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Jacques Ranciere Die Aufteilung des Sinnlichen Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien Herausgegeben von Maria Muhle b_books . Reihe PoLYpeN

Jacques Ranciere - Die Aufteilung Des Sinnlichen S21-73

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Jacques Ranciere Die Aufteilung des Sinnlichen

Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien

Herausgegeben von Maria Muhle

b_books . Reihe PoLYpeN

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Die Aufteilung des Sinnlichen. Ästhetik und Politik

Vorwort

Die folgenden Seiten antworten auf eine zweifache Anfrage. Zwei junge Philosophen, Muriel Combes und Bernard Aspe, haben mir für die Rubrik "Die Fabrik des Sinnlichen" ihrer Zeitschrift A/ice einige Fragen gestellt. Diese Rubrik beschäftigt sich mit ästhetischen Handlun­gen, insofern sie Erfahrung gestalten und neue Weisen des Fühlens sowie neue Formen der politischen Subjekti­vität hervorbringen. Ich wurde gefragt, welche Folgen sich aus jenen Analysen in meinem Buch Das Unverneh­men ergeben, die sich mit der Aufteilung des Sinn­lichen 1 als Gehalt der Politik und somit mit einer bestimm­ten Ästhetik der Politik beschäftigt haben. Ihre Fragen, die auch auf einer neuen Reflexion über die großen Theo­rien und Experimente der Avantgarde, Kunst und Leben zu verschmelzen, beruhen, strukturieren den vorliegenden

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Text. Auf Anregung von Eric Hazan und Stephanie Gregoire [Verlag La Fabrique, Anm. d. Ü.l habe ich meine Antwor­ten, so gut es ging, weiter ausgeführt und haben meine Gesprächspartner ihre theoretischen Voraussetzungen expliziert.

Doch diese konkrete Anfrage schreibt sich gleichzeitig in einen allgemeinen Kontext ein. Die vermehrt auftreten­den Stimmen, die die Krise der Kunst oder ihre verhängnis­volle Vereinnahmung durch den Diskurs sowie die AII­gegenwärtigkeit des Spektakels oder den Tod des Bildes anprangern, zeigen nur allzu deutlich, dass auf dem Feld des Ästhetischen heute ein Kampf ausgetragen wird, der gestern noch den Versprechungen der Emanzipation und den Illusionen und Enttäuschungen der Geschichte galt. Mit Sicherheit symptomatisch für das zeitgenös­sische Hin und Her von Ästhetik und Politik sowie für die Umwandlung des avantgardistischen Denkens in Nos­talgie ist die Entwicklung des situationistischen Diskurses, der aus einer avantgardistischen künstlerischen Bewe­gung der Nachkriegszeit her'vorgegangen war, in den sech­ziger Jahren zur radikalen Kritik der Politik wurde und heute von der Gewöhnlichkeit jenes Diskurses aufgeso­gen wird, der die bestehende Ordnung "kritisch" ver­doppelt. Am eindeutigsten zeigen jedoch die Texte von Jean-Franyois Lyotard auf, wie "die Ästhetik" in den letzten zwanzig Jahren zu jenem privilegierten Ort werden konnte, an dem sich die Tradition des kritischen Denkens in Trauerarbeit verwandelt hat. Lyotard hat durch seine Neu­interpretation des kantischen Erhabenen einen Begriff in die Kunst eingeführt, den Kant außerhalb von ihr verortet hatte, um dadurch die Kunst besser zu einer Zeugin für die das Denken übersteigende Begegnung mit dem Undar­steIlbaren machen zu können, zu einer Belastungszeugin für die Arroganz des großen ästhetisch-politischen Versuchs der Weltwerdung des Denkens. Nach der Verkündigung des Endes der politischen Utopien wurde so die Kunst-

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theorie zu dem Ort, an dem sich die Dramaturgie des ursprünglichen Abgrunds des Denkens und der Katastro­phe seiner Verkennung fortsetzte. Eine große Anzahl zeitgenössischer Beiträge, die die Abgründe der Kunst oder des Bildes denken, prägen mit ihrer noch durch­schnittlicheren Prosa diese grundlegende Umkehr.

Diese wohlbekannte Landschaft des zeitgenössischen Denkens definiert zwar den Kontext, in den sich die vor­liegenden Fragen und Antworten einschreiben, ist jedoch nicht ihr Angriffsziel. Es geht hier nicht noch einmal darum, entgegen einer postmodernen Ernüchterung den avantgardistischen Hang der Kunst oder den Elan einer Moderne zu befürworten, die die Errungenschaften künstlerischer Neuerungen mit den Errungenschaften der Emanzipation verbanden. Dieser Text ist nicht in pole­mischer Absicht entstanden, sondern ist Teil einer lang­fristigen Arbeit, mit der ich versuche, die Bedingungen der Verständlichkeit einer bestimmten Debatte wieder herzu­stellen. Dafür gilt es, als erstes die Bedeutung des Wortes Ästhetik herauszuarbeiten: Ästhetik ist weder eine all­gemeine Kunsttheorie noch eine Theorie, die die Kunst durch ihre Wirkungen auf die Sinne definiert, sondern eine spezifische Ordnung des Identifizierens und Denkens von Kunst. Ästhetik ist eine Weise, in der sich Tätigkeits­formen, die Modi, in denen diese sichtbar werden, und die Arten, wie sich die Beziehung zwischen beiden denken lässt, artikulieren, was eine bestimmte Vorstellung von der Wirksamkeit des Denkens impliziert. Das gegenwärtige Ziel meiner Forschung und des Seminars, das ich seit eini­gen Jahren an der Universität Paris VIII (Saint-Denis) und dem College International de Philosophie abhalte, besteht darin, die inneren Zusammenhänge dieses ästhetischen Regimes der Künste und die Formen des Möglichen, die von ihnen bestimmt werden, sowie die Art und Weise, in der sie sich verändern, zu untersuchen. Man wird in diesem Text keine Ergebnisse finden, deren Ausarbeitung ihrer

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eigenen Zeit bedarf. Aber ich habe versucht, einige his­torische und konzeptuelle Anhaltspunkte aufzuzeigen, die helfen könnten, bestimmte Problemstellungen neu zu betrachten, die unauflöslich durch Begriffe verwirrt worden sind, die historische Bestimmungen mit konzeptuellen Aprioris und konzeptuelle Bestimmungen mit zeitlichen Einteilungen verwechseln. An erster Stelle dieser Be­griffe rangiert natürlich der der "Moderne", Ursache des heutigen großen Durcheinanders, das Hölderlin oder Cezanne, Mallarme, Malewitsch oder Duchamp in den gro­ßen Strudel gerissen hat, in dem sich alles vermengt: die cartesianische Wissenschaft mit dem revolutionären Vatermord, das Zeitalter der Massen mit dem romanti­schen Irrationalismus, das Darstellungsverbot mit der tech­nischen Reproduktion, das kantische Erhabene mit der Urszene bei Freud, die Götlerflucht mit der Vernichtung der europäischen Juden. Die fehlende Konsistenz dieser Begriffe aufzuzeigen, bedeutet natürlich nicht, sich zeitge­nössischen Diskursen zu verschreiben, die zur einfachen Wirklichkeit künstlerischer Praktiken und ihrer Beurteilungs­kriterien zurückkehren. Die Verbindung dieser "einfachen Praktiken" mit Diskursarien, Lebensformen, Denkkonzepten und Figuren der Gemeinschaft ist nicht die Folge einer unheilvollen Abweichung. Vielmehr verpflichtet das Bemü­hen, diese Verbindung zu denken, die armselige Drama­turgie von Ende und Wiederkehr zu verlassen, die nicht aufhört, den Bereich der Kunst, der Politik und jedes Gegenstands des Denkens zu besetzen.

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Von der Aufteilung des Sinnlichen und den daraus fOlgenden Beziehungen zwischen Politik und Ästhetik

In Das Unvernehmen 2 wird Politik ausgehend von dem befragt, was Sie die "Auf teilung des Sinnlichen" nennen. Liegt Ihrer Ansicht nach in diesem Ausdruck das notwendige Verbindungsglied zwischen ästhetischen lind politischen Praktiken?

"Aufteilung des Sinnlichen" nenne ich jenes System sinnlicher Evidenzen, das zugleich die Existenz eines Ge­meinsamen aufzeigt wie auch die Unterteilungen, durch die innerhalb dieses Gemeinsamen die jeweiligen Orte und An­teile bestimmt werden. Eine Auf teilung des Sinnlichen legt sowohl ein Gemeinsames, das geteilt wird, fest als auch Teile, die exklusiv bleiben. Diese Verteilung der Anteile und

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Orte beruht auf einer Aufteilung der Räume, Zeiten und Tä­tigkeiten, die die Art und Weise bestimmt, wie ein Gemein­sames sich der Teilhabe öffnet, und wie die einen und die anderen daran teilhaben, Der Staatsbürger, sagt Aristoteles, ist derjenige, der am Regieren und Regiertwerden teilhat, Doch dieser Teilhabe geht eine andere Form von Aufteilung voraus, die bestimmt, wer daran teilhaben kann, Das spre­chende Tier, sagt Aristoteles, ist ein politisches Tier, Doch der Sklave "besitzt" die Sprache nicht, obwohl er sie ver­steht. Nach Platon können sich die Handwerker nicht um die gemeinsamen Angelegenheiten kümmern, weil sie nicht die Zeit haben, um sich etwas anderem als Ihrer Arbeit zu widmen, Sie können nicht anderswo sein, denn die Arbeit wartet nicht, Die Auf teilung des Sinnlichen macht sichtbar, wer, je nachdem, was er tut, und je nach Zeit und Raum, in denen er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann, Eine bestimmte Betätigung legt somit fest, wer fähig oder unfä­hig zum Gemeinsamen ist. Sie definiert die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit in einem gemeinsamen Raum und bestimmt, wer Zugang zu einer gemeinsamen Sprache hat und wer nicht, etc, Der Politik liegt mithin eine Ästhetik 2 zugrunde, die jedoch nicht das Geringste mit jener "Ästhetisierung der Politik" im "Zeitalter der Massen" zu tun hat, von der Benja­min spricht. Diese Ästhetik soll nicht als perverser Zugriff ei­nes Kunstwollens auf die Politik oder als die Auffassung der Volksmasse als Kunstwerk verstanden werden, Wenn man nach einer Analogie sucht, kann man diese Ästhetik im Sinne Kants als System der Formen apriori auffassen - vielleicht sogar wie sie von Foucault wieder aufgenommen wurde -, insofern sie bestimmen, was der sinnlichen Erfahrung über­haupt gegeben ist. Die Unterteilung der Zeiten und Räume, des Sichtbaren und Unsichtbaren, der Rede und des Lärms geben zugleich den Ort und den Gegenstand der Politik als Form der Erfahrung vor. Die Politik bestimmt, was man sieht und was man darüber sagen kann, sie legt fest, wer fähig

ist, etwas zu sehen und wer qualifiziert ist, etwas zu sagen,

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sie wirkt sich auf die Eigenschaften der Räume und die der Zeit innewohnenden Möglichkeiten aus.

Erst auf der Basis dieser primären Ästhetik lässt sich die Frage nach "ästhetischen Praktiken" im üblichen Sinne stellen, das heißt nach den Formen der Sichtbarkeit künstlerischer Praktiken, nach dem Ort, den sie einnehmen, Lind danach, was sie im Hinblick auf das Gemeinsame "tun", Bei den künstlerischen Praktiken handelt es sich um "Tätig­keitsformen"3, die in die allgemeine Verteilung der Tätigkei­ten sowie in deren Beziehung zu den Seinsweisen und den Formen der Sichtbarkeit eingreifen. Platons Verbannung der Dichter gründet sich nicht erst auf den unmoralischen In­halt der Fabeln, sondern bereits auf die Unfähigkeit, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Die Frage, was Fiktion ist, ist zu­nächst die Frage nach der Verteilung von Orten. Aus plato­nischer Sicht bringt die Theaterbühne - zugleich ein Raum öffentlicher Tätigkeit und ein Ort der Vorführung von "Trug­bildern" - die Aufteilung von Identitäten, Tätigkeiten und Räumen durcheinander. Das Gleiche gilt für die Schrift: In­dem das geschriebene Wort hin- und herschwankt ohne zu wissen, zu wem es sprechen oder nicht sprechen soll, wird jede legitime Basis für die Zirkulation der Worte sowie die Beziehung zwischen der Wirkung der Sprache und der An­ordnung der Körper im gemeinsamen Raum zerstört. Platon benennt hier zwei Hauptmodelle, zwei maßgebliche Formen der Existenz und der sinnlichen Wirkung der Sprache, das Theater und die Schrift, die zugleich auch die Formen sind, die im Allgemeinen das Regime der Künste strukturieren. Doch sind beide Modelle von Beginn an mit einem bestimm­ten Regime der Politik verbunden, mit einem Regime der Unbestimmtheit der Identitäten, des Legitimationsentzugs der Sprecherpositionen, der Deregulierung der Aufteilungen von Raum und Zeit. Dieses ästhetische Regime der Politik ist die Demokratie, das heißt das Regime der Versammlun­gen der Handwerker, der unantastbaren schriftlichen Geset­ze und der Institution des Theaters. Dem Theater und der

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Schrift setzt Platon eine dritte Form entgegen: eine gute Kunstforrn, die choreographische Form der Gemeinschaft, die singend und tanzend ihre Einheit stiftet. Demnach be­nennt Platon drei Weisen, wie Rede- und Körperpraktiken Figuren des Gemeinschaftlichen erschaffen können. Erstens die Oberfläche der stummen Zeichen, die, so Platon, wie Gemälde sind; zweitens den Bewegungsraum der Körper, der sich in zwei antagonistische Modelle aufteilt: zum einen in die Bewegung der Trugbilder auf der Bühne, mit denen sich das Publikum identifizieren kann, und zum anderen in die authentische Bewegung, das heißt die Bewegung der

Körper der Gemeinschaft selbst. Die Oberfläche der "gemalten" Zeichen, die Dopplung

des Theaters und der Rhythmus des tanzenden Chors sind drei Formen der Aufteilung des Sinnlichen, welche die Art und Weise strukturieren, in der die Künste gleichzeitig als Künste und als Formen der Einschreibung des Sinns der Gemeinschaft wahrgenommen und gedacht werden kön­nen. Diese Formen legen fest, wie Werke oder künstlerische Aufführungen "politik machen", unabhängig von den sie be­stimmenden Intentionen, vom Platz der Künstler innerhalb der Gesellschaft und davon, wie die künstlerischen Formen die sozialen Strukturen und Bewegungen reflektieren. Als Madame Bovary und Lehrjahre des Gefühls erscheinen, werden diese Werke trotz der aristokratischen Geste und des politischen Konformismus' Flauberts augenblicklich als "Demokratie in literarischer Form" wahrgenommen. Flauberts Weigerung, der Literatur eine Botschaft mitzugeben, wird als Zeugnis für demokratische Gleichheit aufgefasst. Sei­ne Gegner nennen ihn einen Demokraten, da er lieber be­schreibt als belehrt. Diese Gleichheit der Gleichgültigkeit ist die Konsequenz einer dichterischen Parteinahme. Denn die Gleichheit aller Gegenstände verneint jegliche notwen­dige Beziehung zwischen einer bestimmten Form und einem bestimmten Inhalt. Doch diese Gleichgültigkeit ist letztlich

nichts anderes als die Gleichheit all dessen, was auf einer

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gedruckten, allen zugänglichen Seite geschieht. Sie zerstört sämtliche Hierarchien der Repräsentation und etabliert die Gemeinschaft der Leser als illegitime Gemeinschaft, die durch die Zufälligkeit der Anordnung der Buchstaben vor­gezeichnet wird.

Es gibt demnach eine sinnliche Politizität, die immer schon mit den Hauptformen der ästhetischen Aufteilung Theater, Buchseite, Chor - verbunden wurde. Solche "Poli­tiken" folgen ihrer jeweiligen Eigenlogik und können in ganz verschiedenen Epochen und Kontexten in Erscheinung tre­ten. Ein Beispiel wäre die Art und Weise, wie jene Paradig­men in dem Knoten aus Kunst und Politik Ende des 19, und Anfang des 20. Jahrhunderts gewirkt haben. Ich denke zum Beispiel an die Rolle, die die Buchseite in ihren verschiede­nen Ausprägungen, die weit über die reine Materialität einer beschriebenen Seite hinausgehen, gespielt hat: Es gibt eine Demokratie des Romans, das heißt die gleichgültige Demo­kratie der Schrift, so wie sie vom Roman im Verhältnis zu sei­nem Publikum symbolisiert wird. Darüber hinaus gibt es die typographische und ikonographische Kultur, jene Verflech­tung der Macht des Buchstabens mit der Macht des Bildes, die in der Renaissance so wichtig war und mit den Vignet­ten und anderen Textornamenten sowie den verschiedenen sonstigen Neuerungen der romantischen Typographie wie­dererweckt worden ist. Dieses Modell verwischt die Regeln der entfernten Zuordnung von Sagbarem und Sichtbarem, wie sie der Logik der Repräsentation eigen ist. Und es ver­wischt die Aufteilung zwischen den Werken der reinen und den Ornamenten der angewandten Kunst. Daher hat dieses Modell eine so wichtige und im Allgemeinen unterschätzte Rolle beim Umsturz des Repräsentationsparadigmas und seiner politischen Konsequenzen gespielt. Ich denke insbe­sondere an seine Rolle für die Arls and Crafls-Bewegung mit allen ihren Verzweigungen (Art Deco, Bauhaus, Kon­struktivismus), in der die Idee eines (im weitesten Sinne)

"Mobiliars" der neuen Gemeinschaft entstand, die auch ein

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neues Verständnis der Bildoberfläche als Oberfläche einer

gemeinsamen Schrift angeregt hat. Der Diskurs der Moderne versteht die Revolution der

abstrakten Malerei als die Entdeckung des ureigensten "Me­diums" der Malerei: die zweidimensionale Oberfläche. Der Widerruf der perspektivischen Illusion einer dritten Dimen­sion soll demnach der Malerei die Herrschaft über ihre ei­gene Oberfläche zurückgegeben haben. Aber genau diese Oberfläche hat nichts Eigenes. Eine "Oberfläche" ist nicht einfach nur eine geometrische Komposition von Linien. Sie ist eine Form der Aufteilung des Sinnlichen. Schrift und Ma­lerei waren für Platon Oberflächen, gleichbedeutend mit stummen Zeichen. Ihnen fehlte der Atem, der das leben­dige Wort beseelt und überträgt. Nach dieser Logik steht die Fläche nicht im Gegensatz zur Tiefe im Sinne des Drei­dimensionalen, sondern im Gegensatz zum "Lebendigen". Das heißt, die stumme Oberfläche der gemalten Zeichen steht im Gegensatz zum "lebendigen" Sprechakt. den der Redner an den richtigen Adressaten richtet. Demgemäß war auch die Aneignung der dritten Dimension durch die Malerei eine Antwort auf diese Aufteilung. Die Wiedergabe der opti­schen Tiefe war mit dem Privileg der Geschichte verbunden und hat in der Renaissance zur Aufwertung der Malerei bei­getragen - zu ihrem Anspruch, einen lebendigen Sprechakt, den entscheidenden Augenblick einer Handlung und einer Bedeutung erfassen zu können. Gegen die platonische Ab­wertung der mimesis wollte die klassische Poetik der Reprä­sentation die "Flächigkeit" des Wortes oder des Gemäldes mit Lebendigkeit und einer spezifischen Tiefe ausstatten, in der sich eine Handlung manifestieren, eine Innerlichkeit ausdrücken oder eine Bedeutung mitteilen wLirde. Sie hat zwischen Wort und Malerei, zwischen Sag barem und Sicht­barem ein Verhältnis loser Entsprechung etabliert und so der "Nachahmung" einen spezifischen Raum eröffnet.

Um diese Zuordnung geht es bei dem angenomme­nen Unterschied von Zwei- und Dreidimensionalität als dem

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"Eigenen" dieser oder jener Kunst. Die "anti-repräsentati­ve Revolution" der Malerei bereitet sich dementsprechend größtenteils auf der Flächigkeit der Schriftseite, im Funkti­onswandel der literarischen "Bilder" oder im Diskurswech­sel über die Malerei vor, aber auch in den Verflechtungen der Typographie, des Plakats und der dekorativen Künste. Jene so unzutreffend "abstrakt" genannte und vorgeblich auf ihr ureigenstes Medium zurückgeführte Malerei ist in Wirklichkeit ein integraler Bestandteil der Gesamtvision ei­nes neuen Menschen, der in neuen Bauten wohnt, umgeben von neuen Gegenständen. Die Flächigkeit der Malerei steht im Zusammenhang mit der Flachheit der Schriftseite, des Plakats und des Wandteppichs. Es ist die Flachheit einer Schnittstelle. Die anti-repräsentative "Reinheit" dieser Male­rei schreibt sich in den Kontext der Verknüpfung von reiner mit angewandter Kunst ein, was ihr automatisch eine po­litische Bedeutung verleiht. Nicht das revolutionäre Fieber seiner Umgebung hat aus Malewitsch gleichzeitig den Maler des Schwarzen Quadrats auf weißem Grund und den revo­lutionären Vorsänger "neuer Lebensformen" gemacht; und auch nicht irgendein theatrales Ideal vom neuen Menschen, das den zeitweiligen Bund zwischen revolutionären Politi­kern und KLinstlern besiegelt hat. Vielmehr entsteht diese "Neuartigkeit", die den Künstler, der die Gegenständlichkeit abschafft, mit dem Revolutionär zusammenbringt, der das neue Leben erfindet, zuallererst an der Schnittstelle von ver­schiedenen "Trägern": durch neu geknüpfte Fäden zwischen dem Gedicht und seiner Typographie oder seiner Illustra­tion; zwischen dem Theater und seinen Bühnenbildnern oder Plakatgestaltern: zwischen einem dekorativen Objekt und einem Gedicht. Diese Schnittstelle ist insofern politisch, als sie die doppelte Politik der repräsentativen Logik wider­ruft. Zum einen hatte diese Logik die Welt der künstlerischen Nachahmungen von der Welt der vitalen Interessen und der großen politisch-sozialen Taten getrennt. Zum zweiten stand ihre hierarchische Organisation - insbesondere der Primat

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lebendiger Rede und Handlung Ober das gemalte Bild in einer Analogie zur politisch-sozialen Ordnung. Mit dem Sieg der Romanseite Ober die TheaterbOhne, mit der gleichran­gigen VerknOpfung von Bildern und Zeichen auf der maleri­schen oder typographischen Oberfläche, mit dem Aufstieg der handwerklichen zur hohen Kunst und dem neuen An­spruch, das Leben eines jeden mit Kunst anzureichern, ge­riet eine gesamte wohlgeordnete Auf teilung der sinnlichen Erfahrung ins Wanken.

So kam es, dass das "Flache" der Oberfläche der ge­malten Zeichen. jene von Platon verdammte Form egalitä­rer Auf teilung des Sinnlichen, zugleich als das Prinzip der "formalen" Revolution der Kunst und als das Prinzip der politischen Neuverteilung der gemeinsamen Erfahrung auf den Plan tritt. Entsprechend könnte man Ober die weiteren erwähnten Hauptformen wie Chor oder Theater nachden­ken. Eine Geschichte der ästhetischen Politik in diesem Sinne muss sich damit beschäftigen, wie diese Hauptfor­men sich einander entgegensetzen oder vermischen. Ich denke zum Beispiel daran, wie das Paradigma der Oberflä­che von Zeichen und Formen mit dem theatralen Paradigma der Präsenz entweder in Konflikt getreten oder mit ihm ver­schmolzen ist - und an die verschiedenen Formen, die die­ses theatrale Paradigma selbst angenommen hat, von der symbolistischen Darstellung der kollektiven Legende bis hin zum Chor als Realisierung des neuen Menschen. Die Politik spielt sich hier in der Beziehung von Bühne und Saal, in der Bedeutung des Körpers des Schauspielers, im Spiel von Nähe und Distanz ab. Die kritischen Prosaschriften Mallar­m8S inszenieren auf exemplarische Weise das Spiel der Verweise, Gegensätze und Angleichungen zwischen diesen Formen, vom intimen Theater einer Papierseite oder der kal­ligraphischen Choreographie bis zum neuen "Hochamf', zu dem Konzerte geworden sind.

Demnach erscheinen diese Formen einerseits als Trä­ger von Figuren der Gemeinschaft, die sich unabhängig

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vom Kontext immer selbst gleich bleiben. Umgekehrt aber können sie mit gegensätzlichen politischen Paradigmen assoziiert werden. Nehmen wir das Beispiel der tragischen Bühne. Für Platon öffnet sie sowohl dem Syndrom der Demokratie als auch der Macht der Illusion TOr und Tor. Indem Aristoteles dagegen die mimesis auf einen eige­nen Raum beschränkt und die Tragödie in eine Gattungs­logik mit einbezieht, hat er, ohne es zu wollen, den politi­schen Charakter der tragischen Bühne definiert. Innerhalb des klassischen Repräsentationssystems wird die Tragödie dann zur BOhne der Sichtbarkeit einer geordneten Welt, die von der Hierarchie der Gegenstände sowie der Anpassung von Situationen und Redeweisen an diese Hierarchie re­giert wird. Auf diese Weise hat sich das demokratische in ein monarchisches Paradigma verkehrt. Erinnert sei auch an die lange und widersprOchliche Geschichte der Rhetorik und des Modells des "guten Redners". Während des ge­samten monarchischen Zeitalters stand die demokratische Rhetorik des Demosthenes Wr einen außerordentlichen Grad von Beredsamkeit, die zwar der höchsten Macht als imaginäres Attribut zugeschrieben wurde, jedoch immer bereit war, zu ihrer demokratischen Funktion zurückzufin­den, indem sie ihre kanonischen Formen und topischen Bilder dem transgressiven Auftritt von nicht autorisierten Sprechern auf der öffentlichen BOhne lieh. Man denke auch an die widersprOchlichen Geschicke des choreographi­schen Modells. Neuere Studien erinnern an die Wirkung der von Laban im Kontext der Körperbefreiung entwickel­ten Bewegungsschrift, die später als Modell der großen Naziaufmärsche diente, bevor sie im rebellischen Kontext der Performance Art subversive Frische zurückgewann. Benjamins Erklärung einer fatalen Ästhetisierung der Po­litik im "Zeitalter der Massen" vergisst vielleicht das sehr alte Band zwischen der EinmOtigkeit der freien Bürger und der Verherrlichung der freien Körperbewegungen. In seiner dem Theater und dem geschriebenen Gesetz feindlichen

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Gesellschaft empfahl Platon, die Babys ohne Unterlass zu schaukeln.

Ich habe diese drei Formen ausgewählt, weil Platon sie konzeptuell in den Vordergrund gestellt hatte und sie sich über die Zeit hinweg gehalten haben. Natürlich umfassen sie nicht die Gesamtheit der Spielarten, durch die Figuren der Gemeinschaft ästhetisch entworfen werden. Mir geht es aber vor allem darum zu zeigen, dass die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ästhetik und Politik auf dieser Ebene anzusiedeln ist, das heißt auf der Ebene der sinnlichen Auf­teilung des Gemeinsamen der Gemeinschaft, ihrer Formen der Sichtbarkeit und ihres Aufbaus." Erst auf dieser Basis lassen sich die politischen Eingriffe der Künstler/Innen denken, angefangen von den literarischen Formen der Ent­zifferung der Gesellschaft in der Romantik, über die sym­bolistische Poetik des Traums oder die dadaistische oder konstruktivistische Abschaffung der Kunst bis hin zu den heutigen Verfahren von Performancekunst und Installation. Erst auf dieser Basis können etliche Phantasiegeschichten über die "Modernität" der Kunst und die müßigen Debat­ten über ihre Autonomie oder ihre Unterwerfung unter die Politik infrage gestellt werden. Die Künste leihen den Un­ternehmungen der Herrschaft oder der Emanzipation immer nur das, was sie ihnen leihen können, also das, was sie mit ihnen gemeinsam haben: Positionen und Bewegungen von Körpern, Funktionen des Worts, Verteilungen des Sichtba­ren und des Unsichtbaren. Die Autonomie, derer sich die Künste erfreuen, und die Subversion, die sie sich zuschrei­ben können, beruhen auf derselben Basis.

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Von den Regimen der Künste und der mäßigen Relevanz des Begriffs der Moderne

Einige der maßgeblichen Kategorien, um das künst­lerische Schaffen des 20. Jahrhunderts zu denken, wie zum Beispiel Moderne, Avantgarde sowie seit gerau­mer Zeit Postmoderne, besitzen auch eine politische Bedeutung. Halten Sie solche Begriffe für relevant, wenn es darum geht, die Verbindung von "Ästhetischem" und "Politischem" möglichst präzise zu erfassen?

Ich glaube nicht, dass Begriffe wie Moderne oder Avant­garde sonderlich aufschlussreich gewesen sind, um die neuen Kunstformen seit dem vergangenen Jahrhundert oder die Beziehung zwischen dem Ästhetischen und dem Politi­schen zu denken. Tatsächlich vermischen diese Begriffe zwei sehr unterschiedliche Aspekte: Zum einen die spezifische

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Geschichtlichkeit eines Regimes der' Künste im Allgemei­nen, zum anderen die Entscheidungen fLir einen Bruch oder eine Antizipation innerhalb eines solchen Regimes, Ohne es bereits inhaltlich zu bestimmen, bezieht sich der Begriff der ästhetischen Moderne auf die Einzigartigkeit eines beson­deren Regimes der Künste, das heißt auf einen spezifischen Typ der Verbindung zwischen den Herstellungsweisen von Werken oder Praktiken, den Formen der Sichtbarkeit dieser Praktiken und den Arten wie beide - Herstellungsweisen und Formen der Sichtbarkeit - konzeptualisiert werden.

Um den Begriff der ästhetischen Moderne zu klären und das Problem zu situieren, bietet sich folgender Umweg an: Wir können innerhalb der westlichen Tradition drei große Regime der Identifizierung dessen, was wir Kunst nennen, unterscheiden. Erstens gibt es das, was ich als das ethi­sche Regime der Bilder zu bezeichnen vorschlagen würde. In diesem Regime wird "Kunst" als solche nicht definiert, sondern unter das Problem der Bilder subsumiert. Es gibt einen Seinstypus, gemeint sind die Bilder, an den sich eine doppelte Frage richtet: zum einen die Frage nach seinem Ursprung und daraus folgend die nach seinem Wahrheits­gehalt; zum anderen die Frage nach seiner Bestimmung: Welchem Gebrauch unterliegen die Bilder, und welche Wir­kungen rufen sie hervor? Auch unterstehen diesem Regime das Problem der Darstellung der Gottheit und die Frage des Rechts oder des Verbots, solche Bilder überhaupt zu produzieren, sowie die Frage nach dem Status und der Be­deutung der Bilder, die man sich von der Gottheit macht. Die Polemik Platons gegen die Trugbilder der Malerei, der Dichtung und des Theaters ist nicht zuletzt auch Teil dieses Regimes. Platon ordnet nicht, wie man es häufig hört, die Kunst der Politik unter. Diese Unterscheidung ist fLir ihn be­deutungslos. Kunst existiert für ihn nicht, er kennt nur Küns­te im Sinne von Tätigkeitsformen. Und genau diese Künste unterteilt er in wahrhafte Künste, das heißt in Kenntnisse, die auf der Nachahmung eines Modells zu bestimmten Zwe-

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cken basieren, und in Trugbilder der Kunst, die einen bloßen äußeren Schein nachahmen. Diese zunächst nach ihrem Ur­sprung unterschiedenen Nachahmungen werden dann auch nach ihrer Bestimmung unterschieden: nach der Art und Weise, wie die Bilder der Poesie Kindern und zuschauen­den Staatsbürgern eine gewisse Erziehung übermitteln und sich in die Auf teilung der Beschäftigungen 5 innerhalb der Polis einschreiben. In diesem Sinne spreche ich vom ethi­schen Regime der Bilder. Bei diesem Regime geht es um die Frage, wie die Seinsweise der Bilder das ethos, also die Seinsweise der Individuen und der Kollektive, betrifft. Diese Frage macht es der "Kunst" unmöglich, als solche eine Ein­heit zu bilden. 6

Von diesem ethischen Regime der Bilder ist das poe­tische oder repräsentative - Regime der Künste zu un­terscheiden. Dieses Regime siedelt das Faktum der Kunst (oder besser das Faktum der Künste) innerhalb des Be­griffspaars poiesis / mimesis an. Das mimetische Prinzip ist seinem Wesen nach kein normatives Prinzip, das besagen würde, die Kunst müsse Kopien herstellen, die ihren Model­len ähneln. Es ist vielmehr ein pragmatisches Prinzip, das aus dem allgemeinen Feld der Künste (der Tätigkeitsformen) bestimmte Künste isoliert, die spezifische Dinge herstellen, nämlich Nachahmungen. Diese Nachahmungen sind von der üblichen Legitimierung der Kunstprodukte durch ihre Gebrauchsfunktion wie auch von der Rechtssprechung der Wahrheit über die Diskurse und Bilder befreit. Das ist die große Neuerung, die auf der aristotelischen Idee der mi­mesis und der Privilegierung der tragischen Handlung be­ruht. Das Verfertigte des Gedichts', die Herstellung einer Intrige aus Handlungen, die ihrerseits handelnde Menschen darstellen, rückt nun in den Vordergrund auf Kosten des Seins des Bildes und der auf ihr Original hin befragten Ko­pie. Darin liegt das Prinzip jenes oben erwähnten Funktions­wechsels des dramatischen Modells. Auf diese Weise ist

das Prinzip der äußeren Begrenzung eines Bereichs, der

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aus Nachahmungen besteht, gleichzeitig ein normatives Prinzip des Einschlusses. Dieses entwickelt sich in Gestalt von Normen, die d'le Bedingungen festlegen, nach denen die Nachahmungen als rechtens zu einer Kunst zugehörig anerkannt und innerhalb des jeweiligen Rahmens dann als gut oder schlecht, passend oder unpassend bewertet wer­den können. Dazu gehören die Aufteilungen zwischen Dar­stellbarem und Nichtdarstellbarem, die Unterscheidung der Gattungen je nach Dargestelltem, die Kriterien, nach denen die Ausdrucksformen den Gattungen und mithin den darge­stellten Gegenständen zugewiesen werden, die Verteilung der Ähnlichkeiten nach den Kriterien der Wahrscheinlichkeit, Angemessenheit oder Entsprechung, die Unterscheidungs­

und Vergleichskriterien zwischen den Künsten etc. Ich nenne dieses Regime insofern poetisch, als es die

Künste - im klassischen Zeitalter dann die "schönen Küns­te" genannt - innerhalb einer Klassifizierung der Tätigkeits­formen definiert und folglich auch die Art und Weise, wie eine Nachahmung als gelungen beurte'dt und geschätzt wer­den kann. Ich nenne es insofern repräsentativ oder darstel­lend, als der Begriff der Repräsentation oder der mimesis diese Sehweisen, Tätigkeits- und Urteilsformen ordnet. Aber nochmal: Mimesis ist nicht das Gesetz, das die Kunst dem Gebot der Ähnlichkeit unterwirft. Mimesis ist vor allem die Falte innerhalb der Verteilung der Tätigkeitsformen und der sozialen Beschäftigungen, die die Künste sichtbar macht. Sie ist kein künstlerisches Verfahren, sondern ein Sichtbar­keitsregime der Künste. Ein solches Sichtbarkeitsregime der Künste ist das, was den Künsten Autonomie verleiht, aber im gleichen Zug die Autonomie nur im Zusammenhang mit einer generellen Ordnung der Tätigkeitsformen und der Beschäftigungen formuliert. Es ist das, was ich weiter oben in Bezug auf die Logik der Repräsentation angedeutet habe. Diese Logik bildet nun ein sehr allgemeines Analogiever­hältnis zu einer ebenfalls sehr allgemeinen Hierarchie der

politischen und sozialen Betätigungen aus. Diese Hierarchie

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bestimmt den repräsentativen Primat der Handlung über die Charaktere genauso wie denjenigen der Erzählung über die Beschreibung. Sie bestimmt auch die Rangordnung der Gattungen gemäß der Würde ihrer Gegenstände und den Primat der Kunst des Worts im Sinne der gesprochenen und damit Handlung implizierenden Sprache: All diese Hie­rarchisierungen stehen in Analogie zu einer umfassenden hierarchischen Auffassung von Gemeinschaft.

Im Gegensatz zu diesem repräsentativen Regime steht eines, das ich das ästhetische Regime der Künste nenne. Ästhetisch, weil die Identifizierung der Kunst als Kunst hier nicht mehr durch die Unterscheidung der Tätigkeitsformen erfolgt, sondern durch die Unterscheidung einer für Kunst­werke charakteristischen sinnlichen Seinsweise. Das Wort ästhetisch verweist nicht auf eine Theorie der sinnlichen Er­fahrung, des Geschmacks oder der Freuden der Kunstlieb­haber. Es verweist im eigentlichen Sinne auf die spezifische Seinsweise dessen, was der Kunst zugehörig ist, also auf die Seinsweise ihrer Objekte. Im ästhetischen Regime der Künste werden die Dinge, die der Kunst zugerechnet sind, durch ihre Zugehörigkeit zu einem spezifischen Regime des Sil~nlichen identifiziert. Dieses Sinnliche, aus seinen üblichen Verbindungen gelöst, wird von einer heterogenen Macht be­wohnt, von der Macht eines Denkens, das sich selbst fremd geworden ist: ein Produkt, das kein Produkt ist, ein Wissen, das in Nichtwissen verwandelt wurde, ein logos, der zu­gleich pathos ist, die Intention des Nichtintendierten etc. Die Idee eines sich selbst fremd gewordenen Sinnlichen als Sitz eines sich ebenso fremd gewordenen Denkens bildet den unveränderlichen Kern all jener Identifizierungen von Kunst, die das ästhetische Denken ursprünglich ausmachten: Vicos Entdeckung des "wahren Homer" als Dichter wider Willen; Kants "Genie", das jenes Gesetz, das es produziert, nicht kennt; Schillers "ästhetischer Zustand"8, der auf der dop­pelten Suspendierung der Aktivität des Verstandes und der Passivität des Sinnlichen beruht; Schellings Definition der

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Kunst als Identität eines bewussten und eines unbewuss­ten Prozesses etc. Diese Vorstellung findet sich auch in den Selbstdefinitionen der modernen Künste wieder: Prousts Idee von einem Buch, das einerseits gänzlich geplant und andererseits dem Willen vollkommen entzogen ist; MaIlar­mes Idee eines Gedichts, das von einem Zuschauer-Dichter verfasst wird, der "Iosgelöst von allem Rüstzeug des Schrei­bers"9 mit den Schritten einer analphabetischen Tänzerin schreibt; die surrealistische Praxis des Werks, in dem das Unbewusste des Künstlers durch die aus der Mode gekom­menen Illustrationen in Katalogen und Fortsetzungsromanen des vergangenen Jahrhunderts ausgedrückt wird; Bressons Idee des Kinos als das Denken eines Regisseurs, das sich nur von den Körpern der "Modelle" ablesen lässt, wenn sie gedankenlos die Worte und Gesten, die er ihnen diktiert, wiederholen und so, ohne sein und ihr Wissen, die ihren Worten und Gesten eigene Wahrheit zum Ausdruck brin-

gen etc. Es wäre überflüssig, weitere Definitionen und Beispiele

anzuführen. Stattdessen soll der Kern des Problems aufge­zeigt werden. Das ästhetische Regime der Künste identifi­ziert die Kunst als Kunst und befreit diese Kunst von jeder spezifischen Rege! und Hierarchie der Gegenstände, Gat­tungen und Künste. Auf diese Weise wird jedoch die Gren­ze der mimesis gesprengt, die die künstlerischen von den übrigen Tätigkeitsformen und die Regeln der Kunst von den sozialen Beschäftigungen trennte. Das ästhetische Regime der Künste bestätigt die absolute Besonderheit der Kunst und zerstört zugleich jedes pragmatische Kriterium dieser Besonderheit. Es begründet die Autonomie der Kunst und zugleich die Identität ihrer Formen mit jenen, durch die sich das Leben selbst ausbildet. Schillers "ästhetischer Zustand" ist die erste und in gewisser Hinsicht unübertroffene Mani­festation dieses Regimes und zeigt die grundlegende Iden­tität der Gegensätze auf. Der ästhetische Zustand ist reine Suspendierung, ein Augenblick, in dem die Form als solche

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wahrgenomrnen wird. Es ist der Augenblick, in dem eine be­sondere Menschheit gebildet wird.

Von hier aus lassen sich die Funktionen des Begriffs der Moderne verstehen. Man könnte sagen, dass "ästhetisches Regime der Künste" der wahre Name dessen ist, was der konfuse Begriff der Moderne bezeichnen soll. Doch ist "Mo­derne" mehr als nur ein konfuser Begriff. In ihren verschie­denen Spielarten ist die .,Moderne" jenes Konzept, das dazu dient, die Besonderheit des ästhetischen Regimes der Küns­te, die Bedeutung eines Regimes der Künste überhaupt zu verdecken. Dieses Konzept zieht, ob begeistert oder bedau­ernd, eine einfache Übergangs- oder Bruchlinie zwischen dem Alten und dem Modernen, dem Gegenständlichen und dem Nicht-Gegenständlichen oder Anti-Gegenständlichen. Gestützt hat sich diese vereinfachende Historisierung auf den Übergang zur nichtgegenständlichen Malerei, der' durch eine pauschale Gleichsetzung mit dem umfassenden antimi­metischen Schicksal der künstlerischen "Moderne" zum the­oretischen Paradigma gemacht wurde. Als die Propheten dieser "Moderne" mitansehen mussten, dass jene Orte, an denen sich das weise Schicksal der Moderne hätte entfal­ten sollen, von allen möglichen unerkenntlichen Gegenstän­den, Maschinen und Dispositiven eingenommen wurden, fingen sie an, die "Tradition der Neuen" als reinen Willen zur Innovation zu kritisieren, der angeblich die künstlerische Moderne auf die Leere ihrer' Selbstproklamierung reduzieren würde. Doch der Ausgangspunkt dieser Kritik ist falsch. Der Sprung aus der mimesis heraus ist keine Ablehnung der Gegenständlichkeit. Sein entscheidender Moment hat sich oft genug selbst als Realismus bezeichnet, womit in keiner Weise gemeint ist, die Ähnlichkeit aufzuwerten, sondern die Rahmenbedingungen zu zerstören, innerhalb derer die Ähn­lichkeit bis dahin funktionierte. Der Realismus des Romans bedeutet in erster Linie, die Hierarchien der Repräsentation umzustürzen (der Primat der Erzählung über die Beschrei­bung oder die Hierarchie der Gegenstände) und eine frag-

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mentarische und direkte Naheinstellung zu wählen, die die rohe Präsenz an die Stelle der rationalen Verkettungen der Geschichte setzt. Das ästhetische Regime der Klinste stellt nicht das Alte gegen das Moderne. Es setzt auf einer tie­feren Ebene zwei Regime der Geschichtlichkeit einander entgegen. Der Gegensatz von alt und modern gehört ins­gesamt zum mimetischen Regime. Im ästhetischen Regime hingegen wird die Vergangenheit der Kunst ununterbrochen durch die Zukunft der Kunst, das heißt durch ihre Absetzung von der Gegenwart der Nicht-Kunst, neu inszeniert.

Wer die "Tradition des Neuen" lobt oder verurteilt, ver­gisst, dass ihr eine "Neuheit der Tradition" entspricht. Das ästhetische Regime der Klinste fing nicht mit Entscheidun­gen flir klinstlerische Brüche an, vielmehr begann es mit Entscheidungen, die bewirkten, das, was die Kunst macht, und die, die sie machen, neu zu interpretieren: als Vico den "wahren Homer" entdeckt nicht als Erfinder fabelhafter Geschichten und Charaktere, sondern als Zeuge flir das bildliche Sprechen und Denken der antiken Völker; als Hegel den wahren Gegenstand der holländischen Genremalerei bestimmt - nicht eine Reihe von Wirtshausgeschichten und Interieurbeschreibungen, sondern die Freiheit eines Volks, die sich in den Lichtreflexen abzeichnet; als Hölderlin die griechische Tragödie neu erfindet; als Balzac die Poesie des Geologen, der auf der Basis einiger Spuren und Fossilien ganze Welten rekonstruiert, jener Poesie entgegensetzt, die bloß seelischen Aufruhr reproduziert; als Mendelssohn die Matthäuspassion wieder aufflihrt etc. Das ästhetische Re­gime der Klinste ist in erster Linie ein neues Regime der Be­zugnahme auf das Alte. Es hat genau jenen Ausdruck einer Zeit oder eines Zivilisationsstands zum klinstlerischen Prin­zip schlechthin erklärt, der zuvor als der "nicht-klinstlerische" Teil der Werke galt (jener Teil. den man mit dem Hinweis auf die primitiven Zeiten, in denen der Künstler gelebt hat­te, zu entschuldigen pflegte). Dieses Regime erfindet seine Revolutionen auf der Grundlage derselben Vorstellung, die

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es auch das Museum und die Kunstgeschichte, den Begriff der Klassik und die neuen Techniken der Reproduktion hat erfinden lassen ... Und es widmet sich der Erfindung neu­er Lebensformen, in dem es ausgeht von einer Vorstellung dessen, was die Kunst gewesen ist und was sie hätte sein

können. Wenn die Futuristen oder die Konstruktivisten das Ende der Kunst verklinden und die künstlerischen Praktiken mit jenen anderen Praktiken gleichsetzen, die die Räume und Zeiten des gemeinschaftlichen Lebens aufbauen, rhyth­misieren oder verzieren, meinen sie damit, dass die Kunst im Leben der Gemeinschaft aufgeht und diese Vorstellung verdankt sich der Lesart, die Schiller und die Romantiker von der griechischen Kunst als Lebensform einer Gemein­schaft entwickelt hatten. Die Futuristen und Konstruktivisten schlossen hierbei an die neuartigen Formen der Reklame an, deren Erfinder ihrerseits mitnichten eine Revolution im Sinn hatten, sondern lediglich eine neue Weise, zwischen Wörtern, Bildern und Waren zu leben. Die Moderne ist ein zweischneidiger Begriff, der gerne das komplexe Ensemble des ästhetischen Regimes der Klinste zerteilen, an den Formen des Bruchs und der ikonoklastischen Gesten etc. festhalten würde, indem er diese von jenem Kontext trennt, der sie allererst legitimiert: die allgegenwärtige Reproduk­tion, die Interpretation, die Geschichte, das Museum, das Kulturerbe ... Die Moderne möchte, dass es nur eine einzige zeitliche Richtung gibt, während die Zeitlichkeit des ästheti­schen Regimes der Künste gerade aus dem Nebeneinander von heterogenen Zeitlichkeiten besteht.

Es scheint geradezu, dass der Begriff der Moderne ei­gens erfunden wurde, um das Verständnis flir die Verände­rungen der Kunst und flir ihre Beziehung zu den anderen Bereichen der kollektiven Erfahrung zu erschweren. Es gibt, scheint mir, zwei Hauptformen dieser Störung. Beide stüt­zen sich, ohne dass sie ihn analysiert hätten, auf jene konsti­tutive Paradoxie des ästhetischen Regimes der Künste, die die Kunst zu einer autonomen Form des Lebens macht und

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daher sowohl die Autonomie der Kunst als auch ihr Aufgehen im Leben gleichsetzt mit einer Stufe im Prozess der sponta­nen Selbstherausbildung des Lebens. Beide Hauptvarianten des Diskurses über "die Moderne" leiten sich hiervon ab. Die erste Variante behauptet, dass die Moderne, die schlicht mit der Autonomie der Kunst gleichgesetzt wird, auf einer "anti­mimetischen" Revolution der Kunst, auf der Eroberung der endlich freigesetzten reinen Form der f<unst beruhe. Jede Einzelkunst könne so die reine Kraft der Kunst behaupten, indem sie jeweils die besondere Macht ihres spezifischen Mediums erforscht. Die poetische oder literarische Moderne bestünde in der Erkundung der Macht einer ihrer kommu­nikativen Gebrauchsfunktionen enthobenen Sprache. Die moderne Malerei wäre die Rückkehr der Malerei zu ihrem "Eigensten": zum Farbpigment und zur zweidimensionalen Fläche; die musikalische Moderne wäre gleichzusetzen mit der Zwölftonmusik, die von jeder Analogie mit einer Sprache des Ausdrucks befreit wäre, etc. Diese spezifischen Moder­nen stünden dann in einer entfernten Analogiebeziehung zu einer politischen Moderne, die je nach Zeitkontext als revo­lutionäre Radikalität auftritt oder als nüchterne, entzauberte Modernität der guten Regierung einer Republik. Was man als "Krise der Kunst" bezeichnet, ist im Wesentlichen die Auflösung dieses einfachen Paradigmas der Moderne, das sich immer weiter von den Mischungen der Gattungen und Bildträger sowie von den politischen Polyvalenzen zeitge­nössischer Kunstformen entfernt hat.

Diese Auflösung wird nun von der zweiten Hauptform des modernistischen Paradigmas überlagert, die man als Modernitarismus bezeichnen könnte. Darunter verstehe ich die Gleichsetzung der Formen des ästhetischen Regimes der Künste mit den Weisen, eine besondere Aufgabe oder ein besonderes Schicksal der Moderne zu erfüllen. Dieser Gleichsetzung liegt eine spezifische Interpretation des kon­stitutiven Widerspruchs der ästhetischen "Form" zugrunde. Dabei wird die Bestimmung der Kunst als Lebensform und

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Form einer spontanen Selbstherausbildung des Lebens be­tont. Am Beginn dieses Verständnisses von Moderne steht die grundlegende Referenz auf SChillers Konzept der ästhe­tischen Erziehung des Menschen. Damit wurde erstmalig die Vorstellung artikuliert, dass Herrschaft und Knechtschaft in erster Linie ontologische Verteilungen sind (Aktivität des Denkens vs. Passivität der sinnlichen Materie). Und es wur­de ein neutraler Zustand definiert, ein Zustand der doppel­ten Aufhebung, in dem die Aktivität des Denkens und die sinnliche Empfänglichkeit zu einer einzigen Wirklichkeit und einem neuen Bereich des Seins werden den des selb­ständigen Scheins und freien Spiels -, wodurch es möglich wird, jene Gleichheit zu denken, deren unmögliche direk­te Verwirklichung die Französische Revolution in Schillers Augen bewiesen hat. Es handelt sich um eine bestimmte Weise, die sinnliche Welt zu bewohnen, die durch die "äs­thetische Erziehung" entwickelt werden soll, um Menschen zu formen, die fähig sind, in einer freien politischen Gemein­schaft zu leben. Auf diesem Fundament ist die Vorstellung von der Moderne als einer Zeit entstanden, in der sich die sinnliche Erfüllung einer noch latenten Menschlichkeit des Menschen vollzieht. Dazu lässt sich sagen, dass die "ästhe­tische Revolution" eine neue Vorstellung von der politischen Revolution hervorgerufen hat und zwar als sinnliche Erfül­lung einer gemeinsamen Menschlichkeit, die bis dahin nur als Idee existierte. So ist Schillers "ästhetischer Zustand" zum "ästhetischen Programm" der deutschen Romantik ge­worden, so wie es in dem gemeinsam von Hegel, Hölderlin und Schelling konzipierten Entwurf zusammengefasst ist: als sinnliche Erfüllung der unbedingten Freiheit des reinen Denkens in den Formen des Volkslebens und des Volks­glaubens. Dieses Paradigma der ästhetischen Autonomie wurde später zum neuen Paradigma der Revolution und hat schließlich die kurze, aber entscheidende Begegnung zwischen den Architekten der marxistischen Revolution und den Architekten der neuen Lebensformen möglich gemacht.

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Das Scheitern dieser Revolution hat - in zwei Phasen - das Schicksal des Modernitarismus bestimmt. In einer ersten Phase wurde der künstlerische Modernismus in seinem au­thentischen revolutionären Potential aus Verweigerung und Verheißung der Entartung der politischen Revolution entge­gengesetzt. Der Surrealismus und die Frankfurter Schule waren die wichtigsten Bewegungen dieser Gegen-Moder­ne. In einer zweiten Phase wurde das Scheitern der poli­tischen Revolution als Scheitern ihres ontologisch-ästheti­schen Modells gedacht. Die Moderne wurde dadurch zu so etwas wie einem Verhängnis, das auf einem grundlegenden Vergessen beruht: Heideggers Wesen der Technik; die re­volutionäre Enthauptung des Königs und der Bruch mit der Tradition der Menschlichkeit; schließlich die Ursünde der menschlichen Kreatur, die ihre Schuldigkeit gegenüber dem Anderen sowie ihr Unterworfen sein unter die heterogenen Mächte des Sinnlichen vergisst.

Was man als Postmoderne bezeichnet, ist genau der Prozess einer Wende. In einer ersten Phase hat die Post­moderne all das in den Vordergrund gerückt, was innerhalb der jüngsten Entwicklung der Künste und ihrer möglichen Denkformen das theoretische Gebäude der Moderne zum Einsturz gebracht hat: die Übergänge und Verflechtungen zwischen den Künsten, die die lessingsche Orthodoxie der Trennung der Künste zerstört hat; der Zusammenbruch des Paradigmas der funktionalen Architektur und die Rückkehr zur geschwungenen Linie und zum Ornament; das Ende des zweidimensional-abstrakten Bildkonzepts durch die Rückkehr der Gegenständlichkeit und der Bedeutung sowie die schleichende Besetzung der für die Malerei gemachten Räume und Wände durch die dreidimensionalen und narra­tiven Formen der Pop Art und der Installationskunst bis hin zu den "Kammern" 10 der Videokunst; die neuen Kombinati­onen von Wort und Bild, von Monumentalskulptur und Pro­jektion von Licht- und Schattenspielen; das Zerbrechen der Tradition der Serialität aufgrund der neuen musikalischen

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Mischungen von Gattungen, Zeiten und Systemen. Das teleologische Modell der Moderne ist im sei ben Moment unhaltbar geworden wie seine Aufteilungen in das jeweils "Eigene" der unterschiedlichen Künste oder die Abspaltung eines reinen Gebiets der Kunst. In gewisser Weise war die Postmoderne lediglich der Name, unter dem sich eine Reihe von Künstlern und Künstlerinnen, Denkern und Denkerinnen bewusst gemacht haben, was die Moderne war: der ver­zweifelte Versuch, das "Eigene der Kunst" auf einer simp­len Teleologie der Evolution und der historischen Brüche zu begründen. Aus dieser verspäteten Anerkennung einer grundlegenden Gegebenheit des ästhetischen Regimes der Künste einen faktischen zeitlichen Einschnitt und das tat­sächliche Ende einer historischen Epoche zu machen, wäre nicht wirklich nötig gewesen.

Doch hat sich in der Folge gezeigt, dass die Postmo­derne mehr war als nur das. Sehr bald verwandelte sich die fröhliche postmoderne Freiheit und ihre Verherrlichung des Karnevals der Trugbilder, der Mischformen und Hybridisie­rungen aller Art in eine Infragestellung eben jener Freiheit oder Autonomie, deren Verwirklichung das modernitäre Prinzip zur Aufgabe der Kunst gemacht hatte oder gemacht haben soll. Vom Karneval war man also zur Urszene zurück­gekehrt. Doch die Urszene hat eine zweifache Bedeutung: Beginn eines Prozesses und ursprüngliche Trennung. Der Glaube der Moderne hatte sich an die Idee jener "ästhe­tischen Erziehung des Menschen" geklammert, die Schil­ler aus Kants Analytik des Schönen entwickelt hatte. Die theoretische Basis der postmodernen Wende ist dagegen Lyotards Analyse des kantischen Erhabenen, neu interpre­tiert als Schauplatz einer grundlegenden Trennung von Idee und jeglicher sinnlichen Darstellung. Seitdem hat die Post­moderne das große Konzert der Trauerarbeit und der Reue über das modernitäre Denken angestimmt, und der Schau­platz dieser erhabenen Trennung konnte schließlich die ver­schiedensten Szenarien des Sündenfalls oder der ursprüng-

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lichen Tr'ennung auf sich vereinen: Heideggers Flucht der Götter; das freudsche Nichtreduzierbare des Todestriebs und des nicht symbolisierbaren Objekts; die Stimme des absolut Anderen, die das Verbot der Darstellung ausspricht: den revolutionären Vatermord, Die Postmoderne ist dadurch zu einem großen Trauergesang über' das Undarsteilbare I das Nicht-Behandelbare I das Nie-wieder-Gutzumachende geworden, der den modernen Irrsinn der Idee von der Selbstbefreiung der Menschlichkeit des Menschen und ihr unvermeidliches und unabwendbares Ende in den Vernich­tungslagern anprangert,

Der Begriff der Avantgarde definiert den Typus von Sujet, der zur Vision der Moderne passt und dieser Vision gemäß Ästhetik und Politik miteinander verbinden kann, Seinen Erfolg verdankt er weniger der von ihm angebote­nen bequemen Kopplung der künstlerischen Vorstellung des Neuen mit der Vorstellung der politischen Motivation der Bewegung, als vielmehr der nicht so offensichtlichen Verbindung zweier Vorstellungen von "Avantgarde", Zum einen ist Avantgarde das topographisch-militärische Kon­zept einer Kraft, die vorne an der Spitze marschiert, die die Intelligenz der Bewegung auf sich vereint, deren Kräfte bün­delt, die Richtung der historischen Entwicklung bestimmt und die subjektiven politischen Orientierungen auswählt. Kurz, eine Vorstellung, die politische Subjektivität mit einer bestimmten Form verbindet: die Partei als Vorhut, die ihren Führungsanspruch aus ihrer Fähigkeit ableitet, die Zeichen der Geschichte lesen und interpretieren zu können, Zum an­deren gibt es jene andere Idee der Avantgarde, die im schil­lersehen Modell der ästhetischen Antizipation der Zukunft wurzelt. Wenn der Begriff der Avantgarde innerhalb des ästhetischen Regimes der Künste eine Rolle spielt, dann in Form dieser zweiten Vorstellung: nicht als Vorhut einer künstlerischen Neuerung, sondern als Eriindung sinnlicher Formen und materieller Rahmenbedingungen für ein künf­

tiges Leben, Genau das hat die "ästhetische" Avantgarde

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der "politischen" Avantgarde mitgegeben oder wollte oder glaubte, es ihr mitzugeben, als sie aus der Politik ein totales pwgramm des Lebens machte, Die Geschichte der Bezie­hungen zwischen Parteien und ästhetischen Bewegungen ist zunächst die einer teils bereitwillig unterhaltenen, teils wütend aufgeklindigten Verwechslung dieser beiden Vor­stellungen von Avantgarde, die eigentlich zwei verschiedene Vorstellungen von politischer Subjektivität sind: die archi­politische Idee der Partei, das heir3t die Vorstellung von einer politischen Intelligenz, die die wesentlichen Bedingungen der Veränderung auf sich vereint, und die meta-politische Vorstellung von einer umfassenden politischen Subjektivität, die Idee von der Virtualität der neuen sinnlichen Eriahrungs­weisen, die die kommende Gemeinschaft antizipieren, Doch diese Verwechslung ist kein Zufall. Nur verhält es sich nicht so, wie die heutige Doxa es will, dass der Anspruch der Künstler auf eine totale Revolution der sinnlichen Welt dem Totalitarismus den Weg geebnet hätte, Vielmehr ist die Idee der politischen Avantgarde selbst in ein strategisches und ein ästhetisches Verständnis von Avantgarde gespalten,

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Von den technisch reproduzierbaren Künsten und dem ästhetischen und wissenschaftlichen Aufstieg

der anonymen Individuen

In einem Ihrer Texte stellen Sie einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der "technisch reproduzier­baren" Künste, Fotografie und Film, und dem Aufkommen einer "neuen Geschichte"" her. Können sie diesen Zusammenhang erläutern? Und wie verhält sich dazu die These Benjamins, dass zu Beginn des 20. Jahr­hunderts mit Hilfe dieser Künste die Massen als solche sichtbar geworden seien?

Was die "technisch reproduzierbaren Künste" angeht, muss vielleicht zuerst ein Missverständnis beseitigt werden. Ich habe einen Zusammenhang zwischen einem wissen­schaftlichen und einem ästhetischen Paradigma behauptet.

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Die These Benjamins nimmt etwas anderes an, das mir zwei­felhaft erscheint, nämlich dass sich die ästhetischen und po­litischen Eigenschaften einer Kunst aus ihren technischen Eigenschaften ableiten lassen. Die technisch reproduzierba­ren Künste würden also allein dadurch, dass sie technisch reproduzierbar sind, einen künstlerischen Paradigmenwech­sel und eine neue Beziehung der Kunst zu ihren Gegenstän­den hervorrufen. Diese Behauptung entspricht einer der grundlegenden Thesen der Moderne, der zufolge der Un­terschied zwischen den Künsten in Zusammenhang mit der Unterschiedlichkeit ihrer technischen Bedingungen, ihrer Träger oder spezifischen Medien zu bringen ist. Man kann diesen Zusammenhang in der einfachen Art der Moderne oder in ihrer modernitären Übertreibung verstehen. Der an­haltende Erfolg von Benjamins Thesen über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beruht zweifellos darauf, dass sie eine Brücke zwischen dem ma­terialistischen, marxistischen Erklärungsmodell und der hei­deggerschen Ontologie zu schlagen erlauben, indem sie die Entfaltung des Wesens der Technik dem Zeitalter der Moderne zuweisen. Tatsächlich ist der Beziehung zwischen dem Ästhetischen und dem Onto-Technologischen dassel­be Schicksal wie allen Kategorien der Moderne widerfah­ren. Zur Zeit Benjamins, Duchamps und Rodtschenkos ging diese Beziehung einher mit dem Glauben an die Macht der Elektrizität und der Maschine, des Eisens, Glases und Be­tons. Seit der so genannten "postmodernen" Wende geht sie einher mit der Rückkehr zur Ikone, die im Schweißtuch der Veronika das Wesen der Malerei, des Films und der Fo­tografie erblickt.

Meiner Ansicht nach sollte man die Dinge von der ande­ren Seite betrachten. Damit die technisch reproduzierbaren KDnste den Massen, oder genauer dem anonymen Individu­um, zur Sichtbarkeit verhelfen können, müssen sie erst ein­mal als Künste anerkannt werden. Das heißt, dass sie erst einmal als etwas anderes ausgeübt und anerkannt werden

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müssen, denn als Techniken der Reproduktion und massen­haften Verbreitung. Es ist mithin das gleiche Prinzip, das je­dem Beliebigen Sichtbarkeit verleiht und der Fotografie und dem Film die Möglichkeit eröffnet, Künste zu sein. Man kann diese Formulierung sogar umkehren. Nur weil das anonyme Individuum zu einem Gegenstand der Kunst geworden ist, kann auch seine "Aufzeichnung" eine Kunst sein. Dass das anonyme Individuum nicht bloB kunstfähig ist, sondern auch eine spezifische Schönheit birgt - genau das charakterisiert das ästhetische Regime der Künste. Der Anfang dieses Re­gimes liegt nicht nur lange vor den Künsten der technischen Reproduktion, vielmehr hat es diese durch seine neue Wei­se, die Kunst und ihre Gegenstände zu denken, überhaupt

erst möglich gemacht. Das ästhetische Regime der KLinste bedeutet zunächst

einmal die Zerstörung des Systems der Repräsentation, das heiBt eines Systems, in dem die Würde der Gegenstände die Würde der Gattungen bestimmt (Tragödie flir die Dar' stellung von Adligen, Komödie fLir die von einfachen Leu­ten; Historienmalerei vs. Genremalerei etc.). Das System der Repräsentation definierte zugleich mit den Genres die Situationen und Ausdrucksformen, die der Niedrigkeit oder der Höhe des jeweiligen Gegenstands entsprachen. Das ästhetische Regime der KLinste löst diese Verknüpfung von Gegenstand und Darstellungsweise auf. Diese Revolution ereignet sich zuerst in der Literatur. Dass, wie bei Balzac, eine Epoche und eine Gesellschaft in den Gesichtszügen, der Kleidung oder den Gesten eines beliebigen Individu­ums ablesbar wird; dass, wie bei Hugo, ein Abwasserka­nal den Zustand einer Zivilisation offenbart; dass, wie bei Flaubert, die Bauerntochter und die Bankiersgattin der gleichen Macht des Stils als "absolute Sichtweise auf die Dinge" unterliegen - all diese Formen der Tilgung oder Umkehrung des Gegensatzes von Oben und Unten gehen nicht nur der Macht der technischen Reproduktion voraus. Sie machen es allererst möglich, dass diese mehr ist als nur

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eine technische Reproduktion. Damit eine technische Tätig­keitsforrn ob es sich nun um den Gebrauch von Worten oder einer Kamera handelt der Kunst zugerechnet wer­den kann, muss zunächst ihr Gegenstand kunstfähig sein. Die Fotografie ist nicht aufgrund ihrer technischen Natur zur Kunst geworden. Der Diskurs liber die Originalität der Fo­tografie als einer "indexikalischen" Kunst ist neu und gehört weniger zur Geschichte der Fotografie als zur postmoder­nen Wende, die ich oben erwähnte. '2 Auch ist die Fotografie nicht dadurch zur Kunst geworden, dass sie andere Formen der Kunst nachgeahmt hat. Das hat Benjamin schllissig am Beispiel von David Octavius Hili gezeigt, der der Fotografie mit dem Bild des kleinen namenlosen Fischermädchens aus New Haven und nicht mit seinen groBen Bildkompositionen Eintritt in die Welt der Kunst verschaffte. Genauso wenig sind es die ätherischen Sujets und kunstvollen Unschärfen des Piktorialismus, die den Kunststatus der Fotografie ga­rantieren, sondern vielmehr das Interesse am Beliebigen: die Auswanderer von Alfred Stieglitz' Zwischendeck, die Brust­porträts von Paul Strand oder von Walker Evans, Zum einen kommt die technische nach der ästhetischen Revolution; zum anderen ist diese vor allem durch den Ruhm des Be­liebigen charakterisiert, der zunächst ins Gebiet der Malerei und Literatur fällt, bevor er Fotografie und Film erfasst.

Es sei hinzugefligt, dass der Ruhm des Beliebigen dem Wissen der Schriftsteller angehörte, bevor die Geschichts­wissenschaft ihn flir sich entdeckte. Weder Film noch Foto­grafie haben die Themen und Fokussierungen der "neuen Geschichte" geprägt. Vielmehr folgen die neue Geschichts­wissenschaft und die Klinste der technischen Reproduk­tion der Logik der ästhetischen Revolution, Von den groBen Ereignissen und Persönlichkeiten liberzugehen zum Leben der anonymen Individuen, die Symptome einer Epoche, ei­ner Gesellschaft oder einer Kultur in den winzigen Details des Alltagslebens zu entdecken, die Oberfläche von den un­sichtbaren Tiefenschichten her zu erklären und ganze Welten

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auf der Basis einiger weniger Spuren zu rekonstruieren - all das war zuerst ein literarisches Programm, bevor es ein wissenschaftliches wurde. Ich meine damit nicht nur, dass die Geschichtswissenschaft eine literarische Vorgeschichte hat. Vielmehr konstituiert sich die Literatur selbst als eine Art Symptomatologie der Gesellschaft und setzt diese dem Geschrei und den Fiktionen der öffentlichen Bühne entge­gen. In seiner Vorrede zu Cromwell versteht Victor Hugo die Literatur als Sittengeschichte im Gegensatz zur Ereignis­geschichte der Historiker. In Krieg und Frieden kontrastiert Tolstoi die Dokumente der Literatur, die den Berichten und Zeugnissen der Taten unzähliger anonymer Akteure entnom­men sind, mit den Dokumenten der Historiker, die aus den Archiven - und den Fiktionen - derer stammen, die glauben, sie würden Schlachten lenken und Geschichte machen. Die gelehrte Geschichte hat ihrerseits diese Entgegensetzung wieder aufgenommen, indem sie der alten, auf der Chronik der Höfe und diplomatischen Berichten basierenden Ge­schichte der Fürsten, Schlachten und Verträge eine andere Geschichte folgen ließ: die auf der Lektüre und Interpreta­tion jener "stummen Zeugen" beruhende Geschichte der Lebensweisen der Massen und der Zyklen ihrer materiellen Existenz. Das Auftauchen der Massen auf der Bühne der Geschichte oder auf den "neuen" Bildern ist nur zweitrangig mit der Beziehung zwischen dem Zeitalter der Massen und dem der Wissenschaft und Technik verbunden. Vor allem gründet es auf der ästhetischen Logik einer Sichtbarkeits­weise, die sowohl die Größenmaßstäbe der Tradition der Repräsentation widerruft als auch ein auf der öffentlichen Rede beruhendes Modell von Sprache durch das Lesen der Zeichen auf dem Körper der Dinge, Menschen und Gesell­schaften ersetzt.

Dieses Erbe tritt die gelehrte Geschichte an. Doch möchte sie die Entstehungsbedingung ihres neuen Ge­genstands (das Leben der anonymen Individuen) von ihrem eigenen literarischen Ursprung und von der Politik der Lite-

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ratur, in die sie sich einschreibt, trennen. Was die gelehrte Geschichte aufgibt - und Film und Fotografie wieder auf­nehmen - ist jene Logik, die sich in der Tr'adition des Ro­mans von Balzac bis zu Proust und dem Surrealismus zeigt, und es ist jenes Denken des Wahren, dessen Erbe Marx, Freud, Benjamin und die Tradition des "kritischen Denkens" angetreten haben: Schön wird das Alltägliche als Spur des Wahren, und es wird zur Spur des Wahren, wenn man das Alltägliche aus seiner Selbstverständlichkeit herausreißt und zu einer Hieroglyphe, zu einer mythologischen oder phantasmagorischen Figur macht. Diese phantasmagori­sche Dimension des Wahren, die zum ästhetischen Regime der Künste gehört, hat eine wesentliche Rolle bei der Be­gründung des kritischen Paradigmas der Geistes- und Sozi­alwissenschaften gespielt. Die marxistische Fetisch-Theorie bezeugt das am deutlichsten: Man muss die Ware aus ihrer trivialen Erscheinung herausreißen und sie in ein phantas­magorisches Objekt verwandeln, um in ihr den Ausdruck der gesellschaftlichen Widersprüche lesen zu können. Die gelehrte Geschichte wollte aus der ästhetisch-politischen Konfiguration, die ihr Gegenstand ist, bestimmte Aspekte herausgreifen. Sie hat diese Phantasmagorie des Wahren auf die positivistischen, soziologischen Konzepte von Men­talität / Ausdruck und Glauben / Nichtwissen reduziert.

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Ob daraus zu schließen wäre, dass die Geschichte eine Fiktion ist. Von den verschiedenen Weisen der Fiktion

Sie gehen von einem grundsätzlich positiven Begriff von Fiktion aus. Was genau ist darunter zu verstehen? Welche Beziehungen herrschen zwischen der Geschichte .. in die wir "verwickelt" sind, und den Geschichten, wie sie von den narrativen Künsten erzählt (oder dekonstruiert) werden? Und wie ist es zu verstehen, dass die poetischen oder literarischen Aussagen sich eher" verkörpern ", "Gestalt annehmen" und Auswirkungen auf die Wirklich­keit haben, anstalt bloße Widerspiegelungen der Wirklichkeit zu sein? Sind Ideen wie die von "politischen Körpern" oder "Körpern der Gemeinschaft" mehr als bloße Metaphern? Folgt aus solchen Überlegungen eine Neudefinition der Utopie?

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Hier liegen zwei Probleme, die bisweilen vermischt wer­den, um daraus das Gespenst einer historischen Wirklichkeit zu konstruieren, die angeblich nur aus "Fiktionen" besteht. Das erste Problem betrifft den Zusammenhang zwischen Geschichte und Geschichtlichkeit, das heiBt die Beziehung zwischen dem historischen Akteur und dem sprach begab­ten Wesen. Das zweite Problem betrifft die Idee der Fiktion und die Beziehung zwischen fiktionaler Rationalität und den Weisen, die historische und soziale Wirklichkeit zu erklären, zwischen der Ratio der Fiktionen und der Ratio der Fakten,

Am besten beginnen wir mit dem zweiten Problem, mit jener "Positivität" der Fiktion, wie sie in dem Text analysiert wird, auf den Sie sich beziehen.'3 Diese Positivität widt ihrer­seits eine doppelte Frage auf: Erstens stellt sie die allgemei­ne Frage nach der Rationalität der Fiktion, das heiBt danach, wie die Unterscheidung zwischen Fiktion und Unwahrheit zu treffen ist. Und zweitens stellt sie die Frage nach dem Unterschied oder dem fehlenden Unterschied - zwischen den Weisen des Verstehens, die die Konstruktion von Ge­schichten betreffen, und solchen, die dazu dienen, histori­sche Phänomene zu verstehen. Fangen wir mit der ersten Frage an: Die Besonderheit des repräsentativen Regimes der Künste besteht darin, die Vorstellung der Fiktion von der Vorstellung der Lüge getrennt zu haben. Dieses Regime sondert die Formen der Künste ab von der Ökonomie der gemeinsamen Beschäftigungen und von der Gegen-Ökono­mie der Trugbilder, die unter das ethische Regime der Bilder fallen, Genau darum geht es in der Poetik des Aristoteles. Aristoteles entzieht die Formen der poetischen mimesis Platons Verdacht gegenüber der Beschaffenheit und der Bestimmung der Bilder und behauptet so, dass Handlun­gen in Form eines Gedichts anzuordnen nicht bedeutet, ein Trugbild herzustellen. Vielmehr handelt es sich dabei um ein Wissensspiel, das sich auf einen bestimmten Zeit-Raum be­schränkt. Fingieren bedeutet nicht, Illusionen hervorzurufen, sondern verständliche Strukturen zu entwickeln, Die Poesie

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braucht über die "Wahrheit" dessen, was sie sagt, keine Re­chenschaft abzulegen, weil sie prinzipiell nicht aus Bildern und Aussagen besteht, sondern aus Fiktionen, das heißt aus dem Anordnen von Handlungen, Daraus leitet Aristote­les ferner die These von der Überlegenheit der Poesie über die Geschichte ab, insofern erstere eine Abfolge von Ereig­nissen in einen kausal logischen Zusammenhang bringen kann, während die zweite dazu verdammt ist, die Ereignisse entsprechend ihrer empirischen Unordnung wiederzuge­ben, Anders gesagt - und das ist etwas, das die Historiker ungern näher betrachten - bedeutet eine klare Trennung zwischen Wirklichkeit und Fiktion, dass eine Rationalität der Geschichte und ihrer Wissenschaft unmöglich ist

Die ästhetische Revolution mischt die Karten neu, in­dem sie zwei Dinge miteinander verbindet: die Verwischung der Grenzen zwischen der Ratio der Fakten und der Ratio der Fiktionen einerseits und die neue Art von Rationalität der Geschichtswissenschaft anderseits, Indem die Romantik be­hauptet, das Prinzip der Poesie sei nicht die Fiktion sondern eine bestimmte Anordnung der Sprachzeichen, verwischt sie die Trennungslinie, die die Kunst aus dem Hoheitsbe­reich der Aussagen und Bilder ausgeschlossen hat, sowie jene Linie, welche die Ratio der Fakten und der Geschichten voneinander trennte, Das bedeutet nicht, dass die Romantik, wie man es zuweilen hört, eine realitätsferne "Selbstbezüg­lichkeit" der Sprache proklamiert hätte, Ganz im Gegenteil: Die Romantik verankert die Sprache in der Materialität jener Merkmale, mit denen die historische und soziale Welt sich für sich selbst zu erkennen gibt - sei es in Form der stummen Sprache der Dinge, sei es in der chiffrierten Sprache der Bil­der. Die neue Fiktionalität bewegt sich in dieser Landschaft aus Zeichen: sie ist eine neue Art, Geschichten zu erzählen, das heißt zunächst die "empirische" Welt der undurchsichti­gen Handlungen und unscheinbaren Gegenstände mit Sinn auszustatten, Die fiktionale Anordnung hat nichts mehr mit

der kausalen Verkettung von Handlungen "entsprechend

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Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit" zu tun, wie noch bei Aristoteles, sondern sie ist eine Anordnung von Zeichen, Doch diese literarische Anordnung von Zeichen bedeutet keinesfalls eine einsame Selbstreferentialität der Sprache, Vielmehr handelt es sich um eine Gleichsetzung von fiktio­nalen Konstruktionsweisen mit Lesarten jener Zeichen, die der Gestalt eines Ortes, einer Gruppe, einer Mauer, einem Kleidungsstück oder einem Gesicht eingeschrieben sind, Die fiktionale Anordnung ist die Gleichsetzung der Mittel der Beschleunigung oder Verlangsamung der Sprache, ih­rer zusammengebrauten Bilder und Tonwechsel, der ganzen Spannungsdifferenz zwischen dem Unbedeutenden und dem Überdeterminierten mit jenen Modalitäten der Reise durch die Landschaft der bezeichnenden Merkmale, wie sie in der Topographie der Räume, in der Physiologie der sozia­len Kreise oder in dem stummen Ausdruck der Körper ange­ordnet sind, Die spezifische "Fiktionalität" des ästhetischen Zeitalters entfaltet sich demnach zwischen zwei Polen: zwischen der Bedeutungsmacht, die jedem stummen Ding inhärent ist, und der Vermehrung der Sprach modi und Be­deutungsebenen,

Die ästhetische Souveränität der Literatur ist also nicht die Herrschaft der Fiktion, Sie ist im Gegenteil ein Regime der tendenziellen Unbestimmtheit zwischen der Ratio der deskriptiven und narrativen Anordnungen der Fiktion und der Beschreibung und Deutung der sozialhistorischen Phä­nomene, Wenn Balzac den Leser vor die verschlungenen Hieroglyphen auf der wackligen und zusammengeflickten Fassade des Hauses zur ballspielenden Katze stellt, oder ihn zusammen mit dem Helden des Chagrinleders in den Antiquitätenladen eintreten lässt, in dem sich wahllos pro­fane und heilige, wilde und zivilisierte, antike und moderne Gegenstände anhäufen, von denen jeder eine ganze Welt enthält, wenn er aus Cuvier den einzig wahren Dichter macht, der aus einem Fossil eine Welt rekonstruiert, dann errichtet er ein Entsprechungssystem zwischen den Zeichen

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des neuen Romans und jenen Zeichen, anhand derer die Phänomene einer Zivilisation beschrieben oder interpretiert werden. Balzac begründet jene neue Rationalität des Ba­nalen und Obskuren, die den großen aristotelischen Anord­nungen entgegen gesetzt ist und die zur neuen Rationali­tät der Geschichte des materiellen Lebens wird, die selbst wiederum den Geschichten von großen Taten und großen Persönlichkeiten entgegensteht.

Damit ist die aristotelische Trennlinie zwischen zwei "Geschichten" - die der Historiker und die der Dichter -aufgehoben. Sie hatte nicht bloß die Wirklichkeit von der Fiktion getrennt, sondern auch die empirische Abfolge von der konstruierten Notwendigkeit. Aristoteles begründet die Überlegenheit der Dichtung über die Geschichte damit, dass die Dichtung das, was "geschehen könnte", gemäß der Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit der Anordnung von dichterischen Handlungen erzählt, während Geschich­te lediglich als empirische Abfolge von Ereignissen, wie sie "geschehen sind", gilt. Mit dieser Trennung bricht die äs­thetische Revolution: Zeugnis und Fiktion unterstehen ein und demseiben Sinnstiftungsregime. Einerseits trägt "das Empirische" die Merkmale des Wahren, das in Gestalt von Spuren und Abdrücken erscheint, und damit untersteht das, "was geschehen ist", direkt einem Wahrheitsregime, einem Regime, das seine eigene Notwendigkeit sehen lässt; ande­rerseits besitzt das, "was geschehen könnte", nicht länger die autonome und lineare Form der Handlungsanordnung. Künftig wird die poetische "Geschichte" den Realismus mit der Künstlichkeit verbinden und damit die der Wirklichkeit direkt eingeschriebenen Spuren mit der Konstruktion kom­plexer Maschinen des Verstehens.

Diese Verbindung ist dann von der Literatur zur neuen Erzählungskunst - dem Kino - übergegangen. Das Kino Whrt jene beiden Mittel, die stumme und vielsagende Spur und die Konstruktion, die die Bedeutungsmacht und den Wahrheitswert berechnet, auf die Höhe ihrer Möglichkeiten.

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Dabei ist der Dokumentarfilm als der Film, der sich dem "Re­alen" verschrieben hat, sogar eher zu einer stärkeren fiktio­nalen Erfindung fähig als das Kino der "Fiktionen", das leicht einer gewissen Stereotypie von Handlungen und Charakte­ren unterliegt. Der Film Alexanders Grab von Chris Marker, um den es in dem von Ihnen angesprochenen Artikel geht, übersetzt die Geschichte Russlands von der Zarenzeit bis zum Postkommunismus an hand des Schicksals eines Re­gisseurs, Alexander Medwedkin, in Dichtung. Weder wird deshalb Medwedkin zu einer erfundenen Figur, noch wer­den erfundene Geschichten über die Sowjetunion erzählt. Marker spielt mit der Kombination verschiedener Typen von Spuren (Interviews, aussagekräftige Gesichter, Archivdoku­mente, Ausschnitte aus dokumentarischen und fiktionalen Filmen etc.), um Möglichkeiten vorzuschlagen, wie man die­se Geschichte denken kann. Das Reale muss zur Dichtung werden, damit es gedacht werden kann. Dieser Vorschlag hat nichts mit jenem (positiven oder negativen) Diskurs zu

tun, der besagt, alles sei "Erzählung" - egal ob "große" oder "kleine" Erzählungen. Der Begriff der "Erzählung" sperrt uns in den Gegensatz zwischen Wirklichem und Künstlichem ein, in dem sich Positivisten und Dekonstruktivisten glei­chermaßen verlieren. Es geht nicht um die Behauptung, al­les sei Fiktion. Vielmehr gilt es festzustellen, dass die Fiktion des ästhetischen Zeitalters Modelle geschaffen hat, die es erlauben, die Darlegung von Fakten mit Formen des Verste­hens zu verbinden, die die Trennung zwischen der Ratio der Fakten und der Ratio der Fiktion gerade aufgehoben haben. Diese Verbindungsmodelle werden dann von Historikern so­wie von Analytikern der sozialen Wirklichkeit wieder aufge­griffen. Geschichte schreiben und Geschichten schreiben gehören zu demselben Wahrheitsregime. Das hat nichts mit irgendeiner These über die Wirklichkeit oder Unwirk­lichkeit der Dinge zu tun. Ebenso klar ist allerdings auch, dass ein bestimmtes Modell, Geschichten zu verfertigen, an eine bestimmte Auffassung von Geschichte als gemein-

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samem Schicksal sowie an eine Vorstellung davon, wer die "Geschichte macht", gebunden ist, und dass jene enge Ver­knüpfung zwischen der Ratio der Fakten und der Ratio der Geschichten spezifisch ist für eine Epoche, in der potentiell alle an der Aufgabe, Geschichte zu "machen", beteiligt sind. Es geht also nicht darum zu sagen, dass "die Geschichte" bloß aus den Geschichten bestünde, die wir uns erzählen, sondern schlicht um die Feststellung, dass die "Ratio der Geschichten" und die Fähigkeiten, als historische Akteure zu handeln, zusammengehören. Politik, Kunst, Wissen - sie alle konstruieren "Fiktionen", das heißt materielle Neuanord­nungen von Zeichen und Bildern, und stiften Beziehungen zwischen dem, was man sieht, und dem, was man sagt, zwi­schen dem, was man tut und tun kann.

Wir finden hier die andere Frage wieder, jene nach der Beziehung zwischen Literarizität und historischer Wahrheit. Politische oder literarische Aussagen wirken sich auf die Re­alität aus, und sie definieren Modelle des Sprechens oder des Handeins, aber auch Regime sinnlicher Intensität. Sie zeichnen Karten des Sichtbaren, ziehen Bahnen zwischen Sicht- und Sag barem und stellen Beziehungen zwischen Seinsweisen, Tätigkeitsformen und Redeweisen her. Sie de­finieren Variationen von sinnlichen Intensitäten, körperlichen Wahrnehmungen und Fähigkeiten. Sie bemächtigen sich auf diese Weise irgendwelcher Menschen, schaffen Abstän­de, zeigen Nebenwege auf, verändern die Arten, Geschwin­digkeiten und Bahnen, in denen diese Menschen mit ihren Lebensumständen verhaftet sind, auf Situationen reagieren und sich zu ihren Bildern bekennen. Sie gestalten die Karte des Sinnlichen neu, indem sie die Funktionalität jener Ges­ten und Rhythmen in Frage stellen, die an die natürlichen Kreisläufe von Produktion, Reproduktion und Unterwerfung angepasst sind. Der Mensch ist ein politisches Tier, weil er ein literarisches Tier ist, das sich durch die Macht der Worte von seiner "natürlichen" Bestimmung ablenken lässt. Diese Literarizität ist gleichzeitig Ursache und Wirkung der Zirku-

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lation von im "wortwörtlichen Sinne" literarischen Aussagen. Aber diese Aussagen besetzen die Körper und lenken sie in dem Maße von ihrer Bestimmung ab, in dem sie selbst keine Körper - im Sinne von Organismen -, sondern Ouasi­Körper - Wortblöcke sind, die ohne legitimen Vater, der sie bis zu einem adäquaten Adressaten begleiten würde, zir­kulieren. Sie stellen auch keine Kollektivkörper her, vielmehr versehen sie die imaginären Kollektivkörper mit Bruchlinien, Linien der "Entkörperung". Bekanntlich war genau dies die Zwangsvorstellung der Regierenden und Theoretiker der "guten Regierung", die über die vom Umlauf der Schrift hervorgerufene "Deklassierung" sehr beunruhigt waren. Im 19. Jahrhundert wurde es dann zur Zwangsvorstellung der veritablen "Schriftsteller", die mit ihren Schriften jene Litera­rizität denunzierten, die über die Grenzen der Institution Lite­ratur hinausgeht und deren Produktionen vom wahren Weg abbringt. Es ist richtig, dass die Verbreitung dieser Ouasi­Körper die sinnliche Wahrnehmung des Gemeinsamen und das Verhältnis zwischen dem Gemeinsamen der Sprache und der sinnlichen Aufteilung der Räume und Betätigungen verändert. Sie skizzieren aleatorische Gemeinschaften, die zur Bildung neuer Aussage-Kollektive beitragen, welche die bestehende Verteilung der Rollen, Territorien und Sprachen infrage stellen - kurz: die Verteilung all jener politischen Sub­jekte, die die bestehende Aufteliung des Sinnlichen außer Kraft setzen. Doch ist ein politisches Kollektiv eben gerade kein Organismus oder gemeinschaftlicher Körper. Die Wege der politischen Subjektbildung sind nicht die der imaginären Identifikation, sondern der "literarischen" Entkörperung. 14

Ich bin mir nicht sicher, ob der Begriff der Utopie die­ser Arbeit gerecht wird. Das definitorische Potential dieses Wortes ist vollständig von seinen Konnotationen aufgezehrt worden: zum einen der wahnsinnige Traum, der in die tota­litäre Katastrophe mündet, zum anderen das Gegenteil, die unendliche Eröffnung des Möglichen, die allen totalisieren­den Einfriedungen widersteht. Aus unserer Sicht, das heißt

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aus Sicht der Neuverteiiung eines gemeinsamen Sinnlichen, hat das Wort Utopie zwei sich widersprechende Bedeutun­gen, Die Utopie ist zum einen der Nicht-Ort. der äußerste Punkt einer konfliktreichen Neuverteilung des Sinnlichen, die die Kategorien der Evidenz sprengt Zum anderen ist die Utopie die Gestaltung eines guten Ortes, einer reib~mgs­losen Auf teilung des sinnlichen Universums, in dem das, was man macht, was man sieht und was man sagt, genau zu einander passen, Die Utopien und die utopischen So­zialismen haben dank dieser Doppeldeutigkeit funktioniert: einerseits als Widerruf evidenter sinnlicher Gegebenheiten, in denen die Normalität der Herrschaft verwurzelt ist, und anderseits als Vorschlag eines Zustands, in dem die Idee des Gemeinsamen ihre adäquate Verkörperungsformen besitzen würde, in dem also die Auseinandersetzung über die Beziehung zwischen Wörtern und Dingen, die Ausein­andersetzung, die das Herz der Politik ausmacht, aufgeho­ben wäre. Aus dieser Perspektive habe ich in meinem Buch La Nuit des proletaires die komplexe Begegnung zwischen den Ingenieuren der Utopie und den Arbeitern analysiert Die saint-simonistischen Ingenieure propagierten einen neu­en, wahren Gemeinschaftskörper, bei dem die in den Boden eingelassenen Wasser- und Schienenwege die Illusionen des geschriebenen und gesprochenen Wortes ersetzen sollten. Die Antwort der Arbeiter bestand ilicht darin, die Utopie mit der Praxis zu konfrontieren, sondern der Utopie ihren "unwirklichen" Charakter zurück zu geben, den einer Montage aus Wörtern und Bildern, die das Territorium des Sichtbaren, Denkbaren und Möglichen neu gestalten. Ent­sprechend wären die "Fiktionen" der Kunst und der Politik eher Heterotopien als Utopien.

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Von der Kunst und der Arbeit. Warum die Praktiken der Kunst eine Ausnahme von den anderen Praktiken bilden und warum nicht

Für die Hypothese einer "Fabrik des Sinnlichen" spielt die Verbindung zwischen der künstlerischen Praxis und ihrem scheinbaren Außen, also der Arbeit, eine wesent­liche Rolle. Wie begreifen Sie aus Ihrer Sicht eine solche Verbindung: als Ausschluss, Unterscheidung, G/eich­giiltigkeit ... ? Kann man vom "menschlichen Tun" im All­gemeinen sprechen und die klinstlerischen Praktiken als dazugehörig ansehen oder bilden sie eine Ausnahme?

Unter dem Konzept einer "Fabrik des Sinnlichen" kann man zunächst einmal den Aufbau einer gemeinsamen sinn­lichen Welt, eines gemeinsamen Ort des Aufenthalts mit­tels der Verflechtung einer Vielzahl menschlicher Tätigkeiten

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verstehen. Doch impliziert die Idee einer "Aufteilung des Sinnlichen" noch etwas mehr. Eine "gemeinsame" Welt ist niemals bloßes ethos im Sinne eines gemeinsamen Aufent­haltsortes, der sich aus der Sedimentierung einer bestimm­ten Anzahl verflochtener Handlungen ergibt. Sie ist immer auch eine konfliktreiche Verteilung von Seinsweisen und "Beschäftigungen" in einern Möglichkeitsraum. Erst unter dieser Voraussetzung kann man die Frage nach dem Ver­hältnis zwischen der "Gewöhnlichkeit" der Arbeit und der "Besonderheit" der Kunst stellen. Auch hier kann ein Rekurs auf Platon dabei behilflich sein, das Problem zu benennen. Im dritten Buch des Staats wird der nachahmende Künst­ler nicht mehr wegen der Unwahrheit und des schädlichen Charakters seiner Bilder verurteilt, sondern aufgrund eines Prinzips der Arbeitsteilung, das bereits die Handwerker aus jedem gemeinsamen politischen Raum ausschloss: Der nachahmende Künstler ist per Definition ein Doppelwesen. Er tut zwei Dinge gleichzeitig, während das Prinzip der wohl­geordneten Gemeinschaft darin besteht, dass jeder aus­schließlich ein Ding tut, zu dem er durch seine "Natur" be­stimmt ist. In gewisser Hinsicht ist damit schon alles gesagt. Die Vorstellung von Arbeit ist nicht in erster Linie die einer bestimmten Tätigkeit, eines materiellen Transformationspro­zesses. Sie liegt vielmehr in einer Aufteilung des Sinnlichen: in der Unmöglichkeit aufgrund des "Zeitmangels", "etwas an­deres" zu tun. Diese "Unmöglichkeit" gehört zu der verinner­lichten Vorstellung der Gemeinschaft. Sie bestimmt Arbeit als notwendige Abschiebung des Arbeiters in den privaten Zeit-Raum seiner Beschäftigung und schließt ihn dadurch von der Teilnahme am Gemeinsamen aus. Der nachahmen­de Künstler bringt diese Aufteilung durcheinander: Er ist ein Doppelwesen, ein Arbeiter, der zwei Dinge gleichzeitig tut. Das Entscheidende dabei ist viel!eicht die Zuordnung: Der nachahmende Künstler gibt dem "privaten" Prinzip der Ar­beit eine öffentliche Bühne. Er stellt einen Schauplatz des Gemeinsamen mittels dessen her, was eigentlich die Ver-

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bannung eines jeden auf seinen Platz hätte herbeiführen sollen, Mehr noch als auf der Gefahr, dass seine Trugbil­der die Seelen verweichlichen, beruht seine Schädlichkeit auf dieser Neuaufteilung des Sinnlichen. Die künstlerische Praxis ist also nicht das Außen der Arbeit, sondern deren "deplazierte" Form der Sichtbarkeit. Die demokratische Auf­teilung des Sinnlichen macht aus dem Arbeiter ein Doppel­wesen. Sie befreit den Handwerker von "seinem" Platz, dem häuslichen Arbeitsraum und gewährt ihm die "Zeit", sich im Raum der öffentlichen Debatten aufzuhalten und die Iden­tität eines beschlussfähigen Bürgers anzunehmen. Die mi­metische Dopplung im Raum des Theaters bestätigt diese Dopplung und macht sie sichtbar. Dementsprechend gehört aus der Sicht Platons der Ausschluss des nachahmenden Künstlers zum Aufbau einer Gemeinschaft, in der die Arbeit an "ihrem" Platz ist.

Das Prinzip der Fiktion, das im repräsentativen Regime der Künste herrscht, ist dagegen eine Weise, die künstleri­sche Ausnahme zu stabilisieren, sie einer techne zuzuwei­sen, was zweierlei bedeutet: Die Kunst der Nachahmungen ist eine Technik und keine Lüge. Sie ist kein Trugbild mehr, aber auch nicht länger die deplazierte Sichtbarkeit der Arbeit als Aufteilung des Sinnlichen, Der nachahmende Künstler ist nicht länger das Doppelwesen, dem man die Polis, in der jeder bloß eine Sache macht, entgegen setzen muss. Die Kunst der Nachahmungen kann ihre eigenen Hierarchien und Ausschlusskriterien in die große Auf teilung der "freien" und der technisch reproduzierbaren Künste einbringen.

Das ästhetische Regime der Künste stürzt diese Ver­teilung der Räume um. Es stellt nicht bloß die mimetische Dopplung zugunsten der Immanenz eines sinnlich verfass­ten Denkens infrage, sondern darüberhinaus auch den neu­tralen Status einer techne - die Vorstellung von der Technik als Prägung einer leblosen Materie durch eine gedankliche Form. Das heißt, dass es die Aufteilung der Beschäftigun­gen, auf der die Verteilung der Bereiche beruht, in denen

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bestimmte Handlungen möglich sind, wieder ans Tageslicht bringt. Diese theoretische und politische Operation steht im Zentrum von Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Im Hinblick auf die kantische Definition des ästhetischen Urteils als Urteil ohne Begriff, das heißt ohne die Unterordnung der Intuition unter die begriffliche Bestim­mung, legt Schiller die politische Aufteilung frei, vor deren Hintergrund Kant operiert: die Aufteilung zwischen denjeni­gen, die handeln, und denjenigen, die erleiden; zwischen den kultivierten Klassen, die Zugang haben zur Totalität des Le­bens, und den wilden Klassen, die in der Zerstückelung der Arbeit und der sinnlichen Erfahrungen versinken. Schillers "ästhetischer" Zustand will mit einer bestimmten Vorstellung von Kunst die Vorstellung von einer Gemeinschaft zerstören, die auf dem Gegensatz zwischen denen beruht, die den­ken und entscheiden, und denen, die zur materiellen Arbeit bestimmt sind, indem er den Gegensatz zwischen aktivem Verstand und passiver Sinnlichkeit aussetzt.

Diese Aussetzung der negativen Wertung der Arbeit ist im 19. Jahrhundert zur Affirmation ihres positiven Wertes geworden, als der Form, in der sich die gemeinschaftliche Effektivität des Denkens und des Gemeinwesens vollzieht. Dieser Wandel erfolgte dadurch, dass diese Schwebe des "ästhetischen Zustands" in die positive Behauptung eines ästhetischen Willens transformiert wurde. Die Romantik ver­kündet das Sinnlich-Werden jedes Gedankens und das Ge­danken-Werden jeder sinnlichen Materie als das eigentliche Ziel jeglicher Gedankentätigkeit. Dadurch wird die Kunst wieder zu einem Symbol der Arbeit. Die Kunst antizipiert jenes Ziel, das die Arbeit noch nicht aus eigener Kraft und für sich selbst erreichen kann: die Abschaffung der Gegen­sätze. Doch der Kunst ist dies in dem Maße möglich, als sie Produktion ist. Das heißt der Prozess materieller Rea­lisierung ist damit identisch, dass die Gemeinschaft ihren eigenen Sinn vorführt. Die Produktion erweist sich als das Prinzip einer neuen Aufteilung des Sinnlichen, insofern sie

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die traditionell gegensätzlichen Begriffe von herstellender Tätigkeit und Sichtbarkeit in einem Konzept vereinigt. Her­stellen bedeutete früher, in einem privaten und dunklen Zeit­Raum dem Nahrungserwerb nachzugehen. Produzieren fügt der Handlung, etwas herzustellen, eine Handlung hinzu, die etwas sichtbar macht und definiert so ein neues Verhältnis zwischen tun und sehen. Die Kunst antizipiert die Arbeit, weil sie deren Prinzip verwirklicht, nämlich die Umwandlung der sinnlichen Materie in die Selbstdarstellung der Gemein­schaft. Die Schriften des jungen Marx, die die Arbeit zum Ausweis des Menschen als Gattungswesen machen, sind einzig auf der Basis des ästhetischen Programms des deut­schen Idealismus möglich: Kunst als Umwandlung des Ge­dankens in die sinnliche Erfahrung der Gemeinschaft. Und dieses ursprüngliche Programm liegt dem Denken und der Praxis der "Avantgarden" der 1920er Jahre zugrunde: die Kunst als getrennte Tätigkeit abschaffen und sie der Arbeit, und das heißt dem Leben, das sich seinen eigenen Sinn er­arbeitet, wieder zurückgeben.

Damit will ich nicht behaupten, dass die moderne Auf­wertung der Arbeit das einzige Ergebnis des neuen Ver­ständnisses der Kunst sei. Zum einen ist die ästhetische Denkweise erheblich mehr als ein Gedanke zur Kunst. Sie ist eine Idee des Denkens, die an die Idee einer Aufteilung des Sinnlichen gebunden ist. Zum anderen gilt es auch, die Art und Weise zu bedenken, in der die Kunst der Künstler im Anschluss an eine zweifache Aufwertung der Arbeit neu definiert wurde: die ökonomische Aufwel'tung der Arbeit als Name für die grundlegende Tätigkeit des Menschen, aber auch der Kampf der Proletarier, um die Arbeit aus ihrer Nacht, das heißt aus ihrem Ausschluss von gemeinsamer Sichtbar­keit und Rede, zu befreien. Wir müssen das denkfaule und absurde Schema aufgeben, nach dem der ästhetische Kult des "L!art pour I'art" der aufstrebenden Kraft der proleta­rischen Arbeit entgegensetzt ist. Nur als Arbeit kann die Kunst den Charakter einer exklusiven Tätigkeit annehmen.

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Die Kritiker zur Zeit Flauberts zeigen die Verbindung auf zwi­schen dem Kult des Satzes und der Aufwertung der bloßen Arbeit, die vermeintlich jenseits aller Sprache liegt, und sind somit weitsichtiger als die Entmystifizierer des 20. Jahrhun­derts: Der flaubertsche Ästhet ist ein Steineklopfer. Zur Zeit der russischen Revolution konnten sich Kunst und Produk­tion miteinander identifizieren, denn sie folgten beide dem­selben Prinzip der Neuaufteilung des Sinnlichen, derselben Tugendhaftigkeit einer Handlung, die mit der Herstellung von Gegenständen zugleich Sichtbarkeit generiert. Der Kult der Kunst setzt eine Aufwertung der Fähigkeiten voraus, die mit der Vorstellung vom Wesen der Arbeit verbunden sind. Doch ist diese Aufwertung weniger die Entdeckung des Wesens menschlicher Tätigkeit, als dass sie die Landschaft des Sichtbaren, das Verhältnis von Tun, Sein, Sehen und Sagen, neu zusammensetzt. Welche spezifische Form auch immer die ökonomischen Kreisläufe annehmen, in die die künstlerischen Praktiken sich einfügen: Diese sind niemals eine "Ausnahme" gegenüber den anderen Praktiken. Die künstlerischen Praktiken repräsentieren oder gestalten die Aufteilungen dieser anderen Tätigkeiten neu.

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Aus dem Französischen von Maria Muhte und Susanne Leeb, basierend auf einer Übersetzung von JOrgen Link

Anmerkungen

Beim Begriff der "Aufteilung" ist die Doppelbedeutung von "partage" im Sinne von Teilung und Teilhabe mitzu­lesen. (Anm. d. Ü.)

2 Jacques Ranciere, Das Unvernehmen, a. d. Franz. von Richard Steurer, Frankfurt am Main 2002. Orig.: La Me­sentente, Paris 1995.

3 "Manieres de faire" bedeutet in der genauen Überset­zung "die Weisen, etwas zu tun" und ist hier durchge­hend mit Tätigkeitsformen übersetzt. Ebenso wurde fLir "activite" der Begriff Tätigkeiten gewählt. (Anm. d. Ü.)

4 Unter "Gemeinschaft des Sinnlichen" verstehe ich keine Kollektivität, die auf einem gemeinsamen GefUhl beruht. Gemeint ist ein Rahmen der Sichtbarkeit und Intelligi­bilität, der Dinge oder Praktiken unter einer Bedeutung vereint und so einen bestimmten Sinn fUr Gemeinschaft entwirft. Eine Gemeinschaft des Sinnlichen entsteht, wenn Raum und Zeit auf eine bestimmte Weise einge­teilt und dadurch Praktiken, Formen der Sichtbarkeit und Verstehensmuster miteinander verknüpft werden. Dieses Ausschneiden und Verknüpfen nenne ich eine Aufteilung des Sinnlichen.

5 "Occupation" wird hier mit Beschäftigung übersetzt, da der Begriff sich an die platonische Aufteilung der Beschäftigungen innerhalb der Gemeinschaft anlehnt; mitgedacht werden sollte aber auch der Aspekt der In­besitznahme (occuper = besetzen) eines Individuums durch eine Beschäftigung. (Anm. d. Ü.)

6 Von hier ausgehend kann man den Trugschluss ver­stehen, der in jedem Versuch, die charakteristischen Merkmale der Künste aus dem ontologischen Status der Bilder abzuleiten, enthalten ist (zum Beispiel die un­aufhörlichen Versuche, aus der theologischen Konzep­tion der Ikone die Vorstellung von dem der Malerei, der Fotografie oder des Films "Eigenen" zu ziehen). Dieser

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Versuch setzt zwei sich ausschließende Denkregime in eine Beziehung von Ursache und Wirkung. Das gleiche Problem stellt sich bei der benjaminschen Analyse der Aura ein. Benjamin leitet auf zweifelhafte Weise den einzigartigen Wert des Kunstwerks aus dem Ritualwert des Bildes her: "Es ist nun von entscheidender Bedeu­tung, dass diese auratische Daseinsweise des Kunst­werks niemals durchaus von seiner Ritualfunktion sich löst. Mit anderen Worten: Der einzigartige Wert des ,echten' Kunstwerks hat seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originären und ersten Gebrauchswert hatte." (Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1996, S. 16.) Diese "entscheidende" Tatsache ist in Wirklichkeit nichts anderes als die problematische Annäherung zweier Grundmuster der Transformation: das historisierende Schema der "Säkularisierung des Heiligen" und das ökonomische Schema der Verwand­lung des Gebr'auchswerts in Tauschwert. Doch dort, wo der Gottesdienst den Zweck der Statuen und Malereien als Bilder definiert, kann die Vorstellung von einem Spe­zifischen der Kunst und einer einzigartigen Eigenschaft ihrer "Werke" nicht entstehen. Das Verschwinden des ersteren ist notwendig für das Auftauchen des letzte­ren. Doch daraus folgt in keiner Weise, dass die zweite die veränderte Form des ersten sei. Das "mit anderen Worten" setzt zwei Behauptungen als gleichwertig vo­raus, die es eigentlich gar nicht sind, und ermöglicht all die Übergänge von der materialistischen Erklärung der Kunst zu ihrer Verwandlung in profane Theologie. Daraus erklärt sich, dass die benjaminsche Auffassung des Übergangs vom Kultwert zum Ausstellungswert heute drei konkurrierenden Diskursen unterliegt: jener Diskurs, der die moderne Entmystifizierung des künst­lerischen Mystizismus feiert, jener, der dem Werk und dem Ausstellungsraum die heiligen Werte der Darstel-

lung des Unsichtbaren zuspricht, und jener Diskurs, der den vergangenen Zeiten der Anwesenheit der Götter die Zeit der Verlassenheit und des Ausgestellt-Seins des Menschen entgegensetzt.

7 "Fait" ist als Vergangenheitspartizip von "faire" als das Verfertigte übersetzt, kann auch als Substantiv verstan­den und mit Faktum oder Tatsache wiedergegeben wer­den. Der Autor spielt hier mit dieser Doppeldeutigkeit, die sich auch auf das französische Wort für Gedicht be­zieht, denn die Etymologie von "poeme" verweist direkt auf das griechische poiema, wörtlich das Gemachte. (Anm.d. Ü.)

8 Schiller wird in den Briefen seine Kategorie des ästhe­tischen Zustands auf einen "ästhetischen Staat" (franz.: "etat" I "Etat") zuspitzen. (Anm. d. Ü.)

9 Stephane Mallarme, " Ballette, Essays aus den Divaga­tions", in: Kritische Schriften, hrsg. von Gerhard Goebel und Bettina Rommel, a. d. Franz. von Gerhard Goebel u. a., Gärlingen 1998, S. 169. Orig.: "Ballets, Divaga­tions", in: Igitur, Divagations, Un coup de des, preface d'Yves Bonnefoy, Paris 1976, S. 193.

10 Vgl. Raymond Bellour, "La Chambre", in: ders., L'Entre­images, 2 Bde., Paris 1999, Bd. 2.

11 "L:lnoubliable", in: Jean-Louis Comolli, Jacques Ran­ciere, Arret sur histoire, Paris 1997.

12 Diese polemisch anti-modernistische Berufung der ver­späteten Entdeckung des "Ursprungs" der Fotografie, der dem Mythos von der Erfindung der Malerei durch Dibutades nachempfunden ist, kann man sowohl bei Roland Barthes (Oie helle Kammer) als auch bei Rosa­lind Krauss (Das Photographische) nachlesen.

13 Jacques Ranciere, "La fiction de memoire. Apropos du Tombeau d'Alexandre de Chris Marker", in: Trafic 29, Frühjahr 1999, S. 36 - 47.

14 Ich erlaube mir, in diesem Zusammenhang auf mein Buch Oie Namen der Geschichte zu verweisen.

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