitinez sehr schnell, dennich sah das Wasser jetzt dicht unter mir. VielePassagiere sprangen über Bord. Die im Wasserwaren, schrien, man solle sie wieder an Bord holen.Aber kein Mensch kümmerte sich um sie. EinSchrei ertönte: „Wir sinken!" Ich wurde von der jetzteintretenden Panik angesteckt und stürzte mich ineiner Flut von Körpern über Bord.

Wie ich ins Wasser kam, weiß ich nicht mehr,was ich aber sofort begriff, war, warum alle, diedrinnen schwammen, sich so sehnsüchtig auf denDampfer zurückwünschten. Das Wasser war kalt -so kalt, daß es schmerzte. Als ich hineinsprang,hatte ich ein Gefühl, als wäre ich in Feuer geraten.Die Kälte drang bis ins Mark, sie war wie der Griffdes Todes. Vor Angst und Schrecken schnappte

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ich nach Luft, versuchte zu atmen, bevor mich nochder Rettungsgürtel an die Oberfläche getriebenhatte. Der Salzgeschmack brannte mir im Munde,und ich erstickte fast an der beißenden Lauge, diemir Kehle und Lungen füllte. Aber das furchtbarstewar die Kälte. Ich fühlte, daß ich nur wenigeMinuten aushalten konnte. Rings um mich imWasser rangen und zappelten Menschen. Ich hörte,wie sie sich gegenseitig anriefen. Daneben hörteich das Plätschern von Riemen; offenbar hatte derfremde Dampfer seine Rettungsbooteherabgelassen. Die Sekunden flogen, und ichwunderte mich, daß ich immer noch lebte. Meineunteren Gliedmaßen waren ganz empfindungslos,eine eisige Starre krallte sich mir ums Herz unddurchdrang es. Kleine Wellen brachenunausgesetzt mit boshaft schäumenden Kronenüber meinen Kopf hinweg und in meinen Mund unddrohten mich immer wieder zu ersticken.

Der Lärm wurde undeutlich. Das letzte, was ichnoch hörte, war ein Chor von verzweifeltenSchreien in der Ferne, der mir sagte, daß dieMartinez untergegangen war. Dann - wieviel Zeitverstrichen war, weiß ich nicht - kam ich in einemplötzlichen Anfall überwältigender Angst zu mir. Ichwar allein. Ich hörte weder rufen noch schreien -nur das Plätschern der Wellen, das gespensterhaftvon der Nebelwand widerhallte. Eine allgemeineMassenpanik ist nicht so furchtbar wie die, dieeinen einzelnen Menschen packen kann, und dieBeute einer solchen Panik war ich. Wo trieb ichhin? Der Mann mit dem roten Gesicht hatte gesagt,

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daß die Ebbe unter der Golden Gatehinausströmte! Dann wurde ich also auf die hoheSee hinausgetrieben! Und der Rettungsgürtel, dermich trug, konnte er nicht jeden Augenblick inStücke gehen? Ich hatte gehört, daß diese Dingeoft aus Papier und Binsen gemacht waren, die sichschnell vollsogen und alle Tragfähigkeit verloren.Und dabei hatte ich nicht die geringste Ahnung vomSchwimmen! Ganz allein trieb ich, offenbar mit derStrömung, in die graue, chaotische Unendlichkeithinaus.

Wie lange das dauerte, weiß ich nicht. Ich wurdeohnmächtig, und als ich erwachte, erblickte ich, fastüber meinem Kopfe, den Bug eines Fahrzeuges,das langsam aus dem Nebel auftauchte, unddarüber, dicht hintereinander, drei dreieckige, prallvom Wind geblähte Segel. Wo der Bug das Wasserdurchschnitt, schäumte und gurgelte es heftig, esschien geradewegs auf mich loszukommen.Plötzlich tauchte der Bug nieder und überschüttetemich klatschend mit einem mächtigenWasserschwall. Dann glitt die lange schwarzeSchiffswand so nahe vorbei, daß ich sie mit denHänden hätte greifen können. Ich versuchte es, miteinem wahnsinnigen Entschluß, meine Nägel insHolz zu krallen, aber meine Arme waren schwerund leblos. Wieder wollte ich rufen, brachte aberkeinen Ton heraus. Das Heck des Schiffes schoßvorbei, sank in ein Wellental. Ich sah flüchtig denMann am Ruder und einen anderen, der nichts zutun schien, als eine Zigarre zu rauchen. Ich sah denRauch, der sich von seinen Lippen löste, als er

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langsam den Kopf wandte und in meiner Richtungüber das Wasser blickte. Es war ein gleichgültiges,unüberlegtes Schauen, etwas ganz Zufälliges,Zielloses.

Für mich aber bedeutete dieser Blick Leben oderTod. Ich sah, wie das Schiff vom Nebelverschlungen wurde, ich sah den Rücken desRudergastes und sah, wie der Kopf des andernMannes sich wandte, sich ganz langsam wandte,wie sein Blick das Wasser traf und zu mirhinschweifte. Er schien in tiefe Gedankenversunken, und mich packte die Furcht, daß seineAugen mich, selbst wenn sie mich träfen, nichtsehen würden. Aber sie sahen mich, blicktengerade in die meinen! Er sprang ans Ruder, schobden andern beiseite und drehte fieberhaft das Rad,während er gleichzeitig irgendwelche Befehleschrie. Doch das Schiff schien seinen Kursfortzusetzen und war fast im selben Augenblick imNebel verschwunden.

Ich fühlte, wie ich in eine Ohnmacht glitt, undversuchte mit aller Willenskraft gegen dieerstickende Leere und Dunkelheit, die mich zuüberwältigen drohten, anzukämpfen. Kurz daraufhörte ich Ruderschläge, die immer näher kamen,und die Stimme eines Mannes. Als er ganz nahewar, hörte ich ihn ärgerlich sagen: „ZumDonnerwetter, warum antwortest du nicht?" Ermeinte mich. Mit diesem Gedanken versank ich inLeere und Finsternis.

Ich schien in einem mächtigen Rhythmus durchungeheure Räume zu schwingen. Flimmernde

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Funken sprühten und schossen an meinen Augenvorbei. Ich wußte, es waren Sterne undschimmernde Kometen, die mich auf meinem Flugevon Sonne zu Sonne umgaben. Als ich dieäußerste Grenze meines Schwunges erreicht hatteund gerade zurückschwingen wollte, ertöntedonnernd ein Riesengong. In einer unermeßlichenZeitspanne hatte ich, eingelullt von dem Säuselnsanfter Jahrhunderte, ein Gefühl großer Freude undüberdachte meinen ungeheuren Flug.

Aber mein Traum wandelte sich, denn daß esein Traum war, sagte ich mir selbst. Der Rhythmusmeines Fluges wurde immer kürzer. Schwung undRückschwung wechselten mit verwirrender Hast.Kaum konnte ich Atem schöpfen, so ungestümwurde ich durch den Himmelsraum geschleudert.Immer häufiger und schrecklicher donnerte derGong, auf dessen Klang ich jedesmal mitnamenlosem Entsetzen wartete.

Dann war mir, als würde ich über rauheSandflächen geschleift, die weiß in der Sonneglühten. Ein unerträgliches Angstgefühl packtemich. Meine Haut wurde ausgedörrt in der Pein desFeuers. Der Gong dröhnte und toste. Dieflimmernden Lichtpunkte schossen in unendlichemStrom an meinen Augen vorbei, als ergösse sichdas ganze Sternensystem in den leeren Raum. Ichrang nach Luft, atmete schmerzhaft und öffnete dieAugen. Zwei Männer knieten neben mir undbeschäftigten sich mit mir. Der mächtige Rhythmus,den ich empfunden hatte, war das Rollen desSchiffes im Seegang. Der entsetzliche Gong war

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eine Bratpfanne, die bei jeder Bewegung desSchiffes klirrte und rasselte. Der scheuernde,sengende Sand waren harte Männerhände, diemeine bloße Brust rieben. Meine Brust war rot undwund, und ich konnte winzige Blutstropfen aus derzerrissenen, entzündeten Haut hervorquellensehen.

„Jetzt ist's genug, Yonson", sagte der eine derMänner. „Kannst du nicht sehen, wir schrubben ihmja die ganze Haut ab!"

Der Angeredete, ein Mann von schweremskandinavischem Typ, hörte auf, mich zu reiben,und erhob sich verlegen. Der Mann, dergesprochen hatte, war offenbar ein „Cockney"(geborener Londoner), zartgliedrig und mit glatten,fast weiblichen Zügen, der sicher dasGlockengeläut Londons mit der Muttermilcheingesogen hatte. Eine schmutzige Leinenmützeund ein ebenso schmutziger Leinenschurz um dieHüften verrieten, daß er der Koch des Schiffes war,auf dem ich mich befand.

„Na, wie fühlen Sie sich jetzt, Herr?" fragte er mitder gezierten Untertänigkeit, die auf Generationentrinkgeldbeflissener Ahnen schließen ließ.

Als Antwort versuchte ich mich zu erheben.Yonson half mir auf die Füße. Das Rasseln undKlirren der Bratpfanne zerrte entsetzlich an meinenNerven. Ich konnte meine Gedanken nichtsammeln und griff über den heißen Küchenherdhinweg nach dem scheußlichen Gegenstand, holteihn vom Nagel herunter und verkeilte ihn sicher imKohlenkasten.

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Der Koch lächelte über meine Nervosität unddrückte mir mit den Worten „Das wird Ihnen guttun" einen dampfenden Becher in die Hand. Es warein widerliches Gesöff - Schiffskaffee - aber dieWärme belebte mich doch. Während ich langsamdas Getränk schlürfte, warf ich hin und wiedereinen Blick auf meine wundgeriebene, blutendeBrust. Dann wandte ich mich an den Skandinavier.

„Vielen Dank, Herr Yonson."„Ich heiße Johnson, nicht Yonson", sagte er in

ausgezeichnetem, wenn auch etwas langsamemund eine Spur fremdländischem Englisch. In seinenblaßblauen Augen erschien ein milder Protest, aberdazu eine schüchterne Offenheit und Männlichkeit,die mich ganz für ihn einnahmen.

„Vielen Dank, Herr Johnson", verbesserte ichmich und streckte ihm meine Hand hin.

Scheu und schüchtern zögerte er, trat von einemBein auf das andere, faßte schließlich linkischmeine Hand und schüttelte sie herzlich.

„Haben Sie etwas trockenes Zeug für mich?"fragte ich den Koch.

„Ja, Herr", erwiderte er diensteifrig. „Ich werde inmeinem Vorrat nachsehen, wenn Sie nichtsdagegen haben, Herr, meine Sachen anzuziehen."

Er schlüpfte oder glitt vielmehr zur Küchentürhinaus mit einer Schnelligkeit und Geschmeidigkeit,die mir weniger katzenartig als ölig erschienen. Inder Tat, diese Schlüpfrigkeit war, wie ich spätererfahren sollte, wahrscheinlich seinehervorstechendste Eigenschaft.

„Und wo bin ich?" fragte ich Johnson, den ich mit

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Recht für einen von den Matrosen hielt. „Was fürein Fahrzeug ist dies, und wo geht es hin?"

„Von den Farallonen nach Südwest", erwiderteer langsam und planmäßig, als bemühte er sich,sein bestes Englisch zu sprechen. „Schoner Ghostauf Robbenfang nach Japan."

„Und wo ist der Kapitän? Ich muß ihn sprechen,sobald ich mich umgekleidet habe."

Johnson blickte verlegen und verwirrt drein.Zögernd suchte er in seinem Wortschatz nach einertreffenden Antwort.

„Der Käpt'n ist Wolf Larsen, wenigstens nennendie Leute ihn so. Ob er in Wirklichkeit anders heißt,weiß ich nicht. Aber es ist am besten, wenn Sievorsichtig mit ihm reden. Er ist verrückt heutmorgen. Der Steuermann..." Aber er vollendete denSatz nicht. Der Koch war wieder hereingeglitten.

„Es ist besser, du machst, daß du wegkommst,Yonson", sagte er. „Der Alte sucht dich an Deck,und heut ist es am besten, ihm nicht in die Querezu kommen."

Über den Arm des Kochs hingen einigezerknüllte, häßliche Kleidungsstücke, die einensäuerlichen Geruch ausströmten.

„Sie sind feucht gewesen, Herr", erklärte er,„aber Sie werden sie schon tragen müssen, bis ichIhre am Feuer getrocknet habe."

War er mir schon auf den ersten Blickunsympathisch gewesen, so wuchs meinUnbehagen noch, als er mir jetzt beim Ankleidenhalf. Seine Berührung allein war mir widerlich. Ichwich vor seiner Hand zurück, mein Fleisch

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widersetzte sich. Dazu kam der nicht geradeangenehme Duft aus den verschiedenenKochtöpfen auf dem Herde, so daß ich michbeeilte, um an die frische Luft zu kommen.Überdies war es notwendig, daß ich mit demKapitän sprach, um zu hören, wie ich an Landkommen könnte.

Ein billiges Baumwollhemd mit ausgefranstemKragen und verblichener Hemdbrust mit Flecken,die ich für Blutspritzer hielt, wurde mir unter einemStrom von Entschuldigungen übergezogen. EinPaar schwerer Seestiefel umschloß meine Füße,und dazu wurde ich mit hellblauen,ausgewaschenen Überzughosen ausstaffiert, dereneines Bein deutlich kürzer war als das andere.

„Und wem habe ich für all diese Herrlichkeiten zudanken?" fragte ich, als ich voll ausstaffiertdastand, eine winzigeKnabenmütze auf dem Kopfund als Rock eine schmutzige gestreifteBaumwolljacke, die mir gerade bis ans Kreuz gingund deren Ärmel mir bis zu den Ellbogen reichten.

Der Koch richtete sich in seiner kriecherischenArt auf, und sein geziertes Lächeln schien umEntschuldigung zu bitten.

„Mugridge, Herr", sagte er kriecherisch, und übersein weibisches Gesicht legte sich ein fettigesLächeln. „Thomas Mugridge, Herr, zu Diensten."

„Gut, Thomas", sagte ich. „Ich werde Sie nichtvergessen, wenn meine Kleider wieder trockensind."

„Danke, Herr", sagte er wirklich sehr dankbarund demütig.

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Genau wie eine Schiebetür glitt er beiseite, undich trat aufs Deck. Ich war noch schwach von demlangen Aufenthalt im Wasser. Ein Windstoß packtemich, und ich wankte über das schlingernde Deck,einer Ecke der Kajüte zu, an der ich mich festhielt.Der Schoner krängte stark, hob und senkte sich inder langen Dünung des Ozeans.

Wenn der Schoner, wie Johnson gesagt hatte,nach Südwest segelte, mußte der Wind meinerBerechnung nach fast genau von Süden herkommen. Der Nebel hatte sich verzogen, und jetztspielten die Sonnenstrahlen auf demMeeresspiegel. Ich wandte mich nach Osten, wo,wie ich wußte, Kalifornien liegen mußte, konnteaber nichts sehen als niedrige Nebelbänke - es wardies zweifellos derselbe Nebel, der das Unglück derMartinez und meine jetzige Lage verschuldet hatte.Nach Norden, nicht weit fort, war eine Gruppenackter Felsen über die See gestreut, und aufeinem davon sah ich einen Leuchtturm. NachSüdwesten, fast genau in unserm Kurs, erblickteich den pyramidenförmigen, noch dunklen Umrißeines Segels. Als ich meine Umschau am Horizontbeendet hatte, wandte ich mich meiner näherenUmgebung zu. Mein erster Gedanke war, daß einMensch, der einen Schiffbruch überlebt und Augein Auge mit dem Tode gestanden hatte, eigentlichmehr Aufmerksamkeit verdient hätte, als mir zuteilwurde. Außer einem Matrosen am Rad, derneugierig nach der Kajütendecke guckte, schenktemir niemand irgendwelche Beachtung. Jedermannschien sich nur für das zu interessieren, was

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mittschiffs vorging. Dort lag ein großer Mann aufeinem Lukendeckel. Er war ganz angekleidet, seinHemd jedoch aufgerissen; seine Augen warengeschlossen. Er schien bewußtlos zu sein, aber derMund stand weit offen, und die Brust keuchte, alsob er am Ersticken wäre und heftig nach Atemränge. Ein Matrose, der daneben stand, hatte eineSegeltuchpütz an einer Leine festgemacht, ließ sievon Zeit zu Zeit ganz gewohnheitsmäßig ins Meerhinab, holte sie wieder herauf und goß den Inhaltüber den Liegenden.

Auf und nieder an Deck schritt ein anderer Mannund kaute wütend auf seinem Zigarrenstummel. Eswar der, dessen zufälliger Blick mich vor demErtrinken bewahrt hatte. Er mochte wohl ein Meterachtzig groß sein, aber mein erster Eindruck vonihm, oder vielmehr mein Gefühl, war nicht das derGröße, sondern der Stärke. Dabei konnte ich ihnjedoch, obgleich er gedrungen und breitschultrigwar und eine mächtige Brust hatte, nichtungewöhnlich schwer nennen. Er hatte etwas vonder sehnigen, knorrigen Kraft drahtiger Menschen,sein Körperbau aber ließ mich an einen Gorilladenken.

Nicht daß er in seinem Aussehen etwasGorillaartiges gehabt hätte. Was ich auszudrückensuche, ist die Stärke selbst als etwas für sich, ganzabgesehen von ihrer körperlichen Erscheinung. Eswar eine Stärke, wie wir sie gewohnt sind, mitprimitiven Dingen, mit wilden Tieren zu verbinden -die wilde, reißende, lebendige Stärke an sich, dieletzte Urkraft des Lebens, die Gewalt der

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Bewegung, der Grundstoff selbst, aus dem diewilden Lebensformen gestaltet wurden.

Der Koch streckte den Kopf zur Kombüsentürheraus und grinste mir ermutigend zu, gleichzeitigwies er mit dem Daumen nach dem Manne, der ander Luke auf und nieder schritt. So gab er mir zuverstehen, daß dies der Kapitän war, diePersönlichkeit, die ich bemühen mußte, daß siemich an Land setzte.

Ich war gerade im Begriff, zu ihm zu gehen, umgleich die sicher unangenehme Geschichteüberstanden zu haben, als der Unglückliche, derauf dem Lukendeckel lag, einen noch stärkerenErstickungsanfall bekam. Krampfartig verrenkte ersich. Das Kinn mit dem nassen schwarzen Bartstreckte sich in die Luft, während dieRückenmuskeln steif wurden und die Brust miteiner instinktiven, unbewußten Anstrengung nachLuft rang.

Der Kapitän oder Wolf Larsen, wie die Leute ihnnannten, hielt auf seinem Wege inne und blickte aufden Sterbenden hinab. So furchtbar war dieserletzte Kampf, daß der Matrose die Segeltuchpützsinken ließ und den Inhalt auf das Deckverschüttete. Der Sterbende trommelte mit denFersen auf dem Lukendeckel, streckte die Beineaus, erstarrte in einer einzigen mächtigenAnstrengung und rollte den Kopf von einer Seite zurandern. Dann wurden die Muskeln schlaff, der Kopfstill, und ein Seufzer, ein Seufzer tiefsterErleichterung entfloh seinen Lippen. Das Kinn fielherab, die Oberlippe hob sich, und zwei Reihen

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tabakgebräunter Zähne wurden sichtbar. SeineZüge schienen in einem teuflischen Grinsen überdie Welt, die er verlassen und überlistet hatte,erstarrt zu sein. Und dann geschah etwas ganzÜberraschendes: Wie ein Donnerschlag fuhr derKapitän über den Toten her. Flüche prasselten inunaufhaltsamem Strom von seinen Lippen, und eswaren nicht etwa gewöhnliche Flüche oderunziemliche Redensarten. Jedes seiner Worte wareine Gotteslästerung, und der Worte waren viele.Sie knisterten und krachten wie elektrische Funken.Nie im Leben habe ich ähnliches gehört oder auchnur für möglich gehalten. Bei meinen literarischenNeigungen und meinem Ohr für kräftige Bildergenoß ich, das muß ich gestehen, wie kein andererZuhörer die prachtvolle Lebendigkeit und Kraftseiner gotteslästerlichen Ergüsse. Ihre Ursachewar, wenn ich recht verstand, daß der Mann, derder Steuermann war, vor der Abreise aus SanFranzisko an einem Gelage teilgenommen unddann die Rücksichtslosigkeit besessen hatte, gleichzu Beginn der Reise zu sterben und Wolf Larsenkurzerhand zu verlassen. Ich brauche - meinenFreunden wenigstens - nicht zu sagen, daß ichempört war. Fluchen und Schimpfen hatten michstets abgestoßen. Ich fühlte Mattigkeit, Schwächeoder eher Schwindel. Für mich war immer etwasFeierliches, Würdevolles mit dem Tode verbundengewesen, etwas Friedvolles, Heiliges. In dieserschrecklichen Gestalt war ich ihm noch niebegegnet. Wie gesagt: Während ich die Kraft dererschreckenden Entladung aus Wolf Larsens

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Munde genoß, war ich gleichzeitig unsagbarangewidert. Der versengende Strom hätte genügenmüssen, das Antlitz der Leiche welken zu lassen.Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn derschwarze Bart sich gekräuselt hätte und in hellenFlammen aufgegangen wäre. Aber der Tote bliebunangefochten. Er grinste weiter sein höhnischesLächeln, zynisch und verächtlich. Er war Herr derLage.

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Zweites KapitelEbenso plötzlich, wie er begonnen hatte, hörte

Wolf Larsen auf zu fluchen. Er zündete sich wiederseine Zigarre an und sah sich um. Seine Augenfielen auf den Koch. „Na, Köchlein?" fragte er miteiner merkwürdigen, kalten und stählernenLeutseligkeit.

„Jawohl, Herr", entgegnete der Koch beflissenund entschuldigend.

„Meinst du nicht, daß du jetzt lange genug denKopf herausgestreckt hast? Das ist nicht gesund.Der Steuermann ist tot, und dich kann ich nichtauch noch entbehren. Du mußt sehr vorsichtig mitdeiner Gesundheit umgehen, Köchlein.Verstanden?" Das letzte Wort traf im Gegensatz zuder früheren Freundlichkeit wie ein Peitschenhieb,und der Koch erzitterte. „Jawohl, Herr", antworteteer schüchtern, und der beanstandete Kopfverschwand.

Nach dieser Abfuhr schien die Mannschaft dasInteresse an den Vorgängen an Deck verloren zuhaben und machte sich wieder an die Arbeit.Mehrere Leute jedoch, die zwischen der Kajüte undder Kombüse herumlungerten - sie schienen keineSeeleute zu sein -, sprachen leise weitermiteinander. Wie ich später erfuhr, waren es dieRobbenjäger, die sich hoch erhaben über diegewöhnlichen Matrosen fühlten.

„Johansen!" rief Wolf Larsen. Ein Matrose tratgehorsam vor. „Hol dir Nadel und Garn und nähden Schuft ein. Altes Leinen findest du in der

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Schiffstruhe. Los!"„Was sollen wir ihm an die Füße hängen?" fragte

der Mann nach dem üblichen „Jawohl, Herr!"„Wird sich schon finden", sagte Wolf Larsen.

Dann hob er die Stimme und rief: „Köchlein!"Thomas Mugridge sprang wie ein

Stehaufmännchen aus seiner Kombüse.„Geh nach unten und füll einen Sack mit

Kohlen."„Hat einer von euch eine Bibel oder ein

Gebetbuch, Leute?" lautete die nächste Frage, dieder Kapitän diesmal an die bei der Lukeherumlungernden Jäger richtete.

Sie schüttelten die Köpfe, und einer von ihnenmachte einen Witz, den ich nicht verstand, der aberallgemeines Gelächter hervorrief.

Wolf Larsen stellte die gleiche Frage an dieMatrosen. Bibeln und Gebetbücher schienen einseltener Artikel an Bord zu sein. Keines von beidenwar vorhanden. Der Kapitän zuckte die Achseln.„Dann lassen wir ihn ohne Geschwätzverschwinden, wenn unser schiffbrüchiger Pastornicht den Begräbnisgottesdienst auf Seeauswendig weiß." Bei diesen Worten wandte ersich um und sah mich an. „Sie sind doch Pastor,nicht wahr?" fragte er.

Die Jäger drehten sich wie ein Mann um undbetrachteten mich. Ich hatte das peinliche Gefühl,einer Vogelscheuche zu gleichen. Mein Aussehenverursachte ein schallendes Gelächter, das derAnblick des Toten, der grinsend an Deckausgestreckt lag, in keiner Weise dämpfte, ein

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Gelächter, so rauh und barsch wie das Meer selbst,aus der Kehle von Männern, die weder Schliff nochZartgefühl kannten.

Wolf Larsen lachte nicht, wenn seine grauenAugen auch leicht aufleuchteten. Ich war dicht anihn herangetreten, und jetzt erhielt ich, abgesehenvon seiner äußeren Erscheinung und seinem Stromvon Flüchen, den ersten Eindruck von dem Manne.Die markanten festen Züge verliehen seinemGesicht trotz der Vierschrötigkeit gute Formen. Beinäherer Betrachtung gewann man unweigerlich dieÜberzeugung, daß in der Tiefe seines Wesens eineungeheure, entsetzliche Kraft schlummerte. Mund,Kinn, die hohe Stirn, die sich schwer über denAugen wölbte, alles dies, jedes für sich schonungewöhnliche Stärke verratend, zeugtezusammen von einer unbeugsamen Männlichkeit.

Eine solche Seele ließ sich nicht ausloten, nichtermessen; sie duldete keinen Vergleich.

Die Augen - sie betrachtete ich besonderseingehend - waren groß und ausdrucksvoll und vondichten schwarzen Brauen überwölbt. Sie warenvon jenem veränderlichen Grau, das niegleichbleibt, das wie Seide in der Sonne spielt undzahllose Schattierungen annimmt, die dunkel- undhellgrau und graugrün und manchmal azurblau wiedie Tiefsee sein können. Es waren Augen, die dieSeele hinter tausend Verkleidungen bargen und diesich nur selten öffneten, um sie unverschleiert aufwunderbare Abenteuer in die Welt fahren zu lassen- Augen, die mit der hoffnungslosen Düsterkeiteines bleiernen Himmels brüten und dann wieder

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Feuerfunken wie von einem geschwungenenSchwert sprühen, die frostig wie eine arktischeLandschaft werden, aber auch sanft wärmenkonnten, und die, intensiv und männlich - lockendund bittend - in feuriger Liebe blitzend, Frauenbezaubern und zugleich beherrschen mochten, daßsie sich in einem Schauer von Freude undErleichterung hingaben.

Doch zurück zu meinem Bericht: Ich erklärte,daß ich kein Geistlicher sei, also den Gottesdienstbei dem Begräbnis leider nicht übernehmen könne.

„Was für einen Beruf haben Sie denn?"Ich gestehe, daß man noch nie eine solche

Frage an mich gerichtet und daß auch ich selbstnoch nie darüber nachgedacht hatte. Ich war wievor den Kopf geschlagen, und ehe ich michbesonnen hatte, stotterte ich: „Ich - bin einGentleman."

Seine Lippen kräuselten sich zu einemverächtlichen Lächeln.

„Ich habe gearbeitet, ich arbeite wirklich!" rief icheifrig, als wäre er mein Richter, der Rechenschaftvon mir forderte, während ich mir gleichzeitig ganzklar darüber wurde, wie dumm ich war, überhauptauf die Frage einzugehen.

„Leben Sie davon?"So herrisch und gebieterisch wirkte er, daß ich

wie ein zitterndes Kind vor dem gestrengen Lehrerdastand.

„Wer unterhält Sie?" lautete seine nächsteFrage.

„Ich bin vermögend", antwortete ich keck und

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hätte mir im nächsten Augenblick die Zungeabbeißen mögen. „Aber das hat doch alles nichtsmit der Angelegenheit zu tun, über die ich mit Ihnenzu sprechen habe."

„Wer hat das Vermögen verdient? Nun? Dachtich's doch. Ihr Vater. Sie stehen auf den Füßeneines toten Mannes. Sie selbst haben nie etwasgehabt. Sie wären nicht imstande, Ihrem hungrigenMagen von einem Sonnenaufgang zum andern dreiMahlzeiten zu verschaffen. Zeigen Sie mal IhreHände!"

Seine entsetzliche schlummernde Kraft muß sichin diesem Augenblick geregt oder ich mußgeschlafen haben, denn ehe ich es wußte, war erzwei Schritte vorgetreten, hatte meine rechte Handgepackt und untersuchte sie. Ich wollte siezurückziehen, aber seine Finger umschlossen sieohne sichtbare Anstrengung so fest, daß ichglaubte, er zermalme sie. Unter solchenUmständen ist es schwer, Würde zu bewahren. Ichkonnte doch nicht wie ein Schuljunge mich windenund zappeln. Und ich konnte auch ein Geschöpfnicht angreifen, das meine Hand mit einemeinzigen Druck zu zerbrechen imstande war. Soblieb mir nichts übrig, als stillzuhalten und dieSchmach hinzunehmen. Ich hatte Zeit zubeobachten, daß die Taschen des Toten entleertund sein Körper und sein Grinsen dem Blick durchein Stück Segeltuch entzogen worden waren,dessen Falten Johansen, der Matrose, mit grobemBindfaden zusammennähte, indem er die Nadel miteinem in seiner Handfläche befestigten

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Lederwerkzeug durchtrieb.Wolf Larsen schleuderte meine Hand verächtlich

von sich: „Die Hände eines Toten haben die Ihrenweich erhalten. Zu nichts nütze als zumAufwaschen und Küchenjungendienst."

„Ich wünsche, an Land gesetzt zu werden",sagte ich fest, denn ich hatte mich wieder in derGewalt. „Ich werde Ihnen zahlen, was Sie für IhreVerspätung und Ihre Mühe verlangen." Er sah michmit einem seltsamen Blick an. Seine Augenleuchteten spöttisch.

„Ich habe Ihnen einen Gegenvorschlag zumachen. Mein Steuermann ist tot, und es sinddaher einige Beförderungen vorzunehmen. EinMatrose wird den Platz des Steuermannseinnehmen, der Kajütsjunge wird Matrose, und Sierücken an seine Stelle, unterschreiben einenKontrakt für die Fahrt und bekommen zwanzigDollar monatlich und freie Verpflegung. Wasmeinen Sie dazu? Denken Sie daran, daß es zuIhrem eigenen Besten ist. Es wird etwas aus Ihnen.Sie lernen vielleicht, auf eigenen Füßen zu stehenund sogar ein bißchen auf ihnen zu laufen."

Aber ich achtete nicht auf seine Worte. DieSegel des Schiffes, das ich in Südwest gesehenhatte, waren immer größer und deutlichergeworden. Es war ein schöner Anblick, wie es jetztmit ausgebreiteten Flügeln auf uns zuflog undaugenscheinlich seinen Kurs ganz dicht an unsvorbei nahm. Der Wind hatte plötzlichzugenommen.

Wir fuhren schneller und krängten stärker. Eine

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Bö tauchte die Reling ganz unter Wasser, so daßes das Deck überspülte und ein paar von denJägern veranlaßte, schnell die Beine hochzuziehen.

„Das Schiff fährt bald an uns vorbei", sagte ichnach einer kleinen Pause. „Da es unsentgegenkommt, ist anzunehmen, daß es nach SanFranzisko will."

„Sehr wahrscheinlich", lautete Wolf LarsensAntwort. Dann wandte er sich halb um und rief:„Köchlein, he, Köchlein!"

Der Koch fuhr aus der Kombüse.„Wo ist der Junge? Sag ihm, daß ich ihn

brauche."„Jawohl, Herr", und Thomas Mugridge eilte nach

achtern und verschwand über eine Treppe in derNähe des Rades. Gleich darauf tauchte er wiederauf, gefolgt von einem kräftigen, finster blickendenBurschen von achtzehn bis neunzehn Jahren. AberWolf Larsen ignorierte den Ehrenmann und wandtesich sofort an den Kajütsjungen: „Wie heißt du,Junge?"

„George Leach, Herr", lautete die verdrosseneAntwort, und die Haltung des Kajütsjungen verrietdeutlich, daß er wußte, warum er herbefohlen war.

„Das ist kein irischer Name", schnappte derKapitän scharf. „O'Toole oder McCarthy würdebesser zu deiner Visage passen. Jedenfalls hat einIre bei deiner Mutter im Bett gelegen."

Ich sah, wie sich die Hände des Burschen beidieser Beleidigung ballten und das Blut ihm zuKopfe stieg.

„Aber lassen wir das!" fuhr Wolf Larsen fort. „Du

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wirst wohl deine Gründe haben, deinen Namen zuvergessen, und deshalb können wir doch Freundebleiben, solange du deine Pflicht tust. Du stammstnatürlich aus Telegraph Hill. Das verrät deineFratze auf zehn Meilen. Richtige Raufbolde! Ichkenne die Sorte. Na, das wollen wir dir schonaustreiben. Verstanden? Wer hat dich geheuert?"

„McCready und Swanson."„Herr!" donnerte Wolf Larsen.„McCready und Swanson, Herr", verbesserte

sich der Junge, und seine Augen schossen Blitze.„Wer hat den Vorschuß gekriegt?"„Die Leute, Herr."„Hab ich mir gedacht. Und du hast dich verflucht

gefreut darüber. Konntest gar nicht schnell genugmachen, denn es waren wohl verschiedene Herrenhinter dir her."

Jetzt verlor der Junge die Beherrschung. SeinKörper krümmte sich wie zum Sprunge, und seinGesicht glich dem eines knurrenden wilden Tieres.„Das ist -"

„Was?" fragte Wolf Larsen mit merkwürdigsanfter Stimme, als wäre er ungeheuer neugierigauf das nicht ausgesprochene Wort. Der Jungeschwieg und beherrschte sich. „Nichts, Herr, ichnehme es zurück."

„Ich wußte ja, daß ich recht hatte!" Dies mitbelustigtem Lächeln. „Wie alt bist du?"

„Sechzehn, Herr."„Du lügst. Du bist wenigstensachtzehn und noch dazu groß für dein Alter.Muskeln wie ein Pferd. Pack dein Zeug zusammen,und geh nach vorn in die Back. Du bist zum

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Ruderer befördert. Verstanden?"Ohne eine Antwort des Jungen abzuwarten,

wandte sich der Kapitän zu dem Matrosen, dergerade die schauerliche Aufgabe, die Leicheeinzunähen, beendet hatte. „Johansen, verstehstdu was von Navigation?"

„Nein, Herr."„Na, schadet nichts, du bist zum Steuermann

befördert. Bring deine Siebensachen nach achternin die Steuermannskabine."

„Jawohl, Herr", lautete die frohe Antwort, undJohansen ging. Der Junge hatte sich unterdessennicht vom Fleck gerührt.

„Worauf wartest du noch?" fragte Wolf Larsen.„Ich hab mich nicht als Ruderer eintragen lassen,

Herr", lautete die Antwort. „Ich bin als Kajütsjungegeheuert und wünsche keine andereBeschäftigung."

„Pack deine Sachen zusammen, und mach, daßdu nach vorn kommst!" Diesmal war Wolf LarsensBefehl herrisch und durchdringend. Der Jungeblickte finster vor sich hin, gehorchte aber nicht.

Da erfolgte wieder ein Ausbruch von WolfLarsens entsetzlicher Kraft. Ganz unerwartet undvon nicht zwei Sekunden Dauer. Er sprang vollezwei Meter weit über das Deck und jagte seineFaust dem andern in den Magen. Mir wurde übel,als wäre ich selbst in den Leib getroffen. Icherwähne dies, um zu zeigen, in welchem Zustandsich meine Nerven damals befanden und wieungewohnt derartig rohe Auftritte für mich waren.Der Kajütsjunge - er wog mindestens

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hundertfünfzig Pfund - klappte zusammen. SeinKörper wurde hochgehoben und fiel kopfüberneben der Leiche auf das Deck, wo er liegenbliebund sich in Schmerzen wand.

„Nun?" fragte Wolf Larsen mich. „Haben Siesich's überlegt?"

Ich warf einen Blick nach dem sich näherndenSchoner, der jetzt, nur wenige hundert Meterentfernt, dicht vor uns war. Es war ein schmuckeskleines Fahrzeug. Auf einem der Segel konnte icheine große schwarze Zahl erkennen, wie ich sie aufBildern von Lotsenschiffen gesehen hatte.

„Was ist das für ein Schiff?" fragte ich.„Lotsenschoner Lady Mine", erwiderte Wolf

Larsen mit grausamem Lächeln. „Hat den Lotsenabgesetzt und geht jetzt nach San Franzisko. Wirdbei diesem Wind in fünf bis sechs Stunden dortsein."

„Wollen Sie ihn bitte anrufen, daß er mich anLand bringt?"

„Tut mir leid, aber mein Signalbuch ist über Bordgefallen", meinte er, und die Jäger grinsten.

Ich blickte ihn scharf an, und die Gedankenwirbelten mir durch den Kopf. Ich hatte dieschreckliche Behandlung des Kajütsjungen mitangesehen und wußte, daß mirhöchstwahrscheinlich das gleiche, wenn nichtSchrecklicheres blühte. Wie gesagt: Die Gedankenwirbelten mir durch den Kopf, und dann tat ich, wasich heute noch für die tapferste Tat meines Lebenshalte.

Ich lief an die Reling, schwenkte die Arme und

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schrie: „Lady Mine, ahoi! Bringt mich an Land!Tausend Dollar, wenn ihr mich an Land bringt!"

Ich wartete und beobachtete am Rad zweiMänner, von denen der eine steuerte. Der anderehob ein Sprachrohr an die Lippen. Ich wandte nichtden Kopf, obgleich ich jeden Augenblick dentödlichen Schlag von der menschlichen Bestiehinter mir erwartete.

Schließlich konnte ich die Spannung nicht längerertragen. Ich sah mich um. Er hatte sich nicht vomFleck gerührt. Er stand noch in derselben Stellungda, schwankte leicht im Rollen des Schiffes undzündete sich eine neue Zigarre an.

„Was gibt es? Ist etwas geschehen?" So rief derMann auf der Lady Mine.

„Ja!" schrie ich mit der vollen Kraft meinerLungen. „Es geht auf Leben oder Tod. TausendDollar, wenn ihr mich an Land bringt!"

„Die Gegend bekommt meiner Mannschaft nichtgut!" rief Wolf Larsen jetzt hinüber. „Der" - er wiesmit dem Daumen auf mich - „glaubt überallSeeschlangen und Affen zu sehen." Der Mann aufder Lady Mine lachte durchs Megaphon. DasLotsenschiff setzte seinen Kurs fort.

„Schickt ihn zum Teufel!" ertönte der letzte Ruf,und die beiden Männer winkten zum Abschied.

Verzweifelt lehnte ich mich über die Reling undstarrte dem kleinen Schoner nach; die wogendeWüste wuchs rasch zwischen ihm und uns. Er warin sechs Stunden vermutlich in San Franzisko! Mirwar, als sollte mir der Kopf zerspringen. Der Halsschnürte sich mir zusammen. Eine Sturzsee schlug

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über die Reling und besprühte mir die Lippen mitSalzwasser. Der Wind war aufgefrischt, und dieGhost krängte so stark, daß die Reling auf Leeganz unter Wasser begraben war. Ich konntehören, wie es über das Deck spülte.

Als ich mich kurz darauf umwandte, sah ich, wieder Junge schwankend wieder auf die Beine kam.Sein Gesicht war geisterhaft weiß und vonunterdrücktem Schmerz verzerrt. Er sah sehr elendaus.

„Na, Leach, gehst du nun nach vorn?" fragteWolf Larsen.

„Jawohl, Herr", antwortete die geduckte Seele.„Und Sie?" fragte er mich.„Ich gebe Ihnen tausend..."Aber er unterbrach mich: „Lassen wir das.

Wollen Sie den Posten des Kajütsjungenübernehmen? Oder soll ich Sie erst in die Machenehmen?"

Was sollte ich tun? Wenn ich mich brutalprügeln, vielleicht totschlagen ließ, nützte es mirauch nichts. Ich starrte in die grausamen Augen.Sie hätten aus Granit sein können, so wenig Lichtund Wärme einer menschlichen Seele leuchteteaus ihnen. In den Augen mancher Menschen kannman die Regungen ihrer Seele lesen, aber dieseinen waren leer, kalt und grau wie das Meerselbst.„Nun?"

„Ja", sagte ich.„Sagen Sie: Jawohl, Herr!"„Jawohl, Herr!" verbesserte ich mich.„Wie heißen Sie?"

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„Van Weyden, Herr."„Vorname?"„Humphrey, Herr; Humphrey van Weyden, Herr."„Alter?"„Fünfunddreißig, Herr."„Das genügt. Gehen Sie zum Koch, und lassen

Sie sich in Ihren Pflichten unterweisen."Und so geschah es, daß ich in ein unfreiwilliges

Dienstverhältnis zu Wolf Larsen trat. Er war stärkerals ich, das war alles. Aber ich habe es wederdamals noch später je begriffen. Es wird mir immerals etwas Ungeheuerliches, Unverständliches, alsein furchtbarer Alp erscheinen.

„Halt, warten Sie noch!"Folgsam blieb ich stehen.„Johansen, rufen Sie die ganze Mannschaft

zusammen. Jetzt ist alles im reinen, und da ist esam besten, wenn wir gleich die Bestattungvornehmen."

Während Johansen die Wache heraufrief, legtenein paar Matrosen die eingenähte Leiche nachAnweisung des Kapitäns auf einen Lukendeckel. Zubeiden Seiten des Decks hingen kleine Boote überdie Reling. Einige Mann hoben den Lukendeckelmit seiner Last und trugen ihn nach Lee hinüber,wo sie die Leiche, die Beine außenbords, auf einesder Boote legten. Der Kohlensack, den der Kochgeholt hatte, wurde ans Fußende gebunden.

Unter einer Bestattung auf See hatte ich mirimmer etwas sehr Feierliches vorgestellt, aber beidieser Bestattung schwanden meine Illusionenschnell und gründlich. Einer von den Jägern, ein

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kleiner, schwarzäugiger Mann, den seineKameraden „Smoke" nannten, erzählte stark mitFlüchen und Zoten gespickte Geschichten, undjeden Augenblick

brach die ganze Jägergruppe in ein Gelächteraus, das in meinen Ohren wie ein Chor von Wölfenoder das Gekläff der Höllenhunde klang. DieMatrosen versammelten sich geräuschvoll achtern,einige von der Mannschaft rieben sich den Schlafaus den Augen und unterhielten sich leise. Aufihren Zügen lag ein unheilverkündender, mürrischerAusdruck. Es war deutlich zu sehen, daß dieAussicht auf eine Fahrt unter diesem Kapitän, diedazu noch unter so üblen Vorbedeutungenbegonnen hatte, sie durchaus nicht lockte. Hin undwieder warfen sie verstohlene Blicke auf WolfLarsen, und ich konnte merken, daß sie den Mannfürchteten.

Er schritt zum Lukendeckel, und alle Mützenwurden abgenommen. Ich ließ meinen Blick übersie schweifen - es waren zwanzig Mann,zweiundzwanzig mit dem Mann am Ruder und mir.Es ist wohl begreiflich, daß ich sie neugierigmusterte, sollte es doch mein Schicksal sein, ihrLos, eingepfercht in diese schwimmendeMiniaturwelt, wer weiß wie viele Wochen undMonate zu teilen. Die Matrosen bestandenhauptsächlich aus Engländern und Skandinaviernmit groben, ausdruckslosen Gesichtern. Die Jägerhingegen hatten scharfe, harte, von zügelloserLeidenschaft geprägte Züge. Merkwürdigerweisesah ich sofort, daß Wolf Larsens Gesicht nicht

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diesen Ausdruck von Verderbtheit hatte. Gewiß, eshatte auch scharfe Linien, aber nur Linien, die vonEntschlossenheit und Festigkeit sprachen. SeineMiene war von einem Freimut und einer Offenheit,die durch seine Bartlosigkeit noch verstärkt wurden.Ich konnte - bis zum nächsten Zwischenfall - kaumglauben, daß dies derselbe Mann war, der denKajütsjungen so behandelt hatte.

Er öffnete den Mund, um zu sprechen, aber indiesem Augenblick traf ein Windstoß nach demandern den Schoner und preßte ihn auf die Seite.Der Wind heulte ein wildes Lied durch dieTakelung. Einige von den Jägern warfen ängstlicheBlicke nach oben. Die Reling auf Lee, wo der Totelag, tauchte tief ins Wasser, und als der Schonersich aufrichtete, wurden unsere Füße überspült. EinRegenschauer ergoß sich über uns,und jederTropfen traf wie ein Hagelkorn. Als er vorüber war,begann Wolf Larsen zu sprechen, während dieLeute im Takt des stampfenden Schiffesschwankten. „Ich erinnere mich nur an eine Stelledes Gottesdienstes", sagte er, „nämlich: ,Und deineLeiche soll in die See geworfen werden.' Darumwerft ihn hinein."

Er schwieg. Die Leute, die den Lukendeckelhielten, waren verdutzt, verwirrt durch die Kürze derZeremonie. Wütend fuhr er auf sie los: „Hoch dasEnde, zum Donnerwetter! Was ist in euch gefahren,zum Teufel?"

Sie hoben schleunigst den Lukendeckel amoberen Ende. Und wie ein über Bord geworfenerHund flog der Tote, die Füße voran, ins Meer. Der

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Kohlensack an seinen Füßen zog ihn hinunter. Erwar fort.

„Johansen", sagte Wolf Larsen kurz zu demneuen Steuermann, „lassen Sie alle Mann, da siegerade hier sind, an Deck bleiben. Holen Sie dieToppsegel und den Klüver ein, aber ein bißchenschnell. Wir bekommen einen tüchtigen Südwest.Reffen Sie lieber auch das Großsegel, wenn Sieschon mal dabei sind."

In einem Augenblick war das ganze Deck inBewegung. Johansen brüllte seine Befehle, und dieLeute holten und fierten an allen möglichenStricken und Tauen - für mich als Landrattenatürlich ein wirres Chaos. Was mich aberbesonders erschütterte, war die Herzlosigkeit, die indiesem Tun lag. Der Tote war vergessen. Er warmit einem Kohlensack an den Füßen versenktworden, das Schiff setzte seine Reise fort, und dieArbeit ging ihren Gang. Keiner war auch nur imgeringsten ergriffen. Die Jäger lachten über eineneue Geschichte, die Smoke erzählte, die Matrosenholten und fierten, und zwei von ihnen klettertennach oben. Wolf Larsen musterte den sichüberziehenden Himmel in Luv. Und der Tote, der soelend gestorben und so jämmerlich begraben war,sank tiefer und tiefer.

Da überwältigte mich die Grausamkeit desMeeres, seine Unbarmherzigkeit und Gewalt. DasLeben war billig, etwas Sinnloses und Tierisches,eine seelenlose Bewegung von Schlamm undSchleim. Ich stellte mich an die Reling in Luv,neben den Wanten, und starrte über die trostlosen,

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schäumenden Wogen hinweg auf die niedrigenNebelbänke. Hin und wieder trieb eine Regenbödazwischen und entzog den Nebel meinen Blicken.Und dieses seltsame Schiff zog mit seinerschrecklichen Besatzung unter vollen Segeln nachSüdwest, über die großen und einsamen Weitendes Stillen Ozeans.

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Drittes KapitelMeine ersten Erlebnisse auf dem

Robbenschoner Ghost in der Zeit, während der ichmich meiner neuen Umgebung anzupassen suchte,waren eine Kette von Demütigungen und Leiden.Der Koch, von der Besatzung „Doktor", von denJägern „Tommy" und von Wolf Larsen „Köchlein"genannt, war wie ausgewechselt. Die Veränderungin meiner Stellung zog eine entsprechendeVeränderung in seiner Art, mich zu behandeln,nach sich. So sklavisch und unterwürfig er vorhergewesen, so herrisch und streitsüchtig war er jetzt.War ich doch nicht mehr der feine Herr, sondern einganz gewöhnlicher und sehr unbrauchbarerKajütsjunge.

In seiner Dummheit bestand er darauf, daß ichihn Herr Mugridge nennen sollte, und als er mich inmeinen Pflichten unterwies, waren sein Benehmenund sein ganzes Getue unerträglich.

Außer meiner Arbeit in der Kajüte mit den vierkleinen Kojen sollte ich ihm in der Kombüse helfen,und meine gänzliche Unwissenheit in bezug aufKartoffelschälen und das Auswaschen fettigerKochtöpfe bildete für ihn eine Quelle unaufhörlicherspöttischer Verwunderung. Er nahm nicht diegeringste Rücksicht auf meine Lage oder vielmehrauf meine bisherigen Gewohnheiten. Ich gestehe,daß ich ihn, ehe der Tag zu Ende war, mehr haßte,als ich je im Leben einen Menschen gehaßt hatte.

Dieser erste Tag wurde mir noch dadurcherschwert, daß die Ghost unter gerefften Segeln

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durch einen „brüllenden Südost" stampfte, wie HerrMugridge sich ausdrückte. Um halb fünf deckte ichunter seiner Anleitung den Tisch in der Kajüte. Ichbefestigte das Schlingerbrett und holte dann Essenund Tee aus der Kombüse. Ich kann bei dieserGelegenheit nicht umhin, mein erstes Abenteuerbei hohem Seegang zu berichten.

„Sieh dich vor, sonst kriegst du einen Guß ab",schärfte Herr Mugridge mir ein, als ich dieKombüse verließ, in der Hand einen ungeheurenTeekessel und unter dem andern Arm mehrerefrischgebackene Brote. Einer der Jäger, ein großer,gelenkiger Bursche namens Henderson, kamgerade in diesem Augenblick aus dem„Zwischendeck" (mit diesem Namen bezeichnetendie Jäger ihre mittschiffs gelegenenSchlafquartiere). Wolf Larsen stand auf demAchterdeck und rauchte seine ewige Zigarre.

„Siehst du! Futsch ist er!" schrie der Koch.Ich blieb stehen, denn ich wußte nicht, was

geschah. Ich sah nur, wie die Kombüsentür miteinem Knall zuflog. Dann sah ich Henderson wieeinen Verrückten zum Großmast springen und hochüber meinem Kopf in die Takelung klettern.

Ich sah auch noch eine riesige Woge, dieschäumend hoch über der Reling stand. Ich befandmich direkt unter ihr. Meine Gedanken arbeitetennur langsam; alles war so neu und fremd für mich.Ich wußte nichts, als daß Gefahr drohte. Bestürztstand ich still. Da schrie Wolf Larsen vomAchterdeck: „Festhalten, Sie - Hump!"

Aber es war zu spät. Ehe ich mich an die

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Takelung angeklammert hatte, wurde ich von demstürzenden Wasserschwall getroffen. Was danngeschah, weiß ich nicht recht. Ich befand michunter Wasser, erstickte, ertrank. Die Füße glittenmir fort, ich wurde herumgewirbelt und Gott weißwohin gefegt.

Ich schlug gegen verschiedene harteGegenstände, und einmal stieß ich mir meinrechtes Knie schrecklich. Dann schien das Wasserplötzlich zu verschwinden, und ich atmete wiederfrische Luft. Ich war gegen die Kombüsegeschleudert und dann bis gegen die Speigatten inLee geschwemmt worden. Der Schmerz in meinemKnie war furchtbar. Ich glaubte nicht auftreten zukönnen und war sicher, das Bein gebrochen zuhaben.

Aber der Koch hielt Ausschau nach mir undschrie durch die Kombüsentür: „Na du! Bleib nichtdie ganze Nacht unterwegs! Wo ist der Teetopf?Über Bord? Dir wäre recht geschehen, wenn du dirden Hals gebrochen hättest!"

Ich versuchte auf die Füße zu kommen. Dengroßen Teetopf hielt ich noch in der Hand. Ichhumpelte zur Kombüse und reichte ihn ihm. Aber erschäumte vor wirklicher und vorgeblicher Wut.

„Gott straf mich, wenn du nicht ein elenderWaschlappen bist. Wozu bist du überhaupt nütze?Wie? Wozu taugst du? Kannst nicht mal einbißchen Tee tragen, ohne ihn zu verschütten. Nunkann ich noch mal aufgießen. Und was greinst du?"fuhr er mich mit erneuter Wut an. „Hat seinemarmen Beinchen weh getan, Mutters armer

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Liebling."Ich greinte gar nicht, wenn mein Gesicht auch

vor Schmerz zucken mochte. Aber ich bot meineganze Energie auf, biß die Zähne zusammen undhinkte ohne weiteren Zwischenfall von derKombüse zu der Kajüte und wieder zurück.Zweierlei aber hatte mir mein Unfall eingetragen:eine verletzte Kniescheibe, an der ich monatelangzu leiden hatte, und den Namen „Hump", den WolfLarsen mir vom Achterdeck aus zugerufen hatte.

Von jetzt an wurde ich vorn und achtern nichtanders als Hump genannt, bis der Name so in meinBewußtsein überging, daß ich selbst in meinenGedanken Hump war, als ob ich nie andersgeheißen hätte.

Es war keine leichte Aufgabe, am Kajütentischzu bedienen, an dem Wolf Larsen, Johansen unddie sechs Jäger aßen. Die Kajüte selbst war sehreng, und es war schwierig, sich bei dem heftigenRollen und Stampfen des Schoners darin zubewegen. Was mich am meisten wurmte, war dervollkommene Mangel an Mitgefühl seitens derMänner, die ich bediente. Ich spürte durch dieKleidung hindurch, wie mein Knie immer mehranschwoll, und ich war schwach und krank. ImKajütenspiegel sah ich flüchtig mein Gesicht, dasweiß, geisterhaft und vom Schmerz verzerrt war.Alle müssen meinen Zustand bemerkt haben, aberkeiner verlor ein Wort darüber oder nahm auch nurdie geringste Notiz von mir.

Ich fühlte beinahe etwas wie Dankbarkeit, alsWolf Larsen später, als ich die Teller abwusch, zu

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mir sagte: „Machen Sie sich nichts aus einersolchen Kleinigkeit. An so etwas werden Sie sichschnell gewöhnen. Sie werden vielleicht einbißchen weniger leichtfüßig sein, dafür aber auchgehen lernen. Das nennt man ja wohl ein Paradox,nicht wahr?" fügte er hinzu.

Er schien sich zu freuen, als ich mit einem mirschon zur Gewohnheit gewordenen „Jawohl, Herr"nickte.

„Ich nehme an, daß Sie ein bißchen Bescheidwissen in literarischen Dingen, was? Na, wirwerden gelegentlich mal drüber reden."

Und dann kehrte er mir, ohne weiter Notiz vonmir zu nehmen, den Rücken und ging an Deck.

Als ich spätabends ein tüchtiges Stück Arbeithinter mir hatte, wurde ich zum Schlafen insZwischendeck geschickt, wo ich eine einfache Kojeerhielt. Ich war froh, von der verhaßten Gegenwartdes Kochs befreit zu sein und mich endlichniederlegen zu können.

Zu meiner Überraschung waren mir die Kleideram Körper getrocknet, ohne daß ich Anzeicheneiner Erkältung von dem letzten Sturzbad oder demlangen Treiben im Wasser nach dem Sinken derMartinez gespürt hätte. Unter gewöhnlichenUmständen wäre ich nach allem, was ichdurchgemacht hatte, reif fürs Bett und dieBetreuung durch eine Krankenschwester gewesen.

Aber mein Knie schmerzte furchtbar. Soweit ichfeststellen konnte, schien sich meine Kniescheibevöllig verschoben zu haben. Als ich auf dem Randmeiner Koje saß und das Bein untersuchte (die

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Jäger befanden sich alle im Zwischendeck,rauchten und schwatzten), warf Henderson einenBlick auf mein Knie.

„Sieht bös aus", bemerkte er. „Bind dir 'n Lappenrum, dann wird's besser."

Bei aller Müdigkeit - ich war erschöpft - hindertemich der Schmerz im Knie am Schlafen. Alles, wasich tun konnte, war, daß ich mich mit aller Gewaltbeherrschte, um nicht laut zu stöhnen.

Daheim würde ich zweifellos meinen Qualen Luftgemacht haben, aber diese mir neue, primitiveUmgebung schien die Abhärtung eines Wilden vonmir zu fordern. Diese Männer benahmen sich wieNaturvölker; stoisch in großen und kindlich reizbarin kleinen Dingen.

Ich weiß noch, wie Kerfoot, einem der Jäger,später auf der Fahrt ein Finger zu Mus zerquetschtwurde, ohne daß er auch nur einen Laut von sichgab oder eine Miene verzog. Und derselbe Mannkonnte bei der geringsten Kleinigkeit in zügelloseWut geraten.

Gerade jetzt war das der Fall. Er schrie undbrüllte, schwenkte die Arme und fluchte wie derTeufel, und nur, weil er sich mit einem andernJäger nicht über die Frage einigen konnte, ob einRobbenjunges instinktiv schwimmen könne odernicht. Seiner Ansicht nach schwamm es gleichnach der Geburt.

Der andere Jäger, Latimer, ein magerer Burschemit boshaften Schlitzaugen, der wie ein Yankeeaussah, glaubte wiederum, die Robbenjungenwürden lediglich auf dem Lande geboren, weil sie

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nicht schwimmen könnten, und ihre Mütter müßtenes ihnen beibringen wie die Vögel ihren Nestlingendas Fliegen. Unterdessen saßen die andern vierJäger vornübergebeugt am Tisch oder lagen inihren Kojen und überließen die beiden Widersacherihrem Streit. Aber die Sache interessierte sie dochstark, hin und wieder ergriff einer von ihnenstürmisch Partei, und manchmal redeten sie alledurcheinander, bis die Worte wie Donnergrollendurch den Raum hallten.

War der Gegenstand ihres Streits kindisch undlächerlich, so war es die Art ihrer Beweisführungnoch mehr. Von Vernunftgründen war nicht dieRede, es gab nur Behauptungen und Schimpfen.Daß ein Robbenjunges bei der Geburt schwimmenkonnte oder nicht, bewiesen sie durch kriegerischeBehauptungen und Angriffe auf Urteilskraft,Verstand, Nationalität oder Vorleben desKontrahenten. Die Widerlegung war entsprechend.Ich erzähle dies nur, um die geistige Beschaffenheitder Männer zu zeigen, auf deren Umgang ich jetztangewiesen war. In geistiger Beziehung waren sieKinder, in körperlicher ausgewachsene Männer.Und sie rauchten, rauchten unaufhörlich, und nochdazu einen billigen, stinkenden Tabak. Die Luft wardick und trübe vor Rauch. Dies und die heftigenBewegungen des Schiffes im Sturm würden michsicher seekrank gemacht haben, wenn ich dazugeneigt hätte. So hatte ich nur eine ArtSchwindelgefühl, das aber vielleicht auch von demSchmerz in meinem Knie und meiner Erschöpfungherrührte.

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Wie ich so dalag, machte ich mir natürlichGedanken über meine Lage. Es war sicher einzig inseiner Art, kaum im Traum auszudenken, daß ich,Humphrey van Weyden, ein Mann vonakademischer Bildung, der sich schon nicht ganzohne Erfolg als Literaturkritiker versucht hatte, michhier auf der Fahrt mit einem Robbenfänger zurBeringsee befand.

Mein ganzes Leben lang hatte ich keine schwerekörperliche Arbeit getan. Ich hatte ein ruhiges,ereignisloses Leben, das Dasein eines Einsiedlersgeführt, mich mit Büchern beschäftigt und meinsicheres, behagliches Auskommen gehabt. Sportund Athletik hatten mich nie gereizt. Ich war stetsein Bücherwurm gewesen, so hatten Vater undGeschwister mich schon in meiner Kindheitgenannt. Nur ein einziges Mal in meinem Lebenhatte ich unter freiem Himmel kampiert, und dahätte ich beinahe die Gesellschaft zu Beginn desAusfluges verlassen, um zu der Gemütlichkeit undBehaglichkeit eines Daches zurückzukehren. Undnun hatte ich die trostlose Aussicht auf endlosesTischdecken, Kartoffelschälen undGeschirrabwaschen. Dabei war ich nicht sehrkräftig. Zwar hatten die Ärzte gesagt, daß ich einevorzügliche Konstitution besäße, aber ich hatte sienie durch Training entwickelt. Und nun saß ich hierin einer keineswegs geeigneten Verfassung für dasrauhe Leben, das jetzt meiner harrte. Das wareneinige meiner Gedanken. Daneben gedachte ichaber auch meiner Mutter und meiner Geschwisterund malte mir ihren Schmerz aus. Ich gehörte zu

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den vermißten Opfern der Martinez-Katastrophe, zuden nicht gefundenen Leichen. Ich sah dieÜberschriften in den Zeitungen vor mir, sah dasKopfschütteln der Kameraden im Klub und hörte siesagen: „Armer Kerl!"

Inzwischen erkämpfte sich der Schoner Ghostseinen Weg, rollend und stampfend, hinauf auf diewogenden Berge und hinab in die schäumendenTäler, immer weiter hinein ins Herz des Pazifiks. Ichkonnte den Wind hören. Wie ein gedämpftesBrausen drang er mir ans Ohr. Ab und zu stampftenFüße über meinem Kopf. Von allen Seiten erklangein unaufhörliches Knarren, das Holzwerk ächzte,quiekte und stöhnte in tausend Tonarten. Die Jägerstritten immer noch und brüllten wie einehalbmenschliche Amphibienbrut. Die Luft schwirrtevon Flüchen und Zoten. Ich konnte ihre zornigen,erhitzten Gesichter sehen, ins Riesenhafte verzerrtdurch das krankhafte Gelb der Schiffslampen, diemit dem Schiff hin und her schwankten. In demtrüben Tabakdunst wirkten die Kojen wie die Käfigein einer Menagerie. Ölzeug und Seestiefel hingenan den Wänden, und hier und dort waren Gestellemit Flinten und Büchsen angebracht. Es gemahntean die Ausrüstung von Freibeutern und Piraten invergangenen Zeiten. Ich ließ meiner Phantasiefreien Lauf und konnte nicht schlafen. Es war einelange, lange Nacht, ermüdend, unheimlich undendlos,

aber meine erste Nacht im Zwischendeck warauch die letzte. Am nächsten Tage wurdeJohansen, der neue Steuermann, von Wolf Larsen

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zum Schlafen ins Zwischendeckgeschickt, während ich die Koje in der winzigen

Kajüte erhielt. Den Grund des Wechsels erfuhrendie Jäger bald, und er erweckte ziemlich vielUnbehagen unter ihnen. Johansen schien jedeNacht im Schlaf die Ereignisse des Tages nocheinmal zu durchleben. Sein unaufhörliches Reden,Schreien und Kommandieren war Wolf Larsenzuviel gewesen, und er hatte den lästigenSchlafgenossen deshalb zu seinen Jägernabgeschoben. Nach einer schlaflosen Nacht erhobich mich, müde und leidend, um meinen zweitenTag auf der Ghost zu beginnen.

Um halb sechs warf Thomas Mugridge mich ausder Koje, ungefähr so, wie ein roher Mann seinenHund hinausgejagt haben würde; aber seine Roheitgegen mich wurde Herrn Mugridge in gleicherMünze zurückgezahlt. Der unnötige Lärm, den erschlug, mußte einen von den Jägern geweckthaben, denn ein schwerer Schuh sauste durchsHalbdunkel, und ich hörte, wie Herr Mugridge vorSchmerz aufheulte und demütig um Entschuldigungbat. Später bemerkte ich, daß sein Ohr gequetschtund angeschwollen war. Es bekam seine frühereForm nie ganz wieder und wurde von den Matrosenvon jetzt an „Blumenkohlohr" genannt.

Der Tag wurde eine Kette von Verdrießlichkeitenverschiedenster Art. Ich hatte am Abend meinegetrockneten Kleider vom Kombüsendachheruntergeholt und wollte sie nun zunächst wiedermit dem Zeug des Kochs vertauschen. Ich sahnach meiner Börse. Außer einigem Kleingeld (ich

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habe ein gutes Gedächtnis für derlei) hatte siehundertfünfundachtzig Dollar in Gold und Scheinenenthalten. Die Börse fand ich, aber bis auf dasKleingeld war sie leer. Ich fragte den Koch danach,und wenn ich auch eine schroffe Antwort erwartethatte, so überstieg ihre Niedertracht doch alleGrenzen.

„Sag mal, Hump", begann er knurrend, und seineAugen leuchteten vor Bosheit, „was willst dueigentlich? Wenn du meinst, daß ich ein Dieb bin,dann hast du dich geirrt. Ich will blind sein, wenndas nicht der schwärzeste Undank ist, den ich jeerlebt habe. Da kommt so ein elendes Gestell vonMensch, ich nehme es in meine Kombüse,behandle es gut, und das hab ich nun davon! Dasnächstemal kannst du meinetwegen zum Teufelgehen, ich werde schon dafür sorgen!"

Damit hob er die Fäuste und ging auf mich los.Zu meiner Schande sei gesagt, daß ich demSchlage feige auswich und zur Kombüse hinauslief.Was hätte ich tun sollen? Gewalt, nichts als roheGewalt herrschte auf diesem Schiffe. MoralischeBegriffe galten hier nicht.

Meine Flucht aus der Kombüse verursachtequalvolle Schmerzen in meinem Knie, und hilflossank ich neben der Kajütentür zu Boden. Aber dergewalttätige Koch hatte mich nicht verfolgt.

„Sieh mal, wie er laufen kann! Wie er laufenkann!" hörte ich ihn rufen. „Und mit dem Bein!Komm nur wieder her, Muttersöhnchen. Ich tue dirja nichts, wirklich nicht."

Ich kam zurück und nahm meine Arbeit wieder

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auf. Für diesmal war von der Sache nicht mehr dieRede, wenn sich auch später weitereVerwicklungen daraus ergeben sollten. Ich deckteden Frühstückstisch in der Kajüte, und um siebenUhr wartete ich Jägern und Offizieren auf. DerSturm hatte sich im Laufe der Nacht etwas gelegt,wenn die See auch noch hoch ging und immernoch ein steifer Wind wehte. Die Segel warenwieder gehißt worden, so daß die Ghost jetzt untervoller Leinwand bis auf die beiden Toppsegel undden Außenklüver dahinschoß. Diese drei Segelsollten, wie ich der Unterhaltung entnahm, gleichnach dem Frühstück gesetzt werden.

Ich erfuhr auch, daß Wolf Larsen bedacht war,soviel wie möglich aus dem Sturm herauszuholen,der ihn nach Südwest, der Gegend zutrieb, wo ererwarten konnte, in den Nordostpassat zu kommen.Mit diesem stetigen Wind hoffte er den größten Teilder schnellen Fahrt nach Japan zurücklegen zukönnen, und deshalb schlug er jetzt einen Bogennach Süden in die Tropen, um dann, wenn er sichder asiatischen Küste näherte, wieder nach Nordenzu steuern.

Nach dem Frühstück hatte ich wieder ein rechtunangenehmes Erlebnis. Als ich das Geschirrabgewaschen und den Herd gereinigt hatte, trug ichdie Asche an Deck, um sie über Bord zu schütten.Wolf Larsen und Henderson standen, in einGespräch vertieft, in der Nähe des Ruders.Johansen steuerte. Als ich nach Luv ging, sah ich,wie er eine Bewegung mit dem Kopf machte, dieich aber mißverstand und für einen

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Gutenmorgengruß hielt. In Wirklichkeit war es einVersuch, mich zu warnen, die Asche in Luv überBord zu werfen. Ohne zu ahnen, was ich anrichtete,ging ich an Wolf Larsen und dem Jäger vorbei undwarf die Asche gegen den Wind über Bord. DerWind aber wehte sie zurück und überschüttete nichtnur mich, sondern auch Wolf Larsen undHenderson damit. Im nächsten Augenblick hatte mirder Kapitän einen Stoß versetzt, als wäre ich einHund, einen Stoß, der so heftig war, daß ich gegendie Kajüte taumelte, wo ich mich halb ohnmächtiggegen die Wand lehnte. Alles schwamm mir vorden Augen, und mir wurde übel.

Mit Mühe gelang es mir, an die Reling zukriechen. Wolf Larsen folgte mir nicht. Er klopftesich die Asche von der Kleidung und nahm seineUnterhaltung mit Henderson wieder auf. Johansen,der den ganzen Auftritt mit angesehen hatte,schickte ein paar Matrosen nach achtern, um dasDeck zu säubern.

Später am Morgen erlebte ich eineÜberraschung ganz anderer Art. Nach Anweisungdes Kochs war ich in Wolf Larsens Kajütegegangen, um aufzuräumen. An der Wand, dichtneben dem Kopfende der Koje, befand sich einvolles Büchergestell. Ich warf einen Blick daraufund sah zu meinem Erstaunen Namen wieShakespeare, Tennyson und Poe. Auchwissenschaftliche Werke gab es, darunter Büchervon Darwin, Astronomie und Naturwissenschaftenwaren vertreten, und ich bemerkte Bulfinchs„Zeitalter der Fabel", Shaws „Geschichte der

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englischen und amerikanischen Literatur" undJohnsons „Naturgeschichte" in zwei dickenBänden. Ferner eine Anzahl Grammatiken. Und ichmußte lächeln, als ich ein Exemplar von Deans „Dieenglische Sprache" sah. Ich konnte diese Büchernicht mit dem Manne, wie ich ihn bisherkennengelernt hatte, in Einklang bringen. Ob er siewirklich las? Als ich aber das Bett machte, fand ichzwischen den Decken die Cambridge-Ausgabe vonBrowning, die ihm offenbar beim Einschlafen ausder Hand geglitten war. In dem Buche war dasGedicht „Auf einem Balkon" aufgeschlagen, und ichsah, daß er mehrere Stellen mit einem Bleistiftangestrichen hatte. Als ich bei einer heftigenBewegung des Schiffs den Band fallen ließ, fiel einBlatt Papier heraus. Es war über und über mitgeometrischen Figuren und Berechnungenbekritzelt.

Es war klar, daß dieser furchtbare Mensch keinDummkopf sein konnte. Er wurde mir plötzlich einRätsel. Ich hatte schon bemerkt, daß seineSprache ausgezeichnet war, nur gelegentlichkonnte sich ein kleiner Fehler einschleichen. In derUnterhaltung mit Seeleuten und Jägern strotzte sienatürlich von Slangausdrücken, aber die wenigenWorte, die er bisher mit mir gewechselt hatte,waren klar und korrekt gewesen.

Der Schimmer, den ich von der andern Seiteseines Wesens erblickt hatte, muß mich ermutigthaben, denn ich entschloß mich, über den Verlustmeines Geldes mit ihm zu sprechen.

„Ich bin bestohlen worden", sagte ich zu ihm, als

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ich ihn bald darauf traf, wie er allein auf demAchterdeck auf und ab schritt.

„Herr", verbesserte er mich, nicht rauh, aberernst.

„Ich bin bestohlen worden, Herr", machte ichmeinen Fehler wieder gut.

„Wie ist das zugegangen?" fragte er.Da erzählte ich ihm die ganze Geschichte. Er

lächelte bei meinem Bericht. „Nebeneinnahmen",schloß er, „Köchleins Nebeneinnahmen. Finden Sienicht, daß Ihr Leben den Preis wert war? Nebenbei:Betrachten Sie es als eine Lehre. Lernen Sie,selbst auf Ihr Geld zu achten. Ich denke mir, daßdas bis jetzt ein Rechtsanwalt oder Geschäftsmannfür Sie besorgt hat."

Ich konnte einen heimlichen Spott aus seinenWorten heraushören, fragte jedoch: „Was kann ichtun, um es wiederzubekommen?"

„Das ist Ihre Sache. Jetzt haben Sie keinenRechtsanwalt oder geschäftlichen Berater, und damüssen Sie schon selbst für sich sorgen. Wenn Sieeinen Dollar bekommen, so halten Sie ihn fest. WerGeld herumliegen läßt, wie Sie es getan haben, derverdient es nicht besser, als daß er es verliert.Überdies haben Sie gesündigt. Sie haben keinRecht, Ihre Mitmenschen solchen Versuchungenauszusetzen. Sie haben Köchlein in Versuchunggeführt, und er ist ihr erlegen. Sie haben seineunsterbliche Seele in Gefahr gebracht. Nebenbei:Glauben Sie an die Unsterblichkeit der Seele?"

Seine Lider hoben sich langsam, als er die Fragestellte, und in der Tiefe seiner Augen, in die ich

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blickte, schien sich mir die Seele zu öffnen.Aber es war eine Täuschung. Kein Mensch hat

je wirklich die Tiefe von Wolf Larsens Seeleergründet - davon bin ich überzeugt. Es war einesehr einsame Seele, wie ich erfahren sollte, diesich nie ganz entschleierte, wenn sie es auch inseltenen Augenblicken zu tun vorgab.

„Ich lese Unsterblichkeit in Ihren Augen",antwortete ich, indem ich das „Herr" unterließ - einWagnis, das ich mit Hinblick auf die vertraulicheUnterredung versuchte.

Er achtete nicht darauf. „Sie sehen also etwas,das lebt, aber es ist nicht gegeben, daß es ewigleben wird."

„Ich sehe mehr als das", sagte ich kühn.„Dann sehen Sie Bewußtsein, Bewußtsein des

Lebens, das jetzt ist - aber immer noch keinkünftiges Leben, keine Endlosigkeit des Seins."

Wie klar er dachte, und wie gut er seineGedanken auszusprechen vermochte! Nach einemforschenden Blick auf mich wandte er den Kopf undschaute über das bleifarbene Meer in Luv. Kälte tratin seine Augen, und der Zug um seinen Mundwurde streng und herb. Offenbar war seineStimmung düster geworden.„Und zu welchemZweck?" fragte er plötzlich und wandte sich mirwieder zu. „Wenn ich eine unsterbliche Seele hätte- wozu?"

Ich zögerte. Wie sollte ich diesem Mannemeinen Idealismus verständlich machen? Wie sollteich ein reines Gefühl ausdrücken, etwa wie imSchlafe gehörte Musik, etwas, das überzeugend

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und doch unaussprechlich war? „Was glauben Siedenn?" lautete meine Gegenfrage.

„Ich glaube, daß das Leben ein wirresDurcheinander ist", erwiderte er. „Es ist wie Hefe,wie ein Ferment, etwas, das sich bewegt und sichvielleicht eine Minute, eine Stunde, ein Jahr oderhundert Jahre bewegen mag, das aber schließlichdoch aufhören wird, sich zu bewegen. Die Großenfressen die Kleinen, um sich die Kraft zurBewegung zu bewahren. Wer Glück hat, frißt ammeisten davon und bewegt sich am längsten, dasist alles. Was halten Sie davon?"

Er machte eine ungeduldige Armbewegung indie Richtung der Matrosen, die mittschiffs anirgendeinem Tauwerk arbeiteten. „Die bewegensich, aber das tut die Qualle auch. Sie bewegensich, um zu essen und sich weiter bewegen zukönnen. Da haben Sie's. Sie leben um ihresBauches willen und ihr Bauch um ihretwillen. Es istein Kreislauf. Es gibt kein Ziel, weder für sie nochfür die andern. Am Ende steht alles still. AlleBewegung hört auf. Sie sind tot."

„Sie haben Träume", unterbrach ich ihn,„strahlende, lichte Träume ..."

„Vom Essen", erklärte er kurz und bündig.„Und von..."„Mehr Essen. Von gutem Appetit und dem Glück,

ihn zu befriedigen." Seine Stimme klang rauh undschwer. „Denn sehen Sie, die Leute träumen vonglücklichen Reisen, die ihnen mehr Geld einbringensollen, träumen davon, Steuermann zu werden undReichtümer zu sammeln - kurz: besser imstande zu

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sein, ihre Mitgeschöpfe auszunutzen, guteNachtruhe zu haben, gutes Essen zu bekommenund die andern die schmutzige Arbeit für sich tunzu lassen. Sie und ich, wir sind genauso. Dereinzige Unterschied ist, daß wir mehr und bessergegessen haben. Jetzt bin ich es, der die andernverzehrt und Sie dazu. Aber bis jetzt haben Siemehr gegessen als ich. Sie haben in weichenBetten geschlafen, feine Kleider getragen und guteMahlzeiten gegessen. Wer hat diese Betten, dieseKleider und Mahlzeiten geschaffen? Sie nicht. Siehaben nie etwas im Schweiße Ihres Angesichtsgetan. Sie lebten von Einnahmen, die Ihr VaterIhnen geschaffen hatte. Sie glichen demFregattvogel, der auf den Tölpel niederstößt undihm den gefangenen Fisch entreißt. Sie gehören zudenen, die sich zu Herren über die anderenaufgeworfen haben und die Nahrung verzehren, dieandere erzeugen und selber essen möchten. Sietragen warme Kleidung. Andere haben dieseKleidung gemacht, aber die zittern in Lumpen undbitten Sie, Ihren Rechtsanwalt oderGeschäftsführer, ihnen etwas zu verdienen zugeben."

„Aber das hat doch nichts mit der Sache zu tun!"rief ich.

„Aber sehr!" Er sprach jetzt sehr schnell, undseine Augen blitzten. „Das ist Gemeinheit, und dasist Leben. Welchen Nutzen hätte die Unsterblichkeitwohl von der Gemeinheit, und welchen Sinn hättedas? Wie endet es? Wozu ist das alles? Sie habenkeine Nahrung erzeugt. Und doch hätte die

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Nahrung, die Sie verzehrt und vergeudet haben,zahlreiche Elende retten können, die sie erzeugen,aber nicht essen konnten. Welchem unsterblichenZiel haben Sie gedient? Oder die andern? SehenSie uns beide. Was nützt Ihnen Ihre geprieseneUnsterblichkeit, wenn Ihr Leben mit dem meinenzusammenstößt? Sie möchten gern an Landzurück, um Ihren Gemeinheiten zu frönen. Ich habeden scherzhaften Einfall, Sie hier an Bord meinesSchiffes zu behalten, wo meine Gemeinheit blüht.Und ich will Sie behalten. Ich will etwas aus Ihnenmachen oder Sie zum Teufel gehen lassen. Siekönnten heute noch sterben, diese Woche,nächsten Monat. Ich könnte Sie auf der Stelle miteinem Faustschlag töten, denn Sie sind ein elenderSchwächling. Sind wir aber unsterblich, wozu dannalles? Gemein zu sein, wie Sie und ich unserganzes Leben, scheint mir nicht recht zurUnsterblichkeit zu passen. Also sagen Sie: Wozudas alles? Warum habe ich Sie hierbehalten?"

„Weil Sie stärker sind", vermochte icheinzuschieben.

„Aber warum stärker?" fragte er weiter. „Weil ichein größeres Stück Ferment bin als Sie, sagen Sie?Verstehen Sie das nicht?"

„Aber das wäre hoffnungslos", protestierte ich.„Da stimme ich Ihnen zu", erwiderte er. „Warum

sich überhaupt bewegen, wenn Bewegung Lebenist? Bewegt man sich nicht, wäre man nicht ein Teilder Hefe, so gäbe es keine Hoffnungslosigkeit.Aber wir wollen eben leben und uns bewegen, weilsich bewegen zufällig das Wesen des Lebens

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ausmacht. Wäre dem nicht so, würde Leben Todsein. Und dieses Leben in Ihnen ist lebendig undwünscht in alle Ewigkeit weiterzuleben. Pah! Dieverewigte Gemeinheit!"

Er drehte sich kurz um und entfernte sich. Beider Kajütstreppe blieb er stehen und rief mich zusich. „Wieviel hat Köchlein Ihnen gemopst?" fragteer.

„Hundertfünfundachtzig Dollar, Herr", erwiderteich.

Er nickte.Als ich einen Augenblick später hinunterging, um

zum Mittagessen zu decken, hörte ich ihnmittschiffs ein paar Leute ausschelten.

Am nächsten Morgen hatte sich der Sturmgelegt, und die Ghost wiegte sich leicht auf einerruhigen See. Nur hin und wieder war ein leichterHauch zu spüren, und Wolf Larsen machteandauernd die Runde auf dem Achterdeck,während seine Augen unausgesetzt das Meer inNordost absuchten, von wo der Passat wehenmußte.

Alle Mann sind auf Deck beschäftigt, dieverschiedenen Boote für die Jagd instand zusetzen. Sieben Boote befinden sich an Bord, diekleine Jolle des Kapitäns und die sechs für dieJäger. Je drei Mann, ein Jäger, ein Ruderer und einSteuermann, bilden eine Bootsmannschaft. AnBord des Schoners gehören Ruderer undSteuermänner zur Besatzung. Auch die Jägermüssen sich an den Wachen beteiligen undunterstehen im übrigen immer den Befehlen Wolf

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Larsens. Alles dies und noch mehr habe ichgelernt.

Die Ghost gilt als der schnellste Schoner derFlotten von San Franzisko und Viktoria. Sie warursprünglich eine Privatjacht und besonders alsSchnellsegler gebaut. Ihre Linienführung und dieganze Einrichtung - wenn ich auch nichts davonverstehe - sprechen für sich selbst.

Johnson erzählte mir davon in einer kurzenUnterhaltung, die ich gestern während der zweitenHundewache mit ihm hatte. Er sprach von demschönen Fahrzeug mit derselben Liebe undBegeisterung, wie manche Menschen sie für Pferdehaben.

Wie Johnson mir erzählte, ist die Ghost einAchtzigtonnenschoner von einem besonders feinenTyp. Ihre größte Breite beträgt acht, ihre Längeetwas mehr als dreißig Meter. Ein Bleikiel vonunbekanntem, aber bedeutendem Gewicht machtsie sehr stabil, und sie trägt eine ungeheureSegelfläche.

Vom Deck bis zum Großmasttopp mißt sie runddreiunddreißig, während der Fockmast mit seinerBramstenge zwei oder drei Meter kürzer ist. Ichberichte diese Einzelheiten, um einen Begriff vonder Größe dieser kleinen schwimmenden Welt mitihren zweiundzwanzig Seelen zu geben. Es ist eineMiniaturwelt, ein Splitterchen, ein Punkt, und immerwieder wundere ich mich, daß Menschen sich miteinem so gebrechlichen kleinen Ding aufs Meerhinauswagen.

Wolf Larsen gilt als verwegener Seemann. Ich

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hörte Henderson und Standish, einen kalifornischenJäger, darüber reden. Vor zwei Jahren hatte er ineinem Orkan in der Beringsee die Masten derGhost kappen lassen, worauf die jetzigeneingesetzt wurden, die in jeder Beziehung stärkerund schwerer sind. Damals soll er gesagt haben, erwolle lieber kentern, als die neuen Hölzer verlieren.

Jedermann an Bord, mit Ausnahme Johansens,dem seine Beförderung zu Kopfe gestiegen ist,scheint eine Entschuldigung dafür zu haben, daß ersich an Bord der Ghost befindet. Fast die Hälfte derLeute im Vorschiff sind vorher auf Hochseeklipperngefahren, und sie entschuldigen sich damit, nichtsvon dem Schiff und seinem Kapitän gewußt zuhaben. Von den Jägern wird gemunkelt, daß sie, soausgezeichnete Schützen sie seien, wegen ihrerStreitsucht und verbrecherischen Neigungen keineHeuer auf einem anständigen Fahrzeug hättenfinden können.

Ich habe die Bekanntschaft eines andernMannes von der Besatzung gemacht - Louis heißter, ein Ire aus Neuschottland, ein freundlicher,gutmütiger und sehr verträglicher Bursche, derstets zu einer Unterhaltung bereit ist, sobald er nureinen Zuhörer finden kann.

Am Nachmittag, wenn der Koch unten seinMittagsschläfchen hält und ich meine ewigenKartoffeln schäle, kommt Louis zu einem langenPlausch in die Kombüse. Er entschuldigt seineAnwesenheit an Bord damit, daß er betrunken war,als er sich anheuern ließ. Immer wieder versicherter mir, daß er es nicht im Traum getan hätte, wenn

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er nüchtern gewesen wäre.Er scheint seit einem Dutzend Jahren

regelmäßig mit auf die Robbenjagd zu gehen undgilt als bester oder zweitbester Bootssteuermann inbeiden Flotten.

„Ach, mein Junge", er schüttelteunheilverkündend den Kopf, „du hast dir geradeden schlimmsten Schoner ausgesucht, und dabeiwarst du nicht einmal besoffen wie ich. Auf jedemSchiff ist die Robbenjagd ein Fest für die Matrosen.Der Steuermann war der erste, aber denk an mich:Es wird noch mehr Tote geben, ehe die Fahrt zuEnde ist. Es bleibt zwischen uns: Dieser WolfLarsen ist der Teufel selbst, und seit er die Ghostbekommen hat, ist sie ein Höllenschiff. Ich weißnoch gut, wie er vor zwei Jahren in Hakodate einenAnfall kriegte und vier von seinen Leutenniederschoß. Ich war ja keine dreihundert Meterdavon auf der Emma. Und im selben Jahreerschlug er einen Mann mit der bloßen Faust. Ja,schlug ihn tot, zerquetschte ihm den Kopf wie eineEierschale. Als ob ich das nicht wüßte! Ein Tier istdieser Wolf Larsen - die große Bestie in derOffenbarung Johannis! Er wird ein Ende mitSchrecken nehmen! Aber ich habe nichts gesagt,denk daran. Nicht einen Ton hab ich geflüstert,denn der alte dicke Louis möchte gern die Reiseüberleben, und wenn der letzte von euch zu denFischen geht. Wolf Larsen", setzte er einenAugenblick später hinzu. „Beachte das Wort, hörstdu: - Wolf - ein Wolf ist er. Er hat nicht einschwarzes Herz wie manche Menschen. Er hat

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überhaupt kein Herz. Ein richtiger Wolf ist er. Erträgt seinen Namen mit Recht!"

„Aber wenn er so berüchtigt ist", fragte ich, „wieist es dann möglich, daß er immer noch Leutebekommt?"

„Wie ist es möglich, daß man überhaupt Leutebekommt, um irgend etwas auf Gottes Welt zutun?" fragte Louis mit keltischem Feuer. „Würde ichan Bord sein, wenn ich nicht viehisch besoffengewesen wäre, als ich unterschrieb? Manche, wiedie Jäger, können nicht mehr auf besseren Bootenunterkommen, und manche, wie die armen Teufelvorn, wußten es nicht besser. Aber sie werdenschon darauf kommen und werden den Tagverfluchen, an dem sie geboren sind. Ich könnteweinen über die armen Menschen, hätte ich nichtgenug an den armen alten Louis und dieUnannehmlichkeiten zu denken, die seiner nochwarten. Aber ich habe keinen Ton gesagt, denkdaran, keinen Ton! Die Jäger sind schlechte Kerle",brach er wieder los, denn wenn er einmal im Redenwar, konnte er so bald nicht aufhören. „Aber wart'snur ab! Wenn sie betrunken sind und aus reinemVergnügen zu streiten anfangen - er wird mit ihnenfertig. Er wird sie schon Gottesfurcht lehren! Siehmal meinen Jäger, Horner. ,Mord-Horner' nennensie ihn, und er sieht so ruhig und umgänglich ausund spricht so sanft wie ein Mädchen, daß manglaubt, die Butter könne ihm nicht im Mundeschmelzen. Und hat er nicht letztes Jahr seinenBootssteuermann getötet? Unglücksfall, sagte man,aber ich traf den Bootspuller in Yokohama, und der

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hat mir die Wahrheit erzählt. Und Smoke, derschwarze kleine Kerl - steckten ihn die Russennicht drei Jahre in die sibirischen Salzminen, weil erauf Copper Island gewildert hatte - ein Privileg derRussen? Mit Händen und Füßen war er an seineKameraden gefesselt. Und kamen sie nicht dochins Raufen? Und kam der andere nicht stückweiseim Eimer oder zur Mine heraus: heute ein Bein,morgen ein Arm, am nächsten Tage der Kopf undso weiter?"

„Aber das ist doch nicht möglich!" schrie ich, vonEntsetzen überwältigt.

„Nicht möglich?" fuhr er blitzschnell fort. „Ichhabe nichts gesagt. Ich bin taub und stumm, undwenn du deine Mutter liebhast, bist du's auch. Niehab ich den Mund aufgemacht, um etwas anderesals Gutes und Schönes über ihn und die andern zusagen. Gott verdamm seine Seele! Möge erzehntausend Jahre im Fegefeuer schmoren unddann in die allertiefste Hölle kommen."

Johnson, der Mann, der mir die Haut abgeriebenhatte, als ich an Bord kam, schien mir von allenLeuten, vorn und achtern, der am wenigstenzweifelhafte. Es war tatsächlich gar nichtsZweifelhaftes an ihm. Seine Offenheit undMännlichkeit waren auf den ersten Blicküberzeugend, und dazu kam eine Bescheidenheit,die man leicht für Schüchternheit halten konnte.

Aber schüchtern war er nicht. Er hatte vielmehrden Mut der Überzeugung, die Sicherheit seinerMännlichkeit. Das war es, was ihn gleich zu Beginnunserer Bekanntschaft gegen die falsche

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Aussprache seines Namens hatte protestierenlassen.

Louis sprach über ihn und prophezeite: „Das istein Prachtkerl, dieser Johnson", sagte er. „Unserbester Seemann und mein Puller. Aber er und WolfLarsen werden aneinandergeraten, so sicher wiezwei mal zwei vier ist. Das weiß ich. Ich kann denSturm schon aufziehen sehen. Der Wolf ist stark,und es ist die Art des Wolfes, Stärke bei andern zuhassen. Und Stärke findet er bei Johnson - keinKriechen, kein Jawohl, Herr, ergebensten Dank,Herr' für ein Schimpfwort oder einen Faustschlag.Ja, es kommt, es kommt! Und Gott weiß, wo icheinen andern Puller hernehmen soll! Was tut derNarr, als der Alte ihn Yonson nennt? ,Ich heißeJohnson, Herr', und buchstabiert ihm den Namenvor. Du hättest das Gesicht des Alten sehen sollen!Ich dachte schon, er würde auf der Stelle über ihnherfallen. Er tat es nicht, aber er wird es tun, und erwird diesem Dickschädel das Licht ausblasen, oderich kenne meine Leute nicht."

Thomas Mugridge wird unerträglich. Bei jederAnrede muß ich „Herr" zu ihm sagen. Bei seinemVerhalten dürfte eine Rolle spielen, daß WolfLarsen eine Vorliebe für ihn gefaßt hat. Es ist wohlunerhört, daß ein Kapitän auf vertrautem Fuße mitseinem Koch steht, aber Wolf Larsen tut es. Zwei-oder dreimal hat er schon den Kopf zur Kombüsehereingesteckt und Mugridge gutmütig geneckt,und heute nachmittag standen sie eine volleViertelstunde auf dem Achterdeck und unterhieltensich. Als der Koch wieder in die Kombüse trat,

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glänzte sein Gesicht, als wäre es mit Fetteingeschmiert, und er sang zu seiner Arbeit sofalsch, daß es herzzerreißend war.

Er war tatsächlich der ekelhafteste,widerwärtigste Mensch, den ich je getroffen habe.Seine Kocherei war eine unbeschreiblicheSchweinerei, und da er alles kochte, was an Bordgegessen wurde, mußte ich mir mit allergrößterVorsicht das am wenigsten Schmutzige aus demFraß heraussuchen.

Ich war nicht gewohnt zu arbeiten, und meineHände schmerzten sehr. Die Nägel wurdenschwarz und die Haut so schmutzig, daß selbsteine Scheuerbürste sie nicht mehr reinigen konnte.Immer neue Blasen schmerzten, und dazu hatte icheine große Brandwunde am Unterarm, die ich mirzugezogen hatte, als ich einmal beim Rollen desSchiffes das Gleichgewicht verlor und gegen denHerd geschleudert wurde. Mein Knie hatte sichnoch nicht gebessert. Es war immer nochgeschwollen. Das Herumhumpeln von früh bis indie Nacht war nicht dazu angetan, es zu heilen.Wenn es überhaupt besser werden sollte, mußteich Ruhe haben.

Ruhe! Nie zuvor hatte ich den Sinn diesesWortes verstanden. Ohne es zu wissen, hatte ichmein ganzes Leben geruht. Aber jetzt! Hätte ich nureine halbe Stunde stillsitzen können, ohne etwas zutun, ja, ohne zu denken - es wäre das Schönstevon der Welt für mich gewesen. Aber es war docheine Offenbarung für mich.

Jetzt wäre ich besser imstande, das Leben eines

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Arbeiters zu würdigen.Es gibt Anzeichen von zunehmender

Mißstimmung im Zwischendeck, und es heißt, daßschon eine Prügelei zwischen Smoke undHenderson stattgefunden habe. Henderson scheintder beste von den Jägern zu sein, ein besonnenerBursche, der schwer aus der Ruhe zu bringen ist.Diesmal muß er aber sehr erbost gewesen sein,denn als Smoke zum Abendbrot in die Kajüte kam,hatte er ein blaues Auge und sah bös aus.

Gerade vor dem Abendbrot hatte sich auf Decketwas ereignet, das für die Gefühllosigkeit undRoheit dieser Männer bezeichnend ist. Unter derMannschaft befindet sich ein junger Menschnamens Harrison, ein plump aussehenderBauernbursche, der, vermutlich von Abenteuerlustgetrieben, seine erste Seereise macht. In demleichten veränderlichen Wind laviert der Schonerziemlich viel, und dann muß jedesmal ein Mannnach oben gehen, um das vordere Gaffeltoppsegelumzulegen.

Irgendwie hatte sich nun, als Harrison oben war,die Schot im Block am Ende der Gaffelfestgeklemmt. Soviel ich verstand, gab es zweiMöglichkeiten, sie loszubekommen - erstens, dasSegel herunterzufieren, was verhältnismäßig leichtund gefahrlos war, zweitens auf der Piek bis zumEnde der Gaffel hinauszuklettern, ein gewagtesUnternehmen. Johansen rief Harrison zu, er sollehinausklettern.

Alle sahen, daß der Junge Angst hatte, und dazuhatte er alle Ursache: fünfundzwanzig Meter über

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dem Deck und nichts, um sich festzuhalten, als diesdünne, ruckweise hin und her geschleuderte Tau!Hätte ein stetiger Wind geweht, so würdees nichtso schlimm gewesen sein, aber die Ghost rollteohne Ladung in der Dünung, und bei jedemÜberholen gerieten die Segel in schwingendeBewegung und schlugen, und die Falle wurdenschlaff und dann mit einem Ruck wieder straff. Sievermochten einen Mann hinunterzufegen wie einePeitschenschnur eine Fliege.

Harrison hörte den Befehl und verstand, wasman von ihm verlangte, zögerte jedoch. Vermutlichwar er das erstemal in seinem Leben in derTakelung. Johansen, von Wolf LarsensHerrschsucht angesteckt, brach in einen Strom vonFlüchen aus.

„Genug, Johansen", sagte der Kapitän schroff,„das Fluchen auf dem Schiff besorge ich selbst,daß Sie und alle es wissen. Wenn ich Ihre Hilfebrauche, werde ich Sie rufen."

„Jawohl, Herr", antwortete der Steuermannunterwürfig.

Unterdessen war Harrison auf das Fallhinausgeklettert. Ich blickte durch die Kombüsentürhinauf und konnte sehen, wie er zitterte, als wärenihm alle Glieder vom Schüttelfrost gepackt. Erkroch ganz langsam und vorsichtig, Zentimeter umZentimeter. Von dem klaren Blau des Himmels hober sich ab wie eine Riesenspinne, die an ihremNetzwerk entlangkriecht.

Er mußte leicht aufwärts klettern, denn dasSegel stand nach oben. Das Fall, das durch

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verschiedene Blöcke an Gaffel und Mast lief, gabihm einige Stützpunkte für Hände und Füße.

Aber das schlimmste war, daß der Wind nichtkräftig und stetig genug wehte, um das Segel zublähen. Als er sich etwa in der Mitte befand, machtedie Ghost eine Schlingerbewegung nach Luv undwieder zurück in ein Wellental. Harrison hielt inneund klammerte sich fest. Fünfundzwanzig Meterunter ihm konnte ich seine krampfhaftenMuskelbewegungen sehen: Er kämpfte um seinLeben. Das Segel wurde schlaff und schwangmittschiffs. Das Fall gab nach, und obgleich sichdas alles mit großer Schnelligkeit abspielte, konnteich doch sehen, wie es unter seinem Körpergewichtdurchsackte.

Dann schwang die Gaffel mit einem Ruck zurSeite, das große Segel schwoll mit einemDonnerschlag, und die dreifache Reihe vonReffbändsein klatschte wie eine Gewehrsalvegegen die Leinwand.

Harrison sauste, immer noch festgeklammert,durch die Luft, aber das Fall straffte sich wieder miteinem scharfen Ruck. Es war wie einPeitschenhieb. Da verlor er den Halt. Die eine Handwurde losgerissen, die andere krampfte sich einenAugenblick verzweifelt fest, dann folgte auch sie.Der Körper sauste abwärts, aber glücklicherweiseblieb er mit den Füßen hängen. Durch eine schnelleBewegung gelang es ihm, das Fall zu packen, aberes dauerte lange, bis er sich wiederhochgeschwungen hatte. Da hing er - ein kläglicherAnblick.

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„Wetten, daß ihm heute das Abendbrot nichtschmecken wird", hörte ich Wolf Larsen sagen,dessen Stimme um die Ecke der Kombüse zu mirdrang. „Johansen, abhalten! Passen Sie auf! Jetztkommt die Bö!"

Harrison mußte sich sehr elend fühlen. Langeklammerte er sich an seinen schwankenden Halt,ohne auch nur einen Versuch zu machen, sich zubewegen. Aber Johansen trieb ihn an, seineAufgabe zu vollenden. „Es ist eine Schande!" hörteich Johnson in langsamem, aber korrektemEnglisch knurren. Er stand beim Großmast, ganznahe bei mir. „Der Junge hat guten Willen. Mit derZeit wird er es schon lernen. Aber das ist ..." Ermachte eine Atempause und beendete dann seinUrteil: „Mord!"

„Willst du still sein!" flüsterte Louis ihm zu.„Wenn dir dein Leben lieb ist, so halt den Mund."

Aber Johnson knurrte weiter.Der Jäger Standish sagte zu Wolf Larsen: „Er ist

mein Puller, und ich möchte ihn nicht verlieren."„Stimmt, Standish", lautete die Antwort. „Wenn

du ihn im Boot hast, ist er dein Ruderer, solange ichihn aber hier an Bord habe, ist er mein Matrose,und da mache ich mit ihm, was mir gefällt."

„Aber das ist doch kein Grund ...", begannStandish erregt.„Es ist gut", unterbrach ihn WolfLarsen. „Ich habe meine Meinung gesagt, unddamit genug. Der Mann gehört mir, und wenn esmir paßt, kann ich Suppe aus ihm kochen und sieessen."

Die Augen des Jägers funkelten zornig, aber er

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drehte sich um und ging die Treppe zumZwischendeck hinab, wo er stehenblieb undhinaufsah. Alle Mann befanden sich an Deck, undalle Augen waren nach oben gerichtet, wo es umLeben oder Tod ging. Die Gefühllosigkeit dieserMenschen war entsetzlich.

Ich, der ich abseits vom Trubel der Welt gelebthatte, hätte mir nie träumen lassen, daß esdraußen so zuging. Das Leben war mir stets alsetwas besonders Heiliges erschienen, und hier galtes nichts, war nur eine Ziffer in einer geschäftlichenBerechnung. Ich muß gestehen, daß mancheMatrosen doch Mitgefühl empfanden, wie Johnsonzum Beispiel, aber die Vorgesetzten - die Jäger undder Kapitän - waren ganz herzlos. Selbst derEinspruch Standishs war nur dem Wunscheentsprungen, seinen Bootspuller nicht zu verlieren.Hätte es sich um den Ruderer eines anderenJägers gehandelt, so würde er sich wie sie darüberbelustigt haben. Doch zurück zu Harrison!Johansen schmähte und beleidigte den armen Kerl,aber es dauerte volle zehn Minuten, bis er ihnwieder in Bewegung gebracht hatte. Kurz daraufhatte er das Ende der Gaffel erreicht, wo er sich,auf der Spiere reitend, besser festhalten konnte. Ermachte die Schot klar und hätte nun am Fallentlang zum Mast zurückklettern können.

Aber er hatte den Kopf verloren. So unsicherseine jetzige Lage war, wollte er sie doch nicht mitder noch unsichereren auf dem Fall vertauschen.

Er blickte auf den luftigen Weg, den er passierensollte, und dann hinunter aufs Deck. Noch nie hatte

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ich so viel Furcht auf dem Gesicht eines Menschengesehen. Vergebens rief Johansen, daß erherunterkommen solle. Jeden Augenblick konnte ervon der Gaffel geschleudert werden, aber er warhilflos vor Angst.

Wolf Larsen, der, in eine Unterhaltung mitSmoke vertieft, auf und nieder schritt, nahm keineNotiz von ihm, nur rief er dem Mann am Rad einmalscharf zu: „Du bist aus dem Kurs, Mann! Paß auf,daß du dir keine Unannehmlichkeiten zuziehst!"

„Jawohl, Herr", erwiderte der Rudergast unddrehte das Rad. Er hatte die Ghost ein paar Strichaus dem Kurs gebracht, damit das bißchen Winddas Vorsegel füllen und prall halten konnte.

Er hatte dem unglückseligen Harrison helfenwollen, auf die Gefahr hin, Wolf Larsens Zornheraufzubeschwören.

Die Zeit verging, und für mich war dieAnspannung furchtbar. Thomas Mugridge hingegenfand die Geschichte außerordentlich lustig, ersteckte fortwährend den Kopf zur Kombüse heraus,um scherzhafte Bemerkungen zu machen.

Wie ich ihn haßte! Und wie mein Haß in diesenbangen Minuten ins Riesenhafte wuchs! Zumerstenmal in meinem Leben verspürte ich die Lustzu morden. Mochte Leben im allgemeinen etwasHeiliges sein - für Thomas Mugridge galt mir diesnicht mehr. Ich war entsetzt, als ich mir darüber klarwurde, und durch mein Hirn fuhr der Gedanke: Warich auch von der Roheit meiner Umgebungangesteckt? Ich, der ich selbst für dieabscheulichsten Verbrechen die Berechtigung der

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Todesstrafe geleugnet hatte? Wohl eine halbeStunde verging.

Da sah ich Johnson in einem Wortwechsel mitLouis. Er endete damit, daß Johnson den Arm desandern, der ihn halten wollte, beiseite schob undnach vorn ging. Er überquerte das Deck, sprang indie Takelung und begann zu klettern. Aber dasschnelle Auge Wolf Larsens hatte ihn erfaßt. „Hallo,Mann, wohin?" rief er.

Johnson hielt im Klettern inne. Er blickte seinemKapitän in die Augen und sagte langsam: „Ich willden Jungen herunterholen."

„Du wirst herunterkommen, und das ein bißchenplötzlich. Verstanden? Runter!" Johnson zögerte,aber der langjährige unbedingte Gehorsam gegenden Herrn des Schiffes übermannte ihn, er glitt aufsDeck herab und ging nach vorn.

Um halb sechs ging ich hinunter, um denKajütentisch zu decken, aber ich wußte kaum, wasich tat, denn immer sah ich den totenbleichen,zitternden Menschen vor mir, der sich wie ein Käferan die Gaffel klammerte. Als ich um sechs Uhr anDeck kam, um das Abendbrot aufzutragen, sah ichHarrison immer noch in derselben Lage. DieUnterhaltung bei Tisch drehte sich um andereDinge.

Kein einziger schien sich für das so grundlosgefährdete Leben zu interessieren. Als ich abernoch einmal in die Kombüse mußte, sah ich zumeiner Freude Harrison nach der Back wanken. Erhatte endlich den Mut zum Herunterkletterngefunden.

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Ehe ich diesen Gegenstand verlasse, muß icheine Unterhaltung berichten, die ich mit Wolf Larsenhatte.

„Sie sahen sehr schlecht aus heute nachmittag",begann er. „Was fehlte Ihnen?"

Er wußte natürlich gut, was mich beinahe soelend wie Harrison gemacht hatte, er wollte michnur reizen.

Ich antwortete knapp: „Es war die roheBehandlung des Jungen."

Er lachte: „Wohl eher Seekrankheit. Der einekriegt sie, der andere nicht."

„Nein, das war es nicht", antwortete ich.„Doch gewiß", fuhr er fort. „Die Erde ist so voller

Roheit wie das Meer voller Bewegung. Manchenmacht dies krank, manchen jenes. Das ist alles."

„Aber Sie, der Sie Spott mit Menschenlebentreiben, messen Sie dem Leben gar keinen Wertbei?" fragte ich.

„Wert? Was für Wert?" Er sah mich an, undobwohl seine Augen ruhig und unbeweglich waren,erschien doch ein zynisches Lächeln in ihnen. „Wasfür einen Wert? Wie ermessen Sie es? Wer schätztes?"

„Ich selbst", gab ich zur Antwort.„Wieviel ist es Ihnen denn wert? Das Leben

eines anderen, meine ich. Nun, heraus damit! Wasist es wert?"

Der Wert des Lebens? Wie konnte ich demLeben einen greifbaren Wert beilegen?Merkwürdig: Irgendwie fehlte mir, der ich sonst nieum Worte verlegen war, der Ausdruck, wenn ich mit

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Wolf Larsen verhandelte. Ich bin später zu derErkenntnis gelangt, daß teilweise die Persönlichkeitdes Mannes, zum größten Teil aber seine völligandere Einstellung schuld daran waren.

Im Gegensatz zu andern Materialisten, die ichgetroffen habe und mit denen ich doch denselbenAusgangspunkt teilen konnte, hatte ich mit ihmnichts gemein. Vielleicht war es auch dieelementare Einfachheit seines Denkens, die michverwirrte. So direkt ging er stets auf den Kern einerSache los, entblößte eine Frage von allemüberflüssigen Beiwerk, und das mit solcherEntschiedenheit, daß ich mir vorkam, als kämpfteich in tiefem Wasser ohne Grund unter den Füßen.Der Wert des Lebens? Wie sollte ich eine solcheFrage stehenden Fußes beantworten?

Die Heiligkeit des Lebens war für mich immeretwas Gegebenes gewesen. Daß es einen Wertbesaß, war eine Wahrheit, die ich nie bezweifelthatte. Und als er diese offenbare Wahrheit jetztanfocht, war ich ratlos.

„Wir sprachen gestern davon", sagte er. „Ichbehauptete, das Leben sei ein Gärstoff, einFerment, das Leben fräße, um selbst leben zukönnen, und das Leben sei nichts als erfolgreichsteGemeinheit. Nun, wenn es auf Angebot undNachfrage ankommt, so ist das Leben das Billigsteauf der Welt. Es gibt soundso viel Wasser, soundsoviel Erde, soundso viel Luft, aber Leben, dasgeboren werden möchte, gibt es zur Unendlichkeit.Die Natur ist eine Verschwenderin. Denken Sie andie Fische und ihre Millionen von Eiern. Denken Sie

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an mich oder sich. In unsern Lenden ruhenMöglichkeiten für Millionen von Leben. Hätten wirnur Zeit und Gelegenheit, um jedes bißchenungeborenen Lebens in uns auszunutzen, wirwürden die Väter von Nationen werden undKontinente bevölkern. Leben? Pah! Es hat keinenWert. Von allem, was billig ist, ist Leben dasbilligste. Überall geht es betteln. Die Natur streut esverschwenderisch aus. Wo Raum für ein Leben ist,sät sie tausend, und Leben frißt Leben, bis nur dasstärkste und gemeinste übrigbleibt."

„Sie haben Darwin gelesen", sagte ich, „aber Siehaben ihn mißverstanden, wenn Sie den Schlußziehen, daß der Kampf ums Dasein Ihr mutwilligesVernichten von Leben rechtfertigt."

Er zuckte die Achseln. „Sie wissen wohl, daß Siedabei nur an das menschliche Leben denken, dennauf Fleisch, auf Geflügel und Fische verzichten Siesowenig wie ich oder sonstjemand. Undmenschliches Leben unterscheidet sich in keinerBeziehung von tierischem. Warum sollte ichsparsam sein mit diesem Leben, das so billig undwertlos ist? Es gibt mehr Matrosen als Schiffe fürsie auf dem Meer, mehr Arbeiter als Maschinen fürsie."

Er schritt nach der Kajütstreppe, drehte abernochmals den Kopf, um ein letztes Wort zu sagen.„Wissen Sie, welches der einzige Wert des Lebensist? Den es sich selbst zulegt. Und das ist natürlicheine Überschätzung, eine Bewertung in eigenerSache. Nehmen Sie den Mann, den ich nach obengehen ließ. Er klammerte sich an, als wäre er etwas

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überaus Wertvolles, ein Schatz, wertvoller alsDiamanten und Rubine. Für Sie? Nein. Für mich?Keineswegs. Für ihn selbst? Ja. Aber ich macheseine Schätzung nicht mit. Er überschätzt sichmaßlos. Es gibt unendlich viel Leben, das geborenwerden möchte. Wäre er heruntergestürzt und seinHirn wie Honig aus einer Wabe aufs Deck getropft,die Welt würde keinen Verlust erlitten haben. DerWelt galt er nichts. Das Angebot ist zu groß.Lediglich für sich selbst besaß er einen Wert. Erallein schätzt sich höher ein als Diamanten undRubine. Die Diamanten und Rubine sind fort, aufDeck verschüttet, um von einem Eimer Seewasserweggespült zu werden - und er weiß nicht einmal,daß Diamanten und Rubine fort sind. Er verliertnichts, denn mit dem Verlust seiner selbst verliert erdas

Bewußtsein seines Verlustes. Nicht wahr? Nun,was sagen Sie dazu?"

„Daß Sie jedenfalls folgerichtig handeln" waralles, was ich sagen konnte, und dann machte ichmich wieder ans Abwaschen.

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Viertes KapitelNach drei Tagen wechselnden Windes waren wir

endlich in den Nordostpassat gekommen. Trotzmeines lädierten Knies hatte ich gut geschlafen,und als ich jetzt das Deck betrat, fand ich die Ghostmit vollen Segeln vor einem frischen Windevorwärts jagend. O dieser wunderbare, mächtigePassat! Den ganzen Tag segelten wir, die ganzeNacht, den nächsten Tag und die nächste Nachtund wieder Tag um Tag, immer vor demselbenstetigen, starken Wind. Der Schoner segelte ganzvon selbst. Es gab kein Heißen und Holen vonLeinen und Schoten, kein Umlegen der Toppsegel,keine andere Arbeit für die Matrosen, als zusteuern. Nachts, wenn die Sonne untergegangenwar, wurden die Segel gelockert, wenn morgensdann der Tau verdampfte, wurden sie wiederangezogen - das war alles.

Abwechselnd zehn, zwölf, elf Knoten ist dieGeschwindigkeit, mit der wir fahren. Und immer ausNordost bläst der brave Wind, der uns vonMorgengrauen bis Morgengrauenzweihundertundfünfzig Meilen weit auf unserm Kurstreibt. Sie stimmt mich trübe und wieder froh, dieseEile, mit der wir San Franzisko hinter uns lassenund hinab in die Tropen schäumen. Mit jedem Tagwird es fühlbar wärmer. In der zweitenHundewache kommen die Matrosen nackt an Deckund begießen sich eimerweise mit Wasser.Fliegende Fische zeigen sich schon, und nachtsversucht die Wache, die auf Deck gefallenen zu

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fangen. Thomas Mugridge hat seine obligateBestechung bekommen. So steigt aus derKombüse der herrliche Duft von gebratenenfliegenden Fischen, während vorn und achternDelphinfleisch aufgetischt wird. Johnson hat dieschimmernden schönen Tiere von der Spitze desBugspriets aus gespeert. Johnson verbringt fast dieganze Zeit dort oder hoch oben in der Saling undbeobachtet die Ghost, wie sie das Wasser unterdem Druck ihrer Segel durchschneidet.Leidenschaft und Bewunderung leuchten ausseinen Augen, und in einer Art Verzückung starrt erauf die schwellenden Segel, das schäumendeKielwasser und das Heben und Senken über dienassen Berge, die majestätisch unserer Bahnfolgen.

Tage und Nächte sind ein Wunder und wildesEntzücken, und obgleich meine traurige Arbeit mirnur wenig Zeit läßt, stehle ich mir doch hier und daeinen Augenblick, um immer wieder auf dieunendliche Pracht zu schauen, die in der Welt zufinden ich mir nicht hätte träumen lassen. DerHimmel droben ist fleckenlos blau - blau wie dasMeer selbst, das unter dem Bug wie azurfarbenerAtlas schimmert. Auf allen Seiten stehen amHorizont blasse Wolkenlämmer, unbeweglich,unveränderlich, wie eine Silberfassung um denmakellosen Himmelstürkis.

Eine Nacht werde ich nie vergessen. Ich hätteschlafen sollen, lag jedoch auf der Back und blicktehinab auf das geisterhafte Schaumgekräusel, dasder Bug der Ghost beiseite schob. Es klang wie das

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Rieseln eines Bächleins über bemooste Steine ineinem stillen Tal, und das leise Murmelnverzauberte mich und ließ mich vergessen, daß ichHump, der Kajütsjunge, daß ich van Weyden war,der Mann, der fünfunddreißig Jahre zwischenBüchern verträumt hatte. Aber eine Stimme hintermir rief mich in die Wirklichkeit zurück. Es war diewohlbekannte Stimme Wolf Larsens, stark wie dieunüberwindliche Sicherheit des Mannes und dochweich wie die Worte, die er sprach:

„Oh, die Tropennacht! Sie glüht,Und das Meer von Funken sprühtUnd den Himmel kühlt.Stetig zieht der Bug voran seine sternbesäte

Bahn,Wo der Wal, der wilde, spielt.Zernarbt von der Sonne dein Rumpf ist, mein

Schiff,Deine Falle sind straff vor Tau.Denn wir fahren unseren alten Kurs, unseren

eigenen Kurs,Fern von den andern.Denn wir fahren, denn wir wandern, unsern

großen Kurs,Den südlichen Kurs in das ewige Blau."

„Na, Hump? Wie gefällt Ihnen das?" fragte ernach einer angemessenen, durch Worte undSituation bedingten Pause.

Ich sah ihm ins Gesicht. Es glühte von Licht wiedas Meer selbst, und seine Augen schimmerten im

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Sternenschein.„Ich bin, offen gestanden, ganz erstaunt über

Ihre Begeisterung", erwiderte ich kalt.„Ja, Mann, das ist das Leben! Das Leben selbst!"

rief er.„Das eine billige Ware ohne Wert ist", gab ich

ihm mit seinen eigenen Worten zurück.Er lachte, und es war das erstemal, daß ich eine

ehrliche Lustigkeit in seiner Stimme hörte.„Sie wollen also nicht verstehen, was Leben

heißt; ich kann es Ihnen nicht in den Schädelhämmern! Natürlich ist das Leben wertlos, nur nichtfür einen selber. Und ich kann Ihnen sagen, daßmein Leben jetzt gerade recht wertvoll ist - für mich.Es ist um keinen Preis zu kaufen, was Sie sicher fürmaßlose Überschätzung halten werden. Aber ichkann nichts dafür, denn es ist eben das Leben inmir, das den Wert bestimmt." Er schien nachWorten zu suchen, um seine Gedankenauszudrücken, und fuhr dann fort: „Wissen Sie, ichbin seltsam gehoben. Die ganze Zeit fühle ich einenWiderhall in mir, als wäre alle Macht der Welt mein.Ich erkenne die Wahrheit, ich kann göttlich Gutesvon Bösem, Recht von Unrecht unterscheiden. Ichsehe weit und klar. Fast könnte ich an Gottglauben. Aber", seine Stimme veränderte sich, unddas Licht erlosch auf seinem Antlitz, „was ist das fürein Zustand, in dem ich mich befinde? DieseLebensfreude? Dieser Triumph des Lebens? DieseInspiration, wie ich es wohl

nennen darf? Das ist etwas, das kommt, wenndie Verdauung nicht gestört, wenn der Magen in

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Ordnung, der Appetit gut ist und der ganzeOrganismus richtig funktioniert. Es ist eineBestechung des Lebens, Champagner des Blutes,das Aufwallen des Ferments - manchen gibt esheilige Gedanken ein, andere läßt es Gott sehenoder, wenn sie ihn nicht sehen, erschaffen. Das istalles - der Rausch des Lebens, das Aufbrausen desGärstoffes, das Murmeln des Lebens, das trunkenist von dem Bewußtsein zu leben. Und - pah!Morgen muß ich dafür zahlen, wie der Säuferzahlen muß. Morgen weiß ich, daß ich sterbenmuß, höchstwahrscheinlich auf dem Meere, daß ichnicht mehr selbsttätig kriechen, daß ich mich nurnoch in Fäulnis bewegen werde mit denBewegungen der See, daß ich gefressen werde,um alle Kraft und Beweglichkeit meiner Muskeln zuverwandeln in die Kraft und Beweglichkeit vonFlossen, Schuppen und Eingeweiden der Fische.Pah! Schon ist der Champagner schal geworden.Das Funkeln und Prickeln ist vorbei, und es ist einfades Gesöff."

Er verließ mich ebenso plötzlich, wie ergekommen, lautlos mit der Leichtigkeit einesTigers. Die Ghost pflügte sich ihren Weg. DasGurgeln am Bug tönte wie Schnarchen, und als ichdarauf lauschte, da verließ mich allmählich derEindruck, den Wolf Larsens rascher Wechsel vonhoher Begeisterung zu tiefer Verzweiflung auf michgemacht hatte. Dann erklang mittschiffs der kräftigeTenor eines Matrosen, der das „Lied des Passats"sang:

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Ich bin der Wind, den der Seemann liebt -Ich bin die Stärke und Treue,Er folgt meiner Spur in den Wolken hoch,Über die unergründliche Bläue.Durch Licht und Dunkel folg ich der SpurDes Schiffes wie ein Hund.Morgens und mittags und mitternachtsBlas ich die Segel ihm rund.

Manchmal glaube ich, daß Wolf Larsen verrücktoder doch wenigstens nicht ganz richtig ist wegenseiner seltsamen Launen und Grillen. Dann wiederhalte ich ihn für einen großen Menschen, für einGenie, das sein Ziel verfehlt hat. Und schließlichbin ich überzeugt, daß er der Urtyp des primitivenMenschen ist, Jahrtausende zu spät geboren.Sicherlich ist er ein ausgesprochener Ideenmensch.Und dazu ist er sehr einsam.

Seine gewaltige Männlichkeit und Geisteskraftverleihen ihm eine Sonderstellung. Es bestehtkeine geistige Gemeinschaft zwischen ihm und denanderen Männern an Bord. Um einen seinerHinfalle zu zeigen, will ich erzählen, was ThomasMugridge in der Kajüte zustieß. Ich vervollständigedamit gleichzeitig den Bericht über dieAngelegenheit, die ich schon zweimal berührt habe.Eines Tages, gleich nach dem Essen, als ich ebenmit dem Abwaschen fertig war, kamen Wolf Larsenund Thomas Mugridge die Treppe herunter. Sonstwagte sich der Koch nicht in die Kajüte. War erdazu gezwungen, um zu seiner Koje zu gelangen,so flitzte er wie ein furchtsames Gespenst hindurch.

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„So, du kannst also ,Nap' spielen!" sagte WolfLarsen vergnügt. „Ich hätte mir denken können,daß ein Engländer das Spiel kennt. Ich hab esselbst auf englischen Schiffen gelernt."

Thomas Mugridge war außer sich vor Freude,daß er sich an einen Tisch mit dem Kapitän setzendurfte. Sein Dünkel und seine peinlichenAnstrengungen, sich die ungezwungene Haltungeines Mannes zu geben, der von Geburt für einenwürdigen Platz im Leben ausersehen ist, würdenekelerregend gewesen sein, hätten sie nicht solächerlich gewirkt. Meine Gegenwart ignorierte ervöllig, wobei ich ihm jedoch zugute halten will, daßer einfach nicht imstande war, mich zu sehen.Seine blassen, wäßrigen Augen schwammen inVerzückung, wenn mir auch unerfindlich war, wasfür selige Visionen er haben mochte.

„Hol die Karten, Hump!" befahl Wolf Larsen, alssie am Tisch Platz nahmen. „Und bring Zigarrenund Whiskey aus meiner Koje."

Als ich wiederkam, hörte ich gerade, wie derCockney sich in Andeutungen erging, daß einGeheimnis über ihm läge: Er sei sicher der Sohneines vornehmen Herrn, und er bekäme Geld,wogegen er sich hätte verpflichten müssen,England nicht wieder zu betreten. „Schönes Geld,Herr", drückte er sich aus, „schönes Geld, damit ichmich packe und wegbleibe."

Ich hatte die gewohnten Schnapsgläsergebracht, aber Wolf Larsen runzelte die Stirn,schüttelte den Kopf und gab mir einen Wink, daßich Wassergläser bringen sollte. Ich füllte sie zu

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zwei Drittel mit unvermischtem Whiskey - „einGentlemangetränk", sagte Thomas Mugridge -, siestießen auf gutes Spiel an, steckten sich Zigarrenan und begannen dann, die Karten zu mischen undauszuteilen.

Sie spielten um Geld. Sie erhöhten die Einsätze.Sie tranken Whiskey und leerten die Gläser, undich holte mehr. Ich weiß nicht, ob Wolf Larsenbetrog oder nicht - er wäre sicher fähig dazugewesen -, aber jedenfalls gewann er andauernd.Der Koch machte wiederholt einen Abstecher nachseiner Koje, um Geld zu holen. Jedesmalschwankte er mehr, brachte aber immer nur einigewenige Dollar auf einmal. Er wurde sentimental,vertraulich, konnte kaum noch die Karten sehenund aufrecht sitzen. Als er den nächsten Ausflugnach seiner Koje antrat, hakte er Wolf Larsenseinen fettigen Zeigefinger ins Knopfloch undwiederholte mehrmals ausdruckslos: „Ich kriegeGeld, ich kriege Geld, sag ich Ihnen. Ich bin derSohn eines feinen Herrn."

Schließlich setzte der Koch unter derBeteuerung, er könne verlieren wie ein Gentleman,sein letztes Geld und verlor. Worauf er den Kopfauf die Hände sinken ließ und weinte. Wolf Larsenbetrachtete ihn neugierig, als dächte er daran, ihnzu vivisezieren, änderte jedoch seine Absicht,nachdem er zu der Erkenntnis gekommen, daßeine Untersuchung hier ergebnislos bleiben müsse.„Hump", sagte er mit vollendeter Höflichkeit zu mir,„wollen Sie die Freundlichkeit haben, HerrnMugridges Arm zu nehmen und ihm an Deck zu

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helfen. Er fühlt sich nicht ganz wohl. Und sagen SieJohansen, daß er ihn mit ein paar PützenSeewasser duschen soll", fügte er leise hinzu, sodaß nur ich es hören konnte.

Ich überließ Herrn Mugridge an Deck denHänden einiger grinsender Matrosen, die Johansenzu diesem Zwecke gerufen hatte. Herr Mugridgefaselte immer noch davon, daß er der Sohn einesvornehmen Herrn sei. Als ich jedoch dieKajütstreppe hinabstieg, um den Tischabzuräumen, hörte ich ihn kreischen; der erste Gußhatte ihn getroffen.

Wolf Larsen zählte seinen Gewinn. „Genauhundertfünfundachtzig Dollar!" sagte er laut.„Gerade wie ich mir dachte. Der Lump kam ohneeinen Pfennig an Bord."

„Und Ihr Gewinn gehört mir, Herr", sagte ichbeherzt.

Er beehrte mich mit einem spöttischen Lächeln.„Ich habe mich seinerzeit ein wenig mit Grammatikbeschäftigt, Hump, und ich glaube, Sie bringen dieZeiten durcheinander. ,Hat mir gehört', hätten Siesagen sollen."

„Hier ist nicht die Rede von Grammatik, sondernvon Moral", erwiderte ich.

Er ließ eine Weile verstreichen, ehe er sprach.„Wissen Sie, Hump", sagte er bedächtig und miteinem rätselhaften Klang von Traurigkeit in derStimme, „wissen Sie, daß dies das erste Mal ist,daß ich auf diesem Schiff das Wort Moral aus demMunde eines Mannes höre? Und Sie und ich sinddie einzigen an Bord, die die Bedeutung dieses

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Wortes kennen. Es gab eine Zeit in meinemLeben", fuhr er nach einer Pause fort, „da ich davonträumte, mit Männern sprechen zu dürfen, die einesolche Sprache redeten, mich aus derLebensstellung, in der ich geboren, emporzuhebenund Umgang zu pflegen mit Menschen, die überDinge wie Moral sprachen. Es ist das erste Mal,daß ich dies Wort aussprechen höre. Aber das nurnebenbei! Sie haben unrecht! Dies hat weder etwasmit Grammatik noch mit Moral zu tun, es handeltsich einfach um eine Tatsache."

„Ich verstehe", sagte ich. „Um die Tatsache, daßSie jetzt das Geld haben."

Seine Züge erhellten sich. Meine schnelleAuffassung schien ihm zu gefallen.

„Aber wir umgehen die eigentliche Frage", fuhrich fort, „die des Rechtes."

„Ach!" bemerkte er und zog den Mund schief.„Ich sehe, Sie glauben noch an so etwas wie Rechtund Unrecht."

„Glauben Sie denn nicht daran? Gar nicht?"fragte ich.

„Nicht die Spur. Macht ist Recht, das ist alles,was darüber zu sagen ist. Schwäche ist Unrecht.Es ist gut für einen Menschen, wenn er stark,schlecht für ihn, wenn er schwach ist - oder nochbesser, es ist angenehm, stark zu sein, weil manVorteil davon hat, es ist peinlich, schwach zu sein,weil es Verlust bedeutet. Der Besitz dieses Geldesist etwas Schönes. Sein Besitz ist angenehm. Undda ich die Möglichkeit habe, es zu besitzen, wärees ein Unrecht gegen mich selbst, wenn ich es

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Ihnen gäbe und mich des Vergnügens, es zubesitzen, beraubte."

„Aber Sie begehen ein Unrecht gegen mich,wenn Sie es behalten", wandte ich ein.

„Keineswegs. Ein Mensch kann kein Unrechtgegen den andern begehen. Nur gegen sich selbst.Von meinem Standpunkt aus tue ich stets einUnrecht, wenn ich die Interessen anderer beachte.Verstehen Sie? Wie kann ein Stückchen Fermentdem andern Unrecht tun, wenn es dasselbe zuverschlingen sucht? Der Drang, zu verschlingenund sich selbst gegen das Verschlungenwerden zuwehren, ist ihm angeboren. Unterdrücken Siediesen Drang, so sündigen Sie."

„Sie glauben also nicht an Altruismus?" fragteich.

Er sann einen Augenblick nach, als hätte dasWort für ihn einen fremden, aber doch nicht ganzfremden Klang. „Warten Sie mal, heißt das nicht soetwas wie Zusammenarbeit?"

„Nun ja, so etwas Ähnliches", erwiderte ich,diesmal nicht überrascht durch eine solche Lücke inseinem Wortschatz, da er ja reiner Autodidakt war,ein Mann, der viel gedacht undwenig, vielleicht garnicht gesprochen hatte. „Eine uneigennützigeHandlung ist eine solche, die man zum Wohleanderer vollbringt. Sie ist uneigennützig, imGegensatz zu der eigennützigen Handlung, dieman zu seinem eigenen Vorteil begeht."

Er nickte. „O ja, jetzt erinnere ich mich. Ich habebei Spencer darüber gelesen."

„Spencer!" rief ich. „Sie haben Spencer

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gelesen?"„Nicht sehr viel", räumte er ein. „Ich verstand

allerhand von seinen ,Grundprinzipien', aber seine,Biologie' hat mir doch den Wind aus den Segelngenommen, und seine ,Psychologie' hat mich langein der Flaute treiben lassen. Ich konnte mit dembesten Willen nicht verstehen, worauf erhinauswollte. Ich habe damals die Ursache inmeiner geistigen Unvollkommenheit gesucht, binaber später zu der Überzeugung gelangt, daß mirdie Voraussetzungen fehlten. Ich hatte nicht dierichtige Grundlage. Nur Spencer und ich wissen,wie ich gebüffelt habe. Aber von seinen,Grundlagen der Ethik' habe ich doch etwas gehabt.Und darin fand ich eine Abhandlung überAltruismus und weiß jetzt auch, in welcherBedeutung er das Wort anwandte."

Ich hätte gern gewußt, was der Mann vondiesem Werke gehabt hatte. Ich erinnerte michgenügend an Spencer, um zu wissen, daß derAltruismus für ihn das höchste sittliche Ideal war.Wolf Larsen hatte offenbar unter der Lehre desgroßen Philosophen Auslese gehalten und seineneigenen Bedürfnissen und Wünschen gemäßgewählt und verworfen.

„Was haben Sie sonst noch darin gefunden?"fragte ich.

Er runzelte leicht die Stirn vor Anstrengung,einen treffenden Ausdruck für Gedanken zu finden,denen er noch nie Worte verliehen hatte. Ich spürtein mir einen geistigen Hochmut. Jetzt tastete ichseine Seele ab, wie er die anderer abzutasten

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pflegte. Ich befand mich auf jungfräulichem Gebiet.Eine fremdartige, eine unheimlich fremdartigeGegend entrollte sich hier vor meinen Augen.

„Mit so wenig Worten wie möglich", begann er,„sagt Spencer etwa folgendes: Zunächst muß einMensch zu seinem eigenen Besten handeln - dasist moralisch und gut. Dann muß er zum Bestenseiner Kinder handeln. Und drittens zum Bestenseiner Familie."

„Und die höchste, vornehmste und einzig richtigeHandlungsweise", warf ich ein, „ist die, diegleichzeitig ihm selbst, seinen Kindern und seinerganzen Familie frommt."

„Das unterschreibe ich nicht ganz", erwiderte er.„Ich kann weder die Notwendigkeit noch dieVernunft davon einsehen. Ich nehme Familie undKinder aus. Für sie würde ich nichts opfern. Das istnichts als Gefühlsduselei, wenigstens für einenMann, der nicht an ein ewiges Leben glaubt. Gäbees Unsterblichkeit, so wäre Altruismus einGeschäft, das sich bezahlt machte. Dann könntesich meine Seele vielleicht zu den höchsten Höhenaufschwingen. Aber ohne Aussicht auf etwasanderes Ewiges als den Tod und nur die kleineSpanne dieses Leben genanntenGärungsprozesses vor mir, würde mir eineHandlung, die mir ein Opfer auferlegt, unmoralischerscheinen. Jedes Opfer, durch das ich auch nurdas Geringste dieses Gärungsprozesses verlöre,wäre Torheit, ja nicht nur Torheit, sondern einUnrecht gegen mich selbst und daher etwasSchlechtes."

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„Dann sind Sie ein reiner Ichmensch. Und", fuhrich fort, „dazu sind Sie ein Mann, dem man alleszutrauen kann, sobald man seinem Eigennutz in dieQuere kommt."

„Jetzt fangen Sie an zu begreifen", sagte erlebhaft.

„Sie sind ein Mensch, völlig bar alles dessen,was man Moral nennt."

„Stimmt."„Ein Mensch, den man immer fürchten muß ..."„Richtig."„Wie man eine Schlange, einen Tiger oder einen

Hai fürchtet."„Jetzt kennen Sie mich. Und Sie kennen mich

so, wie ich allgemein bekannt bin. Andere nennenmich ,Wolf."

„Sie sind eine Art Ungeheuer", fügte ich kühnhinzu, „ein Kaliban, der gegrübelt hat und inmüßigen Augenblicken nach Einfall und Launehandelt."

Seine Stirn umwölkte sich bei dieser Anspielung.Er verstand sie nicht, und ich sah sofort, daß er dieDichtung nicht kannte. „Ich lese jetzt geradeBrowning", gestand er, „und er ist recht trocken. Ichbin noch nicht weit gekommen und habe soungefähr die Richtung verloren."

Um den Leser nicht zu ermüden, will ich nurberichten, daß ich das Buch aus seiner Kabineholte und „Kaliban" laut vorlas. Er war entzückt.Immer wieder unterbrach er mich mit Erklärungenund kritischen Bemerkungen.

Die Zeit verstrich. Das Abendbrot näherte sich,

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und noch war der Tisch nicht gedeckt. Ich wurdeunruhig, und als Thomas Mugridge, krank undgrämlich, die Treppe herunterkam, schickte ichmich an, meinen Pflichten nachzukommen.

Aber Wolf Larsen rief ihm zu: „Köchlein, du mußtheute allein das Essen besorgen. Hump hat fürmich zu tun, und du mußt sehen, allein fertig zuwerden."

Und wieder wurde das unerwartete Ereignis.Diesen Abend saß ich mit dem Kapitän und denJägern bei Tische, während Thomas Mugridge unsbediente und hinterher das Geschirr wusch - eineGrille, eine Kalibanslaune Wolf Larsens, für die ich,wie ich voraussah, büßen sollte. Jetzt aber redetenund redeten wir, zum großen Ärger der Jäger, dienicht ein Wort davon verstanden.

Drei Ruhetage, drei gesegnete Ruhetage hatteich bei Wolf Larsen. Ich saß in der Kajüte und tatnichts, als über Leben, Literatur und Weltall mit ihmzu diskutieren, während Mugridge wütend meineArbeit neben der seinen verrichtete.

„Sei auf der Hut - weiter sage ich nichts", warnteLouis mich, als ich zufällig mal auf eine halbeStunde auf Deck war und Wolf Larsen einen Streitzwischen den Jägern schlichtete. „Was geschehenwird, weiß ich nicht", erwiderte Louis auf meineBitte, sich deutlicher auszudrücken. „Der Mann istso unberechenbar wie die Strömungen in See undLuft. Du weißt nie, was er will. Wenn du meinst, dukennst ihn und segelst vor günstigem Wind mit ihm,so schlägt er um und liegt still, um dann plötzlichwie ein Wirbelsturm über dich herzufahren, daß all

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deine Schönwettersegel in Fetzen reißen."Es war daher keine völlige Überraschung für

mich, als das von Louis prophezeite Wetter kam.Wir hatten einen hitzigen Streit - über das Lebennatürlich - und, übermütig geworden, zeichnete icheinen zu scharfen Riß von Wolf Larsen und seinemLeben. Tatsächlich zergliederte ich ihn beilebendigem Leibe und wühlte in seiner Seelegenauso scharf und unerbittlich, wie er es bei denandern zu tun pflegte. Ich mag vielleicht dieSchwäche einer zu großen Konsequenz in derBeweisführung haben, jedenfalls ließ ich alleZurückhaltung fahren und schnitt und schlitzte andem Mann herum, bis er knurrte. Seinsonnengebräuntes Gesicht wurde schwarz vor Wut,seine Augen funkelten. Sie drückten nicht mehrKlarheit oder gesunden Verstand aus, sondernnichts als die entsetzliche Raserei einesWahnsinnigen. Jetzt sah ich den Wolf in ihm, undnoch dazu einen tollen.

Mit Gebrüll sprang er auf mich los und packtemeinen Arm. Ich hatte mich ermannt und wolltestandhalten, obgleich ich innerlich zitterte, aber dieriesige Kraft dieses Mannes war zuviel für meineStandhaftigkeit. Seine Hand hatte mich amOberarm gefaßt, und als er zupackte, sank ichzusammen und schrie laut. Meine Beineverweigerten mir den Dienst. Ich konnte einfachnicht mehr aufrecht stehen und den Schmerzertragen. Ich hatte das Gefühl, als wäre meinOberarm zu Brei gequetscht.

Was er möglicherweise hätte tun können, ging

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mir erst am nächsten Tage auf, als er den Kopf zurKombüse hereinsteckte und mit erneuterFreundlichkeit fragte, wie es meinem Arm ginge.

„Es hätte schlimmer werden können", lächelte er.Ich schälte Kartoffeln. Er nahm eine aus dem

Eimer. Sie war ungewöhnlich groß, fest undungeschält. Er umschloß sie mit der Hand, preßtesie zusammen, und die Kartoffel spritzte zwischenseinen Fingern hervor. Die breiigen Überreste warfer wieder in den Eimer und ging, aber ich bekameine deutliche Vorstellung davon, wie es mirergangen wäre, wenn das Ungeheuer wirklich mitaller Kraft zugepackt hätte.

Trotz alledem hatte die dreitägige Ruhe mirgutgetan, denn mein Knie war wiedergebrauchsfähig geworden. Es hatte sich bedeutendgebessert, die Schwellung war sichtlichzurückgegangen, und die Kniescheibe befand sichwieder an ihrem Platz. Aber die Ruhezeit brachtemir noch eine Unannehmlichkeit, die ichvorausgesehen hatte. Offenbar hatte ThomasMugridge im Sinn, mich für diese drei Tage büßenzu lassen. Er behandelte mich niederträchtig,verfluchte mich unausgesetzt und wälzte seineeigene Arbeit auf mich ab. Er wagte es sogar, dieFaust gegen mich zu erheben, aber ich war selbstwie ein wildes Tier geworden und fauchte ihm sogrimmig ins Gesicht, daß er ängstlich zurückfuhr. Erstarrte mich ebenso bösartig und haßerfüllt an wieich ihn. Wilde Tiere waren wir, zusammeneingesperrt und zähnefletschend. Er war einFeigling, fürchtete sich, mich zu schlagen, weil

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meine Furcht nicht groß genug war, und so suchteer einen neuen Weg, mich einzuschüchtern. Es gabnur ein Küchenmesser, das zur Waffe taugte. VieleJahre Gebrauch und Abnutzung hatten die Klingedünn und biegsam geschliffen. Es sah gräßlich aus,mich hatte es jedesmal geschaudert, wenn ich esbenutzen mußte. Der Koch lieh sich einenWetzstein von Johansen und begann das Messerzu schärfen. Er tat es mit großer Umständlichkeit,indem er mich während der ganzen Prozedurbedeutsam anblickte. Einen ganzen Tag langwetzte er es. Sobald er einen freien Augenblickhatte, saß er mit Stein und Messer da und wetzteund wetzte, bis ich hätte lachen mögen, sounsagbar lächerlich war es.

Und doch war es ernst genug, denn ich sollteerfahren, daß er wohl imstande war, das Messer zugebrauchen, daß unter seiner Feigheit ein Mut derFeigheit steckte.

„Der Koch schärft sein Messer für Hump",begann man unter den Matrosen zu flüstern, undmanche neckten ihn

damit. Er aber legte das günstig aus, freute sichund nickte mit furchteinflößender Geheimnistuerei,bis George Leach, der frühere Kajütsjunge, einenrohen Scherz über den Gegenstand machte. Nunhatte sich Leach zufällig unter den Matrosenbefunden, die Mugridge nach seinem Kartenspielmit dem Kapitän hatten duschen müssen. Leachwar seiner Aufgabe offenbar mit einer Gründlichkeitnachgekommen, die Mugridge nicht verziehenhatte, denn jetzt gab ein Wort das andere, und die

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Beleidigungen auf die gegenseitigen Vorfahrenschwirrten durch die Luft.

Schließlich drohte ihm Mugridge mit demMesser, das er für mich schärfte. Leach lachte undüberschüttete ihn noch mehr mit Gemeinheiten.Aber ehe ich wußte, was geschah, war sein rechterArm durch einen raschen Schnitt mit dem Messeraufgeschlitzt. Der Koch fuhr zurück, ein teuflischesGrinsen auf seinem Gesicht und das Messer inVerteidigungsstellung vorgehalten.

Doch Leach blieb ganz ruhig, obgleich das Blutwie ein Springbrunnen auf das Deck spritzte. „Ichkrieg dich schon noch, Köchlein", sagte er, „unddann wird's dir nicht glimpflich gehen. Ich hab keineEile. Du wirst kein Messer zur Hand haben, wennich mit dir abrechne."

Mit diesen Worten drehte er sich um undentfernte sich gelassen. Mugridges Gesicht war fahlvor Angst. Er sah, was er getan, und ahnte, was ervon dem Verwundeten früher oder später zuerwarten hatte. Aber mir gegenüber benahm er sichschlimmer als je. Mehrere Tage vergingen, immernoch schäumte die Ghost vor dem Passat dahin,und ich hätte schwören können, daß ich denWahnsinn in Thomas Mugridges Augen wachsensah.

Ich gestehe, daß ich mich sehr, sehr fürchtete.Er wetzte, wetzte, wetzte. Ich fürchtete, ihm denRücken zu kehren, und wenn ich die Kombüseverließ, ging ich rücklings, zum Ergötzen derMatrosen und Jäger, die sich in Gruppenversammelten, um Zeugen meiner Flucht zu sein.

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Die Anspannung war zu groß. Ich fürchtetezuweilen, den Verstand darüber zuverlieren,übrigens ein passender Zustand auf diesem Schiffvoll von Verrückten und Bestien. Jede Stunde, jedeMinute stand mein Leben auf dem Spiel. Ich wareine Menschenseele in Not, und doch war vorn undachtern keine Seele, die Mitgefühl genug besaß,um mir zu Hilfe zu kommen. Zuweilen dachte ichdaran, die Barmherzigkeit Wolf Larsens anzurufen,aber der spöttische Teufel in seinen Augen, der dasLeben höhnte, erschien vor mir und hielt michzurück. Dann wieder erwog ich ernsthaft denGedanken an Selbstmord und mußte die ganzeKraft meiner hoffnungsfrohen Philosophieaufbieten, um nicht in der Dunkelheit der Nachtüber Bord zu springen.

Mehrmals suchte Wolf Larsen mich in eineUnterhaltung zu ziehen, aber ich gab nur kurzeAntworten und wich ihm geschickt aus. Zuletztbefahl er mir, meinen Platz am Kajütentisch wiedereinzunehmen und den Koch meine Arbeitverrichten zu lassen.

Da sprach ich offen mit ihm, erzählte ihm, wasich von Thomas Mugridge wegen seiner dreitägigenGunst zu leiden hatte.

Wolf Larsen betrachtete mich lächelnd. „So, undjetzt haben Sie Angst, was?" höhnte er.

„Ja", sagte ich trotzig und ehrlich, „ich fürchtemich."

„So seid ihr Kerle", rief er halb ärgerlich,„schwelgt in Gefühlen über eure unsterbliche Seeleund fürchtet euch vor dem Tode. Beim Anblick

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eines scharfen Messers und eines feigen Cockneysdenkt ihr an nichts anderes, als euch ans Leben zuklammern. Nun ja, mein Lieber, warum sichfürchten? Sie haben ja ein ewiges Leben vor sich.Köchlein kann Ihnen gar nichts anhaben. Er kannSie nur auf den Weg befördern, den Sie für dieEwigkeit wandern sollen. Hegen Sie aber nicht denWunsch, gerade jetzt befördert zu werden, warumbefördern Sie dann nicht Köchlein? Wenn IhreAnschauung richtig ist, muß ja auch er unsterblichsein. Sie können ihn nicht zum Konkurs bringen.Seine Papiere werden immer pari stehen. Siekönnen sein Leben nicht verkürzen, wenn Sie ihntöten, denn es ist ohne Anfang und ohne Ende.Also befördern Sie ihn doch! Stechen Sie ihm einMesser in den Leib, und erlösen Sie seinen Geist.Der lebt jetzt doch in einem elenden Gefängnis,und Sie erweisen ihm nur einenFreundschaftsdienst. Befördern Sie ihn, und ichbefördere Sie an seinen Platz mit fünfundvierzigDollar den Monat."

Es war klar, daß ich von Wolf Larsen weder Hilfenoch Mitgefühl zu erwarten hatte. Ich mußte alleinhandeln, und mit dem Mute des Feiglings beschloßich, Thomas Mugridge mit seinen eigenen Waffenzu bekämpfen. Ich lieh mir von Johansen einenSchleifstein. Louis, der Bootssteurer, hatte mich umkondensierte Milch und Zucker angebettelt. DerVorratsraum lag unter dem Fußboden der Kajüte.Ich nahm eine Gelegenheit wahr und stahl fünfDosen Milch, und als Louis' Wache am Abendbegann, erstand ich dafür einen Dolch, der ebenso

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dünn und gefährlich war wie Thomas MugridgesKüchenmesser. Er war rostig und stumpf, aber ichdrehte den Schleifstein, und Louis schliff die Klinge.Diese Nacht schlief ich viel besser als sonst.

Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück,begann Thomas Mugridge wieder seinunaufhörliches Wetzen. Ich sah mich nach ihm um,denn ich kniete vor dem Herd, um die Ascheherauszuholen. Als ich sie über Bord geschüttethatte, setzte ich mich ruhig auf den Kohlenkastenund sah ihm zu. Er beehrte mich mit einembösartigen Blick. Äußerlich ruhig, wenn auch mitHerzklopfen, zog ich Louis' Dolch heraus undbegann ihn auf dem Stein zu wetzen. Ich war aufirgend etwas von Seiten des Cockneys gefaßtgewesen, aber zu meiner Überraschung schien ergar nicht zu bemerken, was ich tat. Er wetzte weitersein Messer. Und ich tat dasselbe. Und zweiStunden lang saßen wir da, Angesicht zuAngesicht, und wetzten, wetzten, wetzten, bis dieNeuigkeit sich an Bord verbreitete und die halbeSchiffsbesatzung sich vor der Kombüsentürscharte, um den Anblick zu genießen.Anfeuerungen und Ratschläge wurden freigebigerteilt.

Jack Horner, der stille Jäger, der aussah, alskönnte er keiner Maus etwas zuleide tun, riet mir,ihm die Klinge von unten in den Bauch zu jagenund ihr dann die „spanische Drehung" zu geben.Leach, der den Arm in der Binde auffälligvorstreckte, bat mich, ein paar Reste vom Koch fürihn übrigzulassen, und Wolf Larsen blieb ein

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paarmal stehen und betrachtete neugierig, was ihmals ein Gärungsprozeß erscheinen mußte, wie erdas Leben nannte.

Und ich muß gestehen, daß ich das Leben jetztebenso niedrig einschätzte. Es hatte nichtsSchönes, nichts Göttliches mehr - hier gab es nurzwei feige Geschöpfe, die Stahl auf Stein wetzten,und eine Gruppe weiterer Geschöpfe, die zusahen.Die Hälfte von ihnen, davon bin ich überzeugt,wartete begierig, daß wir gegenseitig unser Blutvergossen. Es wäre ihnen eine Unterhaltunggewesen. Andererseits war das alles wiederumlächerlich und kindisch. Wetzen, wetzen, wetzen.Daß ich, Humphrey van Weyden, solcher Dingefähig war, bedeutete eine Offenbarung für mich,und ich wußte nicht, ob ich stolz sein oder michschämen sollte. Aber nichts geschah. Nach zweiStunden legte Thomas Mugridge Messer und Steinfort und streckte mir die Hand entgegen. „Was hates für einen Sinn, sich den Viechern zur Schau zustellen?" fragte er. „Sie würden sich verdammtfreuen, wenn wir uns gegenseitig die Kehleabschnitten. Du bist nicht der Schlimmste, Hump!Du hast Mut, und ich hab dich im Grunde gem.Komm, gib mir die Flosse."

So feige ich auch sein mochte, war ich es dochweniger als er. Es war ein unbedingter Sieg, denich errungen hatte, und ich wollte nichts davonverscherzen, indem ich die verhaßte Handschüttelte.

„Schön", sagte er, „nimm sie oder laß es bleiben,deshalb gefällst du mir nicht weniger." Und hierauf

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wandte er sich heftig gegen die Zuschauer: „Macht,daß ihr von der Kombüsentür wegkommt, ihrelenden Lümmel!"

Diesem Befehl verlieh er Nachdruck durch einenKessel kochenden Wassers, bei dessen Anblick dieMatrosen Hals über Kopf fortstürzten. Das war eineArt Sieg für Thomas Mugridge, der ihn dieNiederlage, die ich ihm zugefügt hatte, mit mehrAnstand tragen ließ. Die Jäger versuchte erallerdings nicht zu vertreiben.

„Köchlein ist fertig", hörte ich Smoke zu Hornersagen.

„Ja, darauf kannst du wetten", sagte Horner.„Jetzt ist Hump Herr in der Kombüse, und Tommymuß die Hörner einziehen."

Mugridge hörte es und warf mir einen schnellenBlick zu, aber ich tat, als hätte ich nichts gemerkt.Ich hätte nicht geglaubt, daß mein Sieg sovollständig und weittragend sei, war aberentschlossen, nicht ein Tüpfelchen davonpreiszugeben. Die Tage vergingen, und dieProphezeiung Smokes bewahrheitete sich. DerCockney wurde demütiger und sklavischer vor mirals selbst vor Wolf Larsen. Ich redete ihn nichtmehr „Herr Mugridge" an, wusch nicht mehr diefettigen Töpfe aus und schälte nicht mehrKartoffeln. Ich verrichtete meine Arbeit, aber nurmeine eigene, wann und wie ich es für richtig hielt.Ich trug auch nach Matrosenart meinen Dolch ineiner Scheide an der Hüfte und nahm von jetzt anThomas Mugridge gegenüber eine Haltung ein, dieaus Herrentum, Hohn und Verachtung gemischt

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war.Die Vertraulichkeit zwischen Wolf Larsen und mir

nimmt zu - wenn man mit VertraulichkeitBeziehungen zwischen Herr und Diener oderbesser noch zwischen König und Hofnarrbezeichnen kann. Ich bin ihm nichts als einSpielzeug, und er schätzt mich nicht mehr als einKind das seine. Meine Aufgabe ist, ihn zuunterhalten, und solange ich das tue, ist alles gut;langweile ich ihn aber oder überkommt ihn eineseiner düsteren Launen, so werde ich sofort wiedervom Kajütentisch in die Kombüse gejagt und mußmich noch glücklich preisen, wenn ich mit demLeben und mit heilen Gliedern davonkomme.

Allmählich erkenne ich immer mehr dieEinsamkeit des Mannes. Nicht einer an Bord, derihn nicht haßt und fürchtet, nicht einer, den er nichtverachtet. Die ungeheure Kraft, die in ihm ruht undnie eine würdige Verwendung gefunden hat,scheint ihn zu verzehren. So würde Luzifer sein,wäre der stolze Geist zur Gesellschaft seelenloser,langweiliger Geister verbannt.

Wäre er nicht ein so entsetzlicher Mensch, ichkönnte zuweilen Mitleid mit ihm haben, wie zumBeispiel vor drei Tagen, als ich morgensüberraschend in seine Kajüte trat, um dieWasserflasche zu füllen.

Er sah mich nicht. Sein Kopf war in den Händenvergraben, seine Schultern zuckten krampfhaft, undals ich mich leise zurückzog, hörte ich ihn stöhnen:„Gott! Ach Gott!" Nicht etwa, daß er Gott angerufenhätte, es war ein Wort, das an niemand gerichtet

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war, ihm aber aus tiefster Seele kam.Bei Tisch fragte er die Jäger nach einem Mittel

gegen Kopfschmerzen, und abends taumelte erhalb blind in der Kajüte herum. „Ich bin nie inmeinem Leben krank gewesen, Hump", sagte er,als ich ihm in seine Koje half. „Und ich habe auchnoch nie Kopfschmerzen gehabt, außer in der Zeit,als mein Kopf heilte, nachdem ich mir ausUnvorsichtigkeit ein großes Loch mit dem Ankerspillhineingeschlagen hatte."

Drei Tage dauerten die entsetzlichenKopfschmerzen, und er litt, wie ein wildes Tierleidet und wie man auf diesem Schiff zu leidenscheint: klaglos, mitleidlos, ganz allein.

Als ich aber heute morgen seine Kajüte betrat,um sein Bett zu machen und aufzuräumen, fand ichihn wohlauf und mitten in der Arbeit. Tisch und Kojewaren mit Plänen und Berechnungen übersät. MitZirkel und Winkel zeichnete er eine Skala auf einengroßen Bogen Pauspapier.

„Hallo, Hump!" begrüßte er mich heiter. „Ichmache gerade die letzten Striche. Wollen Siesehen?"

„Was ist das?" fragte ich.„Eine Anleitung für Seeleute, die Zeit erspart und

Navigieren zu einem Kinderspiel macht", antworteteer heiter. „Von heute an ist jedes Kind imstande, einSchiff zu steuern. Keine verwickeltenBerechnungen mehr! Alles, was man braucht, istein Stern am Himmel in dunkler Nacht, um sofort zuwissen, wo man ist. Sehen Sie, ich lege diePapierskala auf diese Sternkarte und lasse sie sich

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um den Nordpol drehen. Auf der Skala habe ich dieabsoluten Höhenkreise und die Peilungslinienverzeichnet. Ich habe nichts weiter zu tun, als sieauf einen bestimmten Stern einzustellen, die Skalazu drehen, bis sie sich den Zahlen unten auf derKarte gerade gegenüber befindet, und: eins, zwei,drei! Da haben wir die genaue Lage des Schiffes!"

In seiner Stimme war ein triumphierender Klang,und seine Augen, die an diesem Morgen klar undblau wie die See waren, funkelten.

„Sie müssen viel von Mathematik verstehen",sagte ich. „Wo sind Sie zur Schule gegangen?"

„Ich hab nie eine Schule von innen gesehen -leider. Hab alles selbst ausgraben müssen. Undwarum, glauben Sie, hab ich diese Sache hiergemacht?" fragte er unvermittelt. „In der Hoffnung,meine Spur im Sande der Zeit zu hinterlassen?" Erlachte sein schreckliches, höhnisches Lachen.„Keineswegs. Ich will es mir patentieren lassen undGeld damit verdienen, um die Nächte zudurchprassen, während andere arbeiten. Das istmeine Absicht. Aber die Geschichte hat mir auchFreude gemacht."

„Schaffensfreude", bemerkte ich.„So müßte es wohl heißen. Wieder eine

Ausdrucksweise für die Freude des Lebens, weil eslebt und wirkt, für den Triumph der Bewegung überdie Materie, des Lebendigen über das Tote, für denStolz der Hefe, weil sie Hefe ist und kriecht."

Ich hob die Hände in hilflosem Protest gegenseinen eingewurzelten Materialismus und machtemich daran, die Koje in Ordnung zu bringen. Er fuhr

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fort, Linien und Ziffern auf die transparente Skalazu zeichnen. Es war eine Aufgabe, die äußersteGenauigkeit erforderte, und ich mußte bewundern,wie er seine Kraft zügelte und der nötigen Feinheitund Aufmerksamkeit anpaßte.

Als ich das Bett gemacht hatte, überraschte ichmich dabei, wie ich ihn fasziniert ansah. Er warsicher schön - schön als Mann. Und immer wiederwunderte ich mich, daß sein Antlitz nicht die Spurvon Verderbnis oder Lasterhaftigkeit zeigte. Es wardas Gesicht eines Mannes, der kein Unrecht tat. Ichmöchte nicht mißverstanden werden: Ich meine, eswar das Gesicht eines Mannes, der nichts tat, waser nicht vor seinem Gewissen verantworten konnte,oder - der überhaupt kein Gewissen hatte. Ichneige dazu, letzteres zu glauben. Er war einprachtvoller Atavismus, ein Mensch, so primitiv, wiedie Welt ihn vor Entwicklung der Moral gesehen. Erwar nicht unmoralisch, sondern einfach nur ohneMoral.

Wie gesagt, er war schön als Mann. Seinglattrasiertes Gesicht ließ jeden Zug hervortreten,und es war rein und scharf geschnitten wie eineKamee. Sonne und Meer hatten die ursprünglichhelle Haut zu einem dunklen Bronzeton gebräunt,der von Kampf und Streit zeugte und sowohlWildheit wie Schönheit noch erhöhte. Seine Lippenwaren voll, aber doch von der Herbheit, die sonstdünnen Lippen eigen ist. Mund, Kinn undKinnbacken zeugten ebenfalls von Festigkeit undHärte, gepaart mit männlicher Wildheit undUnbezähmbarkeit - ebenso die Nase. Es war die

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Nase eines Menschen, der geboren war, zuerobern und zu herrschen. Sie erinnerte an einenAdlerschnabel. Sie wäre fast griechisch oderrömisch gewesen, war aber einen Schatten zumassig für das eine und eine Spur zu zart für dasandere. Und während das alles die verkörperteWildheit und Stärke war, schienen die Linien vonAugen und Brauen gleichsam veredelt durch dieSchwermut in der Tiefe seiner Seele, und die Zügeerhielten dadurch eine Größe und Vollkommenheit,die ihnen sonst gefehlt hätten.

Wie sehr der Mann mich doch interessierte! Werwar er? Was war er? Wie war er zu dem geworden,der er war?

Meine Neugier mußte sich Luft machen.„Warum haben Sie nichts Großes auf dieser

Welt vollbracht? Mit Ihrer ungeheuren Kraft hättenSie jede Höhe erklimmen können. Ohne Gewissenoder moralische Instinkte, wie Sie sind, hätten Siedie Welt unterjochen und beherrschen können. Undstatt dessen sind Sie, auf der Höhe Ihres Lebens, ineinem Alter, da der Abstieg schon beginnt, derFührer eines Schoners und jagen Robben, um dieEitelkeit und Putzsucht der Weiber zu befriedigen,schwelgen, um Ihre eigenen Worte zu gebrauchen,in einer Gemeinheit, die alles andere als herrlich ist.Mit all Ihrer wunderbaren Kraft haben Sie nichtsvollbracht? Gab es nichts, das Sie hielt, das Siehalten konnte? Warum? Besaßen Sie keinenEhrgeiz? Sind Sie Versuchungen erlegen?Warum?"

Bei Beginn meines Ausbruchs hatte er die

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Augen erhoben und folgte mir willig, bis ich fertigwar und nun, atemlos und erschrocken, vor ihmstand.

Er wartete einen Augenblick, als suchte er nachWorten, und sagte dann: „Hump, kennen Sie dasGleichnis vom Sämann, der ausging, um zu säen?Sie werden sich erinnern, daß einige Samenkörnerauf steinigen Boden fielen, wo es nur wenig Erdegab, und sogleich keimten, weil sie so dicht unterder Oberfläche lagen. Als aber die Sonne kam,verdorrten sie und welkten dahin, weil sie keineWurzeln hatten. Und einige Körner fielen zwischenDornensträucher, und die erstickten sie."

„Nun?" fragte ich.„Nun?" fragte er, ein wenig gekränkt. „Ich war ein

solches Samenkorn."Er senkte den Kopf auf die Zeichnung und setzte

seine Arbeit fort. Ich beendete die meine und hatteschon die Tür geöffnet, um zu gehen, als er michwieder ansprach: „Hump, wenn Sie eine Karte vonNorwegen nehmen, werden Sie an der Westküsteeinen Einschnitt finden, der Romsdalsfjord genanntwird. Im Bannkreise dieser Bucht wurde ichgeboren. Aber nicht als Norweger. Ich bin Däne.Mein Vater und meine Mutter waren Dänen, undwie sie in dies rauhe Fleckchen Erde gekommenwaren, weiß ich nicht. Ich habe nie etwas darübergehört. Hiervon abgesehen, ist nichtsGeheimnisvolles an der Geschichte. Sie warenarme, unwissende Leute. Alle ihre Vorfahren warenso gewesen - Küstenbauern, die ihre Söhne seitundenklichen Zeiten auf die Wogen zu säen

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pflegten. Mehr ist nicht zu berichten."„Doch", wandte ich ein. „Es ist mir immer noch

rätselhaft."„Was soll ich Ihnen noch erzählen?" fragte er mit

einem neuen Klang von Wildheit in der Stimme.„Von dem kümmerlichen Leben eines Kindes? Vondem kargen Dasein der Fischer? Daß ich aufs Meerhinausfuhr, als ich kaum kriechen konnte? Vonmeinen Brüdern, die, einer nach dem andern, zurSee gingen und nie wiederkehrten? Von mir selbst,der ich im reifen Alter von zehn Jahren Kajütsjungeauf Küstenfahrern war und weder lesen nochschreiben konnte? Von schlechter Kost und nochschlechterer Behandlung - Püffe und Schlägewaren mir Bett und Frühstück, ersetzten Worte; undFurcht, Haß und Schmerz waren meine einzigenSeelenregungen. Ich erinnere mich nicht gerndaran. Selbst jetzt noch werde ich wild, wenn ichdaran denke. Aber es gab Kapitäne, die ich hättetöten können, als ich meine Manneskraft erlangthatte, wenn das Schicksal mich nicht in andereMeere geführt hätte. Als ich wiederkehrte, warendiese Kapitäne leider tot, nur einen traf ich - er warseinerzeit Steuermann gewesen; als ich ihn jetztwiedertraf, war er Kapitän,- als ich ihn verließ, einKrüppel, der nie wieder gehen wird."

„Aber Sie lesen Spencer und Darwin und habendabei nie eine Schule von innen gesehen - wohaben Sie lesen und schreiben gelernt?" fragte ich.

„In der englischen Handelsmarine. Kajütsjungemit zwölf, Schiffsjunge mit vierzehn, Leichtmatrosemit sechzehn, Vollmatrose und Koch mit siebzehn,

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unendlicher Ehrgeiz und unendliche Einsamkeit,ohne Hilfe, ohne Verständnis. Ich tat alles auseigener Kraft, lernte selbst Navigation, Mathematik,Naturwissenschaft, Literatur und ich weiß nicht,was alles. Und wozu? Herr und Besitzer einesRobbenschoners auf der Höhe meines Lebens, wo,wie Sie sagen, der Abstieg beginnt. Jammervoll,nicht wahr? Als die Sonne kam, war ich verdorrt,und weil ich keine Wurzeln geschlagen hatte,welkte ich hin."

„Aber die Geschichte berichtet von Sklaven, diesich zum Purpur emporschwangen", schaltete ichein.

„Und die Geschichte berichtet von günstigenGelegenheiten, durch welche diese Sklaven sichemporschwangen", entgegnete er bitter. „KeinMensch kann eine günstige Gelegenheit schaffen.Alles, was die großen Männer taten, war, daß siedie Gelegenheit erkannten, wenn sie kam. DerKorse erkannte sie. Ich habe ebenso große Träumegeträumt wie der Korse. Ich würde die Gelegenheiterkannt haben, aber sie kam nie. Die Dornenschossen hoch und erstickten mich. Und ich kannIhnen sagen, Hump, daß Sie mehr von mir wissenals sonst irgendein Lebender, außer meinemBruder."

„Und was ist der? Wo ist er?"„Kapitän des Dampfers Macedonia,

Robbenfänger", lautete die Antwort. „Wir werdenihn aller Wahrscheinlichkeit nach an derjapanischen Küste treffen. Die Leute nennen ihnTod Larsen."

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„Tod Larsen!" rief ich unwillkürlich. „Gleicht erIhnen?"

„Kaum. Er ist ein Stück Vieh ohne Kopf. Er hatall meine -meine..."

„Tierheit!" schob ich ein.„Ja - Dank für das Wort -, all meine Tierheit, aber

er kann weder lesen noch schreiben."„Und hat nie über das Leben philosophiert", fügte

ich hinzu.„Nein", antwortete Wolf Larsen mit einem

Ausdruck unbeschreiblicher Traurigkeit. „Und er istglücklich, da er sich nicht um das Leben kümmert.Er hat zuviel damit zu tun, es zu leben, als daß erdarüber grübeln könnte. Mein Fehler war, daß ich jeein Buch aufgeschlagen habe."

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Fünftes KapitelDie Ghost hat den südlichsten Punkt des Bogens

erreicht, den sie durch den Stillen Ozeanbeschreibt, und beginnt jetzt, den Kurs nachNorden, dem Gerücht nach auf eine einsame Inselzu setzen, um die Wasserfässer zu füllen. Danngeht es die japanische Küste entlang, und die Jagdbeginnt. Die Jäger haben ihre Büchsen undSchrotflinten nachgesehen und schießen sich jetztein, bis sie mit ihren Leistungen zufrieden sind;Puller und Bootssteurer haben Sprietsegelverfertigt, Riemen und Dollen mit Leder undStrohgeflecht umwunden, damit sie geräuschlos andie Robben herankommen können,- die Boote sindgebrauchsfertig.

Nebenbei: Leachs Arm ist gut verheilt, wenn erauch die Narbe sein ganzes Leben behalten wird.Thomas Mugridge lebt in Todesangst vor ihm undwagt kaum, nach Eintritt der Dunkelheit das Deckzu betreten.

Louis hat mir mehr von Tod Larsen berichtet,und was er erzählt, stimmt mit der kurzenBeschreibung des Kapitäns überein. Wir werdenTod Larsen vermutlich an der japanischen Küstetreffen. „Und da kannst du dich auf ein Unwettergefaßt machen", prophezeite Louis, „denn siehassen sich wie die Wolfsbrut, die sie ja auch sind."Tod Larsen befehligt den einzigen Robbendampferder ganzen Flotte, die Macedonia, die vierzehnBoote trägt, während die übrigen Fahrzeuge nur jesechs haben. Es heißt, sie habe Kanonen an Bord,

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und es laufen wilde Gerüchte um über seltsameBeutezüge und Expeditionen des Schiffes, vonOpiumschmuggel nach den Staaten undWaffenschmuggel nach China bis zuSklavenhandel und offener Seeräuberei. Und ichmuß Louis glauben, denn ich habe ihn noch nie beieiner Lüge ertappt, und er ist ein lebendigesLexikon in bezug auf alles, was mit Robbenjagdund Robbenjägern zusammenhängt.

Wie auf dem Vorschiff und in der Kombüse, sogeht es auch im Zwischendeck und auf demAchterdeck dieses wahren Höllenschiffes zu. DieLeute kämpfen wie wilde Tiere. Die Jäger erwartenjeden Augenblick eine Schießerei zwischen Smokeund Henderson, deren alter Streit noch nichtbeigelegt ist, während Wolf Larsen sagt, daß er,wenn es dazu käme, den Überlebenden tötenwürde. Er sagte ohne Umschweife, daß seineStellungnahme in dieser Sache nichts mit Moral zutun habe und daß die Jäger sich seinetwegen gernalle gegenseitig totschlagen und auffressenkönnten, wenn er sie nicht so nötig zur Jagdbrauchte. So gefährliche Burschen sie auch sind:ihn fürchten sie.

Thomas Mugridge bezeigt mir eine hündischeUnterwürfigkeit, aber meine geheime Furcht vorihm schläft nie. Mit meinem Knie geht es vielbesser, wenn es auch zuweilen noch längere Zeitschmerzt, und mein Arm, den Wolf Larsen gepackthatte, wird nach und nach wieder gebrauchsfähig.Im übrigen befinde ich mich in glänzenderkörperlicher Verfassung und fühle das. Meine

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Muskeln werden fester und nehmen an Umfang zu.Meine Hände jedoch bieten einen jämmerlichenAnblick. Sie sind mit Brandblasen übersät, und dieNägel sind abgebrochen, schmutzig und vonwildem Fleisch überwuchert. Dazu leide ich anFurunkeln, wohl eine Folge der Kost, denn ich habenoch nie etwas mit dieser Plage zu tun gehabt.

Die letzten vierundzwanzig Stunden sind Zeugeneines reinen Karnevals von Roheit gewesen. Vonder Kajüte bis zur Back verbreitete es sich wie eineansteckende Krankheit. Ich weiß kaum, wobeginnen. Wolf Larsen war der eigentliche Urheber.Das Verhältnis unter der Besatzung war gespanntund feindselig infolge von Groll und Streitigkeiten.Bis jetzt war das Gleichgewicht gewahrt worden,aber nun flammten die bösen Leidenschaften aufund loderten wie ein Präriebrand.

Thomas Mugridge ist ein Duckmäuser, ein Spionund Denunziant. Er hat versucht, sich beim Kapitänwieder lieb Kind zu machen, indem er dieMannschaft anschwärzte. Ich weiß, daß er WolfLarsen einige voreilige Worte Johnsonshinterbrachte. Johnson soll sich Ölzeug aus derSchiff skleiderkiste gekauft haben, das von sehrzweifelhafter Güte war. Er hielt mit dieser Tatsachenicht hinter dem Berge. Die Schiffskleiderkiste isteine Art Miniaturwarenlager, das einRobbenschoner an Bord hat und das denAnsprüchen der Matrosen gemäßzusammengestellt ist.

Was ein Matrose kauft, wird später von seinemVerdienst am Robbenfang abgezogen, denn Puller

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und Bootssteurer erhalten, ebenso wie die Jäger,statt der Heuer einen Anteil am Gewinn, nämlicheinen gewissen Betrag für jedes von ihrem Booterbeutete Fell.

Von Johnsons Unzufriedenheit mit dem Ölzeugwußte ich jedoch nichts, und was ich erlebte, kamdaher wie ein Blitz aus heiterem Himmel für mich.Ich war gerade mit dem Aufräumen der Kajütefertig, als Johansen, von Johnson gefolgt, dieKajütstreppe herunterkam. Johnson nahm nachSeemannsart die Mütze ab, stand ehrerbietig,schwer im Rollen des Schoners schwankend,mitten in der Kajüte und blickte dem Kapitän offenin die Augen.

„Schließen Sie die Tür, und riegeln Sie ab",sagte Wolf Larsen zu mir.

Als ich gehorchte, bemerkte ich einenängstlichen Ausdruck in Johnsons Augen, aber dieUrsache ließ ich mir nicht träumen. Ich ahnte nicht,was kommen sollte, bis es geschah, er aber wußtevom ersten Augenblick an, was seiner wartete, undsah seinem Schicksal tapfer in die Augen. Undseine Handlungsweise war für mich die völligeWiderlegung von Wolf Larsens ganzemMaterialismus. Der Matrose Johnson war im Recht,und er wußte das und war furchtlos. Er würde imNotfall für dieses Recht gestorben sein. Er bliebsich und seiner Seele treu. Und das kennzeichneteden Sieg des Geistes über das Fleisch, dieUnbestechlichkeit und Größe seiner Seele, die sichnicht unterjochen ließ, sondern sich über Zeit,Raum und Stoff erhob mit einer Sicherheit und

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Unüberwindlichkeit, die nichts anderm entspringtals Ewigkeit und Unsterblichkeit.

Ich bemerkte zwar den ängstlichen Ausdruck inseinen Augen, hielt ihn jedoch irrtümlich für dieangeborene Schüchternheit und Verlegenheit desMannes. Johansen, der Steuermann, stand etwaeinen Meter entfernt neben ihm, und gut drei Meterihm gegenüber saß Wolf Larsen auf einemKajütendrehstuhl.

Als ich die Tür geschlossen und abgeriegelthatte, trat eine merkbare Pause ein, eine Pause,die eine ganze Minute dauern mochte. Sie wurdevon Wolf Larsen beendet. „Yonson", begann er.

„Ich heiße Johnson, Herr", verbesserte ihn derMatrose kühn.

„Schön, also Johnson, in Teufels Namen! Kannstdu erraten, warum ich dich rufen ließ?"

„Ja und nein, Herr", antwortete er langsam.„Meine Arbeit tue ich gut. Das weiß derSteuermann, und das wissen Sie, Herr. Es kannalso keinen Grund zur Klage über mich geben."

„Und das ist alles?" fragte Wolf Larsen; seineStimme war sanft und leise, er schnurrte fast wieeine Katze.

„Ich weiß, daß Sie es auf mich abgesehenhaben", fuhr Johnson mit unerschütterlicherschwerfälliger Langsamkeit fort. „Sie können michnicht leiden. Sie - Sie ..."

„Weiter", trieb ihn Wolf Larsen an. „Hab nurkeine Angst vor meinen Gefühlen."

„Ich habe keine Angst", entgegnete der Matroserasch, und eine leichte Zornesröte wurde unter

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seiner sonnenverbrannten Haut sichtbar. „Wenn ichlangsam spreche, so kommt es daher, daß ichmeine Heimat noch nicht so lange verlassen habewie Sie. Sie können mich nicht leiden, weil ich zusehr Mann bin, das ist der Grund, Herr."

„Du bist zu sehr Mann, um dich derSchiffsdisziplin zu fügen, wenn du das meinst undwenn du verstehst, was ich meine", erwiderte WolfLarsen.

„Ich verstehe Englisch, und ich weiß, was Siemeinen, Herr", antwortete Johnson und errötetenoch mehr bei der Anspielung auf seineSprachkenntnisse.

„Johnson", sagte Wolf Larsen mit einemAusdruck, der erkennen ließ, daß er alles Bisherigenur als Einleitung angesehen hatte und jetzt auf dieHauptsache kommen wollte, „ich höre, daß du nichtzufrieden mit dem Ölzeug bist?"

„Nein, ich bin nicht zufrieden. Es taugt nichts,Herr."

„Und du hast große Töne darüber geredet."„Ich sage, was ich denke, Herr", antwortete der

Matrose mutig, ohne die an Bord des Schiffesherrschende Etikette zu vergessen.

In diesem Augenblick fielen meine Augen zufälligauf Johansen. Seine großen Fäuste ballten undöffneten sich wieder, und sein Gesicht hatte einengeradezu teuflischen Ausdruck, so furchtbar blickteer Johnson an. Ich sah, daß Johansen noch einblaues Auge hatte, ein Denkzettel von den ihm vonJohnson vor einigen Nächten erteilten Prügeln.

Jetzt erst begann ich zu ahnen, daß sich etwas

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Schreckliches abspielen sollte, wenn ich mir auchnicht denken konnte, was.

„Weißt du, was dem geschieht, der sagt, was duüber mich und meine Waren gesagt hast?" fragteWolf Larsen.

„Ich weiß es, Herr."„Was denn?" fragte Wolf Larsen scharf und

gebieterisch.„Was Sie und der Steuermann im Begriff sind,

mit mir zu tun, Herr."„Sehen Sie ihn sich an, Hump", sagte Wolf

Larsen zu mir. „Sehen Sie sich das bißchenbeseelten Staub an, dies Häufchen Materie, dassich bewegt und atmet und mir Trotz zu bieten wagtund das fest davon überzeugt ist, aus etwas Gutemzu bestehen, das von gewissen menschlichenPhantastereien von Gerechtigkeit und Ehrlichkeitdurchdrungen ist und an ihnen festhält trotz allerpersönlichen Unannehmlichkeiten und Drohungen.Was halten Sie von ihm, Hump?"

„Ich finde, er ist ein besserer Mensch als Sie",antwortete ich, wohl von dem Wunsch getrieben,einen Teil des Zornes abzulenken, der sich, wie ichfühlte, über das Haupt des Matrosen entladenmußte. „Seine menschlichen Phantastereien, wieSie es zu nennen belieben, schaffen Edelmut undMännlichkeit."

Er nickte mit wilder Lust. „Ganz recht, Hump,ganz recht. Mit dem Prediger in der Bibel sage ichaber, daß ein lebendiger Hund besser ist als eintoter Löwe. Ich kenne nur eine Lehre: die derSelbstsucht und des Lebenswillens. Wissen Sie,

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was ich tun werde?"Ich schüttelte den Kopf.„Nun, ich werde Ihnen das Recht des Stärkeren

demonstrieren und Ihnen zeigen, wohin Edelmutführt. Passen Sie auf."

Drei Meter saß er von Johnson entfernt. Volledrei Meter! Und doch machte er geradewegs ausseiner sitzenden Stellung einen Satz wie ein Tiger,und wie ein Tiger durchschoß er den Raumzwischen sich und dem Matrosen. Es war eineLawine von Wut, die Johnson vergebensabzuwehren versuchte.

Ich bin nicht imstande, alle Einzelheiten dergrauenvollen Szene, die jetzt folgte,wiederzugeben. Es war empörend. Selbst jetztnoch werde ich krank, wenn ich daran denke.Johnson leistete tapferen Widerstand, aber einemWolf Larsen war er nicht gewachsen, und nochweniger Wolf Larsen und dem Steuermannzusammen. Es war furchtbar.

Ich hatte nie gedacht, daß ein menschlichesWesen soviel ertragen und dabei noch leben undkämpfen könnte. Und Johnson kämpfte. Natürlichhatte er keine Hoffnung, nicht die leiseste Hoffnung,und das wußte er ebenso gut wie ich, aber seineMannhaftigkeit erlaubte ihm nicht, den Kampfaufzugeben.

Es wurde zuviel für mich, ich konnte es nichtmehr mitansehen. Ich fühlte, daß ich im Begriff war,den Verstand zu verlieren, und stürzte dieKajütstreppe hinauf, um die Tür zu öffnen und anDeck zu fliehen. Aber Wolf Larsen ließ einen

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Augenblick von seinem Opfer ab, erwischte michmit einem seiner ungeheuren Sprünge undschleuderte mich zurück in die fernste Ecke derKajüte.

„Die Lebenserscheinungen, Hump", höhnte er.„Bleiben Sie stehen, und beobachten Sie. Siekönnen Material über die Unsterblichkeit der Seelesammeln. Im übrigen können wir Johnsons Seele jagar nicht verletzen. Wir können höchstens ihrevergängliche Form zerstören."

Jahrhunderte schienen vergangen - obwohl dieMißhandlung in Wirklichkeit wohl nicht mehr alszehn Minuten dauerte. Wolf Larsen und Johansenwaren ganz von ihrem Tun in Anspruch genommen.Sie trafen Johnson mit ihren Fäusten, stießen ihnmit ihren schweren Schuhen, schlugen ihn zuBoden und rissen ihn wieder hoch, um ihn vonneuem hinzuschleudern.

Seine Augen waren geblendet, und er konntenichts sehen. Das Blut rann ihm aus Ohren, Naseund Mund und verwandelte die Kajüte in einSchlachthaus. Und als er sich nicht mehr erhebenkonnte, schlugen sie weiter auf den am BodenLiegenden ein.

„Sachte, Johansen, sachte, es ist genug!" sagteWolf Larsen endlich. „Tür auf, Hump!" wurde mirbefohlen.

Ich gehorchte, und die beiden Unmenschenhoben den Ohnmächtigen wie einen Sack Lumpenauf und zwängten ihn die Treppe hinauf und durchdie enge Türöffnung an Deck.

Während ich die Kajüte säuberte, hatte Leach

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sich Johnsons angenommen. Ich kam an Deck, umfrische Luft zu schöpfen und zu versuchen, meineerregten Nerven ein wenig zur Ruhe zu bringen.Wolf Larsen rauchte seine Zigarre und untersuchtedas Patentlog, das gewöhnlich achternnachschleppte, aber jetzt aus irgendeinem Grundeeingeholt war.

Plötzlich drang Leachs Stimme an mein Ohr. Siewar angestrengt und heiser vor verhaltener Wut.Ich drehte mich um und sah ihn gerade an derBackbordseite der Kombüse neben der Kajütestehen. Sein Gesicht war weiß und verzerrt, seineAugen blitzten, und er hob die geballten Fäustegegen Wolf Larsen.

„Gott verdamme deine Seele in die Hölle, WolfLarsen! Die Hölle ist noch zu gut für dich, Feigling,Mörder, Schweinehund!" Mit diesem Gruß beganner. Ich war wie vom Donner gerührt. Ich erwarteteseine augenblickliche Vernichtung.

Aber Wolf Larsen war nicht in der Laune, ihn zuvernichten. Er schlenderte langsam weiter, stütztedie Ellbogen auf das Kajütendach und blicktenachdenklich und neugierig den aufgeregtenJungen an.

Die Matrosen und Jäger drängten sich heraus,und als Leach auch jetzt noch nicht schwieg,blickten sie besorgt herüber. Ich selbst warerschüttert, so bewunderte ich den Jungen, in demich jetzt die herrliche seelische Unüberwindlichkeitsah, die sich über die Furchtsamkeit des Fleischeserhob, um die Ungerechtigkeit zu verfluchen.

Leach wütete, und während dieser ganzen Zeit

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stand Wolf Larsen ruhig und untätig, auf dieEllbogen gestützt, da und blickte, wie in tiefeNeugier versunken, hinunter. Jeden Augenblickerwartete ich - und alle mit mir,-, daß er sich aufden Jungen stürzen und ihn vernichten würde. Aberin der Laune war er nicht.

Seine Zigarre ging aus, und er blickte weiter,stumm und prüfend. Leach hatte sich in eine wahreEkstase ohnmächtiger Wut verrannt.

In diesem Augenblick betrat Thomas Mugridge,von seiner ruhelosen Seele getrieben, denSchauplatz. Er hatte an der Kombüsentürgelauscht, kam aber jetzt heraus, vorgeblich, umAbfall über Bord zu werfen, in Wirklichkeit aber, umzu sehen, wie Leach getötet würde, was erbestimmt erwartete. Er schmunzelte in seinerfettigen Art Wolf Larsen zu, der ihn jedoch nicht zusehen schien. Aber das störte den Cockney nicht.Er wandte sich an Leach: „Welche Sprache! PfuiTeufel!" Leachs Wut war nicht mehr ohnmächtig.Hier war ein Gegenstand, an dem er sie auslassenkonnte. Und dazu war es das erste Mal, daß derKoch ohne sein Messer an Deck erschien, seit erLeach angefallen hatte.

Kaum hatte er ausgesprochen, als Leach ihnauch schon zu Boden schlug. Dreimal sprangMugridge auf und versuchte, die Kombüse zuerreichen, und jedesmal wurde er wiederniedergeschmettert.

„O Gott!" schrie er. „Hilfe! Hilfe! Haltet ihn, hörtihr, haltet ihn!"

Die Jäger lachten aus reiner Erleichterung. Die

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Tragödie war jetzt vorbei, jetzt begann derSchwank. Die Matrosen rotteten sich achternzusammen, grinsten und schoben sich immernäher, um zu sehen, wie mit dem verhaßtenCockney abgerechnet wurde. Und selbst ich fühlteeine große Freude in mir aufsteigen. Ich gestehe,daß ich mich über die Prügel, die Thomas Mugridgevon Leach bekam, freute, obgleich sie schrecklich,fast ebenso schrecklich waren wie die, dieMugridge Johnson verschafft hatte. Aber in WolfLarsens Gesicht zeigte sich nicht die geringsteRegung. Er änderte nicht einmal seine Stellung,sondern blickte weiter mit großer Neugier herab.Trotz all seiner unfehlbaren Gewißheit schien erSpiel und Bewegung des Lebens in der Hoffnungzu beobachten, etwas Neues zu erfahren und inseinen tollsten Zuckungen etwas zu finden, das ihmbisher entgangen war - vielleicht den Schlüssel zudem Geheimnis, der alles offenbarte. Aber diePrügelei! Sie war ähnlich der, der ich in der Kajütebeigewohnt hatte. Vergebens suchte der Koch sichgegen den rasenden Jungen zu wehren. Undvergebens suchte er die schützende Kombüse zuerreichen. Er rollte, kroch, fiel zu ihr hin, wenn er zuBoden geschlagen wurde. Aber ein Schlag folgtedem andern mit verwirrender Schnelligkeit, bis erendlich, hilflos auf dem Deck liegend, wie Johnsongeschlagen und gestoßen wurde. Und keiner gingdazwischen. Leach hätte ihn töten können, aber dadas Maß seiner Rache offenbar voll war, zog ersich von seinem niedergestreckten Feind zurück,der winselte und jammerte wie ein Hund, und schritt

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nach der Back.Aber diese beiden Scharmützel waren nur die

einleitenden Ereignisse des Tagesprogramms. AmNachmittag fielen Smoke und Hendersonübereinander her. Schuß auf Schuß knallte imZwischendeck, gefolgt von einer wilden Flucht derübrigen vier Jäger an Deck. Eine Säule dichten,scharfen Schwarzpulverrauches erhob sich an derTreppe, und über sie sprang Wolf Larsen hinunter.Beide Männer waren verwundet, und jetzt wurdensie noch dazu von Wolf Larsen verprügelt, weil siesein Verbot übertreten und sich noch vor Beginnder Jagd kampfunfähig gemacht hatten. Sie warenin der Tat recht erheblich verwundet, und als WolfLarsen sie verprügelt hatte, ging er als rauherWundarzt daran, sie zu behandeln und zuverbinden.

Ich diente ihm als Assistent, während er dieSchußwunden reinigte, und ich sah, wie die beidenMänner seine rohe Behandlung ohneBetäubungsmittel ertrugen und sich nur durch einGlas reinen Whiskeys aufrecht hielten.

In der ersten Hundewache kam es zu einerSchlägerei in der Back. Ursache waren die Tratsch-und Klatschgeschichten, die schon dieVeranlassung zu Johnsons Schlägen gewordenwaren, und aus dem Lärm, den wir hörten, und denverprügelten Leuten, die wir am nächsten Tagsahen, erkannten wir, daß offenbar die eine Hälfteder Besatzung die andere gründlich vermöbelthatte.

In der zweiten Hundewache wurde der Tag mit

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einer Schlacht zwischen Johansen und demmageren, wie ein Yankee aussehenden JägerLatimer beendet. Sie wurde herbeigeführt durcheinige Bemerkungen Latimers über dasSchnarchen des Steuermanns im Schlafe, undobwohl Johansen Prügel bekam, hielt er dochwieder die Back für den Rest der Nacht wach,während er selbst, selig schlummernd, im Traumden Kampf immer wieder ausfocht.

Ich selbst wurde von einem Alp geplagt. Derganze Tag hatte einem schrecklichen Traumgeglichen. Eine Roheit war der andern gefolgt,flammende Leidenschaft und kaltblütigeGrausamkeit hatten die Leute getrieben und sie zuBeleidigung, Mord und Totschlag angefacht. MeineNerven waren zerrüttet, ja, meine Seele warerschüttert. Daß ein Mensch seine Wut an einemandern auslassen konnte, indem er ihn zuschandenschlug und ihm das Blut abzapfte, das war etwasseltsam und furchtbar Neues für mich. Und mirschien, daß ich keine Ahnung von dem wirklichenLeben gehabt hatte. Ich lachte bitter und glaubte inWolf Larsens unheilverkündender Philosophie eineviel treffendere Erklärung für das Leben finden zukönnen als in meiner eigenen.

Und ich erschrak, als ich mir der Richtungmeiner Gedanken bewußt wurde.

Die Vernunft sagte mir, daß die Prügel, dieThomas Mugridge erhalten, etwas Böses waren,und dennoch mußte ich mich bei dem Gedankendaran freuen.

Ich war eben nicht mehr Humphrey van Weyden.

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Ich war Hump, der Kajütsjunge auf dem SchonerGhost. Wolf Larsen war mein Kapitän, ThomasMugridge und die übrigen meine Kameraden, undder Stempel, der ihnen allen aufgeprägt war, hatteauch mich gezeichnet.

drei Tage verrichtete ich neben meiner eigenenArbeit auch die von Thomas Mugridge, und ichschmeichele mir, daß ich sie gut tat. Ich weiß, daßsie Wolf Larsens Beifall fand, während dieMatrosen in der kurzen Zeit meines Regiments vorZufriedenheit strahlten.

„Der erste saubere Bissen, seit ich an Bord bin",sagte Harrison zu mir, als er mir die Töpfe undPfannen von der Back wieder an die Kombüsentürbrachte. „Tommys Fraß schmeckt immer nachranzigem Fett, und ich wette, er hat, seit wir Friskoverließen, das Hemd nicht gewechselt."

„Ich weiß, daß er es nicht getan hat", sagte ich.„Und ich wette, er schläft sogar darin", fügte

Harrison hinzu.„Die Wette verlierst du nicht", stimmte ich ihm

lebhaft bei. „Er hat das Hemd in der ganzen Zeitnoch nicht ein einziges Mal vom Leibe gehabt."

Aber drei Tage waren alles, was Wolf Larsendem Koch zugestand, um sich von den Wirkungender erhaltenen Prügel zu erholen. Am vierten wurdeer, noch lahm und wund und kaum imstande, dieAugen zu öffnen, beim Kragen gepackt und ausseiner Koje zur Arbeit geschleppt. Er jammerte undweinte, aber Wolf Larsen hatte kein Mitleid.

„Und sieh zu, daß du uns keinen solchen Fraßmehr auftischst", schärfte er ihm zum Schluß ein.

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„Kein Fett und keinen Dreck, vergiß das nicht, undhin und wieder ein reines Hemd, oder du wirstgekielholt. Verstanden?"

Thomas Mugridge kroch über den Fußboden derKombüse, und ein kurzer Stoß der Ghost brachteihn aus dem Gleichgewicht. Bei dem Versuch, eswiederzuerlangen, faßte er nach der eisernenStange um den Herd, die die Töpfe amHerunterrutschen hindern sollte, griff aber daneben,und seine Hand landete mit ihrer ganzen Fläche aufder heißen Herdplatte. Es zischte, der Geruch vonverbranntem Fleisch verbreitete sich, und er stießein Schmerzensgeheul aus. „O Gott, o Gott, washab ich getan?" wimmerte er, indem er sich auf denKohlenkasten setzte und vor Schmerz hin und herrückte. „Warum muß ich so schwer geprüft werden,ich, der keiner Fliege je etwas zuleide getan hat?"Die Tränen rannen über seine geschwollenenWangen, und sein Gesicht war vor Schmerzverzogen. Ein wilder Ausdruck fuhr darüber hin.„Oh, wie ich ihn hasse! Wie ich ihn hasse!"knirschte er.

„Wen?" fragte ich, aber der arme Wicht weintewieder über sein Mißgeschick.

„Ich hab nie Glück gehabt, nie auch nur daskleinste bißchen Glück! Wer war da, um mich in dieSchule zu schicken, mir ein Stück Brot in denhungrigen Schnabel zu stecken oder die blutigeNase zu wischen, als ich noch ein kleiner Jungewar? Wer hat je was für mich getan, he? Wer, frageich?"

„Mach dir nichts daraus, Tommy", sagte ich und

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legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.„Faß Mut. Ende gut, alles gut. Du hast noch einlanges Leben vor dir und kannst aus dir machen,was du willst."

„Das ist Lüge! Verdammte Lüge!" schrie er mirins Gesicht und schleuderte meine Hand fort. „Esist Lüge, und das weißt du. Ich bin aus Resten undAbfall gemacht. Für dich ist es nicht schwer, Hump.Du bist als feiner Herr geboren. Du hast nieerfahren, was es heißt, sich hungrig in Schlaf zuweinen, während dein Magen knurrt, als ob eineRatte darin säße. Es kann nicht gut werden. Undwenn ich morgen Präsident der Vereinigten Staatenwürde, wie könnte das den Hunger stillen, den ichfrüher gelitten habe? Wie könnte es wohl, frageich? Ich bin für Leiden und Sorgen geboren. Ichhabe mehr durchgemacht als zehn anderezusammen, jawohl! Ich habe mein halbes Leben imKrankenhaus gelegen. Ich hatte Fieber inAspinwall, in Havanna, in New Orleans. Ich wärefast an Skorbut gestorben und faulte sechs Monatedaran in Barbados, Pocken in Honolulu, beideBeine gebrochen in Schanghai, Lungenentzündungin Alaska, drei gebrochene Rippen und eine innereQuetschung in Frisko. Und jetzt bin ich hier. Schaumich an! Schau mich an! Meine Rippen wieder vomRücken losgeprügelt. Ich werde Blut spucken, ehedie Sonne wieder aufgeht. Wie sollte das anders fürmich werden, frage ich? Wer sollte es gutmachen?Gott? Ach, Gott muß mich gehaßt haben, als ermeinen Heuerkontrakt für die Reise durch seineblühende Welt unterschrieb!"

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Seine Diagnose war indessen richtig gewesen,denn er wurde von Anfällen gepackt, in denen erBlut brach und starke Schmerzen hatte. Und erschien recht zu haben: Gott haßte ihn zu sehr, umihn sterben zu lassen, denn er wurde schließlichwieder gesund und war boshafter als je.

Es vergingen noch mehrere Tage, ehe Johnsonan Deck kroch und mutlos an seine Arbeit ging. Erwar noch krank, und mehr als einmal beobachteteich, wie schmerzhaft es für ihn war, zu einemToppsegel hinaufzuklettern, und wie er sichkrümmte, wenn er am Steuerrad stand. Aber dasschlimmste war: Sein Mut schien gebrochen. Erkroch vor Wolf Larsen und lag vor Johansenbeinahe auf dem Bauch vor Furcht. Anders Leach.Der ging an Deck umher wie ein junger Tiger undschleuderte offen seine haßerfüllten Blicke auf WolfLarsen und Johansen.

„Ich werde schon mit dir fertig werden, duplattfüßiger Schwede!" hörte ich ihn eines Nachtsan Deck zu Johansen sagen.

Der Steuermann verfluchte ihn in der Dunkelheit,und im nächsten Augenblick traf irgendeinWurfgeschoß mit scharfem Stoß die Kombüse.Noch einige Flüche ertönten, ein höhnischesLachen, dann war alles still. Ich stahl mich hinausund fand ein schweres Messer, das über einen Zolltief in dem festen Holz steckte.

Einige Minuten später kam der Steuermann,tappte herum und suchte es. Aber ich gab es Leachheimlich am nächsten Tag wieder. Er grinste, alsich es ihm reichte, aber in diesem Grinsen lag mehr

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wahre Dankbarkeit als in dem ganzen Stromschöner Worte von einem meiner eigenenGesellschaftsschicht.

Als einziger von der ganzen Besatzung lebte ichmit allen auf gutem Fuße und stand in aller Gunst.Die Jäger duldeten mich möglicherweise nur,obgleich mich keiner von ihnen haßte. Smoke undHenderson, die als Genesende in Hängemattenunter einem über Deck gespannten Sonnensegellagen, versicherten mir jedoch, ich sei besser alseine Krankenschwester, und sie würden an michdenken, wenn sie am Ende der Reise ihre Löhnungausbezahlt erhielten. (Als ob ich ihres Geldesbedurft hätte! Ich, der ich den ganzen Schoner mitallem, was an Bord war, hätte kaufen undzwanzigfach bezahlen können!) Aber mir war dieAufgabe zugefallen, ihre Wunden zu pflegen undsie durchzubringen, und ich tat mein Bestes.

Wolf Larsen hatte wieder einen schrecklichenAnfall von Kopfschmerzen. Er mußte schrecklichleiden, denn er rief mich zu sich und gehorchtemeinen Anweisungen wie ein krankes Kind. Aberich konnte nichts tun, um ihm Erleichterung zuschaffen. Auf meine Ermahnung rauchte und tranker jedoch nicht. Wieso ein so prachtvolles Tier wieer überhaupt Kopfschmerzen haben konnte, warmir rätselhaft.

„Es ist Gottes Hand, sage ich dir." Das war Louis'Auffassung. „Es ist eine Heimsuchung zur Strafe fürseine schwarzen Taten, und es wird noch ganzanders kommen, oder ..."

„Oder ...", forschte ich.

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„Oder Gott schläft und versäumt seine Pflicht."

Endlich ist mir ein Licht aufgegangen, daß ichdie Frauen nie richtig eingeschätzt habe. Obwohlich weiß Gott kein Schürzenjäger bin, hatte ichdoch nie in einer völlig frauenleeren Atmosphäregelebt. Mutter und Schwestern waren immer ummich gewesen, und ich hatte ihnen stets zuentrinnen gesucht, denn sie quälten mich bis zurVerzweiflung mit ihrer Sorge um meine Gesundheitund ihren periodischen Einfällen in mein Zimmer,die mein „geordnetes" Durcheinander, auf das ichnicht wenig stolz war, in ein noch größeres, wennauch dem Auge wohlgefälligeres Durcheinanderverwandelten. Ich konnte nie etwas wiederfinden,wenn sie mich verlassen hatten. Aber ach, wiewillkommen wäre mir jetzt ihre Gegenwart, dasRascheln ihrer Kleider gewesen, das ich so vonHerzen verabscheut hatte!

So vieles wundert mich. Wo sind die Mütterdieser zwanzig • zusammengewürfelten Männer aufder Ghost! Es erscheint mir unnatürlich undungesund, daß sich Männer völlig getrennt vonFrauen herdenweise allein durch die Welt treibensollen. Roheit und Wildheit sind dieunvermeidlichen Folgen.

Hätten diese Männer Frauen, Schwestern undTöchter um sich, sie würden imstande sein,Sanftmut, Zärtlichkeit und Mitgefühl zu bekunden.Tatsächlich ist nicht einer von ihnen verheiratet.

Diese Gedanken beschäftigten mich, und sosprach ich vergangene Nacht mit Johansen. Es

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waren die ersten überflüssigen Worte, mit denen ermich seit Beginn der Reise beehrte. Mit achtzehnJahren hatte er Schweden verlassen, jetzt ist erachtunddreißig, und die ganze Zeit war er nicht eineinziges Mal zu Hause. Vor einigen Jahren traf er ineinem Seemannsheim in Chile einen Landsmann,und von ihm erfuhr er, daß seine Mutter noch lebte.

„Sie muß jetzt schon eine alte Frau sein", sagteer, indem er nachdenklich ins Kompaßhaus starrteund dann einen scharfen Blick auf Harrison warf,der einen Strich vom Kurs abgewichen war.

„Wann haben Sie ihr zuletzt geschrieben? "Er rechnete laut: „Einundachtzig, nein -

zweiundachtzig, nicht? Nein - dreiundachtzig - ja,dreiundachtzig. Vor zehn Jahren. Aus einemkleinen Hafen in Madagaskar. Ich fuhr auf einemHandelsschiff. Sehen Sie", fuhr er fort, als ob ersich über den halben Erdkreis hinweg an seinevernachlässigte Mutter wandte, „jedes Jahr wollteich heimfahren. Was hatte es da für einen Sinn zuschreiben? Es dauerte ja nur noch ein Jahr. Undjedes Jahr kam etwas dazwischen, und ich kamnicht nach Hause. Aber jetzt bin ich Steuermann,und wenn ich meine Schulden in Frisko - vielleichtfünfhundert Dollar - abbezahlt habe, dann fahre ichauf einem Segler um Kap Hoorn nach Liverpool.Damit verdiene ich dann genug für die Überfahrtnach Hause. Dann braucht sie nicht mehr zuarbeiten."

„Arbeitet sie denn noch? Wie alt ist sie denn?"„Um die siebzig", erwiderte er. Und dann rühmte

er sich: „Bei mir zu Hause arbeiten wir von der

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Geburt bis zum Tode. Daher werden wir so alt. Ichwerde hundert."

Ich werde diese Unterhaltung nie vergessen. Eswaren die letzten Worte, die ich ihn sprechen hörte.Vielleicht waren es die letzten, die er überhauptsprach.

Als ich die Kajüte betrat, war es mir zu stickig,um schlafen zu können. Es war eine stille Nacht.Wir befanden uns außerhalb des Bereiches desPassats, und die Ghost kam kaum einen Knoten inder Stunde vorwärts. So nahm ich denn eine Deckeund ein Kissen unter den Arm und stieg an Deck.

Als ich zwischen Harrison und dem oben aufdem Kajütendach angebrachten Kompaßhaushindurchschritt, bemerkte ich, daß wir volle dreiStrich vom Kurs abgewichen waren. Da ich glaubte,daß der Rudergänger schliefe, und ich ihm einenVerweis ersparen wollte, sprach ich ihn an. Aber erschlief nicht. Mit weit aufgerissenen Augen starrteer vor sich hin. Er schien verwirrt und außerstandezu sein zu antworten. „Was ist denn?" fragte ich.„Bist du krank?"

Er schüttelte den Kopf, und als ob er erwachte,schöpfte er mit einem tiefen Seufzer Atem.

„Du tätest besser daran, den Kurs zu halten",schalt ich.

Er griff in die Speichen des Rades, und ich sah,wie sich die Kompaßnadel langsam nach NNWdrehte und nach einigen leichten Schwingungen zurRuhe kam.

Ich nahm mein Bettzeug wieder auf und wollteweitergehen, als eine Bewegung mein Auge

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fesselte und zurückzwang. Eine sehnige, triefendeHand packte die Reling. Neben ihr tauchte einezweite Hand aus der Finsternis auf. Wie verzaubertstand ich da. Was für einen Gast aus der dunklenTiefe sollte ich sehen? Was für ein Wesen es aberauch sein mochte, so wurde mir jedenfalls klar, daßes mit Hilfe der Logleine an Bord kletterte.

Ich sah einen Kopf mit triefendem Haar, dannerschien ein Körper, und nun erkannte ich Augenund Gesicht Wolf Larsens. Seine rechte Backe warrot von Blut, das aus einer Kopfwunde herabfloß.

Mit einer plötzlichen Anstrengung zog er sich anBord und stand auf den Füßen. Dann warf er einenschnellen Blick auf den Mann am Rade, als wolle ersich überzeugen, wer er sei und daß von ihm keineGefahr drohe. Das Seewasser troff von ihm herabmit einem leisen Rieseln, das mich beunruhigte. Alser auf mich zuschritt, wich ich instinktiv zurück,denn ich sah in seinen Augen etwas, das Tod hieß.

„Gut, Hump", sagte er mit leiser Stimme. „Wo istder Steuermann?"

Ich schüttelte den Kopf.„Johansen!" rief er leise.„Johansen! - Wo ist er?" fragte er Harrison.

Der junge Mann schien seine Fassungwiedererlangt zu haben, denn er antwortete ganzruhig: „Ich weiß es nicht, Herr. Vor kurzem sah ichihn nach vorn gehen."

„Ich war auch vorn. Aber hast du bemerkt, daßich nicht denselben Weg, den ich ging, wiederzurückkam? Kannst du dir das erklären?"

„Sie müssen über Bord gewesen sein, Herr."„Soll ich im Zwischendeck nach ihm sehen,

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Herr?" fragte ich.Wolf Larsen schüttelte den Kopf. „Sie würden ihn

nicht finden, Hump. Aber gehen Sie meinetwegen.Kommen Sie. Lassen Sie Ihr Bettzeug liegen."

Ich folgte ihm. Nichts regte sich mittschiffs.„Die verdammten Jäger!" bemerkte er. „Zu dick

und zu faul, um vier Stunden Wachedurchzuhalten."

Auf der Back fanden wir jedoch drei schlafendeMatrosen. Er drehte sie auf den Rücken und blickteihnen ins Gesicht. Sie bildeten die Deckwache, dieWache selbst pflegte man bei gutem Wetterschlafen zu lassen mit Ausnahme des Offiziers, desRudergängers und des Mannes im Ausguck.

„Wer hat den Ausguck?" fragte der Kapitän.„Ich, Herr", antwortete Holoyak, einer der

Vollmatrosen, mit einem leichten Zittern in derStimme. „Ich bin diese Minute eingeschlafen, Herr.Es tut mir leid, Herr. Es soll nicht wiedervorkommen."

„Hast du irgend etwas an Deck gehört?"„Nein, Herr, ich..."Aber Wolf Larsen hatte sich mit einem

unzufriedenen Knurren abgewandt, und derMatrose rieb sich die Augen, erstaunt, so glimpflichdavongekommen zu sein.

„Still jetzt!" ermahnte mich Wolf Larsen flüsternd,indem er sich bückte und sich anschickte, durch dieLuke hinunterzusteigen.

Ich folgte ihm bebenden Herzens. Wasgeschehen sollte,

wußte ich ebensowenig, wie, was geschehen

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war. Aber Blut war geflossen, und Wolf Larsen warnicht selbst auf den Einfall gekommen, mit einemLoch im Kopf über Bord zu klettern. Außerdemfehlte Johansen.

Es war das erstemal, daß ich in die Backhinunterstieg, und ich werde nicht so bald denEindruck vergessen, der sich mir bot, als ich denFuß auf die Treppe gesetzt hatte. Direkt in denSchiffsraum eingebaut, hatte die Back die Formeines Dreiecks, an dessen Schenkeln die zwölfKojen in zwei Reihen übereinander angebrachtwaren. Sie war nicht größer als eine kleineBodenkammer, und doch mußten zwölf Mann darinessen, schlafen und atmen. Mein Schlafzimmerdaheim war nicht groß, aber es hätte gut einDutzend derartiger Vorderkastelle, ja, wenn mandie Höhe berücksichtigte, das Doppelte fassenkönnen.

Es roch schal und säuerlich, und im Lichte dertrüben, hin und her schwingenden Schiffslampe sahich, daß jeder verfügbare Platz bis ins kleinsteEckchen ausgefüllt war mit Seestiefeln, Ölzeug undsauberen und schmutzigen Kleidungsstücken allerArt. Mit jedem Rollen des Schiffes schwang dasalles hin und zurück und brachte ein scheuerndesGeräusch hervor, als ob ein Baum sich gegen einDach oder eine Wand rieb. Irgendwo stieß einStiefel regelmäßig mit lautem Poltern gegen dieWand. Und obgleich es eine ruhige Nacht war,ertönte doch unausgesetzt ein Chor vonknarrendem Holz, knirschenden Spanten undunergründlichen Geräuschen unter den Dielen.

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Die Schläfer ließen sich nicht stören. Es warendie acht Mann der beiden Freiwachen, die Luft wardick vor Wärme und stinkendem Atem, und das Ohrerfüllte der Lärm ihres Schnarchen, Seufzens undGrunzens. Aber schliefen sie? Alle? Oder hatten siegeschlafen? Das wollte Wolf Larsen offenbarfeststellen; er wollte den finden, der sich nurschlafend stellte oder erst vor kurzemeingeschlafen war. Und er begann dieUntersuchung in einer Art, die mich an eineErzählung Boccaccios erinnerte.Er nahm dieLampe aus ihrem schwingenden Halter und reichtesie mir. Bei den beiden ersten Kojen steuerbordbegann er. In der oberen lag der Kanake Oofty-Oofty, ein ausgezeichneter Seemann. Er lag aufdem Rücken, schlief fest und atmete so sanft wieeine Frau.

Den einen Arm hatte er unter seinen Kopf gelegt,während der andere auf der Decke lag. Wolf Larsenfaßte mit Daumen und Zeigefinger sein Handgelenkund fühlte ihm den Puls. Da erwachte der Kanake.Er erwachte ebenso leicht, wie er schlief, ohne eineeinzige Bewegung seines Körpers. Nur die Augenregten sich. Sie öffneten sich plötzlich ganz weit,groß und schwarz, und starrten uns, ohne zuzwinkern, an. Wolf Larsen legte ihm zum Zeichen,daß er schweigen solle, den Finger auf den Mund,und die Augen schlossen sich wieder.

In der unteren Koje lag Louis, dick, warm undverschwitzt, und schlief einen unvorstellbaren,schweren Schlaf. Als Wolf Larsen sein Handgelenkfaßte, bewegte er sich unbehaglich und krümmte

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seinen Körper so, daß er einen Augenblick nur aufSchultern und Fersen ruhte. Seine Lippenbewegten sich, und er murmelte folgenderätselhaften Worte: „Ein Viertel für einen Shilling,aber biete die Lampen für drei Pence das Stückaus. Sonst hängt sie dir der Wirt für sechs Penceauf."

Dann drehte er sich mit einem schweren Seufzerauf die Seite. Befriedigt schritt Wolf Larsen weiterzu den beiden nächsten Kojen an derSteuerbordseite, in denen, wie wir beim Schein derLampe sahen, oben Leach und unten Johnsonlagen.

Als Wolf Larsen sich zur unteren Kojeniederbeugte, um Johnson den Puls zu fühlen, sahich, der ich aufrecht stand und die Lampe hielt, wieLeach verstohlen den Kopf hob und über den Randder Koje herabblickte, um zu sehen, was vorging.Er mußte wohl die Absicht Wolf Larsensdurchschaut und erkannt haben, daß eineEntdeckung unumgänglich war, denn im selbenAugenblick wurde mir die Lampe aus der Handgeschleudert, und das Vorderkastell war inFinsternis gehüllt. Gleichzeitig mußte er auf WolfLarsen heruntergesprungen sein.

Das erste nun folgende Geräusch war wie daseines Kampfes zwischen einem Stier und einemWolf. Ich hörte ein wütendes Gebrüll von WolfLarsen und ein Knurren von Leach, das verzweifeltund haarsträubend klang. Johnson muß ihm sofortzu Hilfe gekommen sein, so daß sein untertäniges,kriecherisches Wesen in den letzten Tagen nichts

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als Verstellung gewesen war. Ich war so entsetztüber diesen Kampf im Dunkeln, daß ich michzitternd gegen die Treppe lehnte und nichtimstande war hinaufzugehen. Ich hatte wieder dasalte Gefühl in der Magengrube, das mich stets beimAnblick von Gewalttätigkeiten überkam. In diesemFalle konnte ich zwar nichts sehen, aber ich hörtedas dumpfe Geräusch der Schläge.

Es mußten sich wohl noch andere an derVerschwörung gegen Kapitän und Steuermannbeteiligen, denn aus den verschiedenenGeräuschen erkannte ich, daß Leach und Johnsonschnell Verstärkung von ihren Kameraden erhaltenhatten.

„Ein Messer her!" schrie Leach.„Zerschlag ihm den Kopf! Zerquetsch ihm das

Gehirn!" rief Johnson.Aber nach dem ersten Gebrüll machte Wolf

Larsen keinen Lärm mehr. Grimmig und stummkämpfte er um sein Leben. Er war arg in derKlemme. Im ersten Augenblick war er zu Bodengeworfen, und es war ihm nicht möglich, wieder aufdie Beine zu kommen. Ich fühlte, daß er trotz seinerungeheuren Kraft keine Hoffnung hatte.

Ich erhielt selbst einen deutlichen Begriff von derGewalt des Kampfes, denn ich wurde von denumherwirbelnden Körpern zu Boden geschleudertund bös gequetscht. Aber es gelang mir, in derVerwirrung in eine leere Unterkoje zu kriechen, woich mich in Sicherheit befand.

„Alle her! Wir haben ihn! Wir haben ihn!" konnteich Leach rufen hören.

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„Wen? " fragten die, welche wirklich geschlafenhatten und jetzt, sie wußten nicht, wie, gewecktworden waren. „Den Steuermann", antworteteLeach listig. Diese Auskunft wurde mit einemFreudengeheul begrüßt, und jetzt waren siebenstarke Männer über Wolf Larsen. Ich glaube, Louisbeteiligte sich nicht am Kampfe. Die Back glicheinem Bienenstock, dessen wütende Insassendurch einen Eindringling aufgescheucht waren.

„Was ist denn los da unten?" hörte ich Latimerdurch die Luke herunterrufen. Er war zu vorsichtig,um in diese Hölle der Leidenschaftenherabzusteigen, die er in der Finsternis toben hörte.

„Kann denn niemand ein Messer finden? EinMesser, ein Messer!" flehte Leach in einemAugenblick verhältnismäßiger Ruhe.

Die große Zahl der Angreifer verursachteVerwirrung. Sie hinderten sich gegenseitig, ihreKräfte zu entfalten, während Wolf Larsen, der nurein Ziel kannte, dadurch gewann. Dieses Ziel war,sich bis zur Luke durchzuschlagen. Obgleich völligeFinsternis herrschte, konnte ich durch dasGeräusch seine Fortschritte verfolgen. Endlichhatte er die Treppe erreicht, und was er jetzt tat,vermochte nur ein Riese zu tun. Zentimeter umZentimeter zog er sich, allein durch die Kraft seinerArme, aus dem Haufen von Männern heraus, dieihn umklammert hielten, und richtete sich auf, bis erauf den Füßen stand. Und dann arbeitete er sich,Stufe um Stufe, mit Händen und Füßen die Treppehinauf.

Latimer, der endlich eine Laterne geholt hatte,

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hielt sie so, daß sie die Treppe hinableuchtete. WolfLarsen mußte beinahe oben sein, wenn ich ihnauch nicht sehen konnte. Allein sichtbar war derKlumpen von Männern, die sich an ihn klammerten.Der Klumpen zappelte wie eine ungeheure Spinnemit vielen Beinen und schwankte hin und her mitdem Rollen des Schiffes. Aber Stück für Stück, mitlangen Pausen dazwischen, hob sich der Klumpen.Einmal taumelte er und schien herabzustürzen,aber er gewann den verlorenen Halt wieder undkroch weiter.

„Wer ist da?" rief Latimer.Im Schein der Laterne konnte ich sein bestürztes

Gesicht herabblicken sehen.„Larsen", hörte ich eine gedämpfte Stimme

inmitten des Klumpens. Latimer streckte die freieHand herab. Ich sah eine andere Handemporschnellen und die seine packen. Latimer zog,und die nächsten Stufen wurden im Sturmgenommen. Dann streckte sich die andere HandWolf Larsens empor und umklammerte den Randder Luke. Der Klumpen pendelte zurück, und dieTreppe war frei, während die Männer noch an demfliehenden Feinde hingen. Sie begannenabzufallen, einige wurden von dem scharfenLukenrand abgefegt, andere mit den Füßenfortgestoßen. Leach war der letzte, der losließ. Erfiel kopfüber auf seine am Boden krabbelndenKameraden. Wolf Larsen und die Laterneverschwanden; wir blieben im Dunkeln zurück.

Fluchen und Jammern ertönte, als die Männeram Fuße der Treppe wieder auf die Füße zu

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kommen versuchten.„Kann nicht jemand ein Streichholz anzünden,

mein Daumen ist ausgerenkt", rief einer der Leute,ein dunkelhäutiger, melancholischer Mann namensParsons, Standishs Steuerer -in demselben Boot,dessen Puller Harrison war.

„Die liegen irgendwo am Mastfuß herum", sagteLeach und setzte sich auf den Rand seiner Koje, inder ich mich verkrochen hatte. Man suchte nachStreichhölzern, dann wurde eines angezündet, unddie Lampe flackerte auf, trübe und rauchig. In ihremgeisterhaften Schein bewegten sich barfüßigeMänner und sahen nach ihren Wunden. Oofty-Ooftypackte Parsons' Daumen, zog daran und ließ ihnwieder ins Gelenk schnappen. Dabei bemerkte ich,daß der Knöchel des Kanaken aufgeschlitzt und derKnochen bloßgelegt war. Er zeigte die Wunde underklärte mit einem Grinsen, das seine prachtvollenZähne freilegte, er hätte sie bekommen, als erLarsen auf den Mund schlug.

„Also du warst es, du schwarzer Schurke?"fragte Kelly kriegerisch. Er war ein geborenerIrländer, ein Leichtmatrose, der seine erste größereReise machte und Kerfoots Ruderer war.

Bei dieser Frage spuckte er eine Handvoll Blutund Zähne aus und drängte sich mit streitsüchtigerMiene an Oofty-Oofty heran. Der Kanake sprang inseine Koje, war mit einem zweiten Satz wieder daund schwang ein langes Messer.

„Ach, leg dich nieder, sonst setzt es was",mischte Leach sich ein. Trotz seiner Jugend undUnerfahrenheit gab er offenbar in der Back den Ton

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an.„Geh, Kelly, laß Oofty in Ruhe. Wie sollte er

denn im Dunkeln erkennen, daß du es warst?"Kelly murmelte noch etwas und beruhigte sich

dann, während der Kanake dankbar lächelnd dieweißen Zähne fletschte. Er war ein schönesGeschöpf und wirkte beinahe weiblich durch dieangenehmen Linien seiner Gestalt. Sanftmut undVerträumtheit lagen in seinen großen Augen, dieseinen wohlverdienten Ruf für Streit- und RauflustLügen zu strafen schienen.

„Wie ist er entwischt?" fragte Johnson.Er saß auf dem Rande seiner Koje, seine ganze

Stellung drückte äußerste Niedergeschlagenheitund Hoffnungslosigkeit aus. Er atmete noch schwervon der Anstrengung. Das Hemd war ihm imKampfe völlig vom Leibe gerissen, und das Bluttroff ihm aus einer klaffenden Wunde in der Backeauf die nackte Brust hinab, zeichnete eine roteBahn auf seinem weißen Schenkel und tropfte aufden Boden.

„Weil er der Teufel selber ist, wie ich immergesagt habe", meinte Leach, dann sprang er,wütend über die Enttäuschung und mit Tränen inden Augen, auf.

„Und nicht einer von euch konnte ein Messerbringen!" klagte er immer wieder.

Aber die andern hatten große Furcht vor den zuerwartenden Folgen und achteten nicht auf ihn.

„Wie kann er wissen, wer's war? " fragte Kellyund sah sich mit einem blutgierigen Blick um, „essei denn, daß einer von euch aus der Schule

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schwatzte."„Er braucht euch ja nur anzusehen", entgegnete

Parsons, „ein Blick genügt ihm."„Erzähl ihm, daß das Deck hochprellte und dir

die Zähne aus dem Munde schlug", grinste Louis.Er war der einzige, der nicht aus seiner Kojeherausgekommen war, und er freute sich, weil erkeine Wunden hatte, die verraten konnten, daß erbei dieser Nachtarbeit beteiligt gewesen war.„Wartet nur, bis er eure Fratzen morgen gesehnhat", gluckste er.

„Wir sagen, daß wir ihn für den Steuermannhielten", meinte einer.

Und ein anderer erklärte: „Ich weiß, was ichsagen werde: daß ich Lärm hörte, aus der Kojesprang, zum Dank für meine Mühe eins aufs Maulkriegte und so in die Geschichte hinein-gezerrtwurde. Ich konnte nicht sehen, was und wer es war,und schlug um mich."

„Und da hast du mich natürlich getroffen", fielKelly ein, und sein Gesicht hellte sich einenAugenblick auf. Leach und Johnson beteiligten sichnicht an der Unterhaltung, es war klar, daß ihreKameraden sie als Leute ansahen, für die dasSchlimmste unvermeidlich, ja, deren Lagehoffnungslos war, und die bereits als tot zubetrachten waren.

Eine Weile hörte Leach ihre Befürchtungen undVorwürfe mit an. Dann aber brach er los: „Ihrlangweilt mich! Schöne Genossen seid ihr! Wennihr etwas weniger geschwatzt und etwas mehrgetan hättet, dann wäre es jetzt geschafft. Warum

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konnte mir nicht einer, nur ein einziger, ein Messergeben, als ich danach rief? Jetzt jammert und klagtihr, als ob er euch totschlagen würde, wenn er eucherwischte! Ihr wißt verdammt gut, daß er das nichttun wird. Er kann es gar nicht. Hier gibt es keinenHeuerbaas, und er braucht euch bei seinemGeschäft, ihr seid ihm unentbehrlich. Wer solltepullen und steuern und Segel setzen, wenn er euchverlöre? Ich und Johnson werden die Suppeauszulöffeln haben. Jetzt geht in eure Kojen, undhaltet den Mund, ich möchte ein bißchen schlafen."

„Das ist schon richtig, ganz richtig", meinteParsons. „Mag sein, daß er uns nichts tut, aberdenkt an meine Worte: Von heute an wird diesesSchiff ein Zuchthaus sein."

Die ganze Zeit war ich mir über meine eigeneschwierige Lage klargewesen. Was geschah, wenndie Leute meine Gegenwart entdeckten? Ich konntemich nicht durchschlagen wie Wolf Larsen.

Und in diesem Augenblick rief Latimer durch dieLuke herab: „Hump! Der Alte braucht dich!"

„Hier ist er nicht!" rief Parsons zurück.„Doch ist er hier!" sagte ich und bemühte mich,

meine Stimme fest erklingen zu lassen.Die Matrosen blickten mich bestürzt an. Starke

Furcht prägte sich auf ihren Zügen aus unddaneben die Folge der Furcht: Teufelei.

„Ich komme!" rief ich Latimer zu.„Nein, das wirst du nicht!" rief Kelly und trat

zwischen mich und die Treppe, während seineRechte sich in eine Klaue verwandelte, die bereitwar, mich zu erwürgen. „Du verdammter kleiner

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Duckmäuser! Ich werde dir das Maul stopfen."„Laß ihn gehen!" befahl Leach.„Nein, und wenn es das Leben gälte", lautete die

zornige Erwiderung.Leach blieb unverändert auf dem Rande seiner

Koje sitzen. „Laß ihn gehen, sage ich!" wiederholteer; aber diesmal war seine Stimme kernig undmetallisch.

Der Ire schwankte. Ich machte Mienevorbeizuschreiten, und er trat beiseite. Als ich dieTreppe erreicht hatte, wandte ich mich gegendiesen Kreis brutaler und bösartiger Gesichter, diemich im Halbdunkel anstarrten. Ein plötzlichestiefes Mitgefühl wallte in mir auf. Ich erinnerte michder Anschauung des Cockneys: Wie mußte Gott siehassen, daß sie so gepeinigt wurden!

„Ich habe nichts gesehen oder gehört, glaubtmir!" sagte ich ruhig.

„Ich sage euch, er ist in Ordnung", hörte ichLeachs Stimme, als ich die Treppe hinaufstieg. „Erliebt den Alten nicht mehr als ihr und ich."

Ich fand Wolf Larsen in der Kajüte, entkleidetund blutig. Er wartete auf mich und begrüßte michmit seinem seltsamen Lächeln. „Kommen Sie, undmachen Sie sich an die Arbeit, Doktor. Siescheinen die besten Aussichten für eineausgedehnte Praxis auf dieser Reise zu haben. Ichweiß nicht, was ohne Sie aus der Ghost gewordenwäre, und wenn ich sogenannter edler Gefühlefähig wäre, würde ich Ihnen versichern, daß IhrKapitän Ihnen außerordentlich dankbar sei."

Ich kannte den einfachen Arzneikasten der

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Ghost, und während ich Wasser auf demKajütsofen wärmte und alles für die Behandlung derWunden Nötige bereitmachte, ging er lachend undplaudernd auf und ab und betrachtete prüfendseine Verletzungen. Ich hatte ihn noch nie entblößtgesehen, und der Anblick seines Körpers benahmmir fast den Atem. Es war nie meine Schwächegewesen, das Fleisch zu sehr zu preisen - weitentfernt. Aber es steckte genug von einem Künstlerin mir, um Wunderwerke anzuerkennen.

Wolf Larsen war der Mann in seinerVollkommenheit, beinahe ein Gott. Wenn er sichbewegte oder die Arme hob, sprangen und regtensich die starken Muskeln unter der feinen, glattenHaut.

Ich vergaß zu bemerken, daß das Braun sich aufsein Gesicht und seinen Hals beschränkte. SeinKörper war, dank seiner skandinavischen Herkunft,weiß. Ich weiß noch, wie er die Hand hob, um seineKopfwunde zu befühlen, und wie der Bizeps sichwie ein lebendiges Wesen unter einer weißen Hüllebewegte. Dieser Bizeps war es, der mir kürzlichbeinahe das Leben herausgepreßt, den ich so vieletödliche Schläge hatte austeilen sehen. Ich konntedie Augen nicht von ihm lassen. Reglos stand ichda und ließ ein Päckchen Watte, das ich in derHand hielt, sich aufrollen und zu Boden fallen.

Er sah sich nach mir um, und ich wurde mirbewußt, daß ich dastand und ihn anstarrte:

„Gott hat Sie schön geschaffen", sagteich.„Wirklich?" antwortete er. „Ich habe oft dasselbegedacht und mir den Kopf zerbrochen, warum?"

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„Absicht...", begann ich.„Zweckmäßigkeit", unterbrach er mich. „Dieser

Körper ist zum Gebrauch geschaffen. DieseMuskeln sind gemacht, um zuzupacken, um zuzerreißen und zu vernichten, was sich zwischenmich und das Leben stellt. Aber haben Sie anandere Lebewesen gedacht? Auch sie habenMuskeln irgendwelcher Art, um zu packen, zuzerreißen und zu vernichten. Wenn sie aberzwischen mich und das Leben treten, so übertreffeich sie im Packen, Zerreißen und Vernichten. EineAbsicht erklärt dies nicht, wohl aber dieZweckmäßigkeit." „Das ist nicht schön", wandte ichein. „Das Leben ist nicht schön, meinen Sie",lächelte er. „Und doch sagen Sie, ich sei schöngeschaffen. Sehen Sie her!"

Er spreizte die Beine und preßte die Zehengegen den Kajütsboden, als wolle er ihn damitpacken. Knoten, Klüfte und Berge von Muskelnspielten unter seiner Haut. „Fühlen Sie!" befahl er.Sie waren hart wie Stahl. Sein ganzer Körper hattesich, straff und geschmeidig, unbewußtzusammengezogen, die Muskeln streckten sichsanft über Lenden, Rücken und Schultern, dieArme waren leicht erhoben, ihre Muskeln zogensich zusammen, die Finger krümmten sich, daß dieHände Klauen glichen, und selbst die Augen hattenihren Ausdruck gewechselt, und die Schärfe undWachsamkeit eines Raubtieres leuchteten ausihnen.

„Festigkeit und Gleichgewicht", sagte er undentspannte seinen Körper wieder. „Füße, um sich

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am Boden zu halten. Beine, um fest zu stehen undWiderstand zu leisten, wenn ich mit Armen,Händen, Zähnen und Nägeln zu töten versuche, umnicht selbst getötet zu werden. Absicht?Zweckmäßigkeit ist ein besseres Wort."

Ich widersprach ihm nicht. Ich hatte denMechanismus einer primitiven kämpfenden Bestiegesehen, und er machte einen Eindruck auf michwie die Maschinen eines großen Kriegsschiffesoder eines Ozeandampfers. Wenn ich an denheißen Kampf im Vorderkastell dachte, war ichüberrascht von der Oberflächlichkeit seinerVerletzungen, und ich glaube sagen zu dürfen, daßich sie gut pflegte. Mit Ausnahme einiger häßlicherWunden waren es nur tüchtige Beulen undSchrammen. Der Schlag, den er auf den Kopferhalten hatte, ehe er über Bord flog, hatte seineSchädeldecke mehrere Zentimeter breit bloßgelegt.Ich reinigte die Wunde und nähte sie nach seinerAnweisung zusammen, nachdem ich dieWundränder rasiert hatte. Dann hatte er einenschlimmen Riß in der Wade, der aussah, als hättesich eine Bulldogge hinein verbissen.

„Ja, wie gesagt, Hump. Sie sind ein brauchbarerMensch", begann Wolf Larsen, als ich mit meinerArbeit fertig war. „Wie Sie wissen, fehlt uns einSteuermann. Von jetzt an übernehmen Sie dieWache, erhalten fünfundsiebzig Dollar monatlichund werden vorn und achtern Herr van Weydenangeredet."

„Ich - verstehe nichts von Navigation, das wissenSie doch", keuchte ich.

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„Gar nicht nötig."„Ich mache mir wirklich nichts aus einer solchen

Beförderung", wandte ich ein. „Ich finde das Lebenschwer genug in meiner jetzigen bescheidenenStellung. Ich habe keine Erfahrung. AlleMittelmäßigkeit hat ihre Grenzen."

Er lächelte, als wäre die Sache abgemacht.„Ich will nicht Steuermann auf diesem

Höllenschiff sein!" rief ich trotzig.Ich sah sein Gesicht hart werden und den

unbarmherzigen Schimmer in seine Augen treten.Er ging in seinen Schlafraum, indem er sagte: „Undjetzt, Herr van Weyden, gute Nacht."

„Gute Nacht, Herr Larsen", antwortete ichschwach.

Ich kann nicht behaupten, daß die Stellung alsSteuermann mir einen andern Vorteil gebrachthätte, als daß ich nicht mehr Geschirrabzuwaschen brauchte. Ich wußte nicht dasgeringste von den elementarsten Pflichten einesSteuermanns, und es würde mir schlecht ergangensein, hätte ich nicht die Zuneigung der Matrosenbesessen. Die Männer bemühten sich, michanzuweisen - namentlich Louis war ein tüchtigerLehrer -, und meine Untergebenen machten mirkeine Schwierigkeiten.

Anders die Jäger. Mehr oder minder mit demLeben zur See vertraut, nahmen sie mich für eineArt Scherz. Zwar konnte ich es selbst nicht ernstnehmen, daß ich, die ausgemachteste Landratte,das Amt des Steuermanns bekleiden sollte, - wennaber andere einen nicht ernst nehmen, ist das

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etwas anderes. Ich beklagte mich nicht, aber WolfLarsen forderte die pünktliche Einhaltung derSchiffsgesetze in bezug auf mich - in weit höheremMaße, als er es bei dem armen Johansen getan,und nachdem er ein paar von ihnen verprügelt undsie eindringlich ermahnt und bedroht hatte, kamendie Jäger zur Vernunft. Ich war vorn und achternHerr van Weyden, und nur inoffiziell geschah eswohl, daß Wolf Larsen mich noch Hump nannte.

Es war ganz unterhaltend. Während wir beiTisch saßen, schlug zum Beispiel der Wind um,und wenn ich dann aufstand, sagte er: „Herr vanWeyden, würden Sie die Güte haben, nachBackbord umzulegen." Und ich ging an Deck, riefLouis zu mir und ließ mir von ihm sagen, was zutun war. Wenn ich dann seine Anweisungenverdaut und das Manöver verstanden hatte, gingich daran, meine Befehle zu erteilen.

Ich erinnere mich an einen der ersten Fälledieser Art. Als ich gerade meine Befehle erteilenwollte, erschien Wolf Larsen auf der Szene. Errauchte seine Zigarre und schaute ruhig zu, dannkam er nach achtern und stellte sich neben mich.„Hump", sagte er, „Verzeihung: Herr van Weyden,ich gratuliere. Jetzt können Sie Ihrem Vater dieBeine ins Grab zurückschicken. Sie haben Ihreeigenen entdeckt und gelernt, auf ihnen zu stehen.Noch ein bißchen Arbeit in den Tauen, einigeÜbung im Segelsetzen und etwas Erfahrung beiSturm, und Sie können am Ende der Reise aufjedem Küstenschiff anheuern."

In dieser Zeit, zwischen Johansens Tod und der

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Ankunft in den Robbengründen, verlebte ich meineangenehmsten Tage auf der Ghost. Wolf Larsenwar rücksichtsvoll, die Matrosen halfen mir, und ichkam nicht in eine aufreizende Berührung mitThomas Mugridge. Und ich muß offen gestehen,daß ich, wie die Tage dahingingen, einen gewissenheimlichen Stolz zu fühlen begann. In dieserphantastischen Lage - eine Landratte alsNächstkommandierender - hielt ich mich doch ganzgut, und ich wurde bald selbstbewußt und gewanndas Heben und Senken der Ghost lieb, die sichunter meinen Füßen ihren Weg durch die tropischeSee nach der kleinen Insel im Nordwesten bahnte,wo wir unsere Wasserfässer füllen sollten.

Aber mein Glück war nicht ungetrübt. Es war nureine verhältnismäßig weniger unglückliche Periode,die sich zwischen das große Elend vonVergangenheit und Zukunft eingeschlichen hatte.Denn die Ghost war für die Matrosen einHöllenschiff schlimmster Art geworden. Sie hattennie einen Augenblick Ruhe oder Frieden. WolfLarsen ließ sie für ihren Überfall und die Prügel, dieihm in der Back zuteil geworden waren, bezahlen.Und morgens, mittags, abends und nachts widmeteer sich der Aufgabe, ihnen das Leben unerträglichzu machen. Er kannte die Psychologie derKleinigkeiten nur zu gut, und mit Kleinigkeiten trieber die Mannschaft bis an den Rand des Wahnsinns.Ich war Zeuge, wie Harrison aus der Koje geholtwurde, um einen an den falschen Platz gelegtenPinsel richtig hinzulegen, und wie zwei von derWachmannschaft aus dem Schlaf geweckt wurden,

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um mitzugehen und zu sehen, ob er es richtigmachte. Eine Kleinigkeit, wohl wahr, wenn aber einso erfinderischer Kopf tausenderlei erdenkt, sokann man sich die Gemütsverfassung der Leute inder Back leicht vorstellen.

Natürlich wurde beständig gemurrt, und immerfanden kleine Ausbrüche statt. Schläge wurdenausgeteilt, und zwei bis drei Mann mußten stets dieVerletzungen pflegen, die ihnen von der Hand ihresHerrn, dieser menschlichen Bestie, zugefügtworden waren. Offene Meuterei war nicht möglichangesichts des bedeutenden Waffenarsenals imZwischendeck und in der Kajüte. Leach undJohnson waren die auserwählten Opfer derteuflischen Einfälle Wolf Larsens, und der Ausdrucktiefster Schwermut, der sich auf Johnsons Gesichtund in seinen Augen zeigte, ließ mein Herz bluten.

Anders Leach. In ihm steckte zuviel von einemkämpferischen Raubtier. Er schien von einerunersättlichen Wut besessen, die ihm nicht die Zeitließ, sich seinem Kummer hinzugeben. SeineLippen waren zu einem beständigen Knurrenverzerrt, das sich beim bloßen Anblick WolfLarsens zu einem furchtbaren, drohenden und, ichglaube, ihm ganz unbewußten Ton verstärkte. Ichhabe beobachtet, wie er Wolf Larsen mit denAugen folgte wie ein wildes Tier seinem Wächter,während das tierische Knurren tief aus seiner Kehlekam und zwischen den Zähnen zitterte.

Er sowohl wie Johnson würden Wolf Larsen beider ersten Gelegenheit getötet haben, aber dieGelegenheit kam nie. Wolf Larsen war zu klug, und

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außerdem hatten sie keine entsprechendenWaffen. Mit ihren Fäusten hatten sie keineGelegenheit. Der Teufel in Leach forderte denTeufel in Wolf Larsen heraus. Sie brauchten nurgleichzeitig an Deck zu erscheinen, so waren sieauch schon fluchend, knurrend und kämpfendaneinander, und ich habe Leach gesehen, wie ersich ohne Warnung und ohne Anlaß auf WolfLarsen stürzte. Einmal schleuderte er seinschweres Messer und verfehlte Wolf Larsens Kehlenur um Zentimeter. Ein andermal ließ er einenstählernen Marlspieker vom Besanmastherunterfallen, auf einem rollenden Schiff einschwerer Wurf, aber die scharfe Spitze, die auseiner Höhe von fünfundzwanzig Metern durch dieLuft sauste, verfehlte den Kopf Wolf Larsens, dergerade von der Kajütstreppe kam, nur ganz knappund bohrte sich tief in die feste Deckplanke ein. Eindrittes Mal stahl er sich ins Zwischendeck, setztesich in den Besitz eines geladenen Gewehrs undschlich sich damit auf Deck, wurde aber vonKerfoot überrascht und entwaffnet. Ich wundertemich oft, daß Wolf Larsen ihn nicht tötete

und der Sache damit ein Ende machte. Aber erlachte nur, und es schien ihn zu belustigen.

„Es kitzelt", erklärte er mir, „wenn das Leben nuran einem Haar hängt. Der Mensch ist von Naturaus Spieler, und das Leben ist der höchste Einsatz,den man hat. Je größer die Gefahr, desto mehrkitzelt es. Warum sollte ich mir die Freude rauben,Leachs Seele bis zur Fieberglut zu erhitzen?Übrigens erweise ich ihm damit einen

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Freundschaftsdienst. Das Gefühl ist gegenseitig. Erführt ein königlicheres Dasein als jeder andere vonder Mannschaft, wenn er es auch nicht weiß. Denner hat, was die andern nicht haben, ein Ziel, eineAufgabe, die ihn ganz erfüllt: den Wunsch, mich zutöten, und die Hoffnung, daß ihm dies glückenwerde. Wirklich, Hump, er lebt auf den Höhen desLebens. Ich zweifle, daß er je so frisch und mutiggelebt hat, und beneide ihn zuweilen ehrlich, wennich ihn auf dem Gipfel der Leidenschaft und desGefühls rasen sehe."

„Ach, das ist feige, feige!" rief ich. „Sie haben jadas Übergewicht."

„Wer ist der größere Feigling von uns beiden,Sie oder ich?" fragte er ernsthaft. „Die Situation istunerfreulich, und da schließen Sie einenKompromiß mit Ihrem Gewissen. Wenn Sie wirklichgroß, wenn Sie wahr gegen sich selbst wären, sowürden Sie gemeinsame Sache mit Leach undJohnson machen. Aber Sie fürchten sich. Siewollen leben. Das Leben in Ihnen schreit heraus,daß es leben muß, koste es, was es wolle. Unddaher leben Sie unwürdig, werden Ihren bestenTräumen untreu, versündigen sich gegen all Ihrejämmerlichen Lehren und schicken Ihre Seeleschnurstracks in die Hölle, falls es eine gebensollte. Pah! Ich spiele ein tapferes Spiel. Ichsündige nicht, denn ich bleibe meinenLebensanschauungen treu."

Was er sagte, traf mich. Vielleicht war ichwirklich feige, und je mehr ich darüber nachdachte,desto mehr erschien es mir als meine Pflicht, zu

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tun, was er mir geraten hatte: gemeinsame Sachemit Leach und Johnson zu machen, um ihn zubeseitigen. Der Gedanke ließ mich nicht los. Esmußte eine gute Tat sein, die Welt von diesemUngeheuer zu befreien. Die Menschheit würdebesser und glücklicher, das Leben schöner undlieblicher dadurch werden. Ich erwog es lange, lagwach in meiner Koje und ließ die Tatsachennochmals in endloser Prozession an mirvorbeiziehen. Während der Nachtwachen, wennWolf Larsen unten war, sprach ich mit Johnson undLeach. Beide hatten die Hoffnung aufgegeben -Johnson aus Mutlosigkeit, Leach, weil er sich indem vergeblichen Ringen erschöpft hatte. Abereines Nachts ergriff er leidenschaftlich meine Handund sagte: „Sie sind ein anständiger Kerl, Herr vanWeyden. Aber bleiben Sie, wo Sie sind, und haltenSie den Mund. Wir beide, Johnson und ich, sindverloren, ich weiß es - aber vielleicht wird es Ihnendoch eines Tages möglich sein, uns einen Dienstzu erweisen, wenn wir es verdammt nötig haben."

Ich hatte die Hoffnung gehegt, daß LarsensOpfer eine Gelegenheit zur Flucht finden würden,wenn wir die Wasserfässer füllten, aber der Kapitänhatte seine Maßregeln getroffen. Die Ghost lageinen Kilometer vor der Brandung, und dahinter waröder Strand, den eine wilde Bergschlucht mitsteilen, vulkanischen, unersteigbaren Wändenabschloß. Und hier, unter seiner eigenen Aufsicht -denn er ging selbst mit an Land -, füllten Leach undJohnson die kleinen Fässer und rollten sie zumWasser hinab. Sie hatten keine Gelegenheit, mit

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Hilfe eines Bootes ihre Freiheit zu gewinnen.Harrison und Kelly jedoch machten einen

Fluchtversuch. Sie befanden sich in einem derBoote und hatten die Aufgabe, mit je einem Faßzwischen Strand und Schoner hin- undherzurudern. Gerade vor dem Mittagessen, als siemit einem leeren Faß an Land fuhren, änderten sieplötzlich den Kurs nach links, um hinter dasVorgebirge zu kommen, das sich zwischen ihnenund der Freiheit aus dem Meere erhob. Jenseitsder schäumenden Fläche lagen die Täler, die sichweit ins Innere erstreckten. Waren sie erst dort, sokonnte sich Wolf Larsen den Mund nach ihnenwischen. Ich hatte bemerkt, daß Henderson undSmoke den ganzen Morgen auf Deckherumlungerten, und jetzt erfuhr ich den Zweck. Sienahmen ihre Büchsen und eröffneten lässig einFeuer auf die Flüchtlinge. Es war eine kalteDarbietung ihrer Schießkunst. Zuerst hüpften ihreKugeln harmlos über den Wasserspiegel zu beidenSeiten des Bootes, als aber die Leuteweiterruderten, trafen sie immer näher.

„Paß auf, jetzt nehme ich Kellys rechtenRiemen", sagte Smoke, indem er sorgfältig zielte.

Ich sah durch das Glas, wie das Ruderblattdurch seinen Schuß zersplittert wurde. Hendersonwählte sich Harrisons rechten Riemen zum Ziel.Das Boot drehte sich. Einen Augenblick späterwaren auch die beiden anderen Riemenzerschossen. Die Leute versuchten mit denStümpfen zu rudern, aber sie wurden ihnen ausden Händen geschossen.

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Kelly brach eine Bodenplanke los und beganndamit zu paddeln, ließ sie aber mit einemSchmerzensruf fallen, als die Splitter ihm in dieHand drangen. Jetzt gaben sie es auf und ließendas Boot treiben, bis ein zweites Boot, das WolfLarsen vom Strande schickte, sie ins Schlepptaunahm und an Bord brachte.

Spät am Nachmittag lichteten wir die Anker undfuhren weiter. Vor uns lagen drei bis vier MonateJagd in den Robbengründen. Diese Aussicht war inder Tat trübe, und ich ging schweren Herzens anmeine Arbeit. Eine Art Grabesstimmung schien sichauf die Ghost herabgesenkt zu haben. Wolf Larsenhatte sich, von seinen merkwürdigen, betäubendenKopfschmerzen gepackt, in seine Kojezurückgezogen. Harrison stand teilnahmslos amRad, halb darauf gestützt, als drücke ihn seineigenes Gewicht zu Boden. Die übrige Mannschaftwar mürrisch und schweigsam. Die allgemeineFinsternis hatte auch mich eingehüllt. DasSchlimmste schien unvermeidlich. Und wie ichStunde um Stunde an Deck auf und ab schritt, warmir, als hätten mich die abstoßenden GedankenWolf Larsens angesteckt. Wozu das alles? Wo wardie Größe des Lebens, wenn es eine so maßloseVernichtung menschlicher Seelen zulassen konnte?Alles in allem war dieses Leben etwas Billiges,Nichtiges, und je eher es vorbei war. desto besser.Auch ich lehnte mich über die Reling und starrtesehnsüchtig ins Meer hinab, sicher, daß ich früheroder später versinken mußte in dieser kühlengrünen Tiefe der Vergessenheit.

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Sechstes KapitelMerkwürdigerweise ereignete sich trotz der

allgemeinen Ahnungen nichts Besonderes auf derGhost. Wir liefen weiter nach Norden und Westen,bis wir die japanische Küste erreichten und diegroßen Robbenherden fanden. Sie kamen durchden unendlichen Ozean - niemand wußte woher -auf ihren alljährlichen Wanderungen nach denPaarungsplätzen an der Beringsee. Und nachNorden fuhren wir, mordend und vernichtend,indem wir die geschundenen Körper den Haienüberließen und die Häute einsalzten, damit siespäter die schönen Schultern der Städterinnenschmücken konnten. Es war Massenmord.Niemand aß das Fleisch oder gebrauchte den Tran.Nach einem guten Jagdtag war das ganze Deck mitFellen und Körpern übersät und schlüpfrig von Fettund Blut, durch die Speigatten floß ein roter Strom,und Masten, Tauwerk und Reling warenblutbespritzt. Die Männer verrichteten ihr Handwerkwie Schlächter, mit bloßen roten Armen und großenMessern in den Händen, um die schönen Seetiere,die sie getötet hatten, ihrer Felle zu berauben.

Ich hatte die Aufgabe, die Felle nachzuzählen,wenn sie von den Booten an Deck geschafftwurden, das Häuten und später die Säuberung desDecks zu beaufsichtigen. Es war keine erfreulicheArbeit. Seele und Magen empörten sich dagegen.Und doch tat mir diese Arbeitsleistung und derBefehl über viele Männer gut. MeineEntschlossenheit entwickelte sich, und ich merkte,

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daß ich ausdauernd und abgehärtet wurde. Einesbegann ich zu fühlen, daß ich nie wieder derselbewerden konnte, der ich gewesen war. Überlebtenauch meine Hoffnung und mein Glaube an dasmenschliche Leben immer noch Wolf Larsensvernichtende Kritik, so hatte er dennochVeränderungen in weniger wichtigen Dingen bei mirverursacht. Er hatte mir die Welt der Wirklichkeitgeöffnet, von der ich bisher tatsächlich nichtsgewußt und die ich immer gescheut hatte. Ich hattegelernt, das Leben, wie es wirklich war, näher zubetrachten, zu erkennen, daß es etwas auf der Weltgab, das Tatsachen hieß, mich zu befreien von derHerrschaft des Geistes, der Gedanken und einengewissen Wert zu legen auf die greifbaren,gegenständlichen Seiten des Daseins.

Als wir die Jagdgründe erreicht hatten, sah ichWolf Larsen öfter denn je. Denn wenn das Wetterschön war und wir uns inmitten einer Herdebefanden, waren alle Mann in den Booten, und nurer und ich sowie Thomas Mugridge, der nichtzählte, blieben an Bord. Aber das war keineErholung für mich. Die sechs Boote zerstreutensich fächerförmig vom Schoner, bis das äußersteLuv- und Leeboot zehn bis zwanzig Meilenvoneinander entfernt waren, dann kreuzten sie undjagten, bis die Nacht hereinbrach oder schlechtesWetter sie zur Umkehr zwang. Unsere Aufgabe wares, die Ghost in Lee des letzten Leebootes zusteuern, so daß alle Boote günstigen Wind hatten,wenn sie uns bei drohendem Unwetter erreichenwollten.

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Es ist keine Kleinigkeit für zwei Mann,namentlich bei steifem Wind, ein Fahrzeug wie dieGhost zu führen, zu steuern, Ausschau nach denBooten zu halten und Segel zu setzen und zustreichen. Daher galt es für mich zu lernen undschnell zu lernen. Das Steuern erfaßte ich leicht,aber in die Takelung zu klettern und nur durch dieKraft meiner Arme mein ganzes Gewichthinaufzuschwingen, wenn ich die Wanten verließ,um noch höher zu gehen, war schon viel schwerer.Aber auch das lernte ich rasch, denn ich spürte inmir den heißen Wunsch, vor Wolf Larsen zubestehen und mein Recht am Leben auf andernWegen als denen des Geistes zu beweisen. Ja, eskam die Zeit, da es mir geradezu eine Freudemachte, dieBewegungen der Mastspitze zu fühlenund mich mit den Beinen festzuklammern, währendich durch das Glas das Meer nach den Bootenabsuchte.

Ich erinnere mich eines Tages, als die Boote frühausfuhren, wie das Knallen der Büchsen immerferner und schwächer klang und schließlich ganzerstarb, je weiter sie sich über das Meerzerstreuten. Es wehte ganz schwach aus Westen,aber der Wind schlief völlig ein, gerade als wir inLee der Boote angelangt waren. Eines nach demandern - ich sah es von der Mastspitze aus -verschwanden die sechs Boote hinter der Rundungder Erde, indem sie die Robben westwärtsverfolgten. Wir lagen, nur ganz schwach in derstillen See rollend und außerstande, die Booteeinzuholen. Wolf Larsen war ernst. Das Barometer

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fiel, und der Himmel im Osten gefiel ihm nicht. Erstudierte ihn mit Wachsamkeit. „Wenn es dort",sagte er, „plötzlich losbricht und uns in Luv von denBooten treibt, kann es leicht leere Kojen inZwischendeck und Back geben."

Gegen elf Uhr war die See blank wie Glasgeworden. Um Mittag war die Hitze, obwohl wir unshoch im Norden befanden, erstickend. Nicht einLüftchen wehte. Es war schwül und drückend, undich erinnerte mich des kalifornischen Ausdrucks„Erdbebenwetter". Etwas Unheilverkündendes wardarin, und man hatte das unerklärliche Gefühl, daßdas Schlimmste bevorstand. Langsam füllte sichder östliche Himmel mit Wolken, die uns wie einschwarzes Gebirge der Höllenregion überragten.So deutlich konnte man Schlünde, Schluchten undAbgründe in ihren Schatten unterscheiden, daßman unwillkürlich nach der weißen Brandungslinieausschaute und auf ihr Brüllen lauschte. Und immernoch schaukelten wir sanft in der Windstille.

„Das ist keine Bö", sagte Wolf Larsen. „Die alteMutter Natur ist daran, sich auf die Hinterbeine zustellen und loszulegen, und wir können froh sein,Hump, wenn die Hälfte unserer Boote durchkommt.Sie täten am besten, nach oben zu gehen und dieToppsegel loszumachen."

„Aber wenn es losbricht, und wir sind nur zweihier?" fragte ich mit einem Klang von Protest in derStimme.

„Na, wir wollen tun, was wir können, und denersten Anprall benutzen, um unsere Boote zuerreichen, ehe unsere Leinwand in Fetzen geht.

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Was dann geschieht, dafür gebe ich keinen Deut.Die Hölzer werden schon halten, und das werdenwir beide auch, wenn es auch eine harte Nuß füruns wird."

Immer noch hielt die Stille an. Wir aßen zuMittag. Es war eine hastige, ängstliche Mahlzeit mitdem Gedanken an die achtzehn Mann draußen aufSee hinter dem Horizont und die himmelhohenWolkenberge, die langsam näher zogen. WolfLarsen schien indessen ganz unbekümmert, erschien sich zu freuen auf den bevorstehendenKampf, gehoben durch das Bewußtsein, daß einerder großen Augenblicke bevorstand, in denen dieEbbe des Lebens zur Flut schwillt.

Ohne zu ahnen, daß er es tat oder daß ich essah, lachte er einmal laut, spöttisch undherausfordernd dem nahenden Sturm entgegen. Ertrotzte dem Schicksal und fürchtete sich nicht.

Er schritt nach der Kombüse. „Köchlein, wenn dufertig bist mit deinen Töpfen und Pfannen, wirst duauf Deck gebraucht. Halt dich bereit, wenn dugerufen wirst."

Der westliche Himmel war unterdessen finstergeworden. Die Sonne war verdunkelt und unserenBlicken entzogen. Es war zwei Uhr nachmittags,und ein geisterhaftes Zwielicht hatte sich, hier unddort von purpurnen Strahlen durchschossen, aufuns herabgesenkt. Wir lagen inmitten einerunirdischen Stille, während alles um uns Töne undBewegung verkündete. Die drückende Hitze warunerträglich geworden. Der Schweiß stand mir aufder Stirn, und ich fühlte ihn an meiner Nase

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hinabträufeln. Mir war, als sollte ich ohnmächtigwerden, und ich griff nach der Reling, um einenHalt zu finden. Und gerade da kam ein ganz, ganzschwaches Lüftchen. Es kam von Osten, kam wieein leises Säuseln und ging wieder. Die schlaffenSegel bewegten sich nicht, und doch hatte meinGesicht den Luftzug gespürt und eine Kühlungempfunden.

„Köchlein!" rief Wolf Larsen mit leiser Stimme.Thomas Mugridge erschien mit einererbarmenswert kläglichen Miene. „Nimm dieFocktalje und halt sie quer, und wenn die Schotglatt geht, dann ist es gut, und du kommst hübschmit der Talje her. Und wenn du Unsinn machst,dann wird es der letzte sein, den du je gemachthast. Verstanden? - Herr van Weyden, halten Siesich fertig, die Vorsegel übergehen zu lassen. Dannspringen Sie nach oben und breiten die Toppsegelaus, so schnell es mit Gottes Hilfe geschehen kann- je schneller Sie machen, desto leichter geht es.Und wenn der Koch nicht fix macht, dann gebenSie ihm eins zwischen die Augen."

Ich verstand das Kompliment und war froh, daßkeine Drohungen meine Unterweisungenbegleiteten. Wir lagen hart nach Nordwest, und eswar seine Absicht, beim ersten Windstoß zu halsen.

„Wir kriegen die Brise in die Dillen", erklärte ermir. „Nach den letzten Schüssen müssen die Bootesich südwärts gewandt haben."

Er drehte sich um und schritt nach achtern ansRad. Ich ging nach vorn und stellte mich an denKlüver. Ein zweites Lüftchen kam und ging, und

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noch eines. Die Leinwand schwang sich träge.„Gott sei Dank, es kommt nicht auf einmal, Herr

van Weyden!" lautete der inbrünstige Stoßseufzerdes Cockneys.

Und ich war in der Tat dankbar, denn ich hatteinzwischen genug gelernt, um zu wissen, was fürein Unglück geschehen konnte, wenn in einemsolchen Falle alle Segel gesetzt waren. DasSäuseln wurde zu Windstößen, die Segel blähtensich, die Ghost bewegte sich. Wolf Larsen packtedas Rad, drehte es hart nach Backbord, und wirbegannen abzufallen.

Der Wind kam jetzt direkt von achtern, knurrendund mit immer stärkeren Stößen, so daß meineToppsegel lustig flatterten. Ich sah nicht, wasanderswo vorging, wenn ich auch an

dem plötzlichen Rollen und Überkrängen desSchoners und an dem Umstand, daß der Wind jetztvon der andern Seite kam, merkte, daß Fock- undGroßsegel herumgeschwungen waren. Ich hattealle Hände voll zu tun mit Klüver und Stagsegel,und als dieser Teil meiner Aufgabe gelöst war,sprang die Ghost nach Südwest, den Wind in denDillen und alle Schote steuerbord. Ohne Atem zuschöpfen - obwohl mein Herz vor Anstrengung wieein Hammerwerk schlug -, sprang ich zu demToppsegel hinauf, und ehe der Wind zu starkgeworden war, hatten wir sie gesetzt und standenwieder auf Deck. Dann ging ich nach achtern, umweitere Befehle entgegenzunehmen. Wolf Larsennickte beifällig und überließ mir das Rad. Der Windnahm beständig zu, und die See stieg. Eine Stunde

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lang steuerte ich, und in dieser Stunde wurde esmit jedem Augenblick schwerer. Ich hatte keineÜbung, bei der Schnelligkeit, mit der wir jetztfuhren, und mit dem Wind in den Dillen, zu steuern.

„Jetzt gehen Sie mit dem Glas nach oben, undsehen Sie nach, ob Sie einige von den Bootenfinden. Wir haben wenigstens zehn Knotengemacht und machen jetzt zwölf bis dreizehn. Dasalte Mädchen weiß, was es zu tun hat."

Ich kletterte auf die vordere Dwarssaling, rundfünfundzwanzig Meter über Deck. Wie ich über dieweite Fläche vor mir blickte, wurde mir dieNotwendigkeit klar, daß wir uns beeilen mußten,wenn wir überhaupt noch jemand von derMannschaft finden wollten. Beim Anblick derschweren See, die wir durchführen, zweifelte ichtatsächlich, daß sich noch ein Boot auf dem Meerbefand. Es schien mir unmöglich, daß ein sogebrechliches Fahrzeug diesem Ansturm von Windund Wogen widerstehen könnte.

Ich konnte die volle Gewalt des Sturmes nichtfühlen, denn wir liefen mit ihm; aber von meinemluftigen Sitz sah ich auf die Ghost hinunter und sahihre Form sich im Fahren scharf von derschäumenden See abheben. Zuweilen hob sie sichund durchschnitt eine schwere Woge, daß dieSteuerbordreling verschwand und das Deck bis zuden Luken von dem kochenden Ozean bedecktwar. Dann konnte ich infolge des Rollens nach Luvplötzlich mit schwindelerregender Schnelligkeitdurch die Luft sausen, als ob ich am Ende einesungeheuren umgekehrten Pendels hing, dessen

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Schwingungen zwanzig Meter oder noch mehrbetrugen.

Einmal überwältigte mich das Entsetzen überdies schwindelnde Kreisen, und sekundenlangklammerte ich mich mit Händen und Füßen an,schwach und zitternd, unfähig, das Meer nach denvermißten Booten abzusuchen, und ohne etwasanderes von ihm zu wissen, als daß es brüllendunter mir die Ghost zu überwältigen suchte.

Aber der Gedanke an die Männer dort draußenrüttelte mich auf, und in der Suche nach ihnenvergaß ich mich selbst. Eine Stunde lang sah ichnichts als das öde, trostlose Meer. Da erblickte ichan einer Stelle, wo ein unsteter Lichtstrahl denOzean traf und die Oberfläche in schäumendesSilber verwandelte, einen kleinen schwarzen Punkt,der in einem Augenblick himmelwärts geschleudertwurde und dann verschwand. Ich wartete geduldig.Wieder tauchte der schwarze Punkt in demsilbernen Gischt, ein paar Strich backbord vormBug, auf. Ich versuchte nicht erst zu rufen, sondernübermittelte Wolf Larsen die Nachricht durchSchwingen der Arme. Er änderte den Kurs, und alsder Punkt sich jetzt gerade voraus zeigte,signalisierte ich, daß es stimmte.

Der Punkt wuchs, und zwar so schnell, daß icherst jetzt unserer eigenen Schnelligkeit ganz innewurde. Wolf Larsen machte mir Zeichenhinunterzukommen, und als ich neben ihm amRade stand, unterwies er mich, wie ichbackbrassen sollte.

„Machen Sie sich darauf gefaßt, daß die ganze

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Hölle losbricht", warnte er mich, „aber kümmern Siesich nicht darum. Sie haben Ihre Arbeit zu tun undlassen Köchlein an der Fockschot stehen."

Ich bahnte mir meinen Weg nach vorn, aber eswar kein großer Unterschied, welche Seite ichbenutzte, da die Luvreling genau wie die Leeseiteunter Wasser begraben wurde.

Nachdem ich Thomas Mugridge angewiesenhatte, was er tun sollte, kletterte ich ein Stück weitin die vordere Takelung. Das Boot war jetzt ganznahe, und ich konnte genau sehen, wie es mit demBug gerade im Winde lag und Mast und Segel überBord geworfen hatte und treiben ließ, um sie alsSeeanker zu benutzen. Die drei Männer schöpftendas Wasser aus. Jede Woge entzog sie dem Blick,und ich wartete erregt und von der Furcht gepackt,sie nie wieder auftauchen zu sehen. Das Bootkonnte plötzlich auf einem schäumendenWellenkamm in die Luft schießen, so daß der Bughimmelwärts zeigte und ich den ganzen Boden sah,bis es auf dem Heck zu stehen schien. Dann sahich einen Augenblick die mit wahnsinniger Hastschöpfenden Männer. In der nächsten Sekundestürzte das Boot vornüber in das gähnende Tal,und die ganze Seite mit dem Achterende standsenkrecht in der Luft. Jedesmal, wenn es wiederzum Vorschein kam, erschien es mir wie einWunder.

Die Ghost änderte plötzlich ihren Kurs, und michdurchfuhr der Gedanke, Wolf Larsen könne dieRettung als unmöglich aufgegeben haben. Dannaber sah ich, daß er sich fertigmachte beizudrehen,

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und sprang aufs Deck, um bereit zu sein. Wir lagenjetzt gerade vor dem Wind, und das Boot befandsich in der gleichen Höhe wie wir. Ich fühlte, wie wirplötzlich stillstanden, eine schnelle, drehendeBewegung, und wir fuhren gerade in den Windhinein. Als wir im rechten Winkel lagen, packte eruns mit voller Gewalt. Unglücklicherweise kehrteich ihm zufällig das Gesicht zu. Wie eine Mauerprallte er gegen mich an und füllte mir die Lungemit Luft, die ich nicht imstande war auszuatmen. Ichwollte ersticken - da krängte die Ghost nach vornüber, und in diesem Augenblick sah ich, wie eineungeheure See sich hoch über meinem Kopfeerhob. Ich wandte mich seitwärts, schöpfte tiefAtem und blickte wieder hin. Die Woge überragtedie Ghost, und ich blickte gerade zu ihr empor. EinSonnenstrahl streifte den brechenden Rand, undich sah einen halb durchsichtigen grünen Schimmermit milchiger Schaumkante.Dann kam sie herab.Die Hölle brach los - alles geschah auf einmal. Icherhielt einen zermalmenden, betäubenden Schlag,der mich jedoch nicht an einer bestimmten Stelle,sondern am ganzen Körper traf. Ich verlor den Halt,ich war unter Wasser, und mir fuhr der Gedankedurch den Kopf, daß jetzt das Furchtbare kam: Ichwürde über Bord gespült werden! Mein Körperwurde hilflos hin und her, um und um geschleudert,gestoßen und zerhämmert, und als ich den Atemnicht länger anhalten konnte, drang mir dasbeißende Salzwasser in die Lunge. Aber bei allemhatte ich nur einen Gedanken: den Klüver nach Luvzu bringen. Ich hatte keine Furcht vor dem Tode.

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Ich zweifelte nicht, daß ich irgendwie durchkommenmußte.

Ich stieß hart gegen etwas, das ich für die Relinghielt, und atmete wieder frische Luft. Mühsamversuchte ich mich zu erheben, stieß mir aber heftigden Kopf und wurde auf Hände und Füßezurückgeschleudert. Durch einen glücklichen Zufallwar ich unter den Backkopf und in eine Tauschlingegefegt worden. Als ich auf allen vieren herauskroch,stieß ich auf Thomas Mugridge, der als einstöhnendes Häufchen Elend dalag. Aber ich hattekeine Zeit zu verlieren, ich mußte den Klüver nachLuv bringen.

Als ich wieder nach vorn kam, schien das Endegekommen. Auf allen Seiten ertönte ein Knirschenund Krachen von Holz, Eisen und Leinwand. DieGhost wurde zerrissen und zerfetzt. Fock undToppsegel, die bei dem Manöver aus dem Windgekommen waren und aus Mangel an Leuten nichtrechtzeitig geborgen werden konnten, rissen mitDonnerkrachen in Fetzen, während der schwereBaum von Reling zu Reling schlug und zersplitterte.Die Luft war schwarz von Schiffstrümmern;losgerissene Taue und Stags zischten und wandensich wie Schlangen, und mitten in das Gewirrkrachte die Fockgaffel.

Der Baum konnte mich nur um wenigeZentimeter verfehlt haben, und das brachte michwieder zur Besinnung. Vielleicht war die Lage dochnoch nicht hoffnungslos. Ich erinnerte mich derWorte Wolf Larsens. Er hatte erwartet, daß dieHölle

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losbrechen würde, und nun war es soweit. Aberwo war er? Ich erblickte ihn, wie er das Großsegelmit seinen entsetzlichen Muskeln einholte. DasHeck des Schoners hob sich hoch in die Luft, undich sah seinen Körper sich gegen eine weißeSturzwelle abzeichnen, die schnell vorbeischoß.Alles dies, und vielleicht noch mehr - eine ganzeWelt von Chaos und Trümmern -, sah, hörte undbegriff ich in vielleicht fünfzehn Sekunden.

Ich hielt mich nicht damit auf, zu sehen, was ausdem kleinen Boot geworden war, sondern sprangan den Klüver. Der begann zu flattern, straffte sichund erschlaffte mit scharfem Knattern. Aber durchAnziehen der Schot und unter Aufbietung allermeiner Kräfte brachte ich ihn langsam zurück,indem ich immer einen Augenblick benutzte, wenner schlaff war. Das weiß ich: Ich tat mein Bestes.Ich zog, daß mir das Blut unter den Nägelnherausspritzte, und während ich arbeitete, rissenAußenklüver und Stagsegel donnernd in Fetzen.

Immer weiter holte ich, das Gewonnene mit einerDoppelschlinge haltend, bis ich beim nächstenSchlaffwerden weiterzog. Dann gab der Klüverplötzlich leichter nach; Wolf Larsen stand neben mirund holte allein weiter, während ich das Segelfestmachte.

„Machen Sie schnell", rief er laut, „und kommenSie!" Ich folgte ihm und bemerkte, daß trotzVernichtung und Verderben noch eine gewisseOrdnung herrschte. Die Ghost drehte bei. Sie warimmer noch seetüchtig. Waren auch die andernSegel fort, so hielt sich das Schiff, da der Klüver

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nach Luv gebracht und das Großsegel flachniedergeholt war, doch noch mit dem Bug gegendie wütende See.

Ich blickte mich nach dem Boot um, undwährend Wolf Larsen die Bootstalje klarmachte,sah ich, wie es sich in Lee, keine zehn Meterentfernt, auf einer großen Woge hob. Und so genauhatte Wolf Larsen seine Maßnahmen berechnet,daß wir gerade darauf zutrieben, so daß wir nichtszu tun hatten, als die Taljen an jedem Endeeinzuhaken und das Boot an Bord zu heißen. Aberdas war leichter gesagt als getan. Im Bug standKerfoot, während Oofty-Oofty am Heck und Kellymittschiffs standen. Als wir näher trieben, wurdedas Boot von einer Woge gehoben, und wir sankenin das Wellental, bis ich gerade vor mir die dreiMänner die Köpfe beugen und nach uns auslugensah. Im nächsten Augenblick wurden wir gehobenund emporgeschwungen, während sie tiefhinabsanken. Es mußte fast ein Wundergeschehen, wenn die nächste See nicht die Ghostauf die winzige Eierschale niederschmettern sollte.

Aber da warf ich dem Kanaken das Tau zu, undWolf Larsen machte vorne dasselbe mit Kerfoot.Beide Taue waren in einem Nu eingehakt, und diedrei Männer wählten gewandt den richtigenAugenblick und sprangen gleichzeitig an Bord desSchoners. Als die Ghost sich jetzt seitwärtsüberlegte, wurde das Boot an der Schiffswand ausdem Wasser gehoben, und ehe wir wiederhinüberkrängten, hatten wir es schon an Bordgeheißt und kieloben auf das Deck gelegt. Ich

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bemerkte, daß Kerfoots linke Hand von Blut troff.Sein Mittelfinger war zu Brei zerquetscht worden.Aber er gab kein Zeichen des Schmerzes und halfuns mit der rechten Hand, das Boot auf seinemPlatz festzumachen.

„Bring den Klüver rüber, Oofty!" befahl WolfLarsen, als wir eben mit dem Boot fertig waren.„Kelly, komm nach achtern, und laß das Großsegellocker! Und du, Kerfoot, geh nach vorn und sieh,was aus Köchlein geworden ist! Herr van Weyden,gehen Sie nach oben, und schneiden Sie alles loseZeug weg, was Ihnen in die Quere kommt!" Undnachdem er seine Befehle erteilt hatte, sprang er inseiner eigentümlichen, tigerhaften Weise nachachtern zum Rad. Während ich mühsam dieWanten zum Fockmast hinaufkletterte, setzte sichdie Ghost langsam in Bewegung. Als wir diesmalins Wellental sanken und von Sturm und Seeherumgeschleudert wurden, konnten keine Segelmehr eingeholt werden, und auf halbem Wege zuden Dwarssalingen wurde ich durch die Gewalt desWindes so gegen die Takelung gepreßt, daß es mirunmöglich gewesen wäre zu fallen. Die Ghost lagfast ganz auf der Seite, und die Masten standenparallel zum Wasser, so daß ich, wenn ich dasDeck der Ghost sehen wollte, nicht hinunter,sondern beinahe im rechten Winkel blicken mußte.

Aber ich sah das Deck gar nicht, denn dort, woes hätte sein sollen, war nichts als kochendesWasser, aus dem nur zwei Masten herausragten;das war alles. Einen Augenblick war die Ghostganz unter dem Meere begraben. Als sie jetzt

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allmählich vor den Wind ging und der seitlicheDruck geringer wurde, richtete sie sich langsamauf, ihr Deck durchbrach wie ein Walrücken dieMeeresfläche. Dann rasten wir über die wilde,stürmische See, während ich wie eine Fliege in denSalingen hing und nach den anderen Bootenausspähte. Nach einer halben Stunde sichtete ichdas zweite. Es trieb kieloben, und Jack Homer, derdicke Louis und Johnson klammerten sichverzweifelt daran fest. Diesmal blieb ich in derTakelung, und es gelang Wolf Larsen beizudrehen,ohne den Halt zu verlieren. Wie zuvor trieben wirhin. Taljen wurden festgemacht und Taue denMännern zugeworfen, die wie Affen an Bordkletterten. Das Boot selbst wurde, als es an Bordgezogen wurde, an der Schiffswand zerschmettert,aber das Wrack befestigten wir sicher, denn eskonnte ausgebessert und wieder seeklar gemachtwerden.

Wieder drehte sich die Ghost in den Wind, unddiesmal tauchte sie so tief ins Meer, daß ich einigeSekunden dachte, sie würde nie wieder zumVorschein kommen. Selbst das Steuerrad, das einganz Teil höher als das Mitteldeck angebracht war,verschwand immer wieder unter den Wellen. Insolchen Augenblicken hatte ich ein seltsamesGefühl, allein mit Gott zu sein, allein mit ihm unddem Chaos, das sein Zorn verursacht hatte. Danntauchte das Rad wieder auf, und dahinter diebreiten Schultern Wolf Larsens, seine Hände, die indie Spaken griffen und den Schoner in den Kurszwangen, den er wollte!

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Daß Menschen leben, atmen, schaffen und einso gebrechliches Ding aus Holz und Leinwanddurch diesen furchtbaren Kampf der Elementeführen konnten! Ein Wunder! Wie zuvor schwangsich die Ghost aus dem Schlund herauf, hob ihrDeck über das Wasser und jagte vor demheulenden Sturm dahin. Es war jetzt halb sechs,und eine halbe Stunde später, als das letzteTageslicht einem unheimlichen, trüben Zwielichtwich, sah ich das dritte Boot. Es trieb kieloben, undvon der Mannschaft war nichts zu sehen. WolfLarsen wiederholte sein Manöver, hielt ab, drehtedann nach Luv und ließ sich hintreiben. Aberdiesmal verfehlte er das Boot um fünfzehn Meter,und es trieb vorbei.

„Boot vier!" rief Oofty-Oofty, dessen scharfeAugen in der Sekunde, als es kieloben aus demGischt auftauchte, die Nummer erspäht hatten.

Es war Hendersons Boot, und zugleich mit ihmhatten wir Holoyak und Williams, einen derVollmatrosen, verloren. Über ihr Schicksal konntekein Zweifel herrschen, aber das Boot schwammhier, und Wolf Larsen wollte noch einenverwegenen Versuch machen, eswiederzuerlangen. Ich war aufs Deckheruntergekommen und sah, wie Homer undKerfoot vergebens gegen den Versuchprotestierten.

„Bei Gott! Ich lasse mir mein Boot nicht stehlen -und wenn die ganze Hölle los wäre!" rief er laut,und obgleich wir alle vier die Köpfezusammensteckten, um besser zu hören, klang

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seine Stimme nur schwach und wie aus ungeheurerFerne.

„Herr van Weyden!" rief er, und ich hörte seineStimme wie ein schwaches Flüstern. „Bleiben Siemit Johnson und Oofty am Klüver. Die andernachtern an die Großschot! Los, oder ich fahregeradewegs mit euch in die andere Welt!Verstanden?" Und da er das Ruder hart umlegteund die Ghost sich drehte, blieb den Jägern nichtsübrig, als zu gehorchen und zu helfen, das kühneWagnis nach Möglichkeit zu einem guten Abschlußzu bringen. Wie groß die Gefahr war, kam mir zumBewußtsein, als ich nochmals unter denzermalmenden Seen begraben wurde und mich, mitdem Tode ringend, an die Nagelbank am Fuße desGroßmastes klammerte. Meine Finger verlorenihren Halt, und ich wurde über Bord ins Meergefegt. Schwimmen war unmöglich, aber ehe ichsinken konnte, war ich schon wiederzurückgeschwemmt. Eine starke Hand packte mich,und als die Ghost endlich wieder auftauchte, sahich, daß ich mein Leben Johnson verdankte. Erspähte ängstlich umher, und ich bemerkte, daßKelly, der im letzten Augenblick nach vorngekommen war, fehlte.

Wolf Larsen hatte das Boot verfehlt.Es war jetzt so dunkel, daß nichts mehr zu

sehen war. Wolf Larsen aber führte, wie durcheinen unfehlbaren Instinkt geleitet, das Ruder.Obwohl wir immer halb unter Wasser waren,wurden wir diesmal in kein Wellentalhinuntergeschwemmt, sondern trieben geradewegs

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auf das Boot zu, das, freilich arg beschädigt, anBord geheißt wurde. Es folgten zwei Stundenfurchtbarer Anstrengung. Wir alle an Bord - zweiJäger, drei Matrosen, Wolf Larsen und ich - refftenzuerst den Klüver, dann das Großsegel. Beigedrehtund mit so wenig Leinwand war das Deckeinigermaßen trocken, die Ghost wippte wie einKork auf den Seen.

Ich hatte mir gleich im Anfang die Haut von denFingern gerissen, und beim Reffen hatte ich vorSchmerzen kaum die Tränen zurückhalten können.Als jetzt alles getan war, ließ ich mich gehen undwarf mich, jammernd vor Schmerz undErschöpfung, aufs Deck.

Unterdessen war Thomas Mugridge wie eineertrunkene Ratte unter dem Backkopfhervorgezogen worden, wo er sich feige verkrochenhatte. Als er achtern nach der Kajüte geschlepptwurde, sah ich plötzlich zu meinem Schrecken, daßdie Kombüse verschwunden war. Wo siegestanden hatte, war klar Deck.

In der Kajüte fand ich alle Mann, auch dieMatrosen, versammelt, und während der Kaffee aufdem kleinen Ofen gekocht wurde, tranken wirWhiskey und kauten Zwiebäcke. Nie im Leben warmir Essen so willkommen gewesen, und nie hattemir heißer Kaffee so geschmeckt. So gewaltig rollteund stieß die Ghost, daß selbst die Matrosen sichnicht bewegen konnten, ohne sich festzuhalten,und daß wir mehrmals unter allgemeinem Geschreinach Backbord an die Wand geschleudert wurden,als hätten wir uns an Deck befunden.

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„Zum Teufel mit dem Ausguck!" hörte ich WolfLarsen sagen, als wir uns satt gegessen undgetrunken hatten. „An Deck kann doch nichts mehrgemacht werden. Wenn jemand uns überrennenwill, können wir ihm doch nicht ausweichen. AlleMann in die Kojen, und versucht ein bißchen zuschlafen!"

Die Matrosen kämpften sich nach vorn undsetzten unterwegs die Seitenlichter, während diebeiden Jäger zum Schlafen in der Kajüte blieben,da es nicht ratsam war, die Zwischendecksluke zuöffnen. Wolf Larsen und ich amputiertengemeinsam Kerfoots zerschmetterten Finger undvernähten die Wunde. Mugridge, der die ganzeZeit, während er Kaffee machen und aufwartenmußte, über innere Schmerzen geklagt hatte,schwor jetzt, daß er zwei oder drei Rippengebrochen hätte. Aber er mußte bis zum nächstenTage warten, zumal ich nichts von gebrochenenRippen verstand und erst darüber nachlesenmußte.

„Ich finde nicht, daß es das wert war", sagte ichzu Wolf Larsen, „ein zersplittertes Boot für KellysLeben!"

„Kelly war nicht viel wert", lautete die Antwort.„Gute Nacht!"

Nach allem, was sich ereignet hatte, bei fastunerträglichen Schmerzen in den Fingerspitzen undden Gedanken an die drei vermißten Boote, garnicht zu reden von den wilden Sprüngen, die dieGhost machte, hätte ich nicht geglaubt, daß esmöglich gewesen wäre zu schlafen. Aber meine

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Augen müssen sich in demselben Augenblickgeschlossen haben, als mein Kopf das Kissenberührte, und in äußerster Erschöpfung schlief ichdie ganze Nacht, während sich die Ghost, einsamund ungeleitet, ihren Weg durch den Sturmerkämpfte.

Am nächsten Tag paukten Wolf Larsen und ich,während der Sturm sich austobte, schnell Anatomieund Chirurgie und setzten Mugridges Rippenwieder zurecht. Als dann die

Gewalt des Orkans gebrochen war, kreuzte WolfLarsen über die Stelle, wo er uns überrascht hatte,zurück und fuhr dann, während die Booteausgebessert und neue Segel gemacht wurden,etwas weiter nach Westen. Ein Robbenschonernach dem andern wurde gesichtet, und wir gingenjeweils an Bord; die meisten hatten Boote undMannschaften an Bord, die sie aufgelesen hattenund die ihnen nicht gehörten. Der größte Teil derFlotte hatte sich westlich von uns befunden, und dieweit verstreuten Boote hatten in wilder Flucht denersten besten Zufluchtsort aufgesucht.

Zwei unserer Boote mit wohlbehaltenerMannschaft nahmen wir von der Cisco über, und zuWolf Larsens großer Freude und meinem Kummerlas er auch Smoke, Nilson und Leach von der SanDiego auf.

So waren wir nach fünf Tagen, nur um vier Mannärmer -Henderson, Holoyak, Williams und Kelly -,wieder hinter den Herden her.

Wir verfolgten sie weiter nordwärts, und nuntrafen wir auf die gefürchteten Seenebel. Tag auf

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Tag wurden die Boote hinuntergefiert undverschwanden, fast ehe sie noch das Wasserberührt hatten. Wir an Bord stießen inregelmäßigen Zwischenräumen ins Hörn undgaben alle fünfzehn Minuten Signalschüsse ab.Beständig wurden Boote verloren undwiedergefunden, und es war üblich, mit dem erstenbesten fremden Schoner zu jagen, der das Bootaufnahm, bis der eigene Schoner gefunden war. DaWolf Larsen jedoch ein Boot fehlte, ergriff er Besitzvon dem ersten fremden, das uns in die Querekam, zwang die Mannschaft, auf der Ghost zubleiben, und erlaubte ihnen nicht, zurückzukehren,als wir ihren eigenen Schoner sichteten. Ich weißnoch, wie er dem Jäger und seinen beiden Leutendas Gewehr auf die Brust setzte und sie nach untentrieb, als ihr Kapitän uns passierte und uns anrief,um nach ihnen zu fragen.

Thomas Mugridge, der sich so seltsam undhartnäckig ans Leben klammerte, humpelte wiederherum und kam seinen zweifachen Pflichten alsKoch und Kajütsjunge nach. Johnsonund Leachwurden schlimmer behandelt als je, und sieerwarteten, daß mit der Jagdzeit auch ihr Leben zuEnde sein würde. Aber auch die übrige Mannschaftlebte ein wahres Hundeleben unter ihremerbarmungslosen Herrn. Ich selbst kam ganz gutmit Wolf Larsen aus, obgleich ich nie denGedanken loswerden konnte, daß ich amrichtigsten handelte, wenn ich ihn tötete.

Eine seiner Zerstreuungen war, wenn wir mittenin einer Robbenherde lagen und die See zu hoch

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ging, um die Boote niederzulassen, selbst mit zweiRuderern und einem Steuermann hinauszugehen.Er war ein guter Schütze und erbeutete viele Felleunter Verhältnissen, die die Jäger einfachunmöglich nannten. Aber er schien gerade seineFreude daran zu finden, sein Leben auf dieseWeise aufs Spiel zu setzen und gegen fastunüberwindliche Schwierigkeiten anzukämpfen.

Ich lernte immer mehr von der Navigation, undan einem schönen Tage - etwas, was uns jetztselten begegnete - erlebte ich die Befriedigung,selbst die Ghost führen, steuern und die Booteauflesen zu dürfen.

Wolf Larsen war von seinen Kopfschmerzenbefallen, und so stand ich nun von morgens bisabends am Rade, kreuzte über das Meer nach demletzten Leeboot, legte bei und nahm dieses und dieanderen fünf auf, und das alles ohne Kommandooder Anweisung des Kapitäns.

Hin und wieder wehte es steif, denn wir waren ineine stürmische Breite gekommen, und Mitte Junierlebten wir einen Taifun, der sehr denkwürdig fürmich und bedeutungsvoll für meine ganze Zukunftwerden sollte. Wir wären fast von dem Zentrum desWirbelsturms gepackt worden, und Wolf Larsen liefnach Süden davon, zuerst mit doppelt gerefftemKlüver und zuletzt mit gänzlich gestrichenenSegeln. Nie hatte ich gedacht, daß es soungeheure Wogen geben könnte! Die Wellen,denen wir bisher begegnet waren, erschienen imVergleich zu ihnen wie sanftes Gekräusel. VonKamm zu Kamm maßen sie wohl eine halbe Meile,

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und ich bin fest überzeugt, daß sie unsernMastbaum überragten. So gewaltig waren sie, daßselbst Wolf Larsen nicht beizudrehen wagte,obgleich wir Gefahr liefen, weit nach Süden ausden Robbengründen getrieben zu werden.

Wir mußten etwa bis in die Route derTranspazifik-Linie gekommen sein, und als derTaifun nachließ, befanden wir uns zurÜberraschung der Jäger inmitten einer großenRobbenherde - einer Art Nachhut, wie sie erklärten,etwas sehr Seltenes. Und die Folge war, daß denganzen Tag die Büchsen knallten und die Tieremitleidlos abgeschlachtet wurden.

Gegen Abend näherte Leach sich mir. Ich wargerade damit fertig, die Häute zu zählen, die dasletzte Boot an Bord gebracht hatte, als er in derDunkelheit neben mich trat und leise fragte: „Herrvan Weyden, können Sie mir sagen, wie weit wirvon der Küste entfernt sind und in welcher RichtungYokohama liegt?"

Mein Herz hüpfte vor Freude, denn ich wußte,was er vorhatte, und ich gab ihm die Richtung an:„Fünfhundert Meilen Westnordwest."

„Danke!" Mehr sagte er nicht, und dann schlüpfteer wieder ins Dunkel zurück.

Am nächsten Morgen wurde Boot drei mitJohnson und Leach vermißt. Gleichzeitig fehlten dieWasserfässer und Eßkisten aller anderen Booteund Bettzeug und Seesäcke der beiden Männer.Wolf Larsen raste. Er setzte Segel und fuhr nachWestnordwest, immer zwei Jäger im Ausguck,während er selbst wie ein zorniger Löwe auf Deck

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auf und ab schritt. Er kannte meine Sympathie fürdie Flüchtlinge zu gut, als daß er mich in denAusguck geschickt hätte.

Der Wind war günstig, wenn auch unbeständig,aber mir schien, daß man ebensogut eineStecknadel in einem Heuschober wie das winzigeBoot in dieser blauen Unendlichkeit hätte suchenkönnen. Er holte jedoch alles aus der Ghostheraus, um die Flüchtlinge vom Landabzuschneiden, und als er das erreicht zu habenmeinte, kreuzte er hin und her in der Überzeugung,irgendwo auf sie zu stoßen.

Am dritten Morgen, kurz vor acht, rief Smokevom Mastherab, daß das Boot in Sicht sei. Allesstürzte an die Reling. Eine scharfe Brise wehte ausWest, und es schien noch mehr Windaufzukommen. Und dort, in Lee, in dem bewegtenSilberschein der aufgehenden Sonne, kam undging ein schwärzer Fleck.

Wir braßten vierkant und fuhren auf ihn zu. MeinHerz war schwer wie Blei. Schlimme Ahnungenmachten mich krank, und als ich den Triumph inWolf Larsens Augen schimmern sah, drehte sichalles vor mir, und ich fühlte den fastunwiderstehlichen Drang, mich auf ihn zu stürzen.Ich weiß, daß ich in halber Betäubung insZwischendeck schlüpfte und gerade mit einergeladenen Büchse in der Hand wiederhinaufsteigen wollte, als ich den erstaunten Rufhörte: „Es sind fünf Mann im Boot!"

Da versagten mir die Knie, und ich sank zuBoden. Ich war wieder zu mir gekommen, aber

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mich erschütterte das Bewußtsein dessen, was ichfast getan hätte. Mit großer Erleichterung stellte ichdas Gewehr wieder an seinen Platz und schlichmich an Deck zurück. Niemand hatte meineAbwesenheit bemerkt. Das Boot war jetzt nahegenug, um uns erkennen zu lassen, daß es größerals die üblichen Robbenfängerboote und von einemandern Typ war. Als wir uns näherten, wurde dasSegel eingeholt und der Mast umgelegt. Riemenkamen zum Vorschein, und die Leute wartetenoffenbar, daß wir beidrehen und sie an Bordnehmen sollten. Smoke, der auf das Deckherabgestiegen war und jetzt neben mir stand,begann bedeutungsvoll zu kichern. Ich blickte ihnfragend an.

„Bunte Gesellschaft", gluckste er.„Was ist los?" fragte ich.Er gluckste wieder. „Sehen Sie nicht, dort unter

dem Heckschot am Boden? Ich will nie wieder eineRobbe schießen, wenn das nicht eine Frau ist!"

Ich blickte näher hin, konnte jedoch nichtsGenaues erkennen. Da ertönten von allen Seitenerstaunte Ausrufe. Im Boot befanden sich vierMänner, der fünfte Insasse aber war zweifellos eineFrau. Wir befanden uns in einer ungeheurenAufregung - wir alle, außer Wolf Larsen, deroffensichtlich enttäuscht war, daß er nicht seineigenes Boot vor sich hatte.

Nach einigen Schlägen war das Boot längsseits.Jetzt erblickte ich die Frau zum erstenmal. Sie warin einen langen Überzieher gehüllt, denn derMorgen war rauh, und ich konnte nichts von ihr

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sehen als ihr Gesicht und eine Fülle hellbraunenHaares, das unter dem Südwester, den sie auf demKopfe trug, hervorquoll. Die Augen waren groß,braun und strahlend, der Mund voll und das Antlitzselbst ein zartes Oval, das die Sonne und dersalzige Wind jetzt allerdings rot gebrannt hatten.

Sie erschien mir wie ein Wesen aus eineranderen Welt. Ich spürte, daß mich nach ihrverlangte wie den Hungernden nach Brot. Hatte ichdoch so lange, lange keine Frau mehr gesehen! Ichweiß, ich verlor mich so sehr in Bewunderung, fastin Betäubung, daß ich mich selbst und meinePflichten als Steuermann vergaß und mich nichtdaran beteiligte, den Bootsinsassen an Bord zuhelfen. Als einer der Matrosen sie in dieherabgestreckten Arme Wolf Larsens hob, blicktesie in unsere neugierigen Gesichter und lächelte,wie nur eine Frau lächeln kann und wie ich so langeniemand hatte lächeln sehen.

„Herr van Weyden!"Die scharfe Stimme Wolf Larsens brachte mich

wieder zu mir.„Wollen Sie die Dame nach unten bringen und

für ihre Bequemlichkeit sorgen. Setzen Sie die freieBackbordkajüte instand. Lassen Sie es Köchleintun. Und sehen Sie, was Sie für ihr Gesicht tunkönnen. Es ist arg verbrannt."

Er machte kurz kehrt und begann die Männer zuverhören. Ich fühlte eine seltsame Befangenheitdieser Frau gegenüber, die ich jetzt nach achternbrachte. Ich war feige. Zum erstenmal wurde ichgewahr, was für ein zartes, gebrechliches Geschöpf

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eine Frau ist, und als ich ihren Arm faßte, um ihr dieKajütstreppe hinunterzuhelfen, erschrak ich überihre Zierlichkeit und Zartheit. Sie war in der Tat einebesonders schlanke, zarte Frau, mir erschien siejedenfalls so ätherisch, daß ich fast erwartete, ihrenArm unter meinem Griff zerbrechen zu fühlen. Diesist nach so langer Zeit ein offenes Bekenntnismeines ersten Eindrucks von der Frau imallgemeinen und Maud Brewster im besonderen.

„Sie brauchen sich wirklich nicht so zubemühen", protestierte sie, als ich sie in WolfLarsens Lehnstuhl setzte, den ich schnell ausseiner Kajüte geholt hatte. „Die Leute haben schondie ganze Zeit nach Land ausgeschaut, und wirmüssen es ja noch vor Einbruch der Dunkelheiterreichen. Meinen Sie nicht?"

Ihre Zuversicht schreckte mich. Wie sollte ich ihrdie Situation und den seltsamen Mann erklären, derwie das Schicksal das Meer abschritt - all das, waszu begreifen mich Monate gekostet hatte? Aber ichantwortete ihr ehrlich: „Wäre es ein andererKapitän, so würde ich sagen, daß Sie morgen inYokohama wären. Unser Kapitän aber ist einmerkwürdiger Mann, und ich bitte Sie, auf allesvorbereitet zu sein - verstehen Sie mich? Auf alles!"

„Ich - ich gestehe, daß ich nicht recht begreife",sagte sie zögernd, mit einem unruhigen, aber nichtängstlichen Ausdruck in den Augen. „Oder irre ichmich, daß Schiffbrüchige stets auf das größteEntgegenkommen rechnen können? Es handeltsich ja nur um eine Kleinigkeit, da wir so nahe anLand sind."

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„Offen gestanden, ich weiß es nicht", brachte ichmit einiger Mühe hervor. „Aber ich möchte Sie aufdas Schlimmste vorbereiten für den Fall, daß dasSchlimmste kommen sollte. Dieser Mann, derKapitän, ist ein Scheusal, ein Dämon, und mankann nie wissen, welche irrwitzige Handlung er imnächsten Augenblick begeht." Ich hatte mich warmgeredet, aber sie unterbrach mich mit einem „Oh,ich verstehe", und ihre Stimme klang müde, und siewar nahe daran zusammenzubrechen.

Sie stellte keine weiteren Fragen, und ich hieltmich nur an

Wolf Larsens Befehl, für ihre Bequemlichkeit zusorgen, und wies Thomas Mugridge an, die Koje inder freien Kajüte instand zu setzen.

Der Wind wuchs schnell, und die Ghost krängtestark, und als wir die Kajüte in Ordnung gebrachthatten, schossen wir vor einer steifen Brise dahin.

Ich hatte ganz die Existenz von Leach undJohnson vergessen, als plötzlich wie ein Donnerschlag der Ruf „Boot ahoi!" die Kajütstreppeherunterhallte. Es war unverkennbar die StimmeSmokes vom Mast. Ich warf einen Blick auf dieFrau, die sich jedoch mit geschlossenen Augen undunaussprechlich müde im Stuhl zurücklehnte. Siewar müde. Sehr gut. Sie sollte schlafen.

als ich an Deck kam, sah ich, daß die Ghostbackbord halste und hart am Winde in Luv eineswohlbekannten Sprietsegels vor uns ging. AlleMann waren an Deck, denn sie wußten, daß etwasgeschehen würde, wenn Leach und Johnson anBord geholt wurden.

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Es war vier Glasen. Louis kam zur Ablösungnach achtern ans Rad. Es lag Feuchtigkeit in derLuft, und ich bemerkte, daß er sein Ölzeugangezogen hatte.

„Was gibt es jetzt?" fragte ich ihn.„Eine gesunde Regenbö, gerade genügend, um

uns den Kragen naß zu machen, weiter nichts",antwortete er.

„Zu dumm, daß wir sie sichten mußten!" sagteich, während der Bug der Ghost von einerschweren See ein paar Strich aus dem Kursgeworfen wurde und das Boot einen Augenblickhinter dem Klüver zum Vorschein kam.

Louis drehte das Rad und antworteteausweichend: „Sie hätten das Land doch nichterreicht, das weiß ich."

„Glaubst du nicht?"„Nein, Herr van Weyden. In der nächsten Stunde

kann sich keine solche Eierschale auf See halten,und es ist ein Glück für sie, daß wir hier sind, umsie aufzufischen."

Wolf Larsen, der mittschiffs mit den Gerettetengesprochen hatte, kam jetzt mit langen Schrittennach achtern. Das katzenartig Sprunghafte inseinem Gang war jetzt noch ausgeprägter alsgewöhnlich, und seine Augen leuchteten hell.

„Drei Heizer und ein vierter Maschinist",begrüßte er mich. „Aber wir werden schonMatrosen oder doch wenigstens Bootspuller ausihnen machen. Und wie steht's mit der Dame?"

Ich weiß nicht, warum, doch ich antwortete nurmit einem Achselzucken. Wolf Larsen spitzte die

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Lippen zu einem langen höhnischen Pfeifen. „Wieheißt sie denn?" fragte er.

„Ich weiß nicht", erwiderte ich. „Sie schläft. Siewar sehr müde. Eigentlich hätte ich gedacht, vonIhnen etwas zu hören. Was für ein Schiff war esdenn?"

„Postdampfer", antwortete er kurz. „City of Tokiovon Frisko nach Yokohama. Im Taifun außer Dienstgesetzt. Alter Kasten. Wurde leck wie ein Sieb.Sind vier Tage umhergetrieben. - Und Sie wissennicht, wer oder was sie ist, wie? Mädchen, Frauoder Witwe? Na schön." Er schüttelte neckend denKopf und sah mich mit lachenden Augen an.

„Wollen Sie -", begann ich. Es lag mir auf derZunge, ihn zu fragen, ob er die Schiffbrüchigennach Yokohama bringen würde.

„Ob ich was will?" fragte er.„Was wollen Sie mit Leach und Johnson

machen?"Er schüttelte den Kopf. „Wirklich, Hump, ich weiß

es nicht. Sie sehen doch, daß wir mit den Leuten,die wir vorhin an Bord genommen haben,genügend Mannschaft besitzen."

„Die beiden haben sicher genug vomDesertieren", meinte ich. „Nehmen Sie sie an Bord,und seien Sie anständig gegen sie. Was sie auchgetan haben: Sie sind dazu getrieben worden."

„Durch mich?"„Durch Sie", entgegnete ich fest. „Und ich warne

Sie, Wolf Larsen, ich könnte meine Liebe zumLeben vergessen über dem Wunsch, Sie zu töten,wenn Sie in Ihrer Rache an diesen Unglücklichen

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zu weit gehen."„Bravo!" rief er. „Sie machen mir wirklich Ehre,

Hump! Sie machen sich, und darum habe ich Siegern." Er änderte Stimme und Ausdruck. SeinGesicht wurde ernst. „Glauben Sie anVersprechungen?"

„Natürlich", erwiderte ich.„Dann schließen wir einen Pakt", fuhr er fort,

dieser vollendete Schauspieler. „Wenn ichverspreche, keine Hand an Leach und Johnson zulegen, versprechen Sie mir dann, nicht zuversuchen, mich zu töten? Oh, ich fürchte michnicht vor Ihnen, das nicht", beeilte er sichhinzuzufügen.

Ich wollte meinen Ohren kaum trauen. Was gingin dem Mann vor?

„Abgemacht?" fragte er ungeduldig.„Abgemacht", antwortete ich.Er streckte mir die Hand entgegen, aber als ich

sie herzlich schüttelte, hätte ich schwören mögen,seine Augen höhnisch aufblitzen zu sehen.

Wir schlenderten nach Lee. Das Boot war jetztfast zum Greifen nahe und befand sich in einemelenden Zustande. Johnson steuerte, währendLeach schöpfte. Wolf Larsen bedeutete Louis,etwas seitwärts zu halten, und wir schossen, keinesechs Meter in Luv, an dem Boot vorbei. Die Ghostnarrte sie. Das Sprietsegel flatterte schlaff, und dasBoot richtete sich auf, was die beiden Männerschleunigst veranlaßte, die Plätze zu wechseln.Das Boot stampfte, und während wir uns jetzt aufeiner hohen Woge hoben, stürzte es tief hinab.

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In diesem Augenblick sahen Leach und Johnsondie Gesichter ihrer Kameraden, die mittschiffs überdie Reling lehnten. Keiner grüßte. In den Augen derandern waren sie Tote, und zwischen ihnen lag derAbgrund, der Lebendige und Tote scheidet.

Gleich darauf befanden sie sich dem Hüttendeckgegenüber, auf dem Wolf Larsen und ich standen.Wir sanken in das Wellental, während sie sich aufden Kamm erhoben. Johnson blickte mich miteinem unsagbar zerquälten Ausdruck an. Ich winkteihm zu, und er erwiderte meinen Gruß, abermiteinem Winken, das hoffnungslos und verzweifeltwar. Es war, als nehme er Abschied.

Dann waren sie achteraus gekommen. Plötzlichfüllte sich das Sprietsegel mit Wind, und das offeneFahrzeug krängte so, daß es aussah, als wollte eskentern. Eine Sturzsee schäumte darüber hinwegund begrub es unter schneeweißem Gischt. Dannhob sich das Boot wieder. Es war halb voll Wasser,und Leach schöpfte wie wahnsinnig, währendJohnson sich an die Ruderpinne klammerte. WolfLarsen lachte kurz und spöttisch und schritt nachder Achterhütte. Ich erwartete, daß er befehlenwürde beizudrehen, aber die Ghost hielt ihren Kurs,und er gab kein Zeichen; Louis stand unbeweglicham Steuerrad, aber ich bemerkte, daß die vorn inGruppen stehenden Matrosen uns bestürztanblickten. Immer weiter schoß die Ghost, bis dasBoot nur noch ein kleiner Punkt war. Da ertönteWolf Larsens Stimme, die befahl, steuerbord zuhalsen.

Wir gingen zurück, zwei Meilen oder mehr in Luv

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der mit den Wellen ringenden Nußschale, dannwurde der Außenklüver niedergeholt, und wirdrehten bei.

Robbenboote sind nicht dafür eingerichtet,gegen den Wind zu gehen. Sie sind daraufangewiesen, sich in Luv zu halten, um, wenn derSchoner anfährt, vor dem Winde laufen zu können.In dieser ganzen wilden Einöde gab es jedochkeine Zuflucht für Leach und Johnson außer derGhost, und so begannen sie entschlossen gegenden Wind anzukämpfen. Es ging nur langsam in derschweren See. Jeden Augenblick konnten sie unterden schäumenden Sturzseen begraben werden.Immer wieder, unzählige Male, sahen wir das Bootluven und wie ein Kork wieder zurückgeschleudertwerden.

Johnson war ein ausgezeichneter Seemann.Nach anderthalb Stunden befand er sich fast Seitean Seite mit uns und dachte uns beim nächstenHalsen zu erreichen.

„So, ihr habt's euch überlegt?" hörte ich WolfLarsen murmeln, als ob sie ihn hätten hörenkönnen. „Ihr wollt an Bord, was? Na schön, dannversucht's doch. Hart Steuerbord!" befahl er Oofty-Oofty, dem Kanaken, der unterdessen Louis amRad abgelöst hatte. Ein Befehl folgte dem andern.Der Schoner ging in den Wind, und Fockschot undGroßschot wurden gelockert. Und vor dem Windeliefen wir und hüpften über die Wogen, währendJohnson unter Lebensgefahr seine Schot nachließund, dreißig Meter hinter uns, unser Kielwasserkreuzte. Wieder lachte Wolf Larsen, und diesmal

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machte er ihnen Zeichen, uns zu folgen. Er hatteoffenbar die Absicht, mit ihnen zu spielen, ihnenstatt der Prügel, wie ich annahm, eine Lehre zuerteilen, allerdings eine gefährliche Lehre. Denndas leichte Fahrzeug konnte jeden Augenblickkentern. Johnson braßte sofort wieder vierkant undfolgte uns. Es blieb ihm nichts anderes übrig.Wohin sie sich auch wandten, sie sahen sich demTode preisgegeben, und es war nur eine Frage derZeit, daß eine der ungeheuren Sturzseen das Boottreffen, darüber hinweg- und weiterrollen würde.

„Der Tod sitzt ihnen im Nacken", murmelte Louismir ins Ohr, als ich nach vorn ging, um dafür zusorgen, daß Außenklüver und Stagsegel eingeholtwurden.

„Ach, er wird wohl bald beidrehen und sieaufnehmen", ermunterte ich ihn, „er will ihnen nureine Lehre erteilen, das ist alles."

Louis sah mich von der Seite an. „Glauben Siedas wirklich?" fragte er.

„Natürlich", erwiderte ich. „Du nicht?"„Ich denke nur an meine eigene Haut", lautete

seine Antwort. „Und ich bin gespannt, wie allesausläuft. Eine schöne Bescherung hat der Whiskeyangerichtet, den ich in Frisko trank, und dasMädchen achtern wird noch eine schöneBescherung für Sie anrichten. Aber eins weiß ich:Sie sind ein echter Narr!"

„Wie meinst du das?" fragte ich Louis, der sich,nachdem er seinen Pfeil abgeschossen hatte,abwandte.

„Wie ich das meine?" rief er. „Das fragen Sie

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noch? Auf meine Meinung kommt es nicht an, nurauf die vom Wolf. Vom Wolf, sage ich, vom Wolf!"„Würdest du mir beistehen, wenn es not täte?"fragte ich unwillkürlich, denn er hatte nur meinereigenen Besorgnis Ausdruck verliehen.

„Ihnen beistehen? Ich stehe nur dem altendicken Louis bei, und damit hab ich schon genug zutun. Wir sind erst am Anfang, sage ich Ihnen, ganzam Anfang."

„Ich hätte dich nicht für einen solchen Feiglinggehalten", höhnte ich.

Er warf mir einen geringschätzigen Blick zu. „Ichhab nie einen Finger für die armen Narren dadraußen gerührt", er wies auf das winzige Segelachtern, „und da meinen Sie, ich sei verrücktgenug, mir den Hals für eine Frau zu brechen, dieich bis zum heutigen Tage noch nie gesehenhabe?"

Verächtlich wandte ich mich ab und ging nachachtern.

„Es ist am besten, wenn Sie das Toppsegeleinholen lassen, Herr van Weyden", sagte WolfLarsen, als ich auf das Hüttendeck kam.

Ich spürte eine Erleichterung, wenigstensbezüglich der beiden Männer. Es war klar, daß erihnen nicht zu weit weglaufen wollte. Bei diesemGedanken schöpfte ich wieder Hoffnung und führteden Befehl rasch aus. Ich hatte kaum den Mundgeöffnet, als die Leute auch schon eifrig in dieTakelung sprangen. Wolf Larsen sah ihren Eiferund lächelte grimmig.

Das Boot kam immer näher und wurde wie ein

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lebendes Wesen durch die wallende grüne Massegewirbelt. Es hob und senkte sich, erschien auf denungeheuren Rücken der Wogen und verschwandhinter ihnen, um kurz darauf wieder zum Vorscheinzu kommen und himmelan zu schießen. Es schienunmöglich, durchkommen zu können, aber immerwieder vollbrachte es das Unmögliche mitschwindelerregender Fahrt. Ein Regenschauer triebvorbei, und aus dem Dunkel tauchte das Boot dichtneben uns auf.

„Hart Steuerbord!" rief Wolf Larsen und sprangselbst ans Rad, um es herumzuwerfen.

Wieder jagte die Ghost mit dem Wind um dieWette dahin, und zwei Stunden lang folgtenJohnson und Leach uns. Wir drehten bei und liefenfort, drehten bei und liefen fort, und immer nochstieg das kämpfende Segel himmelwärts undstürzte in die vorbeischießenden Täler.

Eine Viertelmeile von uns entzog eine dichteRegenbö das Boot unseren Blicken. Es kam niewieder zum Vorschein. Der Wind verwehte denRegen, aber kein Segel zeigte sich auf derbewegten Fläche. Einen Augenblick glaubte ich,den schwarzen Boden des Bootes sich von demGischt einer brechenden Welle abheben zu sehen.Das war alles. Für Johnson und Leach war derKampf ums Dasein beendet.

Die Mannschaft blieb in einer Gruppe mittschiffsstehen. Keiner ging nach unten, und keiner sprachein Wort. Nicht einmal Blicke wurden getauscht.Alle schienen wie betäubt - sie standen inBetrachtungen versunken da und versuchten, sich

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das Geschehene klarzumachen.Wolf Larsen ließ ihnen indessen nicht viel Zeit

zum Nachdenken. Er brachte die Ghost wieder aufKurs - einen Kurs auf die Robbenherden und nichtnach Yokohama. Aber die Leute hatten ihren Eiferbeim Holen und Fieren verloren, und ich hörtemanchen Fluch, der ihren Lippen entschlüpfte,schwer und dumpf wie sie selbst. Nicht so dieJäger. Smoke, der Unbezähmbare, erzählte eineGeschichte, und unter schallendem Gelächterbegaben sie sich ins Zwischendeck.

Als ich auf der Leeseite nach achtern ging,näherte sich mir der Maschinist, den wir gerettethatten. Sein Gesicht war weiß, und seine Lippenzitterten.

„Großer Gott, was war das für ein Boot?" rief er.„Sie haben ja selbst Augen im Kopf", antwortete

ich fast brutal, so sehr schnürten Schmerz undFurcht mir das Herz zusammen.

„Ihr Versprechen?" fragte ich Wolf Larsen.„Ich dachte gar nicht daran, sie an Bord zu

nehmen, als ich es gab", erwiderte er. „Und wasauch geschehen ist, so werden Sie mir jedenfallszugeben, daß ich nicht Hand an sie gelegt habe...Im Gegenteil, im Gegenteil", lachte er einenAugenblick später. Ich antwortete nicht. Ich warunfähig zu sprechen, mein Geist war verwirrt. Ichwußte, daß ich Zeit brauchte, um über dasGeschehene nachzudenken. Die Frau, die jetztunten in der Kajüte schlief, bürdete mir eineVerantwortung auf, die mir schwer aufs Herz fiel,und der einzige vernünftige Gedanke, der mir

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durchs Hirn flackerte, war, daß ich nichts übereilendurfte, wenn ich ihr überhaupt eine Hilfe sein wollte.

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Siebtes KapitelDer Rest des Tages verging, ohne daß sich

etwas ereignet hätte. Der frische Wind mit seinenRegenschauern legte sich. Der vierte Maschinistund die drei Heizer wurden nach einer heftigenAuseinandersetzung mit Wolf Larsen neueingekleidet, erhielten ihre Plätze unter den Jägernin verschiedenen Booten und in den Schiffswachenangewiesen und wurden dann in die Backgeschickt. Sie wagten nicht zu protestieren. Wassie von Wolf Larsen gesehen, hatte sieeingeschüchtert, und was sie in der Back über ihnhörten, nahm ihnen die letzte Lust zur Auflehnung.Fräulein Brewster - ich hatte ihren Namen von demMaschinisten erfahren - schlief immer noch.

Aber ihr Erscheinen bei Tisch am nächstenMorgen hatte eine seltsame Wirkung. Die Jägerwurden stumm wie die Fische. Nur Homer undSmoke ließen sich nicht einschüchtern, warfenverstohlene Blicke auf sie und beteiligten sichselbst an der Unterhaltung. Die vier andern hobennicht die Augen von ihren Tellern. Auch WolfLarsen sagte anfangs nicht viel; er antwortete nur,wenn man sich an ihn wandte. Nicht etwa, daß erverlegen gewesen wäre. Weit entfernt!

Diese Frau war für ihn nur ein neuer Typ, völligverschieden von dem Schlag, den er bisherkennengelernt hatte, und er war neugierig. Erstudierte sie, seine Augen ließen kaum von ihremGesicht, es geschah denn, um die Bewegungenihrer Hände und Schultern zu beobachten. Ich

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selbst studierte sie ebenfalls, und obwohl ich dieKosten der Unterhaltung trug, war ich doch einwenig schüchtern.„Und wann sind wir inYokohama?" wandte sie sich an ihn und blickte ihmgeradewegs in die Augen.

Das war die klare Frage. Die Kinnladen hörtenzu arbeiten auf, die Ohren bewegten sich nichtmehr, und wenn auch die Augen weiter auf denTellern haftenblieben, lauschte doch jeder begierigauf die Antwort.

„In vier Monaten, vielleicht auch in dreien, wenndie Jagdzeit früh vorüber ist", sagte Wolf Larsen.

Sie schnappte nach Luft und stammelte: „Ich -ich dachte - man ließ mich in dem Glauben, daßYokohama nur eine Tagereise entfernt sei. Das..."Sie machte eine Pause und blickte von einem aufdas andere dieser unsympathischen Gesichter imKreise, die fest auf ihre Teller starrten. „Das kannnicht richtig sein", schloß sie.

„Das ist eine Frage, die Sie mit Herrn vanWeyden abmachen müssen", erwiderte er, indemer mir augenzwinkernd zunickte. „Herr van Weydenist so etwas wie eine Autorität in Fragen desRechtes. Ich bin nur ein einfacher Seemann undsehe die Situation daher etwas anders an. Für Siemag es vielleicht ein Unglück sein, daß Siehierbleiben müssen, aber für uns ist es sicher einGlück."

Er sah sie lächelnd an. Ihre Augen senkten sichvor seinem Blick, aber sie hob sie wieder trotzig zuden meinen. „Was meinen Sie?" fragte sie.

„Daß es schlimm wäre, namentlich wenn Sie

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Verpflichtungen für die nächsten Monateübernommen hätten. Da Sie aber, wie Sie sagen,lediglich aus Gesundheitsrücksichten nach Japanreisen wollten, kann ich Ihnen versichern, daß Siesich nirgends besser erholen können als an Bordder Ghost." Ich sah ihre Augen unwillig aufblitzen,und diesmal senkte ich den Blick und fühlte, daßich unter dem ihren errötete. Ich war feige, aberwas hätte ich tun sollen?

„Herr van Weyden ist eine Autorität auf diesemGebiete", meinte Wolf Larsen lachend.

Ich nickte, und sie blickte mich, jetzt wiederbeherrscht, erwartungsvoll an.

„Nicht, daß er gerade schon damit prahlenkönnte", fuhr Wolf Larsen fort, „aber er hat sichprachtvoll erholt. Sie hätten ihn sehen sollen, als eran Bord kam. Ein jämmerlicheres Exemplar derGattung Mensch hätte man schwerlich findenkönnen. Stimmt das, Kerfoot?"

Kerfoot war bei dieser direkten Anrede sobestürzt, daß er das Messer zu Boden fallen ließ,aber es gelang ihm, zustimmend zu grunzen.

„Hat sich herausgemacht durch Kartoffelschälenund Tellerwaschen, was, Kerfoot?" Wieder grunzteder gute Mann.

„Und schauen Sie ihn sich jetzt an! Er ist zwarnicht das, was man muskulös nennt, aber er hatdoch Muskeln, und das konnte man nicht von ihmsagen, als er an Bord kam. Und dazu hat er gelernt,auf eigenen Füßen zu stehen. Wenn Sie ihn jetztsehen, glauben Sie es vielleicht nicht, aber imAnfang war er ganz außerstande dazu."

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Ich war zornig auf Wolf Larsen. Mit seinengeringschätzigen Bemerkungen forderte er meineMännlichkeit, forderte er die Selbständigkeitheraus, die er mir verschafft hatte. „Ich habevielleicht gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen",entgegnete ich, „aber noch nicht, auf die anderer zutreten."

Er warf mir einen höhnischen Blick zu. „Dann istIhre Erziehung erst halb vollendet", sagte ertrocken und wandte sich wieder an sie. „Wir sindsehr gastfreundlich auf der Ghost. Herr vanWeyden kann das bestätigen. Wir tun alles, um esunseren Gästen so angenehm wie möglich zumachen, nicht wahr, Herr van Weyden?"

„Ja, bis zum Kartoffelschälen undTellerwaschen", antwortete ich, „gar nicht davon zureden, daß einem aus lauter Freundschaft der Halsumgedreht wird."

„Ich bitte Sie, sich durch Herrn van Weydenkeine falschen Vorstellungen zu machen", legte ersich mit angenommener Ängstlichkeit dazwischen.„Sie werden bemerkt haben, Fräulein Brewster, daßer ein Messer im Gürtel trägt, etwas - hm - etwasUngewöhnliches für einen Schiffsoffizier. Herr vanWeyden ist zwar sehr ehrenwert, aber, wie soll ichsagen, ein wenig streitsüchtig und gebrauchtscharfe Mittel. In ruhigen Augenblicken ist er ganzvernünftig und umgänglich, und da er jetzt ruhig ist,wird er nicht leugnen, daß er mir gestern an denKragen wollte."

Ich wollte vor Wut ersticken, und meine Augenschossen Blitze.

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„Schauen Sie ihn jetzt an", fuhr er fort. „Er kannsich kaum in Ihrer Gegenwart beherrschen. Erdürfte nicht gewohnt sein, sich in Gesellschaft vonDamen zu bewegen. Ich werde mich bewaffnenmüssen, ehe ich wagen kann, mit ihm an Deck zugehen." Er schüttelte traurig den Kopf undmurmelte: „Schlimm, schlimm!", während die Jägerin schallendes Gelächter ausbrachen.

Die rauhen Stimmen dieser Seebären halltenpolternd und brüllend in dem engen Raum widerund hatten eine merkwürdige Wirkung. Die ganzeUmgebung war wild und unheimlich, und als ichnun diese fremde Frau betrachtete und mirvorstellte, wie wenig sie hier hereinpaßte, wurdemir zum erstenmal klar, wie sehr ich dieserUmgebung selbst schon angehörte.

Ich kannte diese Männer und ihr Seelenleben,ich war einer der ihren, lebte das Leben, aß dieKost und dachte die Gedanken der Robbenfänger.Für mich war nichts Merkwürdiges mehr an ihrenrauhen Kleidern, ihren gemeinen Gesichtern, demwilden Gelächter, an den schwankendenKajütenwänden oder den schwingendenSchiffslampen.

Als ich mir ein Stück Butterbrot schmierte, fielmein Blick zufällig auf meine Hände. Die Knöchelwaren aufgeschürft und entzündet, die Fingergeschwollen, die Nägel schwarzrandig. Ich fühltedie dichten Bartstoppeln auf meinem Halse undwußte, daß ein Ärmel meiner Jacke zerrissen warund ein Knopf an meinem blauen Hemd fehlte. DasMesser, das Wolf Larsen erwähnt hatte, hing in

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einer Scheide an meiner Hüfte. Es war sehrnatürlich, daß es dort hing - wie natürlich, war mirnicht aufgefallen, bis ich es jetzt mit ihren Augenansah und mir bewußt wurde, wie seltsam ihr diesund alles andere vorkommen mußte.

Aber sie erriet den Spott in Wolf Larsens Wortenund sandte mir einen mitleidigen Blick zu.Gleichzeitig las ich jedoch Bestürzung in ihrenAugen. Seine Neckereien machten die Situation nurnoch verwirrender für sie.

„Ein vorbeifahrendes Schiff kann mich vielleichtaufnehmen", schlug sie vor.

„Es gibt keine vorbeifahrenden Schiffe außeranderen Robbenschonern", gab Wolf Larsen zurAntwort.

„Ich habe keine Kleider, nichts", wandte sie ein.„Sie denken sicher nicht daran, daß ich kein Mannund das unstete Leben, das Sie und Ihre Leuteführen, nicht gewohnt bin."

„Je eher Sie sich daran gewöhnen, destobesser", sagte er. „Ich werde Sie mit Stoff, Nadelund Faden versehen", fügte er hinzu. „Ich hoffe, eswird Ihnen nicht allzuviel Mühe machen, sich einoder zwei Kleider zu nähen."

Sie verzog den Mund, um ihre Unerfahrenheit imSchneidern kundzutun. Daß sie ängstlich undverwirrt war und tapfer versuchte, es zu verbergen,war mir ganz klar.

„Ich nehme an, daß Sie ebenso wie Herr vanWeyden dort gewohnt sind, alles durch andere fürsich tun zu lassen. Nun, ich denke, Ihnen wird keinStein aus der Krone fallen, wenn Sie einmal selbst

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etwas für sich tun müssen. Womit erwerben Siesich übrigens Ihren Unterhalt?"

Sie sah ihn mit unverhohlenem Erstaunen an.„Ich will Sie nicht beleidigen, glauben Sie mir.

Man ißt, daher muß man arbeiten. Diese Männerhier schießen Robben, um zu leben; ausdemselben Grunde führe ich diesen Schoner, undHerr van Weyden verdient sich, wenigstens jetzt,sein Brot, indem er mir hilft. Nun, und was tun Sie?"Sie zuckte die Achseln. „Ernähren Sie sich selbst,oder werden Sie durch andere ernährt?"

„Ich fürchte, den größten Teil meines Lebens hatmich ein anderer ernährt", lachte sie, indem sieeinen tapferen Versuch machte, auf denneckischen Ton von Wolf Larsen einzugehen,obgleich ich wachsendes Entsetzen in ihren Augenaufsteigen sah.

„Ich nehme an, daß ein anderer auch das Bettfür Sie macht?"

„Ich habe mir mein Bett gemacht", erwiderte sie.„Oft?"Sie schüttelte den Kopf mit verstellter Reue.„Wissen Sie, was man in den Staaten mit Armen

tut, die wie Sie nicht für ihren Unterhalt arbeiten?"„Ich bin sehr unwissend", erwiderte sie, „was tut

man mit meinesgleichen?"„Man sperrt sie ein. Das Verbrechen, seinen

Lebensunterhalt nicht zu verdienen, wirdLandstreicherei genannt. Wäre ich Herr vanWeyden, der sich andauernd mit der Fragebeschäftigt, was Recht und Unrecht ist, so würdeich fragen, mit welchem Recht Sie leben, wenn Sie

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nichts tun, um Ihren Unterhalt zu verdienen."„Da Sie aber nicht Herr van Weyden sind,

brauche ich Ihnen nicht zu antworten, nicht wahr?"Sie sandte ihm aus ihren angstvollen Augen

einen strahlenden Blick, der so rührend war, daß esmir ins Herz schnitt. Ich mußte irgendwieversuchen, dem Gespräch eine andere Wendungzu geben.

„Haben Sie je einen Dollar durch eigene Arbeitverdient?" fragte er triumphierend, im voraus seinerSache sicher.

„Ja, das habe ich", antwortete sie, und ich hättefast über sein verlegenes Gesicht lachen können.„Ich erinnere mich, daß mein Vater mir einmal, alsich ein kleines Mädchen war, einen Dollar gab,damit ich fünf Minuten lang still war." Er lächeltenachsichtig.

„Aber das ist lange her", fuhr sie fort. „Und Siewerden wohl kaum verlangen, daß ein neunjährigesMädchen sich seinen Lebensunterhalt selbstverdient. Gegenwärtig aber", fuhr sie nach einerkurzen Pause fort, „verdiene ich ungefährachtzehnhundert Dollar jährlich."

Alle Augen hoben sich auf einmal von denTellern und hefteten sich auf sie. Eine Frau, dieachtzehnhundert Dollar jährlich verdiente, war wert,angeschaut zu werden. Wolf Larsen verhehlteseine Bewunderung nicht: „Gehalt oderAkkordarbeit?"

„Akkordarbeit", antwortete sie rasch.„Achtzehnhundert", rechnete er. „Das machthundertfünfzig monatlich. Nun, Fräulein Brewster,

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wir sind nicht kleinlich auf der Ghost. BetrachtenSie sich für die Dauer Ihres Aufenthalts mitdemselben Gehalt angestellt."

Sie sagte nichts. Sie war seine Einfälle nochnicht so gewohnt, daß sie sie mit Gleichmuthingenommen hätte.

„Ich vergaß zu fragen", fuhr er liebenswürdig fort,„welcher Art Ihre Beschäftigung ist. Was fürWerkzeuge und Material brauchen Sie?"

„Papier und Tinte", lachte sie. „Ach, und aucheine Schreibmaschine. "

„Sie sind Fräulein Maud Brewster", sagte ichlangsam und sicher, als beschuldigte ich sie einesVerbrechens.

Ihre Augen hoben sich neugierig zu den meinen:„Woher wissen Sie das?"

„Stimmt es nicht?" fragte ich.Sie nickte zustimmend. Jetzt war die Reihe,

verblüfft zu sein, an Wolf Larsen. Ihm bedeutete derName nichts. Ich war stolz darauf, daß er mir etwasbedeutete, und zum erstenmal seit langer Zeitwurde ich mir meiner Überlegenheit über ihnbewußt.

„Ich erinnere mich, eine Besprechung über einkleines Buch geschrieben zu haben -", begann ich,aber sie unterbrach mich.

„Sie!" rief sie. „Sie sind -" Jetzt nickte ichmeinerseits zustimmend. „Humphrey van Weyden!"schloß sie - dann fügte sie mit einem Seufzer derErleichterung hinzu, ohne daran zu denken, daßWolf Larsen ihn bemerken mußte: „Wie mich dasfreut! Ich entsinne mich recht wohl der

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Besprechung", fuhr sie fort, als sie sich bewußtwurde, wie seltsam ihre Bemerkung wirken mußte.„Sie war wirklich zu schmeichelhaft."

„Keineswegs", verneinte ich schnell. „Sie setzenmeine nüchterne Urteilskraft herab und entwertenmeine Kritik. Im übrigen stimmen alle Kritiker mitmir überein. Hat Lang nicht ein Gedicht von Ihnenzu den vier größten Sonetten gezählt, die vonFrauen in englischer Sprache geschrieben wordensind?"

„Sie sind sehr freundlich", murmelte sie, undgerade das Konventionelle ihrer Worte und derganze Schwarm von Vorstellungen des früherenLebens auf der andern Seite der Welt durchzucktenmich - reich an Erinnerungen, aber auch stechendvor Heimweh.

„Also Sie sind Maud Brewster", sagte ich feierlichund blickte sie an.

„Und Sie sind Humphrey van Weyden", sagte sieund erwiderte meinen Blick ebenso feierlich undfurchtsam. „Wie seltsam! Es ist mir alles ganzunverständlich. Wir haben sicherlich einewildromantische Seegeschichte von Ihnen zuerwarten."

„Nein, ich sammle keinen Stoff, das versichereich Ihnen", lautete meine Antwort. „Ich habe wederGeschick noch Neigung, einen Roman zuschreiben."

Und dann vergaßen wir ganz, wo wir waren, undließen Wolf Larsen stumm und wie eingescheitertes Schiff inmitten der Brandung unsererUnterhaltung. Die Jäger standen auf und gingen an

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Deck, und wir sprachen immer noch. Nur WolfLarsen blieb. Plötzlich wurde ich seinerAnwesenheit inne, er saß zurückgelehnt am Tischund lauschte neugierig unsern fremdartigen Redenüber eine Welt, die er nicht kannte.

Ich brach mitten im Satz ab. Die Gegenwart mitall ihren Gefahren und Schrecken lahmte mich.Fräulein Brewster mußte es ähnlich ergehen, einunbestimmtes namenloses Entsetzen trat in ihreAugen, die jetzt auf Wolf Larsen fielen. Er erhobsich und lachte verlegen mit einem seltsamen,metallischen Klang. „Oh, kümmern Sie sich nichtum mich",

sagte er mit einer Handbewegung, als wolle erseine eigene Unterwürfigkeit kundgeben. „Ich zähledoch nicht. Bitte, fahren Sie nur fort."

Aber die Tore der Beredsamkeit warengeschlossen. Auch wir erhoben uns und lachtenverlegen.

Der Verdruß, den Wolf Larsen empfand, weilMaud Brewster und ich ihn in unserer Unterhaltungbei Tisch übersehen hatten, mußte sich irgendwieLuft machen, und Thomas Mugridge sollte derSündenbock sein. Trotz seiner gegenteiligenBehauptung hatte er weder sein Benehmen nochsein Hemd gewechselt. Dieses Kleidungsstückwiderlegte ihn ebenso wie die Fettablagerungen aufOfen, Töpfen und Pfannen, die aller Begriffe vonReinlichkeit spotteten.

„Ich habe dich gewarnt, Köchlein", sagte WolfLarsen, „und jetzt hilft dir nichts mehr, jetzt kriegstdu deine Medizin."

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Mugridge wurde kreideweiß unter derRußschicht, und als Wolf Larsen nach einem Tauund ein paar Mann rief, schoß der verzweifelteCockney in wilder Flucht aus der Kombüse, machteweite Sätze über das Deck und duckte sich, um derVerfolgung der grinsenden Mannschaft zuentgehen. Der hätte kaum etwas größeresVergnügen machen können, als ihn ein bißchen insSchlepptau zu nehmen, denn was er derMannschaft an Essen und Trinken vorgesetzt hatte,war einfach scheußlich gewesen. Auch die äußerenVerhältnisse begünstigten das Unternehmen. DieGhost glitt mit nur drei Meilen Fahrt durch dasWasser, und die See war ziemlich ruhig. AberMugridge verspürte nur geringe Neigung,untergetaucht zu werden. Höchstwahrscheinlichhatte er schon früher mitgemacht, wie Leute insSchlepptau genommen wurden. Zudem war dasWasser furchtbar kalt, und er war alles andere alsabgehärtet.

Wie gewöhnlich, wenn Aussicht auf eineBelustigung war, kamen die andere Wache und dieJäger an Deck. Mugridge schien eine verzweifelteAngst vor dem Wasser zu haben und zeigte eineGewandtheit und Schnelligkeit, die niemandihmzugetraut hätte. So groß war seineSchnelligkeit, daß er, als er um die Kajüte bog,ausrutschte. Im Fallen traf er die Beine Nilsons, deram Rad stand. Sie stürzten übereinander, doch nurMugridge erhob sich wieder. Durch eine Laune desSchicksals hatte sein schwächlicher Körper dasBein des starken Mannes wie ein Pfeifenrohr

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geknickt. Parsons ergriff das Rad, und dieVerfolgung wurde wiederaufgenommen. Immerums Deck herum ging es. Erst Mugridge, vor Angstfast von Sinnen, und hinterdrein die Matrosen, diesich schreiend die Richtung angaben, und dieJäger, die sie mit brüllendem Gelächter anfeuerten.Auf der Vorderluke stürzte dann Mugridge, und dreiMann warfen sich auf ihn. Aber er wand sich wieein Aal heraus und sprang zur Haupttakelung,während ihm das Blut aus dem Munde troff und dasanstoßerregende Hemd in Fetzen riß. Hinauf ginges, geradewegs hinauf, unter den Püttingswantenzum Großmasttopp.

Ein halbes Dutzend Matrosen setzte ihm nach,mußte aber an den Dwarssalingen zurückbleibenbis auf zwei, Oofty-Oofty und Black, denBootssteurer Latimers, die ihn weiter die dünnen,stählernen Stags hinauf verfolgten und sich mit denArmen immer höher schwangen.

Es war ein gefährliches Unternehmen, denn ineiner Höhe von dreißig Metern über Deck und nuran den Händen hängend, konnten sie sich nurschwer vor Mugridges Füßen schützen. UndMugridge trat um sich wie ein Wilder, bis derKanake, der sich mit einer Hand festhielt, mit deranderen den Fuß des Cockneys packte. Black tatdasselbe mit dem andern Fuß. Eine Weile hingenalle drei und wanden sich in einem unentwirrbarenKlumpen, bis sie, immer noch kämpfend,hinunterrutschten und in die Arme ihrer Kameradenauf den Dwarssalingen fielen.

Die Schlacht in der Luft war vorbei, und Thomas

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Mugridge wurde aufs Deck geschleppt. Wolf Larsensteckte eine Bugleine durch eine Tauschlinge, dieer ihm unter den Armen um den Leib legte. Dannwurde er nach achtern geschleppt und ins Wassergeworfen. Zehn, fünfzehn, zwanzig MeterLeinewaren bereits abgelaufen, als Wolf Larsen„Festmachen!" rief. Oofty-Oofty legte eine Schlingeum einen Poller, die Leine straffte sich, und durchdie andauernde Fahrt der Ghost wurde der Koch andie Oberfläche gerissen.

Es war ein mitleiderregender Anblick. Wenn erauch nicht ertrinken konnte und dazu zäh wie eineKatze war, erlitt er doch die Qualen einesErtrinkenden.

Die Ghost fuhr sehr langsam, und wenn ihr Hecksich auf einer Welle hob und sie vorwärts glitt, zogsie den Unglücklichen an die Oberfläche, daß ereinen Augenblick Atem schöpfen konnte. Wennaber das Heck sank und der Bug träge die nächsteWoge erklomm, wurde die Leine wieder schlaff, under sank unter.

Ich hatte ganz Maud Brewsters Existenzvergessen und fuhr erschrocken zusammen, als siemit leichten Schritten neben mich trat. Seit sie anBord gekommen war, befand sie sich das erstemalan Deck. Totenstille begrüßte ihr Erscheinen.

„Worüber freuen sich alle so?" fragte sie.„Fragen Sie Kapitän Larsen", antwortete ich

gefaßt und kühl, obwohl mir das Blut bei demGedanken kochte, daß sie Zeuge einer solchenRoheit werden sollte. Sie wollte meinem Rat folgenund wandte sich um, als ihr Blick auf Oofty-Oofty

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fiel, der mit anmutig gestrafftem Körper vor ihrstand und die Tauschlinge hielt.

„Fischen Sie?" fragte sie.Er antwortete nicht. In seine Augen, die sich fest

auf die See achtern hefteten, trat plötzlich einSchimmer.

„Hai in Sicht, Herr!" schrie er.„Hiev ein! Schnell alle Mann!" rief Wolf Larsen

und sprang selbst vor allen andern an die Leine.Mugridge hatte den Warnruf des Kanaken gehört

und schrie wie ein Besessener. Ich konnte eineschwarze Flosse sehen, die das Wasserdurchschnitt, und zwar mit größerer Schnelligkeit,als er eingeholt wurde. Ein Wettrennen zwischendem Hai und uns begann, aber alles vollzog sich inwenigen Augenblicken. Als Mugridge gerade unteruns war, sank das Heck in

ein Wellental, wodurch der Hai einen Vorteilgewann. Beinahe ebenso schnell war Wolf Larsen.Seine ganze Kraft äußerte sich in einem gewaltigenRuck. Der Körper des Kochs schoß aus demWasser, der Hai hinterdrein.

Mugridge zog die Füße hoch, deren einen derMenschenfresser nur eben zu berühren schien.Dann sank er klatschend ins Wasser zurück. Aberbei der Berührung stieß Thomas Mugridge einenlauten Schrei aus. Dann wurde er wie ein Fisch ander Angel hochgezogen, streifte leicht die Relingund stürzte kopfüber aufs Deck.

Doch ein Strom von Blut ergoß sich über diePlanken. Der rechte Fuß fehlte, fast am Knöchelamputiert. Ich blickte Maud Brewster an. Sie war

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leichenblaß, ihre Augen weiteten sich vorEntsetzen. Sie sah nicht Thomas Mugridge,sondern Wolf Larsen an. Und er bemerkte es, denner sagte mit kurzem Lachen: „Männerspiel, FräuleinBrewster. Wohl etwas rauher, als Sie es gewöhntsein mögen, aber immerhin - Männerspiel. Der Haiwar nicht mit in der Rechnung. Es -"

Bei diesen Worten hatte Thomas Mugridge denKopf gehoben und war sich über den Verlust, dener erlitten hatte, klargeworden. Jetzt kroch er überdas Deck und schlug plötzlich seine Zähne in WolfLarsens Bein. Der aber bückte sich ruhig undpreßte mit Daumen und Zeigefinger von hinten dieKinnladen des Mannes unterhalb der Ohrenzusammen. Die Kiefer öffneten sich widerstrebend,und Wolf Larsen war frei.

„Wie gesagt", fuhr er fort, als ob nichtsBesonderes geschehen sei, „der Hai war nicht mitin der Rechnung. Es war - hm -, sagen wir, göttlicheVorsehung."

Sie gab kein Zeichen, daß sie ihn gehört hatte,aber die Angst in ihren Augen wichunaussprechlichem Ekel, und sie wandte sich, umzu gehen. Sie hatte indessen kaum einen Schrittgetan, als sie wankte und die Hand nach mirausstreckte. Ich fing sie gerade noch rechtzeitig aufund half ihr, sich auf die Kajütstreppe zu setzen. Ichglaubte, sie würde sofort in Ohnmacht fallen, abersie beherrschte sich.

„Herr van Weyden, wollen Sie eine Aderpresseholen!" rief Wolf Larsen mir zu, und mir blieb nichtsübrig, als zu gehorchen.

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Ich hatte allmählich solche Geschicklichkeit alsChirurg erlangt, daß Wolf Larsen mir nach kurzerBeratung die Behandlung überlassen konnte, wobeimir ein paar Matrosen halfen. Für seinen Teilwählte er sich die Rache an dem Hai. Ein schwererWirbelhaken, an dem als Köder ein StückPökelfleisch hing, wurde über Bord geworfen, undals ich gerade damit fertig war, die gefährdetenVenen und Arterien zusammenzupressen, holtendie Matrosen singend das Ungeheuer ein. Ich sahes nicht selbst, aber meine Assistenten verließenmich abwechselnd, um nach mittschiffs zu laufenund zu sehen, was vorging. Der fünf Meter langeHai wurde in die Haupttakelung geheißt. SeinRachen war weit aufgerissen, und jetzt wurde einean beiden Seiten zugespitzte Eisenstangehineingestellt, so daß sie sich in die Kiefer, wennsie sich schließen wollten, einbohren und siefesthalten mußte. Als dies vollbracht war, wurde derHaken herausgeschnitten. Der Hai sank ins Meerzurück, hilflos und doch im Besitz seiner vollenKraft, zu langsamem Hungertode verurteilt, denweniger er verdiente als der Mann, der ihm dieseStrafe zuteilte.

Als ich sie auf mich zukommen sah, wußte ich,was sie wollte. Ich hatte sie zehn Minuten langernst mit dem Maschinisten sprechen sehen, undjetzt zog ich sie außer Hörweite des Rudergängers.Ihr Antlitz war blaß und entschlossen, ihre großenAugen, die die Entschlossenheit noch größermachte, sahen fest in die meinen. Mir war nichtsehr wohl zumute, denn sie kam, um meine Seele

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zu erforschen, und ich besaß, seit ich auf die Ghostgekommen war, nichts mehr, auf das ich besondersstolz hätte sein können. Wir gingen zum Rande derAchterhütte, wo sie sich umwandte und mir insGesicht blickte. Ich sah mich um, um mich zuvergewissern, daß niemand in Hörweite war.

„Was gibt es?" fragte ich sanft, aber derentschlossene Ausdruck wich nicht von ihremGesicht.

„Ich kann begreifen, daß das, was heute morgengeschah, in der Hauptsache ein Unglücksfall war,aber ich habe mit Herrn Haskins gesprochen, under erzählte mir, daß an dem Tage, als wir gerettetwurden, während ich in der Kajüte war, zweiMenschen ertränkt, mit Vorbedacht ertränkt -ermordet wurden."

In ihrer Stimme lag eine Frage, und sie sah michanklagend an, als ob ich schuldig oder dochwenigstens mitschuldig an der Tat wäre.

„Das ist ganz richtig", antwortete ich. „Die beidenMänner wurden ermordet."

„Und Sie haben das zugelassen?" rief sie. „Ichwar nicht imstande, es zu verhindern, so muß eswohl heißen", entgegnete ich, immer noch sanft.

„Aber haben Sie wenigstens den Versuchgemacht, es zu verhindern?" Sie legte den Ton aufdas Wort „Versuch", und ein flehender Klang war inihrer Stimme. „Ach, Sie haben es nicht getan", fuhrsie fort, da sie meine Antwort erriet... „Aber warumnicht? "

Ich zuckte die Achseln. „Sie dürfen nichtvergessen, Fräulein Brewster, daß Sie ein neuer

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Bewohner dieser kleinen Welt sind und noch nichtdie Gesetze, die hier herrschen, verstehen. Siehaben gewiß edle Begriffe von Menschlichkeit,Benehmen und ähnlichem mitgebracht, aber Siewerden bald erkennen, daß das alles hier keineGeltung hat. Mir ging es ebenso", fügte ich,unwillkürlich seufzend, hinzu. Ungläubig schütteltesie den Kopf.

„Was würden Sie mir denn raten?" fragte ich.„Soll ich ein Messer, ein Gewehr oder eine Axtnehmen und diesen Mann töten?"

Sie wich zurück. „Nein, das nicht!" „Was sollteich sonst tun? Mich selbst töten?" „Sie betrachtendie Dinge von einem rein materiellen Standpunkt",hielt sie mir entgegen. „Es gibt einen sittlichen Mut,und ein solcher sittlicher Mut ist nie wirkungslos."„Ach", lächelte ich, „ich soll weder ihn noch michtöten, sondern mich von ihm töten lassen." Siewollte sprechen, aber ich hob die Hand. „SittlicherMut ist etwas ganz Wertloses auf dieserschwimmenden kleinen Welt. Leach, der eine derbeiden Ermordeten, besaß sittlichen Mut inaußergewöhnlich hohem Maße. Ebenso derandere, Johnson. Er hat ihnen nicht nur nichtsgenützt, er hat sie sogar vernichtet. Und so würdees mir auch geschehen, wenn ich das bißchensittlichen Mut, das ich besitze, gebrauchen wollte."

Sie schwieg, wartete offenbar, daß ich fortfahrensollte.

„Was soll ich noch sagen? Mir ist die Rolle desSchwachen zugeteilt. Ich schweige und erdulde dieSchmach, wie auch Sie schweigen und dulden

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werden. Das ist das Beste, was wir tun können,wenn wir am Leben bleiben wollen. Der Kampfentscheidet sich nicht stets für den Starken. Wirhaben nicht die Kraft, mit diesem Manne zukämpfen. Wir müssen heucheln, und wenn wirgewinnen, tun wir es durch Verschlagenheit. WennSie sich von mir raten lassen wollen, so richten Siesich hiernach."

Sie strich sich mit der Hand über die Stirn undsagte verwirrt: „Es ist mir immer nochunverständlich."

„Sie müssen tun, wie ich sage", unterbrach ichsie gebieterisch, denn ich sah, wie Wolf LarsensBlick uns traf, während er mit Latimer mittschiffs aufund ab wanderte. „Tun Sie, wie ich sage, und Siewerden bald sehen, daß ich recht habe."

„Was soll ich denn tun? " fragte sie,durchdrungen von dem Ernst meiner Worte.

„Lassen Sie alle Ihre Begriffe von sittlichem Mutfahren", sagte ich rasch. „Reizen Sie nicht den Zorndieses Mannes. Seien Sie ganz freundlich zu ihm,sprechen Sie mit ihm, streiten Sie sich mit ihm überLiteratur und Kunst - er liebt diese Dinge. Siewerden in ihm einen aufmerksamen,verständnisvollen Zuhörer finden."

„Ich soll also lügen", sagte sie fest und mitEmpörung in der Stimme. „Lügen in Wort und Tat."

Wolf Larsen hatte Latimer stehenlassen und kamauf uns zu. Ich erschrak tief.

„Bitte, bitte, mißverstehen Sie mich nicht", sagteich rasch, indem ich die Stimme senkte. „Alle IhreMenschenkenntnis, alle Ihre Erfahrungen sind hier

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wertlos. Sie müssen ganz umlernen."In diesem Augenblick trat Wolf Larsen zu uns auf

die Achterhütte. „Herr van Weyden, Sie sollten sichnach Köchlein umsehen. Er klagt und ist unruhig."

So wurde ich auf recht derbe Weise von derAchterhütte weggeschickt, und nur, um Mugridge intiefem Schlummer zu finden nach dem Morphium,das ich ihm gegeben hatte. Ich beeilte mich nicht,wieder an Deck zu kommen, als ich es aberschließlich tat, sah ich zu meiner Freude FräuleinBrewster in angeregter Unterhaltung mit WolfLarsen. Wie gesagt, freute ich mich über diesenAnblick. Sie befolgte also meinen Rat. Und dochdurchzuckte mich ein leichter Schmerz, als ich sah,daß sie tat, um was ich sie gebeten hatte und wassie vorhin mit Abscheu von sich gewiesen hatte.

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Achtes KapitelGünstige Winde trieben die Ghost schnell

nordwärts in die Robbengründe. Wir trafen dieHerden auf dem 44. Breitengrad in einer rauhen,stürmischen See, über die der Wind dieNebelbänke in wilder Flucht hetzte. Tagelangkonnten wir nicht die Sonne sehen und keineBeobachtungen machen. Dann aber fegte der Winddie Oberfläche des Ozeans rein, die Wellenkräuselten sich schimmernd, und wir konntenfeststellen, wo wir waren. Ein klarer Tag, auch dreioder vier konnten folgen, dann senkte sich derNebel wieder auf uns herab, anscheinend dichterals je. Die Jagd war gefährlich, aber dennochwurden die Boote Tag für Tag hinuntergelassen,von der grauen Finsternis verschlungen und erstbei herabsinkender Nacht, ja oft erst viel späterwieder gesehen. Wie Seegespenster huschten siedann eines nach dem andern aus dem Grau hervor.Wainwright - der Jäger, den Wolf Larsen mit Bootund Mannschaft gestohlen hatte - benutzte denNebel, um zu entwischen. Er verschwand einesMorgens mit seinen beiden Leuten in denkreisenden Schwaden, und wir sahen sie niewieder. Nach einigen Tagen erfuhren wir jedoch,daß sie von einem Schoner zum andern gegangenwaren, bis sie endlich ihren eigenenwiedergefunden hatten. Das hatte ich selbst schonlängst tun wollen, aber es bot sich mir nie eineGelegenheit. Es war nicht Sache des Steuermanns,mit in die Boote zu gehen, und welche List ich auch

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anwandte, gab Wolf Larsen mir doch nie dieErlaubnis dazu. Hätte er es getan, so würde ichirgendwie versucht haben, Fräulein Brewstermitzunehmen. Näherten sich die Dinge doch einemStadium, an das zu denken mir Grauen einflößte.

Ich hatte früher Seegeschichten gelesen, indenen die einsame Frau unter einer Schar vonMännern als das Natürlichste von der Welt vorkam;jetzt aber erfuhr ich, daß ich nie die tiefereBedeutung dieser Situation erfaßt hatte. Und hierstand ich dieser Situation nun von Angesicht zuAngesicht gegenüber. Um sie so lebendig wiemöglich zu gestalten, brauchte es nur, daß die FrauMaud Brewster war.

Kein größerer Gegensatz als der zwischen ihrund ihrer Umgebung hätte je ersonnen werdenkönnen. Sie war zart und ätherisch, geschmeidigund mit leichten, anmutigen Bewegungen. Ich hattenie das Gefühl, als ob sie schritte oder es dochwenigstens nach Art gewöhnlicher Sterblicher täte.Eine seltene Leichtigkeit lag über ihr, und siebewegte sich mit einer unbeschreiblichen Anmut.Sie war wie ein Gegenstand aus MeißenerPorzellan, und immer wieder beeindruckte michihre Zerbrechlichkeit. Ihr Körper schien ein Teil ihrerSeele zu sein, schien die gleichen Eigenschaftenzu besitzen und an das Leben nur durch diezartesten Ketten gefesselt zu sein. In der Tat: Sietrat leicht über diese Erde, und nur ein Geringesvon grobem Sande haftete ihr an.

Wolf Larsen bildete einen schreiendenGegensatz zu ihr. Ich beobachtete sie, wie sie

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eines Morgens zusammen über das Deck schritten,und ich verglich sie als die äußeren Endpunkte dermenschlichen Entwicklung - er der Höhepunkt allerBarbarei, sie das vollendetste Produkt höchsterZivilisation.

Sie kamen in die Nähe der Kajütstreppe, wo ichstand. Obgleich sie es durch kein äußeres Zeichenverriet, spürte ich doch, daß sie sich in großerErregung befand. Sie machte eine nichtssagendeBemerkung, blickte mich an und lachteunbekümmert, dann aber sah ich, wie ihre Augenunwillkürlich, wie fasziniert, die seinen suchten; siesenkte sie wieder, aber doch nicht schnell genug,um das Entsetzen, das in ihnen geschrieben stand,zu verbergen. In seinen Augen sah ich die Ursacheihrer Erregung. Sonst grau, kalt und hart, waren siejetzt warm, sanft und golden, und es tanzten inihnen winzige Lichter, die erloschen undschwanden, aber wieder aufflammten, bis sie dieAugen ganz mit einem glühenden Leuchtenerfüllten. Vielleicht verursachten sie den goldenenSchein: verführerisch und herrisch, lockend undzwingend, kein Weib, am wenigsten MaudBrewster, konnte ihn mißverstehen.

Ihre Angst steckte mich an, und in diesemAugenblick der Furcht wußte ich, daß sie mirunsäglich teuer war. Das Bewußtsein, daß ich sieliebte, überkam mich gleichzeitig mit der Angst, undbeide Gefühle umkrallten mein Herz und ließenmein Blut gefrieren und zugleich verführerischwallen. Ich fühlte mich von einer fremden Machtbezwungen und wandte mich wider Willen, um in

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Wolf Larsens Augen zu blicken. Aber jetzt hatte erseine Selbstbeherrschung wiedergefunden. Diegoldene Farbe und das schimmernde Licht warenerloschen. Seine Augen funkelten kalt und grau, alser sich jetzt plötzlich mit einer unbeholfenenBewegung abwandte.

„Ich fürchte mich", flüsterte sie schaudernd, „ichfürchte mich so."

Auch ich fürchtete mich und befand mich instarker Erregung über die Entdeckung, die ichgemacht hatte, aber es gelang mir, gelassen zuantworten: „Es wird schon alles wieder gut werden,Fräulein Brewster. Glauben Sie mir, es wird allesgut werden."

Sie antwortete mit einem kleinen dankbarenLächeln, das mein Herz klopfen ließ, und ging danndie Kajütstreppe hinunter.

Lange blieb ich dort stehen, wo sie michverlassen hatte. Es war eine zwingendeNotwendigkeit für mich, mich zu besinnen und mirklar darüber zu werden, welche Wendung die Dingegenommen hatten. Jetzt endlich war siegekommen, die Liebe, war zu mir gekommen, nun,da ich es am wenigsten erwartet hatte und unterden schwierigsten Verhältnissen.

Maud Brewster! Meine Erinnerung flog zurück zudem ersten dünnen Bändchen auf meinemSchreibtisch, und ich sah zum Greifen deutlich dieganze Reihe schmaler Bändchen auf meinemBücherbrett vor mir. Mit welcher Freude hatte ichjedes von ihnen begrüßt! Alljährlich war eines vonihnen erschienen, und jedesmal war es das

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Ereignis des Jahres für mich gewesen. Sie hatteeine verwandte Saite in meinem Geisteangeschlagen, und in diesem Sinne hatte ich siekameradschaftlich begrüßt; aber jetzt hatte sieihren Platz in meinem Herzen gefunden. Und dannkehrte mein Geist - ungereimt und sinnlos - zu einerkleinen biographischen Bemerkung in dem rotenBand Who's who zurück. „Sie wurde in Cambridgegeboren und ist siebenundzwanzig Jahre alt." Undich sagte mir: Siebenundzwanzig Jahre alt unddoch noch frei? Wie konnte ich wissen, ob sie nochfrei war? Und der Stich neugeborener Eifersuchtjagte allen Zweifel in die Flucht. Nein, es warsicher. Ich war eifersüchtig, also war ich verliebt. Ineiner Art Ekstase verließ ich meinen Platz an derKajütstreppe und schritt über das Deck, indem ichdie wundervollen Verse Elizabeth Browningsmurmelte:

„Traumbilder waren viele Jahre lang Genossenstatt der Frau'n und Männer mir. Die bestenKameraden seid doch ihr. Kein süßer Lied einandrer je mir sang."

Jetzt aber erklang ein süßes Lied in meinenOhren, und ich war blind und taub für alles um michher. Die scharfe Stimme Wolf Larsens rüttelte michauf. „Zum Donnerwetter, was treiben Sie?"

Ich war nach vorn geschritten, wo die Matrosenmit Anstreichen beschäftigt waren, und bemerktejetzt, daß ich mit dem Fuß fast einen Farbtopfumgestoßen hätte.

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„Schlafwandeln, Sonnenstich - wie?" brummteer.

„Nein, Verdauungsstörung", erwiderte ich undging weiter, als ob mir nichts Ungewöhnlichesbegegnet wäre. Zu den stärksten Eindrückenmeines Lebens gehören die Ereignisse auf derGhost in den vierzig Stunden, die der Entdeckungmeiner Liebe zu Maud Brewster folgten. Nacheinem stillen, geruhsamen Leben war ich mitfünfunddreißig Jahren in eine Reihe derunwahrscheinlichsten Abenteuer verwickelt worden,die ich mir je hätte träumen lassen, aber nie habeich so spannende Erlebnisse gehabt wie in diesenvierzig Stunden. Und auch heute noch kann ichmeine Ohren nicht ganz der leisen Stimme desStolzes verschließen, die mir zuflüstert, daß ich,alles in allem, nicht übel dabei abgeschnitten habe.

Das erste war, daß Wolf Larsen den Jägernbeim Mittagessen mitteilte, sie sollten in Zukunft imZwischendeck essen. Das war etwas ganzUnerhörtes auf Robbenschonern, wo die Jägerstets Offiziersrang bekleiden. Er gab keine Gründean, sie waren aber klar genug. Horner und Smokehatten angefangen, Maud Brewster den Hof zumachen; es war dies an und für sich nur lächerlichund durchaus nicht beleidigend für FräuleinBrewster, aber es störte Wolf Larsen offenbar.

Die Ankündigung war eine Herausforderung, undich fürchtete, daß es zum Kampfe kommen sollte,aber da ertönte ein Ruf vom Rudergänger, der dieSituation rettete.

„Rauch in Sicht!" klang es die Kajütstreppe

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herab.„Welche Richtung?" rief Wolf Larsen hinauf.„Gerade achtern."„Vielleicht ein Russe", meinte Latimer.Bei seinen Worten zeigte sich Schrecken auf

den Gesichtern der andern Jäger. Ein Russekonnte nur eins bedeuten: einen Kreuzer.

Die Jäger hatten zwar nur eine annäherndeVorstellung, wo wir uns befanden, aber sie wußtendoch, daß wir nicht weit von der Grenze desverbotenen Territoriums sein konnten, und allekannten Wolf Larsens Ruf als Wilderer. Alle Augenrichteten sich auf ihn.

„Wir sind vollkommen sicher", beruhigte er sielachend.

„Aber ich will euch eines sagen: Ich wette fünfgegen eins, daß es die Macedonia ist."

Wir standen vom Tische auf und gingen anDeck, denn ein Dampfer war eine willkommeneUnterbrechung des eintönigen Lebens auf See, unddie Überzeugung, daß es Tod Larsen und dieMacedonia waren, vermehrte unsere Aufregung,zudem dachten wir an die Ankündigung der Jäger,daß es Scherereien mit dem Dampfer gebenwürde. Die steife Brise und die schwere See vomvergangenen Nachmittage hatten sich am Morgenetwas beruhigt, so daß es jetzt möglich war, dieBoote hinabzulassen und zu jagen. Die Jagdversprach gut zu werden. Wir waren den ganzenVormittag zwischen vereinzelten Robbenhindurchgesegelt und liefen jetzt mitten in dieHerde hinein.

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Der Rauch war noch mehrere Meilen achteraus,näherte sich aber schnell, als wir die Bootehinabließen. Sie trennten sich und fuhren innördlicher Richtung über das Meer. Hin und wiedersahen wir ein Segel niedergehen, hörten dieBüchsen knallen und sahen die Segel wiederhochgehen. Es wimmelte von Robben.

Der Wind legte sich ganz; alles schien einengroßen Fang zu verkünden. Als wir ausliefen, um inLee der Boote zu kommen, sahen wir, daß dasMeer mit schlafenden Robben bedeckt war. Sielagen da zu zweit, zu dritt, in ganzen Haufen,dichter, als ich sie je vorher gesehen, der Längenach auf der Oberfläche ausgestreckt und festschlafend, so unbesorgt wie eine Schar trägerjunger Hunde.

Unter dem näher kommenden Rauch wurdenjetzt Rumpf und Aufbau des Dampfers sichtbar. Eswar die Macedonia. Ich las den Namen durch dasGlas, als das Schiff uns, kaum eine Meilesteuerbord, passierte.

Wolf Larsen warf wilde Blicke auf den Dampfer,und Maud Brewster wurde neugierig.

„Was für Scherereien denken Sie zu bekommen,Kapitän?" fragte sie heiter. Er sah sie an, und einfreundlicher Blick huschte über seineZüge.

„Ja, was meinen Sie? Daß sie an Bord kommenund uns die Kehlen durchschneiden?"

„Ja, etwas Derartiges", gestand sie. „DieRobbenjäger sind ja etwas so Fremdes für mich,daß ich beinahe auf alles gefaßt bin."

Er nickte. „Ganz recht, ganz recht. Sie haben

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sich nur geirrt, wenn Sie nicht das Schlimmsteerwarten."

„Was kann denn noch schlimmer sein, als wenneinem die Kehle durchgeschnitten wird?" fragte sieüberrascht und mit kleidsamer Naivität.

„Wenn einem der Geldbeutel abgeschnittenwird", antwortete er. „Die Menschen sindheutzutage so eingerichtet, daß ihreLebensfähigkeit durch den Inhalt ihres Geldbeutelsbestimmt wird."

„Wer mir den Geldbeutel stiehlt, stiehlt wertlosenPlunder", zitierte sie.

„Wer mir den Geldbeutel stiehlt, stiehlt mir dasRecht zu leben", lautete seine Antwort. „Trotz allerSprichwörter! Denn wer mir mein Geld stiehlt,stiehlt mir mein Brot, mein Fleisch, mein Bett undgefährdet daher mein Leben."

„Aber ich kann nicht einsehen, wieso derDampfer Absichten auf Ihren Geldbeutel habensollte."

„Warten Sie nur ab, dann werden Sie es schonsehen", erwiderte er grimmig.

Wir brauchten nicht lange zu warten. Als dieMacedonia mehrere Meilen jenseits unsererBootslinie war, begann sie, Boote auszusetzen. Wirwußten, daß sie vierzehn gegen unsere fünf hatte(eines war uns durch die Flucht Wainwrightsabhanden gekommen), und sie begann damit weitin Lee unseres äußersten Bootes, kreuzte unsernKurs und endete weit in Luv unseres erstenLuvbootes. Damit war die Jagd für uns verdorben.Hinter uns gab es keine Robben, und vor uns fegte

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die Linie der vierzehn Boote wie ein ungeheurerBesen die Herde vor sich hin.

Unsere Boote jagten über die paar Meilenzwischen der Macedonia und ihren Booten undgingen dann zurück. Der Wind flüsterte nur nochleise, das Meer wurde immer ruhiger, und alles diesim Verein mit der großen Robbenherde machte denTag zur Jagd wie geschaffen - es war einer derzwei oder drei ganz besonders bevorzugten Tage,die man in einer glücklichen Jagdsaison erwartendarf. Eine Schar zorniger Menschen, Ruderer,Steuermänner und Jäger, kletterte über die Reling.Jeder einzelne fühlte sich beraubt, und die Bootewurden unter Flüchen eingeholt, die Tod Larsen inalle Ewigkeit abgetan haben würden, wenn Flüchewirkliche Macht besäßen.

„Tod und Verdammnis für ein DutzendEwigkeiten", erklärte Louis und zwinkerte mir zu,als er sein Boot hochgeheißt und festgezurrt hatte.

„Hören Sie sie an, und sagen Sie selbst, ob esschwer ist, den Lebensnerv ihrer Seeleherauszufinden", sagte Wolf Larsen. „Treue undLiebe? Hohe Ideale? Das Gute? Das Schöne? DasWahre?"

„Ihr angeborener Sinn für Gerechtigkeit istgekränkt", mischte Maud Brewster sich in dieUnterhaltung.

„Sie sind sentimental", höhnte er, „ebensosentimental wie Herr van Weyden. Die Leutefluchen, weil ihre Wünsche durchkreuzt sind. Dasist alles. Was sie wünschen? Gutes Essen undweiche Betten, wenn sie an Land kommen, und

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eine gute Löhnung."„Sie benehmen sich doch nicht so, als ob es

Ihren Beutel betroffen hätte", meinte sie lächelnd.„Kann sein, daß ich mich anders benehme, denn

es hat sowohl meinen Beutel wie meine Seelebetroffen. Bei den derzeitigen Fellpreisen auf demLondoner Markt und einer ungefähren Schätzung,was wir heute nachmittag gefangen hätten, wenndie Macedonia es uns nicht weggeschnappt hätte,hat die Ghost etwa tausendfünfhundert Dollareingebüßt."

„Und das sagen Sie so ruhig -", begann sie.„Aber ich bin nicht ruhig; ich könnte den Mann

töten, der mich beraubt hat", unterbrach er sie. „Ja,ja, ich weiß, dieser Mann ist mein Bruder - wiederdie alte Sentimentalität! Pah!" Sein Gesichtveränderte sich plötzlich. Seine Stimme klangweniger barsch und ganz aufrichtig, als er jetztsagte: „Ihr müßt glücklich sein mit eurerSentimentalität, wahrhaft glücklich, weil ihr vomGuten träumt und das Gute findet und deshalbselbst gut seid. Aber sagt, ihr beiden, findet ihr michgut?"

„Sie sind gewissermaßen gut anzuschauen",urteilte ich.

„In Ihnen liegen alle Kräfte für das Gute", lautetedie Antwort Maud Brewsters.

„Da haben wir's!" rief er ärgerlich. „Leere Worte!Euer Gedanke, den ihr da aussprecht, ist unklar,unscharf und unbestimmt! Es ist in Wirklichkeit garkein Gedanke. Es ist ein Gefühl, eine Empfindung,auf Illusionen aufgebaut, und entspringt nicht im

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geringsten eurem Intellekt."Während er sprach, wurde seine Stimme wieder

sanfter, und ein vertraulicher Klang kam in sie.„Wissen Sie, daß ich mich manchmal über demWunsch ertappe, auch blind für die Tatsachen desLebens zu sein und nur seine Phantasien undIllusionen zu kennen? Die sind natürlich falsch, allefalsch und vernunftwidrig; aber jedesmal, wenn ichAngesicht zu Angesicht mit Ihnen stehe, sagt mirmeine Vernunft, daß es doch die größte Freudesein muß, zu träumen und in Illusionen zu leben,und wenn sie noch so falsch sind! Und alles inallem ist die Freude ja doch der Lohn des Lebens.Ohne Freude ist das Leben wertloses Tun. Arbeitenund leben ohne Lohn ist schlimmer als tot sein. Werder größten Freude fähig ist, lebt am stärksten, undeure Träume und Illusionen bereiten euch wenigerUnruhe und befriedigen euch mehr als meineTatsachen." Er schüttelte nachdenklich den Kopf.„Ich zweifle oft, zweifle an dem Werte der Vernunft.Träume müssen wirklicher und befriedigender sein.Gefühlsmäßige Freude erfüllt mehr und währtlänger als verstandesmäßige. Ich beneide Sie,beneide Sie!" Er schwieg, und sein Blick wanderteabwesend über sie hin und verlor sich auf demruhigen Meere. Die alte eingefleischte Schwermutsenkte sich wieder über ihn, und er überließ sich ihrwiderstandslos. Er hatte sich in eine ArtKatzenjammer hineingeredet, und wir konntensicher sein, daß in wenigen Stunden der Teufel inihm wach würde.

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„Sie waren an Deck, Herr van Weyden", sagteLarsen am nächsten Morgen beim Frühstück. „Wiesieht es aus?"

„Schön Wetter", antwortete ich und blickte aufden Sonnenschein, der in die Kajüte hereinströmte.„Frische Brise aus West mit der Aussicht auf steifenWind, wenn man Louis glauben kann."

Er nickte vergnügt. „Anzeichen von Nebel?"„Dichte Bänke in Nord und Nordwest."Er nickte wieder, anscheinend mit noch größerer

Befriedigung als zuvor. „Was Neues von derMacedonia?"

„Sie ist nicht zu sehen", antwortete ich.Ich hätte schwören mögen, daß sein Gesicht

sich bei dieser Nachricht verdüsterte, aber denGrund seiner Enttäuschung konnte ich nichterraten.

Ich sollte ihn indessen bald erfahren.„Rauch in Sicht!" ertönte es von Deck, und seine

Züge erhellten sich wieder.„Schön!" rief er aus und stand sofort auf, um sich

an Deck und ins Zwischendeck zu begeben, wo dieJäger gerade ihr erstes Frühstück seit ihrerVertreibung aus der Kajüte einnahmen.

Maud Brewster und ich berührten kaum die voruns stehenden Speisen, wir starrten uns in stillerBesorgnis an und lauschten auf die Stimme WolfLarsens, die gleich darauf das Schott zwischenZwischendeck und Kajüte durchdrang. Er sprachlange, und seine Schlußworte wurden mit wildemJubel begrüßt. Das Schott war zu dick, als daß wirihn hätten verstehen können, was er aber auch

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gesagt haben mochte, so mußte es doch etwasrecht nach dem Herzen der Jäger gewesen sein.

Aus den Geräuschen an Deck entnahm ich, daßdie Matrosen im Begriff waren, die Bootehinabzulassen. Maud Brewster begleitete mich anDeck, aber ich ließ sie an der Achterhütte, von wosie die Szene beobachten konnte, ohne selbstmitzuspielen.

Die Matrosen mußten erfahren haben, wasbevorstand, denn die Rührigkeit undArbeitsfreudigkeit, die sie an den Tag legten,zeugten von Begeisterung. Die Jäger erschienenan Deck mit ihren Gewehren und Munitionskästenund - was ganz ungewöhnlich war - ihrenKugelbüchsen. Diese wurden nur selten mit in dieBoote genommen, denn wenn eine Robbe aufweite Entfernung mit der Büchse geschossenwurde, sank sie unweigerlich, ehe das Boot sieerreichen konnte. Aber heute nahm jeder Jägerseine Büchse und einen großen Vorrat an Patronenmit.

Ich bemerkte, wie sie vergnügt grinsten, als sieden Rauch der Macedonia erblickten, der immerhöher stieg, je mehr sie sich von Westen näherte.Die fünf Boote gingen wie der Wind über Bord,breiteten sich fächerförmig aus und setzten, wie amvergangenen Nachmittag, den Kurs nach Norden.Ich beobachtete sie eine Zeitlang gespannt, aber eswar nichts Ungewöhnliches an ihnen zu bemerken.Sie ließen die Segel nieder, schossen Robben,heißten die Segel wieder und setzten ihren Wegfort, wie ich es sie immer hatte tun sehen. Die

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Macedonia wiederholte ihr gestriges Manöver,indem sie ihre Boote vor den unseren und querüber unserm Kurs aussetzte. Vierzehn Booteerfordern ein ausgedehntes Gebiet, um bequemjagen zu können, und als die Macedonia unsvollkommen abgeschlossen hatte, fuhr sie weiternordwestlich, indem sie immer noch Booteaussetzte.

„Was haben Sie vor?" fragte ich Wolf Larsen,ganz unfähig, meine Neugier noch länger im Zaumhalten zu können.

„Lassen Sie das meine Sorge sein", antworteteer barsch. „Es wird keine tausend Jahre dauern, bisSie es wissen. Beten Sie nur, daß wir guten Windbekommen. Übrigens kann ich es Ihnen auch gernerzählen", sagte er einen Augenblick später. „Ichwill meinem Bruder eine Dosis seiner eigenenMedizin verabreichen. Kurz, ich will ihm selbst malden Fang ausspannen, und nicht nur für einen Tag,sondern für den ganzen Rest der Fangzeit - wennwir Glück haben." „Und wenn wir keins haben? "fragte ich. „Gar nicht auszudenken!" lachte er. „Wirmüssen einfach Glück haben, sonst sind wir glattgeliefert." Er stand am Rad, und ich ging nachmeinem Lazarett in der Back, wo die beiden zuSchaden Gekommenen, Nilson und Mugridge,lagen. Nilson fühlte sich so wohl, wie man nurerwarten konnte, denn sein gebrochenes Beinheilte ausgezeichnet; der Cockney aber warniedergeschlagen und verzweifelt, und ich hattedas größte Mitleid mit dem unglücklichenMenschen. Es war ein reines Wunder, daß er noch

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lebte und am Leben hing.„Mit einem künstlichen Fuß - man verfertigt jetzt

ganz ausgezeichnete - kannst du bis ans Ende derZeiten in Schiffskombüsen herumlaufen",versicherte ich ihm freundlich.

Aber seine Antwort war ernst, ja fast feierlich.„Ich weiß nicht, ob es stimmt, was Sie sagen, Herrvan Weyden, aber eines weiß ich: Ich werde keineglückliche Stunde haben, bis dieser Höllenhund totzu meinen Füßen liegt. Er kann nicht so langeleben wie ich. Er hat kein Recht zu leben, und wenndas alte Wort sagt, daß er sicher sterben muß, sosage ich ,Amen', und ,möglichst bald!' dazu."

Als ich wieder an Deck zurückkehrte, fand ichWolf Larsen, mit einer Hand steuernd und mit derandern ein Seeglas haltend und die Lage der Bootestudierend, wobei er der Macedonia besondereAufmerksamkeit schenkte. Die einzigeVeränderung an unsern Booten war, daß sie jetztdicht am Winde lagen und mehrere Strich West zuNord vorgerückt waren. Ich konnte aber noch nichtdie Zweckmäßigkeit dieses Manövers einsehen,denn sie waren immer noch durch die fünfLuvboote der Macedonia, die sich ebenfalls dichtan den Wind gelegt hatten, vom offenen Meereabgeschnitten. Die zogen auf diese Weise langsamnach Westen und legten einen immer größerenAbstand zwischen sich und die übrigen Boote in derLinie. Auf unsern Booten wurden neben den Segelnauch die Riemen gebraucht. Selbst die Jägerruderten, und so überholten sie bald den - ich kannes wohl so nennen - Feind. Der Rauch der

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Macedonia war zu einem trüben Fleck amnordöstlichen Horizont eingeschrumpft. VomDampfer selbst war nichts zu sehen. Wir hatten unsbis jetzt, teilweise mit im Wind schlagenden Segeln,treiben lassen; zweimal hatten wir, mit kurzemZwischenraum, beigelegt. Jetzt aber wurde esanders. Die Segel wurden getrimmt, und bald hatteWolf Larsen die Ghost in volle Fahrt gebracht. Wirliefen an unsern Booten vorbei und hielten auf daserste Luvboot der andern Linie.

„Runter mit dem Außenklüver, Herr vanWeyden!" befahl Wolf Larsen. „Und halten Sie sichbereit, den Klüver herüberzuholen!" Ich lief nachvorn und hatte den Außenklüver eben eingeholt, alswir etwa vierzig Meter in Lee an dem Bootvorbeischossen. Die drei Insassen betrachteten unsmißtrauisch. Sie wußten, daß sie uns die Jagdverdorben hatten, und sie kannten Wolf Larsenjedenfalls dem Namen nach. Ich bemerkte, wie derJäger, ein mächtiger Skandinavier, der im Bug saß,das Gewehr schußbereit über den Knien hielt - eshätte eigentlich an der Nagelbank hängen müssen.Als wir sie gerade hinter unserm Achterstevenhatten, winkte Wolf Larsen ihnen mit der Hand zuund rief: „Kommt auf einen Schnack an Bord!"

„Ein Schnack" bedeutet unter Robbenjägernsoviel wie „Besuch", „Unterhaltung". Es bezeichnetdie Schwatzlust der Seeleute und ist eineangenehme Unterbrechung des einförmigenLebens auf diesen Schiffen. Die Ghost drehte sichin den Wind, und da ich gerade meine Arbeit vornbeendet hatte, lief ich nach achtern, um bei der

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Großschot zu helfen.„Sie sind wohl so freundlich, an Deck zu bleiben,

Fräulein Brewster", sagte Wolf Larsen, indem ernach vorn schritt, um seine Gäste zu begrüßen.„Und Sie auch, Herr van Weyden."

Das Boot hatte seine Segel eingeholt und legtesich neben uns. Der Jäger, goldbärtig wie ein alterSeegott, kletterte über die Reling an Deck. Abertrotz seines riesigen Wuchses konnte er offenbarseine Furcht kaum verbergen. Zweifel undMißtrauen zeigten sich deutlich auf seinen Zügen.Es war trotz des behaarten Schildes ein offenesGesicht, dem man sofort die Erleichterung ansah,als er Wolf Larsen und mich sah und sich klarwurde, daß er es nur mit zweien zu tun hatte.Unterdessen waren auch seine beiden Leute anBord gekommen, und nun hatte er kaum Grund,sich zu fürchten. Er überragte Wolf Larsen wie einGoliath. Er mußte wenigstens zwei Meter messenund wog - wie ich später erfuhr -zweihundertdreißig Pfund. Und es war kein Fett anihm. Alles nur Knochen und Muskeln!

Sein Argwohn erwachte indessen wieder, alsWolf Larsen ihn einlud, mit in die Kajüte zukommen. Aber ein Blick auf seinen Wirt beruhigteihn wieder. War der auch gewiß ein starker Mann,so erschien er doch neben dem Riesen wie einZwerg. So schwanden denn seine Bedenken, unddie beiden stiegen miteinander in die Kajüte hinab.Seine beiden Leute waren unterdessen nachSeemannsbrauch in die Back gegangen, um dorteinen Besuch abzustatten.

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Plötzlich ertönte ein entsetzliches Gebrüll ausder Kajüte, gefolgt von dem Getöse eineswütenden Kampfes. Der Leopard und der Löwekämpften miteinander. Wolf Larsen war derLeopard.

„Da sehen Sie, wie heilig die Gastfreundschafthier gehalten wird", sagte ich bitter zu MaudBrewster. „Wäre es nicht besser, wenn Sie nachvorn gingen - etwa zur Zwischendecksklappe -, bises vorbei ist?" schlug ich vor.

Sie schüttelte den Kopf und sah mich mit einemmitleiderregenden Blick an. Sie fürchtete sich nicht,war aber entsetzt über diese menschlicheBestialität.

„Sie werden begreifen", nahm ich dieGelegenheit wahr, „daß ich nur geringen Anteil anden Vorgängen an Bord nehme. Es ist nicht schönfür mich", fügte ich hinzu.

„Ich verstehe Sie", sagte sie mit schwacherStimme, die klang, als käme sie aus weiter Ferne,und ihre Augen zeigten mir, daß sie mich verstand.

Das Getöse unten erstarb bald. Kurz darauf kamWolf Larsen allein an Deck. Sein braunes Gesichtwar leicht gerötet, sonst aber hatte der Kampf keineSpuren bei ihm hinterlassen.

„Schicken Sie die beiden Leute nach achtern,Herr van Weyden", sagte er.

Ich gehorchte, und wenige Minuten späterstanden sie vor ihm.

„Holt euer Boot ein", sagte er zu ihnen, „euerJäger hat sich entschlossen, eine Weile an Bord zubleiben, und ich möchte nicht, daß es längsseits

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zerstoßen wird. - Holt euer Boot herein, sage ich",wiederholte er schärfer, als sie zögerten, seinemBefehl Folge zu leisten. „Wer weiß? Vielleichtwerdet ihr eine Zeitlang mit mir fahren", sagte erganz freundlich, aber mit einem leisen, drohendenKlang, der seine Freundlichkeit Lügen strafte, alssie sich langsam in Bewegung setzten, um zugehorchen. „Es ist schon am besten, wenn wir unsgleich freundschaftlich verständigen. Ein bißchenflink nun! Tod Larsen läßt euch ganz andersspringen, das wißt ihr gut!"

Unter seiner Anleitung wurden die Bewegungenmerklich schneller, und als dann das Boot überBord schwang, wurde ich nach vorn geschickt, umden Klüver hochgehen zu lassen. Wolf Larsenstand am Rade und steuerte die Ghost auf daszweite Luvboot der Macedonia zu.

Vorläufig gab es nichts für mich zu tun, und sowandte ich meine Aufmerksamkeit den Booten zu.Das dritte Luvboot der Macedonia wurde vonzweien der unsrigen angegriffen, das vierte vonunsern andern drei, während das fünftekehrtmachte, um seinem nächsten Gefährten zuHilfe zu kommen. Die Schlacht war auf weiteEntfernung eröffnet, und die Büchsen knalltenunaufhörlich. Kurze, kräftige Seen, vom Windeaufgepeitscht, hinderten ein sicheres Schießen,und hin und wieder sahen wir beim Näherkommendie Kugeln von Welle zu Welle tanzen.

Das Boot, das wir verfolgten, hatte sich vor denWind gelegt und versuchte, uns zu entwischen. Esnahm die Richtung auf die anderen Boote, um

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ihnen zu helfen, den allgemeinen Angriffzurückzuschlagen.

Da ich Segel und Schote bediente, blieb mirwenig Zeit zu sehen, was vorging, als ich aberzufällig auf der Achterhütte war, hörte ich, wie WolfLarsen den beiden fremden Matrosen befahl, sichnach vorn in die Back zu begeben. Sie gingenwiderstrebend, aber sie gingen. Dann schickte erFräulein Brewster hinunter und lächelte, als er denerschrockenen Ausdruck in ihren Augen sah.

„Sie werden nichts Schauerliches unten finden",sagte er, „nur einen Mann, der sicher amRingbolzen festgemacht, sonst aber unverletzt ist.Es ist möglich, daß Kugeln an Bord fliegen, und ichmöchte nicht, daß Sie getötet werden."

Er hatte noch nicht ausgesprochen, als eineKugel zwischen seinen Händen hindurch gegeneine Messingspake des Steuerrades schlug undluvwärts durch die Luft pfiff.

„Da sehen Sie!" sagte er zu ihr, dann wandte ersich zu mir: „Herr van Weyden, wollen Sie dasRuder nehmen?"

Maud Brewster war auf die Laufbrücke getreten,so daß nur noch ihr Kopf zu sehen war.

Wolf Larsen hatte sich eine Büchse geholt undschob jetzt eine Patrone in den Lauf.

Ich bat Maud durch einen Blick, nach unten zugehen, aber sie lächelte und sagte: „Wir mögen jaschwache Landratten sein, die kaum auf eigenenFüßen zu stehen vermögen, aber wir könnenKapitän Larsen wenigstens zeigen, daß wir tapfersind."

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Er warf ihr einen schnellen bewundernden Blickzu. „Dafür gefallen Sie mir um hundert Prozentbesser", sagte er. „Bücher, Verstand und Mut. Siesind wirklich vollkommen, trotz Ihrer Gelehrsamkeit,wert, das Weib eines Seeräuberhäuptlings zu sein.Na, darüber werden wir später reden", lächelte er,als eine Kugel in die Kajütswand schlug.

Er ließ sich aufs Deck nieder und legte seineBüchse auf die Reling. Die Kugeln, die wir bishererhielten, hatten fast eine halbe Meilezurückzulegen gehabt, inzwischen hatte sich aberder Abstand auf die Hälfte verkürzt. Er zieltesorgsam und schoß dreimal. Der erste Schuß gingknapp zwanzig Meter in Luv am Boot vorbei, derzweite dicht daneben, und beim dritten ließ derBootssteuermann das Ruder los und sank auf demBoden des Bootes zusammen.

„Ich wette, das genügt", sagte Wolf Larsen,indem er sich erhob. „Ich kann es mir nicht leisten,den Jäger zu treffen, und ich rechne damit, daß derRuderer nicht steuern kann. Der Jäger kann nichtsteuern und schießen zugleich."

Seine Berechnung erwies sich als richtig, denndas Boot drehte sich sofort im Wind, und der Jägersprang nach achtern, um den Platz am Rudereinzunehmen. Wir merkten nichts mehr von derSchießerei, wenn auch die Büchsen von denandern Booten noch munter knallten.

Es war dem Jäger geglückt, das Boot wieder inden Wind zu bringen, aber wir machten ungefährdoppelt soviel Fahrt. Als wir noch etwa hundertSchritt entfernt waren, sah ich, wie der Ruderer

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dem Jäger eine Büchse reichte. Wolf Larsen begabsich mittschiffs und nahm eine Rolle Tauwerk vomBolzen des Klaufalls. Dann lugte er mit erhobenerBüchse über die Reling.

Zweimal sah ich den Jäger mit einer Hand dasRuder loslassen und zur Büchse greifen - aberjedesmal bedachte er sich wieder. Dann waren wirneben ihnen und schossen schäumend vorbei.

„Hier!" rief Wolf Larsen plötzlich dem Ruderer zu.„Fang das Ende!"

Gleichzeitig warf er das Tau. Er traf so gut, daßes den Mann beinahe zu Boden riß, der abergehorchte nicht, sondern blickte den Jäger an, umdessen Befehle abzuwarten. Der Jäger seinerseitsbedachte sich einen Augenblick. Er hatte dieBüchse zwischen den Knien, wenn er aber dasRuder losließ, um zu schießen, mußte das Bootherumgeworfen werden und mit dem Schonerzusammenstoßen. Dazu sah er die Büchse WolfLarsens auf sich gerichtet und wußte, daß jenerschießen würde, ehe er selbst auch nur dasGewehr an die Backe gebracht hätte. „Nimm es",sagte er zu dem Ruderer.

Der gehorchte, indem er das Tau um die vordereDuchtwand. Es straffte sich, das Boot gierteplötzlich, und der Jäger brachte es, etwa zehnMeter entfernt, parallel zur Ghost.

Er behielt die Büchse in der einen Hand und ließdie Takel mit der andern hinab. Als Bug und Stevenfestgemacht waren und die beiden Männer sichanschickten, an Bord zu kommen, nahm der Jägerseine Büchse, als ob er sie an einen sicheren Platz

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stellen wollte.„Fallen lassen!" rief Wolf Larsen, und der Jäger

gehorchte, als ob sie glühend wäre.Einmal an Bord, holten die beiden Gefangenen

das Boot ein und trugen auf Wolf LarsensAnweisung den verwundeten Steuermann in dieBack.

„Wenn unsere fünf Boote ebenso tüchtig sindwie Sie und ich, werden wir eine hübscheMannschaft zusammenbekommen", sagte WolfLarsen zu mir.

„Der Mann, den Sie getroffen haben - ich hoffe,er ist -", sagte Maud Brewster mit zitternderStimme.

„Schulterschuß!" antwortete er. „Nichts Ernstes.Herr van Weyden wird ihn in drei bis vier Wochenwieder auf die Beine bringen. Aber die da drübenwird er allem Anschein nach kaum durchbringen",fügte er hinzu und wies auf das dritte Boot derMacedonia, auf das ich jetzt lossteuerte und dassich beinahe auf der gleichen Höhe wie wir befand.„Das ist Horners und Smokes Arbeit. Ich habeihnen gesagt, daß ich lebendige Männer braucheund keine Leichen. Aber die Freude am Treffen isteine zu große Versuchung, wenn man erst einmalSchießen gelernt hat. Haben Sie es je versucht,Herr van Weyden?"

Ich schüttelte den Kopf und betrachtete ihr Werk.Es war in der Tat blutig gewesen, und jetzt warensie einfach weitergefahren und hatten sich unsernandern drei Booten bei ihrem Angriff auf die übrigenFeinde angeschlossen. Das sich selbst

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überlassene Boot lag in einem Wellental und rolltewie trunken über den Schaum, während das loseSprietsegel im rechten Winkel herausstak und imWinde flatterte. Jäger und Ruderer lagen hilflos aufdem Boden, der Steuermann jedoch

lag quer über dem Schandeckel, halb über derReling, seine Arme schleiften das Wasser, und seinKopf rollte von einer Seite zur andern.

„Halten Sie gerade auf den Haufen los, Herr vanWeyden!" befahl Wolf Larsen.

Als wir näher kamen, hatte das Feuer aufgehört,und wir sahen, daß der Kampf vorbei war. Diebeiden letzten Boote waren von unsern fünferbeutet worden, und alle sieben lagen jetztzusammengedrängt da und warteten darauf, vonuns aufgenommen zu werden.

„Sehen Sie dort!" rief ich unwillkürlich, indem ichnach Nordwest wies, wo dunkler Rauch aufstieg.

„Ja, ich hab es gesehen", erwiderte Wolf Larsenruhig. Er maß die Entfernung zur Nebelbank undblieb einen Augenblick stehen, um die Stärke desWindes zu fühlen. „Ich denke, wir schaffen es. AberSie können sich darauf verlassen, daß mein teurerBruder uns auf die Sprünge gekommen ist undgeradewegs auf uns losgeht. Schauen Sie nur!"

Der Rauchfleck wuchs plötzlich und war sehrschwarz.

„Ich werde schon noch mit dir fertig, und wenndu zehnmal mein Bruder bist!" frohlockte er. „Dukannst froh sein, wenn deine alte Maschine nicht intausend Stücke springt."

Als wir beilegten, löste sich der scheinbare

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Wirrwarr. Die Boote verteilten sich auf beide Seiten,und die Leute kamen gleichzeitig an Bord. Sobalddie Gefangenen über die Reling geklettert waren,wurden sie von unsern Jägern in die Backgeschafft, während unsere Matrosen die Booteeinholten, sie in wirrem Durcheinander auf Deckfallen ließen und sich nicht einmal Zeit nahmen, siefestzuzurren. Wir waren schon in voller Fahrt; alsdas letzte Boot aus dem Wasser gehoben wurdeund über die Reling schwang, waren bereits alleSegel gesetzt.

Eile tat indessen auch not. Die Macedonia,deren Schlot schwärzesten Rauch ausstieß, kamaus Nordwest herangejagt. Ohne die Boote, die ihrgeblieben waren, zu beachten, hatte sie ihren Kursso gesetzt, daß sie uns überholen mußte. Sie fuhrnicht gerade auf uns los, sondern ihr Kurs bildeteeinen spitzen Winkel zu dem unsern, und wirmußten uns gerade am Rande der Nebelbanktreffen. Dort oder nirgends konnte die Macedoniahoffen, uns zu fangen. Die einzige Rettungwiederum war, diesen Punkt vor der Macedonia zuerreichen.

Wolf Larsen steuerte. Seine Augen funkeltenund blitzten, während er jede Einzelheit derVerfolgungsjagd in sich aufsog. Bald durchforschteer die See in Luv nach Anzeichen, ob der Wind sichlegte oder auffrischte, bald blickte er nach derMacedonia, dann wieder schweiften seine Augenüber die Segel, und er gab Befehl, hier eine Leinezu lockern, dort eine anzuziehen, bis er aus derGhost alles herausholte, was sie zu leisten

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vermochte. Aller Streit, aller Groll waren vergessen,und ich war erstaunt über die Bereitwilligkeit, mitder die Mannschaft, die so lange seine Brutalitäterduldet hatte, jetzt seine Befehle ausführte.Seltsam: Ich mußte an den unglücklichen Johnsondenken, und als wir uns so über die Wellen hobenund ganz auf die Seite legten, wurde ich mir einesBedauerns bewußt, daß er jetzt nicht am Lebenund mit dabei war. Er hatte die Ghost so geliebt,und ihre Manövrierfähigkeit hatte ihn so begeistert.

„Holt lieber eure Gewehre, Jungs!" rief WolfLarsen unsern Jägern zu, und die fünf Mannstellten sich, die Büchsen in der Hand, an dieLeereling und warteten.

Die Macedonia war jetzt nur noch eine Meileentfernt, der schwarze Rauch wälzte sich imrechten Winkel aus ihrem Schornstein, sowahnsinnig durchpflügte sie mit ihrer Fahrt vonsiebzehn Knoten die Wogen. „Heulend durchsMeer!" zitierte Wolf Larsen, während er auf sieblickte. Wir schafften nicht mehr als neun Knoten,aber die Nebelbank war jetzt ganz nahe. EinRauchballen löste sich vom Deck der Macedonia.Wir hörten einen schweren Knall, und in unsermGroßsegel zeigte sich ein rundes Loch. Sieschossen auf uns mit einer der kleinen Kanonen,die sie dem Gerücht nach an Bord hatten. UnsereLeute, die mittschiffs in einem Haufenzusammenstanden, schwangen die Mützen underhoben ein Hohngeschrei. Wieder ein großerRauchballen und ein lauter Knall. Diesmal ging dieKugel nicht mehr als sechs Meter achtem vorbei

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und tanzte zweimal in Luv von Welle zu Welle, ehesie versank.

Mit Gewehren wurde nicht geschossen aus demeinfachen Grunde, weil alle Jäger der Macedoniaentweder in den Booten oder unsere Gefangenenwaren. Als der Abstand zwischen den beidenFahrzeugen noch eine halbe Meile betrug, riß eindritter Schuß ein zweites Loch in unser Großsegel.Dann verschwanden wir im Nebel. Er legte sich umuns und verbarg uns mit dichten, feuchtenSchleiern.

Der plötzliche Übergang wirkte erschreckend.Eben noch waren wir in dem klaren Sonnenschein,mit dem blauen Himmel über uns, gesegelt,während die Wogen weit bis zum Horizont rolltenund sich brachen und ein Schiff sich, Rauch, Feuerund eiserne Geschosse speiend, wie toll auf unslosstürzte. Und auf einmal, nur den Bruchteil einerSekunde später, war die Sonne ausgelöscht, esgab keinen Himmel mehr, selbst unsereMastspitzen waren dem Blick entzogen, und unserHorizont war so, wie ihn tränenverschleierte Augensehen mögen. Der graue Nebel trieb wie feinerSprühregen an uns vorbei. Jedes Wollfäserchen anunsern Kleidern, jedes Härchen auf unserm Kopfeund in unserm Gesicht war mit kristallenenKügelchen wie mit Juwelen besetzt. Die Wantentropften vor Nässe; es tropfte von dem Tauwerküber uns, und an der Unterseite der Spierennahmen die Tropfen die Form langer, fließenderReihen an, die sich bei jedem Überholen desSchoners loslösten und wie ein Sturzregen auf das

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Deck geschleudert wurden. Ich hatte ein Gefühl desEingesperrtseins und Erstickens. Wie dasGeräusch, das das Schiff bei seinem Stampfendurch die Wogen machte, von dem Nebelzurückgeworfen wurde, so auch die Gedanken. DerGeist bebte zurück vor der Betrachtung einer Weltjenseits der Schleier, die uns umschlossen. Dieswar die Welt, das Universum selbst, seine Grenzenwaren so eng, daß es einen verlangte, beide Armeauszustrecken und sie zurückzustoßen.Allesandere war nur ein Traum, ja nichts als Erinnerungan einen Traum.

Es war unheimlich, geisterhaft. Ich sah MaudBrewster an und fühlte, daß es ihr ähnlich erging.Dann sah ich auf Wolf Larsen, aber auf ihn schienes keinen Eindruck zu machen. Sein ganzesInteresse galt lediglich der Gegenwart und ihrenErfordernissen. Er stand immer noch am Steuerrad,und ich fühlte, daß er die Zeit maß, den Lauf derMinuten nach der Bewegung, jedem Überkrängender Ghost berechnete.

„Gehen Sie nach vorn, und halten Sie hart anden Wind, aber ohne Lärm", sagte er leise zu mir.„Holen Sie zuerst die Toppsegel ein. Stellen Sie analle Schote Leute. Aber kein Rasseln von Blöcken,kein lautes Wort. Keinen Lärm, hören Sie, keinenLärm!"

Als alles bereit war, wurde der Befehl „Hart anden Wind!" von Mann zu Mann weitergegeben, biser mich erreichte; und die Ghost schwang sichwirklich fast geräuschlos um die Backbordhalsenherum. Das einzige, was man hörte - einige

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Zeisinge, die im Winde flatterten, ein paar Blöcke,die knarrten, eine Rolle, die kreischte -, wurdegeisterhaft von der schweren Decke, die unseinhüllte, zurückgeworfen.

Wir waren kaum mit dem Manöver fertig, als derNebel sich plötzlich zu verdünnen schien, wir unswieder im Sonnenschein befanden und das Meerbis zum Horizont ausgebreitet vor uns lag. Aber derOzean war leer. Keine zornige Macedoniadurchbrach die Fläche oder verdunkelte denHimmel mit ihrem Rauch. Wolf Larsen braßte sofortvierkant und lief am Rande der Nebelbank entlang.Seine Absicht war einleuchtend. Er war in Luv desDampfers in den Nebel gegangen, und während dieMacedonia, um ihn zu fangen, blind hineingestoßenwar, hatte er jetzt sein Versteck verlassen, um esauf der Leeseite wieder aufzusuchen. Glückte seinPlan, so wäre das alte Gleichnis von derStecknadel im Heuschober schwach gewesenneben der Aussicht seines Bruders, ihn zu finden.Es sollte jedoch nicht lange dauern. Wir hattenFock und Großsegel gejibbt, jetzt setzten wir dieToppsegel und fuhren wiederin den Nebel hinein.Während wir hineintauchten, hätte ich daraufschwören mögen, in Luv einen schwarzen Rumpfgesehen zu haben. Ich warf einen raschen Blick aufWolf Larsen. Schon waren wir im Nebel begraben,aber er nickte. Auch er hatte es gesehen - dieMacedonia hatte sein Manöver erraten, und um einHaar hätte sie uns überrumpelt. Es war das Werkeines Augenblicks gewesen, aber kein Zweifel: Wirwaren ungesehen entwischt.

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„Das kann er so nicht weitermachen", sagte WolfLarsen. „Er muß umkehren, schon seiner Bootewegen. Schicken Sie einen Mann ans Rad, Herrvan Weyden, halten Sie vorläufig diesen Kurs, unddann können Sie die Wachen verteilen. Wir werdenuns diese Nacht nicht viel Ruhe gönnen können. -Aber ich hätte doch fünfhundert Dollar gegeben",fügte er hinzu, „um nur fünf Minuten an Bord derMacedonia zu sein und meinen Bruder fluchen zuhören. - Und nun, Herr van Weyden", sagte er zumir, als er beim Rad abgelöst war, „müssen wirunsere neuen Leute bewillkommnen! Geben Sieden Jägern recht viel Whiskey, und sorgen Siedafür, daß auch einige Flaschen nach vornkommen. Ich möchte wetten, daß morgen alle bisauf den letzten Mann umgestimmt sind undebensogern für Wolf Larsen jagen wie bisher fürTod Larsen."

„Aber werden sie nicht durchbrennen wieWainwright?" fragte ich.

Er lachte verschmitzt. „Nicht, solange unserealten Jäger ein Wörtchen mitzureden haben. Fürjedes Fell, das die neuen Jäger schießen, gebe ichihnen einen Dollar zur Teilung. Wenigstens dieHälfte ihres Jubels heute morgen ist auf diesesVersprechen zurückzuführen. Oh, wenn es auf sieankommt, wird niemand durchbrennen. Und nunwäre es am besten, wenn Sie nach vorn gingenund Ihren Lazarettdienst verrichteten. Einestattliche Anzahl Patienten wartet auf Sie."

Wolf Larsen entschloß sich, die Verteilung desWhiskeys selbst vorzunehmen. Ich hatte schon

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viele in meinem Leben Whiskey trinken sehen, abernie, wie diese Männer ihn

tranken: aus Konservendosen, aus Krügen undFlaschen in unendlichen Zügen. Und sie begnügtensich nicht mit einem oder zweien. Sie tranken undtranken, und immer mehr Flaschen wanderten nachvorn, und immer mehr tranken sie.

Alle tranken. Die Verwundeten tranken; Oofty-Oofty, der mir beim Verbinden half, trank. Nur Louishielt sich zurück, er befeuchtete sich die Lippen nurganz vorsichtig, stimmte aber in den allgemeinenLärm mit ein wie der Schlimmste von ihnen. Es wareine zügellose Schwelgerei. Mit lauter Stimmeerörterten sie die Kämpfe des Tages, stritten sichüber Einzelheiten oder wurden zärtlich undschlossen Freundschaft mit denen, gegen die siegekämpft hatten. Gefangene wie Sieger sankensich in die Arme und schworen sich mit mächtigenFlüchen gegenseitig ihre Hochachtung undWertschätzung.

Es war ein seltsamer und schrecklicher Anblick,der kleine, von Kojen umrahmte Raum, dessenBoden und Wände hüpften und schwankten, dastrübe Licht, in dem die schwingenden Schatten sichungeheuerlich verlängerten und verkürzten, dierauchgeschwängerte Luft, der Geruch der Körperund der Jodtinktur und der Anblick der erregtenMenschen. Ich beobachtete Oofty-Oofty, der dasEnde einer Bandage hielt und auf das Schauspielblickte. Seine samtenen, strahlenden Augenglitzerten wie die eines Rehs, und doch wußte ich,daß ein barbarischer Teufel in seiner Brust

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schlummerte, der alle Sanftheit und die fastfrauenhafte Weichheit in seinen Zügen und seinerGestalt Lügen strafte. Und ich bemerkte dasknabenhafte Gesicht Harrisons - sonst ein gutesGesicht, jetzt aber das eines Teufels, verzerrt vonLeidenschaft, als er den neuen Kameraden vondem Höllenschiff erzählte, auf dem sie sichbefanden, und Flüche auf das Haupt Wolf Larsensherabregnen ließ.

Wolf Larsen war es, immer Wolf Larsen, derseine Mitmenschen unterjochte und peinigte. Ichknirschte vor Wut mit den Zähnen, bis der Mann,den ich verband, unter meiner Handzusammenzuckte und Oofty-Oofty mich neugieriganblickte. Ich fühlte mich plötzlich von mächtigerKraft beseelt. Etwas in meiner neuentdeckten Liebemachte mich zum Riesen. Ich fürchtete nichtsmehr. Ich mußte meinen Willen durchsetzenkönnen trotz meiner fünfunddreißig hinter Büchernverbrachten Jahre. Und so, außer mir,hochgehoben von einem starken Machtgefühl, stiegich an Deck, wo der Nebel geisterhaft durch dieNacht trieb und die Luft süß, rein und still war.

Das Zwischendeck, wo die beiden verwundetenJäger lagen, war eine Wiederholung der Back, nurdaß hier nicht auf Wolf Larsen geflucht wurde, undmit großer Erleichterung erschien ich wieder anDeck und ging nach achtern in die Kajüte. DasAbendbrot war bereit, und Wolf Larsen und Maudwarteten auf mich.

Während Wolf Larsens Mannschaft sich soschnell und gründlich wie möglich betrank, blieb er

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selbst nüchtern. Nicht ein Tropfen Schnaps kamüber seine Lippen. Unter den jetzigen Umständenwagte er es nicht, und er hatte niemand, auf den ersich verlassen konnte, außer Louis und mir, undLouis stand am Rade. Wir segelten weiter durchden Nebel, ohne Ausguck und ohne Lichter. DaßWolf Larsen den Whiskey auf seine Leutelosgelassen hatte, wunderte mich, aber er kanntesie und das Geheimnis, in Freundschaftzusammenzukitten, was mit Blutvergießenbegonnen hatte. Sein Sieg über Tod Larsen schieneine merkwürdige Wirkung auf ihn auszuüben. AmAbend zuvor hatte er sich in einen Katzenjammerhineingeredet, und ich hatte einen seinercharakteristischen Ausbrüche erwartet. Aber nichtswar geschehen, und jetzt war er in glänzenderStimmung. Vermutlich hatte sein Erfolg beimKapern so vieler Boote und Jäger der gewöhnlichenReaktion entgegengewirkt.

Wie gesagt, er war scheinbar in glänzenderStimmung, als ich die Kajüte betrat. Er hattewochenlang keine Kopfschmerzen gehabt, seineAugen waren so klar wie der Himmel, seine dunkleGesichtsfarbe strahlte vor Gesundheit. Er war sounterhaltsam, wie ich ihn noch nie gesehen hatte.Es war, als ob er vor innerer Energie beinahe barst.Fast im selben Augenblick begann er eineDiskussion über die Liebe. Wie gewöhnlich vertrater die rein materialistische, Maud die idealistischeSeite. Ich selbst beteiligte mich außer einigenkurzen Bemerkungen und Einwänden nicht an derUnterhaltung.

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In diesem Augenblick steckte Louis den Kopf indie Kajüte und flüsterte: „Leise! Der Nebel gehthoch, und vorn ist die Backbordlaterne einesDampfers."

Wolf Larsen sprang an Deck, und zwar so rasch,daß er, als wir ihm nachgekommen waren, schondie Zwischendecksluke über dem trunkenen Lärmgeschlossen hatte und jetzt nach vorn eilte, umauch die Backluke zu schließen. Obwohl der Nebelsich etwas gelichtet hatte, hing er noch über unsund verdunkelte die Sterne, so daß die Nacht ganzschwarz war. Gerade voraus konnte ich ein rotesund ein weißes Licht sehen und eine Maschinearbeiten hören: zweifellos die Macedonia.

Wolf Larsen war zum Hüttendeck zurückgekehrt,und wir standen schweigend zusammen undbeobachteten die Lichter, die schnell vor unsermBug vorbeiglitten.

„Ein Glück, daß sie keine Suchscheinwerfer hat!"sagte Wolf Larsen.

„Wenn ich nun laut riefe?" fragte ich flüsternd.„Dann wären wir erledigt", antwortete er. „Aber

haben Sie auch daran gedacht, was sofortgeschehen würde?"

Ehe ich Zeit hatte, meinem Wunsche, es zuerfahren, Ausdruck zu verleihen, hatte er mich mitdem Griff eines Gorillas an der Kehle gepackt undgab mir einen spürbaren Begriff davon, wie er mirohne weiteres das Genick brechen würde.

Im nächsten Augenblick ließ er mich los, und wirstarrten wieder auf die Lichter der Macedonia.

„Und wenn ich rufen würde?" fragte Maud.

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„Sie sind mir zu teuer, als daß ich Ihnen etwastun würde", sagte er sanft - ja, es lag eineZärtlichkeit, fast eine Liebkosung in seiner Stimme,die mich zusammenzucken ließ -,„aber tun Sie esdoch lieber nicht, denn ich würde prompt Herrn vanWeyden das Genick brechen."

„Dann darf sie meinetwegen gern rufen", sagteich trotzig.

„Ich glaube kaum, daß sie den großenamerikanischen Kritiker Humphrey van Weydenopfern würde!" lachte er spöttisch.

Wir schwiegen, und wir hatten uns schon soaneinander gewöhnt, daß das Schweigen uns nichtverlegen machte; und als das rote und weiße Lichtverschwunden waren, gingen wir wieder in dieKajüte, um das unterbrochene Abendbrot zubeenden.

Wenn Wolf Larsen je den Gipfel des Lebenserreichte, so tat er es jetzt. Immer wieder vergaßich meine eigenen Gedanken, um seinenAusführungen zu folgen, und ich folgte ihm mitErstaunen, unmittelbar bezwungen durch seinenwunderbaren Verstand, durch den Zauber seinerLeidenschaft, denn er predigte die Leidenschaft desAufruhrs.

Natürlich wurde dann Mutons Luzifer angeführt,und die Kühnheit, mit der Wolf Larsen diesenCharakter zergliederte, war eine Offenbarungseines unterdrückten Genies.

„Er vertrat eine verlorene Sache, und er fürchtetesich nicht vor Gottes Donnerkeilen", sagte WolfLarsen. „Wenn er auch in die Hölle gestürzt wurde,

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so blieb er doch unbesiegt. Ein Drittel der EngelGottes hatte er mitgebracht, und sofort stachelte erdie Menschen auf, sich gegen Gott zu empören,und gewann den größten Teil aller menschlichenGenerationen für sich und die Hölle. Warum er vomHimmel herabgeschleudert wurde? Weil er wenigertapfer als Gott war? Weniger stolz? Wenigerehrgeizig? Nein! Tausendmal nein! Gott war derStärkere. Ihm verlieh der Donner größere Macht.Luzifer aber war ein freier Geist. Dienen hieß für ihnersticken. Er zog Leiden in Freiheit allerGlückseligkeit einer bequemen Knechtschaft vor. Ermachte sich nichts daraus, Gott zu dienen. Erwollte niemand dienen. Er stand auf eigenenFüßen. Er war eine Persönlichkeit."

Dann zitierte er:

„Hier endlichWinkt uns die Freiheit, hat der AllmächtigeDie Zelte seines Neides nicht gebautUnd wird uns nicht vertreiben. Unsre HerrschaftIst sicher hier; und herrschen, wie man will,Ist schon den Ehrgeiz wert auch in der Hölle:Dort lieber Herrscher als im Himmel Knecht!"

Es war der trotzige Ruf eines mächtigen Geistes.Die Kajüte hallte wider von seiner Stimme, wie erso, hin und her schwankend, das sonnengebräunteGesicht leuchtend und mit stolz zurückgeworfenemKopf dastand und den Blick fest undunwiderstehlich auf Maud heftete, die in der Türstand.

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Wieder lag dies unsagbare Entsetzen in ihremBlick, und, beinahe flüsternd, sagte sie: „Sie sindLuzifer."

Die Tür schloß sich, und sie war fort. Er starrteihr eine Weile nach, dann kam er wieder zu sichund wandte sich zu mir: „Ich will Louis am Radablösen", sagte er kurz. „Um Mitternacht werdenSie mich ablösen. Jetzt legen Sie sich am bestennieder und schlafen ein bißchen."

Er zog ein Paar Fausthandschuhe an, setzteseine Mütze auf und stieg die Treppe hinauf,während ich seiner Aufforderung, michniederzulegen, Folge leistete. Ohne einen mirbewußten Grund, nur einer geheimnisvollenEingebung folgend, entkleidete ich mich nicht,sondern legte mich völlig angekleidet in die Koje.Eine Zeitlang lauschte ich auf den Lärm imZwischendeck und stellte Betrachtungen an überdie Liebe, die zu mir gekommen war, aber meinSchlaf war auf der Ghost gesund und natürlichgeworden, und bald erstarben Singen undSchreien, meine Augen schlossen sich, und meinBewußtsein sank in den Halbtod des Schlummers.

Ich weiß nicht, was mich weckte, aber ich standganz wach vor meiner Koje, und meine Seelezitterte wie in Gefahr, als hätte michTrompetenschall gerufen. Ich riß die Tür auf. DieKajütslampe war tief her abgebrannt. Und ich sahMaud, meine Maud, die sich aus den Armen WolfLarsens zu befreien suchte. Ich konnte ihreverzweifelten Anstrengungen sehen, sie preßte ihr

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Gesicht gegen seine Brust, um zu entkommen.Alles dies sah ich in einem Nu, und schon sprangich in die Kajüte. Ich schlug ihm mit der Faustmitten ins Gesicht, aber der Schlag hatte keineKraft. Er brüllte wie ein wildes Tier und schleudertemich mit der Hand weg. Ich stieß gegen die Tür desRaumes, in dem Thomas Mugridge frühergeschlafen hatte, und das Paneel zersplitterte unterder Wucht meines Körpers. Schwankend richteteich mich wieder auf und befreite mich mit Mühe ausden Trümmern der Tür. Einen Schmerz fühlte ichnicht, ich war nur von einer grenzenlosen Wutbeherrscht. Ich glaube, daß ich laut schrie, als ichihn zum zweitenmal mit gezücktem Messeransprang.

Aber es mußte etwas geschehen sein. Sietaumelten auseinander. Ich war schon mit demMesser über ihm, aber ich hielt den Stoß zurück.Ich war verwirrt. Maud lehnte sich mitausgestreckter Hand gegen das Schott. WolfLarsen aber schwankte, die Linke gegen die Stirngepreßt und die Augen bedeckend, während erhalb betäubt mit der Rechten nach einem Haltsuchte.

Er stieß gegen die Wand, sein Körper schien beider Berührung eine physische Erleichterung zuspüren, die Muskeln erschlafften, es war, als hätteer den verlorenen Kurs wiedergefunden, als wisseer wieder, wo er sich befand, als habe er wiedereinen Halt.

Dann übermannte mich wieder die Wut. AllesUnrecht, alle Demütigungen, alles, was ich und

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andere durch ihn erlitten, die Ungeheuerlichkeit, dieallein in der Existenz dieses Mannes lag, stand inblendender Helle vor mir. Blind, wahnsinnig, sprangich von neuem auf ihn los und stieß ihm dasMesser in die Schulter. Mir war sofort klar, daß esnichts als eine Fleischwunde war - ich hatte denStahl an seinem Schulterblatt knirschen hören -,und ich hob nochmals das Messer, um ein Ende zumachen.

Aber Maud hatte meinen ersten Stoß gesehenund schrie: „Nicht! Bitte nicht!"

Ich ließ einen Augenblick den Arm sinken - nureinen Augenblick. Dann erhob ich das Messerwieder, und es wäre sicher aus gewesen mit WolfLarsen, wäre sie nicht dazwischengetreten.

„Um meinetwillen!" flehte sie.„Um Ihretwillen will ich ihn töten!" rief ich und

versuchte, meinen Arm frei zu machen, ohne sie zuverletzen.

„Still!" sagte sie und legte mir die Hand sanft aufdie Lippen.

Ich hätte sie küssen mögen, wenn ich es nurgewagt hätte, denn inmitten meiner Wut wirkte ihreBerührung so süß, so unsagbar süß.

„Bitte, bitte", flehte sie, und sie entwaffnete michmit diesen Worten, wie sie mich - das habe ichspäter erfahren - stets mit ihnen entwaffnen wird.

Ich trat zurück und steckte das Messer in dieScheide. Ich blickte auf Wolf Larsen. Er preßte dieLinke immer noch gegen die Stirn und bedeckteseine Augen. Sein Kopf war gebeugt. Er schienplötzlich gelähmt zu sein. Sein Körper knickte in

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den Hüften ein, seine mächtigen Schultern sacktennach vorn.

„Van Weyden!" rief er heiser und mit einemKlang von Angst in der Stimme. „Van Weyden, wosind Sie?"

Ich blickte Maud an.Sie sagte nichts, nickte nur.„Hier", antwortete ich und trat zu ihm. „Was ist

mit Ihnen?"„Helfen Sie mir auf einen Stuhl", sagte er mit

derselben furchtsamen Stimme. „Ich bin ein krankerMann, ein sehr kranker Mann, Hump", sagte er, alsmeine stützenden Arme ihn losließen und er aufden Stuhl sank.

Sein Kopf fiel vornüber auf den Tisch und wurdein seinen Händen begraben. Ab und zu schwankteer wie vor Schmerz hin und her. Als er einmalaufblickte, sah ich den Schweiß in schwerenTropfen unter den Haarwurzeln auf seiner Stirnstehen.

„Ich bin ein kranker Mann, ein sehr krankerMann", wiederholte er immer wieder.

„Was ist Ihnen denn?" fragte ich, indem ich ihmmeine Hand auf die Schulter legte. „Kann ich wasfür Sie tun?" Aber er schüttelte meine Hand miteiner ungeduldigen Bewegung ab, und eine Weilestand ich schweigend neben ihm. Maud starrte ihnmit einem Ausdruck von Furcht und Schrecken an.Wir hatten keine Ahnung, was ihm geschehen war.

„Hump", sagte er endlich, „Ich muß in die Koje.Reichen Sie mir Ihre Hand. Es wird gleichvorübergehen. Ich glaube, es sind die verfluchten

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Kopfschmerzen. Ich hatte es schon gefürchtet. Ichhatte ein Gefühl - nein, ich weiß nicht, was ich rede.Helfen Sie mir in meine Koje!"

Als ich ihn aber in die Koje gebracht hatte,vergrub er wieder sein Gesicht in den Händen,bedeckte die Augen, und als ich mich zum Gehenwandte, hörte ich ihn murmeln: „Ich bin ein krankerMann, ein sehr kranker Mann."

Als ich herauskam, sah Maud mich fragend an.Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Es ist ihm etwaszugestoßen. Was, weiß ich nicht. Er ist hilflos undfurchtsam - sicher das erste Mal in seinem Leben.Es muß geschehen sein, noch ehe er denMesserstich erhielt, denn der hat ihn nur ganzoberflächlich getroffen. Sie müssen doch gesehenhaben, was es war."

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe nichtsgesehen. Es ist mir genauso rätselhaft. Er ließ michplötzlich los und taumelte. Aber was tun wir? Wassoll ich tun?"

„Warten Sie bitte, bis ich wiederkomme",antwortete ich kurz.

Ich ging an Deck. Louis stand am Rad. „Dukannst nach vorn gehen und dich hinlegen", sagteich und nahm selbst das Ruder.

Er gehorchte ohne Zögern, und ich befand michallein an Deck der Ghost. So leise wie möglichgeite ich die Toppsegel auf, fierte Außenklüver undStagsegel, holte den Klüver nach backbord undlegte das Großsegel hart an den Wind. Dann gingich zu Maud hinunter. Zum Zeichen desSchweigens legte ich den Finger auf die Lippen und

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trat in Wolf Larsens Raum. Er befand sich noch indemselben Zustand, wie ich ihn verlassen hatte,und bewegte den Kopf - fast schlangenartig - hinund her.

„Kann ich etwas für Sie tun?" fragte ich.Er gab zuerst keine Antwort, als ich aber meine

Frage wiederholte, sagte er: „Nein, nein, es ist gut.Lassen Sie mich allein bis morgen früh."

Als ich mich aber zum Gehen wandte, bemerkteich, daß sein Kopf die schaukelnde Bewegungwiederaufgenommen hatte. Maud wartete geduldigauf mich, und mit einem freudigen Gefühl bemerkteich die königliche Haltung ihres frei erhobenenKopfes und ihre schönen ruhigen Augen. Ruhig undzuversichtlich waren sie wie ihr Gemüt.

„Wollen Sie sich mir für eine Seereise von etwasechshundert Meilen anvertrauen?" fragte ich.

„Sie wollen -?" sagte sie, und ich wußte, daß siemeine Absicht erraten hatte.

„Ja, eben das", antwortete ich. „Uns bleibt keineWahl als das offene Boot."

„Um meinetwillen, meinen Sie?" sagte sie. „Sieselbst sind doch gewiß hier ebenso sicher wiebisher."

„Nein, wir haben beide keine andere Möglichkeitals das offene Boot", wiederholte ich tapfer. „WollenSie sich bitte so warm wie möglich ankleiden undalles, was Sie mitnehmen wollen,zusammenpacken. Und machen Sie so schnell wiemöglich", fügte ich hinzu, als sie sich umwandte,um ihre Kajüte aufzusuchen. Die Vorratskammerbefand sich gerade unter der Kajüte, ich öffnete die

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Falltür, nahm ein Licht und stieg hinunter, um michmit Proviant zu versorgen. Ich wählte hauptsächlichKonserven, und als ich fertig war, streckten sich mirein Paar Hände willig entgegen, um in Empfang zunehmen, was ich ihnen zureichte.Wir arbeitetenschweigend. Ich verschaffte mir auch Decken,Fausthandschuhe, Ölzeug, Mützen und ähnlichesaus der Vorratskiste. Es war keine Kleinigkeit, sichin einem kleinen Boot der rauhen, stürmischen Seeanzuvertrauen, und es war durchaus notwendig,sich gegen Kälte und Nässe zu schützen.

Wir schafften fieberhaft, um unsern Raub anDeck zu bringen und mittschiffs zu schleppen, ja wirstrengten uns so an, daß Maud, die nicht übergroße Körperkräfte verfügte, erschöpft aufgab. Ichwar mir auch bewußt, daß es nicht unwichtig füruns war, Waffen zu besitzen, und so ging ich inWolf Larsens Kabine, um sein Gewehr und seineBüchse zu holen. Ich sprach ihn an, aber er gabkeine Antwort, obgleich sein Kopf hin und herschwankte und er nicht schlief. „Leb wohl, Luzifer!"flüsterte ich, während ich leise die Tür schloß.

Das nächste, was ich mir verschaffen mußte,war Munition - ein leichtes Unterfangen, obwohl ichdazu auf die Laufbrücke mußte. Hier bewahrten dieJäger die Munitionsvorräte auf, die sie mit in dieBoote nahmen, und hier, nur wenige Schritte vonihrem wüsten Gelage, nahm ich zwei Kisten.

Dann mußte ein Boot hinabgelassen werden.Dies war keine Kleinigkeit für einen einzelnenMann. Als ich die Zurringe entfernt hatte, heißte iches zuerst am Vordertakel und dann achtern, bis es

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klar von der Reling kam. Dann ließ ich es immerabwechselnd an den beiden Takeln hinunter, bis esan der Schiffsseite dicht über dem Wasser hing. Ichvergewisserte mich, daß es richtig mit Riemen,Klampen und Segel versehen war. Das Wichtigstewar Trinkwasser, und ich nahm daher sämtlicheFässer aus den andern Booten. Da es alles in allemneun Boote waren, hatten wir nun Wasser in Hülleund Fülle und zugleich Ballast, obwohl wir jetztGefahr liefen, das Boot zu überlasten, wenn wir denganzen Proviant übernahmen.

Während Maud ihn mir reichte und ich ihn imBoot verstaute, kam ein Matrose aus der Back anDeck. Er blieb eine Weile an der Luvreling stehen(wir waren an der Leereling beschäftigt) undschlenderte dann langsam mittschiffs, wo er wiederhaltmachte und, mit dem Rücken gegen uns, in dieWindrichtung blickte. Ich konnte mein Herzschlagen hören, während ich mich im Bootverkroch. Maud hatte sich aufs Deck gleiten lassenund lag, wie ich wußte, regungslos im Schatten derReling. Aber der Mann wandte sich nicht eineinziges Mal um, er reckte die Arme, gähnte, schrittwieder zur Back und verschwand.

Nach einigen Minuten waren wir mit demVerladen fertig, und ich ließ das Boot zu Wasser.Als ich Maud über die Reling half und ihren Körperdicht an meinem fühlte, konnte ich nur mit Müheden Ruf „Ich liebe Sie! Ich liebe Sie!" unterdrücken.

Ich hielt mich mit der einen Hand an der Relingfest und stützte sie mit der andern, und michdurchzuckte einen Augenblick ein Gefühl von Stolz.

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Ich besaß Kräfte, wie ich sie noch vor wenigenMonaten nicht gehabt - an dem Tage, als ich michvon Charley Furaseth verabschiedet hatte, um mitder unglückseligen Martinez nach San Franzisko zufahren.

Das Boot hob sich auf einer Woge, Mauds Füßeberührten den Boden, und ich ließ ihre Hände los.Dann warf ich die Takel los und sprang ihr nach.Ich hatte noch nie im Leben gerudert, aber ich legtedie Riemen aus und bekam mit großer Anstrengungdas Boot klar von der Ghost. Dann versuchte ich,das Segel zu setzen. Ich hatte beobachtet, wie dieBootssteurer und Jäger ihre Sprietsegel setzten,aber es war doch mein erster Versuch. Ich brauchtezwanzig Minuten, um zu machen, was sie invielleicht zweien schafften, aber schließlich war esgetan, und, die Ruderpinne in der Hand, ging ich inden Wind.

„Dort liegt Japan", bemerkte ich, „gerade voruns."

„Humphrey van Weyden, Sie sind ein mutigerMann!" sagte sie.

„Nein", antwortete ich, „aber Sie sind eine mutigeFrau."

Wie auf eine gemeinsame Eingebung wandtenwir den Kopf,um noch einen letzten Blick auf dieGhost zu werfen. Ihr niedriger Rumpf hob sich undrollte auf der Woge, ihre Segel schimmertenundeutlich in der Nacht, das festgemachte Radkreischte, dann entschwand sie unsern Blicken,und wir waren allein auf dem dunklen Meer.

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Neuntes KapitelGrau und frostig brach der Tag an. Das Boot lag

scharf an dem frischen Winde, und der Kompaßzeigte, daß wir genau den Kurs nahmen, der unsnach Japan führte. Trotz der Fausthandschuhewaren meine Finger kalt und klamm vom Haltendes Steuerruders. Meine Füße brannten vor Frost,und ich hoffte nur, daß die Sonne scheinen würde.

Vor mir, auf dem Boden des Bootes, lag Maud.Sie wenigstens hatte es warm, denn sie war inDecken eingehüllt.

Lange blickte ich auf sie, ließ meine Augen aufdem wenigen ruhen, das von ihr sichtbar war, wieein Mann das betrachtet, was ihm das Teuerste aufder Welt ist. So hartnäckig war mein Blick, daß siesich schließlich unter den Decken regte. Deroberste Zipfel wurde weit zurückgeschlagen, undsie lächelte mich mit Augen an, die noch schwervom Schlaf waren. „Guten Morgen, Herr vanWeyden", sagte sie, „haben Sie schon Landgesichtet?"

„Nein", antwortete ich, „aber wir nähern uns ihmmit einer Geschwindigkeit von sechs Meilen in derStunde."

Sie blickte mich erschrocken an.„Aber das sind ja hundertvierundvierzig Meilen in

vierundzwanzig Stunden", fügte ich beruhigendhinzu.

Ihre Züge erhellten sich. „Und wie weit ist es?"„In dieser Richtung liegt Sibirien", sagte ich und

wies nach Westen. „Aber etwa sechshundert

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Meilen westwärts liegt Japan. Wenn der Windanhält, werden wir es in fünf Tagen schaffen."„Undwenn Sturm kommt? Dann kann sich das Boot wohlnicht halten?" Sie hatte eine eigene Art, einem indie Augen zu blicken und die Wahrheit zu fordern,und so blickte sie mich auch jetzt an, als sie dieFrage stellte.

„Dann müßte es schon sehr stürmen", sagte ichzögernd.

„Und wenn es sehr stürmt?"Ich nickte. „Aber es kann auch jederzeit

geschehen, daß wir von einem Robbenschoneraufgenommen werden. Dieser Teil des Ozeanswird sehr viel von ihnen befahren."

„Gott, Sie sind ja ganz durchgefroren!" rief sieaus. „Sehen Sie: Sie zittern ja. Sagen Sie nichtnein; Sie zittern. Und ich lag hier warm und sicherwie in Abrahams Schoß!"

„Ich kann nicht einsehen, was es an der Sachegeändert hätte, wenn Sie auch durchgefrorenwären", lachte ich.

„Ich werde es ja doch, sobald ich steuern gelernthabe, was ja hoffentlich bald der Fall sein wird."

Sie setzte sich auf und begann ihre einfacheToilette zu machen. Sie schüttelte ihr Haar auf, daßes ihr in einer braunen Wolke um Gesicht undSchultern fiel. Ihr herrliches braunes Haar! Ich hättees küssen mögen, es durch meine Finger gleitenlassen, mein Gesicht darin vergraben mögen! Wieverzaubert starrte ich sie an und vergaß das Ruder,bis das Boot in den Wind lief und das flatterndeSegel mich an meine Pflicht mahnte.

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Ich war überrascht und froh, als ich sah, wieweiblich sie war, denn in meiner Vorstellung hatteich fast ein göttliches, gänzlich unnahbares Wesenaus ihr gemacht. So begrüßte ich auch mit Freudendie kleinen Züge, die sie doch alles in allem alseine Frau aus Fleisch und Blut offenbarten.

Ich versuchte, das Ruder mit Hilfe eines Keilsfestzumachen, und das Boot hielt seinen Kurs ganzgut ohne meine Hilfe. Nur gelegentlich kam es zudicht an den Wind oder fiel etwas ab, aber jedesmalrichtete es sich von selbst wieder und benahm sichüberhaupt recht befriedigend.

„Und nun wollen wir frühstücken", sagte ich.„Zunächst aber müssen Sie sich etwas wärmerkleiden. "

Ich suchte ein neues Hemd hervor, das ausdemselben Stoff wie die Decken gemacht war. Ichkannte das Gewebe und wußte, daß eswasserdicht war und selbst bei stundenlangemRegen keine Feuchtigkeit durchließ. Als sie esübergestreift hatte, vertauschte ich ihreKnabenmütze gegen eine Männerkappe, die großgenug war, ihr Haar zu bedecken, und die, wenndie Klappen heruntergeschlagen wurden, ihr ganzüber Ohren und Hals ging. Die Wirkung warbezaubernd. Nichts vermochte das köstliche Oval,die fast klassischen Brauen, die großen braunenAugen mit ihrem klaren, ruhigen Blick zu zerstören.

Ein etwas stärkerer Stoß traf uns, als wir geradeeinen Wogenkamm passierten. Das Boot legte sichso viel über, daß der Rand der Reling dieOberfläche streifte und wir etwa eine Pütze Wasser

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übernahmen. Ich war gerade dabei, eine DoseZungenwurst zu öffnen. Ich ließ sie fallen, sprangan die Schot und warf sie gerade noch im rechtenAugenblick hinüber. Das Segel schlug und flatterte,und das Boot kam klar. Wenige Minuten späterhatte ich es wieder in den Kurs gebracht undkonnte die Vorbereitungen zum Frühstückwiederaufnehmen.

„Es funktioniert, wie es scheint, sehr gut, wennich auch in seemännischen Fragen nicht sehrerfahren bin", sagte sie und nickte beifällig mit demKopf nach meiner Steuervorrichtung.

„Aber es geht nur, solange wir mit dem Windesegeln", erklärte ich. „Wenn wir den Wind dwarshaben oder kreuzen müssen, muß ich dochsteuern."

„Ich muß gestehen, daß mir Ihre technischenAusdrücke fremd sind", sagte sie. „Aber ichverstehe Ihre Schlußfolgerung und bin nicht geradefroh darüber. Sie können doch nichtununterbrochen Tag und Nacht steuern. Siewerden mir also nach dem Frühstück meine ersteUnterrichtsstunde erteilen. Und dann werden Siesich hinlegen und schlafen. Wir werdenabwechselnd die Wache übernehmen wie aufeinem Schiff."

„Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen beibringen.soll", wandte ich ein. „Ich bin ja selbst erst Schüler.Als Sie sich mir anvertrauten, haben Sie wohl kaumbedacht, daß ich keine Erfah-rung habe. Es ist daserste Mal, daß ich mich überhaupt in einem kleinenBoot befinde."

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„Dann müssen wir es eben gemeinsam lernen,Käpt'n. Und da Sie einen Vorsprung von einerNacht haben, werden Sie mich lehren, was Sieunterdessen gelernt haben. Und nun dasFrühstück! Die Luft macht hungrig!"

„Kaffee gibt es nicht!" sagte ich bedauernd undreichte ihr mit Butter bestrichenen Zwieback undeine Scheibe Zungenwurst. „Und es wird keinenTee, keine Suppe und überhaupt nichts Warmesgeben, bis wir irgendwo an Land gekommen sind."

Nach einem einfachen Frühstück, das durch eineTasse kalten Wassers gekrönt wurde, erhielt Maudihre erste Unterrichtsstunde im Steuern. Währendich sie unterwies, lernte ich selbst ein gut Teil; ichwandte die Kenntnisse an, die ich mir durch dasSegeln der Ghost und das Beobachten derSteuerleute in den Booten angeeignet hatte. Maudwar eine gelehrige Schülerin und lernte bald, denKurs zu halten, vor den Windstößen zu luven undim Notfall die Schot hinüberzuwerfen.

Als sie von der Arbeit offenbar übermüdet war,überließ sie mir wieder das Ruder. Ich hatte dieDecken zusammengelegt, aber sie breitete sie jetztwieder auf dem Boden aus. Als das geschehenwar, sagte sie: „So, Käpt'n, jetzt gehen Sie in dieKoje. Und Sie werden bis zum zweiten Frühstückschlafen - bis zum Mittagessen", verbesserte siesich, indem sie an die Zeiteinteilung auf der Ghostdachte.

Was sollte ich tun? Sie bestand darauf und sagte„Bitte, bitte!", worauf ich ihr das Ruder überließ undgehorchte. Ich hatte ein wundersames Gefühl, als

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ich in das Bett kroch, das sie mir mit ihren Händenbereitet hatte. Die Ruhe und Selbstbeherrschung,die einen so bedeutsamen Teil ihres Wesensausmachten, schienen sich den Decken mitgeteiltzu haben. Ich sank in eine sanfte Schläfrigkeit undZufriedenheit. Das feine Oval mit den braunenAugen in dem Rahmen der Fischermütze wiegtesich vor dem Hintergrund grauer Wolken undgrauer Wogen - dann wußte ich, daß ich geschlafenhatte.

Ich sah auf meine Uhr. Ich hatte sieben Stundengeschlafen. Und sie hatte sieben gesteuert! Als ichdas Ruder nahm, mußte ich ihr die verkrampftenFinger öffnen. All ihr bißchen Kraft war erschöpft,und sie war nicht einmal imstande, sich von ihremPlatz zu bewegen. Ich mußte die Schotfahrenlassen, um ihr in das warme Nest vonDecken zu helfen und ihre Hände und Arme zureiben.

„Ich bin so müde!" sagte sie; ihr Atem gingschnell, und sie ließ ihren Kopf mit einem Seufzersinken.

Aber im nächsten Augenblick richtete sie sichwieder auf. „Jetzt schelten Sie aber nicht, wagenSie nicht zu schelten!" rief sie in gespieltem Trotz.

„Ich hoffe, daß ich kein böses Gesicht mache",sagte ich ernst, „denn ich versichere Ihnen, daß ichnicht im geringsten ärgerlich bin."

„Nein", meinte sie nachdenklich. „Es sieht nurvorwurfsvoll aus."

„Dann ist es ein ehrliches Gesicht und drückt nuraus, was ich fühle. Sie haben unrecht sowohl

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gegen sich selbst wie gegen mich gehandelt. Wiesoll ich in Zukunft Vertrauen zu Ihnen haben?"

Sie sah ganz reuevoll aus. „Ich werde brav sein",sagte sie wie ein unartiges Kind. „Ich verspreche -"

„Zu gehorchen, wie ein Matrose seinem Kapitängehorcht?"

„Ja", sagte sie. „Es war dumm von mir, ich weiß."„Dann müssen Sie mir noch etwas versprechen",

meinte ich.„Gern."„Sie dürfen nicht zu oft ,Bitte, bitte!' sagen, denn

sonst untergraben Sie meine Autorität."Sie lachte belustigt. Auch sie hatte die Macht

ihres „Bitte, bitte!" bemerkt.„Das Wort ist schön -", begann ich.„Aber ich darf

es nicht ausnutzen", unterbrach sie mich. Dannlachte sie müde und ließ den Kopf wiederzurücksinken.

Ich überließ das Ruder sich selbst, um ihre Füßein die Decken zu wickeln und ihr einen Zipfel überdas Gesicht zu ziehen. Ach, sie war nicht kräftig!Ich sah mit Besorgnis nach Südwest und dachte andie sechshundert Meilen und all die Mühsal, die voruns lag - ach, wenn es nur nichts Schlimmeres alsMühsal werden sollte! Auf diesem Meere konntejederzeit ein vernichtender Sturm aufkommen. Unddoch fürchtete ich mich nicht. Ich setzte nicht vielVertrauen auf die Zukunft, war sogar sehr imZweifel, und doch wurde ich nicht von Furchtübermannt. „Es muß gutgehen, es muß gutgehen!"wiederholte ich mir immer wieder.

Am Nachmittag frischte der Wind wieder auf, die

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See wurde unruhiger und stellte mich und das Bootauf eine harte Probe. Aber der Proviant und dieneun Wasserfässer waren ein guter Ballast, der dasBoot in den Stand setzte, See und Wind zu trotzen,und ich hielt das Segel, solange ich es wagte. Dannholte ich es ein, beschlug es, und wir liefen weiter.

Einige Stunden später sichtete ich den Raucheines Dampfers am Horizont in Lee. Es mußtemeiner Ansicht nach entweder ein russischerKreuzer oder, wahrscheinlicher, die Macedoniasein, die noch auf der Suche nach der Ghost war.Die Sonne war den ganzen Tag nicht zumVorschein gekommen, und es war bitter kaltgewesen. Als die Nacht sich herabsenkte, wurdendie Wolken dunkler, und der Wind frischte nochmehr auf, so daß Maud und ich mitFausthandschuhen Abendbrot aßen und ich amRuder blieb und nur hin und wieder zwischen denWindstößen einen Bissen zu mir nahm.

Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Windund Wogen wurden zuviel für das kleine Fahrzeug,und so holte ich das Segel ein und versuchte, einenTreib- oder Seeanker herzustellen. Ich hatte dieseKunst durch Gespräche mit den Jägern erfahren,und es war eine ganz einfache Sache. Ich legte dasSegel zusammen, zurrte es gehörig an Mast,Baum, Spriet und zwei Paar Reserveriemen festund warf es über Bord. Eine Leine verband es mitdem Bug, und da es tief im Wasser lag und demWinde keinen Widerstand bot, trieb es langsamerals das Boot. Infolgedessen hielt es den Bug in Seeund Wind - die sicherste Lage, um sich gegen das

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Kentern zu schützen, wenn Sturzseen kamen.„Und jetzt?" fragte Maud fröhlich, als die Arbeit

vollbracht war und ich mir die Fausthandschuhewieder anzog.

„Jetzt fahren wir nicht mehr nach Japan", sagteich. „Wir treiben in der Richtung von Südost oderSüdsüdost mit einer Schnelligkeit von mindestenszwei Meilen die Stunde."

„Das sind vierundzwanzig Meilen", meinte sie,„wenn der Wind die ganze Nacht weht."

„Und hundertundvierzig, wenn er drei Tage undNächte anhält."

„Aber er wird nicht anhalten!" sagte siezuversichtlich. „Er wird sich drehen und wenden,wie wir ihn brauchen."

„Die See ist die große Treulose."„Aber nicht der Wind!" erwiderte sie. Sie wurde

ganz beredt, wenn sie auf den prächtigen Passatzu sprechen kam.

„Wenn ich nur daran gedacht hätte, WolfLarsens Chronometer und Sextantenmitzunehmen", sagte ich niedergeschlagen. „Ineiner Richtung segeln und in der andern treiben,gar nicht zu reden von der Strömung, die einen ineiner dritten entführen kann - was dabeiherauskommt, kann der größte Rechenkünstlernicht finden. Ehe wir es ahnen, können wirfünfhundert Meilen aus dem Kurs sein." Dann batich sie um Verzeihung und versprach, nie wiederden Mut zu verlieren. Auf ihren eindringlichenWunsch überließ ich ihr die Wache bis Mitternacht -es war jetzt neun Uhr -, aber ich hüllte sie in

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Decken und Ölzeug ein, ehe ich mich niederlegte.Aber ich döste nur. Das Boot hüpfte und stieß,wenn es über die Wellenkämme ging; ich konntedie Seen vorbeischießen hören, und immer wiederspritzte der Schaum ins Boot. Und doch erschienmir die Nacht nicht schlimm, war sie doch nichts imVergleich mit den Nächten, die ich auf der Ghosterlebt hatte, und vielleicht auch nichts im Vergleichmit denen, die wir in dieser Nußschale noch zuüberstehen hatten. Ihre Planken waren nur knappzwei Zentimeter dick. Zwischen uns und derMeerestiefe waren nicht mehr als zwei ZentimeterHolz.

Und doch - das kann ich immer wiederversichern -, doch fürchtete ich mich nicht. DenTod, vor dem Wolf Larsen und selbst ThomasMugridge mir Furcht gemacht hatten, fürchtete ichnicht mehr. Maud Brewster war in mein Lebengetreten, und das schien mich verwandelt zuhaben.

Alles in allem, dachte ich, mußte es besser seinzu lieben, als geliebt zu werden, wenn die Liebeuns etwas so teuer machen konnte, daß wir denTod nicht mehr fürchteten. Ich konnte mein eigenesLeben über dem anderen vergessen, und ach - soparadox es auch klingen mag -, nie hatte ich sogewünscht zu leben wie gerade jetzt, da ichmeinem Leben weniger Wert beimaß als je zuvor.Nie war mein Leben so begründet gewesen - daswar mein letzter Gedanke, und dann, imEinschlafen, gab ich mich zufrieden mit demVersuch, die Nacht zu durchdringen, die den

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Steven einhüllte, wo, wie ich wußte, Maudzusammengekauert saß und über die schäumendeSee hinausblickte - jederzeit bereit, mich zu rufen,wenn es not tun sollte.

Es ist unnötig, alle Leiden eingehend zuschildern, welche wir während der vielen Tage zuerdulden hatten, die wir in dem winzigen Boothierhin und dorthin über den Ozean getriebenwurden. Der schwere Nordwest wehtevierundzwanzig Stunden lang. Dann legte er sich,und nachts sprang er nach Südwest um. Das waruns gerade entgegen; aber ich holte den Seeankerein, setzte das Segel und nahm einen Kurs, der unsnach Südsüdost führte. Es war kein großerUnterschied, ob wir diese Richtung oder die nachNordnordwest wählten, die der Wind ebenfallszuließ, aber die Aussicht auf wärmere Luft imSüden bestimmte meinen Entschluß.

Nach drei Stunden - es war Mitternacht, wie ichnoch weiß, und so dunkel, wie ich es auf See nochnie gesehen hatte - wuchs der Südwest zum Sturm,und ich war wieder genötigt, den Seeanker zuwerfen.

Der Tag brach an und fand mich erschöpft aufdem weißschäumenden Meere, während das Bootmit der Spitze fast senkrecht gegen den Himmelzeigte. Wir liefen große Gefahr, von den Sturzseenzum Kentern gebracht zu werden. Gischt undSchaum kamen derart über, daß ich unausgesetztschöpfen mußte. Die Decken trieften vor Nässe.Außer Maud war alles naß, sie trug Ölzeug,Gummistiefel und Südwester und war trocken bis

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auf Gesicht und Hände und ein paar verirrteLocken. Sie löste mich hin und wieder beimSchöpfen ab, arbeitete tapfer und trotzte demSturm. Aber alles ist relativ. Es war nichts als einsteifer Wind, aber für uns, die wir in einem kleinenzerbrechlichen Boot ums Leben kämpften, war esein Sturm.

Kalt und trostlos peitschte der Wind uns dasGesicht, die weißen Seen jagten heulend vorbei,und wir kämpften den ganzen Tag. Die Nacht kam,aber keiner von uns schlief. Der Tag kam, undimmer noch peitschte der Wind unsere Gesichter,jagten die weißen Wogen brüllend an uns vorbei. Inder zweiten Nacht schlief Maud vor Erschöpfungein. Ich deckte sie mit Ölzeug und einer Persenningzu. Sie war verhältnismäßig trocken, aber starr vorKälte. Ich fürchtete, daß sie die Nacht nichtüberleben würde, aber wieder brach der Tag an,kalt und trostlos, mit demselben bewölkten Himmel,schneidenden Wind und brüllenden Meer. Ich hatteachtundvierzig Stunden lang kein Augegeschlossen. Ich war bis aufs Mark durchnäßt unddurchfroren und mehr tot als lebendig. Mein Körperwar steif vor Anstrengung und Kälte, und meineMuskeln schmerzten fürchterlich, bei jederBewegung litt ich die schrecklichsten Qualen, undich mußte mich unaufhörlich bewegen. Und dabeiwurden wir immer weiter nach Nordosten getrieben,immer weiter fort von Japan und nach der ödenBeringsee.

Aber noch lebten wir und hatten unser Boot,obwohl der Wind andauernd und mit

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unverminderter Stärke wehte. Am Abend desdritten Tages nahm er sogar noch etwas zu. DerBug tauchte in einen Wogenkamm, und das Bootfüllte sich zu einem Viertel mit Wasser. Ich schöpftewie wahnsinnig. Die Gefahr, noch eine Seeüberzubekommen, wurde außerordentlich erhöhtdurch den Umstand, daß das Wasser das Bootniederpreßte und seine Schwimmfähigkeitverminderte. Und noch eine solche See hieß dasEnde. Als ich das Boot wieder trocken hatte, sahich mich genötigt, Maud die Persenningwegzunehmen und sie quer über dem Bug zubefestigen. Es war ein Glück, daß ich es tat, undobgleich wir in den nächsten Stunden dreimal mitdem Bug tauchten, nahmen wir kein Wasser über.

Maud befand sich in einem kläglichen Zustand.Sie saß zusammengekauert auf dem Boden desBootes, ihre Lippen waren blau, ihr graues Gesichtzeigte deutlich, welche Qualen sie litt. Aber ihreAugen sahen mich mit ihrem tapferen Blick an, undkein Wort der Entmutigung kam über ihre Lippen.

In dieser Nacht muß der Sturm seinenHöhepunkt erreicht haben, aber ich achtete nichtdarauf. Auf dem Achtersitz übermannten michMüdigkeit und Schmerzen, und ich schlief ein.

Am Morgen des vierten Tages war der Sturm zueinem leisen Hauch gesunken. Die See beruhigtesich, und die Sonne schien auf uns herab. Oh,diese gesegnete Sonne! Wie wir unsere armseligenKörper in ihrer köstlichen Wärme badeten! Wirlebten auf wie Käfer und Gewürm nach einemUnwetter. Wir lächelten wieder, sagten lustige

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Dinge und erörterten hoffnungsvoll unsere Lage.Tatsächlich war sie schlimmer als je. Wir warenweiter von Japan entfernt als in der Nacht, da wirdie Ghost verlassen hatten. Dazu konnte ichLängen- und Breitengrade nur ganz ungefährerraten. Wenn ich annahm, daß wir in den siebzigStunden, die der Sturm gedauert hatte, zwei Meilenin der Stunde gemacht hatten, mußten wirmindestens hundertfünfzig Meilen nach Nordostgetrieben sein. Stimmte diese Berechnung aber?Es konnten ebensogut vier wie zwei Meilen in derStunde gewesen sein! Dann waren wir nochhundertfünfzig Meilen weiter in der falschenRichtung gekommen. Wo wir uns befanden, wußteich nicht, sehr wahrscheinlich aber in der Nähe derGhost.. Rings um uns her gab es Robben, und icherwartete jeden Augenblick, einen Robbenschonerauftauchen zu sehen. Am Nachmittag, als derNordwest wieder aufgekommen war, sichteten wireinen. Aber das fremde Fahrzeug verlor sich baldhinter dem Horizont, und wir waren wieder alleinauf dem weiten Meere.

Es kamen Nebeltage, an denen selbst Maud denMut verlor und keine frohen Worte mehr über ihreLippen kamen, Tage mit Windstille, da wir auf derunermeßlichen Meeresfläche dahintrieben,bedrückt von ihrer Größe und voller Staunen überdas Wunder, daß wir in unserem winzigen Bootnoch lebten und um unser Leben kämpften, - Tagemit Hagel, Wind und Schneegestöber, an denennichts uns warm zu halten vermochte; Tage mitfeinem Sprühregen, an denen wir unsere

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Wasserfässer von dem tropfenden Segel zu füllenversuchten.

Und immer mehr lobte ich Maud. Obwohl ichmich tausendmal bezwingen mußte, um ihr nichtmeine Liebe zu erklären, wußte ich doch, daß diesnicht der Zeitpunkt für eine solche Erklärung war.Wenn aus keinem anderen Grunde, so schon alleindeshalb, weil die Frau, die ich liebte, sich untermeinem Schutz befand. So schwierig die ganzeLage auch war, schmeichelte ich mir doch, meineLiebe durch kein Zeichen zu verraten. Wir warengute Kameraden und wurden es mit jedem Tagemehr.

Eines überraschte mich an ihr: ihrunerschütterlicher Mut. Das furchtbare Meer, daszerbrechliche Boot, Stürme, Leiden und Einsamkeit- alles das würde genügt haben, eine kräftigereFrau zu erschrecken, aber es schien keinenEindruck zu machen auf sie, die das Leben nur vonseiner lichtesten Seite kennengelernt hatte und dietrotz ihres feurigen Temperaments und ihreserhabenen Geistes doch sanft und zart war. Unddoch stimmte das nicht ganz. Sie fürchtete sichwohl, aber sie überwand ihre Furcht durch ihrenmoralischen Mut. Wohl war ihr Fleisch schwach.Aber ihr Geist, diese ätherische Lebensflamme,ruhig wie ihre Augen und sicher seiner Fortdauer imUniversum, beherrschte das Fleisch.

Wieder kamen Sturmtage, Tage und Nächte desSchreckens, an denen uns der Ozean mit seinenbrüllenden weißen Schaumwipfeln bedrohte undder Wind unser ringendes Boot mit Titanenfäusten

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packte. Und immer weiter wurden wir geschleudert,immer weiter nach Nordosten. In einem solchenSturm, dem schlimmsten, den wir überhaupt erlebthatten, warf ich zufällig einen Blick nach Lee. Wasich sah, konnte ich zunächst kaum glauben. Dieseschreckensvollen, schlaflosen Tage und Nächtehatten mich zweifellos wirr gemacht. Ich blickte aufMaud, um mich von der Wirklichkeit von Zeit undRaum zu überzeugen. Der Anblick ihrer lieben,feuchten Wangen, ihres fliegenden Haares undihrer tapferen braunen Augen bewies mir, daßmeine Augen gesund waren. Wieder wandte ichden Blick leewärts, und wieder sah ich denvorspringenden Felsen, schwarz, hoch und nackt,die rasende Brandung, die sich an seinem Fußebrach und ihren Gischt hoch hinaufschleuderte, unddie schwarze, unheilverkündende Küstenlinie, die,von einem mächtigen Gürtel umgeben, nachSüdwesten lief.

„Maud", rief ich, „Maud!"Sie wandte den Kopf und schaute. „Es kann

doch nicht Alaska sein!" stieß sie hervor.„Leider nein", antwortete ich und fragte: „Können

Sie schwimmen?"Sie schüttelte den Kopf.„Ich auch nicht", sagte ich. „Dann müssen wir

eben an Land, ohne zu schwimmen. Es muß jairgendwo eine Lücke zwischen den Klippen sein,durch die wir mit dem Boot hineinkönnen. Aber esgilt, schnell zu sein, sehr schnell - undaufzupassen."

Ich sprach mit einer Zuversicht, die ich, wie sie

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wohl wußte, nicht besaß, denn sie sah mich mitihrem ruhigen Blick an und sagte: „Ich habe Ihnennoch nicht gedankt für all das, was Sie für michgetan haben, aber..."

Sie zögerte, als wäre sie im Zweifel, wie sie ihreDankbarkeit am besten in Worte kleiden sollte.

„Nun?" sagte ich hart, denn es war mir nichtrecht, daß sie mir danken wollte.

„Sie können mir gern ein wenig helfen", lächeltesie.

„Ihre Verpflichtungen anzuerkennen, ehe Siesterben? Sicher nicht. Wir werden nicht sterben.Wir werden auf dieser Insel landen und es warmund gemütlich haben, ehe der Tag vergeht."

Ich sprach fest, glaubte aber selbst kein Wortdavon. Aber es war nicht die Furcht, die mich lügenließ. Ich fühlte keine Furcht, obgleich ich sicher war,den Tod in der kochenden Brandung zwischendiesen Felsen zu finden, denen wir uns raschnäherten. Es war unmöglich, Segel zu setzen undvon der Küste abzukommen. Der Wind hätte dasBoot sofort zum Kentern gebracht, es würdevollgeschlagen sein, sobald wir in ein Wellentalgesunken wären, - zudem schwamm das Segel, andie Reserveriemen gezurrt, als Seeanker vor uns.

Instinktiv rückten wir auf dem Boden des Bootesenger zusammen. Ich fühlte, wie sich ihre Handnach der meinen ausstreckte. Und so erwartetenwir wortlos das Ende. Wir waren nicht weit von derLinie, die der Wind mit der westlichen Ecke desVorgebirges bildete, und ich beobachtete sie in derHoffnung, daß irgendeine Strömung uns packen

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und vorbeiführen sollte, ehe wir die Brandungerreichten.

„Wir werden schon klarkommen", sagte ich miteiner Zuversicht, die aber weder mich noch sietäuschte.

„Bei Gott, wir kommen klar!" rief ich fünf Minutenspäter. Ich hatte hinter dem Vorgebirge eineLandzunge gesichtet, und als wir weit genug waren,konnten wir deutlich die Umrisse einer Buchtsehen, die tief ins Land hineinschnitt. Gleichzeitighörten wir ein andauerndes, ohrenbetäubendesGebrüll. Es glich fernem Donner und kam aus Lee,übertönte das Brausen der Brandung und fuhr demSturm geradewegs in die Zähne.

Als wir auf der Höhe des Vorgebirges waren,kam die ganze Bucht zum Vorschein - einehalbmondförmige, weißsandige Küste, an der sichdie Brandung brach und die mit Myriaden vonSeehunden bedeckt war. Sie waren die Urheberdes Gebrülls.

„Eine Robbenkolonie!" rief ich. „Jetzt sind wirwirklich gerettet. Hier muß es Menschen geben undKreuzer, die die Robben vor den Jägern schützen.Wahrscheinlich ist hier sogar eine Station." Als ichaber die gegen die Küste schlagende Brandungbeobachtete, sagte ich: „Schön ist das nichtgerade. Aber wenn die Götter uns freundlich sind,werden wir die Landzunge entlangtreiben und aneine Stelle kommen, wo wir trockenen Fußes dasLand erreichen können."

Und die Götter waren uns freundlich. Die beidenersten Landzungen liefen genau in der

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Windrichtung, als wir aber die zweite umfahrenhatten - und wir kamen ihr gefährlich nahe -,erblickten wir eine dritte, die parallel zu ihnen lief.Und dazwischen lag die Bucht! Sie schnitt tief insLand ein, und die jetzt einsetzende Flut trieb unshinter die Landzunge. Hier war die See ruhig, außereiner schweren, aber sanften Grunddünung; ichholte den Seeanker ein und begann zu rudern. Vonder Spitze aus wandte sich das Gestade in einerKurve nach Südwesten, bis sich zuletzt eine Buchtin der Bucht zeigte, ein kleiner, vom Landumschlossener Hafen, dessen Oberfläche wie einTeich war und nur leicht gekräuselt wurde, wennsich ein Hauch des Sturmes hereinverirrte undzurückprallte von den dräuenden Felswänden, dieetwa dreißig Meter landeinwärts lagen.

Hier waren keine Robben. Der Bootsstevenscheuerte gegen das harte Geröll. Ich sprangheraus und reichte Maud die Hand. Im nächstenAugenblick stand sie neben mir. Als meine Handsie losließ, faßte sie hastig meinen Arm. Da wankteich selbst und wäre fast in den Sand gestürzt. Eswar die überraschende Wirkung des Umstandes,daß alle Bewegung aufgehört hatte. Wir waren solange auf dem wogenden Meere gewesen, daß dasfeste Land eine Erschütterung für uns bedeutete.Wir erwarteten, die Küste auf und niederschwanken, die Felswände sich wie Schiffsseitenhin und her schwingen zu sehen, und als wir unsautomatisch anschickten, diesen erwartetenBewegungen zu widerstehen, brachte uns ihrNichteintreffen aus dem Gleichgewicht.

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„Ich muß mich wirklich setzen", sagte Maud mitnervösem Lachen und einer schwindligenBewegung, und dann setzte sie sich in den Sand.

Ich machte das Boot fest und setzte mich dannneben sie. So landeten wir auf Endeavor Island an,„landkrank" durch unseren langen Aufenthalt aufdem Meere.

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Zehntes Kapitel„Narr!" rief ich vor lauter Ärger. Ich hatte das

Boot ausgeladen, seinen Inhalt hoch auf denStrand geschleppt und war nun dabei, ein Feldlageraufzuschlagen. Am Strande gab es ein wenigTreibholz, und der Anblick einer Dose Kaffee, dieich aus der Speisekammer der Ghostmitgenommen, hatte mich an Feuer denken lassen.

„Esel! "fuhr ich fort.Aber Maud sagte mit sanftem Vorwurf: „Scht,

scht", und dann fragte sie, warum ich ein Esel sei.„Wir haben keine Streichhölzer", stöhnte ich.

„Nicht ein Streichholz habe ich mitgebracht. Undnun gibt es weder heißen Kaffee noch Suppe, Teeoder sonstwas."

„War es nicht - hm - Robinson Crusoe, der zweiHölzer gegeneinander rieb?" meinte sie bedächtig.

„Aber ich habe Dutzende von BerichtenSchiffbrüchiger gelesen, die es vergebensversuchten", antwortete ich. „Ich erinnere mich anWinters, einen Journalisten, der bekannt wurdedurch seine Schilderungen aus Alaska und Sibirien.Ich traf ihn einmal in Bibelot, und er erzählte mir,wie er versucht hatte, mit ein paar Hölzern Feuer zumachen. Es war sehr lustig, denn er erzählteglänzend, aber der Versuch mißglückte. Ichentsinne mich namentlich des Schlusses: ,MeineHerren, die Südseeinsulaner können es vielleicht,die Malaien mögen es tun, aber Sie können mirglauben: für einen Weißen ist es unmöglich!'"

„Na gut", sagte Maud fröhlich, „wir sind so lange

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ohne Feuer ausgekommen, daß ich nicht einsehe,warum wir es nicht noch länger könnten."

„Aber denken Sie an den Kaffee!" rief ich. „Undes ist sogar guter Kaffee. Ich habe ihn Wolf LarsensPrivatproviant entnommen. Und sehen Sie all dasschöne Holz!"

Ich gestehe, daß mir eine Tasse Kaffee sehr nottat, und später sollte ich erfahren, daß Maud aucheine kleine Schwäche für dieses Getränk hatte.Außerdem hatten wir uns so lange mit kalter Kostbegnügen müssen, daß wir innerlich wie äußerlichganz erstarrt waren. Etwas Warmes wäre unshöchst willkommen gewesen.

Aber Jammern half nichts, und so begann ich,aus dem Segel ein Zelt für Maud zu machen. Ichhatte es für eine Kleinigkeit gehalten, da ichRiemen, Mast, Baum, Bugspriet und eine MengeLeinen hatte. Da ich aber nicht die geringsteErfahrung besaß und jede Einzelheit erstausprobieren mußte, verging ein ganzer Tag, ehedas Zelt bereitstand, sie aufzunehmen. Und in derNacht mußte es auch noch regnen, so daß dasWasser hineinlief und Maud gezwungen war,wieder im Boot Schutz zu suchen.

Am nächsten Morgen grub ich eine Rinne umdas Zelt. Eine Stunde später fuhr plötzlich einstarker Windstoß von der Felswand hinter unsherab, riß das Zelt um und fegte es dreißig Schrittweit über den Sand. Maud lachte über meinbestürztes Gesicht, und ich sagte: „Sobald sich derWind gelegt hat, gedenke ich das Boot zu nehmenund die Insel zu erforschen. Es muß irgendwo eine

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Station mit Leuten geben. Und die Station muß vonSchiffen besucht werden. Irgendeine Regierungmuß die Robben beschützen. Aber ehe ichaufbreche, muß ich überzeugt sein, daß Sie es einbißchen bequem haben."

„Ich möchte Sie gern begleiten" war alles, wassie sagte.

„Es wäre besser, wenn Sie blieben. Sie habenwahrhaftig genug durchgemacht. Es ist ein reinesWunder, daß Sie es überstanden haben. Und eswird nicht angenehm sein, bei diesem regnerischenWetter zu rudern und zu segeln. Sie brauchenRuhe, und ich möchte, daß Sie bleiben und sichausruhen."

„Ich möchte Sie doch lieber begleiten", sagte sieleise, mit bittender Stimme. „Vielleicht könnte ichIhnen ein" - ihre Stimme zitterte - „ein wenig helfen.Und denken Sie, wenn Ihnen etwas zustieße undich allein hier zurückbliebe!"

„Oh, ich werde sehr vorsichtig sein", erwiderteich. „Und ich fahre nicht weit - nicht weiter, als daßich zur Nacht zurück sein kann. Ja, wenn ich ganzoffen sein soll, so hielte ich es für das beste, wennSie hierblieben und nichts täten, als sichauszuschlafen."

Sie wandte sich zu mir und sah mir in die Augen.Ihr Blick war fest, aber doch so sanft. „Bitte, bitte",sagte sie weich.

Ich zwang mich, hart zu bleiben, und schüttelteden Kopf. Sie sah mich immer noch erwartungsvollan. Ich versuchte, meine Weigerung in Worte zukleiden, aber es war unmöglich. Ich sah ihre Augen

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vor Freude leuchten und wußte, daß ich verlorenhatte. Jetzt war es mir unmöglich, nein zu sagen.

Am Nachmittag ließ der Wind nach, und wirtrafen unsere Vorbereitungen, um am nächstenMorgen aufzubrechen. Über Land konnte man vonunserer Bucht aus nicht in das Innere der Inselgelangen, denn die Felsen erhoben sich senkrecht,schlossen den ganzen Strand ein und traten zubeiden Seiten der Bucht in das tiefe Wasser.

Der Morgen brach trüb und grau, aber still an,und ich war früh auf und setzte das Boot instand.

„Narr! Esel! Schafskopf!" rief ich, als ich dachte,daß es Zeit wäre, Maud zu wecken, aber diesmalrief ich es froh und tanzte in scheinbarerVerzweiflung auf dem Strand herum.

Ihr Kopf kam unter einem Zipfel des Segels zumVorschein. „Was gibt es?" rief sie verschlafen, aberdoch neugierig.

„Kaffee!" rief ich. „Was meinen Sie zu einerTasse Kaffee? Heißen Kaffee? Brühheiß?"

„Du liebe Zeit", murmelte sie, „Sie haben mireinen tüchtigen Schrecken eingejagt, und das istrecht schlecht von Ihnen. Jetzt hatte ich mich schondamit abgefunden, daß es keinen gäbe, und daregen Sie mich mit solchen Vorspiegelungen auf!"

„Passen Sie auf!" sagte ich.In einer Kluft in den Felsen sammelte ich etwas

trockenes Holz, riß Streifen aus meinem Notizbuchund nahm aus der Munitionskiste eineSchrotpatrone. Ich entfernte mit meinem Messerden Ladepfropfen und streute das Pulver auf einflaches Felsstück. Dann nahm ich das Zündhütchen

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heraus und legte es in die Mitte des ausgestreutenPulvers. Jetzt war alles bereit. Maud sah vom Zeltaus zu. Das Papier in der Linken haltend, schlugich mit einem Stein, den ich in der Rechten hielt,auf das Zündhütchen. Ein Rauchwölkchen pufftehoch, eine Flamme, und der Rand des Papiersbrannte.

Maud klatschte vor Freude in die Hände.„Prometheus!" rief sie.

Ich war jedoch zu beschäftigt, um ihre Freude zubeachten. Das schwache Flämmchen mußteliebevoll gehegt werden, wenn es Kräfte sammelnund leben sollte. Ich nährte es mit einem Spänchennach dem andern, dann kamen kleine Ästchen andie Reihe, bis das Feuer schließlich knisternd diegrößeren Kloben erfaßte. Daß wir auf eine ödeInsel verschlagen würden, hatte ich nicht mit inmeine Berechnung gezogen, und nun hatten wirweder Kessel noch irgendwelche Kochgeräte. Ichbehalf mich mit der Konservenbüchse, die ich zumAusschöpfen des Bootes gebraucht hatte, und alssich unser Vorrat an leeren Konservendosen spätervermehrte, hatten wir eine ganz stattliche Reihevon Kochtöpfen aufzuweisen. Ich kochte dasWasser, aber Maud bereitete den Kaffee. Und wieder schmeckte! Ich steuerte gebratenesDosenfleisch, aufgeweichten Schiffszwieback undWasser bei. Das Frühstück gelang glänzend, undwir blieben viel länger am Feuer sitzen, als es sichfür unternehmungslustige Forschungsreisendestrenggenommen geziemt hätte, schlürften denheißen schwarzen Kaffee und erörterten unsere

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Lage.Ich war ganz sicher, daß wir in einer der Buchten

eine Station finden würden, denn ich wußte, daßdie Robbeninseln an der Beringsee in dieser Weisegeschützt wurden, aber Maud stellte - ich glaube,um uns vor Enttäuschungen zu bewahren - dieTheorie auf, daß wir eine ganz unbekannteRobbeninsel entdeckt hätten. Sie war jedoch gutgelaunt und wollte nichts davon hören, daß unsereLage Anlaß zu ernsten Besorgnissen gebenkönnte.

„Wenn Sie recht haben", sagte ich, „dannmüssen wir uns darauf vorbereiten, hier zuüberwintern. Unsere Lebensmittel würden nichtreichen, aber wir hätten ja die Robben. Sieverschwinden im Herbst, und ich müßte baldbeginnen, uns einen Vorrat an Fleisch anzulegen.Dann müßten wir Hütten bauen und Treibholzsammeln. Wir müßten auch Robbentran auslassen,um Leuchtmaterial zu haben. Überhaupt hätten wiralle Hände voll zu tun, wenn wir wirklich die Inselunbewohnt fänden. Aber das werden wir nicht,denke ich."

Doch sie hatte recht. Wir segelten am Winde dieKüste entlang, suchten sie mit unseren Gläsern abund landeten hier und dort, ohne eine Spurmenschlichen Lebens zu finden. Wir erfuhrenjedoch, daß wir nicht die ersten auf der Insel waren.Hoch auf dem Strande der zweiten Bucht, von derunseren gerechnet, entdeckten wir das zersplitterteWrack eines Bootes - eines Robbenfängerbootes,denn die Dollen waren mit geflochtenem Stroh

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umwunden, an Steuerbord vorn befand sich einGewehrgestell, und mit weißen Buchstaben standda - kaum noch leserlich - Gazelle No. 2. Das Bootmußte lange hier gelegen haben, denn es war halbmit Sand gefüllt, und das zersplitterte Holz war soverwittert, wie es nur wird, wenn es lange Wind undWetter ausgesetzt ist. Am Achtersitz fand ich eineglatte Schrotflinte und ein abgebrochenesTaschenmesser, das so verrostet war, daß mankaum noch erkennen konnte, aus welchem Materiales bestand.

„Die sind jedenfalls von hier weggekommen!"sagte ich fröhlich, aber ich spürte, wie mir das Herzsank, und ich hatte das unangenehme Gefühl, daßirgendwo auf diesem Strande gebleichte Knochenliegen mußten. Ich wollte nicht, daß MaudsStimmung durch einen solchen Fund bedrücktwürde, und so wandte ich unser Boot wiederseewärts und lief um die Nordspitze der Insel. DieSüdküste wies keinen Strand auf, und früh amNachmittag umsegelten wir das schwarzeVorgebirge und beendeten damit die Umsegelungder Insel. Ich schätzte ihren Umfang auf vierzigKilometer, ihre Breite mochte zwischen drei undsieben Kilometer schwanken, während ich die Zahlder Robben an ihrer Küste bei vorsichtigerSchätzung auf zweihunderttausend veranschlagte.

Im Südwesten war die Insel am höchsten, dieVorgebirge und das Innere fielen allmählich nachNordosten ab, wo sie sich nur wenige Fuß über denMeeresspiegel erhob. Mit Ausnahme unsererkleinen Bucht stieg die Küste von den Schären

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sanft an und bildete eine Felsenwiese, wie ich esnennen möchte, die stellenweise mit Moos undTundragras bewachsen war. Hier tummelten sichdie Robben, die alten Bullen mit ihren Harems,während die jungen Bullen unter sich blieben.

Mehr als diese kurze Beschreibung verdientEndeavor Island nicht. Wo es keine Felsen gab,war sie feucht und sumpfig. Stürme und Meerpeitschten sie, und die Luft erdröhnte unaufhörlichvon dem Brüllen der zweihunderttausend Seetiere.Es war ein trauriger, elender Aufenthalt. Maud, diemich auf die Enttäuschung vorbereitet hatte undden ganzen Tag lebhaft und munter gewesen war,war am Ende ihrer Selbstbeherrschung, als wirwieder in unserer kleinen Bucht landeten. Siebemühte sich tapfer, es mir zu verbergen, als ichaber ein neues Feuer anzündete, wußte ich, daßsie ihr Schluchzen unter den Decken in ihrem Zeltzu ersticken suchte.

Jetzt war die Reihe, den Kopf hochzuhalten, anmir.

Ich schlief immer noch im Boot, und ich lag dieseNacht lange wach, starrte zu den ersten Sternenempor, die ich seit vielen Nächten sah, undüberdachte unsere Lage. Ein Verantwortungsgefühldieser Art war mir etwas ganz Neues. Wolf Larsenhatte recht gehabt. Ich hatte auf den Füßen meinesVaters gestanden. Meine Rechtsbeistände undgeschäftlichen Berater hatten meine Interessenwahrgenommen. Ich selbst hatte keinerleiVerantwortung gekannt. Erst auf der Ghost hatteich gelernt, die Verantwortung für mich selbst zu

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tragen.Und jetzt befand ich mich zum erstenmal in

meinem Leben in der Lage, für einen anderenMenschen verantwortlich sein zu müssen. Und essollte die schwerste Verantwortung sein, die es füreinen Menschen überhaupt gibt, denn sie war fürmich die einzige Frau auf der Welt - die einzigekleine Frau, wie ich sie in Gedanken zu nennenpflegte.

Kein Wunder, daß wir der Insel den NamenEndeavor Island, Insel der Mühsal, gaben. ZweiWochen mühten wir uns ab, um eine Hütte zubauen. Maud sammelte viele der Steine, die ichzum Bau der Mauer gebrauchte, und wollte nichthören, wenn ich sie beschwor, sich auszuruhen.Schließlich ging sie jedoch einen Vergleich mit mirein und übernahm die leichten Arbeiten: dasKochen und das Sammeln von Treibholz und Moosfür unseren Winterbedarf.

Die Wände der Hütte ließen sich ohneSchwierigkeiten errichten, und alles ging leicht vonder Hand, bis ich vor der Frage stand, wie ich dasDach verfertigen sollte. Welchen Zweck hatten dievier Wände ohne Dach? Und woraus sollten wir dasDach machen? Wir hatten allerdings dieüberzähligen Riemen. Sie konnten als Sparrendienen. Aber womit sollte ich sie decken? Mooshatte keinen Zweck. Tundragras war nicht zugebrauchen. Das Segel brauchten wir für das Boot,und die Persenning ließ schon Wasser durch.

„Winters hat Walroßhäute für seine Hüttebenutzt", sagte ich.

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„Wir haben ja Robben!" rief sie.So begann am nächsten Tag die Jagd.Ich konnte nicht schießen und machte mich

daran, es zu lernen. Als ich aber einige dreißigPatronen auf drei Robben verschwendet hatte, sahich ein, daß unsere Munition erschöpft sein mußte,ehe ich genügende Übung im Schießen erlangthatte. Ich hatte acht Patronen zumFeueranmachengebraucht, bis ich auf den Einfallkam, die glimmende Asche mit feuchtem Moos zubedecken, denn wir hatten kaum noch hundertPatronen.

„Wir müssen die Robben mit Knüppelnerschlagen", verkündete ich Maud, als ich mich vonmeiner Unmöglichkeit als Schütze überzeugt hatte.„Ich habe die Robbenjäger von dieser Art, die Tierezu töten, reden hören."

„Die Tiere sind so hübsch", hielt sie mirentgegen. „Das ist nicht auszudenken. Es ist sofurchtbar brutal, so ganz anders als Schießen."

„Das Dach muß gemacht werden", sagte ichgrimmig. „Der Winter steht vor der Tür. Es handeltsich einfach darum: Wir oder sie. Es ist einUnglück, daß wir nicht mehr Munition haben, aberich glaube übrigens, daß sie weniger leiden, wennsie mit dem Knüppel niedergeschlagen, als wennsie zusammengeschossen werden."

Ich ruderte an die anstoßende Bucht, ganz andas Ufer, wo die brüllenden Robben zu Tausendenlagen - wir mußten förmlich schreien, um unseinander verständlich zu machen. „Ich weiß, daßman sie mit Knüppeln erschlägt", sagte ich mit

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einem Versuch, mich anzufeuern, indem ichzweifelnd auf einen großen Bullen blickte, der,keine zehn Meter entfernt, sich auf dieVorderflossen erhob und mich aufmerksambetrachtete. „Aber die Frage ist, wie?"

„Lassen Sie uns Tundragras sammeln und dasDach damit decken", sagte Maud.

Sie war ebenso ängstlich wie ich bei derAussicht auf den bevorstehenden Kampf, und daßwir Grund genug dazu hatten, mußten wir unsselbst sagen, als wir jetzt aus der Nähe dieschimmernden Zahnreihen und die hundeähnlichenMäuler sahen.

„Ich dachte immer, daß sie sich vor denMenschen fürchteten", sagte sie.

„Das tun sie wohl auch", meinte ich einenAugenblick später, als ich das Boot einigeRuderschläge näher an Land gebracht hatte.„Wenn ich kühn an Land ginge, würden sie sichvielleicht aus dem Staube machen." Aber ichzögerte doch.

„Ich habe einmal von einem Manne gehört, derin eine Brutstätte wilder Gänse eindrang", sagteMaud. „Sie töteten ihn."

„Die Gänse?"„Ja, die Gänse. Mein Bruder hat mir davon

erzählt."„Aber ich weiß, daß man sie mit Knüppeln

erschlägt", sagte ich hartnäckig.„Ich glaube, Tundragras würde ein ebenso gutes

Dach abgeben", meinte sie.Ihre Worte verfehlten ihre Wirkung und trieben

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mich erst recht an. Ich konnte unmöglich vor ihrenAugen feige sein. „Los!" sagte ich, indem ich denRiemen durchs Wasser zog und den Bug auf denStrand laufen ließ.

Ich stieg aus und rückte tapfer einemlangmähnigen Bullen entgegen, der dort inmittenseines Harems lag.

Ich war mit dem gewöhnlichen Knüppelbewaffnet, mit dem die Ruderer dieangeschossenen Robben erschlagen, die danndurch die Jäger mit einem Haken an Bord gezogenwerden. Der Knüppel war nur einen halben Meterlang, und in meiner prachtvollen Unwissenheit ließich mir nicht träumen, daß der Knüppel, der zumRobbenschlagen an Land gebraucht wird, fasteineinhalb Meter mißt. Die Kühe watschelten miraus dem Wege, und die Entfernung zwischen mirund dem Bullen verringerte sich. Er erhob sich aufseine Flossen und schien sehr beleidigt zu sein. Eswaren jetzt noch einige Meter zwischen uns, aberich rückte immer weiter vor in der Erwartung, daßer kehrtmachen und davonlaufen würde.

Als ich noch zwei Meter entfernt war, überkammich plötzlich ein furchtbarer Schrecken. Wasgeschah, wenn er nicht davonlief? Nun, dannwürde ich ihn eben niederschlagen, antwortete ichmir. In meiner Angst hatte ich ganz vergessen, daßich nicht gekommen war, um den Bullen in dieFlucht zu jagen, sondern um ihn zu töten. Und indiesem Augenblick schnaubte er und stürzte sichknurrend auf mich. SeineAugen flammten, seinMaul stand weit offen, die Zähne leuchteten

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grausam weiß. Ich gestehe ohne Scham, daß ichmeinerseits kehrtmachte und das Hasenpanierergriff. Er bewegte sich zwar ungeschickt, war aberdoch schnell. Nur zwei Schritte trennten mich nochvon ihm, als ich ins Boot taumelte. Ich wehrte ihnmit dem Riemen ab, und seine Zähne gruben sichtief ins Blatt. Das feste Holz zersplitterte wie eineEierschale. Maud und ich waren bestürzt. Imnächsten Augenblick war er unter dem Boot, packtemit seinen Zähnen den Kiel und schüttelte unsheftig.

„Nein, nein!" rief Maud. „Lassen Sie unsumkehren."

Ich schüttelte den Kopf. „Was andere Männerkönnen, kann ich auch, und ich weiß, daß andereMänner Robben erschlagen haben. Aber ichglaube, das nächstemal werde ich die großenBullen in Ruhe lassen."

Ich ruderte einige hundert Meter den Strandentlang, um meine Nerven zu beruhigen, und gingdann wieder an Land.

„Nur vorsichtig sein!" rief sie mir nach.Ich nickte und schritt weiter, um einen

Flankenangriff auf den nächsten Harem zumachen. Es ging auch alles gut, bis ich einenSchlag auf den Kopf einer Kuh richtete und zu kurzschlug. Sie schnaufte und watschelte schwerfälligfort. Ich lief hinterher und schlug wieder, traf aberstatt des Kopfes die Schulter.

„Aufgepaßt!" hörte ich Maud rufen.In meiner Aufregung hatte ich auf nichts sonst

geachtet, und als ich jetzt aufblickte, sah ich den

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Herrn des Harems hinter mir hersetzen. Wieder flohich ins Boot, aber diesmal machte Maud nicht denVorschlag, daß wir umkehren sollten.

„Ich denke, es wäre besser, die Harems in Ruhezu lassen und es mit den einzelnen, harmlosenRobben zu versuchen", sagte sie.

„Mir scheint, Ihre kriegerischen Instinkte sinderwacht", lachte ich.

Sie errötete tief. „Ich gebe zu, daß ich michebenso ungern wie Sie in eine Niederlage schickenmöchte. Aber Ihnen fehlt die richtige Methode. Ja,wenn Sie nicht so nahe an sie heranzugehenbrauchten -"

„Das ist es ja!" rief ich. „Ich brauche einenlängeren Knüppel. Und da ist der zerbrocheneRiemen gerade recht." Ich zeigte auf einen jungenBullen im Wasser. „Wir wollen ihn beobachten undihm folgen, wenn er an Land geht."

Das Tier schwamm direkt an den Strand undkletterte in eine kleine Lücke zwischen zweiHarems, deren Herren Warnrufe ertönen ließen, ihnjedoch nicht angriffen. Wir sahen, wie er sichmühsam auf einem offenbar vorgezeichneten Wegezwischen den Harems hindurchwand.

„Also los jetzt!" sagte ich und trat an Land, aberich gestehe, daß mir das Herz bis an den Halsschlug bei dem Gedanken, daß ich mitten durchdiese ungeheure Herde schreiten sollte.

„Ich glaube, es wäre klug, das Bootfestzumachen", sagte Maud.

Sie war mit mir ausgestiegen, und ichbetrachtete sie mit Verwunderung.

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Sie nickte entschieden. „Ja, ich begleite Sie, esist also am besten, Sie sichern das Boot undbewaffnen mich auch mit einem Knüppel."

„Lassen Sie uns umkehren", sagte ich mutlos.„Ich denke, Tundragras wird es auch tun."

„Sie wissen gut, daß es nicht geht", lautete ihreAntwort. „Soll ich vorausgehen?"

Achselzuckend, aber auch mit wärmsterBewunderung für diese Frau, gab ich ihr denzerbrochenen Riemen und nahm selbst einenanderen. Die ersten Schritte unserer Wanderungmachten wir mit großer Angst. Einmal schrie Maudlaut, als eine Kuh neugierig ihren Schuhbeschnüffelte, und ich beschleunigte meine Schritteaus demselben Grunde. Aber außer einigenwarnenden Kläff lauten von beiden Seiten gab eskeine Zeichen von Feindseligkeit. Es war einRobbenbrutplatz, der noch nie einen Jägergesehen hatte, die Robben waren daher friedlichund furchtlos zugleich. Mitten in der Herde war derLärm entsetzlich, fast schwindelerregend. Ich bliebstehen und lächelte Maud ermutigend zu, denn ichhatte mein Gleichgewicht rascher als siewiedergefunden. Ich konnte sehen, daß sie sichsehr fürchtete.

Sie trat ganz nahe an mich heran und rief: „Ichfürchte mich schrecklich!"

Aber ich hatte meine Furcht überwunden. Dasfriedliche Benehmen der Robben hatte michermutigt. Maud dagegen zitterte vor Angst.

Eine Viertelstunde landeinwärts stießen wir aufdie Holluschickis, gewandte junge Bullen, die sich

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hier in der Einsamkeit ihres Junggesellenlebensaustobten und Kraft sammelten für die Tage, da siesich die Würde von Ehemännern erkämpfen sollten.

Jetzt ging alles glatt. Ich wußte genau, was ichzu tun hatte. Ich schrie, machte drohendeBewegungen mit dem Knüppel und stieß diefaulsten sogar mit dem Riemen, und auf dieseWeise schnitt ich schnell etwa zwanzig der jungenBurschen von ihren Kameraden ab. Sobald einervon ihnen den Versuch machte, zum Wasserdurchzubrechen, stellte ich mich ihm in den Weg.Maud beteiligte sich heftig am Treiben, und ihrSchreien und Schwingen mit dem abgebrochenenRiemen bedeutete eine große Hilfe für mich. Ichbemerkte aber, daß sie hin und wieder ein Tierdurchschlüpfen ließ, wenn es besonders matt undmitgenommen aussah. Versuchte jedoch eines,sich kriegerisch zu widersetzen, dann sah ich, wieihre Augen leuchteten und sie keck mit demKnüppel zuschlug.

Ich trieb die kleine Herde - es war jetzt noch einDutzend, den übrigen hatte sie die Flucht erlaubt -einige hundert Schritte weiter landeinwärts, und alsMaud mich einholte, hatte ich bereits dasAbschlachten beendet und war dabei, die Tiereabzuhäuten. Eine Stunde später machten wir unsstolz auf den Rückweg, den Pfad zwischen denHarems entlang. Zweimal machten wir noch denWeg und kehrten mit Häuten beladen zurück, dannglaubte ich genug für unser Dach zu haben. Ichsetzte das Segel, machte einen Schlag aus derBucht

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heraus und fuhr mit dem nächsten Schlage inunseren kleinen Hafen hinein.

„Es ist gerade wie eine Heimkehr", sagte Maud,als ich das Boot auf den Strand laufen ließ.

Ihre Worte weckten ein zitterndes Echo inmeiner Seele, alles war mir so lieb und vertraut,und ich sagte: „Mir ist, als hätte ich stets diesesLeben gelebt. Die Welt der Bücher undBuchgelehrten ist so unwirklich, eher Traum alsTatsache. Es ist sicher, daß ich all meine Tagegejagt und gekämpft habe. Und Sie scheinen auchein Teil davon zu sein. Sie sind -", ich war nahedaran, „meine Frau, meine Gefährtin" zu sagen,besann mich aber noch und sagte schnell: „Siehaben die Prüfung gut bestanden."

Aber ihr Ohr hatte mein Stocken bemerkt, undsie warf mir einen raschen Blick zu. „Das wolltenSie nicht sagen."

„Nein, sondern daß die große Dichterin MaudBrewster jetzt das Leben einer Wilden führt undsich glänzend damit abfindet", sagte ich leichthin.

„Oh!" war alles, was sie antwortete. Aber ichhätte schwören mögen, einen Klang vonEnttäuschung in ihrer Stimme zu hören.

Doch „meine Frau, meine Gefährtin" hallte in mirden Rest des Tages und noch an manchem andernTag nach, nie aber lauter als an diesem Abend.

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Elftes Kapitel„Es wird übel riechen", sagte ich, „aber es wird

uns jedenfalls vor Regen und Schnee schützen."Wir musterten das fertige Dach aus Robbenfellen.„Es ist ziemlich plump, aber es erfüllt seinen Zweck,und das ist die Hauptsache", fuhr ich fort in derHoffnung, ein Lob aus ihrem Munde zu hören.

Und sie klatschte in die Hände und erklärte, daßsie außerordentlich zufrieden sei.

„Aber es ist dunkel hier drinnen", sagte sie einenAugenblick später, und ihre Schultern zuckten ineinem unwillkürlichen Schauder.

„Sie hätten mich daran erinnern sollen, einFenster zu machen, als wir die Wände bauten",sagte ich. „Das war Ihre Sache, und Sie hätten dieNotwendigkeit eines Fensters einsehen müssen."

„Ich sehe nie, was am nächsten liegt", erwidertesie lachend. „Außerdem brauchen Sie ja aber nurein Loch in die Wand zu hauen."

„Das stimmt schon. Daran hatte ich auch schongedacht", antwortete ich, das weise Haupt wiegend.„Aber haben Sie Fensterglas bestellt? Rufen Siebeim Glaser an - 4451 ist, glaube ich, die Nummer -, und geben Sie ihm Größe und Art der Scheibean." „Das heißt -", begann sie. „Kein Fenster."

Die Hütte war natürlich finster und häßlich undwäre in einem zivilisierten Lande kaum gut genugals Schweinekoben gewesen, uns aber, die wir alleLeiden in einem offenen Boote erlebt hatten,erschien sie als ein gemütliches kleines Haus. Wirsorgten für Licht und Wärme mit Hilfe von

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Robbentran und einem aus Baumwolle gedrehtenDocht, dann begann die Jagd, um uns Fleisch fürden Winter zu verschaffen, sowie der Bau einerzweiten Hütte. Jetzt war es eine Kleinigkeit,morgens auszuziehen und gegen Mittag mit einerganzen Bootsladung Robben heimzukehren. Undwährend ich an der zweiten Hütte baute, ließ Maudden Speck zu Tran aus und unterhielt einschwelendes Feuer unter dem Fleisch. Ich hattegehört, wie man auf der Prärie Büffelfleisch inStreifen schneidet und an der Luft trocknet, undnun schnitten wir unser Robbenfleisch in Streifen,hängten es in den Rauch, und es wurde prachtvollgeräuchert.

Der Bau der zweiten Hütte ging leichtervonstatten, denn ich ließ sie direkt an die erstestoßen, so daß sie nur drei Wände brauchte. Aberdas alles bedeutete doch Arbeit. Maud und ichschafften vom frühen Morgen bis zum Einbruch derDunkelheit, wir arbeiteten bis an die Grenzeunserer Kraft, so daß wir, wenn die Nacht kam, steifvor Müdigkeit ins Bett krochen und den Schlaf derErschöpfung wie die Tiere schliefen. Und docherklärte Maud, daß sie sich in ihrem ganzen Lebennie besser und gesünder gefühlt hätte. Bei mir wardasselbe der Fall, aber sie war so zart, daß ichfürchtete, sie würde zusammenbrechen. Immerwieder sah ich, wie sie sich, nach Erschöpfung ihrerletzten Kräfte, lang auf den Boden legte -ihre Art,sich auszuruhen und wieder zu Kräften zukommen. Und dann stand sie auf und arbeitete wienur je. Woher sie die Kraft dazu nahm, war mir ein

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Rätsel.„Denken Sie an die lange Winterruhe", erwiderte

sie auf meine Ermahnungen. „Dann werden wirnoch nach Arbeit schreien!"

An dem Abend, als das Dach meiner Hütte fertigwar, hielten wir eine Art Einzugsschmaus. Es waram Ende eines dreitägigen heftigen Sturmes, dervon Südost ganz nach Nordost herumgeschwungenwar und nun direkt auf unsere Insel wehte. In derAußenbucht donnerte die Brandung gegen dieKüste, und selbst in unserm ganz von Landumschlossenen Innenhafen befand sich dasWasser in starker Bewegung. Die Bergseite derInsel schützte uns nicht vor dem Winde, und er pfiffund heulte um die Hütte, daß ich zeitweisefürchtete, die Mauern würden nicht standhalten.Das Dach, das ich wie ein Trommelfell gespanntund für ganz dicht gehalten hatte, bauschte sich beijedem Windstoß und ließ Wasserspritzer durch,und in den Mauern zeigten sich unzählige Lücken,trotz aller Mühe, die Maud sich gegeben hatte, umsie mit Moos abzudichten. Aber der Tran branntehell, und wir fühlten uns trotz alledem warm undbehaglich.

Es war in der Tat ein angenehmer Abend, undwir fühlten uns wohl und sicher. Wir hatten unsnicht allein mit dem Gedanken vertraut gemacht,hier überwintern zu müssen, wir hatten auch bereitsunsere Vorbereitungen getroffen. Jetzt konnten unsdie Robben gern verlassen, um ihre rätselhafteReise nach dem Süden anzutreten: Wir hattenvorgesorgt. Und auch der Sturm hatte seine

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Schrecken für uns verloren. Wir waren nicht nurwarm und trocken und vorm Winde geschützt, wirhatten auch die weichsten, kostbarsten Betten, dieaus Moos gemacht werden konnten.

Als sie sich erhob, um zu gehen, wandte sie sichmit einem rätselhaften Ausdruck zu mir und sagte:„Es wird etwas geschehen, etwas, das uns betrifft.Ich fühle es. Es kommt etwas, kommt zu uns. Jetzt.Ich weiß nicht, was es ist, aber es kommt."

„Etwas Gutes oder Schlechtes?" fragte ich.Sie schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht,

aber es ist irgendwo dort." Sie wies in die Richtungvon See und Wind.

„Wir sind an einer geschützten Küste", lachte ich,„und ich muß sagen, daß es besser ist, hier zu sein,als an einem solchen Abend anzukommen."

Ihre Augen blickten tapfer in die meinen.„Und Sie fühlen sich wohl? Völlig wohl?"„Ich habe mich nie wohler gefühlt", lautete ihre

Antwort.Wir sprachen noch ein Weilchen miteinander, bis

sie ging.„Gute Nacht, Maud", sagte ich.„Gute Nacht, Humphrey", sagte sie.Ohne daß wir darüber gesprochen hätten,

nannten wir uns, wie etwas ganzSelbstverständliches, beim Vornamen. Ich hätte siein diesem Augenblick in meine Arme reißen und anmich pressen können. Draußen in der Welt, der wirangehörten, würden wir es sicher getan haben. Hieraber hemmte mich die merkwürdige Situation, inder wir uns befanden.

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Als ich dann aber allein in meiner kleinen Hüttewar, durchglühte mich ein schönes Gefühl vonZufriedenheit. Und ich wußte, daß es ein Bandzwischen uns gab, ein schweigendes Etwas, dasfrüher nicht gewesen war.

Ich erwachte mit einem drückenden,geheimnisvollen Gefühl. Etwas in meinerUmgebung schien mir zu fehlen. Aber dasGeheimnisvolle und Drückende verschwand, als icheinige Augenblicke wach gelegen hatte und mirdarüber klargeworden war, was mir fehlte: Es warder Wind. Ich war in einem Zustand derNervenanspannung eingeschlafen, wie man ihnbeim Vernehmen andauernder Geräusche oderBewegungen bekommt, und erwacht war ich nochgespannt und vorbereitet auf einen Druck, der nunnicht mehr auf mir lastete.

Es war seit Monaten die erste Nacht, die ichunter Dach verbracht hatte, und einige Minutenlang genoß ich das herrliche Gefühl, mollig untermeinen Decken zu liegen, ohne Nebel undSpritzern ausgesetzt zu sein. Als ich michangekleidet hatte und die Tür öffnete, hörte ichnoch die Wellen gegen den Strand schlagen undvom Sturm der vergangenen Nacht schwatzen. Eswar ein klarer Tag, und die Sonne schien. Ich hattelange geschlafen und trat nun mit plötzlicherwachter Energie aus meiner Hütte, entschlossen,die verlorene Zeit einzuholen, wie es sich für einenBewohner der Mühsalinsel ziemte. Draußen aberblieb ich plötzlich stehen. Ich mußte wohl meinenAugen trauen, und doch war ich einen Augenblick

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betäubt von dem, was sich mir offenbarte. Dort amStrande, keine zwanzig Meter entfernt, lag einentmastetes Schiff. Masten und Spieren, Wanten,Schote, Leinen und zerfetzte Segel hingen in einemGewirr über Bord. Ich rieb mir die Augen. Es wardie Kombüse, die wir gezimmert hatten, es warendie mir so vertraute Achterhütte und die niedrigeKajüte, die sich kaum über die Reling erhob. Es wardie Ghost.

Welche Laune des Schicksals hatte siehierhergeführt, gerade hierher? Welcherunglaubliche Zufall? Ich blickte auf die finstere,unübersteigbare Felswand hinter mir und fühltetiefe Verzweiflung. Entrinnen war hoffnungslos,ganz unmöglich. Ich dachte an Maud, die in derHütte schlief, welche wir erbaut hatten. Dann wurdemir schwarz vor Augen.

Wahrscheinlich war es nur der Bruchteil einerSekunde, aber mir erschien es wie eine Ewigkeit,bis ich wieder zu mir kam. Dort lag die Ghost, denBug gegen die Küste. Ihr zersplitterter Bugsprietragte über den Strand, das Gewirr ihrer Spierenschlug gegen die dunkle Schiffsseite, wenn dieWellen sie hoben.

Plötzlich fiel mir der seltsame Umstand auf, daßsich nichts an Bord regte. Müde vom nächtlichenKampf mit der See, mochten alle noch schlafen.Mein nächster Gedanke war, daß Maud und ichdoch noch entkommen könnten. Wenn wir das Booterreichten und um die Landzunge fuhren, ehejemand erwachte?

Ich wollte sie rufen und sofort mit ihr aufbrechen,

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als ich mich entsann, wie klein die Insel war. Wirkonnten uns nicht auf ihr verstecken. Uns bliebnichts als das unermeßliche, mitleidlose Meer. Ichdachte an unsere gemütlichen kleinen Hütten, anunsere Vorräte an Fleisch, Tran, Moos und Holz,und mir war klar, daß wir die winterliche See unddie schweren Stürme, die kommen mußten, nieüberstehen konnten.

So stand ich zögernd vor ihrer Tür. Es warunmöglich, unmöglich! Ein wilder Gedanke fuhr mirdurch den Kopf: sie töten, während sie schlief. Aberdann faßte ich, wie in einer Erleichterung, einenbesseren Entschluß.

Alle schliefen. Warum nicht jetzt an Bord derGhost kriechen - ich kannte ja den Weg zu WolfLarsens Koje - und ihn töten, ehe er erwachte?Dann - nun, dann würden wir ja sehen. War er ersttot, dann war Zeit, an alles andere zu denken. Undaußerdem: Wie die Lage sich auch gestaltenmochte - schlechter, als sie jetzt war, konnte siekaum werden.

Mein Messer hing mir an der Hüfte. Ich gingwieder in die Hütte, um die Büchse zu holen,vergewisserte mich, daß sie geladen war, undschritt zur Ghost hinab. Mit einiger Schwierigkeit,und nicht ohne mich bis auf die Haut zudurchnässen, kletterte ich an Bord. Die Backlukestand offen. Ich blieb stehen, um den Atemzügender Mannschaft zu lauschen, aber nichts regte sich.Ich mußte keuchen bei dem Gedanken, der mirplötzlich durch den Kopf fuhr: Wenn die Ghostverlassen war! Wieder lauschte ich. Nichts.

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Vorsichtig stieg ich die Schiffstreppe hinab. DerRaum strömte den muffigen, kalten Geruch aus,der einer leerstehenden Wohnung anhaftet. Ringsüber den Fußboden verstreut lagen abgelegteKleidungsstücke, alte Seestiefel, zerlöchertesÖlzeug - all die wertlosen Dinge, die sich währendeiner langen Fahrt in der Back ansammeln.

In größter Hast verlassen! war meineSchlußfolgerung, als ich wieder an Deck stieg. DieHoffnung wurde wieder lebendig in meiner Brust,und ich sah mich mit größter Kaltblütigkeit um. Ichbemerkte, daß die Boote fehlten. DasZwischendeck erzählte dieselbe Geschichte wie dieBack. Auch die Jäger hatten eiligst ihreHabseligkeiten zusammengepackt. Die Ghost warverlassen. Sie gehörte Maud und mir. Ich dachte andie Vorräte und an die Apotheke unter der Kajüte,und mir kam der Einfall, Maud mit etwas Gutemzum Frühstück zu überraschen.

Die Erleichterung und das Bewußtsein, daß ichdie schreckliche Tat, derentwegen ich gekommenwar, nicht auszuführen brauchte, beseelten michmit kindlichem Eifer. Ich ging auf die Laufbrücke,indem ich zwei Stufen auf einmal nahm, und dachtean nichts Bestimmtes, fühlte nichts außer Freudeund der Hoffnung, daß Maud schlafen würde, bismeine Frühstücksüberraschung fertig war. Als ichum die Kombüse bog, dachte ich mit neuer Freudeund Befriedigung an die prächtigen Kochgerätedrinnen. Ich sprang auf den Rand der Achterhütteund sah - Wolf Larsen. So überwältigt, so betäubtwar ich vor Überraschung, daß ich noch drei oder

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vier Schritte weiterging, ohne anhalten zu können.Er stand auf der Laufbrücke - nur Kopf undSchultern sichtbar - und starrte mir gerade insGesicht. Seine Arme ruhten auf der halbgeöffnetenSchiebeluke. Er machte keine Bewegung - er standnur da und starrte mich an. Ich begann zu zittern.Das alte Gefühl von Übelkeit überkam mich. Ichlegte die Hand auf den Rand der Hütte, um mich zustützen. Meine Lippen schienen plötzlichausgetrocknet zu sein, und ich befeuchtete sie fürden Fall, daß ich sprechen sollte. Meine Augenwichen nicht eine Sekunde von ihm. Keiner von unsbeiden sprach.

In seinem Schweigen, seiner Unbeweglichkeitlag etwas Unheilverkündendes. All meine alteFurcht kehrte zurück, und dazu kam eine neue, diehundertmal größer war. Und so standen wir da undstarrten uns an. Ich wurde mir der Notwendigkeitbewußt zu handeln. Aber meine alte Hilflosigkeithatte mich wieder gepackt, und so wartete ich, daßer die Initiative ergreifen sollte. Die Augenblickeschwanden, und ich sah plötzlich, daß meine Lagedieselbe war wie damals, als ich mich dem großenRobbenbullen genähert hatte: Die Absicht, ihn zutöten, wurde verdrängt von dem Wunsche, ihnfortlaufen zu sehen. Aber endlich dachte ich dochdaran, daß ich gekommen war, um selbst zuhandeln, nicht, um Wolf Larsen das Heft in dieHand zu geben.

Ich spannte beide Hähne der Büchse undrichtete den Lauf auf ihn. Hätte er sich bewegt oderversucht, sich von der Laufbrücke auf mich zu

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stürzen, ich würde ihn niedergeschossen haben.Aber er blieb unbeweglich stehen und starrte michweiter an. Und wie ich ihm, die erhobene Büchse inden Händen, ins Gesicht blickte, hatte ich Zeit zusehen, wie verstört und abgezehrt er aussah. Eswar, als hätte eine furchtbare Gemütsbewegung esverwüstet. Die Wangen waren eingesunken, dieStirn war gerunzelt und sorgenvoll. Seltsamerschienen mir seine Augen, und zwar nicht nur imAusdruck, sondern in ihrer physischenBeschaffenheit, als ob Sehnerven undBewegungsmuskeln irgendwie beschädigt wärenund die Augäpfel sich verrückt hätten.

Alles dies sah ich, denn da mein Hirn jetzt mitungeheurer Schnelligkeit arbeitete, fuhren mirtausend Gedanken durch den Kopf, und dochkonnte ich nicht abdrücken. Ich senkte die Büchseund trat an die Ecke der Kajüte, hauptsächlich ummeine Nerven zu beruhigen und dann wieder zuzielen, aber auch, um näher an ihnheranzukommen. Wieder hob ich die Waffe. Ich warjetzt kaum mehr als Armeslänge von ihm entfernt.Es gab keine Hoffnung mehr für ihn. Ich hattemeinen Entschluß gefaßt. Es war unmöglich, ihn zuverfehlen, ein so schlechter Schütze ich auch seinmochte. Und doch kämpfte ich mit mir und konntenicht abdrücken.

„Nun?" fragte er ungeduldig.Ich versuchte vergebens, meinen Finger zu

krümmen, und ebenso vergebens versuchte ich, einWort herauszubringen.

„Warum schießen Sie nicht?" fragte er.

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Ich räusperte mich, konnte aber nicht sprechen.„Hump", sagte er langsam. „Sie können es nicht.

Sie sind ohnmächtig. Ihre Gesellschaftsmoral iststärker als Sie. Sie sind ein Sklave Ihrer altenAnschauungen, der Gesetze, die Ihrem Schädeleingehämmert worden sind, seit Sie die erstenWorte stammelten, und all Ihrer Philosophie undmeinen Lehren zum Trotz können Sie einenunbewaffneten, widerstandslosen Menschen nichttöten."

„Das weiß ich", sagte ich heiser.„Und Sie wissen auch, daß ich einen

Unbewaffneten ebenso leicht töten würde, wie icheine Zigarre rauche", fuhr er fort. „Sie kennen michund schätzen mich von Ihrem Standpunkt aus ein.Schlange, Tiger, Hai, Ungeheuer und Kalibanhaben Sie mich genannt. Und doch können Siemich nicht töten, Sie Waschlappen, wie Sie eineSchlange oder einen Hai töten würden, weil ichHände, Füße und einen Körper habe, der demIhren ähnlich geformt ist. Ich hätte mehr von Ihnenerwartet, Hump!"

Er überschritt die Laufbrücke und trat zu mir.„Nehmen Sie das Gewehr herunter. Ich möchteeinige Fragen an Sie richten. Ich habe noch keineGelegenheit gehabt, mich umzuschauen. Was fürein Ort ist dies? Wo liegt die Ghost? Wieso sind Sieso naß? Wo ist Maud - Verzeihung, FräuleinBrewster -, oder muß ich Frau van Weydensagen?"

Ich war zurückgetreten und hätte weinen mögen,daß ich unfähig war, ihn niederzuschießen, aber ich

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war doch nicht so töricht, die Büchse abzusetzen.In meiner Verzweiflung hoffte ich, daß er eineFeindseligkeit begehen, den Versuch machenwürde, mich zu schlagen oder zu würgen, denn ichwußte: nur dann war ich imstande zu schießen.„Dies ist die Mühsalinsel", sagte ich. „Nie denNamen gehört", unterbrach er mich. „So nennen wirsie wenigstens", berichtete ich. „Wir?" fragte er.„Wer ist ,wir'?"

„Fräulein Brewster und ich. Und die Ghost liegt,wie Sie selbst sehen können, mit dem Bug gegenden Strand."

„Es sind Robben hier", sagte er. „Sie haben michmit ihrem Gebell geweckt, sonst würde ich nochschlafen. Ich hörte sie schon, als ich gestern abendhier hereintrieb. Sie zeigten mir an, daß eine Küstein Lee war. Es ist eine Robbeninsel, so etwas, wieich es seit Jahren gesucht habe. Dank meinemBruder Tod bin ich hier auf ein Vermögengestoßen. Es ist eine Goldgrube. Wie ist die Lageder Insel?"

„Keine Ahnung", sagte ich. „Aber Sie müssen esdoch wissen. Was haben Ihre letztenBeobachtungen ergeben?" Er lächelteunergründlich, antwortete aber nicht. „Und wo sindall Ihre Leute?" fragte ich. „Wie kommt es, daß Sieallein sind?" Ich war darauf vorbereitet, daß er auchdiese Frage unbeachtet lassen würde, und seinewillige Antwort überraschte mich.

„Ehe achtundvierzig Stunden vergangen waren,hatte mein Bruder mich gekriegt, aber es war, weißGott, nicht meine Schuld. Er enterte mein Schiff

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nachts, als nur ein Wachtposten an Deck war. DieJäger ließen mich im Stich. Er bot ihnen mehr. Ichhörte es mit an. Er tat es vor meinen Augen. DieMannschaft ging natürlich auch. Das konnte ichnicht anders erwarten. Alle Mann verließen mich,und da stand ich - ausgesetzt auf meinem eigenenSchiff. Diesmal hatte mein Bruder Tod gesiegt."

„Aber wie haben Sie denn die Masten verloren?"fragte ich.

„Gehen Sie hin, und sehen Sie sich dieTaljenreeps an", sagte er und wies nach der Stelle,wo die Besantakelung sich hätte befinden müssen.

„Mit dem Messer durchgeschnitten!" rief ich aus.„Nicht ganz", lachte er. „Viel feinere Arbeit.

Sehen Sie sich's noch einmal an."Ich sah: Die Taljenreeps waren so weit

durchgeschnitten, daß sie die Wanten gerade nochhalten konnten, bis eine besondere Anforderung ansie gestellt wurde.

„Das ist Köchleins Werk", lachte er wieder. „Ichweiß es, obgleich ich ihn nicht dabei erwischt habe.So ein bißchen Abrechnung."

„Das hat Mugridge nicht schlecht gemacht!" riefich.

„Ja, das dachte ich auch, als die ganzeGeschichte über Bord ging."

„Aber was haben Sie denn getan, als dies allesgeschah?" fragte ich.

„Was ich tun konnte. Aber es war unter diesenUmständen nicht viel, das können Sie mir glauben."

Ich wandte mich um, um Mugridges Werk nocheinmal zu betrachten.

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„Ich glaube, ich will mich ein bißchen in dieSonne setzen", hörte ich Wolf Larsen sagen.

Es war ein Anflug, ein ganz leiser Anflug vonkörperlicher Schwäche in seiner Stimme, und daswirkte so eigentümlich, daß ich einen raschen Blickauf ihn warf. Er fuhr sich mit der Hand nervös überdas Gesicht, als ob er ein Spinngewebe fortwischte.Ich war bestürzt. Das alles war so unähnlich demWolf Larsen, den ich kannte.

„Wie steht es mit Ihren Kopfschmerzen?" fragteich.

„Die plagen mich immer noch", lautete dieAntwort. „Ich glaube, es geht jetzt gerade wiederlos."

Er ließ sich ganz zu Boden gleiten. Dann rollte ersich auf die Seite, stützte den Kopf auf denUnterarm, während er mit dem Oberarm seineAugen vor der Sonne schützte. Ich blickte ihnverwundert an.

„Jetzt ist Ihre Gelegenheit gekommen, Hump",sagte er.

„Ich verstehe Sie nicht", log ich, denn ichverstand ihn gut.

„Ach, nichts", setzte er gleichsam schläfrig hinzu.„Sie haben mich jetzt da, wo Sie mich habenwollten."

„Nein, das stimmt nicht", erwiderte ich, „ichwünschte Sie tausend Meilen fort von hier."

Er lachte, sagte aber nichts weiter. Als ich anihm vorbeischritt, um in die Kajütehinunterzusteigen, bewegte er sich nicht. Ich hobdie Falltür im Fußboden und blickte eine Weile

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unschlüssig in die Apotheke hinunter. Ich zögerte.Wie, wenn er sich nur verstellte? Das wäre in derTat hübsch, dann saß ich hier wie eine Ratte in derFalle! Ich schlich mich leise auf die Laufbrücke undblickte verstohlen auf ihn hinab. Er lag noch da, wieich ihn verlassen hatte. Wieder stieg ich hinunter;ehe ich mich jedoch in die Apotheke gleiten ließ,hängte ich vorsichtshalber die Klappe aus. Sokonnte die Falle jedenfalls nicht zuschnappen. Abermeine Vorsicht erwies sich als überflüssig. Ich kamin die Kajüte mit einem Vorrat von allerleiEingemachtem, Schiffszwieback, Büchsenfleischund ähnlichem - soviel ich zu tragen vermochte -und schloß die Falltür wieder.

Ein Blick auf Wolf Larsen zeigte mir, daß er sichnicht geregt hatte. Ein neuer Gedanke kam mir. Ichstahl mich in seine Kabine und eignete mir seineRevolver an. Andere Waffen fand ich nicht, obwohlich die drei anderen Kabinen gründlich untersuchte.Um sicher zu sein, ging ich noch einmal durchZwischendeck und Back und nahm alle Messer anmich. Dann fiel mir das große Klappmesser ein, daser stets in der Tasche trug. Ich trat zu ihm undsprach ihn zuerst leise, dann lauter an. Er regtesich nicht. Ich beugte mich über ihn und zog ihmdas Messer aus der Tasche.

Jetzt atmete ich freier. Er hatte keine Waffemehr, um mich von weitem anzugreifen, währendich - jetzt bewaffnet - imstande war, ihmzuvorzukommen, wenn er den Versuch machensollte, mich mit seinen furchtbaren Gorillaarmen zupacken.

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Ich füllte eine Kaffeekanne und eine Bratpfannemit einem Teil meiner Beute, nahm etwas Geschirraus der Anrichte in der Kajüte, überließ Wolf Larsensich selbst und ging an Land.

Maud schlief noch. Ich fachte die glimmendeAsche an und machte mich in fieberhafter Hastdaran, das Frühstück zu bereiten.

Als ich beinahe fertig war, hörte ich Schritte ausder anderen Hütte. Ich hatte gerade den Kaffeeeingegossen, da öffnete sich die Tür, und sie tratein.

„Das ist nicht recht von Ihnen!" Mit diesenWorten begrüßte sie mich. „Sie haben meineVorrechte verletzt. Sie wissen doch, daß dasKochen meine Sache ist und -"

„Nur dies eine Mal", bat ich.„Wenn Sie versprechen, es nicht wieder zu tun",

lächelte sie. „Es sei denn, daß Sie meiner geringenLeistungen müde geworden wären."

Zu meiner großen Freude hielt sie nicht eineinziges Mal Ausschau nach dem Strande, und ichkonnte den Erfolg verzeichnen, daß sie, ohneetwas zu merken, ihren Kaffee aus derPorzellantasse trank und sich Marmelade auf einenZwieback strich. Aber das dauerte natürlich nichtlange. Ich sah ihre Überraschung. Sie hattegemerkt, daß sie von einem Porzellanteller aß. IhreAugen fielen auf das Frühstück, und nun sah sieeines nach dem andern. Dann blickte sie mich anundwandte das Gesicht langsam nach demStrande. „Humphrey!" rief sie.

Der alte, unsagbare Schrecken stieg in ihre

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Augen. „Ist - er -?" fragte sie zitternd.Ich nickte.Wir warteten den ganzen Tag, daß Wolf Larsen

an Land käme. Wir befanden uns in unerträglicherSpannung. Bald sah der eine, bald der andereangstvoll nach der Ghost. Aber er kam nicht. Erzeigte sich nicht einmal an Deck.

„Vielleicht hat er seine Kopfschmerzen", sagteich. „Als ich ihn verließ, lag er auf der Achterhütte.Dort mag er die ganze Nacht gelegen haben. Ichglaube, ich werde einmal hinübergehen undnachsehen."

Maud sah mich flehend an.„Es ist ganz gefahrlos", versicherte ich ihr. „Ich

nehme die Revolver mit. Sie wissen, daß ich alleWaffen genommen habe, die es an Bord gab."

„Aber seine Arme, seine Hände, seineentsetzlichen Hände!" erwiderte sie. Und dann riefsie laut: „Ach, Humphrey, ich fürchte mich so vorihm! Gehen Sie nicht - bitte gehen Sie nicht!"

Sie legte ihre Hand bittend auf die meine, undmein Puls flog. In diesem Augenblick verrietenmeine Augen sicher, was ich fühlte. Ich wolltemeinen Arm um sie legen wie damals in derRobbenherde, aber ich besann mich und hielt michzurück.

„Es ist nicht gefährlich für mich", sagte ich. „Ichwerde nur über den Bug lugen."

Sie drückte mir innig die Hand und ließ michgehen. Aber die Stelle an Deck, wo ich ihn hatteliegenlassen, war leer. Er war offenbar nach untengegangen. Diese Nacht wachten wir abwechselnd.

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Denn niemand konnte wissen, was Wolf Larseneinfallen konnte. Er war zu allem fähig.

Wir warteten sowohl den nächsten Tag wie dendarauffolgenden, ohne daß er ein Lebenszeichengegeben hätte.

„Es sind wohl wieder die Kopfschmerzen", sagteMaud am Nachmittag des vierten Tages, „vielleichtist er krank, sehr krank, oder gar tot. Oder er liegtim Sterben", fügte sie hinzu, nachdem sie einenAugenblick auf meine Antwort gewartet hatte.

„Um so besser!" erwiderte ich.„Aber denken Sie, Humphrey, ein Mitmensch in

seiner letzten einsamen Stunde!"„Vielleicht", meinte ich.„Ja, vielleicht", räumte sie ein. „Wir wissen es

nicht. Aber wenn, dann wäre es schrecklich. Ichwürde es mir nie verzeihen. Wir müssen etwastun."

„Vielleicht", meinte ich wieder.„Sie müssen an Bord gehen und einmal

nachsehen, Humphrey", sagte sie. „Und wenn Siemich auslachen wollen, so haben Sie meineEinwilligung und meine Verzeihung dazu."

Ich erhob mich gehorsam und schritt zumStrande hinab.

„Aber seien Sie vorsichtig!" rief sie mir nach.Ich winkte ihr von der Back aus und ließ mich auf

das Deck gleiten. Dann ging ich nach achtern aufdie Laufbrücke und rief Wolf Larsen. Er antworteteund schickte sich an, die Treppe heraufzusteigen,und ich spannte meinen Revolver. Ich tat es ganzoffen, aber er nahm keine Notiz davon. Er machte

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körperlich denselben Eindruck wie das letztemal,als ich ihn gesehen hatte, aber er war finster undschweigsam. Die wenigen Worte, die wirwechselten, konnten kaum eine Unterhaltunggenannt werden. Ich fragte ihn nicht, warum ernicht an Land, und er mich nicht, warum ich nichtan Bord gekommen war. Seine Kopfschmerzenwaren, wie er sagte, besser, und so verließ ich ihnohne ein weiteres Wort.

Maud hörte meinen Bericht mit sichtbarerErleichterung, und der Anblick des Rauches, dersich etwas später aus der Kombüse erhob,versetzte sie in bessere Stimmung. Am nächstenund übernächsten Tage sahen wir wieder denRauch aufsteigen, und hin und wieder ließ WolfLarsen sich auf der Achterhütte sehen. Aber daswar auch alles. Er machte keinen Versuch, an Landzu kommen. Das wußten wir, denn wir hieltenweiter unsere Nachtwachen. Seine Untätigkeitängstigte und beunruhigte uns.

Auf diese Weise verging eine ganze Woche. Wirhatten keinen andern Gedanken als Wolf Larsen,und der Druck, den seine Anwesenheit auf unsausübte, hinderte uns, uns irgendwie mit denDingen, die wir geplant hatten, zu befassen.

Aber am Ende der Woche hörte der Rauch auf,aus dem Kombüsenschornstein zu steigen, undWolf Larsen zeigte sich nicht mehr auf derAchterhütte. Auch mir war nicht wohl zumute beidem Gedanken, daß dieser Mann, den ich zu tötenversucht hatte, so nahe seinen Mitmenschen alleinsterben sollte. Er hatte recht: Die Tatsache, daß er

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Hände, Füße und Körper hatte wie ich, bedeuteteeine Forderung, die ich nicht außer acht lassenkonnte. Das zweite Mal wartete ich daher nicht, bisMaud mich schickte.

Als ich bei der Back war, zog ich mir die Schuheaus und ging auf Strümpfen geräuschlos nachachtern. Diesmal rief ich auch nicht von derLaufbrücke. Ich stieg vorsichtig hinunter und fanddie Kajüte leer. Die Tür zu seiner Kabine warverschlossen. Ich dachte zuerst daran anzuklopfen,erinnerte mich dann aber meiner vorgeschobenenAbsicht und entschloß mich, sie auszuführen.Sorgfältig jedes Geräusch vermeidend, hob ich dieFalltür im Boden und legte sie um. In der Apothekewurden sowohl Kleidungsstücke wie Lebensmittelaufbewahrt, und ich nahm die Gelegenheit wahr,um mich mit Unterwäsche zu versehen.

Als ich wieder heraufkam, hörte ich einGeräusch aus Wolf Larsens Kabine. Ich ducktemich und lauschte. Der Türgriff knarrte. Instinktivschlich ich mich hinter den Tisch zurück undspannte meinen Revolver. Die Tür öffnete sich, under erschien. Nie hatte ich eine so tiefe Verzweiflunggesehen wie die, welche sich auf seinem Gesicht -dem Gesicht Wolf Larsens, des Kämpfers, desstarken Mannes, des Unbezwinglichen - ausprägte.Wie eine Frau, die die Hände ringt, hob er diegeballten Fäuste und stöhnte. Dann ließ er die eineHand sinken und fuhr sich mit der Handflächelangsam über die Augen, als wischte erSpinnweben beiseite. „Großer Gott!" stöhnte er,und wieder hob er die Fäuste in der unendlichen

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Verzweiflung, die in seiner Kehle zitterte.Es war gräßlich. Ich bebte am ganzen Körper

und konnte fühlen, wie mir der Schauder denRücken entlangrann und der Schweiß auf die Stirntrat. Es gibt sicher wenige Dinge in der Welt, diefurchtbarer sein können als der Anblick einesStarken in dem Augenblick seiner äußerstenSchwäche, seines völligen Zusammenbruchs.

Aber durch die Anspannung seinesunbezwinglichen Willens gewann Wolf Larsen seineSelbstbeherrschung wieder. Es war eine mächtigeAnspannung. Seine ganze Gestalt wurde von demKampfe geschüttelt. Es sah aus, als sollte er imnächsten Augenblick bewußtlos niederstürzen. SeinGesicht zuckte und verzerrte sich vor Schmerz, biser wieder zusammenbrach. Und wieder hob er dieFäuste und stöhnte. Ein-, zweimal schöpfte er tiefAtem und seufzte. Dann gelang es. Ich hätte fastglauben können, daß es der alte Wolf Larsen war,und doch lag in seinen Bewegungen eineAndeutung von Schwäche und Unentschlossenheit.

Ich war beunruhigt und begann mich zu fürchten.Er mußte auf seinem Wege auf die offene Falltürstoßen, und das hieß, daß er mich entdeckte. Ichwar wütend auf mich selbst bei dem Gedanken, indieser feigen Stellung, auf dem Boden kriechend,gefaßt zu werden. Noch war es Zeit. Ich sprang aufund nahm ganz unbewußt eine trotzige Haltung ein.Aber er beachtete mich gar nicht. Auch die offeneFalltür schien er nicht zu beachten. Ehe ich nochdie Situation richtig verstanden hatte, war er in dieÖffnung getreten. Der eine Fuß glitt hinein,

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während der andere gerade im Begriff war, sich zuheben. Als er aber den festen Boden unter sichvermißte und die Leere spürte, war er im selbenAugenblick wieder der alte Wolf Larsen mit seinenTigermuskeln. Im Fallen schleuderte er seinenOberkörper hinüber, so daß er mit ausgestrecktenArmen auf Brust und Bauch drüben landete. Imnächsten Augenblick hatte er die Beinehochgezogen und war aus dem Loch heraus. Aberer rollte in meine Marmelade und mein Unterzeug.Sein Gesichtsausdruck zeigte, daß er wußte, washier vorging.

Bevor ich jedoch seine Gedanken erratenkonnte, hatte er schon die Falltür über derApotheke geschlossen. Da verstand ich. Er dachte,er hätte mich gefangen. Er war blind, stockblind. Mitzurückgehaltenem Atem, um mich nicht zuverraten, beobachtete ich ihn. Er trat schnell inseine Kabine. Ich sah, wie seine Hand den Türgriffverfehlte, tastete, ihn aber nicht fand. Das war einegünstige Gelegenheit. Ich lief auf Zehenspitzendurch die Kajüte und die Treppe hinauf. Er kamzurück und schleppte eine schwere Seekiste hintersich her, die er auf die Falltür stellte. Dann nahm erdie Marmelade und das Unterzeug und legte allesauf den Tisch. Als er dann nach oben ging, zog ichmich schnell zurück und kletterte geräuschlos aufdie Hütte.

Er schob die Schiebetür ein wenig beiseite undstützte die Arme darauf, blieb aber auf derLaufbrücke stehen. Es hatte den Anschein, alsblicke oder starre er vielmehr das Deck des

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Schoners entlang, denn seine Augen waren ganzstill und blinzelten nicht. Ich stand nur eineinhalbMeter von ihm entfernt - gerade vor seinen Augen.Es war unheimlich. Ich kam mir wie einunsichtbarer Geist vor. Ich winkte mit der Hand,natürlich ohne jede Wirkung. Als aber derflackernde Schatten einmal sein Gesicht traf, sahich sofort, daß er etwas gemerkt hatte. SeinGesicht drückte höchste Erwartung und Spannungaus, als versuche er, sich über den erhaltenenEindruck klarzuwerden. Er wußte, daß er auf irgendetwas, das draußen geschah, reagierte, daß irgendetwas in seiner Umgebung vorging, aber was eswar, darüber konnte er sich nicht klarwerden. Ichhörte auf, die Hand zu schwenken, so daß auch derSchatten sich nicht mehr bewegte. Er wandtelangsam den Kopf von einer Seite zur andern, hinund zurück, jetzt in die Sonne, dann wieder in denSchatten, indem er sich durch das Gefühl zuorientieren versuchte. Ich bemühte mich ebenso

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eifrig wie er, die Ursache zu entdecken, daß manetwas so Unfühlbares wie einen Schatten fühlenkonnte. Wenn nur die Augäpfel beschädigt und dieSehnerven nicht ganz zerstört waren, war dieErklärung einfach. Sonst konnte ich mir nur denken,daß die empfindliche Haut denTemperaturunterschied zwischen Schatten undSonnenschein spürte. Oder vielleicht - wer könntees sagen? - war es der so umstrittene sechsteSinn, der ihm ein Gefühl des Wechsels von Lichtund Schatten übermittelte.

Er gab jedoch bald den Versuch auf, sich überdieses Phänomen klarzuwerden, und schritt miteiner Schnelligkeit und Sicherheit, die michüberraschten, über das Deck. Und doch lag inseinem Gang diese Andeutung von Schwäche, wiesie Blinden eigen ist. Jetzt kannte ich ihre Ursache.Zu meinem Ärger - aber ich mußte doch darüberlachen - entdeckte er meine Schuhe auf der Backund nahm sie mit in die Kombüse. Ich beobachteteihn, wie er Feuer machte und daranging, sich seinEssen zu kochen. Dann stahl ich mich in die Kajüte,um Marmelade und Unterzeug zu holen, schlüpftean der Kombüse vorbei und kletterte auf denStrand, um barfuß Bericht zu erstatten.

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Zwölftes Kapitel„Schade, daß die Ghost ihre Masten verloren

hat, sonst könnten wir jetzt so schön auf ihrfortsegeln. Meinen Sie nicht auch, Humphrey?" Ichsprang erregt auf. „Ja, wirklich, wirklich!" rief ichund schritt auf und ab.

Mauds Augen, die mir folgten, leuchtetenhoffnungsfroh. Sie glaubte so fest an mich! Unddieses Bewußtsein verdoppelte meine Kraft. Mir fielein, was Michelet sagt: „Die Frau ist dem Manne,was die Erde ihrem sagenhaften Sohne ist; erbraucht nur niederzufallen und ihre Brust zuküssen, um wieder stark zu sein." Zum ersten Maleerkannte ich die wunderbare Wahrheit dieserWorte: erlebte ich sie doch an mir selbst! Das warMaud für mich: eine unversiegbare Quelle der Kraftund des Mutes. Ich brauchte sie nur anzusehen,nur an sie zu denken, und ich fühlte mich wiederstark.

Es ist möglich, es ist möglich, dachte ich undwiederholte es laut. „Was andere Männer vollbrachthaben, kann ich auch vollbringen, und wennniemand es je getan hat, so werde ich es tun."

„Was, um Gottes willen?" fragte Maud. „SeienSie barmherzig. Was werden Sie tun?"

„Wir werden es tun", verbesserte ich mich. „Nun,nichts anderes als die Masten der Ghost wiedereinsetzen und fortsegeln."

„Humphrey!" rief sie.Und ich fühlte mich so stolz über meine Absicht,

als wäre sie schon ausgeführt gewesen. „Aber wie

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sollten wir das machen?" fragte sie.„Das weiß ich nicht", lautete meine Antwort. „Das

einzige, was ich weiß, ist, daß ich in diesen Tagenimstande bin zu tun, was es auch sei."

Stolz lächelte ich ihr zu - zu stolz, denn siesenkte die Augen und schwieg einen Augenblick.

„Aber Kapitän Larsen", wandte sie ein.Wir lachten beide. Dann gingen wir ernstlich

daran, einen Plan zu entwerfen, wie wir die Mastenwieder in die Ghost einsetzen und in die Weltzurückkehren sollten. Ich erinnerte mich dunkel desPhysikunterrichts in meiner Schulzeit; dazu hattenmir die letzten Monate praktische Unterweisung inmancherlei technischen Handgriffen erteilt. Ich mußjedoch gestehen, daß ich, als wir zur Ghosthinuntergingen, um eine Besichtigungvorzunehmen, beim Anblick der großen, im Wasserliegenden Masten fast den Mut verlor. Wo solltenwir beginnen?

Hätte nur ein Mast gestanden, daß wir Blöckeund Taue hätten befestigen können, um ihn alsKran zu benutzen! Aber es gab nichts. Ich mußtean das Problem denken, sich selbst an den Haarenhochzuziehen. Ich verstand genügend von derMechanik des Hebels; wo aber sollte ich einenStützpunkt finden?

Da war der Großmast, der an seinem jetzigenEnde einen Durchmesser von vierzig Zentimeterhatte, noch achtzehn Meter lang war und, wie ichschätzte, wenigstens dreitausend Pfund wog. Dannder Fockmast, dessen Durchmesser noch größerund sicherlich dreieinhalbtausend Pfund schwer.

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Wo beginnen? Maud stand schweigend neben mir,während ich überlegte, wie ich den sogenannten„Scherenkran" der Seeleute herstellen sollte. Wasjedem Matrosen bekannt war, mußte ich auf derMühsalinsel erst erfinden. Ich mußte die Endenzweier Spieren kreuzweise zusammenbinden undsie wie ein umgekehrtes V an Deck aufstellen.Hieran konnte ich dann eine Talje und, wenn nötig,noch eine zweite befestigen. Und außerdem hatteich ja das Ankerspill. Maud sah, daß ich

zu einem Ergebnis gekommen war, und ihreAugen leuchteten verständnisvoll.

„Was haben Sie vor?" fragte sie.„Das Gerümpel klarzubringen!" antwortete ich

und wies auf das wirr durcheinanderliegendeWrackgut im Wasser. Ach, welch eineEntschlossenheit lag allein in diesen Worten. „DasGerümpel klarzubringen!" Ein so echterseemännischer Ausdruck von den LippenHumphrey van Weydens - wer hätte das vorwenigen Monaten für möglich gehalten!

Und wir machten uns an die Arbeit.Ihre Aufgabe war es, auf das Boot zu achten,

während ich daranging, den Wirrwarr zu ordnen.Und welch einen Wirrwarr! Falle, Schote, Leinen,Stagen - alles war von den Wellen hin und hergeworfen, verwickelt und verfilzt. Ich gebrauchtedas Messer nicht mehr, als durchaus notwendigwar, und bald war ich bis auf die Haut durchnäßtvom Durchziehen der langen Taue unter Spierenund Masten, dem Ausscheren der Leinen und demAufwickeln im Boote.

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Die Segel mußten an verschiedenen Stellendurchgeschnitten werden, und die vom Wasserschwere Leinwand stellte hohe Anforderungen anmeine Kraft; aber bei Einbruch der Nacht war esmir doch gelungen, alles auf den Strand zuschaffen und dort zum Trocknen auszubreiten. Alswir aufhörten, um Abendbrot zu essen, waren wirbeide sehr müde, aber wir hatten ein tüchtigesStück Arbeit verrichtet, wenn es auch nicht nachviel aussah.

Am nächsten Morgen stieg ich mit Maud, derenHilfe sich als ausgezeichnet erwiesen hatte, in denRaum der Ghost hinab, um die alten Maststümpfezu entfernen. Wir hatten kaum mit der Arbeitbegonnen, als das Klopfen und Hämmern auchschon Wolf Larsen herbeirief.

„He, da unten! " rief er durch die offene Lukeherunter.

Bei dem Klang seiner Stimme preßte Maud sichschutzsuchend an mich, und bei der jetzt folgendenUnterhaltung lag ihre Hand auf meinem Arm.

„He, da oben", erwiderte ich. „GutenMorgen!"„Was machen Sie da?" fragte er.„Versuchen Sie, mein Schiff in den Grund zubohren?"

„Im Gegenteil, ich setze es wieder instand",antwortete ich.

„Aber was setzen Sie denn instand, zumDonnerwetter?" Seine Stimme klang verwundert.

„Ich will die Masten wieder einsetzen",entgegnete ich leichthin, als wäre es die einfachsteSache von der Welt.

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„Mir scheint, Sie haben endlich gelernt, aufeigenen Füßen zu stehen, Hump", hörten wir ihnsagen, und dann schwieg er eine Weile. „Aber ichsage es Ihnen, Hump", rief er wieder, „Sie bringenes nicht fertig."

„O doch, ich bringe es fertig", gab ich zurück.„Ich bin schon dabei."

„Aber dies ist mein Schiff, mein Eigentum. Wennich es Ihnen nun verbiete?"

„Sie vergessen", erwiderte ich, „daß Sie nichtmehr das stärkste Teilchen Ferment sind. Siewaren es einmal; damals hätten Sie mich fressenkönnen, wie Sie sich auszudrücken beliebten. Jetztaber ist es anders geworden, und jetzt könnte ichSie fressen. Die Hefe ist ausgegoren."

Er lachte kurz und unbehaglich auf. „Ich sehe,Sie geben mir meine Philosophie in ihrem vollenWerte wieder. Aber machen Sie nicht den Fehler,mich zu unterschätzen. Ich warne Sie zu Ihremeigenen Besten."

„Seit wann sind Sie denn Menschenfreundgeworden?" fragte ich. „Sie müssen gestehen, daßSie äußerst inkonsequent sind, wenn Sie mich jetztzu meinem Besten warnen."

Er beachtete den Spott in meinen Worten nichtund sagte: „Gesetzt, ich schlösse jetzt die Lukeüber Ihnen. Hier können Sie mich nicht zum bestenhalten wie in der Apotheke."

„Wolf Larsen", sagte ich streng und redete ihnzum ersten Male bei dem Namen an, unter dem erbekannt war, „ich bin nicht imstande, einenWehrlosen, der keinen Widerstand leistet,

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niederzuschießen. Das haben Sie zu meinereigenen wie zu Ihrer Befriedigung festgestellt. Aberjetzt warne ich Sie, nicht so sehr um Ihret- wie ummeinetwillen: In dem Augenblick, in dem Sie diegeringste Feindseligkeit gegen mich begehen,knalle ich Sie nieder. Ich kann es bequem von hieraus; wenn Ihnen danach der Sinn steht, soversuchen Sie, die Luke zu schließen."

„Nichtsdestoweniger verbiete ich Ihnen, verbietees Ihnen ausdrücklich, an meinem Schiffherumzupfuschen."

„Aber Mann", sagte ich vorwurfsvoll, „Sie stellendie Tatsache, daß dies Ihr Schiff ist, fest, als seidas ein moralisches Recht. Haben Sie denn jemalsbei Ihrer Handlungsweise andern gegenübermoralische Rechte gelten lassen? Sie können dochnicht im Ernst glauben, daß ich solche Rücksichtennehme!"

Ich war unter die offene Luke getreten, so daßich ihn sehen konnte. Die völlige Ausdruckslosigkeitseines Gesichts, das ich jetzt ungesehenbeobachtete, war im Verein mit den starren Augenkein angenehmer Anblick.

„Und keiner, der ihm noch ein Fünkchen Achtungentgegenbrächte, nicht einmal Hump", höhnte er.Der Hohn kam ausschließlich durch seine Stimmezum Ausdruck. Sein Gesicht blieb so ausdrucksloswie zuvor. „Wie geht es Ihnen, Fräulein Brewster? "fragte er plötzlich nach einer Pause.

Ich erschrak. Sie hatte nicht das leisesteGeräusch gemacht, hatte sich nicht einmal bewegt.War es möglich, daß er noch einen Schimmer des

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Augenlichtes behalten hatte? Oder daß ihm dieSehkraft wiederkehrte?

„Was machen Sie, Kapitän Larsen?" fragte sieihrerseits. „Wieso wissen Sie denn, daß ich hierbin?"

„Ich habe Sie natürlich atmen gehört. Mirscheint, Hump macht Fortschritte, finden Sienicht?"

„Ich weiß nicht", antwortete sie und lächelte mirzu. „Ich kenne ihn nicht anders."

„Dann hätten Sie ihn früher sehen sollen."„Wolf Larsen in bitteren Pillen", murmelte ich,

„vor und nach dem Einnehmen."„Ich sage Ihnen nochmals, Hump", drohte er,

„lassen Sie lieber die Finger davon."„Aber liegtIhnen denn nicht genausoviel wie uns daran, vonhier wegzukommen?" fragte ich verwundert.

„Nein" war seine Antwort. „Ich gedenke hier zusterben." „Wir aber nicht", beendete ich dasGespräch trotzig und nahm mein Klopfen undHämmern wieder auf.

Am nächsten Tage - wir hatten alles soweit, umdie Masten einsetzen zu können - machten wir unsdaran, die beiden Marsstengen an Bord zunehmen. Es war ein schweres Stück Arbeit. Ichbefestigte das eine Ende der schweren Talje amAnkerspill, das andere am unteren Ende derVormarsstenge und begann zu winden. Maud hieltden Törn auf dem Spill und ließ die Leineauslaufen.

Wir waren ganz erstaunt, wie leicht die Spieresich heben ließ. Es war ein verbessertes

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Krüppelspill und besaß eine ungeheure Hubkraft.Die Talje zog schwer über die Reling, ihr Zugverstärkte sich, je mehr die Spiere sich aus demWasser hob, und der Druck auf das Spill wurdegewaltig. Als jedoch das untere Ende derMarsstenge in Höhe der Reling war, saßen wir fest.

„Ich hätte es voraussehen können", sagte ichungeduldig. „Nun müssen wir wieder von vornanfangen."

„Warum machen wir nicht die Talje mehr nachder Mitte der Stenge hin fest?" schlug Maud vor.

„Das hätte ich eben tun müssen", erwiderte ich,äußerst unzufrieden mit mir.

Ich ließ einen Törn nach, daß der Baum wiederins Wasser zurückfiel, und machte die Talje etwadrei Meter oberhalb des Endes fest. Nach einerStunde mühsamster, nur durch kurze Pausenunterbrochener Arbeit hatte ich ihn so hoch, wie esging. Drei Meter des Baumes hingen über derReling, aber es war weniger als je daran zudenken, daß ich ihn an Deck bekam. Ich setztemich hin und dachte über das Problem nach. Aberes dauerte nicht lange, dann sprang ich jubelnd auf.

„Jetzt hab ich's!" rief ich. „Ich muß die Talje amSchwerpunkt festmachen. Und die Lehre, die wirhieraus ziehen, wird uns für alle künftige Arbeitzugute kommen."

Als ich gerade damit beschäftigt war, dieTaschentalje zwischen der Spitze der Spiere undder Reling anzubringen, erschien Wolf Larsen aufdem Schauplatz. Wir wechselten nur einenGutenmorgengruß, dann setzte er sich, obgleich er

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nichts sehen konnte, ein Stückchen entfernt auf dieReling und versuchte, aus dem Geräusch zuentnehmen, was wir taten.

Wieder gab ich Maud Anweisung, auf meinKommando Leine auslaufen zu lassen, und dannbegann ich mit Hilfe der Taschentalje zu hieven.Langsam schwang sich der Baum herüber, bis erüber die Reling balancierte; da bemerkte ich zumeinem Erstaunen, daß Maud keine Leineauszulassen brauchte. Gerade das Gegenteil warder Fall. Ich machte die Taschentalje fest, drehtedas Spill und brachte den Baum Zentimeter umZentimeter herein, bis seine Spitze sichherabneigte und er schließlich in seiner ganzenLänge auf dem Deck lag. Ich sah auf die Uhr. Eswar zwölf. Mein Rücken schmerzte heftig, und ichwar äußerst müde und hungrig. Und hier auf demDeck lag ein einziges Stück Holz, das Ergebnis derArbeit eines ganzen Vormittags. Zum erstenmalwurde mir die Größe der Aufgabe klar, die wir zuerfüllen hatten. Aber ich hatte schon viel gelernt.Am Nachmittag mußte es bessergehen. Und sogeschah es! Um ein Uhr kehrten wir zurück,ausgeruht und durch ein herzhaftes Mittagessengestärkt.

In weniger als einer Stunde hatte ich dieGroßmarsstenge an Deck und begann jetzt, denScherenkran zu bauen. Ich zurrte die beidenBäume zusammen, wobei ich darauf achtete, daßdie Schenkel des Geräts gleich lang wurden, unddann befestigte ich am Schnittpunkt den doppeltenBlock des Hauptklaufalls. Dies ergab in Verbindung

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mit dem Klaufall selbst ein Heißtakelwerk. Um dieEnden der Bäume am Gleiten zu hindern, nagelteich einige Klampen an Deck fest. Als alles fertigwar, machte ich am Schnittpunkt des Scherenkranseine Leine fest, die ich direkt zum Spill laufen ließ.Mein Vertrauen zu dem Spill wuchs immer mehr,denn es gab Kräfte her, die alles Erwartenüberstiegen. Wie gewöhnlich hielt Maud den Törn,während ich wand. Der Scherenkran erhob sich.

Da entdeckte ich, daß ich die Pardunenvergessen hatte. Die Folge war, daß ich zweimalauf den Scherenkran hinaufklettern mußte, um diePardunen an beiden Seiten anzubringen. Ehe ichhiermit fertig war, war es Abend geworden. WolfLarsen, der den ganzen Nachmittag dagesessenund gelauscht hatte, ohne auch nur ein einzigesMal den Mund zu öffnen, war in die Kombüsegegangen, um sich sein Abendbrot zu bereiten. Mirwar das Kreuz so steif, daß ich mich nur mit Müheund Schmerzen aufrichten konnte. Aber ich blicktemit Stolz auf meine Arbeit. Sie konnte sich sehenlassen. Wie ein Kind, das ein neues Spielzeugbekommen hat, sehnte ich mich danach, denScherenkran in Gebrauch zu nehmen.

„Schade, daß es schon so spät ist", sagte ich.„Ich hätte ihn so gern schon arbeiten gesehen."

„Übertreiben Sie nicht, Humphrey", schalt Maud,„denken Sie daran, daß morgen auch ein Tag ist.Sie sind so müde, daß Sie kaum noch auf denBeinen stehen können."

„Und Sie?" fragte ich mit plötzlicher Besorgnis.„Sie müssen doch schrecklich müde sein. Sie

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haben tüchtig und tapfer zugepackt. Ich bin stolzauf Sie, Maud."

„Nicht halb so stolz, wie ich es auf Sie bin, undmit nicht halb soviel Grund", antwortete sie und sahmir sekundenlang in die Augen, während die ihrenmit einem flackernden Licht leuchteten, das ichnoch nie in ihnen gesehen hatte und das mir - ichwußte nicht, warum - eine Welle heißenEntzückens durch die Adern jagte. Dann senkte ichden Blick, um ihn gleich darauf wieder lachend zuheben.

„Wenn unsere Freunde uns jetzt sehen könnten!"sagte sie. „Sehen Sie uns an. Haben Sie sich nieeinen Augenblick Zeit gegönnt, um uns zubetrachten?"

„Doch, ich habe Sie oft betrachtet", erwiderte ich,verwirrt über das, was ich in ihren Augen gesehenhatte, und verwundert, daß sie so plötzlich denGegenstand wechselte.

„Du lieber Gott!" rief sie. „Und wie sehe ich aus,wenn ich fragen darf?"

„Wie eine Vogelscheuche - wir brauchen unsnichts vorzumachen", erwiderte ich. „Sehen Sie nurIhren schmutzigen Rock und die vielen Risse. Unddie Bluse! Hier bedürfte es keines SherlockHolmes, um zu beweisen, daß Sie über einemLagerfeuer abgekocht haben, ganz zu schweigenvon unserem Robbentran. Und um allem die Kroneaufzusetzen: die Mütze! Ist das wirklich eine Frau,die Gedichte schreibt?"

Sie machte mir einen eleganten kleinen Knicksund sagte: „Und was Sie betrifft, mein Herr -"

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Wir scherzten einige Minuten in dieser Weise,und doch hatten unsere Scherze einen Untertonvon Ernst, den ich ganz unwillkürlich mit demseltsamen Ausdruck in ihren Augen in Verbindungbrachte. Was war das? War es denn möglich, daßunsere Augen ausplauderten, was unser Mundverschwieg?

„Es ist eine Schande, daß wir nach demschweren Tagewerk nicht einmal unsere Nachtruheungestört haben sollen!" klagte ich nach demAbendbrot,

„Was für eine Gefahr könnte uns drohen? Voneinem Blinden?" fragte sie.

„Ich traue ihm nicht", beharrte ich, „und jetzt, daer blind ist, weniger als je. Aller Wahrscheinlichkeitnach wird seine teilweise Hilflosigkeit ihn nur nochboshafter machen. Das weiß ich: Das erste, wasich morgen früh tun werde, ist, den Schoner einkleines Stück vom Strande abzulegen und zuverankern. Dann bleibt Wolf Larsen jeden Abend,wenn wir an Land rudern, als Gefangener an Bordzurück. Dies wird daher die letzte Nacht sein, in derwir Wache zu halten brauchen, und dann wird esleichter gehen."

Wir waren zeitig auf und hatten gerade unserFrühstück eingenommen, als es hell wurde.

„Ach, Humphrey!" hörte ich plötzlich Maudbestürzt rufen.Ich sah sie an. Sie starrte auf dieGhost. Ich folgte ihrem Blick, konnte jedoch nichtsUngewöhnliches bemerken.

„Der Scherenkran", sagte sie mit bebenderStimme.

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Ich hatte unser Werk ganz vergessen. Jetztschaute ich wieder hin und sah den Scherenkrannicht.

„Wenn er -", knirschte ich.Sie legte beruhigend ihre Hand auf die meine

und sagte: „Dann müssen wir wieder von vornanfangen."

„Oh, glauben Sie mir, mein Zorn hat nichts zubedeuten, ich könnte keiner Fliege etwas zuleidetun", lächelte ich bitter. „Und das Schlimmste ist,daß er das weiß. Sie haben recht: Wenn er denScherenkran zerstört hat, bleibt mir nichts anderesübrig, als wieder von vorn anzufangen. Aber inZukunft werde ich nachts an Bord bleiben", machteich mir einen Augenblick später Luft. „Und wenn ermir wieder in den Weg tritt -"

„Aber ich wage es nicht, nachts allein an Land zubleiben", sagte Maud, als ich mich wieder beruhigthatte. „Es wäre doch zehnmal schöner, wenn ersich freundschaftlich zu uns stellte und uns hälfe.Dann könnten wir alle so gut an Bord wohnen."

„Das werden wir auch", sagte ich, immer nocherregt, denn die Zerstörung des Scherenkrans hattemich schwer getroffen. „Das heißt: Wir beidewerden an Bord wohnen, mit oder ohne WolfLarsens Freundschaft. Es ist kindisch", lachte ichkurz darauf, „kindisch von ihm, etwas Derartiges zutun, und von mir, mich darüber aufzuregen."

Aber ich konnte mich doch nur mühsambeherrschen, als ich an Bord kletterte und dieVerwüstung sah, die Wolf Larsen angerichtet hatte.Der Scherenkran war verschwunden. Die Pardunen

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waren rechts und links durchgeschnitten. Mit allemTauwerk hatte er es ebenso gemacht. Und erwußte, daß ich nicht spleißen konnte. Ein Gedankeschoß mir durch den Kopf. Ich eilte zum Spill. Esarbeitete nicht. Er hatte es zerbrochen. Bestürztsahen wir uns an. Dann lief ich an die Reling. Alle

Masten, Spieren und Gaffeln, die ichklargemacht hatte, waren fort. Er hatte die Leinengefunden, durch die sie gehalten worden waren,hatte sie gekappt und alles Wind und Wellenpreisgegeben. Maud hatte Tränen in den Augen,und ich glaube, sie galten mir. Ich selbst hätteweinen mögen. Was wurde jetzt aus unserm Plan,die Ghost wieder seetüchtig zu machen? WolfLarsen hatte ganze Arbeit getan. Ich setzte michauf den Lukenrahmen und ließ in tiefsterVerzweiflung den Kopf in die Hände sinken.

„Er verdient den Tod", rief ich, „und Gott verzeihemir, daß ich nicht Manns genug bin, den Henker zuspielen!"

Aber Maud saß neben mir, ließ ihre Handbesänftigend durch mein Haar gleiten, als ob ichein Kind wäre, und sagte: „Still, still, es wird schonalles gut werden. Wir haben das Recht auf unsererSeite, und der liebe Gott wird uns nicht im Stichlassen."

Ich lehnte meinen Kopf an ihre Schulter undfühlte meine Kraft zurückkehren. Was tat es? Eswar nur eine Verzögerung, ein Aufschub! Die Ebbekonnte die Masten nicht weit in See getriebenhaben, und es war die ganze Zeit windstillgewesen. Es bedeutete nur etwas mehr Arbeit, sie

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zu finden und zurückzuholen. Und zudem war eseine gute Lehre für uns. Jetzt wußten wir, was wirzu erwarten hatten. Wenn er sein Zerstörungswerkerst später getan hätte, wäre es bedeutendschlimmer für uns gewesen. Und als ich in Maudsklare braune Augen blickte, vergaß ich alles Böse,das er uns angetan hatte, und wußte nur, daß ichsie liebte und daß ich daraus die Kräfte schöpfenwürde, den Weg zurückzufinden.

Zwei Tage lang durchstreiften Maud und ich Seeund Küste auf der Suche nach den verlorenenMasten. Aber erst am dritten fanden wir sie sowieauch den Scherenkran zwischen den gefährlichenRiffen, mitten in der tosenden Brandung amsüdwestlichen Vorgebirge. Wie wir arbeiteten! Amersten Tage kehrten wir bei Einbruch derDunkelheit mit dem Großmast im Schleppvollkommen erschöpft in unsern kleinen Hafenzurück. Es war völlige Windstille, und wir mußtenuns mit den Riemen vorwärts arbeiten. Nach einemzweiten Tage mühseligster Arbeit hatten wir diebeiden Marsstengen geborgen. Am dritten Tagemachte ich eine verzweifelte Anstrengung. Ich bandFockmast, Vorder- und Hauptspiere und Vorder-und Hauptgaffel zu einem Floß zusammen. DerWind war günstig, und ich hoffte, sie unter Segelzurückbugsieren zu können; aber nach einigenBöen legte sich der Wind, und wir mußten wiederrudern. Es ging im Schneckentempo, und mein Mutsank. Seine ganze Kraft einzulegen, sich mit derWucht des ganzen Körpers in die Riemen zuwerfen und doch zu fühlen, wie das Boot durch das

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schwere Gewicht, das daran hing, zurückgehaltenwurde, das war nicht sehr erheiternd. Die Nachtbrach herein, und um die Situation noch zuverschlimmern, erhob sich ein Gegenwind. Jetztkamen wir nicht weiter, wir wurden auf das offeneMeer zurückgetrieben. Ich kämpfte mit den Riemen,bis ich nicht mehr konnte. Die arme Maud, der ichdie harte Arbeit nicht hatte ersparen können, lehntesich erschöpft gegen den Achtersteven. Meinegeschwollenen Hände vermochten sich nicht mehrum die Riemen zu schließen. Handgelenke undArme schmerzten mich unerträglich, und obgleichich um zwölf Uhr tüchtig gegessen hatte, war ichnach der harten Arbeit schwach vor Hunger. Ichzog die Riemen ein und beugte mich hinüber zu derLeine, die das Floß hielt. Aber Mauds Händestreckten sich abwehrend nach den meinen aus.

„Was wollen Sie tun?" fragte sie mit erhobenerStimme.

„Es loswerfen", antwortete ich, indem ich einenTörn von der Leine ausließ.

Aber ihre Finger umschlossen die meinen. „Bitte,tun Sie es nicht", bat sie.

„Es hat keinen Zweck", erwiderte ich. „Es istschon Nacht, und der Wind treibt uns vom Land abins Meer hinaus."

„Aber denken Sie daran, Humphrey, wenn wirnicht auf der Ghost fortsegeln, können wir jahrelangauf der Insel bleiben - vielleicht das ganze Leben.Ist sie bis heute nicht entdeckt worden, so wird siees vielleicht nie."

„Sie vergessen das Boot, das wir auf dem Strand

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fanden", erinnerte ich sie.„Das war ein Robbenfängerboot", entgegnete

sie, „und Sie wissen gut, daß die Männer, wenn sieentkommen wären, zurückgekehrt sein würden, umauf der Robbeninsel ihr Glück zu machen. Siewissen, daß sie nicht entkommen sind."

„Lieber Jahre auf der Insel, als heute nacht odermorgen oder einen der nächsten Tage in demoffenen Boot umzukommen. Wir sind nicht in derLage, dem Meere standzuhalten. Wir haben wederNahrung noch Wasser, noch Decken - gar nichts.Sie werden die Nacht nicht ohne Decke überleben.Ich kenne Ihre Kräfte. Sie zittern jetzt schon."

„Nur aus Nervosität. Ich fürchte, daß Sie dieMasten trotz meiner Bitte loswerfen. Ach bitte, bitte,Humphrey, tun Sie es nicht!" rief sie.

Und so endete es mit den Worten, die, wie siewußte, eine solche Macht über mich besaßen, daßich nicht widerstehen konnte. Wir litten furchtbar dieganze Nacht. Hin und wieder schlief ich ein, aberimmer wieder weckte mich die schmerzhafte Kälte.Wie Maud es aushielt, ist mir unbegreiflich. Ich warzu müde, um die Arme zusammenzuschlagen undmich selbst warm zu halten, aber ich fand hin undwieder die Kraft, ihre Hände und Füße zu reiben,um ihr Blut wieder kreisen zu lassen. Und trotzdembat sie mich immer noch, nicht die Masten im Stichzu lassen.

Gegen drei Uhr morgens wurde sie von einemKrampf befallen, und als ich sie durch Reibenwieder zu sich gebracht hatte, lag sie eine Zeitlangganz still da. Ich war tief erschrocken. Ich legte die

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Riemen aus und ließ sie rudern, obgleich sie soschwach war, daß ich bei jedem Schlagebefürchten mußte, sie in Ohnmacht fallen zu sehen.

Der Morgen brach an, und in dem wachsendenLicht hielten wir lange Ausschau nach unsererInsel. Schließlich zeigte sich ein kleiner schwarzerPunkt, volle fünfzehn Meilen entfernt, am Horizont.Ich sah mit dem Glase über das Meer. Ganz in derFerne, in Südwest, konnte ich einen dunklen Strichauf dem Wasser sehen, der sich immer mehrvergrößerte.

„Günstiger Wind!" rief ich, aber so heiser, daßich meine eigene Stimme kaum erkannte.

Maud versuchte zu antworten, konnte jedochkeinen Ton hervorbringen. Ihre Lippen waren blauvor Kälte - aber ach, wie tapfer blickten ihre Augenmich an!

Wieder begann ich, ihr Hände und Füße zureiben und die Arme auf und nieder zu schwingen,bis sie es selbst vermochte.

Dann kam der Wind, ein frischer, günstigerWind, und bald arbeitete sich das Boot durch eineschwere See der Insel zu. Um halb vier Uhrnachmittags passierten wir das südwestlicheVorgebirge. Wir waren jetzt nicht nur hungrig,sondern litten auch Durst. Unsere Lippen warenausgetrocknet und aufgesprungen, und wir konntensie nicht mehr mit der Zunge befeuchten. Da legtesich der Wind. Gegen Abend herrschte völligeWindstille, und ich arbeitete wieder mit den Riemen- aber schwach, sehr schwach. Um zwei Uhrmorgens stieß der Bug unseres Bootes gegen den

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Strand der inneren Bucht, und ich wankte an Land,um die Fangleine festzumachen. Maud konnte nichtmehr auf den Füßen stehen, und ich hatte nicht dieKraft, sie zu tragen. Ich fiel mit ihr in den Sand, undals ich wieder hoch kam, begnügte ich mich, sieunter die Schulter zu fassen und den Strand hinaufnach der Hütte zu ziehen.

Am nächsten Tage arbeiteten wir nicht. Wirschliefen bis drei Uhr nachmittags, oder wenigstensich tat es, denn als ich erwachte, war Maud schondabei, das Mittagessen zu bereiten. Es warwunderbar, wie schnell sie sich erholte. Ihremzarten Körper wohnte eine Kraft inne, die man ihmnicht zugetraut hätte.

„Sie wissen doch, daß ich meiner Gesundheitwegen nach Japan reiste", sagte sie, als wir nachdem Essen am Feuer lagerten und uns dem süßenNichtstun hingaben. „Ich war nicht sehr kräftig, bines nie gewesen. Die Ärzte rieten mir zu einerSeereise, und ich habe mir die allerlängsteausgesucht."

„Sie ahnten nicht, was Sie sich aussuchten",lachte ich.

„Aber ich bin eine ganz andere geworden, undkräftiger auch", erwiderte sie, „und ich hoffe, auchbesser. Wenigstens werde ich jetzt ein ganz Teilmehr vom Leben verstehen."

Als dann der kurze Tag schwand, kamen wir aufWolf Larsens Blindheit zu sprechen. Sie war unsunerklärlich. Daß es ernst war, darauf ließ seineErklärung schließen, daß er auf der Mühsalinselbleiben und sterben wollte. Wenn dieser starke

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Mann, der das Leben so liebte, an sein nahes Endeglaubte, so war es klar, daß seine Blindheit nichtalles war, was ihn plagte. Er litt an seinenfurchtbaren Kopfschmerzen, und wir wurden unseinig, daß es sich um ein Versagen seines Gehirnshandeln mußte und daß er in seinen Anfällengrößere Qualen zu erdulden hatte, als wir unsvorstellen konnten. Während wir über seinenZustand sprachen, beobachtete ich, wie MaudsMitleid mit ihm immer mehr wuchs; ich konnte nichtanders, ich mußte sie um so mehr lieben deshalb,so echt weiblich war es! Auch lag in ihrem Gefühlnicht die geringste Sentimentalität. Sie stimmte mirbei, daß wir mit der größten Härte vorgehenmußten, wenn wir von hier fortkommen wollten,obgleich sie vor dem Gedanken zurückschauderte,daß ich, um uns zu retten, vielleicht gezwungenwar, ihn zu töten.

Am nächsten Morgen frühstückten wir, und alsder Tag anbrach, waren wir schon an der Arbeit.Vorn im Raum fand ich unter allerlei Gerümpeleinen leichten Wurfanker, und mit einiger Müheschaffte ich ihn an Deck und ins Boot. Ich befestigteihn im Stern, ruderte ein gutes Stück in unsereBucht hinaus und ließ den Anker hinab. KeinLüftchen regte sich, die Flut war hoch, und derSchoner schwamm frei. Mit großer Anstrengung -das Spill war ja zerbrochen - brachte ich die Ghostdann durch Handkraft an den Anker heran, der zuklein gewesen wäre, um sie auch nur bei einerleichten Brise zu halten. Dann ließ ich den großenSteuerbordanker hinab. Am Nachmittag arbeitete

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ich am Spill. Drei Tage hatte ich damit zu tun. Esgab wohl nichts, wozu ich mich weniger geeignethätte als zum Mechaniker - ein einfacherMaschinist hätte das, wozu ich diese drei Tagebrauchte, in ebensoviel Stunden geschafft. Ichmußte erst mit dem Werkzeug umgehen und dieeinfachsten Grundregeln der Mechanikkennenlernen, die für den Fachmann eineSelbstverständlichkeit waren. Aber am Ende derdrei Tage hatte ich ein Ankerspill, das, wenn auchschwerfällig, arbeitete. Es funktionierte nie so gutwie das alte, aber es ging jedenfalls undermöglichte mir die Arbeit.

Im Laufe eines halben Tages bekam ich diebeiden Marsstengen an Bord, hatte denScherenkran aufgetakelt und wie zuvor mitPardunen versehen. Und diese Nacht schlief ich anBord neben meinem Werke. Maud, die sichgeweigert hatte, an Land zu bleiben, schlief in derBack. Während ich am Spill arbeitete, hatte WolfLarsen daneben gesessen, gelauscht und sich mitMaud und mir über unwichtige Dinge unterhalten.Von keiner Seite wurden Andeutungen über dieZerstörung des Scherenkrans gemacht;ebensowenig sagte er wieder etwas davon, daß ichsein Schiff in Ruhe lassen sollte. Aber immerwieder fürchtete ich ihn, der, blind und hilflos,lauschte, immer lauschte, und ich hütete mich,während der Arbeit in die Reichweite seiner starkenArme zu kommen.

Als ich nachts unter meinem Scherenkranschlief, wurde ich durch seine Schritte an Deck

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geweckt. Es war eine sternenklare Nacht, und ichkonnte ihn undeutlich umhertappen sehen. Ichwickelte mich aus meinen Decken und schlichgeräuschlos auf Strümpfen hinter ihm her. Er hattesich mit einer Ziehklinge aus dem Werkzeugkastenversehen und wollte sich nun daranmachen, dieFalle, die ich wieder an dem Scherenkran befestigthatte, zu durchschneiden. Er betastete die Falleund merkte, daß sie nicht straff gezogen waren.Hier nützte die Ziehklinge nichts. Er zog die Leinendaher an und machte sie fest. Dann schickte er sichan zu schneiden.

„An Ihrer Stelle würde ich es nicht tun", sagte ichruhig.

Er hörte das Klicken meiner Pistole und lachte.„Hallo, Hump!" sagte er. „Ich wußte gut, daß Sie dawaren. Sie können meine Ohren nicht täuschen."

„Das ist nicht wahr, Wolf Larsen", erwiderte ichebenso ruhig wie zuvor. „Ich warte aber auf eineGelegenheit, Sie zu töten. Also schneiden Sie nurweiter."

„Die Gelegenheit haben Sie immer", sagte er.„Los, schneiden Sie!" drohte ich bedeutungsvoll.„Das Vergnügen gönne ich Ihnen doch nicht",

lachte er, wandte sich um und ging nach achtern.„Es muß etwas geschehen, Humphrey", sagte

Maud am nächsten Morgen, als ich ihr dennächtlichen Zwischenfall erzählt hatte. „Solange erseine Freiheit hat, ist er zu allem fähig. Er kann dasSchiff in den Grund bohren oder in Brand stecken.Man kann gar nicht wissen, worauf er verfällt. Wirmüssen ihn festnehmen."

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„Aber wie?" fragte ich und zuckte hilflos dieAchseln. „Ich wage mich nicht in die Reichweiteseiner Arme, und er weiß gut, daß ich ihn nichterschießen kann, solange er sich auf passivenWiderstand beschränkt."

„Es muß eine Möglichkeit geben", beharrte sie.„Lassen Sie mich nachdenken."

„Es gibt eine Möglichkeit", sagte ich grimmig.Sie sah mich erwartungsvoll an.Ich hob den Robbenknüppel.„Töten werde ich ihn nicht", sagte ich. „Und ehe

er sich erholt hat, habe ich ihn gut und sichergebunden."

Sie schüttelte schaudernd den Kopf. „Nein, sonicht. Es muß ein weniger brutales Mittel geben.Lassen Sie uns noch warten."

Aber wir sollten nicht lange warten, bis die Fragevon selbst gelöst wurde. Als Wolf Larsen an Deckkam, bemerkten wir sofort etwas Seltsames an ihm.Sein Gang war noch unsicherer als sonst. Als er dieKajüte an Backbord passierte, schwankte ergeradezu. Am Rand des Hüttendecks taumelte er,hob die Hand, um die gewohnte Bewegung desWegwischens zu machen, und fiel die Treppehinunter auf das Hauptdeck. Er kam auf die Füße;,stolperte aber und schlug mit den Armen um sich,um das Gleichgewicht zu bewahren. Auf derLaufbrücke blieb er eine Weile benommen stehen,dann krümmte er sich plötzlich und brachzusammen. Die Füße glitten ihm fort, und er stürzteaufs Deck.

Wir traten zu ihm, aber er schien das

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Bewußtsein verloren zu haben und atmete nurkeuchend. Maud hockte neben ihm nieder, hob ihmden Kopf, um den Blutandrang zu vermindern, undschickte mich in die Kajüte, um ein Kissen zu holen.Ich brachte auch Decken, und wir betteten ihn. Ichfühlte ihm den Puls. Der schlug regelmäßig undkräftig und war ganz normal. Das war merkwürdig,und ich wurde mißtrauisch.

„Wie, wenn er sich nur verstellt?" sagte ich, nochsein Handgelenk haltend.

Maud schüttelte den Kopf mit einemvorwurfsvollen Ausdruck. Aber im selbenAugenblick entriß er mir sein Handgelenk undumklammerte das meine wie ein Tellereisen. InTodesangst stieß ich einen wilden, unartikuliertenSchrei aus. Ein Blick zeigte mir sein boshaftes,triumphierendes Gesicht, dann legte sich seinanderer Arm um meinen Leib und zog mich in einerfurchtbaren Umarmung nieder. Er ließ meinHandgelenk los, sein anderer Arm legte sich ummeinen Rücken, umschloß meine beiden Arme, sodaß ich mich nicht rühren konnte. Seine freie Handtastete nach meiner Kehle, und dank meinereigenen Dummheit hatte ich in diesem Augenblickden bitteren Vorgeschmack des Todes. Ich fühlteandere Hände an meiner Kehle. Es war Maud, diesich vergebens bemühte, die Hand, die michwürgte, loszureißen. Sie gab den Versuch auf, undjetzt hörte ich sie herzzerreißend schreien - wie einWeib in Angst und tiefster Verzweiflung schreit. Ichkannte dies Schreien vom Untergang der Maitinez.

Mein Gesicht war gegen seine Brust gepreßt,

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und ich konnte nichts sehen, aber ich hörte Maudschnell über das Deck laufen. Ich war noch beivollem Bewußtsein, und es

kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis ich siewiederkehren hörte. Und dann spürte ich, wie derMann unter mir zusammensank. Die Hand anmeiner Kehle löste sich. Ich atmete wieder. Nocheinmal wurde sein Griff wieder fester. Aber selbstsein ungeheurer Wille konnte die Schwäche nichtüberwinden und versagte. Dann verlor er dasBewußtsein.

Ich wälzte mich fort und lag, nach Luftschnappend und im Sonnenschein blinzelnd, aufdem Rücken. Maud - meine Augen hatten sofort ihrAntlitz gesucht -, Maud war blaß, aber beherrscht,und sie blickte mich erregt und erleichtert an.

Ich sah einen mächtigen Robbenknüppel in ihrerHand, und im selben Augenblick bemerkte sie dieRichtung meiner Augen. Sie ließ den Knüppelfallen, als ob sie sich die Finger verbrannt hätte,und im nächsten Augenblick lag sie in meinenArmen und weinte krampfhaft an meiner Schulter,während ich sie fest umschlang. Ich sah hinab aufden braunen Schein ihres Haares, das für mich einim Sonnenschein glitzernder Juwelenschmuck war,wertvoller, als je in der Schatzkammer eines Königsaufgehäuft gewesen. Und ich küßte leise ihr Haar,so leise, daß sie es nicht merkte.

Dann aber überkamen mich wieder nüchterneGedanken. Alles in allem war sie ja nur ein Weib,das jetzt, da sie nach überstandener Gefahr in denArmen ihres Beschützers ruhte, vor Freude weinte.

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Wäre ich ihr Vater oder Bruder gewesen, nichtshätte anders ausgesehen. Zudem waren Zeit undOrt nicht dazu angetan, mir ein Recht zu geben,meine Liebe zu gestehen. So küßte ich denn nocheinmal leise ihr Haar und fühlte dann, wie sie sichaus meiner Umarmung löste.

„Jetzt, da er hilflos ist, soll er es auch bleiben",sagte ich. „Von heute an wohnen wir in der Kajüte,und Wolf Larsen wird mit dem Zwischendeckvorliebnehmen."

Ich faßte ihn unter der Schulter und schleppteihn nach der Laufbrücke.

Auf meine Anweisung holte Maud einen Strick.Ich zog ihn ihm unter den Armen hindurch, brachteihn über die Schwelle und ließ ihn über die Stufenauf den Boden hinab. Ich konnte ihn nicht in dieKoje heben, aber mit Mauds Hilfe hob ich zuerstKopf und Schultern über den Rand, schob dannden Körper nach und hatte ihn nun in einerUnterkoje.

Aber das genügte mir noch nicht. Ich erinnertemich, daß er in seiner Kajüte Handeisen hatte, dieer zuweilen bei seinen Matrosen benutzt hatte. Undals wir ihn dann verließen, lag er an Händen undFüßen gefesselt da. Zum erstenmal seit vielenTagen atmete ich auf. Als ich an Deck kam, fühlteich mich so erleichtert, als wäre eine schwere Lastvon meinen Schultern genommen.

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Dreizehntes KapitelWir zogen sofort an Bord der Ghost, nahmen

unsere alte Kajüte in Besitz und kochten in derKombüse. Die Gefangennahme Wolf Larsens warzu einem äußerst günstigen Zeitpunkt erfolgt, dennder Nachsommer war vorbei, und es hatteregnerisches und stürmisches Wetter eingesetzt.

Wir fühlten uns sehr behaglich auf dem Schoner,dem der Scherenkran und der an ihm hängendeFockmast ein gewisses geschäftiges Aussehenverliehen, das baldige Abreise zu verkündenschien.

Wir hatten Wolf Larsen in Eisen, aber wieunnötig war es jetzt! Wie dem ersten, so war auchdem zweiten Anfall eine ernste Lähmung gefolgt.Maud machte diese Entdeckung, als sie amNachmittag versuchte, ihm etwas zu essen zugeben. Er schien noch bewußtlos zu sein, und alswir ihn ansprachen, antwortete er nicht. Er lagdiesmal auf der linken Seite und litt offenbar starkeSchmerzen. In ewiger Unruhe warf er den Kopf hinund her. Dabei hob er das Ohr von dem Kissen,gegen das es gepreßt gewesen war, und soforthörte er, was sie sagte, und antwortete. Maudwandte sich zu mir. Ich preßte ihm wieder dasKissen gegen das linke Ohr und fragte ihn, ob ermich höre, aber er regte sich nicht. Dann nahm ichdas Kissen fort, wiederholte die Frage, und soforterwiderte er, daß er mich verstehe.

„Wissen Sie, daß Sie auf dem rechten Ohr taubsind?" fragte ich.

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„Ja", antwortete er mit leiser, aber fester Stimme,„und schlimmer als das: Meine ganze rechte Seiteist wie gelähmt. Ich kann weder Arm noch Beinbewegen."

„Verstellen Sie sich nun wieder?" fragte ichärgerlich. Er schüttelte den Kopf, und sein trotzigerMund verzog sich zu einem seltsamen, verzerrtenLächeln, wirklich verzerrt, denn nur die Muskeln derlinken Gesichtshälfte bewegten sich, während dierechte Seite starr blieb.

„Das war das letzte Spiel des Wolfes", sagte er.„Ich bin gelähmt. Ich werde nie wieder gehen. Oh,nur die andere Seite", fügte er hinzu, als erriete erden mißtrauischen Blick, den ich auf sein linkesBein warf, dessen Knie sich soeben unter derBettdecke gekrümmt hatte. „Es ist auch wirklichPech", fuhr er fort. „Ich würde mich gefreut haben,wenn ich Ihnen wenigstens den Garaus gemachthätte. Dazu, dachte ich, würden meine Kräfte nochreichen."

„Aber warum denn?" fragte ich entsetzt.Wieder verzog sich sein trotziger Mund zu dem

verzerrten Lächeln, und er sagte: „Ach, nur umlebendig zu sein, zu leben und zu handeln, um dasgrößere Stück Gärstoff zu sein, um Sie zu fressen.Aber auf diese Weise zu sterben..." Er zuckte dieAchseln oder versuchte es vielmehr, denn nur dielinke Schulter bewegte sich. Sein Achselzuckenwar ebenso verzerrt wie sein Lächeln.

„Aber haben Sie eine Erklärung für IhreKrankheit?" fragte ich. „Wo sitzt sie?"

„Im Gehirn", erwiderte er sofort. „Die verfluchten

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Kopfschmerzen sind die Ursache."„Symptome", meinte ich.Er nickte. „Es gibt keine Erklärung. Ich bin nie in

meinem Leben krank gewesen. Irgend etwas ist mitmeinem Gehirn los. Ein Geschwür, ein Tumor oderetwas Derartiges - etwas, das frißt und zerstört. Esgreift mein Nervenzentrum an, frißt es Stück aufStück, Zelle auf Zelle. Ich kann nicht mehr sehen.Gehör und Gefühl verlassen mich, und bald werdeich auch nicht mehr sprechen können. Und dochwerde ich hier sein, lebendig und ohnmächtig."

„Und wie denken Sie nun über dieUnsterblichkeit der Seele?" fragte ich ihn.

„Quatsch!" lautete die Antwort. „Die Sache isteinfach die, daß meine höheren physischenZentren unberührt sind. Ich besitze noch meinGedächtnis, ich kann denken und Schlüsse ziehen.Wenn das vorbei ist, bin ich fertig. Bin nicht mehr.Die Seele-?"

Er lachte höhnisch. Dann drehte er sein linkesOhr wieder gegen das Kissen, zum Zeichen, daß erdie Unterhaltung nicht fortzusetzen wünsche.

Maud und ich machten uns an unsere Arbeit,bedrückt durch den Gedanken an das furchtbareGeschick, das ihn betroffen hatte - wie furchtbar eswar, sollten wir erst später ganz erfahren. Es lagetwas von dem Schrecken der Vergeltung darin.

Unsere Gedanken waren ernst und feierlich, undwir sprachen anfangs nur flüsternd miteinander.

„Sie könnten mir gern die Handeisenabnehmen", sagte er abends, als wir neben ihmstanden und über seinen Zustand sprachen. „Ganz

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sicher, ich bin unheilbar. Ich habe mich schon aufdas Wundliegen gefaßt gemacht."

Er lächelte sein verzerrtes Lächeln. MaudsAugen waren starr vor Entsetzen, und sie mußtesich abwenden.

Innerlich war er ganz unverändert. Er war immernoch der alte, unbezwingliche, furchtbare WolfLarsen, nur jetzt gefangen in diesem Fleisch, daseinst so unbesiegbar und prachtvoll gewesen. Jetztband es ihn mit unsichtbaren Fesseln, hüllte seineSeele in Finsternis und Schweigen und schloß ihnaus von der Welt, die für ihn der Inbegriffaufrührerischer Tatkraft gewesen war.

Wir nahmen ihm die Handeisen ab, konnten unsaber doch nicht mit seinem Zustand vertrautmachen. Unser Gefühl lehnte sich dagegen auf.Was hatten wir noch von ihm zu erwarten? Wirwußten es nicht; aber vielleicht Furchtbares! SeinGeist konnte sich gegen das Fleisch erheben,konnte ausbrechen, wer wußte es? UnsereErfahrung machte uns unsicher, und nur mit einemGefühl von Angst gingen wir wieder an unsereArbeit.

Mit dem Scherenkran hievte ich den Großbauman Bord. Seine vierzehn Meter mußten genügen,um den Mast hereinzubringen. Mit einer an demScherenkran festgemachten Leine schwang ich denBaum hoch, so daß er im Gleichgewicht pendelte,dann ließ ich das Ende auf das Deck herab, wo ich,um ihn vor dem Rutschen zu bewahren, großeKlampen befestigt hatte.

Den Einzelblock meines Scherenkrans hatte ich

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am Ende des Baumes festgemacht. Mit dem Spillkonnte ich nun die Spitze des Baumes nachBelieben heben und senken, während das Endeseinen festen Halt behielt. Dazu konnte ich ihn mitHilfe von Fallen seitwärts schwingen. An der Spitzebefestigte ich einen Flaschenzug, und als die ganzeEinrichtung fertig war, hatte ich meine helle Freudean der Kraft und Leichtigkeit, mit der sie arbeitete.

Natürlich nahm mich dieser Teil der Arbeit zweivolle Tage in Anspruch, und erst am Morgen desdritten waren wir fertig. Ich hatte mich besondersungeschickt dabei angestellt. Ich hatte gesägt,gehackt und gestemmt, bis das verwitterte Holzaussah, als wäre es von Mäusen angeknabbert.Aber schließlich ging es.

Ein neuer Schlag hatte Wolf Larsen getroffen. Erhatte die Stimme verloren oder war jedenfallsdaran, sie zu verlieren. Nur hin und wieder konnteer noch Gebrauch von ihr machen. Aber plötzlichkonnte die Stimme mitten im Satz versagen, unddann mußten wir zuweilen stundenlang warten, bisdie Verbindung wiederhergestellt war. Er klagteüber starke Kopfschmerzen. In dieser Periodedachte er sich ein System aus, um sich mit unsverständigen zu können, wenn er überhaupt nichtmehr sprechen konnte: ein einfacher Händedruckbedeutete ja, ein doppelter nein. Es war gut, daßwir diese Vereinbarung trafen, denn schon amAbend versagte die Sprache ganz. Jetztbeantwortete er unsere Fragen durchHändedrücken, und wenn er zu sprechenwünschte, kritzelte er

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seine Gedanken mit der Linken, kaum lesbar,auf ein Blatt Papier.

Der strenge Winter war im Anmarsch. Ein Sturmfolgte dem andern mit Schnee, Hagel und Regen.Die Robben hatten ihre große Wanderung nachdem Süden angetreten, und die Robbeninsel warso gut wie verlassen. Ich arbeitete fieberhaft. TrotzWind und Wetter war ich vom frühen Morgen biszum späten Abend an Deck und machte tüchtigeFortschritte.

Meine Erfahrungen beim Einrichten desScherenkrans und des Fockmastes kamen mir jetztzugute. Ich brachte Takelung, Stagen und Falle an.Wie gewöhnlich, hatte ich die Arbeit unterschätzt:Ich brauchte zwei Tage dazu. Und dabei war nochso vieles zu tun, wie zum Beispiel das Einrichtender Segel, die gänzlich umgearbeitet werdenmußten.

Während ich am Fockmast arbeitete, nähteMaud an den Segeln, immer bereit, ihre Arbeit ausder Hand zu legen, wenn es galt, mir zu helfen, womeine beiden Hände nicht ausreichten. DasSegelleinen war hart und schwer, und sie nähtenach Matrosenart mit der ganzen Handfläche undeiner dreikantigen Segelnadel. Ihre armen Händewaren bald von Blasen bedeckt, aber sie kämpftetapfer weiter, und dazu kochte sie und pflegte denKranken.

„Nun, was sagen Sie dazu?" sagte ich amFreitagmorgen. „Heute kommt der Großmast an dieReihe!"

Alles war bereit. Mit Hilfe des Ankerspills holte

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ich den Mast beinahe klar über die Reling. Kurzdarauf pendelte er frei über Deck.

Maud klatschte in die Hände, als sie einenAugenblick nicht den Törn zu halten brauchte.Dann aber wurde ihr Gesicht plötzlich traurig. „Er istnicht über dem Loch", sagte sie. „Müssen Sie nunwieder ganz von vorn anfangen?"

Ich lächelte überlegen, dann ließ ich eine Taljenach, zog die andere an, und der Mast schwangsich mitten über das Deck.

Gerade zu der viereckigen Öffnung der Staffelsenkte sich das Ende herab, aber da drehte sichder Mast, so daß das eine Viereck nicht in dasandere paßte. Doch ich war mir nicht eine Sekundelang unklar, was ich zu tun hatte. Beim Schein derLampe sah ich, wie sich das Mastende langsamdrehte, bis seine Ränder parallel zu denen derStaffel standen. Maud kehrte wieder zum Ankerspillzurück. Langsam senkte sich der Mast Zoll für Zoll,drehte sich aber wieder leicht dabei. Wiederrichtete Maud die Lage mit der Taschentalje, undwieder ließ sie den Mast herab, bis Viereck inViereck paßte. Der Mast war eingesetzt.

Ich rief, und sie kam schnell herunter, um zusehen. Im gelben Schein der Laterne betrachtetenwir unser Werk. Dann sahen wir uns an undklatschten in die Hände. Ich glaube, wir hattenbeide feuchte Augen vor Freude über unsernErfolg.

„Schließlich ging es doch ganz leicht", meinteich.

„Und doch ist es das reine Wunder, daß es

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vollbracht ist", sagte Maud. „Ich vermag es kaum zuglauben, daß der große Mast wirklich steht; daß Sieihn aus dem Wasser gehoben, durch die Luftgeschwungen und an seinen Platz gebracht haben.Es war eine Titanenarbeit."

„Wir sind wahre Erfinder!" rief ich fröhlich, hieltaber inne und sog die Luft ein. Ich warf einenhastigen Blick auf die Laterne. Sie rauchte nicht.Wieder sog ich die Luft ein.

„Es brennt!" sagte Maud plötzlich inüberzeugtem Ton.

Wir sprangen zur Treppe, aber ich kam ihr zuvorund war zuerst an Deck. Aus dem Zwischendeckstieg eine dichte Rauchwolke empor. „Der Wolf istnoch nicht tot", murmelte ich, als ich durch denRauch hindurchsprang.

Der Rauch war so dicht in dem engen Raum,daß ich mich vorwärts tasten mußte; und solcheMacht hatte die Persönlichkeit Wolf Larsens übermeine Einbildungskraft, daß ich darauf vorbereitetwar, den würgenden Griff des hilflosen Riesen ummeinen Hals zu fühlen. Ich zauderte; da dachte ichan Maud und wußte, daß ich nicht umkehrenkonnte.

Keuchend und fast erstickend, erreichte ich WolfLarsens Koje. Ich streckte die Hand aus und tastetenach der seinen. Er lag regungslos da, bewegtesich aber leicht bei meiner Berührung. Ich fühlteüber und unter seine Decken. Hier war keine

Wärme, kein Anzeichen von Feuer zu spüren.Aber der Rauch, der mich blendete, husten undnach Luft schnappen ließ, mußte doch seine

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Ursache haben! Ich verlor einen Augenblick denKopf und rannte verwirrt im Zwischendeck herum.Ein heftiger Aufprall auf den Tisch brachte michwieder zu mir. Ich überlegte mir, daß ein hilfloserMann das Feuer nur dort, wo er lag, hatteanzünden können. So lief ich denn wieder zu WolfLarsens Koje. Dort stieß ich auf Maud. Wie langesie sich schon in dieser erstickenden Luft befand,wußte ich nicht.

„Schnell an Deck!" befahl ich entschieden.Die reine Luft wirkte wie Nektar. Maud war nur

schwach und benommen, und ich ließ sie an Deckliegen, während ich zum zweiten Male nach untenging.

Die Rauchwolke mußte ganz dicht bei WolfLarsen sein -diesen Gedanken hielt ich fest, als ichgerade auf seine Koje zuging. Während ich unterseinen Decken herumtastete, fiel mir etwas Heißesauf den Handrücken. Es brannte, und ich zog dieHand schnell zurück.

Jetzt begriff ich: Durch die Öffnung hindurchhatte er die Matratze der Oberkoje in Brandgesteckt. Seine Linke war noch imstande gewesen,es zu tun. Bei dem Mangel an Luftzug hatte dasfeuchte Stroh der Matratze nur schwelen können.

Als ich sie aus der Koje riß, schlugen sofort diehellen Flammen heraus. Ich löschte diebrennenden Strohreste und stürzte dann an Deck,um Luft zu schöpfen. Einige Eimer Wassergenügten, um den Brand zu löschen. Zehn Minutenspäter hatte sich der Rauch genügend verzogen.Wolf Larsen war bewußtlos, aber die frische Luft

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brachte ihn bald wieder zu sich. Während wir nochmit ihm beschäftigt waren, machte er uns durchZeichen verständlich, daß er Papier und Bleistiftwünschte.

„Bitte, stören Sie mich nicht", schrieb er, „ichlächle." -„Sie sehen, daß ich immer noch einStückchen Hefe bin", schrieb er kurz darauf. „Abernur ein sehr kleines Stückchen, Gott sei Dank!"sagte ich.

„Danke", schrieb er. „Und doch bin ich noch vollund ganz hier, Hump. Ich vermag schärfer zudenken als je zuvor in meinem Leben. Nichts störtmich mehr. Die Konzentration ist vollkommen. Ichbin voll und ganz hier, ja mehr als das!"

Es war wie eine Botschaft aus der Nacht desGrabes, denn der Körper dieses Mannes war seinMausoleum geworden. Und hier, in diesemseltsamen Grabe, flatterte sein Geist und lebte. Ersollte flattern und leben, bis die letzte Verbindungabgebrochen war, und dann - wer wußte, wieviellänger sie noch flattern und leben konnte?

„Ich glaube, meine linke Seite wird auch lahm",schrieb Wolf Larsen am Morgen nach seinemVersuch, das Schiff in Brand zu stecken. „DieGefühllosigkeit nimmt zu. Ich kann kaum die Handbewegen. Sie müssen lauter sprechen. Die letztenLeinen sind bald gekappt."

„Haben Sie Schmerzen?" fragte ich.Ich mußte meine Frage laut wiederholen, ehe er

antwortete: „Nicht immer."Seine Linke tastete langsam und mühevoll über

das Papier, und mit größter Schwierigkeit

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entzifferten wir das Gekritzel. Es war wie eineGeisterschrift.

„Aber ich bin noch hier, voll und ganz hier",kritzelte die Hand langsamer und mühseliger als je.

Der Bleistift entfiel ihr, und wir mußten ihn wiederzwischen seine Finger stecken.

„Wenn ich keine Schmerzen spüre, habe ichganz Ruhe und Frieden. Ich habe nie so klargedacht. Ich kann über das Leben nachdenken wieein weiser Hindu."

„Und die Unsterblichkeit?" rief ihm Maud ins Ohr.Dreimal versuchte die Hand zu schreiben, tappte

verzweifelt. Der Bleistift fiel. Vergebens wollten wirihn ihm wieder reichen. Die Finger vermochten sichnicht mehr zu schließen. Da umschloß Maud seineHand mit der ihren und drückte sie zusammen, under schrieb mit großen Buchstaben und so langsam,daß zwischen jedem einzelnen Minuten vergingen:

„U - ns - inn."Dies war Wolf Larsens letztes Wort: Unsinn,

eisern und unbezwinglich bis zuletzt. Arm und Handsanken nieder. Ein leichtes Zucken durchfuhrseinen Körper. Dann regte er sich nicht mehr. Maudließ seine Hände los. Die Finger öffneten sich durchihr eigenes Gewicht, und der Bleistift fiel zu Boden.

„Können Sie noch hören?" rief ich, indem ichseine Hand faßte und auf den einmaligen Druckwartete, der „ja" bedeutete. Es erfolgte keineAntwort. Die Hand war tot.

„Ich habe bemerkt, daß die Lippen sich leichtbewegten", sagte Maud.

Ich wiederholte die Frage.

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Die Lippen bewegten sich wirklich.Maud legte die Fingerspitzen darauf. Nochmals

wiederholte ich die Frage. „Ja", verkündete Maud.Wir blickten uns erwartungsvoll an.

„Was nun?" fragte ich. „Was sollen wir ihnfragen?"

„Ach, fragen Sie ihn -" Sie zögerte.„Fragen Sie ihn etwas, das ein Nein als Antwort

erfordert", schlug ich vor. „Dann werden wirGewißheit haben."

„Sind Sie hungrig?" rief sie.Seine Lippen bewegten sich unter ihrem Finger,

und sie meldete: „Ja."„Wollen Sie etwas Fleisch haben?" So lautete

die nächste Frage.„Nein", verkündete sie.„Brühe?"„Ja, er möchte etwas Brühe haben", sagte sie

und blickte zu mir auf. „Bis sein Gehör völligversagt, werden wir uns mit ihm verständigenkönnen. Dann -" Sie sah mich mit einem seltsamenBlick an.

Ich sah, wie ihre Lippen zitterten und ihr dieTränen in die Augen stiegen. Sie wankte, und ichfing sie in meinen Armen auf.„Ach, Humphrey",schluchzte sie, „wann wird dies alles ein Endehaben? Ich bin so müde, so müde."

Sie barg ihren Kopf an meiner Schulter, ihrezarte Gestalt wurde von heftigem Weinenerschüttert. Wie eine Feder lag sie mir im Arm, soleicht und ätherisch.

Jetzt ist sie doch zusammengebrochen! dachte

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ich. Was kann ich ohne ihre Hilfe tun?Aber ich beruhigte und tröstete sie, bis sie sich

zusammenriß und ihr Gleichgewicht ebenso schnellwiedergewann, wie sie sich körperlich zu erholenpflegte.

Als der Fockmast stand, machte die Arbeitsichtliche Fortschritte. Fast ehe ich es wußte, undohne daß ich mich besonders angestrengt hätte,war der Großmast eingesetzt. Dann wurde die Piekam Fockmast angebracht, und einige Tage späterbefanden sich alle Stagen und Wanten an ihrenPlätzen. Toppsegel wären für eine nur aus zweiKöpfen bestehende Mannschaft nur gefährlichgewesen, und so heißte ich die Marsstengen anDeck und machte sie fest.

Noch einige Tage brauchten wir, um die Segelfertigzustellen und festzumachen. Wir hatten nurdrei: Klüver-, Fock-und Großsegel, und geflickt,verkleinert und formlos, wie sie waren, paßten sienur schlecht zu einem so schön gebauten Fahrzeugwie die Ghost. Von meinen vielen neuen Berufeneignete ich mich sicher am wenigsten zu dem einesSegelmachers. Ich wußte besser mit den Segelnumzugehen, als sie zu verfertigen, und ich zweifeltenicht, daß es mir gelingen würde, den Schoner inirgendeinen japanischen Hafen zu bringen. Ichhatte wirklich ein gut Teil Navigation aus den anBord befindlichen Büchern gelernt, und zudemhatte ich Wolf Larsens Sternenskala, nach der einKind sich hätte orientieren können.

Was ihren Erfinder betraf, so hatte sich seinBefinden wenig geändert, außer der Tatsache, daß

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seine Taubheit zunahm und die Bewegungenseiner Lippen immer schwächer wurden. An demTag aber, als wir mit den Segeln fertig wurden,vernahm ich das letzte Wort, und die letzteBewegung seiner Lippen hörte auf - aber nicht, eheer auf meine Frage: „Sind Sie voll und ganz da?"noch einmal „ja" geantwortet hatte. Die letzte Leinewar gekappt. Irgendwo in der Grabkammer desFleisches weilte noch die Seele des Mannes.Umschlossen vom lebendigen Lehm, brannte diesestarke Intelligenz, die wir gekannt hatten, aber siebrannte in Schweigen und Finsternis. Und sie warkörperlos geworden. Sie wußte nichts mehr vonihrem Körper. Sie kannte keinen Körper. Sie kanntenur sich selbst und die Weite und Tiefe von Ruheund Dunkelheit.

Der Tag unserer Abreise kam. Es gab nichtsmehr, was uns auf der Mühsalinsel zurückgehaltenhätte. Die verkürzten Masten der Ghost waren anihrem Platze und die Segel festgemacht. Alles, wasich geschaffen, war stark, nichts davon war schön,aber ich wußte, daß es leisten würde, was es sollte,und wenn ich es anblickte, fühlte ich mich stark.

Das habe ich gemacht! Mit meinen eigenenHänden!

Das hätte ich am liebsten hinausgeschrien.Aber Maud und ich hatten die wundersame

Fähigkeit, einer die Gedanken des andernauszusprechen, und als wir nun darangingen, dasGroßsegel zu setzen, sagte sie: „Und daß Sie dasalles mit Ihren eigenen Händen gemacht haben,Humphrey!"

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„Aber es waren noch zwei Hände da", antworteteich, und sie hielt mir lachend ihre Hände entgegen.

„Ich werde sie nie wieder sauber bekommen",klagte sie, „und sonnenverbrannt werden sie wohlmein ganzes Leben bleiben."

„Dann werden der Schmutz und diesonnenverbrannte Haut Ihr Ehrenzeichen sein",sagte ich und nahm ihre Hände in die meinen, undtrotz allen, selbst guten Vorsätzen würde ich diebeiden teuren Hände geküßt haben, hätte sie sienicht schnell zurückgezogen.

Unsere Kameradschaft stand auf schwachenFüßen. Ich hatte meine Liebe lange und gutbeherrscht, aber jetzt drohte sie mich zuüberwältigen. Gegen meinen Willen hatte sieeigenmächtig meine Augen zum Sprechengebracht. Ich war in diesem Augenblick wie vonSinnen. In meinem Innern tönte es, als riefen michJagdhörner zu ihr. Und mich wehte ein Wind an,dem ich nicht widerstehen konnte, der meinenganzen Körper ins Schwanken brachte, bis ichmich, ganz unbewußt, niederbeugte, ihre Hände zuküssen. Und sie wußte es. Sie mußte es wissen,als sie schnell ihre Hände fortzog und es doch nichtlassen konnte, mir einen hastig forschenden Blickzu senden, ehe sie die Augen senkte.

Mit Hilfe der Deckstaljen hatte ich die Falle nachvorn zum Spill geschafft, und jetzt setzte ichgleichzeitig Großsegel und Piek. Es war nicht leicht,aber es ging, und bald war die Fock oben undflatterte im Winde. „Wir bekommen den Anker hiernie herauf, es ist zu eng", sagte ich. „Wir müssen

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erst aus den Schären heraus sein."„Was machen wir da?" fragte sie.„Wir kappen ihn", lautete meine Antwort, „und

während ich es tue, müssen Sie Ihre erste Arbeitam Spill verrichten. Ich muß sofort ans Rad, undgleichzeitig müssen Sie den Klüver setzen."

Dies Manöver hatte ich mindestens zwanzigmaldurchdacht, und ich wußte, daß Maud imstandewar, das unentbehrliche Segel zu setzen. Einfrischer Wind wehte gerade in die Bucht herein, undwenn auch das Wasser ruhig war, so mußten wirdoch mit äußerster Schnelligkeit arbeiten, umsicher herauszukommen.

Sobald ich den Schäkelbolzenherausgeschlagen hatte, rasselte die Kette durchdas Klüsgatt ins Meer. Ich stürzte nach achtern undlegte das Ruder um. Die Ghost schien lebendig zuwerden, als ihre Segel sich zum erstenmal blähten.Der Klüver ging hoch. Als er in den Wind kam,schwang der Bug der Ghost herum, und ich mußtedas Rad einige Spaken zurückdrehen, um dasSchiff wieder in den Kurs zu bringen. Ich hatte mireine automatische Klüverschot erdacht, die denKlüver von selbst herüberbrachte, so daß Maud ihnnicht zu bedienen brauchte; sie hatte aber kaumden Klüver hoch, als ich das

Ruder hart umlegte. Es war ein gefährlicherAugenblick, denn die Ghost lief bis aufSteinwurfweite geradenwegs auf den Strand zu.Aber gehorsam drehte sie sich in den Wind. DieSegel schlugen heftig - ein Geräusch, das meineOhren mit Entzücken hörten -, und dann standen

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sie wieder prall auf der andern Seite. Maud hatteihre Aufgabe vollbracht und kam nach achtern, wosie neben mir stehenblieb, eine kleine Mütze aufdem vom Winde zerzausten Haar, die Wangen vonder Anstrengung gerötet, die Augen weit und hellvor Erregung, die Nasenflügel zitternd in derfrischen salzigen Luft. Ihre braunen Augen glichendenen eines aufgescheuchten Rehs. Ihr Blick warwach und unruhig, wie ich ihn nie gesehen, ihreLippen öffneten sich, und ihr Atem stockte, als dieGhost gegen das Felsenriff an der Ausfahrt derinneren Bucht anstürmte, dann in den Wind gingund unter vollen Segeln in das sichere Fahrwasserhinausfuhr.

Meine Dienstzeit als Steuermann in denRobbengründen kam mir jetzt ausgezeichnetzustatten. Ich brachte das Schiff gut aus derinneren Bucht heraus und ging in einem weitenBogen in die äußere hinein. Noch ein Schlag, unddie Ghost hatte die offene See erreicht. Nun hattesie den Hauch des Ozeans gespürt und atmeteselbst im gleichen Rhythmus, indem sie diebreitrückigen Wogen sanft hinauf- und hinabglitt.

Es war trübe und wolkig gewesen, jetzt aberbrach die Sonne hindurch - ein verheißungsvollesVorzeichen - und schien über die geschweifteKüste. Die ganze Mühsalinsel erstrahlte imSonnenschein. Selbst das unheimlichesüdwestliche Vorgebirge sah weniger unheimlichaus, und hier und da, wo der Gischt hochemporsprang, glänzte und funkelte es in derblendenden Sonne.

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„Ich werde mit Stolz daran denken", sagte ich zuMaud.

Sie warf mit einer königlichen Gebärde den Kopfzurück und sagte: „Du liebe Mühsalinsel! Ich werdedich immer lieben."

„Und ich auch", sagte ich rasch. Unsere Blickewollten sich treffen, und doch zwangen wir sieaneinander vorbei.

Einen Augenblick schwiegen wir fast unbeholfen,dann aber sagte ich: „Sehen Sie die schwarzenWolken in Luv? Sie werden sich erinnern, daß ichIhnen gestern abend sagte, das Barometer fiele."

„Und die Sonne ist verschwunden", sagte sie,den Blick immer noch auf unsere Insel gerichtet.

„Die Fahrt geht nach Japan!" rief ich heiter. „Eingünstiger Wind und volle Segel, was wollen wirmehr?"

Ich verließ das Rad und lief nach vom, warfFock- und Großschot los und machte alles zumEmpfang des Windes bereit. Es war Sturm, eintüchtiger Sturm, aber ich entschloß mich, so langewie möglich die Segel oben zu behalten. Leider wares unter diesen Umständen nicht möglich, dasRuder festzumachen, und so mußte ich daraufgefaßt sein, die ganze Nacht am Rade zu stehen.Maud bestand darauf, mich abzulösen, es zeigtesich aber doch, daß sie nicht Kraft genug hatte, inschwerer See zu steuern. Sie war ganzniedergeschlagen, fand aber bald genug zu tun:Falle und Leinen mußten gestrafft, das Essen in derKombüse gekocht, Betten gemacht und WolfLarsen gepflegt werden, und sie beendete ihr

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Tagewerk, indem sie in der Kajüte und imZwischendeck gründlich aufräumte.

Ich steuerte die ganze Nacht ohne Ablösung, derWind wuchs langsam und beständig, und die Seemit ihm. Um fünf Uhr morgens brachte Maud mirheißen Kaffee und Kuchen, den sie gebackenhatte, und um sieben flößte mir ein tüchtiges,kochendheißes Frühstück neues Leben ein.

Den ganzen Tag wuchs der Wind. Und immernoch schäumte die Ghost dahin, raste Meile aufMeile mit einer Geschwindigkeit, die ich aufmindestens elf Knoten die Stunde schätzte. Ichmußte die Gelegenheit wahrnehmen, aber beiEinbruch der Nacht war ich völlig erschöpft.Obgleich ich in glänzender körperlicher Verfassungwar, hatte ich jetzt doch die Grenze meiner Krafterreicht. Dazu flehte Maud mich an beizudrehen,und ich wußte, daß das, wenn Wind und See weiterso wuchsen, bald nicht mehr möglich war. So trafich denn bei Dunkelwerden meine Vorbereitungen.

Aber ich hatte nicht mit den ungeheurenSchwierigkeiten gerechnet, die das Reffen dreierSegel für einen einzigen Mann bedeutete. Immerwieder machte der Sturm meine Anstrengungenzunichte, riß mir die Leinwand aus den Händen undzerstörte in einem Augenblick, was ich in zehnMinuten schwersten Kampfes erreicht hatte. Umacht Uhr hatte ich erst das zweite Reff in die Fockgeschlagen. Um elf war ich noch nicht vielweitergekommen. Meine Fingerspitzen bluteten,und alle Nägel waren abgebrochen. Vor Schmerzund Erschöpfung weinte ich heimlich im Dunkeln,

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wenn Maud es nicht sah.Verzweifelt gab ich es auf, das Großsegel zu

reffen, und entschloß mich, unter gereffter Fockbeizudrehen. Noch drei Stunden brauchte ich, umGroßsegel und Klüver zu beschlagen, und um zweiUhr morgens konnte ich, mehr tot als lebendig,feststellen, daß mein Versuch geglückt war. Diegereffte Fock tat ihren Dienst. Die Ghost hielt sicham Winde, sie zeigte keine Neigung, sich quer inden Seegang zu legen. Ich war ganz ausgehungert,aber Maud versuchte vergebens, mir etwaseinzuflößen. Mit vollem Munde schlief ich auf demStuhl ein.

Wie ich aus der Kombüse in die Kajüte kam,weiß ich nicht. Ich wurde von Maud geführt undgestützt. Als ich lange darauf erwachte, lag ich inmeiner Koje. Maud hatte mich hingelegt und mir dieSchuhe ausgezogen. Ich war ganz steif undzerschlagen und schrie vor Schmerz auf, als ich mitmeinen wunden Fingerspitzen das Bettzeugberührte. Es war offenbar noch nicht Morgen, undso schloß ich die Augen und schlief wieder ein.

Wieder erwachte ich, verwirrt, daß ich nichtbesser schlief. Ich zündete ein Streichholz an undsah auf die Uhr. Sie zeigte Mitternacht. Und ichhatte das Deck um drei Uhr nachtsverlassen! Nacheinigem Nachdenken fand ich die Lösung: Ich hatteeinundzwanzig Stunden geschlafen. Ich lauschteeine Weile auf das Stampfen der Ghost, dasRauschen der See und das gedämpfte Tosen desWindes, dann drehte ich mich auf die andere Seiteund schlief friedlich weiter bis zum Morgen.

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Als ich um sieben Uhr aufstand, sah ich nichtsvon Maud und schloß daher, daß sie in derKombüse sei, um das Frühstück zu bereiten. Ichbegab mich an Deck und fand, daß die Ghost sichprächtig hielt. In der Kombüse brannte zwar dasFeuer, und das Wasser kochte, aber ich fand keineMaud.

Ich entdeckte sie schließlich im Zwischendeckneben Wolf Larsens Koje. Ich betrachtete ihn, denMann, der von der höchsten Zinne des Lebensherabgeschleudert war in dies furchtbareLebendigbegrabensein. Sein stilles, ruhigesGesicht zeigte eine Milde, die ich nie zuvorgesehen. Maud blickte mich an, und ich verstand.„Sein Leben ist im Sturm erloschen", sagte ich.

„Aber er lebt noch", antwortete sie mitunendlicher Zuversicht in ihrer Stimme.

„Er hatte zuviel Kräfte."„Ja", sagte sie. „Aber jetzt binden sie ihn nicht

mehr. Er ist ein freier Geist."„Ja, er ist jetzt frei", entgegnete ich; dann faßte

ich ihre Hand und führte sie an Deck.Die Gewalt des Sturmes brach sich in dieser

Nacht, das heißt: Er legte sich ebenso langsam undallmählich, wie er aufgekommen war. Als ich amnächsten Morgen nach dem Frühstück WolfLarsens Leiche zur Bestattung an Deck schaffte,wehte es noch stark, und die See ging hoch. DasWasser spülte immer wieder über das Deck hinwegund lief durch die Speigatten ab. Eine heftige Bötraf plötzlich den Schoner, der sich überlegte, daßdie Leereling völlig begraben war, und das Pfeifen

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in der Takelung wuchs zu einem wilden Kreischen.Wir standen bis zu den Knien im Wasser.

Ich entblößte den Kopf.„Ich erinnere mich nur an eine Stelle des

Gottesdienstes", sagte ich, „nämlich: ,Und dein Leibsoll in die See geworfen werden.'"

Maud sah mich an, überrascht und entsetzt.Aber die Erinnerung an etwas, das ich einstgesehen, wurde lebendig in mir und ließ mich WolfLarsen bestatten, wie Wolf Larsen einen anderenbestattet hatte. Ich hob das Ende desLukendeckels, und der in Segelleinen eingenähteKörper glitt, die Füße voran, ins Meer. Das eiserneGewicht zog ihn nieder. Er war verschwunden.

„Leb wohl, Luzifer, du stolzer Geist", flüsterteMaud, so leise, daß ihre Worte vom Heulen desWindes übertönt wurden; aber ich sah ihre Lippensich bewegen und verstand.

Uns an der Reling haltend, arbeiteten wir unsnach achtern durch. Da blickte ich aufs Meerhinaus. Die Ghost hob sich in diesem Augenblickauf einer Woge, und ich sah deutlich, zwei bis dreiMeilen entfernt, einen kleinen Dampfer, der, rollendund stampfend, gerade auf uns zukam. Er warschwarz gestrichen, und nach der Beschreibungder Jäger erkannte ich ihn als einen Zollkutter derVereinigten Staaten. Ich zeigte ihn Maud und führtesie schnell aufs Hüttendeck. Dann stürzte ich nachvorn an die Flaggenkiste, aber in diesemAugenblick fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, fürein Flaggenfall zu sorgen.

„Wir brauchen kein Notsignal", meinte Maud,

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„wenn sie uns nur sehen."„Wir sind gerettet", sagte ich ernst und feierlich.

Und dann in überströmendem Glück: „Ich weißkaum, ob ich mich freuen soll oder nicht."

Ich sah sie an, unsere Blicke begegneten sich.Wir lehnten uns aneinander, und ehe ich es wußte,hatte ich sie in meine Arme geschlossen, undunsere Lippen trafen sich.

„Meine Frau!" sagte ich und streichelte mit derfreien Hand ihre Schulter, wie alle Liebenden estun, obwohl sie es in keiner Schule gelernt haben.

„Mein Mann!" sagte sie, und ihre Lider zitterten,und ihreAugen verschleierten sich, als sie michanblickte und ihren Kopf mit einem glücklichenkleinen Seufzer an meine Brust schmiegte.

Ich sah nach dem Kutter. Er war ganz nahe. EinBoot wurde gerade herabgelassen.

„Einen Kuß, Liebste", flüsterte ich. „Noch einenKuß, ehe sie kommen -"

„Und uns vor uns selbst retten", vollendete siemit einem bezaubernden Lächeln, so rätselhaft, wieich es noch nie gesehen, denn es barg alle Rätselder Liebe.

jack london

Das elementare Drama allen Daseins, derKampf ums Überleben, bei dem Mensch und Tierauf Instinkt, Tapferkeit und rohe Gewaltangewiesen sind - kein anderer Schriftsteller hatdieses Thema mit größerer Sprachkraft, mit

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reicherer Vorstellungsgabe zu gestalten gewußt alsJack London in seinen unvergeßlichen Klassikern„Wenn die Natur ruft", „Wolfsblut" und „DerSeewolf". Alles, was Jack London schrieb, hat erauch erlebt, und was er erlebte, das empfand erspontan und heftig. Darum sind seine Bücher soungewöhnlich wie sein kurzes, hartes undabenteuerliches Leben.

Am 12. Januar 1876 in San Franzisko geboren,wächst London in ärmlichen Verhältnissen auf undlernt schon bald, sich mit Gelegenheitsarbeitendurchzuschlagen. Als Zehnjähriger schleppt erZeitungen durch die Stadt, mit fünfzehn Jahrenräubert er mit seinem eigenen Boot privateAusternbänke aus, und ein Jahr später heuert erauf einem Robbenfänger an, auf dem er jeneEindrücke sammelt, die er zwölf Jahre später in„Der Seewolf", dem wohl berühmtesten seiner überfünfzig Bücher, verarbeitet. Er holt das Abitur nach,studiert und geht dann als Goldsucher nach Alaska.Die Erlebnisse am Klondike liefern ihm Stoff fürzahlreiche Kurzgeschichten und mehrere Romane,dennoch muß er Zeiten voller Hunger undKrankheit überstehen, ehe ihm 1903 mit „Wenn dieNatur ruft" der Durchbruch gelingt. Er bereist fortandie ganze Welt, ist als Schriftsteller ungemeinproduktiv, erlebt aber dennoch immer wiederPhasen voller Selbstzweifel und Depressionen.Erschöpft von der eigenen Rastlosigkeit, zermürbtvom Alkohol und von der Unfähigkeit, mit deminzwischen reichlich vorhandenen Geldumzugehen, scheidet Jack London im November

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1916 auf seiner Farm in Kalifornien freiwillig ausdem Leben.