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Jenaer Reformkonzept Krista Segermann Das Jenaer Reformkonzept "Innovativer Französischunterricht" (veröffentlicht in: Fünf Jahre Zentrum für Didaktik, Festschrift für Will Lütgert 2006, 113-122) Vorbemerkung Das Projekt "Innovativer Französischunterricht" wurde mit Unterstützung des Zentrums für Didaktik- forschung entwickelt, wofür an dieser Stelle vor allem dem amtierenden Direktor und Jubilar dieser Festschrift, Will Lütgert, ein herzliches Dankeschön gesagt sei. Unter seiner Leitung fand im Oktober 2001 unter dem Titel "Jenaer Reformansatz im Fremdsprachenunterricht" ein Symposium statt, auf dem das Unterrichtskonzept von Vertretern der Jenaer Forschungsgruppe (Brigitta Enke, Anne Lequy und Kerstin Rusteberg unter Leitung von Krista Segermann) vorgestellt und mit Beiträgen von namhaf- ten Fremsprachendidaktikern und Sprachpsychologen (Hans Barkowski, Henning Düwell, Jürgen Kurtz, Dieter Wolff und Gudula List) diskutiert wurde. Das Projekt beinhaltet zwei Hauptarbeitsbereiche: a) die Entwicklung einer neuen Unterrichtskonzepti- on für den Französischunterricht sowie die Erstellung entsprechender Unterrichtsmaterialien, b) Grund- lagenforschung hinsichtlich der für die Konzeption konstitutiven kommunikativen Lernein-heiten, die aus lexiko-grammatischen Bausteinen bestehen. Damit ordnet das Projekt sich in den Forschungskon- text inhalts- und gebrauchsbezogener Sprachanalyse ein, die unter dem Primat der didaktischen, auf Fremdsprachenvermittlung für sprachspezifische Adresssatengruppen gerichteten Perspektive erfolgt. Die Grundlagenforschung findet gegenwärtig ihre Fortsetzung darin, dass die kommunikativen Ler- neinheiten im Wechselspiel von empirischer und systematischer Forschung unter Einsatz elektronischer Korpusanalysen nunmehr für ein fortgeschrittenes Lernniveau ermittelt und systematisiert werden. Die unter dem Titel "Innovativer Französischunterricht" bekannt gewordene neue Unterrichts-konzepti- on umfasst die ersten Lernjahre, in denen normalerweise nach einem Lehrbuch mit festgelegter gram- matischer Progression unterrichtet wird. Die vorgeschlagenen Änderungen bzw. 'Innovationen' bezie- hen sich vor allem darauf, dass der Fortgang des Unterrichts nicht mehr durch die Arbeit mit Lehr- buchtexten bestimmt wird, die den Schülern die zu lernenden grammatischen Phänomene und Voka- beln liefern, sondern durch sog. Schülerdialoge, d.h. Fragen und Antworten zu Themen aus ihrer Le- benswelt, wie z.B. «Ma famille et moi», «Mon école», «Mes préférences». Diese Dialoge werden ge- meinsam erarbeitet, indem die Schüler entscheiden, welche Inhalte sie versprachlichen wollen und der Lehrer ihnen – sur demande – die jeweiligen französischen Formen gibt, die sie für ihre Äußerungs- wünsche brauchen. Eine Progression nach grammatischen Phänomen ist damit nicht mehr möglich. Das Jenaer Reformkonzept wird seit nunmehr fast 10 Jahren im Sekundarschulbereich eingesetzt und laufend erweitert. Im Jahre 2001 hat eine Evaluation im Auftrag des Thüringer Kultusministeriums stattgefunden. Es wurden in zwei Projekt-Klassen (PK) und zwei Nicht-Projekt-Klassen (NPK) jeweils des dritten Lernjahrs die kommunikativen Fähigkeiten Hören und Sprechen (interview) sowie Lesen und Schreiben (Beantwortung eines Briefes) getestet. Die Schüler der PK verstanden rd. 6% mehr als die der NPK. Beim Sprechen produzierten die Schüler der PK 23% mehr richtige Äußerungen als die der NPK, beim Schreiben waren es 100 % mehr korrekte Äußerungen, d.h. bei den Projekt-Klassen war der kommunikative Output doppelt so hoch. Der Fehlerquotient in den sprachlichen Teilbereichen (Grammatik, Wortschatz, Aussprache) lag bei den PK im Mündlichen insgesamt um rd. 3,5 Punkte, im Schriftlichen um 0,5 Punkte niedriger. Lerntheoretische Grundlagen Die Haltung des Lehrers seinem Fachunterricht gegenüber wird – neben seinen pädagogischen Prinzi- pien und seinen psychologischen Voraussetzungen – entscheidend davon geprägt, was er über das Leh- ren und Lernen einer Fremdsprache, hier speziell der französischen Sprache, denkt. Jeder Lehrer hat 1

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Jenaer Reformkonzept

Krista Segermann

Das Jenaer Reformkonzept "Innovativer Französischunterricht"(veröffentlicht in: Fünf Jahre Zentrum für Didaktik, Festschrift für Will Lütgert 2006, 113-122)

VorbemerkungDas Projekt "Innovativer Französischunterricht" wurde mit Unterstützung des Zentrums für Didaktik-forschung entwickelt, wofür an dieser Stelle vor allem dem amtierenden Direktor und Jubilar dieserFestschrift, Will Lütgert, ein herzliches Dankeschön gesagt sei. Unter seiner Leitung fand im Oktober2001 unter dem Titel "Jenaer Reformansatz im Fremdsprachenunterricht" ein Symposium statt, aufdem das Unterrichtskonzept von Vertretern der Jenaer Forschungsgruppe (Brigitta Enke, Anne Lequyund Kerstin Rusteberg unter Leitung von Krista Segermann) vorgestellt und mit Beiträgen von namhaf-ten Fremsprachendidaktikern und Sprachpsychologen (Hans Barkowski, Henning Düwell, JürgenKurtz, Dieter Wolff und Gudula List) diskutiert wurde.Das Projekt beinhaltet zwei Hauptarbeitsbereiche: a) die Entwicklung einer neuen Unterrichtskonzepti-on für den Französischunterricht sowie die Erstellung entsprechender Unterrichtsmaterialien, b) Grund-lagenforschung hinsichtlich der für die Konzeption konstitutiven kommunikativen Lernein-heiten, dieaus lexiko-grammatischen Bausteinen bestehen. Damit ordnet das Projekt sich in den Forschungskon-text inhalts- und gebrauchsbezogener Sprachanalyse ein, die unter dem Primat der didaktischen, aufFremdsprachenvermittlung für sprachspezifische Adresssatengruppen gerichteten Perspektive erfolgt.Die Grundlagenforschung findet gegenwärtig ihre Fortsetzung darin, dass die kommunikativen Ler-neinheiten im Wechselspiel von empirischer und systematischer Forschung unter Einsatz elektronischerKorpusanalysen nunmehr für ein fortgeschrittenes Lernniveau ermittelt und systematisiert werden.Die unter dem Titel "Innovativer Französischunterricht" bekannt gewordene neue Unterrichts-konzepti-on umfasst die ersten Lernjahre, in denen normalerweise nach einem Lehrbuch mit festgelegter gram-matischer Progression unterrichtet wird. Die vorgeschlagenen Änderungen bzw. 'Innovationen' bezie-hen sich vor allem darauf, dass der Fortgang des Unterrichts nicht mehr durch die Arbeit mit Lehr-buchtexten bestimmt wird, die den Schülern die zu lernenden grammatischen Phänomene und Voka-beln liefern, sondern durch sog. Schülerdialoge, d.h. Fragen und Antworten zu Themen aus ihrer Le-benswelt, wie z.B. «Ma famille et moi», «Mon école», «Mes préférences». Diese Dialoge werden ge-meinsam erarbeitet, indem die Schüler entscheiden, welche Inhalte sie versprachlichen wollen und derLehrer ihnen – sur demande – die jeweiligen französischen Formen gibt, die sie für ihre Äußerungs-wünsche brauchen. Eine Progression nach grammatischen Phänomen ist damit nicht mehr möglich.Das Jenaer Reformkonzept wird seit nunmehr fast 10 Jahren im Sekundarschulbereich eingesetzt undlaufend erweitert. Im Jahre 2001 hat eine Evaluation im Auftrag des Thüringer Kultusministeriumsstattgefunden. Es wurden in zwei Projekt-Klassen (PK) und zwei Nicht-Projekt-Klassen (NPK) jeweilsdes dritten Lernjahrs die kommunikativen Fähigkeiten Hören und Sprechen (interview) sowie Lesenund Schreiben (Beantwortung eines Briefes) getestet. Die Schüler der PK verstanden rd. 6% mehr alsdie der NPK. Beim Sprechen produzierten die Schüler der PK 23% mehr richtige Äußerungen als dieder NPK, beim Schreiben waren es 100 % mehr korrekte Äußerungen, d.h. bei den Projekt-Klassen warder kommunikative Output doppelt so hoch. Der Fehlerquotient in den sprachlichen Teilbereichen(Grammatik, Wortschatz, Aussprache) lag bei den PK im Mündlichen insgesamt um rd. 3,5 Punkte, imSchriftlichen um 0,5 Punkte niedriger.

Lerntheoretische GrundlagenDie Haltung des Lehrers seinem Fachunterricht gegenüber wird – neben seinen pädagogischen Prinzi-pien und seinen psychologischen Voraussetzungen – entscheidend davon geprägt, was er über das Leh-ren und Lernen einer Fremdsprache, hier speziell der französischen Sprache, denkt. Jeder Lehrer hat

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demnach eine 'subjektive' Lehr-/ Lerntheorie, die ihm als Leitlinie für sein unterrichtliches Handelndient. Die von den verschiedensten Seiten (Ausbildung, Fortbildung, Kollegen) an ihn heran getrage-nen oder von ihm selbst entwickelten konkreten unterrichtlichen Verfahren sind durchweg Ausflussseiner Grundüberzeugungen in bezug auf das Fremdsprachenlernen. Diese subjektive Theorie lässt sichmeist nur sehr schwer formulieren, da sie größtenteils unbewusst ist bzw. nicht reflektiert wird. Sienährt sich aus vermeintlichen 'Selbstverständlichkeiten' und fragt nicht nach 'Legitimation' oder beziehtdiese aus der Annahme, es handle sich um wissenschaftlich abgesicherte Tatsachen.Die subjektive Theorie des Lehrers kann nicht losgelöst von der Zielvorstellung des Unterrichts gese-hen werden. Dennoch entwickeln sich beide nicht unbedingt parallel, so dass es durchaus zu Wider-sprüchen bzw. Reibungen zwischen Ziel und Weg kommen kann. Dies scheint gegenwärtig der Fall zusein. Das vom Lehrplan vorgegebene (und von der Gesellschaft eingeforderte) Ziel der "fremdsprachli-chen Kommunikationsfähigkeit“ bzw. der "Befähigung zum fremdsprachlichen Han-deln in interkultu-rellen Verstehens- und Verständigungssituationen" (Thüringer Lehrplan) wird - vor allem für den Fran-zösischunterricht - von vielen Lehrern zunehmend als mit den Mitteln und unter den heutigen Umstän-den des schulischen Unterrichts nicht erreichbar angesehen. Andererseits verstärkt sich der Druck vonaußen, so z.B. durch die Einführung des "Europäischen Portfolio der Sprachen", das künftig die kom-munikativen Leistungen aller Schüler in Europa auf einer vergleichbaren Skala messen soll.Das Jenaer Reformkonzept geht davon aus, dass es u.a. auch die praktizierten unterrichtlichen Verfah-ren sind, die ein Erreichen des Lernziels erschweren. Da diese 'herkömmlichen' Verfahren – wie wir sa-hen – auf bestimmten Auffassungen über das Fremdsprachenlernen beruhen, müssen mögliche Ände-rungen hier ansetzen. Welche Auffassungen sind es nun, die dem Erreichen des Lernziels im Wege ste-hen und inwiefern ist die subjektive Lehr-/ Lerntheorie zu revidieren? Im Folgenden werden die im Je-naer Reformkonzept enthaltenen Änderungen in vier Punkten dargestellt.

Punkt 1:Kommunikationsfähigkeit in einer fremden Sprache lässt sich nicht dadurch erreichen, dass Vokabelnund grammatische Phänomene gelernt werden, die beim kommunikativen Sprechen und Schreiben'anzuwenden' sind, sondern dadurch, dass der Schüler (neuronale) Verknüpfungen herstellt zwischenseinen Äußerungswünschen und den entsprechenden Formen der französischen Sprache.

Erläuterung:Kommunikation kommt nicht dadurch zustande, dass man Wörter nach den Regeln der Grammatik zuSätzen zusammenfügt. Der 'herkömmliche' Unterricht erweckt jedoch in seiner methodischen Gestal-tung oft genug den Anschein, als beruhe er auf dieser (fragwürdigen) Grundannahme. Die gängige Pra-xis zeigt, dass zwischen der Anwendung von Vokabel- und Grammatikkenntnissen in formorientiertenÜbungen und dem kommunikativen Sprechen und Schreiben ein tiefer Graben liegt, der auch durch diesog. Transferübungen kaum überbrückt werden kann. Der vor der sog. kommunikativen Phase – unddamit von ihr getrennt – verlaufende Erwerb von phonetischen, lexikalischen und grammatischenKenntnissen erweist sich sprachlernpsychologisch als Irrweg.Die kommunikative Funktion der Sprache besteht bei der Produktion darin, dass ein für den Sprechen-den oder Schreibenden bedeutsamer Inhalt, d.h. etwas, was er von sich aus sagen oder schreiben will,mit Hilfe von Sprache an einen Adressaten vermittelt, d.h. 'versprachlicht' wird. 'Lernen' muss derSchüler also die Zuordnung von Inhalt und Form, d.h. die Verbindung zwischen dem, was er mitteilenwill und den französischen Formentsprechungen. Diese 'Formen' müssen dem Schüler allerdings sopräsentiert werden, dass er mit ihnen kreativ umzugehen lernt. Das bedeutet, dass er die kommunikati-ve Äußerung in einzelne 'Bausteine' zerlegen und diese zu neuen Äußerungen zusammensetzen kann.

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Auf diese Weise wird er mit der 'Bauweise' der französischen Sprache vertraut. Diese Struktureinsichtgewinnt der Schüler auf der Grundlage seines 'Wissens' um die Funktion von Sprache, d.h. aufgrundseiner muttersprachlichen Kompetenz. Der Schüler 'weiß' intuitiv um die Zuordnung von Inhalt undForm. Auf der Folie seiner Muttersprache lernt er nun, seinen Äußerungswünschen die spezifisch fran-zösischen Formen zuzuordnen. Er muss also nicht zuerst auf abstrakte grammatische Phänomene zu-rückgreifen und lernen, welche Formen das Französische für das Possessivpronomen besitzt oder wiebestimmte Verbarten konjugiert werden. Stattdessen lernt er im konkreten kommunikativen Sprach-vollzug, d.h. durch sprachliches Handeln, mit welchen Formen das Französische das jeweils gewählteInhaltskonzept ausdrückt. Die darin enthaltene 'Grammatik' muss ihm nur in den Fällen bewusst ge-macht werden, wo sein intuitiver Rückgriff auf die Muttersprache zu Fehlleistungen führt, weil dieStruktur in beiden Sprachen sich als unterschiedlich erweist.Wenn der Schüler also ausdrücken will, dass er Geschwister hat oder ein Haustier, so lernt er 1. dassdie französische Äußerung genauso 'gebaut' wird wie die deutsche, nämlich auch mit dem Verb 'haben',und 2., dass die konkrete französische Form für die 1. Person j'ai heißt und die für einen kommunikati-ven Dialog erforderliche Form für die 2. Person tu as. Mehr als diese beiden Formen braucht er zu-nächst nicht. Die Formen von 'haben' für die weiteren Personen werden ihm dann gegeben, wenn er siezur Versprachlichung seiner kommunikativen Bedürfnisse benötigt. Lernpsychologisch scheint esgünstiger zu sein, zwei Formen an konkrete Inhaltskonzepte zu binden, als sich sechs Formen auf ein-mal in einem abstrakten Konjugationskästchen zu merken.Will der Schüler sein Alter angeben oder das des Gesprächspartners erfragen, so lernt er, dass die Fran-zosen nicht 'alt sind', sondern 'Jahre haben', dass also die französische Äußerung anders 'gebaut' wird.Kennt er die Formen j'ai und tu as schon, so gibt ihm der Lehrer nur ans als Entsprechung für 'Jahre'bzw. quel âge als Entsprechung für 'welches Alter' und der Schüler kann die vollständige Frage (Tu asquel âge?) und die Antwort (J'ai douze/ treize ans) selbst bilden.Die Beispiele zeigen zum einen, in welcher Weise die muttersprachliche Kompetenz hier zum Tragenkommt. Die Äußerungswünsche, die der Schüler noch nicht auf Französisch versprachlichen kann,müssen in der Muttersprache 'umschrieben' werden. Das heißt jedoch gerade nicht, dass sie übersetztwerden. Die formale Eins-zu-Eins-Übersetzung erfolgt nur, um die Struktur der Äußerung deutlich zumachen. So wird z.B. auch die französische Struktur der Frage nach dem Namen durch die deutscheUmschreibung 'Du dich nennst wie?' erklärt. Eine Verknüpfung zwischen der deutschen Form 'Wieheißt du?' und der französischen Form Tu t'appelles comment? wird jedoch unbedingt vermieden.Zum anderen verdeutlichen die Beispiele, in welcher Weise der Schüler von der ersten Stunde an mitden inhaltsorientierten Formentsprechungen kreativ umzugehen lernt. Die Formeinheiten j'ai bzw. tuas erkennt er in dem Moment als Bausteine, wo er sie aus dem Zusammenhang j'ai un frère herauslöstund mit douze ans zu der neuen Sprachäußerung j'ai douze ans kreativ zusammensetzt.

Punkt 2:Wortschatz und Grammatik werden nicht als getrennte Systeme gelernt, sondern in größeren (d.h.über das Einzelwort hinausgehenden) lexiko-grammatischen Einheiten integriert, die als Bausteineoder als Strukturmuster für die Versprachlichung weiterer Inhaltskonzepte dienen.

Erläuterung:Forschungen zum Muttersprachenerwerb haben ergeben, dass hier nicht Einzelwörter als Lerneinheitfungieren, sondern situativ eingebettete Formeinheiten unterschiedlicher Länge, die stets einem vomKind mehr oder weniger bewusst wahrgenommenen Inhaltskonzept entsprechen. Weiterhin besteht un-ter den mit der Sprachverwendung beschäftigten Pragma-, Psycho-, Neuro- und Korpuslinguisten Kon-sens darüber, dass der Sprachbenutzer vor allem bei der mündlichen Sprachproduktion zu einem

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großen Teil auf fertige Formgebilde (als Entsprechungen von Inhaltskonzepten) zurückgreift. Diese'vorgefertigten' Einheiten umfassen wahrscheinlich weit mehr als nur die bekannten Phraseologismenoder die idiomatischen Ausdrücke. Morpho-syntaktische Konstruktionsregeln scheinen dagegen einesehr viel geringere Rolle zu spielen. Der 'Konstruktionsprozess' erfolgt u.U. überhaupt nicht in derForm, dass Regeln abgerufen werden, sondern dass auf – wiederum fertige – morpho-syntaktischeStrukturmuster sozusagen als Modellvorlagen zurückgegriffen wird, die entsprechend den inhaltlichenAnforderungen abgewandelt werden (Segermann 2003, vgl. dort auch weitere Literatur).Die durch eine quasi automatische Abrufbarkeit von fertigen lexiko-grammatischen Einheiten gegebe-ne 'Erleichterung' bei der muttersprachlichen Sprachproduktion gilt es auch für den Fremdsprachenun-terricht nutzbar zu machen. Es ist offensichtlich, dass häufig vorkommende Mehr-Wort-Gebilde mitbestimmten grammatischen Markierungen in einer bestimmten Anordnung schneller korrekt produziertwerden, wenn sie als solche gelernt werden. Orts- und Zeitangaben wie z.B. à Iéna, en Allemagne, enseptième, dans ma classe – dans quinze jours, en juillet, à huit heures et demie, aber auch Verban-schlüsse wie j'aime jouer au foot/ de la guitare/ à l'ordinateur lassen sich innerhalb solcher Bausteineleicht einprägen.Aber auch komplexere Äußerungen wie z.B. Je le lui ai écrit/ expliqué/ présenté/ offert/ donné/ envoyé/montré sind als Formentsprechung für das Inhaltskonzept, 'dass ich jemandem 'etwas vermittelt habe',sehr viel schneller zu produzieren, wenn der Lernende sie sich als festgefügte Einheit gemerkt hat, alswenn er die zahlreichen morpho-syntaktischen Regeln abrufen muss, um zu den einzelnen korrektenFormen zu kommen. Das o.g. Beispiel stellt ein Strukturmuster dar, das der Lernende bei der Produkti-on selbständig und kreativ als morpho-syntaktische Modellvorlage benutzen kann. Nach diesem Musterkann er nämlich eine ganze Reihe von spezifischen Inhaltskonzepten versprachlichen, indem er das je-weils passende Verb und das Pronomen (lui oder leur) einsetzt.Das heißt nicht, dass der Lehrer ihm das grammatische 'Wissen' über den indirekten Objektan-schlussder obigen Verben, über die Form und die Stellung der benötigten indirekten Objektpronomen der 3.Person Singular und Plural vorenthält. Die Vermittlung dieses 'Wissens' – wiederum sur demande, d.h.dann, wenn die Versprachlichung der Äußerungswünsche der Schüler es erfordert – ist unabdingbar zurVerkürzung des kognitiven Lernprozesses. Die Zuordnung von Formen zu 'grammatischen' Kategorienwie Genus, Numerus usw. muss nicht – wie beim Muttersprachenerwerb über viele Jahre hinweg –selbst aufgrund des Input herausgefunden werden. Der Schüler braucht nur die schon vorhandenen Ka-tegorien – die zugleich kognitive Kategorien der Weltbewältigung sind – mit den jeweiligen fremd-sprachlichen Formen zu füllen. Dies ist der eigentliche Sinn der grammatischen 'Unterweisung'.Das grammatische Wissen reicht jedoch nicht aus, sondern muss ergänzt werden durch Automatisie-rungsprozesse. Doch nicht der Rückgriff auf Regeln muss 'automatisiert' werden, sondern der Rückgriffauf Strukturmuster, und zwar durch eine Kombination aus Transfer und Analogiebildung. Nur dadurchist die in der Kommunikation notwendige schnelle - quasi automatisierte - Abrufbarkeit ganzer Äuße-rungen zu gewährleisten.

Punkt 3:Aussprache und Orthographie werden nicht als getrennte Systeme gelernt und geübt, sondern in ih-rer Entsprechungssystematik, und zwar auf der Ebene der Phonem-Graphem-Korrespondenzen, derWortebene und der Ebene der chaîne parlée.

Erläuterung:Die herkömmlichen Mittel zur Schulung von Aussprache und Orthographie beschränken sich gewöhn-lich auf Nachsprechübungen und Diktate. Ihre verbessernde Wirkung ist bekanntlich mäßig. Die

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Schwierigkeiten werden allgemein auf die angeblich nicht zu vermeidende sog. 'Interferenz' der Mut-tersprache zurückgeführt. Dem Rückgriff oder besser dem 'Rückfall' in die Aussprache- und Schreibge-wohnheiten der Muttersprache kann jedoch vorgebeugt werden, und zwar dadurch, dass der Lehrerdem Schüler die fremdsprachliche Entsprechungssystematik zwischen Klanggestalt und Schriftgestaltbewusst macht bzw. sie mit ihm erarbeitet. Weder das Lautsystem noch das Buchstabensystem derfranzösischen Sprache stellt für einen deutschsprachigen Schüler ein Problem an sich dar. Was er neulernen muss, ist die Zuordnung von Lauten und Buchstaben bzw. die Zuordnung von Klang- undSchriftgestalt.Die didaktische Grundlage dafür stellt die Systematisierung der französischen Phonem-Graphem-Kor-respondenzen für deutsche Schüler dar, die im Rahmen des Jenaer Reformkonzepts entwickelt wurde.Sie berücksichtigt nur die Schwierigkeiten, die durch Abweichungen vom deutschen Zuordnungssys-tem zustande kommen. So ist z.B. das anlautende /r/ nicht aufgeführt, wohl aber das auslautende /r/, dadieses im Deutschen nicht als [R] artikuliert wird. Das Gleiche gilt für die anlautenden stimmhaftenKonsonanten b, d, g, die nur im Auslaut Schwierigkeiten bereiten, da sie dort im Französischen nicht(wie im Deutschen) verhärtet werden. Die graphie grammaticale ist ebenfalls ausgeklammert. Sie istkein Lerngegenstand der Phonem-Graphem-Korrespondenzen, sondern der grammatischen Erklärungvon Endungen für die Genus-, Numerus-, Person- und Tempusmarkierung.Die Bewusstmachung der jeweiligen Phonem-Graphem-Korrespondenzen entspricht dem Lesestadiumvon Erstklässlern. Sie ist zwar für den Fremdsprachenlerner unumgänglich, muss aber möglichstschnell abgelöst werden durch die zweite Stufe, die parallele Aktivierung von Wortbildern in ihrerKlang- und Schriftgestalt. Auch die Wortebene muss dann noch überschritten werden, um zu den pros-odischen Elementen der chaîne parlée vorzustoßen: Enchaînement, Liaison, Elision, Akzent und Into-nation (Segermann 2004). Das ideale Lernmaterial für die Entsprechungssystematik auf dieser drittenEbene bilden die lexiko-grammatischen Bausteine, da diese auch immer eine rhythmische Einheit bil-den.

Punkt 4: Die Entwicklung der rezeptiven Kommunikationsfähigkeit geschieht an speziellen Hör- und Lesetex-ten, die grundsätzlich mehr oder weniger weit über dem sprachlichen Produktionsniveau der Lern-gruppe liegen. Die Verfahren der verstehensgeleiteten 'Textarbeit' unterscheiden sich grundlegendvon den Verfahren der Textproduktion.

Erläuterung:Der Unterschied zwischen dem, was man selbst ausdrücken und dem, was man nur verstehen kann, istbekanntlich auch im muttersprachlichen Bereich relativ groß. Es ist nicht einzusehen, warum dieserTatbestand nicht auch im fremdsprachlichen Bereich – und zwar gerade auch in den ersten Lernjahren– Gültigkeit haben sollte. Dieser Grundsatz hat Folgen sowohl für die Textauswahl als auch für die me-thodischen Verfahren zur Entwicklung der rezeptiven Fähigkeiten. Die zu rezipierenden Texte werden nicht mehr primär nach ihrem sprachlichen 'Schwierigkeitsgrad'ausgesucht, d.h. danach, ob sie dem erreichten sprachlichen Produktionsniveau entsprechen (überwie-gend bekannte Vokabeln und bekannte Grammatik), sondern vorrangig danach, ob sie inhaltlich an-sprechen bzw. für das Alter und die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Schüler eine geistige Heraus-forderung darstellen. Damit kann die Rezeption eine sehr viel höhere Qualitätsstufe erreichen, als wennsie an das notwendigerweise zunächst recht dürftige Produktionsniveau gekoppelt bleibt.Die angewandten Verfahren müssen rezeptionsspezifisch sein und können sich nicht an der traditionel-len 'Textarbeit' (Erklärung der Vokabeln und der grammatischen Phänomene, Vorlesen durch den Leh-

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rer, Nachlesen durch die Schüler, Fragen zum Text, Zusammenfassen usw.) ausrichten. Der Schülermuss Strategien erlernen, mit deren Hilfe er unbekannte Texte selbst entschlüsseln kann. Dafür sind nur'gute’ Texte geeignet, d.h. Texte, die in sich schlüssig, psychologisch wahrscheinlich, in der Gedanken-oder Handlungsabfolge nachvollziehbar und dem Erwartungshorizont der Lernenden zugänglich sind.Nur dann kann der Schüler seine sprachlichen Lücken durch intelligente Sinnhypothesen (sog. 'Inferie-ren') überbrücken und zu einem Verständnis kommen, obwohl ihm viele Vokabeln 'fehlen' und ihmmanche grammatischen Formen zum erstenmal begegnen. Der Text muss allerdings mit einem Inhaltaufwarten, der die Anstrengung der Textentschlüsselung in den Augen der Schüler auch wirklich'lohnt'.Im Einklang mit Ergebnissen der muttersprachlichen Rezeptionsforschung lässt sich auch für denFremdsprachenunterricht leicht nachweisen, dass – wann immer das Wagnis ‘schwierigerer’ Texte ein-gegangen wird – die fremdsprachliche Verstehensleistung erstaunlich hoch ist. Bei entsprechender Mo-tiviertheit aktivieren die Lernenden ihre verfügbaren außersprachlichen Wissensschemata und ihre Er-fahrungen mit den vielfältigsten Phänomenen in der Welt, um heraus zu bekommen, was der Text wohlan Sinn enthalten könnte. Diese natürliche Verstehenshaltung dem Text gegenüber muss von Anfangan gefördert werden. Absolut kontraproduktiv wirkt in diesem Zusammenhang die bekannte Lehrerfra-ge nach den 'unbekannten' Vokabeln (Des mots inconnus?), die bei den Schülern das 'Kleben an denWörtern' und damit die verhängnisvolle Wort-für-Wort-Entschlüsselung heraufbeschwört.Die gemeinsame (aber auch individuell erfolgende) Erarbeitung der Rezeptionstexte muss einen breitenRaum im gesamten Französischunterricht einnehmen, allerdings mehr außerhalb als innerhalb der –knapp bemessenen – Schulstunden. Durch die Hör- und Lesetexte (nicht nur von Schulverlagen, son-dern vor allem auch Originaltexte von französischen Verlagen, aber auch Dokumentationstexte ausdem Internet) kommt die 'Landeskunde' in den Unterricht, also die ‘fremde’, frankophone Welt, die esinterkulturell zu verstehen gilt und die bei den Produktionstexten der deutschen Schüler notgedrungenausgespart bleibt. Auch deshalb muss das Textangebot breit gestreut werden – was allerdings gegen-wärtig angesichts des Mangels an gehaltvollen Texten für die ersten Lernjahre ein gewisses Problemdarstellt.Folgen für die LehrhaltungMit der Veränderung der subjektiven Theorie geht auch eine neue Lehrhaltung einher. Der Lehrer siehtsich nicht mehr primär als Vermittler von Wissen, sondern tatsächlich mehr als "Lernberater". Er kannnicht mehr von objektiv (durch die grammatische Progression) gegebenen Lerngegen-ständen ausge-hen, sondern muss die Schüler mit ihren Äußerungswünschen ernst nehmen und sprachlich flexibeldarauf reagieren.Der Ehrgeiz des Lehrers besteht nicht mehr darin, seinen Lehrstoff besonders gut zu präsentieren, son-dern kompetent und verständlich auf die gestellten und die zu erwartenden Fragen der Schüler zu ant-worten. Er tritt den aktiven Teil des Unterrichts an die Schüler ab und reagiert mehr als er agiert. Aller-dings muss er sich Gedanken darüber machen, wie er – möglichst in allen Bereichen – die Aktivität derSchüler initiieren kann. Er übt sich durchgängig in Enthaltsamkeit und stiehlt den Schülern auch nichtdie kleinste Chance, selbst tätig zu werden. Vor allem sucht er grundsätzlich seinen eigenen französi-schen Sprechanteil während der Stunde zugunsten des Schüleranteils zu vermindern.Er traut den Schülern sehr viel mehr zu als bisher, weil er ihren kognitiven und emotionalen Anspruchund ihre Leistungsfähigkeit nicht mehr an ihrem sprachlichen Niveau misst, sondern ihnen an Inhaltund Gehalt sowie auch an Lehrverfahren das zumutet, was ihrem sonstigen Standard entspricht. Diesprachlichen Defizite der Schüler versucht er gerade durch ihre kognitiven und emotionalen Stärkenauszubalancieren.

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Jenaer Reformkonzept

Folgen für die Lernhaltung der SchülerDer Schüler, der nach dem Jenaer Reformkonzept unterrichtet wird, entwickelt seinerseits eine be-stimmte Lernhaltung, die sich z.T. erheblich von der aus dem Unterricht gewohnten unterscheidet. Erfühlt sich ernst genommen sowohl in seinem Leistungswillen als auch in seinem inhaltlichen Anspruch,etwas ihm nützlich und sinnvoll Erscheinendes zu lernen. Er fühlt sich gestärkt und ermuntert in demBemühen, sich selbst zu beweisen, indem er selbständig etwas zustande bringt, das ihm die verdiente -wenn auch differenzierte - Anerkennung durch Lehrer und Mitschüler verschafft. Er kann seine Kreati-vität, sein selbständiges Denken, seine Phantasie ausprobieren und auch verstärkt seine individuellenNeigungen einbringen. Er kann selbst entscheiden, wie hoch er seine individuelle Messlatte setzt unddas Erreichen oder Nicht-Erreichen dieses Ziels selbst einschätzen.Die konkreten unterrichtlichen Arbeitsformen fordern und fördern seine "Selbst- und Sozial-kompe-tenz" (Thüringer Lehrplan). Im Ganzen fühlt er sich sehr viel freier und unabhängiger, sozusagen alsVerantwortung tragender Mitgestalter des Unterrichts und weniger als Befehlsempfänger des Lehrers.Die fachliche Überlegenheit des Lehrers ist keine Quelle der Angst (vor Fehlern, vor Versagen), son-dern ein Ansporn, an sein Niveau heranzukommen.Diese überaus positiv (ja fast euphorisch) anmutende Lernhaltung ist tatsächlich zu erreichen, wenn esdem Unterrichtenden gelingt, seine eigene – gesteigerte – Motiviertheit auf die Lerngruppe zu übertra-gen. Diese Art von Unterricht kann nämlich sehr viel Spaß machen, sowohl dem Lehrer als auch demSchüler, und positive Gefühle sind nun einmal die beste Voraussetzung für ein fruchtbares Miteinanderwie für das Lernen insgesamt.

Und danach?Die meist gestellte Frage in bezug auf das Jenaer Reformkonzept lautet: "Und wie geht es weiter?"bzw. "Wie lange kann man denn mit diesen Schülerdialogen arbeiten?" Und: "Können die Schüler da-mit auch das Abitur bestehen?"Durch die in den ersten zwei Lernjahren bei der Erarbeitung der Schülerdialoge und bei der Textrezep-tion eingesetzten Unterrichtsverfahren entwickelt sich bei den Schülern eine Lern- und Arbeitshaltung,die es ihnen ermöglicht, viel selbständiger mit der Fremdsprache umzugehen. Sie haben gelernt, dass esbeim kommunikativen Sprechen und Schreiben darum geht, über Formentsprechungen für ihre Äuße-rungswünsche zu verfügen und haben zu diesem Zweck einen stetig wachsenden Vorrat an Bausteinenangelegt. Sie sind von Anfang an darin trainiert worden, die notwendigen lexiko-grammatischen Ein-heiten so weit wie möglich selbst herauszufinden – durch Variieren und Kombinieren von Bausteinenund durch Übertragung von Strukturmustern, und zwar unter fortwährender Aktivierung ihres Wissensum die grammatischen Markierungen. Die zunächst unumgängliche Hilfe des Lehrers kann evtl. schonim 2. Lernjahr durch den Einsatz von ein- und zweisprachigen Kollokationswörterbüchern ergänzt wer-den. Hier lernen die Schüler, die richtigen Entsprechungen heraus zu suchen, indem sie sich vergewis-sern, dass die gefundenen Wörter auch in den lexiko-grammatischen Kontext passen. Das selbständigeVersprachlichen der – nun auf alle Textsorten, auch auf das Sprechen und Schreiben über Texte auszu-dehnenden – Äußerungswünsche der Schüler bleibt das Grundprinzip der sprachlichen Produktionsar-beit.Beim Hören oder Lesen geht es den Schülern um das Verstehen, und sie haben Strategien eingeübt, umden Sinn eines Textes durch den Tranfer von bereits gelernten lexiko-grammatischen Einheiten undStrukturmustern sowie durch 'intelligentes Raten', d.h. unter Rückgriff auf ihr 'Weltwissen', weitgehendselbst heraus zu finden.Eine solche Haltung gegenüber Textproduktion und Textrezeption stellt die denkbar beste Grundlagedar für eine kontinuierliche Weiterentwicklung der kommunikativen fremdsprachlichen Kompetenz.

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Jenaer Reformkonzept

Unter Beibehaltung der o.g. Einstellung gegenüber dem Französischunterricht kann eigentlich alles,was im 'herkömmlichen' Unterricht der Mittelstufe (und der Oberstufe) an anspruchsvollen sprachli-chen Leistungen vorgesehen ist, auf der in den ersten beiden Lernjahren erreichten sprachlichen Basismit mehr Aussicht auf Erfolg angegangen werden. Die den ersten Dialogen zugrunde liegenden Alltagsthemen werden - sobald es von den Schülern ge-wünscht wird - von Inhalten abgelöst, die dem geistigen Horizont der Lernenden und ihren gegenwärti-gen Interessenschwerpunkten entsprechen. Auch die Form der produzierten Texte weitet sich aus.Grundsätzlich sind alle denkbaren Textsorten geeignet, soweit sie von den Schülern angenommen wer-den. (Das Prinzip des Ernstnehmens der Schüler und ihrer Wünsche wird konsequent beibehalten, wo-bei die pädagogische Kunst bekanntlich darin besteht, ihre Aufmerksamkeit auf unbekannte Dinge zulenken und ihren Horizont zu erweitern.) Bei der Arbeitsweise sind die den Schülern vertraute eigen-verantwortliche Einzelarbeit, Partnerarbeit und Gruppenarbeit zu bevorzugen. Dazu gehört der selb-ständige Umgang mit Texten, eigene Recherchen und Dossierpräsentation. Die veränderte Rezeptions-haltung macht den Schülern das eigenständige Erarbeiten auch von umfangreicheren, unbekanntenTexten möglich.Eine auch immer wieder gestellte Frage ist schließlich, wie denn die Beherrschung des vom Lehrplangeforderten Grund- und Aufbauwortschatzes sowie der Grund- und Aufbaugrammatik gewährleistetwerden kann, wenn keine systematische Entwicklung stattfindet.Die Antwort ist verblüffend einfach: Es ist anzunehmen, dass in einem Unterricht, in dem es in jederPhase um Sprache als Kommunikationsmittel geht und in dem viele verschiedenartige Texte produziertund rezipiert werden, fast zwangsläufig auch der Wortschatz und die Grammatik auftauchen, die zu ei-ner Grundbeherrschung der Sprache gehören. Der Unterschied zwischen aktiv (= produktiv) und passiv(= rezeptiv) verfügbaren sprachlichen Mitteln wird wahrscheinlich größer sein, aber auch das entsprichtja der natürlichen Kommunikationssituation eines Sprachbenutzers.Was nicht erreicht wird – und im Sinne des Jenaer Reformkonzepts auch nicht erreicht werden soll –ist, dass sich die Systemhaftigkeit der Sprache im Kopf des Schülers so abbildet, wie sie sich in dengängigen Schulgrammatiken findet. Statt des alten ist ein neues Ordnungssystem intendiert. Seine Ko-ordinaten sind zum einen die Inhaltskonzepte, zum anderen deren Formentsprechungen. Ihre systemati-sche Erfassung erfolgt so, dass aus den thematischen Baustein-Übersichten nun form-gleiche Bausteinezu Strukturmustern zusammengestellt werden. Doch auch bei dieser 'formalen' Anordnung werden denÄußerungen immer ihre jeweiligen Inhaltskonzepte zugeordnet. Aufgrund der Fülle sich ergebenderKombinationsmöglichkeiten scheint die Eingabe in ein Computer-Programm als zukunftsträchtigeMöglichkeit, die auch von den Schülern genutzt werden könnte. Dort ließe sich auch der Wortschatzintegrieren und nach Sachgruppen sortiert abrufen.

BibliographieSegermann, Krista: "Wortschatz und Grammatik im Dienst der Kommunikation" in: Praxis des neu-sprachlichen Unterrichts, Heft 4/ 2003, S. 340-350.Segermann, Krista: "Die Beziehungen zwischen Klanggestalt und Schriftgestalt: Störfaktor oder Lern-hilfe?" in: Französisch heute, Heft 2/ 2004, S. 184-207.

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Unterrichtsbeschreibung

Krista Segermann

Unterrichtsbeschreibung des Jenaer Reformkonzepts

DIE ERSTEN STUNDENDer Unterricht beginnt mit einer rein mündlichen Phase. Die Dauer variiert zwischen zwei und vier Un-terrichtsstunden je nach Lerngruppe.1. STUNDEEinführung in die Laute der neuen SpracheDie Schüler sitzen im Kreis, die Tische sind an die Wand geschoben. Die Schüler sollen sich ganz aufein bewusstes ‘Einsingen’ in die fremde Sprache konzentrieren. Dabei werden sowohl die Artikulati-onsorgane als auch das auditive Unterscheidungsvermögen geschult. Des weiteren soll das Zusammen-gehörigkeitsgefühl der - meist neu zusammengesetzten - Lerngemeinschaft gestärkt sowie der Spiel-trieb und die Sprechfreude geweckt werden. Die evtl. entstehende Unruhe und Aufgeregtheit kann inKauf genommen und durch die Dynamik des 'Einsingens' überspielt werden.Man beginnt damit, die Schüler erleben zu lassen, dass ihnen die Laute der französischen Sprache nichtfremd sind, da sie fast alle auch in der deutschen Sprache vorkommen. Es wird ihnen jeweils ein (ver-trauter) Vokal mit einem (vertrauten) Konsonanten davor vorgesprochen (> Hinweis, dass sich dadurchoft schon vollständige französische Wörter ergeben). Die Schüler sprechen im Chor nach. Der Lehrerdirigiert den Einsatz.Folgende Vokale werden vorgeführt:- a (wie im Dt.)- e (in drei Varianten wie im Dt.)- i (etwas heller als im Dt.)- u (wie im Dt.).- o (in zwei Varianten, nämlich offen und geschlossen wie im Dt.)- ö (in zwei Varianten, nämlich offen und geschlossen wie im Dt.),Um die Schüler gleich auch für das Merkmal der Stimmhaftigkeit zu sensibilisieren, werden folgendeKonsonantenpaare ausgewählt:[b]und [p]; [d[ und [t]; [v] und [f]; [g] und [k]; [z] und [s]; [�] und [�] > Hinweis auf das Fremdwort'Journalist'.Lehrer: [ba] > Schüler: [ba]Lehrer: [pa] > Schüler: [pa] usw.Um den Unterschied zwischen dem offenen und dem geschlossenen o- und ö-Laut deutlich zu machen(und dabei gleichzeitig auch die französische Verteilung einzuführen), werden die Liquide [l] und [R]an die Vokale angehängt, wodurch sich der Mund automatisch zu einem offenen Vokal 'öffnet'.Lehrer: [bo] – [b�l] > Schüler: [bo] – [b�l]

Lehrer: [po] – [p�l] > Schüler: [po] – [p�l]

Lehrer: [zø] – [zœR] > Schüler: [zø] – [zœR]Lehrer: [sø] – [sœR] > Schüler: [sø] – [sœR]Bei dem auslautenden [R] erfolgt der Hinweis darauf, dass wir im Dt. das R im Auslaut nicht artikulie-ren.

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Für die Einführung der drei Nasale ist entscheidend, dass die Schüler diese in ihrer Vorstellung mit dendrei Vokalen [a], [o] (geschlossen!) und [�] verbinden, d.h. dass sie sie artikulieren und dabei das Zäpf-chen ein wenig senken'.Lehrer: [ba] – [bã] > Schüler: [ba] – [bã]Lehrer: [v�] – [v��] > Schüler: [v�] – [v��]

Lehrer: [to] – [tõ] > Schüler: [to] – [tõ]Das 'Einsingen' sollte nicht länger als 20 Minuten dauern und muss zügig vonstatten gehen.

DialogeDie unmittelbare Nützlichkeit und Verwertbarkeit der Sprache wird den Schülern dadurch vor Augengeführt, dass sie gleich in der ersten Stunde lernen, sich mit ihren (zukünftigen) französischen Ge-sprächspartnern 'unterhalten' zu können. Folgende Fragen und Antworten können (im Konsens mit denSchülern) erarbeitet werden:Tu t’appelles comment? - Je m’appelle …Tu as quel âge? - J’ai douze/ treize/.Tu habites où? – J'habite à Iéna.Wieweit man in dieser ersten Stunde kommt, hängt natürlich zuvörderst von der Lerngruppe ab. Eskönnen mehr, aber auch weniger Dialogteile sein.EinführungDie Versprachlichung der Äußerungswünsche der Schüler erfolgt so, dass ihnen die französischen For-men für das auf deutsch genannte Inhaltskonzept gegeben werden. Dabei dient die wörtliche Rück-Übersetzung ('du dich nennst wie'; 'du hast welches Alter'; 'ich habe soundsoviel Jahre (auf dem Bu-ckel)' der Verdeutlichung der 'Bauweise' der französischen Sprache.Jede Lerneinheit (sie entspricht am Anfang fast immer dem ganzen Satz) wird dreimal im Chor wieder-holt. Dieser Rhythmus wird von den Schülern im allgemeinen sehr gern angenommen. Das dreimaligeChorsprechen hat den Vorteil, dass sich die neue Lerneinheit gleich besser einprägt, dass alle sich 'trau-en' und dass Aussprachefehler (wie beim Singen) vom Lehrer bemerkt werden können, so dass er nocheinmal das richtige Vorbild geben kann. Außerdem werden sofort alle vorkommenden prosodischenElemente mit gelernt (z.B. vokalische Bindung in Tu as und Tu habites; Bindung von auslautendemKonsonant und anlautendem Vokal in quel âge, douze/ treize/ quatorze ans und habites où). Vorausset-zung dafür ist vor allem ein normales Sprechtempo.Eine Möglichkeit, das Klangbewusstsein der Schüler weiter zu schärfen, besteht darin, sie immer wie-der die Laute nennen zu lassen, aus denen das neue Wort besteht. Vor allem Schüler mit einem schwa-chen auditiven Gedächtnis könnten so eine deutlichere Klangvorstellung gewinnen. Sobald eine Frageund Antwort erarbeitet ist, beginnt die Übungsphase, in der die Schüler gleich dialogisch miteinander'handeln'.Dialogisches ÜbenMan zieht im Kreis eine Diagonale und lässt die beiden Schüler am Ende der Diagonale den Dialogsprechen, indem sie sich als Gesprächspartner einander zuwenden. Die Nachbarn jeweils zur gleichenSeite fahren fort, so dass immer ein gleich großer Abstand zwischen den Dialogpartnern bestehenbleibt und die Schüler zu lautem Sprechen genötigt sind.. Durch die vorbestimmte Reihenfolge kannder Dialog ohne Zeitverlust in möglichst raschem Tempo von allen einmal gesprochen werden, evtl. so-gar Frage und Antwort von jedem Schüler im zweimaligen Durchgang. Der Lehrer achtet dabei genau

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auf die Aussprache. Bei Fehlern gibt er noch einmal das richtige Vorbild und lässt wieder dreimal imChor wiederholen, um das richtige Klangbild ins Ohr zu bringen.Dialogisches Sprechen in PartnerarbeitNachdem die Dialogpaare eingeführt und einzeln geübt wurden, erfolgt zum Abschluss die Wiederho-lung des bisher gelernten Gesamtdialogs. Es ist wichtig, dass die Schüler in dieser Phase das Gefühl ha-ben, tatsächlich miteinander zu sprechen, d.h. sich auf Französisch zu unterhalten. Dies geschieht zu-nächst paarweise, d.h. jeweils zwei Schüler bilden ein Paar, indem sie sich den Mitschüler aussuchen,mit dem sie von nun an lernen wollen. Damit es für alle ein Erfolgserlebnis wird, hilft der Lehrer un-auffällig den Schülern, deren auditives Gedächtnis 'unterentwickelt' ist, d.h. die das gerade Gelerntez.T. schon wieder vergessen haben.Vorspielen des DialogsDanach können sich Paare freiwillig melden, um ihren Dialog vor der Klasse zu präsentieren.

2. STUNDEZusätzlicher Input an französischer SpracheDamit die Schüler auch einen über die Dialoge hinausgehenden, regelmäßig wiederkehrenden Input anfranzösischer Sprache bekommen, sollte der Lehrer kontinuierlich den französischen Anteil an seinerLehrersprache erhöhen, und zwar ohne Rücksicht auf die für die Produktion gelernten Sprachmittel(z.B. Quelle est/ Quelle était la question/ la réponse? – Parlez avec votre voisin/ voisine usw.), wobeier darauf achtet, dass den Schülern die Bedeutung aus der Unterrichtssituation heraus klar wird (evtl.auch durch dt. Umschreibung).Wiederholung des bisher GelerntenJe nach Leistungsstärke der Gruppe wird der Dialog entweder sofort vorgespielt, in Partnerarbeit akti-viert (wobei der Lehrer den Schwächeren hilft) oder (bei sehr schwachen Gruppen) gemeinsam imKlassenverband noch einmal ins Gedächtnis gerufen.Einführung weiterer DialogteileDurch die Einführung der Entscheidungsfrage (markiert allein durch die Intonation) kann der Dialogerweitert werden, ohne dass die Schüler sich neue Formen merken müssen. Lediglich oui und non sindneu einzuführen. Zur Aussprache des [wi] genügt meist ein Hinweis auf das Englische [w] in we. DieEinführung von non kann man wieder dazu benutzen, die Klangvorstellung der Schüler zu trainieren,indem man sie nach den Lauten fragt (n + o-Nasal). Das Heben der Stimme am Ende als Zeichen fürdie Frage ist den Schülern vom Dt. her geläufig. Erst wenn hier Fehler auftauchen, muss es bewusst ge-macht werden. Bei den bisher gelernten Fragen bleibt die Stimme ja gleich, da die Frage durch das Fra-gewort (comment, quel âge und où) hinreichend signalisiert ist.Tu t’appelles N.? – Oui/ Non, je m'appelle N.Tu as douze/ treize/ quatorze ans? - Oui/ Non, j'ai douze/ treize/ quatorze ansTu habites à Iéna? Oui/ Non, j'habite à N.Eine weitere Variation der Dialoge ist durch Et toi? als Einleitung der Gegenfrage zu erreichen sowiedurch Moi aussi (j’ai douze/ treize/ quatorze ans) als Einleitung der Antwort mit dem gleichen Infor-mationsgehalt. Eine Erklärung für die beiden verschiedenen französischen Formen der Pronomina der1. und 2. Person, denen im Dt. jeweils nur eine Form gegenübersteht, sollte vielleicht nur gegeben wer-den, wenn Schüler danach fragen. Die Klangvorstellung von moi und toi kann dadurch verdeutlichtwerden, dass man erst das bekannte [wi], dann [wa] artikulieren lässt und darauf ein [m] bzw. ein [t]vor das [wa] schiebt: [mwa], [twa]).

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Je nach Lerngruppe folgt auf diese Einführung sofort eine Phase des "Dialogischen Übens" oder eswerden noch weitere Fragen und Antworten eingeführt. Relativ einfach ist z.B. die Information zu Ge-schwistern oder Haustieren zu versprachlichen. Der Lehrer muss den Schülern hier nur noch un frère,une sœur und un animal geben, den ersten Baustein der Frage und der Antwort können sie aus derschon gelernten Altersangabe ableiten.Tu as un frère/ une sœur? - Oui, j’ai un frère/ une sœur. / Non.Tu as un animal? - Oui, j’ai un animal. / Non.Et toi, tu as un frère/ une sœur/ un animal ? - Oui/ Non.Bei stärkeren Leistungsgruppen können nun noch die Fragen nach dem Namen und dem Alter auf die3. Person Singular übertragen werden. Hier wird die französische Genusunterscheidung erklärt.Il / Elle s'appelle comment?- Il/ Elle s’appelle N.Il/ Elle a quel âge?- Il/ Elle a ... ans.Elle habite où? - Il/ Elle habite à ...Die Altersangabe für die Geschwister erfordert die Einführung der französischen Zahlen. Man kann siein rhythmisierten Gruppen einführen, z.B. un, deux, trois, quatre, cinq - six, sept, huit, neuf, dix usw.Auf die Einführung folgen die Phasen des "Dialogischen Übens", des "Dialogischen Sprechens in Part-nerarbeit" und des " Vorspielens des Dialogs".Die rein mündliche Arbeit mit weiteren Dialogen sollte nur fortgesetzt werden, wenn der Lehrer nahe-zu sicher ist, dass die auditive Behaltenskapazität der Schüler ausreicht, um mit dem mündlich Gelern-ten souverän umgehen zu können. Im Zweifelsfall ist die Einführung der Schrift angesagt.

3. STUNDEEinführung der SchriftDie Einführung der Schrift kann bei sehr unruhigen und unkonzentrierten Schüler (wie bei der Video-aufnahme) schon in der 3. Stunde erfolgen. Man kann die mündliche Phase jedoch ebenso gut auchweiter ausdehnen.Der Art, wie die Schrift eingeführt wird, kommt eine sehr bedeutsame Funktion innerhalb des Unter-richts der ersten Wochen zu. Indem die Schüler hier mit dem französischen Zuordnungs-system vonLauten und Buchstaben vertraut gemacht werden, kann sich bei den Schülern das Bewusstsein von derEigengesetzlichkeit der französischen Sprache anbahnen. Dadurch werden u.a. auch die Voraussetzun-gen geschaffen für eine Haltung, die das 'Andere' in seiner Andersartigkeit gelten lässt und es zu verste-hen sucht. An dem Wort AUTO lässt sich z.B. dieses 'Recht' auf eine unterschiedliche Aussprache gutdemonstrieren.Verschriftung der bisher mündlich erarbeiteten DialogeDie den Schülern mündlich bekannten Dialoge werden Buchstabe für Buchstabe gemeinsam verschrif-tet. Dabei sagt der Lehrer jeweils, ob die Phonem-Graphem-Zuordnung die gleiche ist wie im Deut-schen oder nicht. Die Schüler schreiben gleichzeitig mit dem Lehrer, d.h. sie schreiben von Anfang annicht von der Tafel ab, sondern sofort in ihr Übungsheft.So wird z.B. bei der ersten Frage (Tu t'appelles comment?) die Aufmerksamkeit der Schüler auf die fol-genden neuen Zuordnungen gelenkt: [y] > u; [k] > c; [ã] > en. Die Funktion des apostrophe kann kurzerklärt werden. Hinzuweisen ist auch darauf, dass die französischen Wörter oft auf /e/ enden, dass die-ser Buchstabe aber nicht ausgesprochen wird. Mit dem zusätzlichen /s/ für die 2. Person wird der Schü-ler erstmalig mit einer grammatischen Markierung konfrontiert, die es zu behalten gilt. Evtl. kann man

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hier schon auf den lateinischen Ursprung des Französischen hinzuweisen, der in der Schrift manchmalnoch Spuren hinterlassen hat. Die Verdoppelung von Konsonanten (in appelles und comment) wird alsBesonderheit dieser Wörter erklärt, die nicht zu verallgemeinern ist.Wieviel von den mündlichen Dialogen in dieser Stunde verschriftet wird, hängt wieder von der Lern-gruppe und ihrer Konzentrationsfähigkeit ab. Das Prinzip der Abwechslung (z. B. durch Phasen desmündlichen Übens bzw. des Vorspielens der Dialoge, durch Zahlenspiele, Lieder o.ä.) sollte natürlichimmer berücksichtigt werden.HausaufgabeZu Hause legen die Schüler von nun an ein sog. "Dialogblatt" an, auf dem sie - sauber und korrekt – ih-ren Dialog, d.h. die gemeinsamen Fragen und die individuellen Antworten aufschreiben. Das "Dialog-blatt" ist die wichtigste Unterlage für ihr individuelles Lernen des Dialogs. Um die Korrektheit zu ge-währleisten, muss der Lehrer diese Blätter von Zeit zu Zeit durchsehen. Der Arbeitsaufwand könnteevtl. dadurch verringert werden, dass man die Schüler immer wieder sich gegenseitig kontrollierenlässt. Es hat sich außerdem in der Praxis manchmal bewährt, die Schüler die neu gelernten Fragen zu Beginnder nächsten Stunde auf Karteikarten (DIN A6), schreiben zu lassen. Sie dienen ihnen bei der Wieder-holung der Dialoge in Partnerarbeit (oder auch bei der Leistungskontrolle) als Gedächtnishilfe zur in-haltlichen Orientierung. Die Fragen werden grundsätzlich nicht abgelesen, sondern nach kurzem Blick-kontakt frei formuliert.

4. STUNDEEinführung der 'Bausteine'Im Anschluss an die Verschriftung werden die gelernten Dialoge in Bausteine zerlegt und diese vonden Schülern auf verschiedenfarbige Kärtchen geschrieben. Der damit verbundene Aufwand (farbigenKarton besorgen, schneiden, austeilen usw.) ist sicherlich beträchtlich (und könnte evtl. durch Hilfevon Kollegen des Faches Kunst, von Eltern o.a. verringert werden). Er zahlt sich jedoch insofern aus,als die Schüler durch das Hantieren mit den Kärtchen die Bauweise der französischen Sprache ganz'handfest' erleben können. Sie arbeiten nicht mit Vokabeln als Einzelwörtern, sondern mit lexiko-gram-matischen Formen (von einem bis zu mehreren Wörtern), denen immer ein Inhaltskonzept entspricht(mal größer, mal kleiner - mal selbständig, mal unselbständig).Für das Sprachmaterial der ersten Stunden werden zunächst vier Farben benötigt.rot für die Bausteine, die das pronominale Subjekt und das konjugierte Verb enthalten:je m'appelle - tu t'appelles - j'habite - je n'habite pas - tu habites - j'ai - je n'ai pas - tu as - c'est - je suis - tu es -je ne suis pas

blau für die Bausteine, die ein nominales Objekt (später auch als Subjekt) samt Begleitern enthalten:NOM - un frère - une sœur - un animal - ma mère - ma sœur - ta mère - ta sœur - mon frère - mon père - monchien - mon chat - ton frère - ton père - ton chien - ton chat

grün für die adverbialen Bestimmungen:à Iéna

gelb für Fragewörter bzw. Fügungen mit Fragewort:où - comment - quel âge – qui est-ce

[Technische Anmerkung: Die Farbgebung der Kartons und die der thematischen Baustein-übersichtenstimmen aus rein technischen Gründen nicht immer überein (Farbtabelle des Compu-ters, z.B. Unles-barkeit bei Schriftfarbe gelb).]

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Um zu verhindern, dass die Schüler sich die Fragen und Antworten (u.U. sogar ihre Abfolge) nur alsfestgefügte Einheit einprägen, müssen die Sätze von Anfang an in ihre Bauteile zerlegt und wieder neuzusammengesetzt werden. Nur dann erleben die Schüler die Funktion und damit die kreativen Möglich-keiten der einzelnen Bausteine.Der Baustein tu habites kann z.B. schon nach wenigen Stunden zu zwei verschiedenen Äußerungen(und damit zwei verschiedenen Inhaltskonzepten) zusammengesetzt werden:tu habites + où ? und tu habites + à Iéna ?

DER WEITERE STUNDENVERLAUFEs lassen sich folgende Unterrichtsaktivitäten unterscheiden:- AufwärmphaseAktuelle Fragen zu Datum, Uhrzeit, Wetter, Befinden, Stundenplan, Abwesenheit eines Schülers, Ge-burtstag eines Schülers usw. Die Fragen und Aussagen können zunächst als Hörverstehensübung einge-führt werden. Erst nach und nach gehen sie in das produktive Repertoire der Schüler über. Von da anwerden auch die Fragen von den Schülern gestellt, so dass das Aufwärmgespräch zum größten Teil vonden Schülern bestritten wird.Zwei vorher bestimmte Schüler stellen den Mitschülern Fragen aus den bisher erarbeiteten Themenbe-reichen (vgl. Videoaufnahme)- Partnerarbeit mit oder ohne KarteikartenDiese Phase (vgl. 3. Stunde, letzter Abschnitt) darf nur so lange dauern, wie alle Schüler intensiv be-schäftigt sind. Es sollen nicht nur die letzten Kärtchen bzw. Themen, sondern zumindest gelegentlichauch die vorhergehenden abgearbeitet werden. Hier ist Binnendifferenzierung möglich und angesagt,d.h. die stärkeren Schüler bewältigen jeweils etwas mehr Stoff.- Mündliche LeistungskontrolleDie mündliche Leistungskontrolle stellt einen Test für das Sprechen dar, auch wenn sie zunächst nuraus dem Vortragen des gelernten Dialogs besteht. Hierfür dürfen sich die Schüler gezielt vorbereitenund melden. Es sollte jedoch mit wechselnden Partnern getestet werden. 1-2 Paare pro Stunde. Mit demFortschreiten des Unterrichts sollten hier jedoch auch kreative Momente im Kombinieren und Variierenbewertet werden. Der Dialog sollte nicht auswendig gelernt klingen, sondern ein lebendiges Gesprächdarstellen.- Schriftliche LeistungskontrolleDie Dialoge werden auch regelmäßig in schriftlicher Form abgeprüft (2-3 Kontrollen zu jedem Thema).Hier sind folgende Varianten denkbar:a) Der Lehrer stellt die Fragen. Die Schüler schreiben nur die Antworten auf.b) Der Lehrer diktiert die Fragen. Die Schüler schreiben die Fragen auf und beantworten sie.c) Der Lehrer gibt den entsprechenden Sachverhalt auf Deutsch vor. Die Schüler schreiben die frz. Ver-

sion. (Beispiel: Frage deinen Gesprächspartner, wo er wohnt/ ob er in einer großen Stadt wohnt/ wases in seiner Stadt gibt/ ob er ein eigenes Zimmer hat usw. - Teile deinem Gesprächspartner mit, wodu wohnst/ ob du in einer großen Stadt wohnst/ was es in deiner Stadt gibt/ ob du ein eigenes Zim-mer hast)

d) Die Schüler schreiben eine vorgegebene Anzahl von Aussagen/ Fragen zu einem bestimmten Themaauf.

- Neuerarbeitung eines Dialogteils

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Normalerweise können (je nach Umfang und Komplexität) pro Stunde 2-4 neue Fragen und Antwortenerarbeitet werden. Hierzu wird folgendes Vorgehen vorgeschlagen:a) Schüler und Lehrer überlegen sich, welche Frage und danach welche Antwort man im Anschluss an

den bisherigen Verlauf zum jeweiligen Thema stellen könnte. Es erfolgt eine gewisse Steuerungdurch den Lehrer, um die Anhäufung von formalen Schwierigkeiten zu vermeiden.

b) Schüler und Lehrer 'bauen' die Äußerungen gemeinsam, d.h. die Schüler steuern die 'Bausteine' bei,die sie bereits kennen und der Lehrer liefert den (die) fehlenden Baustein(e). Soweit die Strukturvon der muttersprachlichen abweicht, ist sie durchschaubar zu machen (mittels muttersprachlicherUmschreibung). Auch evtl. kulturspezifische Eigenheiten sind hier zu erklären.

c) Der Lehrer spricht die erarbeitete Äußerung, evtl. in kleinere Lerneinheiten zerlegt, vor. Danach er-folgt ein dreimaliges Nachsprechen durch alle Schüler. Bei schwierigen Wörtern lässt man dasKlangbild anhand der einzelnen Laute erstellen, d.h. man fragt, wieviel Laute das Wort hat, undwelche diese sind. Die Schüler müssen ein klares Bild von den Lauten haben, aus denen sich dasWort zusammensetzt. Nur dann ist eine exakte Aussprache und ein Übergang zur Schreibung mög-lich. Neben der Lautreinheit ist auf die Prosodie (Betonung, Pausenverteilung, Tonhöhenverlauf,Bindung, Elision, e-muet) zu achten. Das Vorbild des Lehrers ist hier von entscheidender Bedeu-tung.

d) Nun schreiben die Schüler selbständig die Äußerung in ihr selbst gefertigtes ”Cahier d’exercices”.Auch bei den neuen Wörtern sollten die Schüler erst probieren, bevor der Lehrer die Äußerung andie Tafel schreibt. Dabei kann man sich auch einzelne Wörter buchstabieren lassen (auf Franzö-sisch!). Die Schüler vergleichen mit ihrer Version und korrigieren. Dabei sollten die Entsprechun-gen zwischen Laut und Schrift immer wieder ins Bewusstsein gehoben werden.

e) Die Schüler versuchen nun, sich die Frage beim nochmaligen Chorsprechen geschrieben vorzustel-len (Augen schließen). Wer Schwierigkeiten dabei hat, schreibt die Äußerung oder Teile daraus ein-oder auch mehrmals in sein ”Cahier d’exercices”.

f) Nun erfolgt die Bestimmung der Bausteine der erarbeiten Dialogteile. Soweit sie neu sind, werdensie auf verschiedenfarbige Kärtchen geschrieben und der Sammlung hinzugefügt.

f) Danach wird der erarbeitet Dialog noch einmal kurz im Klassenverband durchgespielt (erstes Ein-prägen). Bei entsprechendem Interesse bzw. entsprechender Leistungsfähigkeit der Lerngruppe kannauch sofort zu Partnerarbeit übergegangen werden.

g) Das eigentliche 'Lernen' des Neuen erfolgt zu Hause – während der Übertragung des neuen Dialog-teils auf das "Dialogblatt". Die (saubere und korrekte) Gestaltung der Dialogblätter sollte von denSchülern als 'Ehrensache' behandelt werden.

- Erarbeitung der Laut-Schrift-EntsprechungenNach der Ersteinführung der Schrift werden die Laut-Schrift-Entsprechungen anhand der Dialoge erar-beitet. Sobald genug Material für einen bestimmten Laut vorhanden ist, erfolgt die Systematisierung inTabellenform. Die Schüler gestalten selbst ein Blatt (mit Lehrerhilfe), das die möglichen Schriftent-sprechungen für einen Laut enthält. Sie finden auch die Wörter selbst und ordnen sie selbst (evtl. mitHilfe). Die Lautschrift wird vorgegeben, ohne besonders darauf einzugehen. Sie braucht von den Schü-lern nicht aktiv beherrscht zu werden.Die Rubriken für die einzelnen Laute (s. "Klanggestalt und Schriftgestalt"), deren Erarbeitung sich übereinen längeren Zeitraum (mehrere Monate) erstrecken kann, werden regelmäßig mit dem neuen Voka-bular ergänzt.

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Unterrichtsbeschreibung

Zur weiteren Festigung der Assoziation zwischen Klang- und Schriftbild empfiehlt es sich, in regelmä-ßigen Abständen bestimmte Kästchen mit einer größeren Anzahl von Eintragungen lesen zu lassen(halblaut in Partnerarbeit), wobei sich die jeweilige Entsprechung durch die Häufung einprägt. Um dieEinzelwörter wieder in einen Sinnkontext zu reintegrieren, kann man die Schüler sich gegenseitig dieÄußerungen erfragen lassen, in denen sie die Wörter gelernt haben.- ÜbenNeben der kontinuierlichen Wiederholung der erarbeiteten Dialoge in der Aufwärmphase, bei der Part-nerarbeit, in Form von Wettkampfspielen zwischen verschiedenen Gruppen oder als Leistungsfeststel-lung tritt in regelmäßigen Abständen das übende 'Hantieren' mit den Baustein-Kärtchen, um die Bau-weise der französischen Sprache immer wieder bewusst zu machen und einen kreativen Umgang mitdem Gelernten zu gewährleisten.- SystematisierenDie von den Schülern selbst zu leistende Systematisierung der Bausteine zu Strukturen spielt eine ent-scheidende Rolle. Sie ersetzt sozusagen das an grammatischen Regeln orientierte Sprachbewusstseindes traditionellen Unterrichts. Sobald genug Material vorhanden ist, erstellen die Schüler Übersichtenaus den gesammelten Bausteinen. Die Zusammenstellung geht von der Form eines Bausteins aus (z.B.j'ai) und ordnet ihm all diejenigen Bausteine zu, die mit ihm kombiniert werden können. Die Übersichtwird dann je nach vorhandenem Material von Zeit zu Zeit ergänzt. Das durch diese Form-Verbindun-gen ausgedrückte Inhaltskonzept sollte dabei jedoch immer präsent bleiben, so dass der Schüler dieFormen nach wie vor als Entsprechung von Inhalt erlebt.

ZUR ENTWICKLUNG DER VIER KOMMUNIKATIVEN SPRACHTÄTIGKEITENDa das Jenaer Innovationskonzept durchgängig bei allen Unterrichtsaktivitäten (mit Ausnahme derSystematisierung der Laut-Schrift-Entsprechungen) die Verknüpfung von Form und Inhalt trainiert, istder Schüler im Grunde immer kommunikativ tätig. Den einzelnen Bereichen der vier kommunikativenSprachtätigkeiten sind dennoch spezielle Übungen gewidmet. Als 'freies' Sprechen und Schreiben gilteine Produktion, bei der der Schüler für seine Inhaltskonzepte (d.h. für das, was er ausdrücken will)selbständig die französischen Formentsprechungen findet - die ihm natürlich nur soweit verfügbar sind,wie er vorher die dazu notwendigen Bausteine und Strukturmuster erworbenen hat.- Freies SprechenNeben der Darbietung von Dialogen zu Themen aus dem persönlichen Lebensbereich der Schüler undder Beantwortung von aktuellen Fragen im "Aufwärmgespräch" kann das Sprechen auch in einer Dis-kussion über gehörte oder gelesene Texte geübt werden. Allerdings sollte man die Fragen und Antwor-ten zunächst schriftlich erarbeiten lassen (s. unten). Die mündliche Version kann dann weniger elabo-riert ausfallen.- Freies SchreibenDie bisher beschriebenen Unterrichtsaktivitäten beziehen sich vorwiegend auf die mündliche Produkti-on. Doch können die mündlichen Dialoge (die ja immer verschriftet werden), auch für die Entwicklungdes Schreibens genutzt werden, und zwar in der Form des Privatbriefes. Dabei werden die Äußerungenaus den Dialogen mit entsprechenden Verbindungsformeln versehen und zu einer monologischen, an-sprechenden Textform zusammengestellt. Diese Übung eignet sich gut als Hausaufgabe und dient alsVorbereitung für die Klassenarbeit, die im 1. Lernjahr als Brief an einen (fiktiven) französischen Brief-freund geschrieben wird.Umgekehrt können schriftliche Fragen und Antworten über Hör- oder Lesetexte bzw. Filme zum Aus-gangspunkt für das Sprechen werden. Die Erarbeitung erfolgt weitgehend selbständig in Partnerarbeit

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Unterrichtsbeschreibung

(wobei der Lehrer helfend herum geht). Die Schüler greifen dabei auf gelernte Bausteine und Struktu-ren zurück, die sie auf die neuen Inhaltskonzepte übertragen. Außerdem bedienen sie sich der ein- undzweisprachigen Wörterbücher. Der 'intelligente' Umgang mit ihnen muss allerdings vorher sorgfältigeingeübt werden. Auf der Grundlage der Dialoge können dann Résumés angefertigt werden.Auch mit der Zusammenstellung von Dossiers zu bestimmten Themen kann früh begonnen werden(z.B. Poster zu Ma famille etc.).- HörverstehenDie Entwicklung der rezeptiven Fähigkeiten geschieht in einem eigenen Bereich, dem insgesamt einbreiter Raum im Lernprozess einzuräumen ist.a) Der Lehrer als Textquelle (einige Beispiele)Der Lehrer sollte von Anfang an soviel Französisch wie möglich sprechen und auch den Schülern mehrund mehr den Gebrauch der Fremdsprache (auch untereinander) als Unterrichtssprache ermöglichen,indem er ihnen die benötigten Sprachmittel zur Verfügung stellt. Die auf die aktuelle Situation bezogenen Äußerungen in der Aufwärmphase sind die ersten systemati-schen Hörverstehensübungen. Weitere Möglichkeiten:• Der Lehrer berichtet am Montag über das vergangene Wochenende. Die Schüler versuchen herauszu-finden, was der Lehrer getan hat.

• Der Lehrer denkt sich einfache Geschichten aus. Die Schüler erkennen den wesentlichen Inhalt.• Der Lehrer erzählt bekannte Märchen auf Französisch. Die Schüler versuchen herauszufinden, umwelches Märchen es sich handelt und nennen evtl. weitere Inhaltsmomente.

b) HörtexteLeider gibt es hier kaum brauchbare kommerzielle Texte. Wünschenswert wären kleine Dialoge, in de-nen französische Schüler die gleichen Themen behandeln wie unsere Schüler, aber mit etwas erweiter-tem Sprachmaterial. Damit käme ein Stück lebendige Landeskunde in den Unterricht. Des weiteren sind Hörspiele gut geeignet. (Diese können als CD angefordert werden. Es existierendazu auch vollständige Transkriptionen.) Die Hörspiele werden nur mündlich dargeboten. Die Schülertragen zusammen, was sie verstanden haben. Evtl. kann man bestimmte Stellen gezielt hören lassen. Bei entsprechender Motivationslage sind die Schüler bereit, sich auch produktiv mit dem Text zu be-schäftigen, d.h. selbst Fragen zum Text zu stellen und zu beantworten. (Der Lehrer hilft wo nötig undgibt evtl. auch neues Sprachmaterial). An der Art der Fragestellung durch die Schüler und deren Beant-wortung erkennt man ebenfalls sehr gut, ob der wesentliche Inhalt des Textes verstanden wurde. DieseDialoge werden gemeinsam (oder bei leistungsstarken Klassen auch in Partnerarbeit) aufgeschrieben.Außerdem wird aus den Äußerungen ein Résumé zusammengestellt, das zu Hause sauber abzuheftenund zu lernen ist. Auf diese Weise werden weitere beschreibende, erzählende und auch argumentieren-de Ausdrucksmittel verfügbar.

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Unterrichtsbeschreibung

- LeseverstehenDa interessante Lesetexte für die ersten beiden Lernjahre ebenfalls Mangelware sind, kann man sichmit einer Auswahl von Lektionstexten (am besten aus verschiedenen Lehrwerken) behelfen. Sie behan-deln ja z.T. die gleichen Themen und enthalten daher auch viel schon bekanntes Vokabular. Die vonden Schulverlagen angebotenen Lektüren können – wegen des im Innovationskonzept propagierten an-deren methodischen Vorgehens - oft auch früher als angegeben verwendet werden. Außerdem kommenimmer mehr authentische Texte der Kinder- und Jugendliteratur auf den Markt, die u.U. ebenfalls füreinen gezielten Einsatz geeignet sind.Als Verfahren wird Folgendes vorgeschlagen: Der Text wird zunächst von den Schülern still gelesenmit der Aufgabenstellung, zusammen zu tragen, was sie verstanden haben. Sollten größere Verständ-nisprobleme auftreten, müssen schwierige Stellen gemeinsam mit den Schülern geklärt werden. Wennvorhanden, kann man den Text nun von der Kassette abspielen und die Schüler lesen leise mit. Bei kür-zeren Texten (z.B. Lektionstexte) können die Schüler auch laut mit der Kassette mitlesen. Sie gewöh-nen sich dadurch an ein annähernd normales Sprechtempo und die richtige Intonation. - SonstigesDass das Jenaer Innovationskonzept im übrigen Raum lässt für alle kreativen und spielerischen Aktivi-täten, die aus dem Unterricht bekannt sind, versteht sich von selbst.Außerdem sind – wie bei jeder Innovation – Phantasie und Probierlust groß geschrieben. Das Konzeptlebt davon, dass es von kreativen Lehrern ausprobiert, revidiert und variiert wird, um sich durch neueIdeen weiter zu entwickeln und immer effektiver zu werden.

ANHANGERSTE DIALOGE

Ma famille et moiTu t'appelles comment? Je m'appelle ...Tu as quel âge? J'ai douze / treize ans.Tu habites où? J'habite à Iéna, onze rue de Wandersleb.Tu as un frère?Il s'appelle comment?Il a quel âge?

Oui, j'ai un frère. - Non, je n'ai pas de frère.Il s'appelle (Frank).Il a (vingt-quatre) ans.

Tu as une sœur?Elle s'appelle comment?Elle a quel âge?

Oui, j'ai une sœur. - Non, je n'ai pas de sœur.Elle s'appelle (Katrin).Elle a (quinze) ans.

Tu as des frères et sœurs? Oui, j'ai un frère et une sœur. - Non, je n'ai pas de frères et sœurs.Tu parles français?Tu parles allemand?

Oui, je parle un peu français. - Oui, un peu.Oui, bien sûr que oui

Tu es allemand(e)? Tu es français(e)?

Oui, je suis allemand(e).Non, je ne suis pas français(e). Je suis allemand(e).

L’album de photosQui est-ce sur la photo? C’est mon père / grand-père / frère / cousin / oncle / copain

C’est ma mère / grand-mère / sœur / cousine / tante / copineCe sont mes parents / grands-parents / frères / sœurs

Et là, c’est toi? Oui, c’est moi. - Non, c’est ma sœur.Et là, c’est ton frère / père / ? Oui, c’est mon père / ...

Non, c’est mon oncle / ...

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Unterrichtsbeschreibung

Et là, c’est ton chien / chat / ? Oui, c’est mon chien.Non, c’est le chien de ma copine.

Où j'habiteOù est-ce que tu habites?Tu habites où?

J'habite en Allemagne / en Thuringe / à Iéna.

Iéna, c’est où? C’est en Thuringe - C’est près de WeimarTu habites dans quelle ville? J'habite à Iéna.Tu habites dans une grande ville? Oui, j'habite dans une grande ville

Oui, la ville où j'habite est grande.Non, la ville où j'habite n’est pas très grandeNon, je n'habite pas dans une grande villeNon, j’habite dans une petite ville.

Iéna, c’est une grande ville? Oui, Iéna est assez grande. – Oui, c’est une grande ville.Qu'est-ce qu'il y a dans ta ville /dans ton village?

Dans ma ville il y a / Nous avons/ On aune université – une bibliothèque – une grande tourun jardin botanique - un hôtel de ville - un théâtre - un cinéma – un stadedes parcs - des piscines - des musées – des écoles - des églises – des muséesbeaucoup de chantiers en ce momentDans mon village, il y a ...

Dans ta ville, il y a / Iéna acombien d'habitants?

A Iéna, il y a / Iéna a cent mille habitants.

Tu habites dans quel quartier? J'habite à Winzerla / Lobeda.J'habite dans un petit village près de Iéna

Tu habites dans un beau quartier? Oui, mon quartier est beau. - Oui, le quartier où j'habite est beau. - Oui, j’habitedans un beau quartier.Non, mon quartier n'est pas (très) beau. – Non, le quartier où j'habite n’est pasbeau. - Non, je n’habite pas dans un beau quartier.

Tu habites dans une maisonindividuelle ou dans un grandimmeuble?

J’habite dans une maison individuelle / dans un grand immeuble.

C’est une vieille maison / un vieilimmeuble ou une maison / unimmeuble moderne?

C’est une maison / un immeuble nouvellement construit(e). - L’immeuble / Lamaison où j’habite est assez vieux / vieille. Il est tout neuf / Elle est toute neuve.- J’habite dans une vieille maison / dans un vieil immeuble / dans un immeublemoderne / dans une maison moderne.

Tu habites dans un appartementmoderne?

Oui, j'habite dans un appartement moderne. - Oui, c’est un appartement moderne.- Oui, l'appartement où j'habite est moderne.Non, je n'habite pas dans un appartement moderne. - Non, c’est un vieilappartement. - Non, l'appartement où j'habite est vieux.

Votre appartement a combien depièces?

Notre appartement a (quatre) pièces: ma chambre / la chambre pour moi et masœur - la chambre de mon frère - la chambre des parents - la salle à manger – lasalle de séjour – un salon - un bureau. Il y a bien sûr une salle de bains avec toilettes et une cuisine. Il y a aussi un grandcouloir et un balcon.

Tu as une chambre pour toi? Oui, j'ai une chambre pour moi.Non, je n'ai pas de chambre pour moi.

Tu partages la chambre avec qui? Je partage la chambre avec mon frère / ma sœur.Je partage ma chambre avec mon cochon d'Inde.

Qu'est-ce qu'il y a dans tachambre?

Dans ma chambre, il y a un lit – un canapé - un fauteuil -un bureau avec unordinateur - un keyboard - une armoire - une table - une chaise - une lampe - unetélé – une radio – un téléphone - une chaîne hifi / stéréo - des étagères.

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Unterrichtsbeschreibung

Vous avez un balcon / uneterrasse / un jardin?

Oui, nous avons un balcon / une terrasse / un jardin. Non, nous n’avons pas de balcon / pas de terrasse / pas de jardin. Non, nous n’avons ni balcon ni jardin.

Tu as un animal à la maison? Oui, j’ai / nous avons un chat / un chien / une souris / un perroquet / un lapin / uncheval / un cochon d’Inde / une perruche / des poissons. – Il /Elle dort dans machambre

Fiche amicale (avec préférences)Quel est ton nom de famille? Je m'appelle ... .Quel est ton prénom? Je m'appelle ... – Moi, c'est + NOMQuelle est ton adresse? J'habite onze, rue de X à Iéna.Quel est ton numéro de téléphone? Mon numéro de téléphone, c'est le ...Ton anniversaire, c’est quand? Je suis né(e) le dix novembre dix-neuf cent quatre-vingt-trois.

Mon anniversaire, c'est le vingt mai..Qu'est-ce que tu aimes faire? J'aime

jouer du keyboard / de la flûte /de l’accordéon - jouer au foot / au tennisde table - jouer avec mes perruchesfaire de l'équitation - du bowling /vélo / patin à roulettes - de lagymnastique / boxe - faire mes devoirslire - écouter de la musique – bricoler – manger – danser – dormir –dessiner – bavarder – embêter les gens.

Tu aimes ...? Oui, j’aime beaucoup. - J’adore. - Oui, c’est super - Je trouve ça super. -Non, pas tellement. - Non, pas du tout . - Non, je déteste. – Non, jetrouve ça ennuyeux.

Qu'est-ce que tu n’aimes pas faire? Je n’aime pas faire mes devoirs / apprendre mes leçons / ranger machambre / faire les courses. Je déteste faire ...

Quelle est la couleur de tes cheveux?Tes cheveux sont de quelle couleur?

J'ai les cheveux blonds / blond foncé / châtains / châtain clair / bruns /roux

Quelle est la couleur de tes yeux?Tes yeux sont de quelle couleur?

J'ai les yeux bleus / gris vert / vert marron / bleu gris / marron

Quel est ton film préféré?- Qu’est-ce que tuaimes comme film?

Mon film préféré, c'est ... – J’aime ...C'est (le film) ... /Je n'ai pas de film préféré.

Quel est ton groupe préféré? Mon groupe préféré, c'est ...C'est (le groupe) ...

Quel est ton chanteur / ta chanteusepréféré(e)?

Mon chanteur / Ma chanteuse préféré(e), c'est ...C'est ...Je n'ai pas de chanteur / chanteuse préféré(e).

Quelle est ta chanson préférée? Ma chanson préférée, c'est ...C'est (la chanson) ....Je n'ai pas de chanson préférée.

Quel est ton animal préféré? J'aime les chiens / les phoques / les cochons d'Inde / les perruches / leschevaux / les chats / les tigres / les lions / les panthères noires / lesgirafes / les éléphants / les perroquets / les souris / les lapins / lessinges / les vaches - les hippopotamesJe n'ai pas d'animal préféré.

15. Qu'est-ce que tu aimes porter commevêtement?

J'aime porter des jeans (noirs / bleus) / des pull-overs / des pulls larges /des sweat-shirts / des foulards / des blousons.J’aime les jeans (noirs / bleus) / les pull-overs / les pulls larges / lessweat-shirts / les foulards / les blousonsJe n'ai pas de vêtements préférés.

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Unterrichtsbeschreibung

Quelle est ta couleur préférée? J'aime le vert / le brun / le bleu / le violet / le noir / le jaune / l’orange /le rouge / le gris

Quelles sont tes matières préférées? J'aime (assez) l'anglais / le français / le dessin / la musique / labiologie / les mathématiques.J'adore le sport, mais je déteste la physique.

Quel est ton professeur préféré? Mon professeur préféré, c’est ... - C'est M. / Mme ...Je n'ai pas de professeur préféré

Quel est ton club (de foot) préféré? Mon club (de foot) préféré, c’est ... - C'est...Je n'ai pas de club (de foot) préféré.

Quel est ton footballeur préféré? Mon footballeur préféré, c’est ... - C'est ... Je n'ai pas de footballeur préféré.

Mon écoleTu vas à quelle école? Je vais à l'école NN..Tu es dans quelle classe? Je suis en septième a.Comment vas-tu à l'école? J'y vais en bus / en tram / à pied ou à vélo.Tu habites près de l'école? Oui, j'habite près de l'école. – Oui, l’école est tout près.

Non, j'habite loin de l'école.Tu mets combien de temps pouraller à l'école?

Je mets à peu près vingt minutes / un quart d'heure / une demi-heure.

Qu'est-ce qu'il y a dans ton école? Il y a (bien sûr) beaucoup de salles de classes et une salle des professeurs. - Nousavons aussi une salle de gymnastique et un terrain de sport. - Il y a même unebibliothèque.

Vous avez (aussi) une cantine / unepiscine?

Oui, nous avons une cantine / ...Non, nous n'avons pas de piscine / ...

Vous avez une chorale ou unorchestre?

Oui, nous avons une chorale et un orchestre.Nous n’avons pas d’orchestre, mais nous avons une chorale.

Tu fais partie de la chorale / del’orchestre?

Oui, je fais partie de la chorale. - Je ne fais pas partie de l’orchestre.Ni l’un ni l’autre.

Qu’est-ce qu’il y a commeactivités dans ton école?

Il y a un groupe de théâtre / un club d’art / une équipe de volley / de basket / unjournal d’élèves / un club d’élèves et bien d’autres activités encore, je crois.

Tu fais partie d'un club? Oui, je fais partie d'un club (de judo) / du club "TUS Jena". C'est un club de foot.- Non, je ne fais pas partie d'un club.

Tu apprends combien de languesétrangères?

J'apprends deux langues étrangères: l'anglais et le français.

Tu les apprends depuis quand? J'apprends l'anglais depuis cinq ans et le français depuis quelques mois.Quand est-ce que les courscommencent?

Ils commencent à sept heures et demie.

Quand est-ce que les coursfinissent?

Ça dépend. Le lundi et le mercredi, ils finissent à une heure, le mardi et levendredi, ils finissent à deux heures moins cinq et le jeudi ils finissent à midicinq.

Vous avez cours le samedi? Non, nous n'avons pas cours le samedi.Combien de temps durent lescours?

Ils durent 45 minutes.

Combien d'heures de cours avez-vous par semaine?

Au total, nous avons 32 heures de cours par semaine.

Combien de matières avez-vous? Nous avons treize matières. On faitdes mathématiques - de l'allemand / de l’anglais / de l’histoire / de l’éthique / del’informatique - du français / du dessin / du sportde la physique / de la biologie / de la géographie / de la musique

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Unterrichtsbeschreibung

Tu es bon(ne) en anglais / enmathématiques?

Oui, je suis bon(ne) en anglais / en ...Non, je ne suis pas très fort(e) en anglais, mais je suis bon(ne) en français.

Tu aimes aller à l'école? Ça dépend. – Oui, quelquefois - Ça va. - Comme ci comme ça. – Pas tellement. -Oui, j'aime bien aller à l'école. - Non, je n'aime pas trop aller à l'école. – Non, c’est horrible / terrible.

Portrait de mon ami(e) / copain, copineC’est un garçon ou une fille? C’est un garçon / une fille.Quel est son prénom?Il / Elle s’appelle comment?

Il / Elle s’appelle N.

Il / Elle habite dans quelle ville? Il / Elle habite à ...C’est une grande/ belle/ vieille ville? Oui/ Non, c’est un petit village au sud de Paris.Quelle est son adresse? Il / Elle habite 14, rue N, à ... / C’est ...

Je ne connais pas son adresse.Quel est son numéro de téléphone? C’est le .../ Je ne connais pas son numéro de téléphone.Il / Elle habite dans un grand immeuble ou dansune maison individuelle?

Oui / Non, il / elle habite ...Je ne sais pas.

Il / Elle a beaucoup de frères et sœurs? Oui, il/ elle a une grande famille.Non, il / elle habite seul(e) avec sa mère.

Son anniversaire, c'est quand? C’est le ... – Il / Elle est né(e) le ...Je ne connais pas sa date de naissance.

Il / Elle a quel âge? Il / Elle a 13 ans, je crois.Quelle est la couleur de ses cheveux?Ses cheveux sont de quelle couleur?

Il / Elle a les cheveux ...Je ne connais pas la couleur de ses cheveux.

Quelle est la couleur de ses yeux?Ses yeux sont de quelle couleur?

Il / Elle a les yeux ...Je ne connais pas la couleur de ses yeux.

Qu’est-ce qu’il / elle aime faire? Il / Elle aime faire ..., jouer ..., lire ..., écouter ...Est-ce qu’il / elle aime la musique/ le sport? Oui, il / elle adore/ aime beaucoup/ aime assez.

Non, il / elle déteste/ n’aime pas du tout.Pas beaucoup/ Pas trop.

Quel est son animal préféré? Il / Elle aime ... – Je ne sais pas.Il / Elle n’a pas d’animal préféré.

Est-ce qu’il / elle a un chanteur / une chanteusepréféré(e)?

Oui, c’est ...Non, je ne crois pas.

Quelle est sa matière préférée? C’est ... – Je ne sais pas.Il / Elle va à quelle école? Il / Elle va ...Il / Elle est dans quelle classe? Il / Elle est en ...Il / Elle apprend des langues étrangères? Oui, il / elle apprend ...

Mon emploi du tempsQuelle matière avez-vous le lundi de 7h30 à 8h15? On fait de l'anglais.Combien d'heures de cours avez-vous le lundi? Le lundi, nous avons sept heures de cours.Quelles matières avez-vous le lundi? Nous avons de l'anglais, de l'allemand, des

mathématiques, du sport, de la biologie, de l'histoire etdu français.

Quand est-ce que les cours commencent le lundi? Ils commencent à 7 h 30.Quand est-ce que les cours finissent le lundi? Ils finissent à deux heures moins cinq.Combien d'heures de sport avez-vous par semaine? Nous avons trois heures de sport par semaine.

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Unterrichtsbeschreibung

Quand est-ce que vous faites de la géographie? Nous faisons de la géographie le mercredi de 9 h 20 à 10h 05 et ...

Avant les vacances de PâquesQuand est-ce que les vacances de Pâquescommencent?

Cette année, les vacances de Pâques commencent le 24 mars.

Et quand est-ce qu’elles finissent? Elles finissent le 6 avril.Alors, elles durent combien de temps? Elles durent deux semaines, c'est-à-dire quinze jours.Qu'est-ce que tu vas fairependant les vacances?Tu vas partir ou tu vas rester ici?

Je vais aller chez ma cousine / chez ma grand-mère / chez mon oncle à Ulm - auxsports d’hiver - dans la forêt de Thuringe / dans les Alpes - à Munich - en Italie /en Hollande.Je vais suivre un cours chez les ScoutsJe vais rester à Iéna. - Je ne sais pas encore ce que je vais faire. - Peut-être que jevais aller à Munich, chez ma tante.

Tu vas voyager / partir en voitureou en train?

Je vais partir / voyager en voiture / train / car.

Tu vas partir avec qui? Je vais partir / voyager avec mes parents / ma famille / mes amis / mon équipe dehockey.Je vais voyager seul(e).

Tu vas rester combien de tempschez ta cousine?

Je vais y rester / passer une semaine / trois jours.

Qu'est-ce que tu vas faire là-bas? Je vais faire des promenades/ des excursions/ des randonnées / des tours envoiture / en bateau / en vélo / à pied - visiter les curiosités de la ville / de la région,c’est-à-dire des églises, des châteaux, des musées - faire du ski - apprendre à fairedu ski - aller voir ma cousine / mes grands-parents - aller à la piscine / au cinéma /au zoo / à la pêche - apprendre quelque chose sur la vie des scouts.

Qu'est-ce que tu vas faire si turestes à Iéna?

Je vais aller voir ma grand-mère/ mon oncle - faire beaucoup de sport / du vélo / duski / de la luge/ de la musique - jouer au foot / au tennis de table / à l'ordinateur -jouer du piano / de la flûte / de la guitare - écouter de la musique / mes cassettes /mes disques - regarder la télé / des films vidéos -lire des B.D. / des romans / deslivres sur ... - écrire des lettres - aller au cinéma / au théâtre / au planétarium / austade / à la piscine / à un match de foot – jouer avec mon lapin / mes perruches -faire des promenades avec mon chien - rencontrer des copains - dormir longtemps- me reposer.Ma grand-mère va venir me voir. - Mon frère et son amie viennent me voir.

Qu'est-ce que tu vas faire àPâques?

Je vais chercher des œufs de Pâques - fêter Pâques avec ma famille - peindre desœufs de Pâques - bien manger.

Où est-ce que tu vas chercher lesœufs de Pâques?

Ça dépend du temps. S’il fait beau, je vais les chercher dans la forêt / dans le jardin/ dehors, et s’il fait mauvais, je vais les chercher dans l'appartement / dans lamaison.Moi, je ne vais pas chercher des œufs de Pâques.

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Unterrichtsbeschreibung

Après les vacances d’étéTu as passé de bonnes vacances? Oui, j'ai passé de bonnes vacances.

Non, c’était terrible. – J’ai été malade / Je suis tombé malade.Où est-ce que tu as passé lesvacances?

J'ai passé quelques jours / toutes les vacances / une semaine / quelques heureschez ma cousine / chez ma correspondante / chez mes grands-parents avec moncousin.Je les ai passées à Munich / chez ...

Qu'est-ce que tu as fait pendant lesvacances?

J'ai lu un livre / une B. D. - dormi longtemps – joué du keyboard / avec monlapin / - joué au foot / à l'ordinateur - visité Munich / un musée à Weimar / lezoo - fait du vélo / du camping / du sport / une promenade / une randonnée -cherché des œufs de Pâques - regardé la télé - rencontré mon ami / mes amis -écouté de la musique – mangé des spaghettis / beaucoup de chocolat – fêté monanniversaire.Je me suis ennuyé(e).

Où es-tu allé(e)? Je suis allé(e) chez ma cousine / mes grands-parents – dans notre jardin - aucinéma / au jardin botanique / à la piscine / à Weimar.Je suis allé(e) voir mon ami(e)/ mes grands-parents/ un match de foot.

Tu t'es bien reposé(e)? Oui, je me suis bien reposé(e).Tu t'es couché(e) tard le soir?Quand est-ce que tu t'es couché(e)?

Oui, je me suis couché(e) tard le soir. - Non, je me suis couché(e) tôt.Je me suis couché(e) à minuit / à dix heures du soir / vers 23 heures.

Tu t'es levé(e) tard le matin?Quand est-ce que tu t'es levé(e)?

Oui, je me suis levé(e) tard le matin. - Non, je me suis levé(e) tôt le matin.Je me suis levé(e) à 11 heures / entre 10 h et 11 h / vers 10 h.

Ma journéeQuand est-ce que tu te lèvesnormalement / d’habitude?

Normalement / D’habitude, je me lève à six heures. - Le week-end, je ne melève pas avant 10 h.

Qu'est-ce que tu fais alors? D’abord, je vais dans la salle de bains pour faire ma toilette. Je me lave ou jeprends une douche. Ensuite je me brosse les dents, je m'habille et je mepeigne. Après je prends le petit déjeuner. - Je ne prends pas de petit déjeuner.

Quand est-ce que tu quittes la maison /tu pars de chez toi?

Je quitte la maison / Je pars de chez moi à sept heures moins cinq / vers sixheures et demie.

Tu vas en bus ou à pied à l'école? J'y vais en bus / en vélo / en voiture / en bus ou en tram / à pied/ à vélo.Tu mets combien de temps pour yaller?

Je mets à peu près dix minutes / un quart d'heure / une demi-heure (pour yaller).

Avec qui vas-tu à l'école?Tu fais la route avec qui?

J'y vais avec Doreen et Kathleen / avec mes copines / avec mes copains / avecma sœur.J’y vais (tout / toute) seul(e).

Quand est-ce que tu arrives à l'école? J' arrive à sept heures cinq / vers sept heures.Quand est-ce que vous avez la granderécréation?Et votre récréation, c’est à quelleheure?

La grande récréation, qui dure 20 minutes, est de 10 h 05 à 10 h 25. – Nousavons aussi quelques petites récréations de 10 minutes seulement.

Qu'est-ce que tu fais pendant cetemps?

Je me repose du dernier cours - J'apprends ma leçon. - Je mange une tartine /un sandwich / quelque chose. - Je bois du jus de fruits / du coca / de l'eauminérale / quelque chose. - Je me repose / me détends. - Je bavarde avec monami(e). - Je vais aux toilettes. - Je joue au foot. – Je prends l’air dans la cour.

Combien d'heures de cours avez-vouspar jour?

Nous avons entre 5 et 7 heures de cours par jour.En général, nous avons sept heures de cours par jour.Ça dépend des jours. Du lundi au jeudi, nous avons sept heures de cours. Levendredi, nous avons six heures de cours.

Quand est-ce que tu rentres à lamaison?

Je rentre entre 1 h et 2 h. / entre midi et deux heures.

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Unterrichtsbeschreibung

Tu déjeunes à la maison? Oui, je déjeune à la maison parce que mon père / ma mère nous prépare lerepas/ nous fait à manger.Non, je déjeune à la cantine parce que mes parents travaillent / ma mèretravaille / c'est plus pratique.

Tu aides ta mère/ ton père à lamaison?

Oui, quelquefois.Oui, je descends la poubelle et quelquefois je fais la vaisselle. J'arrose lesfleurs. Je passe l'aspirateur. Je range ma chambre. Je tonde le gazon.

Qu'est-ce que tu fais après ledéjeuner?

Je fais mes devoirs / du sport. - J'écoute de la musique. - Je me repose. - Jeme détends. - Je sors avec mes amis. - Je dors un peu. - Je lis un peu / lejournal. - Je joue au basket / au foot / à l'ordinateur. - Je regarde la télé. -J'apprends ma leçon.

Quand est-ce que tu fais tes devoirs? Je fais mes devoirs tout de suite en arrivant à la maison / dans l'après-midi /avant le dîner / après le dîner / entre 1 h 30 et 5 h 30. – Je les fais vers deuxheures.

Tu fais du sport? Oui, je fais du vélo / du judo / de la natation / de la gymnastique / del'équitation dans un centre équestre à Stadtroda. - Je joue au basket / au foot.Non, seulement à l'école.

Tu fais de la musique? Oui, je fais du piano électrique. - Je joue du piano / de la guitare / de la flûte.– Quelquefois je chante dans la chorale de notre école.Non, mais j'écoute de la musique.Non, je ne fais pas de musique moi-même / je ne joue pas d’un instrument.

Qu'est-ce que tu fais le soir? Je m'occupe de ma perruche / de mon cochon d'Inde / de mon lapin. - Je lis unlivre / un roman. - Je regarde la télé. - J'apprends ma leçon / mes leçons. -J'écoute de la musique. - Je joue avec mon frère / avec mon chat. – Je joue aufoot. – Quelquefois j'écris des lettres. - Je fais du vélo.

Quand est-ce que tu te couches / vas tecoucher / vas au lit?

Je me couche à 9 h. / entre 8 h et 9 h. / vers 10 h.

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Ganzheitsdidaktik

Krista SegermannGanzheitsdidaktik - ein pädagogisches Konzept auch für den Fremdsprachen-un-terricht?(veröffentlicht in: Fremdsprachenunterricht 2000, H. 4, S. 249-253)

1. Für und Wider in der theoretischen KonzeptbildungPädagogische Forderungen jenseits der organisatorischen Reformen sind immer auf die Verwirklichungim Fachunterricht angewiesen. Eine Didaktik aus der Idee der Ganzheit bietet sich – das ist die Thesedieses Beitrags – in besonderem Maße für den Fremdsprachenunterricht als geeignete konzeptionelleAusgangsbasis an, und zwar deshalb, weil Sprache, weil das Sprechen, weil das Erlernen der Spracheund damit auch das Erlernen einer fremden Sprache den ganzen Menschen angeht, seine Wahrnehmungund sein Denken ebenso wie sein Fühlen und Handeln. Wo immer Sprache als Mittel der lebendigenKommunikation wirksam wird, ist der Mensch in seiner leiblich-seelisch-geistigen Totalität beteiligt.Er bedient sich der Sprache, wenn er einem anderen etwas darüber mit-teilen, d.h. mit ihm teilen möch-te, was in ihm ist, in seinem Geist, etwas von dem, was an sinnlichen Reizen aus der Umwelt in seinemeigenen Körper durchlebt und in seinem Bewusstsein verarbeitet wird, was ihm an Wissensinhaltenüber sich und die Welt in Gestalt von kategorialen Vorstellungen, symbolischen Repräsentationen, be-grifflichen Konzepten verfügbar ist. Das heißt, Sprache als Medium des zwischenmenschlichen Mitein-ander existiert eigentlich nur als Pendant zu erlebten, erfahrenen und vorgestellten Wirklichkeitsmo-menten, die als Sinnkonzepte im Kopf des Sprechers vorhanden sind. Um diese inneren Vorstellungennach außen mitzuteilen, braucht der Sprecher die Formen einer bestimmten Sprache. Verstehen ereig-net sich, wenn diese sprachspezifischen Formen im Kopf des Hörers annähernd die gleichen Vorstel-lungen evozieren. Die Formen interessieren also nicht als solche, sie sind nur Mittel zum Zweck. Siewerden gelernt und behalten, weil und insoweit sie benötigt werden, um Inhalt auszudrücken, und zwarInhalt, der für den Sprecher bedeutsam ist.Dieser für die natürliche sprachliche Kommunikation selbstverständliche Sachverhalt, also das Aufein-ander-Angewiesensein von sprachlicher Form und individuellem Äußerungswunsch, müsste auch imFremdsprachenunterricht Berücksichtigung finden, vor allem in einem Fremdsprachen-unterricht, dernun schon seit geraumer Zeit dem Lernziel der Kommunikationsfähigkeit verpflichtet ist. Seit gerau-mer Zeit, d.h. mindestens seit der sog. ‘kommunikativen Wende’ der 70er Jahre, als man sich auf einenalles umfassenden anspruchsvollen Kommunikationsbegriff einigte, zu dem später dann noch die inter-kulturelle Komponente hinzutrat. Die kommunikative Zielsetzung reicht jedoch eigentlich noch vielweiter zurück, nämlich bis zur neusprachlichen Reformbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts, dieeine Abkehr von der aus dem altsprachlichen Unterricht überkom-menen Grammatik-Übersetzungs-Methode forderte und eine Hinwendung zum Sprachkönnen, vor allem auch im mündlichen Bereich.Es war der Neusprachen-Reformer Wilhelm Viëtor, Lehrstuhl-inhaber für Englische Philologie, gleich-zeitig begeisterter Sprachlehrer und hervorragender Kenner Großbritanniens, der 1882 mit seiner Streit-schrift „Der Sprachunterricht muss umkehren!“ die Wende proklamierte, die wir bis heute noch nichtganz vollzogen haben. Zwar ist der Fremdsprachenunterricht durch Anstöße aus der Pragmalinguistik,der Sprechakttheorie, der Konversations- und Diskursanalyse, der Tätigkeits- und Handlungstheorieseinem eigentlichen Gegenstand, dem lebendigen Sprachvollzug als dynamischem, psycho-sozialenProzess, immer näher gekommen. Zwar sind sich alle darin einig, dass nicht vorrangig Wissensstoff zuvermitteln, sondern Können zu entwickeln sei. Zwar spielen Schüler- und Handlungsorientierung, Ler-nerautonomie und Individualisierung auch in der fremdsprachendidaktischen Diskussion eine großeRolle. Doch all diesen fruchtbaren kommunikativen Ansätzen (einschließlich der sog. alternativen Me-thoden) setzt der Fremdsprachenunterricht einen Widerstand entgegen, der unüberwindbar scheint: dieunbekannte Sprache mit ihrer Fülle von Formen, die beherrscht werden müssen. Das komplizierte Re-

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Ganzheitsdidaktik

gelwerk der Sprache, vor allem das Funktionieren des grammatischen Systems, scheint gerade auf-grund seiner formalen Komplexität auf den Aufbau von systematischem Wissen angewiesen zu sein,von Wissen über Gesetzmäßigkeiten und Regeln, wie sie in den Kästchen, den Tabellen und Strukturta-feln unserer Schulgrammatiken beschrieben sind.

2. Erlebte StundenbeispieleIn der Praxis stellt die Vorstellung vom zu internalisierenden Regelsystem oft genug eine Art Angst-trauma für Lehrende und Lernende dar. Stellvertretend sei hier der Stoßseufzer einer Französischlehre-rin wiedergegeben, die die besondere bzw. die schier unlösbare Schwierigkeit beim Erlernen des Fran-zösischen so charakterisierte: „In jedem anderen Fach kann ich Teile, Ausschnitte behandeln, einen be-stimmten Erdteil, eine bestimmte geschichtliche Epoche; in meinem Fach müssen die Schüler alle For-men auf einmal im Kopf haben, um sprechen zu können. Wie soll man das schaffen?“ Ja vielleichtkann man es so eben gar nicht schaffen! Vielleicht sind es nur noch die für formales Lernen besondersbegabten Schüler, die das Kästchen- und Regellernen verkraften können und wollen.Ich erinnere mich an eine Französischstunde - sie ist vielleicht nicht unbedingt typisch, aber sicherlichauch keine Ausnahme - in der es um die Einführung des Relativpronomens ging. Die Lehrerin hattesich Satzpaare ausgedacht, die so zusammenzusetzen waren, dass daraus ein Hauptsatz mit einem un-tergeordneten Relativsatz wurde – ganz im Sinne der zu internalisierenden Regel: „Das Relativprono-men vertritt im untergeordneten Satz eine Nominalgruppe, die die gleichen Lebewesen, Dinge oderSachverhalte bezeichnet wie die Nominalgruppe, von der der Relativsatz abhängt."Die Lehrerin gab also z.B. die folgenden beiden Sätze: Regarde la robe. La vendeuse te montre la robe.(„Sieh dir das Kleid an. Die Verkäuferin zeigt dir das Kleid.“) Daraus sollte gebildet werden: Regardela robe que la vendeuse te montre. („Sieh dir das Kleid an, das die Verkäuferin dir zeigt.“) Oder: Lasecrétaire téléphone à un client. Son chef attend ce client. („Die Sekretärin telephoniert mit einemKunden. Ihr Chef erwartet diesen Kunden.“) Daraus sollte werden: La secrétaire téléphone à un clientque son chef attend. („Die Sekretärin telephoniert mit einem Kunden, den ihr Chef erwartet.“) Als icheinen der Schüler fragte, ob es hier denn auch auf den Inhalt ankomme, sah er mich verdutzt an undsagte nach einigem Zögern ganz kategorisch: „Nein, wir üben doch hier nur!“Geübt wurde das Anwenden der Regel über das französische Relativpronomen; hier wurde nichtsprachlich gehandelt. Das war auch gar nicht möglich, denn die grammatisch wohlgeformten Sätze hat-ten keine pragmatische Bedeutung. Es ist kaum eine Sprechsituation denkbar, wo jemand dergleichenzu irgendjemandem sagt. Der erste Beispielsatz: „Sieh dir das Kleid an, das die Verkäuferin dir zeigt.“wäre höchstens als schwerer Vorwurf möglich, mit der entsprechenden Intonation, im Deutschen mitden entsprechenden zusätzlichen Emotionspartikeln: „Nun sieh dir doch gefälligst erst einmal das Kleidan, das die Verkäuferin dir zeigt!“ Bei einem solchen Satz wäre auch für die Schüler die kommunikati-ve Funktion des Relativpronomens ersichtlich geworden, nämlich zu verdeutlichen, welches Kleiddenn nun gemeint war. Eine Situierung einschließlich emotionaler Faktoren wäre jedoch bei einer An-einanderreihung von Beispielsätzen gar nicht verkraftbar. Die wechselnde pragmatische Sinnsuchewäre viel zu anstrengend und ebenso unnatürlich. Denn in der Sprachwirklichkeit habe ich es nicht miteiner Reihung der gleichen Phänomene zur Illustration einer Gesetzmäßigkeit zu tun, sondern mit ei-nem Formgebilde, dem ein bestimmter Inhalt entspricht.Die gleiche Wirklichkeitsferne ist im Schulunterricht auch bei der Präsentation von Deklinations- undKonjugationsparadigmen festzustellen. Dazu noch ein erlebtes Stundenbeispiel: Es ging um die Einfüh-rung des Passé composé, und zwar bei den reflexiven Verben. Die Bildung mit avoir und être, warschon durchgenommen worden. Die Regeln wurden wiederholt, vor allem die komplizierte Tatsacheder Veränderlichkeit des Partizips. Die Lehrerin versuchte, das neue Phänomen situativ einzuführen,

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indem sie die Beispielsätze für die ersten drei Personen auf sich selbst und die Schüler bezog; das refle-xive Verb se lever - dt. „aufstehen“ war bekannt:Je me suis levée vers 5.30. „Ich bin um 5.30 aufgestanden.“Quand est-ce que tu t’es levé(e)? „Wann bist du aufgestanden?“Michael s’est levé vers 7.30. „Michael ist um 7.30 aufgestanden.“ usw.Dann kam das Paradigma mit den acht Personen: je-tu-il-elle-nous-vous-ils-elles. Da im Französischendas Partizip sich in Geschlecht und Zahl nach dem Subjekt richtet, wird es formal nun sehr kompliziert.Die in der Grammatikvermittlung routinierte Lehrerin benutzte das Ganze denn auch geschickt alsDenksportaufgabe, indem sie z.B. beim Partizip der 2. Person Plural sagte: „Jetzt bin ich mal gespannt.Welche Möglichkeiten haben wir denn jetzt? Hier müssen wir also ganz genau aufpassen!“ Zur Infor-mation für die des Französischen nicht mächtigen Leser: Hier gibt es vier verschiedene formale Endun-gen bei vous: jeweils für die weibliche oder männliche Markierung und für die Singularmarkierung (imDt. „Sie“ großgeschrieben) oder Pluralmarkierung (im Dt. „ihr).In der folgenden Stunde wurde die letzte Hürde des grammatischen Kapitels Passé composé genom-men: reflexive Verben mit einem nachfolgenden direkten Objekt: Nathalie s’est lavé les mains. - „Nat-halie hat sich die Hände gewaschen.“ Hier wird nun gar nichts mehr verändert. Salopper Kommentarder Lehrerin: „Jetzt müssen wir wieder alles vergessen, was wir gelernt haben.“ Ein Eindruck ist si-cherlich bei den Schülern haften geblieben, vielleicht fürs ganze Leben: Französisch ist eine schwereSprache, Ansporn für die einen, allerdings die wenigsten; Resignation für die anderen, die meisten. DieAussicht, dass die Schüler nach der Behandlung des Passé composé die entsprechenden Formen auchbeherrschen, d.h. dass sie sie in der Kommunikation richtig verwenden können, wurde von der Lehrerinselbst als sehr gering eingestuft

3. Zur Dichotomie von Wissen und KönnenEiner solchen Art von Fremdsprachenunterricht liegt die weit verbreitete Vorstellung zugrunde, dasszunächst ein bestimmtes sprachliches Wissen, bestimmte sprachliche Kenntnisse im Bereich vonGrammatik, Lexik, Phonetik und Orthographie sowie in der Landeskunde zu erwerben seien, und dassdieses Wissen, diese Kenntnisse dann beim Sprachvollzug, also beim Hören, beim Lesen, beim Spre-chen und beim Schreiben angewendet werden müssten, damit sich Können entwickele.Diese unterrichtspraktisch wirksame Dichotomie von Wissen und Können kann sich auf Modelle dertheoretischen Linguistik und Psycholinguistik berufen. Als Noam Chomsky, der prominenteste Vertre-ter der Linguistik in den 60er Jahren, gegen die behavioristische Richtung in Linguistik und Psycholo-gie zu Felde zog, tat er dies vor allem mit dem Argument, dass der kreative Aspekt des Sprachge-brauchs erklärt werden müsse. Die Sprachbeherrschung beruhe nicht auf gelernten patterns, also ein-zelnen sprachlichen Verhaltensmustern, sondern auf einem System abstrakter Regeln, kraft derer „derSprecher unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln macht“. Dieses berühmt gewordene Diktumstammt von Wilhelm von Humboldt, aus seiner Schrift „Ueber die Verschiedenheit des menschlichenSprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“ (1830-35).Chomsky zitiert Humboldt als Beleg für seine These, die Grammatik stelle einen eigenständigen, insich funktionierenden formalen Regelapparat dar, der losgelöst von der pragmatischen Kompetenz, alsoder von Äußerungswünschen bestimmten tatsächlichen Sprachverwendung, betrachtet und beschriebenwerden könne.Im Humboldtschen Kontext liest sich das Zitat allerdings so: „Sie (die Sprache) steht ganz eigentlicheinem unendlichen und wahrhaft gränzenlosen Gebiete, dem Inbegriff alles Denkbaren gegenüber. Siemuss daher von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen, und vermag dies durch die

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Identität der Gedanken- und Spracheerzeugenden Kraft.“1 (477) Es ist also nach Humboldt eine einzigeKraft, die die Gedanken und die Sprache erzeugt. Alle sprachlichen Formen dienen dem lebendigenAusdruck des Gedankens: die Wörter, die die Begriffe bezeichnen, ebenso wie die Grammatik, die dieBegriffe im Satz verknüpft und damit die logischen Beziehungen des Denkens widerspiegelt.Unmissverständlich heißt es an anderer Stelle: „Das Zerschlagen in Wörter und Regeln ist nur ein tod-tes Machwerk wissenschaftlicher Zergliederung.“2 Aus dem „todten Machwerk“, das für die Wissen-schaft evtl. noch zu verkraften wäre, kann im Unterricht nur zu leicht ‘Stückwerk’ werden. Das Lernge-schehen gerät ins Stocken und ins Stottern. Es kann nicht mehr rund laufen, weil das organische Ganze,wenn es einmal zerstückelt wird, sich nicht einfach durch Addition wieder zusammenfügt. Das formaleWissen um Wörter und grammatische Regeln lässt sich offenbar nicht so ohne weiteres in die den gan-zen Menschen erfordernde Fähigkeit zur inhaltlichen Kommunikation überführen.

4. Das Jenaer Innovationsprojekt zum FranzösischunterrichtHier setzt das ganzheitsdidaktische Lehr- und Lernkonzept an, das zur Zeit im Rahmen des Jenaer In-novationsprojekts zum Französischunterricht mit 10 Klassen in Jena und Umgebung im Anfangsunter-richt erprobt wird, und zwar in einem mittlerweile 10. Schuljahr - der Pilotklasse im 4. Lernjahr - sowiein mehreren 7. und 8. Klassen. Es sind vor allem drei Hauptprinzipien, durch die sich dieser von derIdee der Ganzheit getragene Französischunterricht vom herkömmlichen Unterricht unterscheidet:(1) An erster Stelle steht die Primärmotivierung durch den Äußerungswunsch des Schülers. Es sind sei-ne Gedanken, Gefühle, Urteile und Wertungen, seine Kenntnisse und Mutmaßungen über Dinge undPersonen, über Ereignisse und Beziehungen, seine Fragen an die ihn umgebende Welt, die im Unter-richt ihren sprachlichen Ausdruck finden sollen.Das bedeutet den Verzicht auf vorgegebene Lehrbuchtexte, soweit sie die Funktion haben, neuen Wort-schatz und neue Grammatik einzuführen. Statt dessen muss dem Lehrer - in einem noch zu erstellenden‘Lehrerbuch’ - Dialogmaterial zur Verfügung stehen, aus dem er, thematisch geordnet, möglichst vieleFragen und Antworten mit gängigen Varianten entnehmen kann, die deutschen Schülern einer be-stimmten Altersgruppe wohl einfallen könnten. Während man sich auf gemein-same Fragen einigt,können die Antworten unterschiedlich ausfallen. Deshalb fertigt jeder Schüler ein individuelles Dialog-blatt an, auf dem die gemeinsamen Fragen individuell beantwortet sind. Diese Dialogblätter, für jedesThema eins, enthalten im Durchschnitt etwa 15 Fragen und Antworten. Sie sind die Grundlage für daseigene Lernen. Sie ersetzen gleichsam als Lernmaterial die Texte und Übungen des traditionellen Lehr-buchs.Der Unterricht ist damit nicht mehr an eine grammatische Progression im herkömmlichen Sinne gebun-den, d.h. an eine Stufung, nach der die grammatischen Phänomene eines nach dem anderen durchge-nommen werden. Die Reihenfolge richtet sich nun danach, welche grammatische Struktur für die Ver-sprachlichung der Kommunikationsbedürfnisse der Schüler gerade gebraucht wird. Der Lehrer kann al-lerdings sprachlich aufgrund der möglichen Varianten ein bisschen steuern und so darauf achten, dassz.B. nicht zuviel Neues auf einmal vorkommt, vor allem nichts, was sich gegenseitig behindert, indemes verwechselt werden kann.(2) Das zweite Prinzip ist das Arbeiten mit lexiko-grammatischen Lerneinheiten, d.h. mit Formgebil-den, in denen Grammatik und Wortschatz integriert sind, und die der Schüler als Formentsprechungenfür seine Inhaltsvorstellungen empfindet.Diese Einheiten - sie werden gegenwärtig bei der Entwicklung des Unterrichtsmaterials erstellt und inbegleitenden Forschungsarbeiten durch eine EDV-Analyse eines Korpus von Gesprächs-aufnahmen va-1 Schriften zur Sprachphilosophie, in: Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Stuttgart 1963, S. 477.2 S. 418f.

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lidiert - diese Einheiten können natürlich keine vollständigen Sätze oder idiomatische Ausdrücke sein.Damit würde man dem kreativen Aspekt der Sprachverwendung nicht gerecht (und hinter Chomsky zu-rückfallen, anstatt ihn zu überwinden!). Es müssen Einheiten sein, deren Struktur vom Schüler durch-schaut wird (so dass er sie auch in sich variieren kann), und er muss sie mit anderen Einheiten zu grö-ßeren Sinngebilden verbinden können. Sie ersetzen das Lernen von isolierten Vokabeln, Regeln undKonjugationsparadigmata.Statt also zu lernen, wie man im Französischen die 1. Person Singular Präsens von avoir (‘haben’) bil-det, lernt der Schüler sofort das nach Person, Numerus und Tempus markierte Formgebilde j’ai (‘ichhabe’), und er lernt, wie er diese Einheit mit anderen sinntragenden Formeinheiten zu größeren Inhalts-aussagen verbinden kann, etwa zu der Altersangabe J’ai - douze ans, zu der Angabe über Familienver-hältnisse J’ai - un frère, zu Angaben über das eigene Äußere, z.B. die Augenfarbe: J’ai - les yeux mar-ron (etwa in einem bei den Schülern im Moment sehr beliebten ‘Freundschaftssteckbrief’) oder zu An-gaben zur Unterrichtsdauer Le lundi - j’ai cours - de 7.45 à midi 30. Im letzten Beispiel sind drei Ler-neinheiten zusammengefügt, die im übrigen als solche u.a. an ihrem Rhythmus zu erkennen sind. J’aicours (‘ich habe Unterricht‘) bildet im Französischen eine rhythmische und gleichzeitig auch eine se-mantische Einheit, d.h. zwischen j’ai und cours entsteht keine Pause. Auch das j’ai als Bestandteil desPerfekts stellt für sich keine Lerneinheit dar; es bildet nur zusammen mit dem Partizip eine rhythmi-sche und semantische Einheit, z.B. in der auf die vergangenen Ferienaktivitäten bezogenen AussageJ’ai passeé - quelques jours - à Munich.(3) Das dritte Prinzip lässt sich als natürliche Kommunikationshaltung beim Umgang mit Texten um-schreiben. Diese veränderte Schülerhaltung kommt bei der Textproduktion dadurch zum Tragen, dassdie Schüler nur Texte verfassen, die in der Sprachwirklichkeit vorkommen. In den Dialogen versprach-lichen sie ihre eigenen Äußerungswünsche im Hinblick auf Gespräche mit französischen Partnern - mitder längerfristigen Perspektive von gegenseitigen Besuchen, des Kennenlernens von Land und Leuten.Diese Vorstellung der echten Kommunikation ist es ja, die als konkrete Anforderung hinter dem ge-samten Lernaufwand steht. Dass der Dialog vorerst mit den Klassenkameraden in Französisch geführtwird - das nehmen die Schüler als notwendige Trainingssituation hin. Die Briefe, die die Schüler eben-falls verfassen, und die sich sehr gut als Klassenarbeit eignen, haben hier schon eine realere Funktion.Sie werden nämlich tatsächlich abgeschickt, sobald sich eine Partnerklasse gefunden hat. In den Brie-fen werden die Aussagen aus den Dialogen verwendet, zuzüglich einiger textverknüpfender Floskeln,die daraus einen kohärenten Monolog machen. Die Fragen an den Partner werden eingeflochten oderan den Schluss gestellt.Die natürliche Kommunikationshaltung bei der Textrezeption, also beim Hören oder Lesen von Texten,zeigt sich darin, dass die Aufmerksamkeit der Schüler hierbei allein auf das Verstehen gerichtet ist. Siekümmern sich nicht um unbekannte Wörter und grammatische Strukturen, sondern versuchen, den Sinnherauszubekommen, weil sie wissen wollen, was im Text drin steht. Sie wenden dabei eben jene sog.Verstehensstrategien an, von denen in der Rezeptionsforschung jetzt soviel die Rede ist. Aus dieser na-türlichen Haltung folgt auch, dass die Formen als Träger der Bedeutung nur ausnahmsweise im Ge-dächtnis behalten werden. Meist kann man ja nicht ‘wörtlich’ wiederholen, was man gehört oder gele-sen hat, sondern eben nur ‘sinngemäß’. Das verstehende Hören oder Lesen von Texten wird deshalb indem hier skizzierten Unterricht nicht dazu benutzt, neue Wörter oder grammatische Strukturen einzu-führen. Das schließt natürlich nicht aus, dass ab und zu bei dem einen oder anderen Schüler mal etwashängen bleibt. Warum und wie das geschieht, ist ein eigener interessanter Forschungsaspekt.

5. Einblicke in die konkrete UnterrichtswirklichkeitAus der Unterrichtswirklichkeit in den Erprobungsklassen sei zunächst die jeweils am Anfang derStunde stehende mündliche Leistungskontrolle vorgestellt. Sie erfolgt möglichst in jeder Stunde und

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betrifft immer zwei Schüler, entweder ein festes Paar, d.h. die Banknachbarn, die bei der Partnerarbeitimmer zusammenarbeiten, oder ein vom Lehrer ad hoc gewähltes Paar. Die beiden Schüler tragen einenDialog vor, der aus den vorher gemeinsam erarbeiteten Fragen und Antworten besteht, die die Klassezu einem bestimmten Themenbereich versprachlichen wollte. Je nach Aufgabenstellung oder auch nacheigener Wahl kommen Fragen aus einem oder mehreren Themenbereichen.Die Schüler stehen meist vor der Klasse. Sie können, wenn sie wollen, ihre Fragekärtchen in der Handhalten. Das sind kleine Karteikarten, auf denen sie die einzelnen Fragen nach der Erarbeitung aufge-schrieben haben. Für die Schüler sind die Fragekärtchen ganz wichtig. Sie sind etwas Handfestes, mitdem sie gerne hantieren und mit dem sie auch vorher in Partnerarbeit geübt haben. Sie dürfen die Kärt-chen bei der Leistungskontrolle als Gedächtnisstütze benutzen und einen kurzen Blick darauf werfen.Sie dürfen jedoch nicht ablesen, denn das Gelernte muss ja ‘im Kopf’ sein.Die Leistungskontrolle - nach sieben Monaten Französischunterricht - hört sich etwa wie folgt an. Esstellt zuerst der eine die Fragen, und der andere antwortet und nachher umgekehrt:Tu t’appelles comment? Je m’appelle Martin.Tu as un frère? Non, je n’ai pas de frère, mais j’ai une sœur.Elle a quel âge? Elle a neuf ans.Tu habites où? J’habite à Iéna.C’est une grande ville? Oui, à Iéna, il y a cent mille habitants.Tu vas à quelle école? Je vais au lycée Ernst-Haeckel.Tu es dans quelle classe? Je suis en septième b.Comment vas-tu à l’école? J’y vais en bus.Tu apprends des langues Oui, j’apprends deux langues étrangères: l’anglais étrangères? et le français.Qu’est-ce que tu aimes faire? J’aime jouer au foot et j’aime jouer du keyboard.Quel est ton footballeur préféré? Mon footballeur préféré, c’est Jürgen Kliensmann.In solch einem Dialog erleben die Schüler die quasi perfekte Totalität des Französischen auf engstemRaum, mit ihren begrenzten sprachlichen Mitteln. Das Ganze erfolgt in einer Geschwindigkeit, die derdes muttersprachlichen Sprechens sehr nahe kommt. Das heißt, die Schüler sprechen verschiedenschnell, und zwar in dem Tempo, das sie sich in der Muttersprache angewöhnt haben. Die Klasse hatkonzentriert mitgehört, denn das Ergebnis wird gemeinsam bewertet. Die Kriterien sind: Verständnisder Fragen und richtige Reaktion - Schnelles Reagieren - Länge des Dialogs - Sprachliche Richtigkeit,also Aussprachefehler (man muss es ja verstehen können) und lexiko-grammatische Fehler in den Ler-neinheiten.Der obige Dialog deckte die Themenbereiche Moi et ma famille - Où j’habite - Mes préférences - Monécole ab, natürlich ausschnittweise, nicht vollständig. So weit kommt man in einer Gymnasialklasse mitvier Wochenstunden vom Schulanfang bis kurz vor den Osterferien. Zu diesem Zeitpunkt bot sich der Themenbereich Les vacances de Pâques an. Er konkretisierte sich inder Situation, dass die Schüler ihre Ferienpläne versprachlicht haben wollten. Folglich wurde die Formder Zukunft eingeführt, und zwar das Futur composé, die Zeit, die mit aller + Infinitiv gebildet wird.Auf die von den Schülern gemeinsam gewünschte Frage: Qu’est-ce que - tu vas faire - pendant les va-cances de Pâques? bekam nun jeder die Antwort mit seinen spezifischen Ferienaktivitäten. (Der Unter-schied ist allerdings meist nicht so groß, dass das Vokabular allzusehr auseinander driftet.)Die in der hier beobachteten Klasse von den Schülern benötigten Antworten lauteten z.B.:

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Je vais aller chez ma cousine - Je vais partir avec mon équipe de hockey - Je vais rester à Jéna - Jevais faire des promenades avec mon chien - Je vais jouer au volley - Je vais dormir longtemps - Je vaislire. Eine Verwechslung mit der vorher bei den Préférences gelernten Struktur J’aime + Infinitiv war nichtfestzustellen. J’aime lire z.B. war offenbar fest an die Situation: „Aussagen über Vorlieben“ gekoppelt;die neue Struktur Je vais lire wurde inhaltlich fest mit der Sprechsituation „Ferienpläne machen“ ver-bunden.Nach den Osterferien ging es mit einem neuen Thema bzw. einer neuen Situation weiter. Die Erinne-rung an die Ferien war noch ganz frisch. Was lag näher, als diese Erinnerung im Französischunterrichtzu verarbeiten? Natürlich wollten die Schüler gerne erzählen, was sie in den Ferien gemacht hatten. Diegewünschte Ausgangsfrage lautete nun:Qu’est-ce que tu as fait pendant les vacances de Pâques?Alle Verben, die die vergangenen Ferientätigkeiten zum Ausdruck brachten (einige, keineswegs allewaren identisch mit den geplanten Tätigkeiten), mussten nun in die Vergangenheitsform gebracht wer-den, ohne Rücksicht darauf, ob die Partizipien regelmäßig oder unregelmäßig waren, ob das Verb mit„haben“ oder mit „sein“ gebildet wurde. Da die Zeiten des Aufstehens und des Zubettgehens für dieSchüler ganz wichtig waren und die Verben dafür im Französischen reflexiv sind, wurden die Schülerzwar nicht in einer einzigen Stunde, aber doch innerhalb von 2-3 Stunden mit Formen aus allen mögli-chen Paradigmata konfrontiert. Sie lernten die verlangten Formen hier in enger Verbindung mit dem,was sie über sich sagen wollten, mit ihrem Erleben. Tatsächlich traten weder jetzt noch später Ver-wechslungen oder größere Unsicherheiten auf.Es wurden z.B. folgende Antworten benötigt und als lexiko-grammatische, rhythmische Sinneinheitengelernt:J’ai passé quelques jours à Munich.J’ai fait du camping.Je suis allé(e) au cinéma.Je suis allé(e) voir mes grands-parents.Je me suis levé tard le matin.Je me suis couché vers minuit.Dass diese Fülle an sprachlichen Formen von den Schülern verkraftet, d.h. beherrscht und behaltenwird, hängt höchst wahrscheinlich damit zusammen, dass sie ihnen sozusagen in einem lernpsycholo-gisch fruchtbaren Moment angeboten werden. Aufgrund seines Äußerungswunsches ist der Schülerhoch motiviert, die sprachlichen Mittel zum Ausdruck seines Inhalts zu bekommen. Er nimmt die Mit-tel deshalb dankbar und begierig auf und ist auch daran interessiert, sie zu behalten, sozusagen zur Er-höhung seiner dauerhaften Äußerungskapazität.Wie sehr das Lernen vom Äußerungswunsch des Schülers aus ihn ganzheitlich anspricht, sei zumSchluss noch an einem kleinen Beispiel illustriert, das mir als Beobachter unvergesslich bleiben wird.Es ging um den Wandertag (Notre journée de randonnée), den die Schüler beschreiben wollten. DieSchülerin, deren Vater den Garten als Ausflugsziel für diesen Tag zur Verfügung gestellt hatte, wieder-holte nach der Erarbeitung den folgenden Satz Sinneinheit für Sinneinheit:Nous avons mangé des saucisses des steaks et des petits pains. Ich sehe Sabine noch vor mir, wie sie diese Aussage aus ihrem Gedächtnis holt, und wie sie - so schienes mir - die einzelnen sprachlichen Einheiten mit der erlebten Wirklichkeit verband, mit dem Duft dergegrillten Würstchen und Steaks, mit den frischen Brötchen, mit der ganzen freundschaftlichen Atmo-sphäre, die diesen Wandertag für die ganze Klasse, einschließlich der Lehrerin, zu einem schönen Ge-

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meinschaftserlebnis hatte werden lassen. In diesem Unterrichtsmoment war ganzheitliches Lernenwirklich zu spüren.

6. Das Eigene und das FremdeDas letzte Beispiel weist gleichzeitig jedoch auch auf eine Problematik hin, die bis jetzt noch nicht an-gesprochen wurde, die interkulturelle Komponente der Kommunikationsfahigkeit. Die französischenSchüler, die in den Briefen ihrer deutschen Partner die journée de randonnée beschrieben finden, habenweder bei der ganzen Veranstaltung noch bei dem, was da gegessen wurde, eine konkrete Vorstellung,denn das gibt’s in Frankreich so nicht. Der französische Lehrer müsste es ihnen also erklären - das mitdem Wandertag - das mit dem Picknick - das mit den Würstchen, die eben keine Frankfurter sind. (Dessaucissses de Francfort sind in Frankreich die einzigen bekannten deutschen Würstchen, und die habenja bekanntlich nicht viel mit den Thüringer Rostbratwürstchen gemein). Auch die Steaks sind trotz desgemeinsamen Wortes nicht die gleichen: ein deutscher Schweinenacken ist eben kein französischesRindersteak; und deutsche Brötchen schließlich sind für die Franzosen auch in der Umschreibung als„kleine Brote“ (des petits pains) nicht fassbar. Am besten natürlich, man kommt her und probiert alles.Aber bevor man herkommt, müssten sozusagen die mentalen und gefühlsmäßigen Grundlagen für dieinterkulturelle Verständigung gelegt worden sein, denn sonst könnte das Ganze auch schiefgehen.Wenn die deutschen Schüler von den kleinen Dingen ihrer Welt berichten dürfen, die für sie keines-wegs banal, sondern höchst bedeutsam sind, dann werden sie auch die kleinen Dinge ernst nehmen undverstehen wollen, die ihnen aus der fremden, hier der französischen, Welt von ihren Altersgenossen be-richtet werden. Das Fremde erscheint dann nicht mehr als unverständlich und damit als nicht so gut,wenn es mit den Augen, d.h. aus der Schreibperspektive des Partners gesehen wird, nämlich als genau-so vertraut, selbstverständlich und damit für ihn gut wie für mich das Eigene. Es ist zwar vielleicht an-ders, aber es liegt auf der gleichen Ebene der AkzeptanzAuf diese Weise kann interkulturelle Verständnisfähigkeit von den ersten Wochen des Fremdsprachen-unterrichts an entwickelt werden. Sie entsteht nicht durch landeskundliche Texte, deren Informations-gehalt die Denk- und Gefühlsstrukturen der Schüler nicht berührt, der sie sozusagen kalt lässt. Solchein totes Wissen bleibt wirkungslos, und seine Anhäufung in den folgenden Lernjahren trägt kaum zumwirklichen Verstehen bei. Wie also soll das Fremde in den Unterricht kommen, der in den Erprobungsklassen ja zunächst ganzauf die eigene Welt fixiert ist. Es seien hier nur einige Perspektiven aufgezeigt im Hinblick auf einnoch zu erstellendes Lehrwerk. Den Texten, die von den Schülern produziert werden, müssten thema-tisch ähnliche Texte von französischen Schülern gegenüberstehen, evtl. im Studio neu aufgenommenund auch überarbeitet. So könnten die Dialoge als Hörtexte präsentiert werden, die die deutschen Schü-ler mit der französischen Schul- und Freizeitwelt vertraut machen, die zum Vergleich und auch zur Dis-kussion anregen. Bearbeitete französische Schülerbriefe (auf der Grundlage echter Briefe) hätten die-selbe Funktion im schriftlichen Bereich. Alle Texte sollten sprachlich schwieriger sein als die Texte,die die deutschen Schüler selbst zustande bringen, um das Verstehen unbekannter Texte von Anfang anauf höherem Niveau zu trainieren. Auf dieser Grundlage ist dann sehr schnell auch die Welt der Geschichten, der Poesie und des szeni-schen Spiels in das Klassenzimmer zu holen, die Welt der Fiktion also, die den Horizont erweitert, dieüber die Banalität des begrenzten Alltags - auch wenn sie von den Schülern zunächst nicht so empfun-den wird – hinaus weist und den Raum öffnet für die Unendlichkeit der Phantasie. Das Lehrwerk - auchdas für den Anfangsunterricht - müsste zum größten Teil aus solchen fiktionalen Lese- und Hörtexten(z.B. Rundfunk-Hörspielen u.ä.) bestehen, gleichsam als Pool, als Fundgrube, die für jeden Geschmacketwas bereithält.

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Am Ende des ersten Lernjahres kann mit der ersten zusammenhängenden Geschichte begonnen wer-den, die die Schüler mit einer natürlichen Lesehaltung angehen. Als ich kürzlich einen der schwächerenSchüler in einer Projektklasse fragte, ob das Lesen schwer sei, meinte er: „Doch schon, aber wenn manweiterliest, dann versteht man’s.“ Zu Beginn des zweiten Lernjahres sind dann problemlos auch Hör-spiele einzusetzen und von da an, d.h. von der Mitte des zweiten Lernjahres an, ist der Weg frei für dieauthentische Lektüre, d.h. für Texte, die für Franzosen geschrieben sind und die die gleichaltrigenFranzosen auch lesen. Überhaupt könnte es nicht schaden, wenn man sich bei der Lektüre - ob nun ge-schichtlicher, geographischer, soziologischer u.ä. Texte oder bei Texten der «belles lettres» - an demorientierte, was auch die französischen Jugendlichen lesen - immer eingedenk der Tatsache, dass manals Pädagoge die Jugend auch für Horizonte gewinnen möchte, die sie noch nicht kennt, aber das gilt jaebenso für die Franzosen. Das gegenseitige Verstehen würde durch eine gemeinsame Lektürebasis si-cherlich gefördert werden. Entsprechend dem erweiterten Textbegriff gehören zu dieser Basis dann na-türlich auch Radio- und Fernsehsendungen sowie Filme.Vom Verstehen noch einmal kurz zurück zum Verfassen eigener Texte. Die Produktion kann von derRezeption insofern profitieren, als die Schüler - angeregt durch die fiktionalen Texte - ihrer eigenenPhantasie freien Lauf lassen und Texte schaffen, durch die - unabhängig von ihrem künstlerischen Wert- die Schaffensfreude angeregt wird und verborgene Fähigkeiten ihrer Persönlichkeit sich frei entfaltenkönnen. Die Förderung der Kreativität ist eine Forderung, die nicht nur in der pädagogischen, sondernauch in der fremdsprachendidaktischen Literatur schon seit langem eine Rolle spielt. Sie gehört selbst-verständlich mit zu einem Unterricht, der dem Ganzheitskonzept verpflichtet ist.

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Krista Segermann

Fremdsprachliches Lernen als Verknüpfung von Sinnkonzepten mit lexiko-gram-matischen Formgebilden(veröffentlicht in: F.-J. Meißner & M. Reinfried (Hrsg.): Bausteine für einen neokommunikativen Französisch-unterricht. Tübingen: Narr 2001, S. 93-104.

Unser Französischunterricht ist auch heute noch überwiegend (d.h. gemessen an der tatsächlich dafürverwendeten Unterrichts- und auch Hausarbeitszeit) gekennzeichnet durch die Vermittlung von Voka-beln, von Erscheinungen der französischen Grammatik und - zeitlich weniger - von Aussprache undOrthographie. Zwar bemüht man sich, dies alles möglichst im Kontext, situativ und unter Berücksichti-gung kommunikativer Gesichtspunkte zu bewerkstelligen, doch im Grunde verträgt sich das Postulatdes kommunikativen Bezugs kaum mit den linguistisch geprägten Denkschemata, die das methodischeVorgehen des Unterrichts prägen, dem Denken in Wörtern als Lerneinheiten, dem Denken in system-grammatischen Kategorien und vor allem dem Denken in methodischen Schritten, demzufolge zuerstbestimmtes systematisches ‘Wissen’ vermittelt, sozusagen ein ‘Speicher’, ein Modul angelegt wird (seies das mentale Lexikon oder der formale Regelapparat der Morphosyntax), worauf dann die Anwen-dung dieses Wissens, neuerdings auch der Umgang damit bzw. die ‘Strategie’ folgt.Die Herkunft dieser Denkschemata aus der Systemlinguistik bzw. der mathematischen Linguistik sowieaus den an der Künstlichen Intelligenzforschung orientierten Richtungen der Psycho-linguistik machtzumindest deutlich, dass hier - aus verständlichen Gründen des Strebens nach wissenschaftlicher Ge-nauigkeit - genau das ausgeklammert wird, was die lebendige menschliche Kommunikation, dieSprachbenutzung durch den normalen Kommunikationsteilnehmer, ausmacht und was deshalb auch ineinem Sprachlernmodell unbedingt berücksichtigt werden müsste.Die Vorgänge, die sich gehirnphysiologisch, psychologisch, soziologisch und unter vielen weiteren si-tuationellen Einflussfaktoren bei der Übermittlung von Gedanken durch Sprache abspielen, sind auf sokomplexe und vielfältige Weise miteinander verbunden, dass ein Modell des lebendigen Sprachvoll-zugs sowie ein darauf bezogenes Sprachlernmodell solange inadäquat erscheinen muss, wie es dieseVielfalt nicht durch integrative, interaktive, in flexiblen Kontinuen modellierende Konzepte auffängt.Isolierende, modulare, dichotomische Modelle (die mit einander ausschlie-ßenden Begriffspaaren wieWissen - Können, deklarativ - prozedural, kognitiv - affektiv, bewusst - unbewusst usw. arbeiten) sindfür die didaktische Modellbildung deshalb weit weniger geeignet.Bei dem weihin ungesicherten, wenn auch sich rasant verändernden Stand der Forschung spricht eini-ges dafür, sich bei der Konzeption eines Sprachlernmodells auf einen Aspekt zu konzentrieren, dernoch am ehesten geeignet ist, all die verschiedenen Einzelelemente funktional zu bündeln und ihr Zu-sammenspiel zu bewirken: der Sinn- oder Bedeutungsaspekt, der - so ist anzunehmen - der eigentlicheMotor, der Auslöser dafür ist, dass sich der Mensch der Sprache bedient, und zwar nicht im luftleerenRaum, sondern unter ganz bestimmten situationellen und psycho-sozialen Bedingungen. Es ist derMensch in seiner leiblich-seelisch-geistigen Totalität, in seiner Wahrnehmung und seinem Denkenebenso wie in seinem Fühlen und Handeln, es ist das ganze psycho-physische Netzwerk, das beimSprechen in unserem Gehirn durch innere und äußere Faktoren in Gang gesetzt wird.Für das normale Funktionieren von Sprache sind offenbar die Verknüpfungen zwischen den zu ver-sprachlichenden Sinnkonzepten, also dem, was man sagen will, und den entsprechenden Form-gebildenentscheidend. Ein Fremdsprachenunterricht, der gemäß seiner Lernzielvorgabe der mündlichen Kom-munikationsfähigkeit die Schüler zum flüssigen Sprechen bringen will, müsste demnach erreichen, dassder Schüler für das, was er sagen will, ebenfalls möglichst umgehend die nötigen Formen zur Verfü-gung hat. Anstatt im Kopf des Schülers das System der französischen Sprache so aufzubauen, wie es

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uns in der beschreibenden Schulgrammatik vorgeführt wird und ihn die Sätze nach diesen Regeln undParadigmata konstruieren zu lassen, müsste der Unterricht dafür sorgen, dass der Schüler sein ‘Sinn-konzept’ unmittelbar mit fremdsprachlichen Formen verknüpft. Diese Verknüpfung immer wieder ak-tiv stattfinden zu lassen, wäre die eigentliche Aufgabe der unterrichtlichen Methodik.Ein Modell des gesteuerten fremdsprachlichen Lernens, das sich an der Kommunika-tionsfähigkeit orientiert, müsste methodische Möglichkeiten der assoziativen Verknüpfung vonSinnkonzepten mit lexiko-grammatischen Formgebilden unter bestimmten situationellen undpsycho-sozialen Bedingungen aufzeigen.Im traditionellen Unterricht werden die Sinnkonzepte in der Regel durch die Lehrbuchtexte geliefert.Der Lernende ist gehalten, die neuen Formen (Wörter und grammatische Strukturen) zu lernen, weil sieim Text vorkommen und weil er sie später bei der Produktion anwenden soll. Liefert man ihm dagegendie Formen als Entsprechungen für ein Sinnkonzept, das seinem eigenen Äußerungswunsch entspringt,so ist die Motivationslage entscheidend verändert. Die Verknüpfung geschieht dann sozusagen aus ei-ner Primärmotivation heraus, in einem lernpsychologisch fruchtbaren Moment. Weil der Lernende dasbekommt, was er haben will, ist er aus eigenem Antrieb bereit, die gegebenen Formen aufzunehmenund zu behalten, um seine fremdsprachliche Äußerungskapazität zu erhöhen.Die Lernmotivation lässt sich dadurch steigern, dass die zu versprachlichenden Sinnkonzeptedurch die Äußerungswünsche der Lernenden bestimmt werden.Die beiden eben erläuterten Thesen umreißen im wesentlichen das übergreifende fremdsprachendidak-tische Konzept, das den Unterrichtsversuchen zugrunde liegt, die gegenwärtig in einigen ThüringerSchulen durchgeführt werden. Einer der interessantesten Aspekte bei der Konkretisierung ist die Hand-habung der lexiko-grammatischen Formgebilde, die wir mit dem vorläufigen Terminus der ‘Lernbau-steine’ bezeichnet haben. Um ihren Stellenwert innerhalb des Unterrichts zu verdeutlichen, werde ichdiesen zunächst kurz skizzieren:Die Einführung von neuem Sprachmaterial geschieht anhand von Schülerdialogen. Lehrer und Schülereinigen sich über das jeweilige Thema, das sie versprachlichen wollen, und erstellen dann zusammeneinen Dialog, indem sie überlegen, was man denn zu diesem Thema erfragen und mitteilen möchte. Diefranzösische Versprachlichung der einzelnen Sinnkonzepte (die natürlich muttersprachlich umschrie-ben werden) geschieht ebenfalls gemeinsam. Der Lehrer liefert nur die jeweils neuen Formen.Themen für das 1. Lernjahr waren z.B.: Moi et ma famille - L’album de photos - Où j’habite - Ficheamicale - Mon copain/ Ma copine - Mon école - Les vacances de Pâques - Après les vacances - Notrejournée de randonnée usw. Dies sind Themen, die sich in die übergeordneten Themenbereiche der Lehrpläne und folglich auch dergängigen Lehrwerke einordnen lassen. Der entscheidende Unterschied liegt eben darin, dass nun nichtmehr die Lehrbuchpersonen vorgeführt werden, dass nicht mehr über sie gesprochen wird, sonderndass die Schüler als sie selbst sprachlich agieren. Sie geben Auskunft über sich, über ihre Welt undwollen das Entsprechende von ihrem Partner erfahren. In diesem persönlichen Kontext erleben sie denInhalt ihrer Äußerungen dann auch nicht mehr als banal und uninteressant. Die Fragen sind für alleSchüler gleich, die Antworten können in Details verschieden ausfallen. Jeder Schüler fertigt ein indivi-duelles Dialogblatt mit ca. 10-15 Fragen und Antworten an. Diese Dialogblätter bilden die Grundlagefür das eigene Lernen. Sie ersetzen gleichsam als Lernmaterial die Texte und vor allem die Übungendes traditionellen Lehrbuchs. Geübt werden immer wieder diese Schülerdialoge, die sowohl mündlichals auch schriftlich verfügbar sind und die meist in Partnerarbeit, aber auch im Gruppenwettbewerboder als Leistungskontrolle abgerufen werden. Diese Sprech- und Schreibübungen umfassen sowohldas jeweils zuletzt behandelte Thema als auch die vorherigen Themen, so dass für ständige Wiederho-lung gesorgt ist.

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Auf die Arbeit mit vorgegebenen Texten, die die mündliche und schriftliche Verstehensfähigkeit entwi-ckeln, kann ich hier nicht eingehen. Nur soviel: Sie nimmt im Unterricht einen großen Raum ein.Durch die Texte, die von Anfang an über das jeweilige Produktionsniveau der Schüler hinausgehen,kommt vor allem die fremde Welt, die französische Kultur in das Blickfeld der Lernenden, so dass sichdie Inhalte, über die die Schüler sprechen können und wollen, über ihre eigene kleine Welt hinaus er-weitern.Innerhalb dieses Unterrichts haben die ‘Lernbausteine’ nun die Funktion, dem Lernenden die Aneig-nung der Formenvielfalt der französischen Sprache zu ermöglichen, ohne dass - wie sonst üblich - diegrammatischen Phänomene eins nach dem anderen systematisch behandelt werden, denn die traditio-nelle, durch das Lehrbuch vorgegebene grammatische Progression lässt sich ja in dem Augenblicknicht mehr realisieren, wo die Lernenden durch ihre Äußerungswunsche die Reihenfolge bestimmen. Sprachliche Formgebilde, die das Pendant zu Ideen, Gedanken, Sinnkonzepten bilden, reichen über dieWortgrenze hinaus und schließen die Morpho-Syntax mit ein. Es handelt sich dabei um Syntagmen, umWortgruppen mit grammatischen Markierungen in bestimmten syntaktischen Positionen. Eine Tren-nung von Lexik und Grammatik ist also in den „Lernbausteinen“ nicht mehr möglich - sowenig wiebeim normalen lebendigen Sprachvollzug. Dass solche umfassenderen Formgebilde sozusagen als ferti-ge Sprachmuster beim muttersprachlichen Sprechen eine große Rolle spielen, und zwar eine weitausgrößere als bisher angenommen, das wird in der linguistischen, der psycho- und der neurolinguis-tischen Fachliteratur zunehmend diskutiert.Die dort verwendeten Termini, formulaic speech, also etwa formelhafte Sprache, grammati-kalisierteLexik oder auch lexikalisierte Grammatik sowie Idiomatizität (s. Bibliographie), sind allerdings miss-verständlich, denn es handelt sich eben nicht nur um Idiomatismen im engeren Sinne, also sprachtypi-sche Wendungen, Redensarten u.ä. und auch nicht nur um jene kommunikativen Routineformeln, diebestimmte stereotype Sprechakte verbalisieren (Merci beaucoup - Au revoir - Je regrette - De rien etc.)und auch nicht nur um verbindliche Floskeln wie z.B. die für den Diskurs typischen Wendungen Com-ment dire? - Tu sais/ Vous savez - Je me trompe peut-être, mais - Il faut bien le dire - Je crois - Si j’aibien compris). Vielmehr ist - und das ist die eigentlich neue und wohl auch revolutionäre Hypothese -die gesamte Sprache betroffen. Formulaic speech - um diesen Ausdruck zu gebrauchen, denn es gibtnoch keinen passenderen - ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Der kompetente Sprecher kannnormalerweise für alle Sinnkonzepte, d.h. für alles, was er sagen will, die entsprechenden Formgebildeals fertige Einheiten abrufen. Ein kreativer Umgang mit diesen Einheiten, d.h. ihr Einsatz als Strukturmuster mit variabler lexikali-scher Besetzung, scheint allerdings nur deshalb möglich, weil zuvor die zugrundeliegende Struktur ‘er-kannt’ wurde, also ein analysierender Abstraktionsprozess stattgefunden hat, der beim Muttersprachen-erwerb unbewusst verläuft. Nach Abschluss des Spracherwerbs stehen dem kompetenten Sprecher wei-terhin verschiedene Verarbeitungsmöglichkeiten zur Verfügung, sowohl holistische als auch analyti-sche, sowohl bewusste als auch unbewusste, und diese verschiedenen Verarbeitungsarten sind nicht sostreng voneinander zu trennen, wie es die dichotomischen Begriffspaare erscheinen lassen. Die Prozes-se befinden sich vielmehr auf einem Kontinuum, auf einer beweglichen Skala zwischen zwei Polen desMehr oder Weniger. Die Inanspruchnahme der einen oder der anderen Verarbeitungsmöglichkeit hängtvon vielen verschiedenen, vor allem auch situationellen Faktoren ab. Wir können beim Sprechen einer-seits auf sozusagen fertig vorliegende Formulierungen zurückgreifen, die wir nicht nach bestimmtenRegeln erst noch ‘generieren’ müssen, wir können jedoch - bei auftretenden Schwierigkeiten - uns angewisse Gesetzmäßigkeiten erinnern und dann, mehr oder weniger bewusst, unsere Äußerungen ent-sprechend konstruieren, überprüfen, korrigieren.Was bedeutet das nun für das Erlernen von Fremdsprachen? Kann die muttersprachliche Kompe-tenzder Schüler, die in unseren Französischunterricht kommen, sie dazu befähigen, ihren Sinnkon-zepten

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auch fremdsprachliche Formgebilde zuzuordnen, die sie ebenso holistisch speichern und verfügbar ha-ben wie die muttersprachlichen? Dies scheint möglich zu sein, und zwar unter folgender Bedingung:Die Lernenden müssen die mit der Muttersprache erworbenen analytischen Kenntnisse in bezug aufsprachliche Formen und deren Funktionen nutzen, um auf dieser Folie nun die fremdsprachlichen For-men zu ‘durchschauen’. Die ‘Lernbausteine’ werden zwar als Ganzheiten gelernt, sie können und müs-sen jedoch gleichzeitig von den Lernenden in ihrer Struktur erkannt werden. Sonst könnten sie nichtkreativ eingesetzt werden. Welche Verarbeitungsarten dabei von den einzelnen Schülern gewählt bzw.kombiniert werden, ob und wie sich das Strukturbewusstsein allmählich entwickelt, das sind offeneFragen für die empirische Unterrichtsforschung, die speziell den Faktor der Individualisierung desLernprozesses ins Visier zu nehmen hat.Anhand des Französisch-Curriculums unserer Erprobungsklassen möchte ich nun einige ‘Lernbaustei-ne’ vorführen und die Arbeit mit ihnen erläutern. Ich greife dabei das grammatische Phänomen derPossessivbegleiter heraus.„L’album de photos“

1. Qui est-ce sur la photo? C’est mon père/ grand-père/ frère/ cousin/ oncle/ copain.C’est ma mère/ grand-mère/ sœur/ cousine/ tante/ copine.Ce sont mes parents/ grands-parents/ frères/ sœurs

2. Et là, c’est toi? Oui, c’est moi.Non, c’est ma sœur.

3. Et là, c’est ton frère/ père...? Oui, c’est mon frère.Non, c’est mon oncle

4. Et là, c’est ta mère/ sœur/ ...? Oui, c’est ma mère.Non, c’est ma cousine.

5. Et là, c’est ton chien/ chat...? Oui, c’est mon chien.Non, c’est le chien de ma copine.

Die Possessivbegleiter erweisen sich beim Thema „L’Album de photos“ als notwendig, wenn die Schü-ler ihre Photoalben mitbringen und kommentieren. Das natürliche Geschlecht der Personen macht dieUnterscheidung zwischen mon und ma für die Schüler kognitiv leicht nachvollziehbar. Doch obwohlsie das Prinzip verstanden haben, sind Verwechslungen (*mon mère, *ma père) beim Sprechen nichtausgeschlossen. Hier muss der Lernbaustein seine Wirksamkeit entfalten: Er besteht zunächst in derVerbindung zwischen dem Begleiter und dem spezifischen Substantiv. Diese Verbindung muss ‘insOhr , um später als Ganzes abrufbar zu sein. Wichtig ist dabei, dass der Schüler die Personen, die er dabenennt (Vater, Mutter, Schwester, Onkel usw), auch tatsächlich als Wirklichkeiten erlebt. Denn nur sofindet die eben erläuterte Verknüpfung von Sinnkonzept und Formentsprechung beim Schüler unterEinbeziehung seiner leiblich-seelisch-geistigen Totalität statt.Das sprachliche Formgebilde mon père oder ma mère wird bei der Ersteinführung (also beim erstenPhoto) fest mit dem weiteren Formgebilde c’est verbunden. Erst beide zusammen ergeben für denSchüler in diesem ersten Augenblick das Sinnkonzept, das er hier versprachlichen will, nämlich dieIdentifizierung einer bestimmten Person auf einem Photo. Folglich lernt er hier den ganzen Satz alsFormentsprechung. Er kennt die Bestandteile des Satzes; sie sind ihm anhand der muttersprach-lichenUmschreibung klargemacht worden; sein Gedächtnis speichert ihn jedoch als Ganzes. Spätestens beider Identifizierung des nächsten Photos wird vom Schüler die erste Tranferleistung verlangt; er be-greift, dass sich das c’est auch mit anderen Formen verbinden lässt. Von c’est mon père kommt er alsozu c’est ma mère oder umgekehrt. Damit hat er ein partiell verändertes Sinnkonzept versprachlicht, wo-bei ein Element gleich geblieben ist.

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Der Umfang der ‘Lernbausteine’ passt sich also dem fortschreitenden Lernprozess an. Was zuerst alseine Einheit gelernt wird, wird später in weitere Bausteine aufgespalten, um kreativ verwendet werdenzu können. Der Schüler erfährt also - manchmal sofort, manchmal erst später - dass das zunächst alsGanzes Gespeicherte aus Formgebilden besteht, die mit anderen eine neue Einheit eingehen können. Inder Anzahl der verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten liegt dann die sozusagen ‘produktive’ Kraftder einzelnen Minimal-Bausteine. Die minimale Größe wird jedoch in der Regel mehr als ein Wort um-fassen.Der Unterschied zu den bekannten, inzwischen als veraltet geltenden Exercices structuraux liegt darin,dass die Aufmerksamkeit des Lernenden sich primär auf die Verknüpfung von erfahrbarem Sinnkon-zept und Formgebilde richtet und dass er dabei mit seiner ganzen Person beteiligt ist. Genau dieses per-sönliche Engagement macht es möglich, die Form anhand manchmal nur eines einzigen Beispiels imGedächtnis zu speichern. Es werden keine Batterien von gleichstrukturierten Übungen abgefeuert, umdie Form per Wiederholung einzuschleifen. Die Habitualisierung erfolgt durch die wiederholte Ver-knüpfung von individuellen Sinnkonzepten mit lexikalisch variierbaren Strukturmustern.Es ist diese Erlebnisqualität, die das Lernen mit Lernbausteinen auch von den Übungen unterschei-det,die nach der Verteufelung des Behaviorismus im Zuge eines m.E. falsch verstandenen Kognitivismusin unseren Lehrbüchern fröhliche Urständ feiern, auch und gerade in der neuesten Lehrwerkgeneration,wie an drei Beispielen gezeigt werden soll.Nicole montre des photos à Valérie. Complète par mon, ma, ton, ta.Nicole: Regarde, là, c’est ...... frère Udo.Valérie: Ah, il est chouette! Et là, c’est ...... mère?Nicole: Oui, et près de ...... mère, il y a ..... chat Bussi (etc.)

(ETAPES 1, 1989, Carnet d’exercices, zu L3, S.17)

Chers parents,Je suis à Fès avec ...... amis. On est dans la famille de ...... copain Feisal. ...... grands-parents sont trèsgentils. (etc.)

(PASSAGES 1, 1998, Schülerbuch, L5, S. 61)

Chez les Lacroix:(le jean - sur le lit): Où est mon jean? - Ton jean? Il est sur le lit.(les cassettes - sur l’étagère): Où sont mes cassettes? - Tes cassettes? Elles sont sur l’étagère. (etc.)(DÉCOUVERTES 1, 1994, Schülerbuch, L4, S. 34, Nr. 6)Ob Einsetzübung innerhalb eines Dialogs oder eines als Fax-Text aufgemachten lückenhaften Briefesoder innerhalb von gleichstrukturierten Satzpaaren - der Schüler muss sich hier darauf konzentrieren,welche als Alternativen vorgegebenen Formen jeweils passen. Dazu muss er das erworbene Wissen:„Männliches Substantiv erfordert die Form mon/ton; weibliches Substantiv erfordert die Form ma/ta,Plural erfordert die Form mes/tes“ auf die Beispiele anwenden. Wenn er das Geschlecht des Substan-tivs nicht kennt (und es ihm auch nicht vorgegeben ist), kann er nur raten. Um die richtige Entschei-dung zwischen den zwei bzw. drei Personen treffen zu können, ist eine Identifizierung mit den Lehr-buchpersonen erforderlich, wobei man wissen muss, wer wer ist. Geübt wird hier also die Anwendungvon Wissen, eine kognitive Leistung, die - trotz aller kommunikativen Einkleidung - weder den Erleb-nishorizont des Schülers berührt noch das Gedächtnis trainiert, um sprachliche Assoziationen zu festi-gen, die es ihm erleichtern würden, im Bedarfsfall die richtigen Formen für seine eigenen Äußerungs-wünsche verfügbar zu haben. Das, was durch diese sog. formzentrierten Übungen bewirkt werden soll,nämlich das unumgängliche Lernen der Formen, wird hier gerade nicht geleistet. Die darauf folgendensog. Mitteilungsbezogenen Übungen können folglich ebenso wenig funktionieren, weil die Basis, die

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Beherrschung der Formen, fehlt. Die allseits beklagten Sprechdefizite unserer Schüler zeigen dies zurGenüge.In dem Konzept der ‘Lernbausteine’ tritt an die Stelle der expliziten Wissensanwendung der impli-ziteTransfer bei der Erarbeitung neuer Sinnkonzepte, z.B. der Sinnkonzepte, die die Form des Possessivbe-gleiters erfordern. In unserem Curriculum ergaben sich nach dem Thema „L’Album de photos“ weitereGelegenheiten bei den Themen „Où j’habite“ und „Fiche amicale“, einem bei den Schülern zur Zeitsehr beliebten ‘Freundschaftssteckbrief’, den wir auf Französisch erarbeiteten (s. Anhang).Die jeweiligen Formen: ton, ta, mon, ma, tes, mes, notre, votre begegnen innerhalb von „Lernbaustei-nen“ unterschiedlicher Größe. Sie werden also nicht etwa als Alternative aus zwei Möglich-keiten aus-gewählt, sondern fest mit ihrer spezifischen Umgebung (dem Substantiv oder dem präpositionalen Aus-druck, z.B. dans ma chambre) verbunden. Da die Schüler sich die Formen nur in der Verknüpfung mitihrem individuellen Sinnkonzept merken, kann es durchaus sein, dass sich die einzelnen Formen unter-schiedlich stark einprägen. Das hängt nicht nur von der Auftretenshäufigkeit ab. Eine wichtige Rollekann z.B. auch die emotionale Beziehung zu den versprachlichten Sinnkonzepten spielen, also zu denphotographierten Personen, der Wohnumgebung, den Vorlieben usw. Hier ist wieder viel Raum fürsensible empirische Erforschung des individuellen Lernprozesses.Das angebliche Bedürfnis der Lernenden nach der systematischen Darstellung grammatischer Phäno-mene verliert viel von seiner Dringlichkeit, wenn der Schüler sein unmittelbares Äußerungs-bedürfnisbefriedigt sieht. Dass es noch weitere Zugehörigkeitsbeziehungen bei den grammatischen Personengibt, die man sprachlich ausdrücken kann, das ist jedem Schüler aufgrund seiner muttersprachlichenKompetenz bekannt. Er kann also auch die allmähliche Vervollständigung des Paradigmas der Posses-sivbegleiter kognitiv gut nachvollziehen und muss nicht in Panik geraten, wenn dies nicht sofort ge-schieht. Ob und wie dann schließlich am Ende des Lernprozesses, d.h. wenn die entsprechenden For-men für die Kommunikation zur Verfügung stehen, eine Systemati-sierung erfolgen kann, das ist einesder empirischen Forschungsthemen in unseren Erprobungs-klassen. Unser Bestreben geht dahin, dieSchüler hier eigene Wege finden zu lassen. Die Systematisierung wird sicherlich anders aussehen alsdie aktuelle Kästchengrammatik. In dieser stehen die einzelnen Formen des Paradigmas alle gleichbe-rechtigt neben- bzw. untereinander. In einem den natürlichen Kommunikationsbedürfnissen folgendenCurriculum werden sich dagegen bestimmte Formen als relevanter, d.h. als notwendiger erweisen alsandere. Es findet also eine ganz andere Gewichtung der Formen statt.Eine mögliche Systematisierung anhand von Lernbausteinen könnte z.B. wie folgt aussehen:J’ai - douze/ treize ansJ’ai - un frère/ une correspondante françaiseJ’ai - beaucoup de copinesJ’ai - un cochon d’IndeJ’ai - une chambre pour moiJ’ai - les cheveux blonds/ les yeux bleusJ’ai - cours/ 33 heures de coursJ’ai - froid / soif/ ...J’ai - de la fièvre/ de la chanceJ’ai - le temps/ la télé/ la radio/ le téléphoneJ’ai - la chance de ...

Je n’ai pas de - frère/ frères/ chat/ chambre pourmoi/ chance/ fièvre

C’est - toi/ ta cousine/ votre jardin/ ungarçon/ qui ...?Mon chanteur/ film préféré, - c’est ...Ma chanteuse/ chanson/ couleur préférée, -c’est ...Mon numéro de teléphone - c’est le ...

C’est - un quartier moderne/ un club defoot?

C’est - où/ près de Weimar/ ici?C’est - à Paris/ à 10 km d’iciC’est - en Thuringe

C’est - quand/ à quelle heure/ à huit heures/demain?

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Je n’ai pas - le temps/ la télé/ la radio/ letéléphoneJe n’ai pas - la chance de ...Je n’ai pas - froid/ soif/ ...Je n’ai pas - cours/ 33 heures de cours

Tu habites - à Iéna?Tu habites - en Allemagne/ en Thuringe?Tu habites - dans une grande ville/ dans un beauquartier/ dans un nouvel appartement?Tu habites - dans le nord de l’Allemagne?Tu habites - près de/ loin de l’école?Tu habites - à combien de km de ...?

Il y a - combien d’élèves/ de musées - dans votreclasse/ ville?Dans ma ville/ maison/ chambre/ école/ classe - ily a - une université/ un ascenseur/ deux étagères/beaucoup de salles de classe/ cinq garçons etquinze filles

C’est - cet après-midiC’est - à huit heures du soir

C’est - chouette/ gentil/ joliC’est - vrai/ exactC’est - facile, mais pas intéressantC’est - plus pratique/ moins cher

Ce n’est pas - bien/ gentilCe n’est pas - vrai/ exactCe n’est pas - trop difficileCe n’est pas - plus cher

Il est - sept heures/ (grand) temps/ tard/minuit

Eine solche oder ähnliche Zusammenstellung - die Form ist noch völlig offen - erfolgt erst, wenn dieSchüler die Strukturmuster, d.h. die ‘Lernbausteine’ beherrschen. Die Präpositionen und Adverbienz.B., die hier vielfältig vorkommen, haben die Schüler innerhalb eines bestimmten, erlebten Kontextesgelernt. Dadurch sind die Formen gegen Verwechslungen sozusagen resistent geworden; sie sind festmit den umgebenden Formen verbunden. Lässt man die Schüler die Präpositionen dagegen im Aus-wahlverfahren einsetzen, wie dies in manchen Lehrbuchübungen immer noch gängig ist, so wird dieVerwechslungsgefahr in geradezu perfider Weise heraufbeschworen. Wer die Präpositionen nichtschon ‚beherrscht‘, hat im Grunde keine Chance.Chez Mme AudiardComplétez par: près de / pour (2x) / chez / avec / contre/ dans / à (2x) / de1. Patrick est ...... sa grand-mère ...... David.2. Mme Audiard habite ...... Canteleu, ...... Rouen. 3. Ils sont ..... la salle de séjour et ils regardent un match ...... foot: Canteleu ...... Rouen. (etc.)(ETAPES 1, Carnet d’exercices, S.18, Nr. 4a)Die Tauglichkeit der lexiko-grammatischen Formgebilde als ‘Lernbausteine’ kann zum einen im curri-cularen Fortgang des Unterrichts in den Erprobungsklassen getestet werden. Der eigentliche Prüfsteinist und bleibt die Art und Weise, wie die Schüler das andersartige Angebot der Einführung von Wort-schatz und Grammatik aufnehmen und für ihren Lernprozess nutzen. Als flankierende Maßnahmen zurEruierung der ‘Lernbausteine’ bieten sich Korpusanalysen an. In Jena wird gegenwärtig ein ca. 150.000Wörter umfassendes Korpus gesprochener Spontansprache auf solche lexiko-grammatischen Formge-bilde durchsucht, um empirisch abgesicherte Hinweise auf die Relevanz der ‘Lernbausteine’ für dieSprachwirklichkeit zu erhalten. Eine weitere Möglichkeit der Überprüfung der Lerntauglichkeit bestehtin der Analyse von Fehlerkorpora. Wenn sich erweist, dass Fehler innerhalb der ‘Lernbausteine’ beson-ders häufig sind (etwa durch falschen Gebrauch von Präpositionen, Artikeln, Pronomen etc.), so könntedas ganzheitliche Lernen von lexiko-grammatischen Formgebilden, denen sich bestimmte Sinnkonzep-te zuordnen lassen, solchen Fehlern vorbeugen und damit den Lernprozess verbessern helfen.

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ANHANG

„Où j’habite“1. Tu habites dans quelle ville? J’habite à Iéna.

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2. Tu habites dans une grande ville? Oui, la ville où j’habite est grande.Oui, j’habite dans une grande ville.Non, je n’habite pas dans une grande ville.

3. Tu habites dans quel quartier? J’habite à Winzerla / Lobeda.C’est un village où j’habite.

4. Tu habites dans un beau quartier? Oui, mon quartier est beau.Oui, le quartier où j’habite est beau.Oui, j’habite dans un beau quartier.Non, mon quartier n’est pas (très) beau.

5. Tu habites dans un nouvel appartement ? Oui, j’habite dans un nouvel appartement :Oui, l’appartement où j’habite est nouveau.

6. Votre appartement a combien de pièces? Notre appartement a (quatre) pièces:7. Tu as une chambre pour toi? Oui, j’ai une chambre pour moi.

Non, je n’ai pas de chambre pour moi.8. Tu partages ta chambre avec qui? Je partage ma chambre avec mon frère / ma sœur/ moncochon d’Inde.9. Qu’est-ce qu’il y a dans ta chambre? Dans ma chambre, il y a ...10. Iéna, c’est où? C’est près de Erfurt / C'est en Thuringe..11. Qu’est-ce qu’il y a dans ta ville? Dans ma ville, il y a ...12. Vous avez une université? Oui, nous avons une université.13. Iéna a combien d’habitants? Iéna a cent mille habitants.

„Fiche amicale“1. Quel est ton nom de famille? N.N.2. Quel est ton prénom? Je m’appelle ... / Je suis ...3. Quel est ton adresse? J’habite onze, rue de X à Iéna.4. Quel est ton numéro de téléphone? Mon numéro de téléphone, c’est le ....5. Ton anniversaire, c’est quand? Je suis né(e) le dix novembre 1983

C’est le vingt mai dix-neuf cent quatre-vingt-quatre.6. Qu’est-ce que tu aimes faire? J’aime jouer du keyboard/ au foot/ avec mes perruches.

J’aime faire de l’équitation/ du bowling /du vélo / du patin à roulettes/ de la gymnastique / de la boxe.

J’aime lire/ écouter de la musique/ J’aime le bricolage.7. Quelle est la couleur de tes cheveux? J’ai les cheveux blonds/ châtains/ châtain clair/ roux/ bruns.8.Quelle est la couleur de tes yeux? J’ai les yeux bleus/ gris vert/ vert marron/ bleu gris/

marron9.Quel est ton film préféré? Titanic. / Mon film préféré, c’est .../ C’est (le film) ...

Je n’ai pas de film préféré.10. Quel est ton groupe préféré? Mon groupe préféré, c’est .../ C’est le groupe ...11. Quel est ton chanteur préféré? Mon chanteur préféré, c’est .../ C’est ...

Je n’ai pas de chanteur préféré.12. Quelle est ta chanteuse préférée? Ma chanteuse préférée, c’est .../ C’est ...

Je n’ai pas de chanteuse préférée.13. Quelle est ta chanson préférée? Ma chanson préférée, c’est .../ C’est (la chanson) ...

Je n’ai pas de chanson préférée.

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14. Quel est ton animal préféré? J’aime les chiens/ les phoques/ les cochons d’Inde/ ...Je n’ai pas d’animal préféré.

15. Qu’est-ce que tu aimes porter comme J’aime porter des jeans (noirs / bleus)/ des pull-overs/vêtements? des pulls larges/ des sweat-shirts/ des foulards/ ...16. Quelle est ta couleur préférée? J’aime le vert/ le brun/ le bleu/ le violet/ le noir/ le jaune/

le rouge/ le gris.17. Quelles sont tes matières préférées? J’aime (assez) l’anglais/ le français/ le dessin/ la musique/

la biologie/ les mathématiques.J’adore le sport.

18. Quel est ton professeur préféré? Mon professeur préféré, c’est .../ C’est ...Je n’ai pas de professeur préféré.

19. Quel est ton club de foot préféré? Mon club de foot préféré, c’est .../ C’est le club ...Je n’ai pas de club de foot préféré.

20. Quel est ton footballeur préféré? Mon footballeur préféré, c’est .../ C’est ...Je n’ai pas de footballeur préféré.

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Schülerorientiert

Krista SegermannSchülerorientierter Französischunterricht: ein Konzept zur Verwirklichung einerdringlichen Forderung(veröffentlicht in: Französisch heute 1999, 281-293)

Die Forderung stammt aus den 70ger Jahren3, doch sie war noch nie so dringlich. Man kann es auchschärfer formulieren: ihre Nichteinlösung droht die vielzitierte "unerfreuliche Situation" des Franzö-sischunterrichts4 dramatisch zu verschlimmern. Die Schüler von heute sind immer weniger bereit (unddeshalb auch nicht mehr fähig), so zu lernen, wie die Schülergenerationen vor ihnen. Die persönlicheEntfaltung, die Frage nach dem Warum spielt in unserer Gesellschaft eine so dominierende Rolle, dassdie Schüler sich nicht mehr in angebliche Notwendigkeiten fügen, deren Sinn sie nicht einsehen. Wardie Vertröstung auf den späteren Nutzen immer schon "pädagogisch unmoralisch"5, so wird sie heutenicht mehr akzeptiert und mit passivem Widerstand beantwortet. Wenn wir es nicht schaffen, unsereSchüler den Nutzwert und die Wirklich-keitstauglichkeit unseres Französisch-unterrichts handfest in je-der Stunde erleben zu lassen und so ihre durchaus vorhandene Motivation aufrechtzuerhalten, geht dieAuszehrung weiter.

Die Äußerungswünsche der Schüler als Motor ihrer LernmotivationEs wird in diesem Beitrag die These vertreten, dass der Französischunterricht (wie der Fremd-spra-chenunterricht im allgemeinen) mehr als jedes andere Fach dafür geeignet ist, auf die Wünsche derSchüler einzugehen, sich also an ihnen und ihren Bedürfnissen zu orientieren. Der sog. 'Sachzwang' isthier nämlich sehr viel kleiner als in Fächern, in denen Wissen über bestimmte Sachgebiete zu vermit-teln ist. Die zu vermittelnde Fremdsprache stellt keinen 'Inhalt' im eigentlichen Sinne dar. Sie bzw. dasWissen über sie ist ja nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Die Schüler brauchen diesprachlichen Formen, um sich in der Fremdsprache mit den Menschen der fremden Kultur verständigenzu können.Man bedient sich der Sprache, wenn man einem anderen etwas darüber mit-teilen, d.h. mit ihm teilenmöchte, was in einem selbst ist, etwas von dem, was an sinnlichen Reizen aus der Umwelt im eigenenKörper durchlebt und im eigenen Bewusstsein verarbeitet wird. Das heißt, Sprache als Medium desmenschlichen Miteinander berührt die ganze Person, ihre Wahrnehmung und ihr Denken ebenso wieihr Fühlen und Handeln. Sollen die Schüler die Fremdsprache in dieser ihrer eigentlichen Funktion er-fahren, so müssen sie sie als Mittel zur Versprachlichung ihrer eigenen Äußerungswünsche erleben.Nur so werden die Formen der fremden Sprache für sie interessant. Die Motivationslage würde sichgrundlegend ändern. Die Schüler selbst wären darauf aus, die notwendigen Formen zu bekommen, siezu lernen und zu behalten, nicht um ihrer selbst willen, sondern um mit ihrer Hilfe ihre Äußerungska-pazität zu erhöhen.Kann diese motivationspsychologisch nahezu ideale Situation tatsächlich zum Ausgangspunkt des Un-terrichts gemacht werden? Widersprechen dem nicht alle bisherigen methodischen Überlegungen undVorgaben? Es ist doch gerade der Formenreichtum der französischen Sprache, der das Erreichen derkommunikativen Lernziele so sehr erschwert. Die Beherrschung der Formen ist schließlich die Grund-voraussetzung für die Kommunikationsfähigkeit. Diese letzte Aussage ist für sich genommen sicherlichrichtig. Die Frage ist nur: Was heißt hier eigentlich 'Beherrschung', und wie ist sie zu erreichen?3 Vgl. Heuer, Helmut (1978). Englischunterricht 'vom Schüler aus'. Der Fremdsprachliche Unterricht. (46), 21-32.4 Becker, Norbert (1997). Einleitung zum Thementeil. Französisch heute, (2), 100; Schneider, Franz (1998). Befragung ei-

nes Leistungskurses zum Französischunterricht. Französisch heute. (2), 216.5 Heuer, ebd., 23.

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Der systemlinguistische FallstrickDas während des Studiums erworbene sprachwissenschaftliche Grundlagenwissen gilt gemeinhin auchals Grundlage für den Sprachunterricht. Die Trennung der Sprache in drei verschiedene Ebenen: diephonetisch-intonatorische (bzw. die orthographische), die lexikalisch-semantische und die morpho-syn-taktische Ebene ist uns durch die linguistische Beschreibung vertraut und hat von daher Eingang gefun-den in unser didaktisch-methodisches Denken. Diese an systemlinguistischen Beschreibungsmodellenorientierten Denkschemata begegnen in der fremdsprachendidaktischen Literatur ebenso wie in den mi-nisteriellen Lehrplänen und den Lehrerhandbüchern der Schulbuchverlage. Sie haben uns außerdem einLeben lang begleitet, angefangen von der eigenen Schulzeit über die sprachpraktischen Übungen desStudiums bis zum gegenwärtigen Unterricht in der Lehrerrolle. Die systematische Darstellung derGrammatik, des Lexikons und - in geringerem Maße - der Phonetik/ Phonologie und Orthographie derFremdsprache ist Ausgangspunkt für die Grammatik-, Wortschatz- sowie Aussprache- und Schreib-kenntnisse, die der Lehrer seinen Schülern beizubringen hat. Dieses zu vermittelnde 'Sprachwissen'wird dann in einem zweiten Schritt von den Schülern in anderen sprachlichen Kontexten 'angewendet',um sich durch ausreichendes Üben allmählich in 'Sprachkönnen' zu verwandeln.Ein solcher Unterricht ist auf eine grammatische Wissens-Progression angewiesen, die sich in den vor-gegebenen Lektionstexten der Lehrbücher niederschlägt und den Unterrichtsablauf bestimmt. Da bleibtkaum Raum für die Äußerungswünsche der Schüler. Die Formen, die für deren Äußerungswünsche er-forderlich wären, sind ja nicht kalkulierbar. Sie sprengen evtl. den Umfang der bis jetzt gelernten Lexikund Grammatik und würden so ein Chaos verursachen, das pädagogisch nicht zu verantworten wäre.Ein methodischer Aufbau, der sich bei der Vermittlung der Formen der französischen Sprache nach denÄußerungswünschen der Schüler richten wollte, muss in einem Unterricht, der seine Schüler vom sys-tematischen Sprachwissen zum kommunikativen Können führen will, illusorisch erscheinen.6

Schülerorientierung verträgt sich also in der Tat schlecht mit dem traditionellen Fremdsprachen-unter-richt. Dass der dort begangene Weg schwierig ist, ja dass er für die Schüler zunehmend schwierigerwird, das zeigen die oft mehr als unbefriedigenden Ergebnisse zur Genüge. Angesichts der Tatsache,dass die Schüler bei der Anwendung alle Formen, die sie einmal gelernt haben, sozusagen "gleichzeitigim Kopf haben" müssen7, könnte man an der Aufgabe verzweifeln - und viele Schüler kapitulieren inder Tat. In dieser Situation muss die ketzerische Frage erlaubt sein, ob die aus dem systemlinguistischen Den-ken abgeleitete methodische Abfolge vom Wissen zum Können wirklich der einzig gangbare Weg ist?Sind nicht vielleicht auch andere Wege denkbar, um den Schülern zur Beherrschung der Formen derfranzösischen Sprache zu verhelfen, und zwar zu einer Formbeherrschung, die Teil der Kommunikati-onsfähigkeit ist?Als Mittel zum Zweck müsste die Formbeherrschung sich darin manifestieren, dass die Schüler für das,was sie sagen wollen, möglichst umgehend die nötigen Formen zur Verfügung hat - zumindest annä-hernd so, wie das beim muttersprachlichen Sprechen der Fall ist. Wenn sie die Formen erst in Gestaltvon Einzelwörtern aus ihrem 'mentalen Lexikon' heraussuchen, nach den gelernten Paradigmen undRegeln mit den richtigen morphematischen Affixen (meist Endungen) versehen und in die richtige syn-taktische Ordnung bringen müssen, so erfordert dies erstens zu viel Zeit und zweitens zuviel kognitive

6 Aus diesem Grunde stoßen auch die sog. 'alternativen Methoden' bei Lehrern der allgemeinbildenden Schulen sofort aufAblehnung, wenn sie für die Orientierung an den Äußerungsbedürfnissen der Schüler plädieren.

7 Es sei hier der Stoßseufzer einer Französischlehrerin wiedergegeben, die die besondere bzw. die schier unlösbare Schwie-rigkeit beim Erlernen der Fremdsprache so charakterisierte: "In jedem anderen Fach kann ich Teile, Ausschnitte behan-deln, einen bestimmten Erdteil, eine bestimmte geschichtliche Epoche; in meinem Fach müssen die Schüler alle Formenauf einmal im Kopf haben, um sprechen zu können. Wie soll man das schaffen?"

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Energie, was auf Dauer nicht durchzuhalten ist. Die Leistungen im freien Sprechen unserer Schüler be-stätigen den Verdacht der kontinuierlichen Überforderung.Vielleicht ist unser Wissensbegriff zu eng gefasst, zu einseitig und zu starr. Vielleicht sind die Vorgän-ge, die sich bei der Übermittlung von Gedanken durch Sprache abspielen, weit komplizierter, als dasssie sich durch solch ein relativ einfaches Wissens-Schema steuern ließen. Es gibt ganz offensichtlichunterschiedliche Möglichkeiten der kognitiven Sprachverarbeitung8, die sich auch überlappen könnenund deren Inanspruchnahme von vielen verschiedenen, vor allem auch situationellen Faktoren abhängt.Neben den bewussten, expliziten und analysierenden Prozessen, auf die unser Unterricht fixiert ist, lau-fen auch unbewusste, implizite, intuitiv-holistische Prozesse ab, die dennoch durchaus als kognitiv zubezeichnen sind9. Das 'Wissen' um die strukturellen Gesetzmäßigkeiten der französischen Sprache, dasdie Schüler zweifellos brauchen, um 'korrekt' zu sprechen, müsste demnach nicht unbedingt in Formvon Regelformulierungen, von Kästchen, Tabellen und Schemata durch den Lehrer im Kopf der Schü-ler aufgebaut werden.Die möglicherweise individuell, von Schüler zu Schüler unterschiedliche Entwicklung des Struktur-be-wusstseins bedeutet nicht, dass die Schüler die fremdsprachlichen Formen erst am Ende korrekt ver-wenden können. Ein höherer Grad an Bewusstheit hat lediglich Auswirkungen auf die Transferfähig-keit und damit die Kreativität bei der Verwendung, nicht aber auf die Korrektheit der Verwendungselbst, d.h. auf die Verwendung in dem Kontext, in dem die Form zum ersten Mal begegnet.Damit bekommt die 'Erstbegegnung' einen entscheidenden Stellenwert. Dass die Umstände der Erstbe-gegnung psychologisch wichtig sind, vermutet man schon lange. Dass das individuelle Engagement derSchüler, d.h. die Bedeutsamkeit für sie persönlich, dabei eine große Rolle spielt, ist ebenfalls unbestrit-ten. Wenn nun die Äußerungswünsche der Schüler gerade in dieser hochsensiblen Situation als Auslö-ser für die Darbietung der neuen Form fungieren könnten, so wäre das lernpsychologisch günstige En-gagement auf ein absolutes Maximum gesteigert.Wie könnte nun die kognitive Verarbeitung und damit das 'Lernen' von Formen aussehen, die nicht inihren formalen Systemzusammenhängen vermittelt, sondern als formale Entsprechungen von individu-ellen Sinnkonzepten auf Verlangen der Schüler geliefert werden?

Fremdsprachliches Lernen als Verknüpfung von Sinnkonzepten mit lexiko-grammatischenFormgebildenSprachliche Formgebilde, die das Pendant zu Ideen, Gedanken, Sinnkonzepten bilden, reichen über dieWortgrenze hinaus und schließen die Morpho-Syntax mit ein. Es handelt sich dabei um Syntagmen, umWortgruppen mit grammatischen Markierungen in bestimmten syntaktischen Positionen. Lexik undGrammatik sind in diesen Gebilden somit untrennbar miteinander verbunden.Der Umfang dieser Formgebilde kann sehr unterschiedlich sein. Er wird durch den Umfang der Sinn-konzepte bestimmt, die hier ihre sprachliche Äußerungsform finden. Im folgenden seien exemplarischeinige der Äußerungen genannt, die Schülern im 1. Lernjahr (Klasse 7) als französische Formentspre-chungen zu ihren (auf deutsch umschriebenen10) Sinnkonzepten gegeben wurden. Als auslösende undinhaltsbestimmende Situation dient das Gespräch mit dem (z.T. schon realen) französischen Partner, sodass alle Sinnkonzepte in Dialogform versprachlicht werden11:

8 Vgl. die z.Zt. rasant anwachsenden Forschungen aus diesem Wissenschaftszweig.9 Vgl. den Begriff des 'kognitiven Unbewußten' (cognitive unconscious), wie er z.B. bei A.S. Reber begegnet.10 Ein dogmatisches Einsprachigkeitsverständnis mag hieran Anstoß nehmen. Es handelt sich jedoch nicht um Übersetzung,

sondern um die Notwendigkeit, den Äußerungswunsch in einer sprachlichen Form zu artikulieren.11 Das Unterrichtsmaterial stammt aus einem Projekt, in dem das hier vorgestellte Konzept in einigen Thüringer Schulen ge-

genwärtig erprobt wird, und zwar mit jeweils 10 Klassen im ersten und zweiten Lernjahr und mit zwei Klassen im dritten

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Thema: "Moi et ma famille"Tu as quel âge? J'ai douze/ treize ans.Tu as des frères et sœurs? J'ai un frère/ une sœur, mais je n'ai pas de sœur/ frère.

Thema: "Où j'habite"Tu habites dans un beau quartier? Oui, le quartier où j'habite est beau.Tu as une chambre pour toi? Non, je partage ma chambre avec ma sœur/ mon frère.

Thema: "Mon copain/ Ma copine"Quelle est la couleur de ses cheveux? Il/ Elle a les cheveux blonds/ bruns.Qu'est-ce qu'il/ elle aime faire? Il/ Elle aime jouer à l'ordinateur/ faire de la gymnastique

/écouter de la musique.Thema: "Mon école"Comment vas-tu à l'école? J'y vais en bus/ à pied.Tu fais partie de la chorale? Non, je ne fais pas partie de la chorale.

Thema: "Les vacances de Pâques"Quand est-ce que les vacancesde Pâques commencent? Elles commencent le 24 mars Combien de temps vas-tu resterchez ta cousine? Je vais rester une semaine.

Thema: "Après les vacances"Où est-ce que tu as passé les vacances? J'ai passé quelques jours à Munich.Tu t'es levé(e) tard le matin? Oui, je me suis levé(e) très tard.

Thema: "Notre journée de randonnée"Quand est-ce que vous êtes partis? Nous sommes partis à neuf heures.Vous avez fait combien de kilomètres? Au total, nous avons fait 18 kilomètres.

Thema: "Ma journée"Tu déjeunes à la maison? Non, je déjeune à la cantine .Quand est-ce que tu fais tes devoirs? Je les fais vers deux heures.

Thema: "Ma correspondance"Tu as reçu une lettre de France? Oui, mon/ ma correspondan(e) m'a envoyé une lettre.Tu lui as déjà répondu? Non, mais je vais lui répondre dans quelques jours.Die Äußerungen werden so dargeboten, dass die Schüler ihre Struktur durchschauen, d.h. dass sie ver-stehen, mit welchen formalen Mitteln die französische Sprache ihre Sinnkonzepte ausdrückt. Eine er-klärende Bewusstmachung ist bei strukturellen Unterschieden zwischen Mutter- und Fremdsprache12

unumgänglich. So ist den Schülern z.B. zu erklären, dass das Sinnkonzept der Altersangabe im Franzö-sischen nicht dadurch ausgedrückt wird, dass man "alt ist", sondern dadurch, dass man "Jahre hat (aufdem Buckel)". Die muttersprachliche Hilfsumschreibung macht die fremdsprachliche Struktur für jedenSchüler erkennbar und fassbar. Man kann hier auf vorhandenes 'Wissen' zurückgreifen, denn mit demErwerb ihrer Muttersprache haben unsere Schüler auch die kognitiven Kategorien zur Wahrnehmung,

Lernjahr (Klassen 7-9). Das vollständige Material und eine Beschreibung des konkreten Unterrichtsverlaufs können beider Autorin unter der angegebenen Anschrift angefordert werden.

12 Sie sind im Falle des Französischen trotz allem in der Minderzahl.

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Verknüpfung, Kategorisierung und Hierarchisierung ihrer Umwelt, also allgemeine Organisationsprin-zipien der Erfahrung erworben, mit deren Hilfe die Welt 'begreifbar' wird. So 'kennt' jeder Schüler dieKategorien von Ortsangabe oder Zeitangabe - der qualitativen oder quantitativen Bestimmung von Per-sonen, Sachen oder Handlungen und Ereignissen - der Identifizierung von Personen oder Sachen - derPronominalisierung - der Angabe des Vorhandenseins von Sachen oder Personen - der Angabe vonGrund und Folgewirkung usw. Auch die bekannten grammatischen Kategorien von Person, Numerus,Tempus, Modus, Kasus lassen sich funktional, als Sinnkonzepte, fassen, nämlich dergestalt, dass manin einer Ich/Du/Sie/Ihr-Beziehung oder von dritten Personen spricht, von einer Person oder mehreren,von Gegenwärtigem, Vergangenem oder Zukünftigem, ob man es mit Tatsachen, Bewusstseinsinhalten,Werturteilen oder Gefühlsaussagen zu tun hat, wer Handlungsträger und wer Objekt der Handlung istusw. In der Formulierung klingen diese Sinnkonzepte recht abstrakt, in der praktischen Sprachaus-übung, also etwa beim Sprechen, sind sie jedoch jedem Sprachbenutzer, auch unseren Schülern, bes-tens bekannt, und zwar aufgrund ihrer muttersprachlichen Kompetenz.Indem wir dieses 'Wissen' nutzen, eröffnen wir den Schülern einen Zugang zur Fremdsprache, der sienicht mehr als total Unwissende dem allwissenden Lehrer aussetzt, sondern der sie als 'Spracherfahre-ne' die fremdsprachlichen Formen für ihre Sinnkonzepte einfordern läßt. Denn nur diese spezifischen(französischen) Formentsprechungen sind ihnen unbekannt. Die zahlreichen, in den zitierten Äußerun-gen enthaltenen grammatischen Erscheinungen (Subjektpronomen, Objektpronomen, Pronominaladver-bien, bestimmter und unbestimmter Artikel, Verbformen der verschiedensten Konjugationen, Stellungund Veränderlichkeit des Adjektivs, Relativsatz, Fragewörter, Frageformen, Futur composé, Passécomposé und Présent, Verneinung, Steigerung usw. ) müssen ihm nicht als solche in ihrer abstraktenSystematik präsentiert werden. Wenn sie ihm in ihrem lebendigen funktionalen Zusammenhang, inner-halb eines größeren lexiko-grammatischen Formgebildes als Pendant zu seinen Sinnkonzepten begeg-nen, so hängen sie deswegen doch nicht 'in der Luft'. Sie ordnen sich vielmehr aufgrund der unbewusstverfügbaren muttersprachlichen Kompetenz (evtl. auch der Kompetenz in einer anderen Fremdsprache)in ein Wissenssystem mit unterschiedlichen Graden der Bewusstheit ein. Dem Schüler, der z.B. bei derBehandlung des Themas "Où j'habite" (s.o.) diese indirekte Frageform als Relativsatz in seine Antwortübernimmt, hat dabei sein 'Wissen' um die Funktion eines Relativsatzes13 genutzt, ohne sich vermutlichdarüber klar zu sein, dass das übernommene Formgebilde grammatisch gesehen zwei verschiedenePhänomene darstellt. Zu diesem Zeitpunkt des Lernprozesses ist dies jedoch auch gar nicht nötig. Desweiteren ist es - für die korrekte Verwendung dieser speziellen Form - auch nicht erforderlich, dieSchüler mit den übrigen formalen Möglichkeiten eines Relativsatzes zu konfrontieren.Das gleiche gilt z.B. für die Erscheinungen der Objektpronomen der 3. Person: das direkte Objektpro-nomen könnte zunächst nur in Gestalt von les, etwa beim Thema "Ma journée" (s.o.)14, auftreten, dasindirekte als lui beim Thema "Ma correspondance" (s.o.). Eine bewußt kognitive Gegenüberstellungvon le, la, les und lui, leur in speziellen 'Grammatikübungen' könnte (und sollte) man sich sparen, dasie u.U. die (oft bis ins Hochschulstudium hinein andauernde) Unsicherheit und Fehlerängstlichkeit erstprovoziert. Welche Verben mit welchen Objekten stehen, ist keine Sache des kognitiven Verstehens,sondern des wiederholenden praktischen Sprachgebrauchs. Die relative 'Fruchtlosigkeit' so manchergrammatischer Übungen könnte sich dadurch erklären, dass sie nur die Anwendung eines theoretischen

13 Die für die Schüler intuitiv faßbare Funktion besteht eben nicht in der in den Grammatikbüchern beschriebenen Funktiondes Relativpronomens, "einer Nominalgruppe einen Satz unterzuordnen" (Klein/ Kleineidam: Grammatik des heutigenFranzösisch, S. 94), sondern in der hier notwendigen Spezifizierung von le quartier, die sich aus der sonst zwangsläufigauftauchenden Frage quel quartier? ergibt.

14 Im konkreten Fall der Pilotklasse fand die Einführung beim Thema "Mon école" statt, als die vielsilbige Formulierung leslangues étrangères durch das Pronomen les bei der Frage Tu les apprends depuis quand? ersetzt wurde. Beim Thema "Majournée" wurde die Pronominalisierung von mes devoirs dann von den Schülern selbst vorgenommen.

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Verständnisses (hier des grammatischen Phänomens der verschiedenen Verbvalenzen) praktizieren,nicht jedoch die Verknüpfung der passenden Form mit dem durch sie ausgedrückten Sinnkonzept.

Kreativer Transfer und funktionale SystematisierungDas intuitive Funktionsverständnis auf der einen Seite und die 'Erlebnisqualität', d.h. der intellektuell-emotionale Bezug der Formgebilde zu den eigenen Sinnkonzepten auf der anderen Seite - diese beidenbisher kaum in Betracht gezogenen lernpsychologischen Potenzen ermöglichen es den Schülern, dieVielfalt der französischen Formen in ihrem lebendigen Zusammenhang zu 'verstehen' und zu 'lernen'.In der Erstbegegnung werden die Formen also keineswegs künstlich vereinzelt und rein 'imitativ' ge-lernt. Vielmehr wird sofort ein Strukturbewusstsein angebahnt, das sich durch die ständig gefordertenTransferleistungen kontinuierlich weiterentwickelt. So lässt sich z.B. durch den Lehrerhinweis "Einigesvon dem, was wir jetzt brauchen, kennt Ihr schon" die Aufmerksamkeit der Schüler leicht auf die trans-ferfähigen Teile lenken. Es sind dann wiederum die Äußerungswünsche des Schülers (und nicht lehrer-gesteuerte 'Anwendungsübungen'), die den Transfer initiieren. Die Schüler merken, dass einzelne Teileaus den schon gelernten Äußerungen gleichsam als 'Bausteine' wiederverwendet und neu zusammenge-setzt werden können.15 Auch morphologische Anpassungen (meist Endungen) sind per Analogiebil-dung von den Schülern selbst zu leisten.16

Damit wird deutlich, dass eine grammatische Progression, die sich an den Äußerungswünschen derSchüler orientiert, keineswegs ins Chaos führen muss. Der Kosmos der Formen im Kopf der Schülerhat nur eine andere Gestalt und entspricht nicht der gängigen systemlinguistischen Systematik. An ihreStelle tritt eine Art funktionaler Systematik, die sich erst allmählich herauskristallisiert und die von denSchülern selbst aufgrund ihres 'Könnens', ausgehend von der situations- und konzeptgebundenen Be-herrschung, gefunden und festgehalten wird. Die konkrete Form dieser Systematisierung sollte nichtvorgegeben, sondern mit den Schülern, ihrem Lerntyp entsprechend, erarbeitet werden.17

15 Im ersten Lernjahr hat sich das konkrete Hantieren mit diesen 'Bausteinen', die isoliert auf festen Karton geschrieben unddann wieder unterschiedlich zusammengesetzt wurden, vor allem für schwächere Schüler als sehr lernwirksam erwiesen.

16 Die "Dialogblätter" des ersten Lernjahres, die die konkrete Erarbeitung der Themenbereiche durch die Pilotklasse wieder-geben, zeigen die Fülle von Transfermöglichkeiten für die verschiedensten grammatischen Phänomene, die fast ausnahms-los von den Schülern selbst gefunden wurden.

17 Zu möglichen funktionalen Systematisierungsansätzen vgl. den Anhang, wo - ausgehend von häufig vorkommenden Bau-steinen - unterschiedliche Kombinationen zusammengestellt sind.

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Zwiefaches Einprägen und Behalten: die Laut-Schrift-EntsprechungEin immer schon beklagtes Phänomen des Fremdsprachenunterrichts, das heute jedoch besonders gra-vierend zu sein scheint, ist das Vergessen. Im Kampf gegen das Vergessen werden heute 'Trainer' ange-boten, die die modernen medialen Möglichkeiten nutzen, um die durch eben diese Möglichkeiten ver-ursachte Konzentrationsschwäche auszugleichen. Technische Neuerungen allein, ohne angemessenelernpsychologische Fundierung, sind jedoch kaum imstande, Verbesserungen der Behaltensfähigkeitherbeizuführen.Eine wesentliche Stütze für das langfristige Einprägen sprachlicher Elemente könnte die doppelte Re-präsentation im Medium von Laut und Schrift sein.18 Hier tut sich jedoch ein Unterrichtsproblem auf,das als negative Interferenz, als unzulässige Übertragung muttersprachlicher Aussprache- und Schreib-gewohnheiten auf die Fremdsprache, nur allzu bekannt ist. Ein großer Teil der Schwierigkeiten, die un-serer Schüler mit Aussprache und Orthographie haben, geht auf dieses Konto. Die falsche Systemüber-tragung erfolgt in dem Maße, wie den Schülern die Eigengesetzlichkeit des fremdsprachlichen Laut-bzw. Schriftsystems und vor allem die Eigengesetzlichkeit der Zuordnung dieser beiden Systeme ver-borgen ist. Bei Unkenntnis bzw. mangels besseren Wissens greifen automatisch die muttersprachlichenGewohnheiten. Der beste Weg, dem entgegenzuwirken, wäre also, das andersgeartete Beziehungssys-tem deutlich zu machen. Wenn den Schülern von Anfang an klargemacht wird, dass die Franzosennicht nach unserem System sprechen und schreiben, sondern ihr eigenes System haben, das wir folglichlernen müssen, so ist zunächst einmal eine wichtige psychische Barriere überwunden. In gleicher Wei-se, wie die Schüler akzeptieren, dass die französischen Äußerungen anders strukturiert, anders gebautsein können als im Deutschen, so sind sie auch bereit, ein neues Zuordnungssystem von Laut undSchrift zu lernen, sozusagen 'auf Französisch' zu sprechen und zu schreiben, d.h. z.B. die Buchstaben-folge AUTO quasi 'automatisch' als [oto] zu realisieren, und nicht als [auto] oder die Lautfolge [�ofœr]nicht SCHOFÖR zu schreiben, sondern eben CHAUFFEUR, weil sie gelernt haben: [�] = ch, [o] = au,[œ] = eu.Das Wissen um die Laut-Schrift-Entsprechungen und vor allem die Einstellung zu diesem Phänomenmacht die Schüler ein Stück weit unabhängig von der Vorgabe des Lehrers. Sie können - im Idealfall -Geschriebenes selbständig 100% lautgerecht lesen, und sie können Vermutungen darüber anstellen, wiedas Gesprochene geschrieben wird. In dieser Richtung (vom Laut zur Schrift) kann die Trefferquotenicht 100% sein, weil es ja oft mehrere Möglichkeit der Verschriftung von Lauten bzw. Lautkombina-tionen gibt. Dass die hier herrschenden, scheinbar komplizierten Gesetzmäßigkeiten dennoch darstell-bar19 und lernbar sind, hat sich bei der Realisierung des vorgestellten Unterrichtskonzepts in den Thü-ringer Erprobungsklassen gezeigt. Die Laut-Schrift-Entsprechungen werden den Schülern nicht in ihrer Gesamtsystematik vorgegeben.Sie werden mit ihnen erarbeitet, und zwar im Zusammenhang mit den lexiko-grammatischen Formge-bilden, die sie zur Versprachlichung ihrer Sinnkonzepte benötigen. Die gewünschten französischen Äu-ßerungen werden jeweils in ihrer doppelten Gestalt, also mündlich und schriftlich eingeführt und vonden Schülern auch in ihrer doppelten Gestalt gelernt, wobei sowohl die Lautvorstellung als auch dieSchriftvorstellung jeweils besonders eingeprägt werden. Die Klanggestalt erhält dabei einen kurzenVorsprung.20 Das Neue wird immer zuerst mündlich präsentiert und aufgenommen. Nach dem erstenmündlichen Einsprechen (dreimaliges Chorsprechen) werden die Dialogäußerungen von den Schülern

18 Sobald man mit der Schriftkultur in Berührung gekommen ist, genügt die reine Mündlichkeit nicht mehr. Man verlangtauch in der fremden Sprache nach der Verschriftlichung.

19 Eine tabellarische Darstellung der Laute bzw. Lautkombinationen der französischen Sprache unter dem Aspekt der Lern-schwierigkeiten, die sich für deutschsprachige Lernende im Zusammenhang mit ihrer Verschriftlichung ergeben, kann beider Autorin angefordert werden.

20 Eine rein mündliche Phase (ca. 6-8 Stunden) steht auch am Anfang dieses Unterrichtsmodells.

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selbst verschriftlicht, gemäß ihrem bisherigen Wissen um die Entsprechungen. Sie schreiben alsogrundsätzlich nie mehr ab, sondern versuchen sich immer erst selbst an der Schreibaufgabe, die ihnenmeist als motivierende Herausforderung, kaum je als Überforderung erscheint. Nach dem Aufschreiben(und korrigierenden Vergleich mit dem Tafelanschrieb) werden die Schüler aufgefordert, sich beimnochmaligen Sprechen das Schriftbild bei geschlossenen Augen vorzustellen. Wer dabei Schwierigkei-ten zu haben meint, schreibt die ganze Äußerung oder die schwierigen Teile einmal oder mehrmals insein Heft. Das Einprägen von Klang- und Schriftgestalt erfolgt also immer parallel und in eigener Ver-antwortung, je nach den individuellen Lernbedürfnissen.Sobald genug Material für einen bestimmten Laut vorhanden ist, erfolgt die Systematisierung in Tabel-lenform. Die Schüler gestalten selbst ein Blatt (mit Lehrerhilfe), das die möglichen Schrift-entsprechungen für einen Laut enthält. Sie finden auch die Wörter selbst und ordnen sie selbst (evtl. mitHilfe). Diese Listen, deren Erarbeitung sich über einen längeren Zeitraum (mehrere Monate) erstreckenkann, werden regelmäßig mit dem neuen Vokabular ergänzt.21

Leistungssteigerung beim Sprechen und HörverstehenDie das Gedächtnis stützende Koppelung von Klang- und Schriftgestalt22 kommt nicht nur der Ausspra-che und der Orthographie zugute. Die Tatsache, dass das Lernmaterial mündlich wie schriftlich mitgleicher Sicherheit verfügbar ist, hat auch einen günstigen Einfluss auf die Entwicklung der Kommuni-kationsfähigkeiten, vor allem auf das Sprechens und das Hörverstehen, den eigentlichen Sorgenkinderndes Unterrichts.Durch das übende Wiederholen der Themendialoge (meist in Partnerarbeit, gelegentlich auch als Grup-penwettbewerb einsetzbar) gewöhnen die Schüler sich an ein zügiges Versprachlichen ihrer Sinnkon-zepte, d.h. sie sprechen in normalem Tempo, hören aufeinander und konzentrieren sich auf den Inhaltder Äußerungen. Rein mündliches Arbeiten auch über längere Strecken stellt deshalb kein Problemmehr dar. Ausgehend von diesem soliden Fundament lassen sich dann allmählich auch freiere Formendes Sprechens ausprobieren, wo die Schüler das sichere Gelände verlassen und lernen, ihre sprachli-chen Mittel im Hinblick auf ein größtmögliches Gelingen der Kommunikation einzusetzen. Zu denkenist z.B. an spielerische Improvisation23, an freie Interviews u.ä. Beim Verstehen von Hörtexten24 kommt den Schülern ihre durchgängig auf Kommunikation eingestell-te Lernhaltung zugute. So wie sie beim Sprechen auf das eigene Sich-Äußern (über Sachverhalte, Ge-danken, Gefühle) konzentriert sind, so steht für sie auch bei der Rezeption das Inhaltliche im Blick-punkt des Interesses. Hier treten die Schüler aus ihrem eigenen Lebenskreis heraus und wenden sichder Welt, und zwar der durch die französische Kultur geprägten Welt zu. Sie wollen sich informieren,etwas über den Anderen erfahren. Da sie gelernt haben, umfangreichere Lautketten mit Sinnkonzeptenzu verknüpfen, versuchen sie auch bei komplexeren Hörtexten, aus dem, was an ihr Ohr dringt, identi-fizierbare Sinn-Inseln zu bilden, von denen aus sie dann das weniger Deutliche erschließen. Auf dieseWeise entwickeln sie eine Hörverstehensfähigkeit, die weit über ihrer Produktionsfähigkeit liegt - wasdem normalen Gefälle von der rezeptiven zur produktiven Sprachbeherrschung entspricht.Eine spezielle Hörverstehensübung, die auf der assoziativen Zuordnung von Klang- und Schriftgestaltberuht, besteht darin, dass man den Schülern jeweils kleinere Abschnitte eines Hörtextes darbietet und21 Eine Re-Kontextualisierung der Wörter (die ja in dem hier vorgestellten Unterrichtskonzept sonst nicht mehr in ihrer Ver-

einzelung in Erscheinung treten) erfolgt dadurch, dass die Schüler sich - z.B. bei den Wörtern mit dem geschlossenen e-Laut, der mit é umschrieben wird - die ganze Äußerung ins Gedächtnis rufen, in der sie das jeweilige Wort gelernt haben.

22 Bei beiden kommt natürlich noch etwas hinzu, nämlich die prosodischen Merkmale bei der Aussprache und die gramma-tische Schreibung bei der Orthographie.

23 Vgl. Kurtz, Jürgen (1997). Improvisation als Übung zum freien Sprechen. Englisch. (3), 87-97.24 Der Mangel an geeigneten, d.h. für die Schüler interessanten Texten ist hier besonders schmerzlich spürbar.

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sie auffordert, sich das Gehörte geschrieben vorzustellen. Wenn sie bei der anschließenden Präsentationdes geschriebenen Textes nun plötzlich eine Formulierung verstehen, die sie beim bloßen Hören nichtverstanden haben, so bedeutet dies, dass die Klanggestalt weniger geläufig ist als die Schriftgestalt.Dem ist dadurch abzuhelfen, dass die Schüler sich nun merken, wie diese speziellen Formulierungen,die sie im schriftlichen Medium verstehen, im mündlichen Medium ‘klingen’, d.h. dass sie sich mer-ken: was so geschrieben wird, klingt, wenn es gesprochen wird, so. Vorbedingung für die Wirksamkeiteiner solchen Übung ist allerdings, dass im Unterricht durchgängig in normalem Tempo gesprochenwird, damit sich das Ohr an die normale25 Sprechweise gewöhnt.

Konsequenzen für die Konzeption von LehrwerkenAuch schülerorientierter Französischunterricht kann (und soll) nicht ohne Lehrbuch praktiziert werden,doch er braucht andere Lehrwerke. Er braucht eine neue Lehrwerkkonzeption. In dieser Konzeptionfindet die Einführung von neuem Wortschatz und neuer Grammatik nicht mehr über vorgegebene Lehr-buchtexte statt, sondern - wie oben dargestellt - durch die gemeinsame Erarbeitung von themengebun-denen Dialogen, deren inhaltliche Aussagen von den Schülern bestimmt werden. Das bedeutet, dass dieSchüler ihr ‘Lehrbuch’ - soweit es die produktiven Texte angeht - selbst erarbeiten und nach ihrem Ge-schmack gestalten. Die von jedem Schüler nach seinen individuellen Inhaltsgegebenheiten zu erarbei-tenden Dialogblätter26 werden z.B. in einem Heft (mit festem Einband) gesammelt, evtl. ausgeschmücktund mit zusätzlichen Postern (Photos, Zeichnungen mit Bildunter-schriften und Kommentaren) verse-hen. Dazu kommen kreative Schreibarbeiten (Gedichte, Résumés von Gelesenem, Gehörtem, Gesehe-nem) und später Dossiers (kommentierte Zusammenstellung von selbst gesuchtem Material z.B. zu lan-deskundlichen Themen). Diese selbst erstellten Texte bilden die Grundlage für das Lernen. Dieses Ma-terial wird ergänzt durch die selbst erstellten Tabellen zur Systematisierung der lexiko-grammatischenFormgebilde und der Laut-Schrift-Zuordnung. Damit entfallen alle anderen, auf Teilkompetenzen spe-zialisierten Übungen, wie sie in den gängigen Lehrbüchern vorkommen. Ein solches individuelles,selbst erstelltes Lehrbuch würde einen ganz anderen motivationalen Stellenwert (und evtl. auch Erinne-rungswert) bekommen als das (meist später wieder abzuliefernde) vorgefertigte Verlagsprodukt. Was den Schülern vorgegeben werden muss, und zwar in ausreichender Vielfalt - sozusagen als Mate-rialpool - das sind Lesetexte in einer Art Lesebuch und Hörtexte (in Form von Kassetten oder CDs) ausder Sprachwirklichkeit. Diese Texte müssten so interessant und lebensnah sein, dass der Schüler mitRecht das Gefühl haben kann, das Verstehen dieser nicht ganz leichten fremdsprachlichen Texte sei dieAnstrengung wert und werde durch Lese- und Hörfreude belohnt. Hier sind ganz neue Wege zu gehen.Eine Möglichkeit wäre, sich an gleichaltrigen französischen Partnern zu orientieren - sowohl für Sacht-exte als auch für literarische Texte - und sich evtl. von diesen Partnern auch Vorlagen für zu rezipieren-de Paralleltexte zu den Schülerdialogen liefern zu lassen.Dem Lehrerbuch kommt in dieser Konzeption zwangsläufig eine ungleich wichtigere Rolle zu. Dennhier erhält die Lehrer die Informationen, die er für die Verwirklichung eines relativ freien, schülerori-entierten Unterrichts braucht. Das heißt, es müssen ihm Themendidaloge mit möglichst vielen Varian-ten zur Verfügung gestellt werden, um auf die evtl. auftauchenden Äußerungs-wünsche der Schülersprachlich vorbereitet zu sein. Außerdem wären weitere hilfreiche Informationen sprachlicher und in-haltlicher Art sowie anregende Muster von möglichen kreativen Schülerarbeiten zu liefern. Eine solcheAbsicherung und Hilfe ist unabdingbar, da ansonsten der Arbeitsaufwand für den Lehrer nicht zu ver-antworten wäre. Grundsätzlich bedeutet diese Art des Unterrichtens nämlich nicht mehr Arbeit für den

25 Den vor allem durch hohes Sprechtempo bedingten besonderen Schwierigkeiten authentischer Hörtexte (Radio, Fernse-hen) ist durch weitere Übungen zu begegnen.

26 Die Furcht, dass das zu vermittelnde Sprachmaterial zu sehr auseinanderdriftet, ist nach den bisherigen Erfahrungen mitden Erprobungsklassen unbegründet.

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Schülerorientiert

Lehrer, abgesehen von der psychischen Belastung, die die Umstellung einer Lehrhaltung mit sichbringt, die allen Ernstes die Lehrerzentriertheit mit der Schülerorientierung vertauscht. Ist die Umstel-lung erst einmal vollzogen, werden Kräfte freigesetzt, die Lehrern und Schülern einen Französischun-terricht bescheren könnten, der zugleich effektiver ist und mehr Freude macht.

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Schülerorientiert

ANHANG

J’ai - douze/ treize ansJ’ai - un frère/ une correspondantefrançaiseJ’ai - beaucoup de copinesJ’ai - un cochon d’IndeJ’ai - une chambre pour moiJ’ai - les cheveux blonds/ les yeuxbleus

J’ai - cours/ 33 heures de coursJ’ai - froid / soif/ ...J’ai - de la fièvre/ de la chanceJ’ai - le temps/ la télé/ la radio/ letéléphoneJ’ai - la chance de ...

Je n’ai pas de - frère/ frères/ chat/ chambrepour moi/ chance/ fièvre

Je n’ai pas - le temps/ la télé/ la radio/ letéléphoneJe n’ai pas - la chance de ...Je n’ai pas - froid/ soif/ ...Je n’ai pas - cours/ 33 heures de cours

Tu habites - à Iéna?Tu habites - en Allemagne/ en Thuringe?Tu habites - dans une grande ville/ dans unbeau quartier/ dans un nouvel appartement?Tu habites - dans le nord de l’Allemagne?Tu habites - près de/ loin de l’école?Tu habites - à combien de km de ...?

C’est - toi/ ta cousine/ votre jardin/ ungarçon/ qui ...?Mon chanteur/ film préféré, - c’est ...Ma chanteuse/ chanson/ couleur préférée, -c’est ...Mon numéro de teléphone - c’est le ...

C’est - un quartier moderne/ un club de foot?

C’est - où/ près de Weimar/ ici?C’est - à Paris/ à 10 km d’iciC’est - en Thuringe

C’est - quand/ à quelle heure/ à huit heures/demain?C’est - cet après-midiC’est - à huit heures du soir

C’est - chouette/ gentil/ joliC’est - vrai/ exactC’est - facile, mais pas intéressantC’est - plus pratique/ moins cher

Ce n’est pas - bien/ gentilCe n’est pas - vrai/ exactCe n’est pas - trop difficileCe n’est pas - plus cher

Il y a - combien d’élèves/ de musées - dansvotre classe/ ville?Dans ma ville/ maison/ chambre/ école/classe - il y a - une université/ unascenseur/ deux étagères/ beaucoup desalles de classe/ cinq garçons et quinzefilles

Il est - sept heures/ (grand)temps/ tard/ minuit

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Wie der Lehrer

Krista Segermann

Stundenbeispiele im Gespräch: „Wie der Lehrer, so der Schüler“ - Unterrichtsführung und Lernleistung(veröffentlicht in: Französisch heute 4/2001, S. 448-457)

Einführende Gedanken zum ThemaDie Themenformulierung könnte auf manch einen schon anstößig wirken. „Führung“, das klingt so au-toritär. Und „Leistung“ ist auch nicht gerade ein unbescholtener Begriff. Schulstress und psychothera-peutische Beratung tauchen als Negativzeichen im Hintergrund auf. Die gewählten Bezeichnungenkönnten auch sozusagen eine restaurative Tendenz signalisieren, zurück zur guten alten Zeit, wo derLehrer das Heft noch in der Hand hatte, und die Schüler noch motiviert waren, Leistung zu erbringenund „die harte Arbeit des Lernens auf sich zu nehmen“ - so ein Leserbrief in der Verbandszeitschriftdes FMF, Neusprachliche Mitteilungen, H. 4, 1997, S. 245.Diese Art von polarisierender Diskussion, wo der Gesprächspartner auf bestimmte, vorzugsweise extre-me Positionen festgelegt wird, führt meist nicht weiter, baut Fronten auf und verhärtet sie. Extrem-aussagen wie z.B.: „Richtiges Lernen tut weh und macht im Grunde keinen Spaß“ (zit. Leserbrief) rei-zen zum Widerspruch und heizen negative Emotionen an. Da wir jedoch bei allen unseren Unterneh-mungen, auch den intellektuellen, zwangsläufig mit unserem gesamten psycho-physischen Befinden,einschließlich des erinnerten, involviert sind, wir also Vor-Einstellungen, Vor-Urteile, Prägungen, Ge-fühle usw. nicht ausklammern können, sollten wir uns darauf verständigen, dass wir grundsätzlich aufder Suche sind, und zwar auf der Suche nach Möglichkeiten, wie man den unterschiedlichen Aspekten,die beim Wirklichkeitsausschnitt ‘Unterricht’ beteiligt sind, gerecht werden kann, wie man sie alle ir-gendwie berücksichtigen und miteinander in Einklang bringen kann. Wir sind sozusagen dazu verur-teilt, nichts zu vergessen, das Gleichgewicht zu wahren, sonst „bestraft uns das Leben“ in unserenKlassen.Manch ein begnadeter Lehrer schafft dies per Intuition. Doch das ist, wie gesagt, eine Begnadung, dieman kaum erwerben kann. Andererseits ist der Reflexionsdruck heutzutage so stark, dass sich kaum je-mand der Flut von Räsonnements, Prinzipien, Hypothesen und Erkenntnissen entziehen kann, die inLehrplänen und Lehrmaterialien, in der Aus- und Weiterbildung, in der Fachliteratur, in der gelegentli-chen Diskussion im Lehrerzimmer, ja selbst in der gesellschaftlichen, öffentlichen Diskussion auf jedenLehrenden eindringt. Hier eine Souveränität des Urteils zu erlangen, ist erst recht schwer. Das reflektie-rende Sprechen über den Unterricht scheint also unvermeidlich, und es kann auch guttun, wenn ein ge-meinsames Ziel dahintersteht.Ein solches suchendes Sprechen liegt dem folgenden fiktiven Gespräch zugrunde, das ausgewählteSzenen aus tatsächlich erlebtem Unterricht beleuchtet. Dabei liegt der Fokus hier auf der Frage, in wel-chem Verhältnis Unterrichtsführung und Lernleistung zueinander stehen, ob und wie sich diese beidenFaktoren gegenseitig beeinflussen und welche Konsequenzen der Lehrende daraus für seinen Unter-richt ziehen kann. Die einzelnen Aussagen spiegeln unterschiedliche Interpretations-möglichkeiten, diesich zwar je nach Temperament und persönlicher Erfahrung dem einen oder anderen zuordnen lassen,die jedoch in ihrer Gesamtheit auch in jedem von uns mehr oder weniger pointiert Platz finden.

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Wie der Lehrer

Unterrichtsszene 1

„Aber ich hab’ mir den Text doch gar nicht eingeprägt!“Nachdem die Klasse 8, Gymnasium, 2. Lernjahr, in der ersten Stundenhälfte mit dem Lehrbuchtext wieder einStück weitergekommen ist (lesen, unbekannte Vokabeln klären, Fragen zum Text beantworten), setzt die Lehre-rin zur Abwechslung andere, selbst gefertigte Materialien ein. Parallel zu dem Lehrbuchtext über Bettinas ersteReise nach Frankreich (zu ihrer correspondante Nathalie nach Clermont-Ferrand) hat sie drei kleine Reisetexteverfasst und die einzelnen Sätze auf Zettel geschrieben. Die Schüler bekommen nun die Aufgabe, die Einzelsät-ze zu einem vernünftigen Text zusammenzusetzen. Die drei Gruppen (zu je 8-9 Schülern) sind eifrig dabei, dierichtige Reihenfolge der Sätze und ihre logische Passung heraus zu bekommen. Verschiedene Möglichkeitenwerden diskutiert. Als alle fertig sind, muss das Ergebnis natürlich irgendwie festgehalten und kontrolliert wer-den. Die Lehrerin entscheidet sich für die Fixierung an der Tafel. Jeder Schüler geht nun mit einem Zettel zurTafel und schreibt den darauf stehenden Satz an bzw. ab. Auf meine an einen der Schüler gerichtete Frage, ob erseinen wenige Wörter umfassenden Satz denn nicht auch auswendig anschreiben könne, antwortet dieser völligverwundert: „Aber ich hab mir den Text doch gar nicht eingeprägt“

Diskussion- Offensichtlich geht es um den letzten Satz, und nicht um eine Bewertung der gesamten Stunde.

Verstehe ich das richtig?- Der Satz kann aber doch nicht isoliert betrachtet werden. Er ist ja nur verständlich als Reaktion des

Schülers auf die Art des Unterrichts, wie er ihn hier erfährt.- Der Schüler scheint ja total abhängig zu sein von dem, was der Lehrer tut bzw. sagt.- Wundert Sie das?- Naja, wir wissen ja nicht, wie autoritär der Lehrer auftritt. Wenn er die Schüler so fest im Griff hat,

dass sie jede Selbständigkeit aufgegeben haben ...- Ich glaube nicht, dass das eine Sache des autoritären Auftretens ist.- Sondern?- Wir müssen uns doch fragen, warum er sich den ‘Text nicht eingeprägt’ hat.- Und wir müssen auch noch klären, ob er der einzige war.- Aus der Beschreibung ist zu entnehmen, dass alle Schüler mit dem Zettel in der Hand zur Tafel gin-

gen.- Ist daraus auch zu schließen, dass sich kein einziger Schüler seinen Satz gemerkt hat, sei es auch

nur sozusagen unbeabsichtigt?- Vielleicht ist hier und da zufällig etwas hängengeblieben - bei denen mit dem sog. ‘guten’ Gedächt-

nis.- Hängt das nicht auch vom Inhalt ab, ob die Schüler sich etwas gemerkt haben oder nicht? Sie schei-

nen sich doch für die Texte interessiert zu haben.- Es wird nur gesagt, dass sie die Aufgabe, die Schnipsel zusammenzusetzen, gern gelöst haben. Das

bedeutet noch lange nicht, dass die sprachlichen Formulierungen sie zu einer Gedächtnis-anstren-gung hätten motivieren können.

- Es waren auch nur Einzelsätze, die sie sich hätten einprägen können. Der ganze Text war ja nur alszusammengesetztes Puzzle verfügbar und damit viel zu schwierig.

- Also wäre es gar nicht sinnvoll gewesen, wenn der Lehrer die Schüler dazu aufgefordert hätte, ih-ren Satz jeweils auswendig zu lernen, bevor sie ihn anschrieben?

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Wie der Lehrer

- Als isolierte Forderung hätte das wahrscheinlich bei ihnen auch nur Verwunderung hervorgerufen.Sie hätten das dann zwar versucht, aber ohne zu wissen, warum. Auf jeden Fall ist zu vermuten,dass es ihnen irgendwie schwer gefallen wäre.

- Und warum? Die Sätze können doch nicht so schwer gewesen sein.- Das sicher nicht. Aber es ist anzunehmen, dass sie so etwas nie gemacht haben.- Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt. Alles, was die Schüler nicht gewohnt sind, das können sie

nicht. - Und jeder weiß, wie schwer es ist, neue Gewohnheiten einzuführen.- Umso wichtiger ist es also, sich genau zu überlegen, welche Gewohnheiten man überhaupt bei den

Schülern etablieren möchte, und welche vielleicht weniger günstig sind. - Es gäbe also gute und schlechte Gewohnheiten, auch im methodischen Bereich?- Betrifft das nicht auch den Lehrer? Kann der sich nicht auch von guten und weniger guten Gewohn-

heiten leiten lassen?- Jetzt wird’s gefährlich!- Aber vielleicht auch heilsam!- Eigentlich sind Lehrer- und Schülergewohnheiten - soweit sie den Unterricht betreffen - doch nur

zwei Seiten ein und derselben Medaille.- Ja, ich meine auch, wir können beides nicht voneinander trennen. Wie der Lehrer - so der Schüler.- Also nicht nur bei einem sog. ‘autoritären’ Lehrer?- Nein, jeder Lehrer prägt seine Klasse, ob er will oder nicht.- Da scheint die moderne Wissenschaft heute aber ganz anderer Meinung zu sein. Neulich las ich in

einem Artikel, die kognitiven Psychologen hätten herausgefunden, dass Lernprozesse von außennicht gesteuert werden können.

- Das sind wieder solche Pauschalaussagen aus anderen Wissenschaftsgebieten. Deren Übertragungauf den Fremdsprachenunterricht ist besser mit Vorsicht zu begegnen.

- Was ist denn hier überhaupt mit Lernprozess gemeint? Wenn wir diese Aussage auf unser Beispielübertragen, so hieße das ja, das Einprägen der anzuschreibenden Sätze ließe sich durch den Lehrernicht steuern.

- Ja und? Wir haben doch gesagt, dass der Lehrer methodisch gar nichts hätte machen können.- Augenblick mal. Da müssen wir doch erst fragen, warum nicht? Zu diesem Zeitpunkt hätte er nichts

machen können, aber vielleicht hätte er vorher die Weichen anders stellen können.- Wie denn?- Nun, indem er andere Gewohnheiten etabliert hätte.- Was meinen wir denn eigentlich mit ‚Gewohnheiten‘? Sind das die Lernstrategien, von denen man

jetzt auch soviel hört? - Unsere ‘Gewohnheiten’ meinen wohl eher etwas mehr Äußerliches, die Aktivitäten, die wir bei den

Schülern mit unseren Aufgabenstellungen initiieren, also in der vorliegenden Stunde z.B. Text le-sen, unbekannte Vokabeln klären, Fragen zum Text beantworten, und dann eben: Text aus ungeord-neten Einzelsätzen zusammensetzen und Einzelsätze anschreiben.

- Und was ist mit dem ‘Lernprozess’? Bei diesen unterrichtlichen Aktivitäten sollen die Schüler doch‘lernen’?

- Ja was lernen sie denn hier eigentlich?

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Wie der Lehrer

- Eine ganze Menge, finde ich. Sie üben und lernen damit das laute Lesen, d.h. die Aussprache.- Und wenn sie Fehler machen?- Dann werden sie korrigiert.- Lernen sie’s damit?- Sobald man mit dem Fragen anfängt, ergeben sich an allen Ecken und Kanten wieder neue Proble-

me. Manchmal zerspringe ich innerlich angesichts all der offenen Fragen.- Wir müssen versuchen, sie nacheinander zu klären und dafür einen geeigneten Zusammenhang zu

finden. Sonst gerät die Diskussion aus den Fugen, und wir kommen zu keinem Ergebnis.- Ja, Ergebnisse sollten schon dabei heraus kommen, und zwar handfeste, die uns im Unterricht wei-

terhelfen.- Wo war’n wir? Ach ja, was die Schüler alles lernen. Also: sie erfahren die Bedeutung der unbe-

kannten Vokabeln.- Zwischenbemerkung: Was nicht heißt, dass sie sich diese Vokabeln auch einprägen! - Ja vielleicht bzw. vielleicht nicht. Weiterhin antworten die Schüler auf Fragen. Um den nächsten

Einwand gleich vorwegzunehmen: sie werden also mehr oder weniger produktiv tätig. Tja, und dasZusammensetzen - jetzt kann mal jemand anderes weitermachen.

- Das Zusammensetzen ist eine bekannte und sehr nützliche Sache. Es wird auch auf gut Englischscrambled eggs genannt.

- Die Schüler machen’s ja auch gern.- Dabei wird hier einiges verlangt: sie müssen nicht nur die Einzelsätze verstehen, sondern darüber

hinaus selbst einen ganzen Text konstruieren - - Re-Konstruieren.- Ja gut, aber der Text war immerhin neu für sie. Dabei lernen sie, wie ein Text aussehen muss, also

die Merkmale, die einen Text ausmachen. - Also Lernziel: Textkonstitution.- Und was ist nun mit dem Anschreiben, an dem sich unsere Diskussion entzündet hat?- Das dient eigentlich nur - wie schon gesagt wurde - zur Ergebnissicherung.- Aber trotzdem kann oder sollte man dabei doch etwas lernen.- Immerhin üben sich die Schüler im Schreiben.- Auch beim Abschreiben?- Sie bleiben auf jeden Fall in Kontakt mit dem Schriftbild.- Ob das Problem der Orthographie damit zu lösen ist, scheint mir mehr und mehr fraglich.- Das mit dem Einprägen ist sozusagen ein Fremdkörper in diesem Unterrichtsszenario. Es war nicht

geplant, und es passt auch gar nicht in das Unterrichtskonzept.- Das finde ich auch.- Es ist aber doch eigentlich eine Menge passiert in dieser Unterrichtsstunde. Es hat eine Reihe von

Unterrichtsaktivitäten stattgefunden, und die Schüler haben viel agiert, aufgrund der Anstöße oderAufgabenstellungen des Lehrers natürlich.

- Und diese Unterrichtsaktivitäten haben auch bestimmte Lernprozesse in Gang gesetzt. - Ja, und bei diesen Aktivitäten gehörten offenbar auch nicht alle zur Unterrichtsroutine, zu den Ge-

wohnheiten also.

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Wie der Lehrer

- Sie meinen, die Aufgabe der Textrekonstruktion war neu für die Schüler?- Das könnte sein. Dass sie so positiv aufgenommen wurde, zeigt also, dass man aus dem Gewohnten

auch mal ausscheren kann.- Aber das muss man doch sogar, sonst vergammeln wir ja im Unterrichtstrott, und die Schüler ver-

lieren jegliche Motivation.- Die Gewohnheiten sind, glaube ich, ein zweischneidiges Schwert. Einerseits muss es gewisse Ge-

wohnheiten geben, die den Unterricht regulieren, ihm sozusagen Halt geben und die für Lehrer undSchüler gleichermaßen richtungweisend sind. Sie dürfen aber nie zum langweiligen Trott werden.Es muss eben auch immer für Neues gesorgt werden.

- Ja, und dieses Neue kann auch wiederum positive und negative Wirkungen haben. Es muss auf An-hieb angenommen werden - wie hier das Rekonstruieren des Textes; es darf eben nicht Verständnis-losigkeit erzeugen - wie das Ansinnen des Texteinprägens.

- Da sind wir aber an einem ganz gefährlichen Punkt angelangt. Die Bewertung einer unter-richtli-chen Maßnahme ergäbe sich ja dann sozusagen unterrichtsimmanent, d.h. je nach Unterrichtsfüh-rung wären bestimmte Aktivitäten positiv oder negativ zu bewerten, und zwar einfach immer da-nach, ob sie bei den Schülern ‘ankommen’ oder nicht.

- Ja aber das ist doch im Grunde das Entscheidende. Was soll daran gefährlich sein?- Die Gefahr liegt in dem eben festgestellten engen Zusammenhang zwischen Unterrichts-aktivitäten

und Lernprozessen. Je nachdem, was der Lehrer an Aktivitäten initiiert, d.h. wie er den Unterrichtführt, reagieren die Schüler entweder so oder so, d.h. spielen sich in ihren Köpfen bestimmte Lern-prozesse ab und andere eben nicht.

- Einverstanden. Das Einprägen hat nicht stattgefunden. Was ist daran so schlimm?- Mir scheint, wir steuern jetzt auf einen Kernpunkt zu, nämlich auf die Frage, woher wir die Kri-

terien nehmen für die Beurteilung dessen, was in der Stunde passiert.- Sie meinen damit doch nicht nur die Fremdbeurteilung, sondern auch unser eigenes Urteil, wann

wir mit einer Stunde zufrieden sind und wann nicht.- Ja natürlich. Darauf kommt es doch an.- Nun, immerhin sind wir als Lehrer an die Vorgaben der Lehrpläne gebunden.- Die sind meist so umfangreich, dass man nie sicher sein kann, dass man alles berücksichtigt hat.- Aus den Lehrplänen lässt sich schon deutlich ablesen, worauf es ankommt. Das Lernziel der fremd-

sprachlichen Handlungskompetenz, der Beherrschung der Fremdsprache als Kommuni-kationsmit-tel kann ja wohl als allgemein akzeptiert gelten.

- Die Umsetzung ist dadurch aber nicht einfacher geworden. - Aber eben weil ich mich diesem Ziel verpflichtet fühle, ist es, meine ich, notwendig, nach besseren

Wegen für die Verwirklichung zu suchen.- Wenn wir alle der Meinung sind, dass dieses Lernziel anzustreben sei - und es nicht im Grunde für

überzogen halten - dann müssten wir doch jetzt auch die Frage stellen, was denn die Stunde, die wireben so ausführlich diskutiert haben, zu diesem Lernziel beigetragen hat.

- Tja, das ist gar nicht so einfach zu sagen. Müssen wir da nicht verschiedene Stufen der Annäherungan das Lernziel unterscheiden?

- Ja, es gibt doch sog. vorkommunikative und kommunikative Aktivitäten.- Und hier überwogen also die vorkommunikativen?

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Wie der Lehrer

- Nun, immerhin fand ja auch echtes Leseverstehen statt und gelenkte schriftliche Text-produktion.Das ist doch schon was.

- Die wirklich freie Kommunikation ist halt sehr schwierig. Sie bedarf einer ganzen Reihe von vorbe-reitenden Schritten.

- A propos Vorbereitung. Ich habe hier jetzt zunehmend ein ungutes Gefühl. Dass wir nicht so rechtzum krönenden Abschluss kommen - ich meine, dass zu wenig wirkliche Kommunikation stattfin-det, das rechtfertigen wir immer damit, dass die Vorbereitung so viel Zeit in Anspruch nimmt. Ichhabe langsam den Verdacht, dass wir das Pferd vom Schwanz aufzäumen, oder - vielleicht mit ei-nem passenderen Bild - dass wir vor lauter Trockenübungen gar nicht zum eigentlichen Spiel kom-men.

- Und wenn das Spiel nun eine Sache der Wirklichkeit wäre, das in der Schule gar nicht stattfindenkann?

- Wer will das entscheiden? Haben wir wirklich schon alle Möglichkeiten ausgeschöpft?- Ich meine, nein. Es gibt gerade jetzt verstärkt Bemühungen, mit dem Spiel sozusagen Ernst zu ma-

chen. Sehen wir uns einmal die folgende Unterrichtsszene an.

Unterrichtsszene 2„Wir lernen mit Aufnahmetaste“

Martin konnte mit seinen 12 Jahren nicht gut stillsitzen und vor allem still sein. Er musste sich immerzu sprach-lich betätigen, sei es, dass er vor sich hin brabbelte oder seine Nachbarn mit seinen Äußerungen traktierte. Erwar in der Klasse 7 des Gymnasiums, 1. Lernjahr Französisch, natürlich nicht der einzige mit dieser Eigenschaft.Doch nun hat seine Lehrerin ihn (und auch die anderen) überzeugt. „Französisch könnt ihr nur lernen, wenn ihrdas, was ihr hört, auch aufnehmt, in euren Gehirnskasten. Ihr müsst also sozusagen auf die Aufnahmetastedrücken. Wenn ihr nun währenddessen deutsch sprecht, so ist das, als wenn ihr die Löschtaste drückt. Das Fran-zösische ist wieder weg, und wir können von vorne anfangen.“ Seitdem ist es meist mucksmäuschenstill in derKlasse, wenn die Lehrerin die Formulierungen präsentiert, mit denen die Schüler ihre Mitteilungen und Fragenan den Partner auf Französisch äußern können. Auf die Frage, wie denn hier im Französischunterricht gelerntwird, bringt Martin die neue Art des fremdsprachlichen Lernens auf den für ihn sinnfälligen Nenner: „Wir ler-nen mit Aufnahmetaste.“ Was er nicht erwähnt, aber vielleicht mit dem Bild von der „Aufnahmetaste“ auchmeint, ist die Tatsache, dass er die Dialoge, in denen seine Äußerungswünsche versprachlicht sind, auch lernt,sich einprägt. Sein Gedächtnis belohnt ihn mit entsprechend vielen abrufbaren französischen Formulierungen,die er als Bausteine einsetzen kann - für das, was er sagen will.

Diskussion- Ist das nicht eine Form des sog. ‘offenen’ Unterrichts, der jetzt immer mehr gefordert wird - neben

dem Lehrbuchunterricht oder sogar an seiner Stelle?- Auf jeden Fall scheint die Lehrerin ihren Unterricht hier so zu führen, dass hauptsächlich Texte ein-

geprägt werden.- Wenn ich das richtig verstehe, dann handelt es sich um Texte in Dialogform, die als solche nicht

vorgegeben sind, sondern - ja, wie auch immer, mit den Schülern zusammen erarbeitet werden.- Heißt das, die Schüler tragen auf Deutsch vor, was sie sagen wollen, und die Lehrerin übersetzt das

dann ins Französische?- Nicht ganz. Die Lehrerin erklärt die französische Struktur, d.h. wie die französische Äußerung, die

das auf Deutsch formulierte ‘Inhaltskonzept’ wiedergibt, gebaut ist. Sie sagt also z.B., dass man beider Altersangabe auf Französisch sagt, dass man so und so viele Jahre hat, gleichsam ‘auf dem Bu-

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Wie der Lehrer

ckel’. Die Schüler kennen evtl. schon die Formen der Personalpronomen für die 1. und 2. PersonSingular und evtl. auch schon die entsprechenden Formen von avoir, so dass ihnen für die Fragenur noch quel âge und für die Antwort das entsprechende Zahlwort + ans gegeben werden muss.(Tu as quel âge? - J’ai douze ans.) Diese Art der Gemeinschaftsarbeit würde ich nicht unbedingtals ‘Übersetzen’ bezeichnen.

- Interessant ist ja wohl die Sache mit den Äußerungswünschen der Schüler. Für das Einprägen be-deutet das ja eine ganz andere Motivationslage.

- Ja, das Einprägen hat hier natürlich einen ganz anderen Stellenwert als in der vorigen Unterrichts-szene.

- Die Frage stellt sich, ob das Einprägen nur hier sinnvoll ist oder ob dieser durch die Unter-richts-führung der Lehrerin initiierte Lernprozess nun als höherwertig einzustufen ist, gemessen an sei-nem Beitrag zu dem angestrebten Lernziel der Fähigkeit zu fremdsprachlicher Verständigung.

- Wenn man mit den eingeprägten Formulierungen wie mit Bausteinen hantieren kann, sie also auchkreativ verwenden kann - wie die Beschreibung es nahelegt - dann ist das sicher ein guter Weg zumselbständigen Sprechen und Schreiben.

- Mir ist nicht ganz klar, wie das funktionieren soll.- Ja, das müsste man noch sehen.- Vorerst können wir also festhalten: Unter der Voraussetzung, dass das wirklich so funktioniert, wie

es in der Unterrichtsszene dargestellt wurde, wäre das Einprägen der Äußerungswünsche der Schü-ler als ein wünschenswerter Lernprozess anzusehen.

- Das Einprägen dürfte auch leichter sein, weil die Schüler hier - im Gegensatz zu den Einzelsätzenaus der ersten Unterrichtsszene - eher zu der Gedächtnisanstrengung bereit sind.

- Weil sie wissen, was man damit anfangen kann, weil es für sie persönlich Sinn macht, das zu ler-nen.

- Ja das ist wohl ein ganz wichtiger Aspekt.- Es kommt also nicht auf das Einprägen als solches an - früher hat man ja viel auswendig lernen las-

sen - sondern auch bzw. vor allem darauf, was man lernen lässt.- Was als sinnvoll erscheint, lässt sich eben auch leichter lernen.- Und es macht dann auch mehr Spaß.- Da könnte man die Aussage aus der Einführung ja geradezu umkehren, indem man sagt: „Was kei-

nen Spaß macht, lässt sich auch nicht lernen.“- Na, ist das nicht jetzt wieder eine dieser extremen Aussagen?- Nicht, wenn man unter ‘Spaß’ eine positive Gefühlslage versteht, die Anstrengung keineswegs aus-

schließt.- Womit wir gleich bei der Leistung wären. Martin erbringt hier offenbar eine Lernleistung, die ihm

nicht nur Spaß macht, sondern die ihn offenbar auch weiterbringt auf dem nicht gerade leichtenWeg, sich mit französischsprachigen Partnern verständigen zu können.

- In der Realsituation, in der rauhen Wirklichkeit?- Zumindest wird hier mehr dafür getan, dass er dort nicht versagt.- Die Lehrpersonen der beiden betrachteten Unterrichtsszenen haben also offenbar eine unterschiedli-

che Auffassung von dem, was im Fremdsprachenunterricht möglich ist.- Dann hinge die Unterrichtsführung also davon ab, was der Lehrer jeweils für möglich hält.

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- Ja, und die daraus folgenden, d.h. die geforderten Lernleistungen der Schüler wären der Ausflussseiner Haltung, seiner Einstellung zum Unterricht.

- Das würde ja bedeuten, dass meine Einstellung, d.h. im Grunde meine subjektive Theorie über dasFremdsprachenlernen, die ich mir aus den verschiedensten Quellen und Anregungen ‘zurechtgebas-telt’ habe, einen ganz hohen Stellenwert bekäme.

- Und die Verantwortung, die wir für den Lernprozess der Schüler haben, die wird ja dann geradezubeängstigend groß.

- Wie der Lehrer - so der Schüler. Aus dieser Verantwortung kann uns - wenn ich recht sehe - auchdie kognitive Psychologie nicht befreien. Die dort gemeinten mentalen Prozesse setzen erst ein,wenn der Schüler durch den Lehrer dazu veranlasst wird, bestimmte Aktivitäten durchzuführen.

- Das hört sich so an, als ob der Schüler nichts von alleine machen könnte. Ich denke, wir sollen dar-auf hinarbeiten, dass unsere Schüler selbständig werden, selbst die Initiative ergreifen?

- Ja, und was ist mit der Eigenverantwortlichkeit, die wir doch fördern sollen?- Hier liegt offenbar ein Missverständnis vor. Wenn wir von Aktivitäten sprechen, die der Lehrer in-

itiiert, dann müssen das doch nicht lehrerzentrierte Aktivitäten sein. Der Lehrer kann die Schülerdoch auch zur Eigenaktivität auffordern bzw. ermutigen.

- Vielleicht lässt sich das ganz gut durch die nächste Unterrichtsszene illustrieren.

Unterrichtsszene 3

„Da hab’ ich mir gedacht: Das lasse ich die Schüler einfach selbst machen.“

Klasse 7, Gymnasium, gegen Ende des 1. Lernjahres. Die erste Geschichte wird gelesen. Da die Schüler darangewöhnt sind, einen Text vornehmlich daraufhin durchzulesen, was drin steht (so haben sie bisher auch einigeLehrbuchtexte gelesen, unter Umgehung der herkömmlichen Texterarbeitung), finden sie relativ schnell heraus,was hier in der Kriminalgeschichte «Dans le métro» passiert. Mit der plausibel klingenden Feststellung, dass esja nicht immer der Lehrer sein muss, der die Fragen stellt, bringt die Lehrerin die Schüler dazu, sich selbst Fra-gen auszudenken, die jemand stellen würde, der etwas über den Inhalt der Geschichte erfahren möchte. Die fran-zösischen Formulierungen für die einzelnen Fragen und die entsprechenden Antworten werden nun nacheinan-der gemeinsam erarbeitet, wobei die Lehrerin die Schüler immer wieder durch erinnernden Rückgriff auf schonGelerntes auf die Inhaltsaussagen hinweist, die sie schon selbst versprachlichen können.

Um nun die Schüler dazu zu motivieren, sich solch einen Dialog über einen Text einzuprägen (was ja in sichsehr viel weniger sinnvoll erscheint als das gedächtnismäßige Speichern der persönlichen Dialoge, die die Schü-ler zu den sie interessierenden Themen anfertigen und regelmäßig lernen, vgl. Unterrichtsszene 2), wollte dieLehrerin sich für die nächste Stunde zu den Fragen jeweils mehrere Antworten ausdenken, nach Art der bekann-ten multiple choice-Aufgabe. „Ich hab’s zeitlich einfach nicht mehr vorbereiten können, und da hab’ ich mir - ei-gentlich der Not gehorchend - gedacht: Das lasse ich die Schüler einfach selbst machen.“ So berichtete sie mirund fuhr dann ganz begeistert fort: „Es war unglaublich, welchen Ehrgeiz die Schüler an den Tag legten, um ihreMitschüler mit besonders kniffligen Aussagen aufs Glatteis zu führen. Auf diese Weise lernten sie zum einennoch weitere Formulierungen für ihre Ideen und zum anderen mussten sie, wenn sie das nach und nach vervoll-ständigte Quiz spielen wollten - und das wollten sie mehrmals - alle Fragen und Antworten auch wirklich be-herrschen, und zwar schriftlich und mündlich.

Diskussion- Die Lehrerin traut den Schülern aber ganz schön was zu.- Aber sie ist über ihre Erwartung bestätigt worden.

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- Ist das nicht ein Einzelfall? Vielleicht hat sie das Glück, eine besonders gute Klasse zu haben.- Jede Klasse ist ja gewissermaßen einmalig. Diese hier ist - so weit ich das beurteilen kann - eher als

durchschnittlich zu bezeichnen.- Wie kommt die Lehrerin dazu, den Schülern eine Aufgabe zu stellen, die gewöhnlich nur sie selbst

bewältigt?- Streng genommen, bewältigen die Schüler die Aufgabe ja gar nicht.- Du meinst, sie finden die Mehrfach-Aussagen nicht selbständig?- Ja, die Lehrerin erarbeitet sie mit ihnen zusammen.- Aber die Ideen stammen von den Schülern.- Es geht aber doch um die Formen, um die französische Sprache.- Da ist wohl wieder so ein Kernpunkt angesprochen, auf den wir noch ausführlich zurückkommen

müssen. Es geht um die Formen, natürlich, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern als Mittel zumZweck.

- Und der Zweck ist - laut Lernzielbestimmung - dass man sich auf Französisch verständigen kann.- Die Formen braucht man, um ausdrücken zu können, was man sagen, mitteilen, erfahren will, was

man fühlt, denkt usw. - Und natürlich auch, um verstehen zu können, was andere sagen.- So gesehen, wäre es eigentlich optimal, von dem auszugehen, was die Schüler an Inhalten, an Ide-

en, an Gedanken usw. haben, und was sie auf Französisch ausdrücken wollen.- Ja, aber das geht doch so nicht, wegen der Progression, wegen der Grammatik. - Vielleicht existiert dieses methodische Problem nur in den Köpfen der Lehrenden.- Die Lehrerin hier scheint damit jedenfalls kein Problem zu haben, und man hat nicht den Eindruck,

dass es hier in bezug auf die Formen chaotisch zugeht.- Die Schüler verständigen sich selbständig (wenn man das so sagen darf) auf Französisch, und zwar

nicht nur über ihre persönlichen Angelegenheiten, sondern auch - wie hier in dieser Unter-richtsszene - über einen Text, und es scheint zu klappen.

- Das liegt aber auch maßgeblich an der Lehrerin. - Ja, aber nicht so sehr an ihrer Persönlichkeit, sondern eher daran, dass sie den Schülern so was zu-

traut, eben an ihrer Einstellung dem Unterricht gegenüber.- Und ihre Haltung beeinflusst wiederum die Haltung der Schüler.- Und befähigt sie zu den im Ganzen wohl als kommunikativ zu bezeichnenden Lernleistungen.- Am Anfang steht also die Haltung oder Einstellung, und die ist hier ebenfalls als kommunikativ zu

bezeichnen.- Ja, sowohl die Lehrerin als auch die Schüler orientieren sich ausschließlich am Inhalt. Die Form

dient zum Ausdruck dieses Inhalts. Das macht sie wichtig und motiviert zum Lernen der französi-schen Formulierungen.

- Das scheint auf Anhieb plausibel, aber ich könnte nicht behaupten, dass diese Art von Ein-stellungauch in meinem Unterricht vorherrscht. Vielleicht wünschte ich mir das, aber ich kann es im Au-genblick nicht nachvollziehen. Ich sehe zu viele Probleme.

- Vielleicht gewinnen die positiven Möglichkeiten durch die nächste Unterrichtsszene noch etwasmehr an Gestalt.

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Wie der Lehrer

Unterrichtsszene 4

„Wenn man weiterliest, dann versteht man’s.“Michaela aus der Klasse 7 der Gesamtschule ist kein Überflieger. Auf dem Zeugnis erreicht sie in Französischein glattes „befriedigend“. Doch der Französischunterricht - so sagt sie - macht ihr Spaß. Warum? Na, da lerntman schon ganz früh Texte lesen. Auf die Frage, ob ein solches Lesen nicht doch sehr anstrengend und das Ver-stehen sehr mühsam sei, antwortet sie nach einigem Nachdenken: „Doch ja, aber wenn man weiterliest, dannversteht man’s.“

Diskussion- Die Kleine imponiert mir.- Ich misstraue dem Braten. Was versteht Michaela denn nun eigentlich?- Wenn sie nicht genug verstünde, würde es ihr wohl auch keinen Spaß machen.- Wer bestimmt denn, was ‘genug’ ist?- C’est la question.- Ich würde jetzt fast der Meinung zuneigen, dass wir das dem Schüler ruhig überlassen können.- Na, ich weiß nicht recht.- Es handelt sich doch hier nicht um die Bestimmung eines Lernpensums, sondern darum, wie man

das Leseverstehen trainieren kann. - Diese Haltung ist uns ja schon aus der vorigen Unterrichtsszene bekannt. Es ist wieder eine sozusa-

gen kommunikative Haltung, eine Einstellung, die sich auf den Inhalt, auf das Verstehen konzen-triert.

- Im Grunde ist das ja die ‘normale’ Lesehaltung. Nur für den Unterricht scheint sie nicht normal.- Die Lehrerin - es ist wohl dieselbe wie vorhin - traut den Schülern also wieder etwas zu, was nor-

malerweise im Unterricht nicht für möglich gehalten wird.- Vielleicht könnten diejenigen unter uns, die diese Art des Unterrichts kennen, einmal kurz erläu-

tern, was und wie da gelesen wird.- Die Texte sind grundsätzlich sehr viel schwieriger als die Texte, die die Schüler bis dahin selbst

produzieren können. Das heißt, sie enthalten relativ viel unbekannte Lexik und auch viele unbe-kannte grammatische Formen.

- Ja, aber das stört die Schüler nicht. Sie freuen sich über alles, was sie heraus bekommen - durch ‘in-telligentes Raten’ sozusagen; der Lehrer hilft, wo sie etwas genauer wissen wollen.

- Mit solch einer Wischiwaschi-Methode könnte ich mich nicht abfinden. Mir kommt die Arbeit ander Form dabei zu kurz.

- Aber diese inhaltsorientierte Haltung ermöglicht das Bewältigen von sehr viel mehr Lektüre undtrainiert damit sehr viel intensiver die Fähigkeit, unbekannte Texte zu verstehen - also eines der ge-setzten Lernziele zu erreichen.

- Übrigens ist diese Klasse im zweiten Lernjahr zu authentischen französischen Geschichten überge-gangen, die in Frankreich bei Gleichaltrigen sehr beliebt sind (Les Contes de la rue Brocat).

- Wenn man mit dieser Haltung schneller weiterkommt, so wäre das für mich einen Versuch wert.

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Wie der Lehrer

- Interessant ist ja auch, dass Michaela sich anstrengt, um zu verstehen. Sie hält es für der Mühewert. Das ist doch schon bemerkenswert.

- Der Lehrer mit dieser offenen Lesehaltung scheint den Schülern also eindeutig bessere Lernchan-cen zu bieten.

- Ja, indem er ihnen sinnvollere Lernleistungen abverlangt, die sie noch dazu gerne erbringen.- Offenbar ist auch hier Spaß nicht mit Faulheit zu verwechseln.- Wie könnten wir das Ergebnis unserer Diskussionsrunde zusammenfassen?- Auf den Lehrer kommt es an!- Auf die Einstellung kommt es an!- Auf die Lernleistung kommt es an!- Auf die Unterrichtsführung kommt es an!- Und auf eine gute Diskussion kommt es an! Bei der hat jeder ein bisschen recht, wenn er seine Mei-

nung nur nicht absolut setzt.

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Tua res agitur

Krista Segermann

"Tua res agitur": Inhaltsmotivierung statt Stoffbewältigung(veröffentlicht in: Fremdsprachenunterricht 2001, H. 3, S. 189-195)

Der folgende Beitrag präsentiert sich in einer für einen Fachaufsatz etwas ungewöhnlichen Form. Eswerden erlebte Unterrichtsszenen pointiert dargestellt und von einem fiktiven Gesprächskreis disku-tiert. Die Szenen beleuchten einen unterschiedlichen Umgang mit dem Komplex Stoffbewältigung alsVermittlung von Inhalt. Die Art des Umgangs mit diesem im Fremd-sprachenunterricht besonders bri-santen Problem wird von subjektiven Theorien mehr oder weniger bewusst beeinflusst. Die unter-schiedlichen Gesprächsbeiträge werden nicht personell zugeordnet. Es ist ein offenes Lerngespräch, indem die Argumente zwar von bestimmten Personen artikuliert werden, aber dennoch nicht unbedingtan sie gebunden sind. Vielmehr findet sich etwas davon in jeder Person, und das Gespräch könnte dazubeitragen, die widerstrebenden Meinungen miteinander ins Gleichgewicht zu bringen, um mehr Frei-raum für innovative methodische Entscheidungen zu schaffen.

Einführende GedankenDie inhaltliche Lernzielbestimmung stellt im Fremdsprachenunterricht ein besonderes Problem dar. ImGegensatz zu den schulischen Sachfächern hat man es bei den Fremdsprachen nicht nur mit einer rei-nen ‚Sachkompetenz‘ zu tun, die sich in eindeutig bestimmbarem stofflichen Wissen konkretisiert. Derfremdsprachliche ‚Inhalt‘ zerfällt – wie sich an den Lehrplänen bei aller Formulierungsvielfalt im ein-zelnen übereinstimmend verdeutlichen lässt - in vier Bereiche, die anschaulich die Vieldeutigkeit des-sen dokumentieren, was im Fremdsprachenunterricht unter Lehr-/Lernstoff verstanden werden kann.Die Vermittlung der kommunikativen Teilfähigkeiten Hören, Sprechen, Lesen und Schreiben berück-sichtigt den Aspekt der Fremdsprache als Mittel zur mündlichen und schriftlichen Verständigung. Diemehr oder weniger ausführliche Aufzählung von Themen verweist einmal auf den Aspekt, dass sprach-liche Kommunikation einen Inhalt braucht, worüber man sich äußert, und zum anderen auf den Aspekt,dass im Unterricht landeskundliche Kenntnisse vermittelt werden sollen. Die Auflistung von Sprach-funktionen oder Redeabsichten trägt dem mit der Entwicklung der linguistischen Pragmatik ins Be-wusstsein getretenen Sprachhandlungsaspekt Rechnung. Die durchgängige Nennung der linguistischenTeilsysteme Lautlehre, Wortschatz und Grammatik als ‚sprachliche Inhalte‘ des Unterrichts gehört tra-ditionell zum Grundbestandteil einer jeden fremdsprachlichen Lehrplanbestimmung und gründet imSystemcharakter der Sprache.Durch die Komplexität der inhaltlichen Lernzielbestimmung entsteht eine Spannung, die den Unterrichteinerseits befruchten, andererseits aber auch erheblich belasten kann. Sprachausübung, Sprachhandelnist an motivierende thematische Inhalte gebunden. Der Erwerb der sog. sprachlichen Inhalte kann da-gegen nur sekundär - als unabdingbares Mittel zum Zweck der fremdsprachlichen Verständigung überinteressierende Themen - für Schüler attraktiv gemacht werden. Wie unterschiedlich sich dieses Span-nungsverhältnis in der unterrichtlichen Arbeit gestalten kann, das soll nun anhand von kontrastierendenUnterrichtsszenen in der Diskussion beleuchtet werden.

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Tua res agitur

Unterrichtsszene 1„Et toi, qu’est-ce que tu fais, chez toi?“

Klasse 7 Gymnasium, 1. Lernjahr, nach zwei Monaten Unterricht. Die Stunde dient der Wiederholung der Ak-tivitäten, die die Lehrbuchfamilie in einer Umzugssituation ausübt. Die Lehrerin hat eine Reihe von Zettelnvorbereitet, auf denen jeweils Gruppen von meist zwei zusammengehörigen Wörtern (manchmal auch drei,oder ein einziges) aus den im Lektionstext vorkommenden Sätzen steht. Diese ‘Satzfetzen’ werden durchein-ander an die Tafel geheftet, und die Schüler bekommen die Aufgabe, die vollständigen Sätze herauszufindenund nach Personen zu ordnen. An der Tafel befinden sich schließlich folgende Sätze, die gelesen und mit denSätzen in ihrem Cahier, chapitre vocabulaire verglichen werden (als Kontrolle der Hausaufgabe):

M. Rigot Mme Rigot JulienIl entre dans – la cuisine Elle regarde l’ - étiquette Julien installe l’ – ordinateur?Il porte - un carton Elle trouve - Julien sur - le lit Non, il - regarde une - B.DIl pose - le carton - sur une -étagère

(Der Gedankenstrich markiert die zusammenzusetzenden Wortgruppen.)

Nach einer Zwischenphase, in der die Sätze an der Tafel dazu genutzt werden, die Aufmerksamkeit der Schü-ler auf bestimmte Laute und deren Schreibung zu lenken, folgt eine dialogische Partnerübung zu den nämli-chen Aktivitäten der Lehrbuchpersonen. Die Sätze müssen diesmal aufgrund von Zeichnungen selbständig ge-funden werden. Danach, gegen Ende der Stunde, lenkt die Lehrerin das Gespräch auf die Schüler und ihre Ak-tivitäten, mit der neuen Frage: Et toi, qu’est-ce que tu fais? Die Schüler scheinen überrascht und reagierennicht. Die Lehrerin schiebt zur Erläuterung ein chez toi nach. Um das Schweigen der Schüler zu brechen, stelltsie nun Entscheidungsfragen: Tu regardes une B.D.? Tu joues au foot? Der aktive Anteil der Schüler an demdann erfolgenden Zusammentragen möglicher Schüleraktivitäten bleibt gering. Schließlich steht folgendes,von der Lehrerin angeschriebenes Diagramm an der Tafel:

Hausaufgabe: Zwei der Tätigkeiten sollen die Schüler sich merken.

Diskussion- Es scheint mir nicht ganz ungewöhnlich, dass die Schüler zögerlich sind, wenn es um ihre eigenen

Aktivitäten geht.- Ich glaube nicht, dass sie von sich nichts preisgeben wollen. Ich kenne das Prinzip How about you?

aus dem Englischunterricht. Da machen die Schüler meist begeistert mit.- Vielleicht liegt es an der Einstellung der Schüler zum Unterrichtsstoff. Ihre Aufmerksamkeit wird

doch fast eine ganze Stunde lang auf den Inhalt des Lehrbuchtextes gelenkt. Dieser Inhalt wird‘umgewälzt’, und damit werden die Vokabeln und die grammatischen Strukturen gefestigt.

- Aber das geschieht doch in sehr lebendiger, ansprechender Weise, mit Partnerübung und so.

dans la cuisine

dans ma chambre

avec ...

au foot

Je regardela téléune B.D.

Je joue

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Tua res agitur

- Ja, aber die Schüler sind auf den Inhalt des Lehrbuchtextes fixiert, genauer auf die Aktivitäten derLehrbuchpersonen

- Wenn man sich diese Aktivitäten mal sozusagen mit normalem Blick, also unabhängig von jederdidaktischen Funktion, ansieht, dann sind das eigentlich gar keine richtigen Aktivitäten, zumindestnicht solche, die die Lehrerin am Schluss der Stunde von den Schülern einfordert

- Ich meine auch, ihre Überraschung ist verständlich. Genau besehen ist es ziemlich unlogisch, indieser Form von sich zu erzählen.

- Die hier angemessene sprachliche Form wäre eigentlich der Ausdruck für Vorlieben, also was mangerne macht.

- Tja, aber die Form J’aime + Infinitiv ist hier nun mal nicht dran. - Das ist aber doch genau der Punkt, den man zu berücksichtigen hat. Die sprachlichen Formen die-

nen doch zum Ausdruck von – wie es im Lehrplan heißt - Sprachfunktionen oder Redeabsichten.- Ja genau. Hier liegen offenbar zwei verschiedene Sprachfunktionen vor. Es ist eben ein Unter-

schied, ob ich sagen will, was ich gerne mache, oder ob ich sagen will, was ich gerade jetzt macheoder normalerweise mache. Für die beiden letzten Funktionen braucht man im Französischen zwardie gleiche Formulierung, aber dennoch sind es zwei verschiedene Aussagen.

- Die Schüler scheinen das gespürt zu haben. Ich versetze mich jetzt einmal in einen der Schüler undfrage mich: Wieso soll ich, nachdem wir eine Stunde lang geübt haben, was die Leute auf den Bil-dern im Lehrbuch bei ihrem Umzug gerade machen, nun plötzlich sagen, was ich mache? Ich ma-che keinen Umzug, das steht fest. Ich mache auch gerade nicht das, was die da machen, denn ichsitze in der Französischstunde. Was ich sonst so zu Hause mache, hat auch nicht viel mit dem imLehrbuchtext zu tun. Was meint sie denn eigentlich mit Qu’est-ce que tu fais? Wann denn? In wel-cher Situation?

- Es ist vielleicht gar nicht so schlecht, sich manchmal auszumalen, welche inneren Monologe mehroder weniger elaboriert sich in den Köpfen unserer Schüler abspielen.

- Dann ginge das Zögern der Schüler hier also auf das Konto eines Umschwungs in der Sprechsitua-tion, die nicht plausibel erscheint.

- Ja, so könnte man das fast ausdrücken.- Das würde ja bedeuten, dass wir unsere Schüler noch in ganz anderer Weise ‘ernst nehmen’ müss-

ten.- Allerdings, und zwar als normale Gesprächspartner, die aufgrund ihrer muttersprachlichen Kompe-

tenz sehr genau wissen, wie ‘normale’ Kommunikation funktioniert.- Wenn sie als sie selbst angesprochen werden, reagieren sie gemäß den Regeln kommunikativen

Verhaltens, und da muss dann auch alles stimmen.- Wenn sie dagegen Französisch mit dem Lehrbuchtext üben, dann gelten sozusagen andere Regeln,

eben die vom Lehrer festgelegten Regeln unterrichtlichen Arbeitens.- Muss man daraus denn unbedingt zwei Welten machen?- Das ist ja gerade die Crux. Wenn wir auf Kommunikationsfähigkeit hinarbeiten wollen, dann dürfte

es nur eine Welt geben, nämlich die der kommunikativen Wirklichkeit mit ihren Gesetzmäßigkei-ten.

- Und wie wollen Sie das im Schulunterricht realisieren? Es ist ja nun mal nicht die Wirklichkeit.- Vielleicht ist das gar nicht so ganz unmöglich, wie man zunächst annehmen möchte. Was halten sie

von der folgenden Unterrichtsszene?

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Tua res agitur

Unterrichtsszene 2„Est-ce qu’il y a des différences?“

Klasse 7, Gesamtschule, Mitte des 1. Lernjahrs. Die Schüler haben zum Thema «Mon école» einen persönli-chen Dialog erarbeitet, den sie in den folgenden Stunden in Partnerarbeit wiederholend miteinander durchspie-len. Er enthält die folgenden Fragen und Antworten:

1.Tu vas à quelle école Je vais à l’école Grete Unrein à Iéna.2.Tu es dans quelle classe? Je suis en septième A.3.Comment vas-tu à l'école?. J'y vais en bus / en tram / en bus ou en tram / à pied

4.Tu habites près de l'école? Non, j'habite loin de l'école.Oui, j'habite près de l'école.

5.Tu mets combien de temps pour aller àl'école?

Je mets à peu près vingt minutes / un quart d'heure / unedemi-heure

6.Qu'est-ce qu'il y a dans ton école? Il y a (bien sûr) beaucoup de salles de classes et une sallede professeur.Nous avons aussi une salle de gymnastique et un terrain desport.Il y a même une bibliothèque.

6a. Vous avez aussi une cantine? Oui, nous avons une cantine.6b. Vous avez une piscine? Non, nous n'avons pas de piscine.7. Vous avez une chorale ou un orchestre? Oui, nous avons une chorale et un orchestre.7a. Tu fais partie de la chorale? Oui, je fais partie de la chorale.7b. Tu fais partie de la chorale ou del'orchestre?

Non, je ne fais pas partie de la chorale et de l'orchestre nonplus.

8. Tu fais partie d'un club? Non, je ne fais pas partie d'un club.Oui, je fais partie d'un club de judo.Oui, je fais partie du club "TUS Jena".Oui, je fais partie du club "SV Lobeda 77". C'est un clubde foot.

9. Tu apprends combien de langues étran-gères?

J'apprends deux langues étrangères: l'anglais et le français.

9a. Tu les apprends depuis quand? J'apprends l'anglais depuis deux ans et le français depuisquelques mois

10. Quand est-ce que les cours commen-cent?

Ils commencent à 7 heures et demie.

11. Quand est-ce que les cours finissent? Ça dépend. Le lundi et le mercredi, ils finissent à uneheure, le mardi et le merdredi, ils finissent à deux heuresmoins cinq et le jeudi ils finissent à midi cinq.

12. Quand est-ce que vous avez unerécréation?

Nous avons une récréation à 10 h. cinq. Elle dure 20minutes.

13. Vous avez cours le samedi? Non, nous n'avons pas cours le samedi.14. Combien de temps durent les cours? Ils durent 45 minutes.15. Combien d'heures de cours avez-vouspar semaine?

Au total, nous avons 32 heures de cours par semaine.

16. Combien de matières avez-vous? Nous avons treize matières. Nous avons des mathéma-tiques, de l'allemand, de l’anglais, de l’histoire, de

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Tua res agitur

l’éthique, de l’informatique, du français, du dessin, dusport, de la biologie, de la physique, de la géographie, de lamusique.

17. Tu es bon(ne) en anglais/ mathéma-tiques/ ...?

Oui, je suis bon(ne) en anglais/ mathématiques/ ...Non, je ne suis pas très fort(e) en anglais, mais je suisbon(ne) en français.

Um auch etwas über die französische Schule zu erfahren, lesen die Schüler nun aus dem Lehrbuch den Text«Dans un collège français». Hier ist von Didier und seinen Unterrichtszeiten die Rede. Mit der Fragestellung„Est-ce qu’il y a des différences?“ leitet die Lehrerin die Lese-Aufmerksamkeit der Schüler auf die Unter-schiede zwischen den beiden Schulsystemen. In Form eines Dialogs zwischen einem deutschen und einemfranzösischen Schüler (hier Didier) werden diese Unterschiede nun gemeinsam erarbeitet und die Formulierun-gen für die nächste Stunde zum Lernen aufgegeben, denn - so die Ankündigung der Lehrerin - die entspre-chenden Informationen können die Schüler sich dann in einem Quiz wieder gegenseitig abrufen - natürlichmündlich.

- Diskussion- Das scheint ja eine ganz andere Art des Lernens zu sein. Wie lange braucht man denn für so einen

Dialog? - Nun, das hängt natürlich von der Klasse ab. Man schafft pro Stunde zwischen zwei und vier Dialo-

geinheiten. Viel mehr als zwei Wochen sollte man nicht mit dem gleichen Thema zubringen. WasSie hier sehen, ist ein Maximalprogramm, das zu variieren wäre, schon allein weil die Wirklichkeitan jeder Schule anders aussieht. Wie viele Fragen gestellt werden und wie ausführlich geantwortetwird, das entscheiden zunächst einmal die Schüler. Doch muss auch der Lehrer zusehen, dass esnicht zuviel wird. Der Eifer muss schon mal gebremst werden, weil die Schüler nicht das Ganzeübersehen.

- Aha, also keine totale Lernerautonomie.- Nun ja, ich würde auf jeden Fall mit den Schülern besprechen, ob wir nun diese oder jene Frage

noch aufnehmen oder nicht. Schließlich wissen sie ja, dass alle Formulierungen gelernt werdenmüssen. Da gilt es eben, ein gesundes Mittelmaß zu finden.

- Die Frage, die sich mir jetzt aber stellt, ist: Wie kommen die Schüler mit diesem Wust an gramma-tischen Strukturen und an Vokabular zurecht?

- Ja, da kommt eine enorme Anzahl an grammatischen Erscheinungen zusammen, die man doch garnicht alle auf einmal bewältigen kann.

- Was verstehen Sie unter „bewältigen“?- Na ja, einführen, erklären, üben, anwenden und so - eben anständigen Grammatikunterricht, damit

die Schüler eine solide Basis für ihre Könnensentwicklung haben.- Ich für mich würde das nicht mehr so rigoros sehen. Ich bin nämlich inzwischen nicht mehr ganz so

davon überzeugt, dass die traditionelle grammatische Stoffbewältigung das Können befördert.- Das Verhältnis von Wissen und Können ist wahrscheinlich viel komplexer, als das einfache An-

wendungsschema es erscheinen lässt. Das lässt sich sicher nicht so schnell klären. Was wir jetztaber klären müssten, ist die Frage des Umgangs mit den als „sprachlicher Inhalt“ deklarierten lin-guistischen Teilsystemen, allen voran der Grammatik. Wollen wir unseren Schülern nicht oft etwasbeibringen, was sie schon längst ‘können’ oder auch ‘wissen’? Besitzen unsere Schüler nicht schoneine ‘grammatische’ Kompetenz, die für das Erlernen der Fremdsprache nutzbar gemacht werdenkönnte?

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Tua res agitur

- Sie meinen, die Schüler wissen allgemein, wie Grammatik funktioniert – so wie sie auch wissen,wie Kommunikation funktioniert?

- Die Grammatik bildet ja im Grunde die logischen Beziehungen des Denkens ab, und die ‘gramma-tisch’ genannten Kategorien sind nichts anderes als die grundlegenden, allgemeinen Organisations-prinzipien der Erfahrung, mit deren Hilfe die Welt 'begreifbar', fassbar wird. Als Denkkategoriensind sie universal; ihre sprachliche Füllung und Strukturierung geschieht sprach- bzw. kulturspezi-fisch.

- Das klingt sehr einleuchtend. Also müsste man alles irgendwie mit Wirklichkeitsaspekten in Ver-bindung bringen, mit logischen Verknüpfungen, mit Angaben zur Quantität und Qualität, zu Ortund Zeit, mit dem Ausdruck von Möglichkeit, Wirklichkeit, Wunsch, Zwang, persönlicher Mei-nung usw. Alle formalen Optionen werden gebraucht, um Dinge, Personen und Geschehnisse zucharakterisieren, miteinander in Beziehung zu bringen oder das Verhältnis des Sprechers zu ihnendarzustellen.

- Das mag ja alles sein, aber wie komme ich nun zu den sprachspezifischen Formen? Die kann ichdoch nicht nur sozusagen punktuell, ohne jede Systematik lernen?

- Wenn Sie von Systematik sprechen, dann denken Sie wahrscheinlich in Kategorien von Gramma-tikkapiteln, in Paradigmen und Tabellen. Wenn die Rede ist vom Präsens von bestimmten Verben(sortiert nach Konjugationsgruppen), dann erwartet man, dass hier alle Personen behandelt werden.Wenn das direkte Objektpronomen les vorkommt, dann erwartet man, dass zumindest auch le undla behandelt werden – und zwar vor der Pluralform.

- Jawohl. Geschieht das hier etwa nicht? Wie kommen denn die Schüler damit zurecht? Meine Schü-ler verlangen nach der Systematik.

- Weil Sie es immer so gemacht haben und die Schüler es folglich nicht anders gewohnt sind.- Und wie schaffe ich es, die Schülerhaltung zu verändern?- Das ist im Grunde gar nicht so schwer. Statt die Schüler in Richtung Kästchengrammatik einzu-

schwören, könnte man ihnen von vornherein jeweils nur die Funktion klarmachen, die jede einzelneForm für die Versprachlichung ihrer Äußerungswünsche hat. In der Frage: Tu les apprends depuisquand? z.B. braucht man die Schüler nur darauf hinzuweisen – vielleicht kommen sie auch vonselbst darauf - dass die Wiederholung von les langues étrangères den Satz sehr schwerfällig werdenlässt. Dem kann man nun – wie im Deutschen - durch die Verwendung eines Pronomens abhelfen,und dieses Pronomen für ein Substantiv im Plural heißt im Französischen eben les.

- Und wenn die Schüler nun die Pluralform auch für das Substantiv im Singular nehmen?- Dann macht man sie darauf aufmerksam, dass es sich hier um den Singular und nicht den Plural

handelt. Jeder Schüler kennt den Unterschied zwischen einem und mehreren, und er weiss aus demDeutschen, dass man dafür verschiedene Formen benutzt.

- Und wenn es nun in der Fremdsprache anders wäre?- Dann würde man die Funktionen und ihre Versprachlichung aus dem fremdsprachlichen System

heraus erklären. Ein gutes Beispiel dafür sind die Possessivbegleiter im Französischen, deren Form(männlich oder weiblich) sich immer nur nach dem Wort richtet, das nach ihnen steht. Ein Hinweisauf die sehr viel komplizierteren Gesetzmäßigkeiten im deutschen System würde hier nur zu Ver-wirrung und unnötigen Fehlern führen.

- Gut. Ich kann mir jetzt vorstellen, wie die Schüler die einzelnen Phänomene verstehen, wie sie siein ihren Wissenshorizont integrieren. Es leuchtet mir ein, dass man die vorhandene ‚grammatische‘Kompetenz für den Unterricht nutzen kann. Aber wie die Schüler all die verschiedenen Formen alsVersprachlichungen verschiedener Funktionen lernen bzw. behalten sollen, das ist mir nach wie vorschleierhaft.

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Tua res agitur

- Mir auch, vor allem deshalb, weil offenbar ja auch nur punktuell geübt wird, also immer nur eineinziges Beispiel für eine grammatische Erscheinung steht.

- Es kommt ja wohl auch auf die Motivation zum Lernen an. Ich könnte mir vorstellen, dass dieSchüler Spaß an ihrem selbst erstellten Dialog haben und die Formen deshalb auch ganz anders‚lernen‘, nämlich sich richtig einprägen. Und dass sie deshalb auch stärker motiviert sind, aus demText über die Verhältnisse in einer französischen Schule die Unterschiede herauszufinden und in ei-nem weiteren Dialog zu thematisieren, noch dazu in Form eines Quiz. Das zieht immer.

- Die Frage Est-ce qu’il y a des différences? hat jetzt einen ganz anderen Klang als die übliche rheto-rische Lehrerfrage. Sie ist echt und deshalb können die Schüler sie auch zu ihrer eigenen machen.

- Der zweite Dialog ist wohl auch nicht mehr so schwer. Die meisten Formulierungen können sie jaaus dem ersten übernehmen.

- Und die Informationen entnehmen sie dem Text im Lehrbuch.- Aber trotzdem müssen sie das alles im Kopf haben, denn die Dialoge werden ja mündlich, also

ohne Textvorlage, abverlangt, oder?- Ja, das ist richtig. Ich schlage vor, wir sehen uns eine weitere Unterrichtsszene an, und zwar als

Beispiel dafür, wie unterschiedlich sich das Verhältnis von Motivation, Inhalt und Form gestaltenkann.

Unterrichtsszene 3„Remplacez les substantifs par un pronom personnel!“

Klasse 8. Realschule, Beginn des 2. Lernjahrs. Der Lektionstext «Au collège» hat die Schüler mit dem franzö-sischen Schulsystem vertraut gemacht. In einer Übung werden die diversen inhaltlichen Aussagen (in welcheSchule die Lehrbuchpersonen gehen, wann der Unterricht beginnt, wie lange die Unterrichtsstunden dauern,wann sie wie viel Minuten Pause haben, ob die französischen Schüler zu Hause essen) noch einmal abgefragt,und zwar anhand von Entscheidungsfragen mit dem intensivierenden Est-ce que aus dem Lehrbuch. Geübtwerden soll vor allem die Verneinung. Entsprechend sind 7 von 10 Antworten mit der Verneinung zu bilden.Beispiel:Question: Est-ce que Pierre et Nicole vont au collège Rabelais?Réponse: Non, ils ne vont pas au collège Rabelais, ils vont au collège Jean Moulin.

Ein Schüler liest die Fragen aus dem Lehrbuch vor. Die Mitschüler antworten mündlich.S1: Est-ce que les élèves ont une récréation de 20 minutes à 10 heures?S2: Non, 10 minutes.L: Toute la phrase!S3: Non, les élèves n’ont une / pas une récréation de 20 minutes à 10 heures, les élèves ont une récréation

de 10 minutes à 10 heuresL: Remplacez les substantifs par un pronom personnel

Diskussion- Da haben Sie aber ein extremes Beispiel ausgewählt.- Die Kürze der Darstellung sollte nicht zu Missverständnissen führen. Die Lehrerin machte nicht

etwa schlechten Unterricht. Ich habe sie auch in Englischklassen erlebt. Da haben die Schüler be-geistert mitgemacht. Im Französischunterricht legte sie sehr viel Wert auf die Richtigkeit der For-men und damit hat sie wohl mit der Zeit die Motivation der Schüler so ziemlich abgetötet.

- Wenn wir mal vergleichen, dann geht es inhaltlich in beiden Unterrichtsszenen um das französischeSchulsystem. In dem einen Fall sind die Schüler offenbar imstande, sich frei darüber zuunterhalten ...

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Tua res agitur

- Mit vorgefertigten Formulierungen.- Mit Formulierungen, die sie gemeinsam erarbeitet und sich eingeprägt haben.- Und in dem anderen Fall sollen sie freie Antworten auf vorgelesene Fragen geben unter Verwen-

dung bzw. Anwendung von vorher gelernten Vokabeln und grammatischen Strukturen.- Es handelt sich also wie im ersten Fall um eine kommunikative Tätigkeit, vielleicht etwas weniger

anspruchsvoll, weil ja nur eine Hälfte des Dialogs zu produzieren ist.- Ich habe den Eindruck, dass die Schüler am Anfang durchaus Interesse haben an dem, was da ge-

sagt wird. Die in der normalen Kommunikationssituation durchaus akzeptable Kurzantwort Non,10 minutes. würde ich so deuten.

- Ja, und dann kommt die Lehrerin und lenkt die Aufmerksamkeit wieder auf die Form.- Und da passiert etwas sehr Merkwürdiges.- Oder auch etwas ganz Typisches.- Der zweite antwortende Schüler - der erste ist offenbar zu keiner Korrektur seiner Äußerung mehr

zu bewegen - denkt jetzt vor allem an die Form, kommt aber mit der entscheidenden Struktur, derVerneinung, nicht ganz klar und bemüht sich umso mehr, vollständig und ausführlich zu antworten.

- Und die Lehrerin ist wieder nicht zufrieden.- Sie kann es ja auch gar nicht sein, denn das produzierte Satzmonstrum widerspricht allen Regeln

der Kommunikation.- Diese unglückliche Situation - man könnte sie fast tragisch nennen, denn die Lehrerin will ja etwas

durchaus Richtiges - wird aber nicht nur durch die Lehrerin verursacht. Die Fragestellung Est-ceque les élèves ont une récréation de 20 minutes à 10 heures? provoziert diese unmögliche Antwort.

- An Substantiven wäre doch höchstens les élèves zu ersetzen, die Zeitbestimmungen sind ja nicht zupronominalisieren.

- Ich meine, die Stunde ist ein Paradebeispiel für die grundsätzliche Schwierigkeit, Form- und In-haltsorientierung unter einen Hut zu bringen.

- Die Schüler haben eben zu große Schwierigkeiten mit der Form.- Deshalb muss die Lehrerin umso mehr darauf achten.- Der Inhalt bleibt dabei auf der Strecke und mit ihm die Motivation.- Das scheint ja ein circulcus vitiosus zu sein. Wie soll man denn da herauskommen?- Vielleicht irre ich mich ja, aber mir scheint, eine solche Möglichkeit hätten wir vorhin schon einmal

angesprochen. Ich denke an das, was wir von den grammatischen Formen zum Ausdruck der Wirk-lichkeitsaspekte gesagt haben.

- Ich glaube, der Hauptunterschied bei den beiden letzten Unterrichtsszenen liegt darin, dass dieKlasse, die ihr eigenes ‚Lehrbuch‘ schreibt, ganz anders motiviert ist, französische Formen zu ler-nen als die Klasse, die mit dem traditionellen Lehrbuch arbeitet.

- Ja, aber die Motivation hängt eben eng mit der Art zusammen, wie ihnen die Formen präsentiertwerden, nämlich sozusagen sur demande.

- Das ist es wahrscheinlich. Tua res agitur. Sie haben das Gefühl, es ist ihre Sache. Sie erstellen Fra-gen und Antworten zu ihrer Schule, die ja - schon rein zeitlich gesehen - einen bedeutenden Platz inihrem Leben einnimmt. Sie wollen ihre Fragen und Antworten auch auf Französisch formulierenkönnen, für ihre Briefpartner, für die Begegnung mit den Franzosen.

- Strenggenommen würde das ja bedeuten, dass wir Abschied nehmen müssten von der Vor-stellungeines zu lernenden ‘sprachlichen Inhalts‘ in Gestalt von Lautlehre, Lexik und Grammatik alssprachlicher Systeme.

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Tua res agitur

- Statt dessen wären die einzelnen Formen zu lernen zum Ausdruck des Inhalts, der Gedanken, Ge-fühle usw., die man einem anderen mitteilen möchte - eben der eigenen Äußerungswünsche.

- Das erscheint mir doch ziemlich revolutionär.- Wieso? Das entspricht doch eigentlich genau dem, was wir schon seit Jahrzehnten immer wieder

hören: Die Grammatik hat dienende Funktion; die Formen sind kein Selbstzweck; der Unterricht istauf Kommunikation hin zu orientieren; die Schüler sollen mehr sprechen usw.

- Mir scheint da jedoch noch einiges an Inhalt zu fehlen. Stichwort: landeskundliche Kenntnisse undErkenntnisse. Wir haben zwar gesehen, dass das französische Schulsystem vorkommt, aber ichhabe den Eindruck, dass bei den Klassen, die nach dem neuen Unterrichtskonzept lernen, die eigeneWelt, die eigenen Äußerungswünsche, im Vordergrund stehen.

- Ja wie ist es denn überhaupt mit der Textrezeption bestellt? Die fällt doch wohl nicht ganz weg,oder?

- Nein, natürlich nicht. Den unterschiedlichen Umgang damit wollen wir uns in den letzten beidenUnterrichtsszenen ansehen.

Unterrichtsszene 4„Ja warum ist sie denn nun in den falschen Zug gestiegen?“

Klasse 8, Gymnasium, 2. Lernjahr. Seit zwei Wochen befassen sich die Schüler mit dem Lehrbuchtextüber Bettinas Reise nach Frankreich zu ihrer correspondante. Der zweite Textteil, in dem Bettina zu ihremSchrecken feststellt, dass sie im falschen Zug sitzt, ist erarbeitet. Er wird noch einmal vom Band vorge-spielt. Die Lehrerin hat eine Folie vorbereitet, auf der sie die möglichen Gründe notiert hat, die zu BettinasFehlentscheidung beigetragen haben. Bevor sie die Folie auflegt, lässt sie die Schüler in Partnerarbeit alleAntworten aufschreiben, die ihnen zu der Frage einfallen: Pourquoi est-ce que Bettina a pris le mauvaistrain? Die Schüler sind durch diese freie Formulierungsaufgabe sprachlich etwas überfordert. Sie suchenentweder im Text nach passenden Formulierungen oder fragen nach französischen Wörtern („Was heißtdenn ‘keine / keine Zeit’?“ „ Was hieß noch mal ‘vergessen’?“). Ihre weiteren Sorgen sind die Grammatikund die richtige Schreibung. Hier und da gibt es auch inhaltliche Diskussionen. (Schülerdialog: „Komm,wir schreiben hin: Sie is’n Idiot. Nein, wir können doch nich hinschreiben, dass sie ‘n Idiot ist.“ Frage andie in der Klasse herumgehende Lehrerin: „Dürfen wir das hinschreiben? Elle est un idiote. Die Lehrerinverbessert schnell und ohne Kommentar: Elle est idiote.“) Die Lehrerfolie wird nun durch die von denSchülern gefundenen weiteren Gründe ergänzt. Folgendes wurde zusammengetragen:

C’est la première fois qu’elle va en France.Elle voyage toute seule. Elle n’a pas beaucoup de temps pour changer de train.Elle a oublié son parapluie. Elle ne connaît pas les horaires.Elle est allée sur le mauvais quai.Elle n’a pas compris le contrôleur.Elle est bête/ idiote.Die gestellte Aufgabe, Gründe zu sammeln, ist gelöst. Schüler und Lehrerin sind bereit, zur nächsten Unter-richtsphase überzugehen. Da dämmert es der Schülerin Angelika plötzlich, dass die angeführten Gründe Bet-tinas Irrtum im Grunde noch gar nicht richtig erklärt haben, und - wie eine Stimme aus einer anderen Welt -platzt es aus ihr heraus: „Ja warum ist sie denn nun in den falschen Zug gestiegen?“

Diskussion- Ist Angelikas Frage im Unterricht geklärt worden?- Was meinen Sie wohl?

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- Wahrscheinlich nicht. Das hätte ja den ganzen Unterrichtsablauf durcheinandergebracht.- Die Lehrerin hat Angelikas Frage, die zwar laut genug, aber eben mehr als private Äußerung in die

Klasse schallte, als nicht mehr unterrichtsrelevant überhört.- Hätte man denn den entscheidenden Grund überhaupt angeben können?- Der eigentliche Grund steht tatsächlich nicht direkt im Text. Er geht nur aus einer Zeichnung her-

vor, auf der man sieht, dass am QUAI 4, wohin der Schaffner Bettina geschickt hat, zwei Züge aufden beiden gegenüberliegenden Gleisen stehen, VOIE 6 und VOIE 7. Auf diese entscheidende Ver-wechslungsgefahr und auf den Unterschied zwischen quai und voie hatte der Schaffner sie nichtaufmerksam gemacht.

- Aha, aber das hätten die Schüler doch eigentlich rauskriegen können.- Ja, wenn sie den Lehrbuchtext und die gestellte Frage, wenn sie das Ganze tatsächlich als eine

wahrscheinliche Situation aus dem wirklichen Leben aufgefasst hätten, mit der man sich ernsthaftauseinandersetzen könnte.

- Da haben wir wieder die beiden Welten.- Die Lehrerin scheint ihre Frage selbst nicht ernst genommen zu haben. Sonst hätte sie doch darauf

gedrungen, dass nicht nur irgendwelche Gründe genannt wurden - darunter offenbar auch falsche -sondern dass die Sache wirklich geklärt würde.

- Ja, das ist eigentlich das Erstaunlichste.- Jetzt kommt uns das erstaunlich vor. Aber bei der täglichen Unterrichtsarbeit kann es durchaus pas-

sieren, dass man so darauf fixiert ist, die Schüler zum Arbeiten zu motivieren, dass man etwas über-sieht.

- Ja, das stimmt. Es war doch schon eine tolle Idee, die Schüler überhaupt nach Gründen suchen zulassen und sie damit sprachlich zu engagieren.

- Im übrigen wird ja deutlich gesagt, dass die Schüler sprachlich schwach sind. Eine richtige Diskus-sion der Gründe wäre wahrscheinlich gar nicht möglich gewesen.

- Also wieder dasselbe Dilemma. Um die Schüler wirklich zu motivieren, muss man sie kommunika-tionstauglich machen.

- Dazu hätte es doch nur einiger Diskussionsfloskeln bedurft, wie z.B. Ce n’est pas ça. Tu as raison,mais ... Il faut voir que ... usw.

- Dass das machbar wäre, ist klar. Aber diese Zwei-Welten-Theorie, die beunruhigt mich doch sehr.Ich habe manchmal wirklich das Gefühl, gespalten zu sein zwischen dem, was ich eigentlich will -Kommunikationstüchtigkeit erzielen - und den Zwängen, die mir durch die sprachliche Hilflosig-keit der Schüler auferlegt werden.

- Vielleicht sind sie ja gar nicht so hilflos. Vielleicht müsste man ihnen einfach mehr zutrauen. Wirhaben ja jetzt schon mehrmals gesehen, dass sich einem auch methodisch neue Wege eröffnen, so-bald man neue, sozusagen mutigere Denkwege geht.

- Bevor Ihnen zu dieser auf Optimismus setzenden Haltung wieder alle möglichen Gegenargumenteeinfallen, möchte ich Sie mit einer weiteren Unterrichtsszene konfrontieren, in der besagter Opti-mismus sozusagen Früchte trägt.

Unterrichtsszene 5„Wo könnte das denn im französischen Text stehen?“

Klasse 8, Gymnasium, gegen Ende des 2. Lernjahres. Die Schüler lesen eine Geschichte aus einem franzö-sischen Kinder und Jugendbuch: «Les Contes de la rue Brocat». Es ist die blutrünstige Hexengeschichte«La sorcière de la rue Mouffetard», die fast jedes französische Kind kennt. Der nicht didaktisierte Text

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enthält so gut wie alle Phänomene der französischen Grammatik, also viele Strukturen und ebenso vieleWörter, die den Schülern unbekannt sind. Da sie jedoch von Anfang an daran gewöhnt sind, sich bei fran-zösischen Texten auf den Inhalt zu konzentrieren, also auf das, was da gesagt wird, lassen sie sich auchdurch diesen sprachlich komplexen Text nicht entmutigen. Nach dem ersten (stillen) Lesen haben sie Teileder Geschichte verstanden, nämlich, dass die Hexe alt und hässlich ist und dass sie wieder jung und schönwerden kann, wenn sie ein kleines Mädchen mit Tomatensauce verspeist, dessen Name mit „N“ beginnt.Wie sie es nun anstellt, um Nadine - so heißt das Mädchen, auf das die Hexe es abgesehen hat - zu fangen,das ist aus dem Text nicht leicht zu verstehen. Also versucht man sich an Mutmaßungen. Damit Nadine sienicht erkennt, müsste die Hexe sich vielleicht verkleiden. Jawohl. Das muss also irgendwo stehen. Auf dieFrage der Lehrerin: „Wo könnte das denn im französischen Text stehen?“ durchsuchen die Schüler denText nach der entsprechenden Stelle und werden auch fündig: Elle s’est déguisé en marchande de volaille.Déguisé - das muss es sein, und das ist es auch.

Diskussion- Ist die Welt hier in Ordnung, die Spaltung beseitigt?- Es sieht ganz so aus.- Aber ist die sprachliche Arbeit dabei nicht auf der Strecke geblieben? Ich kann mir nicht helfen,

aber das scheint mir nicht solide.- Wenn Sie das so sagen, dann haben Sie wahrscheinlich eine bestimmte Art von Textarbeit vor Au-

gen, nämlich die uns allen vertrauten Verfahren, mit denen man einen fremdsprachlichen Text erar-beitet.

- Ja, ich behandle den Text auf dieser Stufe ja schließlich, um die Schüler in ihrer sprachlichen Kom-petenz weiterzubringen. Sie sollen sowohl ihren Wortschatz als auch ihre grammatischen Kenntnis-se erweitern. Und genau das scheint mir bei einem nur auf das inhaltliche Verstehen ausgerichtetenDurchlesen oder ‘Durchsuchen’ eines Textes nicht gegeben.

- Wir haben es hier offenbar mit zwei unterschiedlichen Zielsetzungen zu tun. Bei der einen steht dieWortschatz- und Grammatikarbeit im Vordergrund, bei der anderen das Leseverstehen als kommu-nikative Fähigkeit.

- So würde ich das nicht sehen. Mir kommt es auch auf das Leseverstehen an, aber die Voraus-set-zung dafür ist doch wohl die Sprachbeherrschung

- Aber wir wissen doch alle, haben es alle erfahren, dass das Leseverstehen sich nicht quasi automa-tisch einstellt, wenn die sprachliche Basis größer ist. Im übrigen ist sie ja nie groß genug. Die Schü-ler haben auch später große Schwierigkeiten, einen fremdsprachlichen Text, der ja immer mehroder weniger viel unbekanntes Sprachmaterial enthalten wird, selbständig zu verstehen.

- Da sollen doch jetzt die Strategien Abhilfe schaffen, die Lernstrategien, die den Schüler zum selb-ständigen Lernen befähigen, als da sind Umgang mit dem Wörterbuch, Erschließen der Wortbedeu-tung, Nutzung von Leseerwartungen und Weltwissen usw.

- Das sind doch zum größten Teil Dinge, die selbstverständlich sind, wenn man mit einer normalenLesehaltung an einen Text herangeht. Die Schüler, die nach dem neuen Unterrichts-konzept lernen,scheinen doch genau diese Strategien ganz von selbst einzusetzen.

- Ja, ich meine auch, das Entscheidende ist die natürliche Haltung, die wiederum der Motivation zu-gute kommt.

- Was für die Produktion gilt, gilt eben auch für die Rezeption: Die sprachlichen Formen, also dieVokabeln und die grammatischen Strukturen, interessieren nicht als solche, sondern nur als Trägervon Bedeutung, als Inhalts-Transporteure. Die Form hat sozusagen ausgedient, sobald verstandenwurde. Deshalb behält man ja auch normalerweise nicht den Wortlaut dessen, was gesagt wurde,sondern kann nur ‘sinngemäß’ wiedergeben.

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- Aber wir können uns doch im Unterricht nicht damit abfinden, dass die fremdsprachlichen Formenvergessen werden. Um sie geht es doch gerade.

- Sprechen wir jetzt von der Produktion oder von der Rezeption?- Von beidem. Um die fremdsprachlichen Formen geht es doch in beiden.- Ja, aber doch in verschiedenen Bereitschaftsdispositionen.- Wie meinen sie das?- Ich spreche damit die Verknüpfung zwischen Form und Inhaltskonzept an, die in zwei Richtungen

erfolgt: vom Inhaltskonzept zur Form und von der Form zum Inhaltskonzept. Das heißt, bei derProduktion verknüpfe ich das, was ich sagen will, mit bestimmten fremdsprachlichen Formen, diemir also zur Verfügung stehen müssen. Bei der Rezeption dagegen liegen mir fremdsprachlicheFormen vor, die ich mit einem bestimmten Sinngehalt verknüpfen muss, um den Text zu verstehen.Die Formen stehen also in beiden Fällen in unterschiedlichen Bereitschaftsdispositionen.

- Und Sie meinen, für die Verstehensstrategien oder -techniken bedarf es gar keiner bestimmten kriti-schen Masse, die frühestens in der Mittelstufe erreicht ist?

- Das quantitative Kriterium der kritischen Masse muss relativiert werden durch das qualitative Kri-terium der natürlichen Verstehenshaltung.

- Aber die typische ‘Textarbeits’-Haltung - beim Lehrbuchtext sowieso, aber z.T. auch noch beimLektüretext - ist nun mal darauf gerichtet, den Schülern die Vokabeln und grammatischen Struktu-ren zu vermitteln, die in dem Text vorkommen.

- Der Text ist folglich kein Selbstzweck, sondern eigentlich nur Vorwand für das Lernen von Voka-beln und Grammatik.

- Genau da liegt der Hund begraben. Wir brauchen andere Texte - Texte, die nicht durch ihre Künst-lichkeit eine kommunikative Haltung bei Lehrern und Schülern von vornherein ausschließen.

- Das kann man aber so pauschal nicht sagen. Es hat doch in den letzten Jahrzehnten enorme An-strengungen bei den Lehrbüchern gegeben, ansprechende Lektionstexte zu präsentieren.

- Das ist zweifellos richtig, aber - man kann es fast wieder tragisch nennen - diese Anstrengungensind im Grunde gar nicht nötig. Wenn man sich beim Verfassen von Lese- und auch Hörtexten fürSchüler darauf konzentrieren könnte, sie leicht rezipierbar und interessant zu gestalten, ohne auf ir-gendeine Wortschatz- oder Grammatik-Progression Rücksicht zu nehmen, dann wäre die Aufgabeder Autoren zum einen leichter lösbar, und zum anderen würden die Texte besser, echter, inhaltlichanspruchsvoller, mit einem Wort natürlicher. Das heißt, die Schüler würden ihnen mit einer natürli-chen Lesehaltung begegnen können, und der Übergang zu authentischen Texten wäre kaum spür-bar.

- Das wären dann Texte, die die Schüler nur zu verstehen brauchten?- Sie wären die Grundlage für die Entwicklung der Fähigkeit, unbekannte Texte selbständig zu ver-

stehen.- Und damit Schluss?- Wenn der Inhalt die Schüler zur weiteren Auseinandersetzung anregt (wobei der Lehrer natürlich

ein bisschen nachhelfen darf), dann können sie den Text zum Anlass nehmen, ihre Sprechfähigkeitzu trainieren.

- Und wie vermitteln wir Wortschatz und Grammatik?- Aber das haben wir doch eben ausführlich erörtert. Nicht mit vorgegebenen, nach didaktischen Ge-

sichtspunkten konstruierten Texten, sondern mit Texten, die die Schüler sozusagen nach ihrenWünschen selbst schaffen.

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- Wenn man mir das am Anfang gesagt hätte, hätte ich wahrscheinlich nur den Kopf geschüttelt. Jetztkommt mir der Gedanke schon weniger utopisch vor.

- Ja, die Schülerdialoge wären sicher eine erste Möglichkeit, es einmal anders zu probieren.- Dann wäre tatsächlich - wie bei der normalen Kommunikation - der Inhalt die treibende, die moti-

vierende Kraft, und zwar sowohl beim Sprechen als auch beim Verstehen. - Ich glaube, wir haben im übrigen gar keine andere Wahl. Wir müssen die Spaltung zwischen unter-

richtlichem und kommunikativem Tun überwinden.- Und die beiden Welten zusammenbringen.- Ich hätte ja gar nichts dagegen, wenn ich nur wüsste, ob das tatsächlich klappt.- Dann probieren Sie’s doch einfach mal. Es liegt ja an Ihnen. - Nicht auch am Schüler?- Natürlich, aber vor allem an dem Verhältnis, das der Lehrer zu seinen Schülern hat.- Und das muss jeder mit sich selbst ausmachen.

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Wortschatzarbeit

Krista Segermann

Wortschatzarbeit einmal anders - Vom Wort zur lexiko-grammatischen Ler-neinheit

"Mir fehlen immer die Wörter!" Das ist ein allseits bekannter Ohnmachtsausruf von Schülern, wennsie sich in der französischen Sprache ausdrücken wollen oder sollen, vor allem im mündlichen Be-reich. Er ist fast ebenso häufig zu hören wie das nicht minder bekannte Schuldeingeständnis: "Mei-ne Grammatik ist nicht gut genug." Von den Lehrenden werden solche selbstkritischen Äußerungennatürlich begrüßt, sind sie doch womöglich der erste Schritt auf dem Weg zur Besserung - durchmehr Fleiß, Ausdauer und Anstrengung beim 'Lernen' von Wortschatz und Grammatik.

Deutsch-französische Vokabelgleichungen und vernetztes VokabularAber was heißt hier eigentlich 'lernen', speziell 'Wörter lernen'? Besteht das Ergebnis des 'Lernens'darin, dass der Schüler für ein bestimmtes signifié das französische signifiant kennt, so dass er mitder muttersprachlichen Form (die für ihn das signifié repräsentiert) die fremdsprachliche Form ver-binden kann? Für ein solches Verständnis von 'Lernen' wäre das seit jeher praktizierte Abfragenvon deutsch-französischen Vokabelgleichungen eine angemessene Kontrolltechnik. Überdies be-gegnen diese zweisprachigen Entsprechungen in Lehrwerken ebenso selbstverständlich wie in Lek-türeheftchen und in zweisprachigen Wörterbüchern. Sie scheinen also nach wie vor das Urprinzipallen Wörterlernens zu sein.Darüber hinaus gibt es inzwischen vielfältige andere Praktiken der Wortschatzarbeit, die sich z.B.die lernpsychologischen Erkenntnisse über 'vernetzendes Lernen' zu Nutze machen. Einzelwörterlassen sich anscheinend besser behalten, wenn sie in Verbindung mit anderen Wörtern gelernt wer-den, mit denen sie in einem bedeutungsmäßigen Zusammenhang stehen. Solche Zusammen-stellun-gen sind wohl den meisten Lehrenden und auch den Schülern aus den Lehrbüchern hinreichend ver-traut: Wörter in centres d'intérêt (mit überwiegend Substantiven wie z.B. le métro, le TGV, com-poster, le carnet de tickets. la ligne, la direction, le terminus, la station, la route), Wörter in Wort-familien (wobei die Ableitungsmorpheme geübt werden, z.B. réel, irréel, réalité, réaliser, réalisati-on, réalisable, irréalisable), Wörter mit Sinnrelationen wie Synonyme, Antonyme, Hyponyme u.ä. Weiterhin ist seit langem bekannt, dass auch der Kontext beim Wörterlernen eine Rolle spielt. Ein-zelwörter sind möglichst in einen Kontext 'einzubetten'. Das kennt man aus den Wörterbüchern,und auch in den Lehrwerken findet sich in der mittleren Spalte das aufgeführte Wort zuweilen in ei-nem Beispielsatz. In Übungen sind die gesuchten Wörter ebenfalls in einen Satz- oder Textzusam-menhang einzusetzen. Dabei können zum einen die schon erwähnten Netzwerkbeziehungen akti-viert werden, wie z.B. die Relation Oberbegriff-Unterbegriff in dem Frage-Antwort-Paar:Jean ne mange pas de truites? - Non, il déteste le poisson.Das Augenmerk kann jedoch auch auf die Beziehungen im Syntagma gelenkt werden, d.h. darauf,welche Wörter mit welchen anderen Wörtern zusammenstehen (kollokieren), wie z.B. die Kolloka-tion von Verben und Objekten:Il a beaucoup de CD? - Oui, il adore écouter des CD.(Wenn die einzusetzenden Wörter in diesen Übungen allerdings als Auswahl-Antworten gegebensind, so wird der Wortschatz nur rezeptiv abgefragt, d.h. die Schüler müssen das Wort nur nochrichtig auswählen, aber nicht selbst finden.)

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Wortschatzarbeit

Vokabelarbeit und KommunikationNun ist das Lernen von Wörtern ja kein Selbstzweck – genauso wenig wie das Lernen der Gramma-tik. Beides soll ja dazu dienen, dass die Schüler sich in der französischen Sprache mündlich wieschriftlich ausdrücken können. Bei solchen kommunikativen Sprachtätigkeiten, also beim Sprechenund Schreiben, begegnen die Wörter nie allein. Sie finden sich dort aber weder in den speziellenAuflistungen, die beim 'vernetzten' Lernen trainiert werden, noch in irgendwelchen anderen lexi-konartigen Zusammenstellungen. Einzig die Kollokationen nähern sich der kommunikativenSprachwirklichkeit. Die Anreicherung eines sog. 'mentalen Lexikons' durch die oben skizzierte Artder Wortschatzarbeit führt also zumindest nicht direkt zu kommunikativer Kompetenz. Zwar wirdniemand bestreiten, dass ein guter Fremdsprachensprecher auch über einen mehr oder weniger rei-chen fremdsprachlichen 'Wortschatz' verfügt, aber wie sieht das bei unseren Schülern der Sekundar-stufe I aus? Brauchen die Lehrenden wirklich nur dem Wortschatz mehr Aufmerksamkeit zu wid-men (zusammen mit der Grammatik oder gar mehr als dieser), um dadurch auch das Ausdrucksver-mögen in der Kommunikation zu erhöhen? Das Verhältnis zwischen der Vokabelarbeit und derKommunikation ist offenbar doch sehr viel komplizierter. Deshalb soll im Folgenden hier etwas indie Tiefe gegangen werden.

Fremdsprachliches lexikalisches System und muttersprachliches DenkenEs könnte alles ganz einfach sein, wenn das, was man in der Muttersprache an Erfahrungen mit dersprachlichen Kommunikation, an Fähigkeiten, Strategien und Kenntnissen gewonnen hat, einfachauf die Fremdsprache zu übertragen wäre. Zwar scheint dies manchmal möglich, oft genug führt esaber leider zu Fehlern, und zwar in der Kommunikation. In den meisten Fällen handelt es sich umsog. Interferenzen aus der Muttersprache. Der Schüler, der in deutsch-französischen Gleichungenzu denken gelernt hat und der auch Synonyme, Antonyme, Hyponyme sowie alle anderen bedeu-tungsmäßigen Zusammenstellungen des Vokabulars auf der Folie der Muttersprache systematisierthat, geht selbstverständlich davon aus, dass er die französischen Äquivalente für seine deutsch ge-dachten Konzepte so verwenden kann, wie er es aus der Muttersprache gewohnt ist.Wenn 'waschen' laver heißt, dann wird er zwar auf se laver les mains kommen, bei den 'Zähnen'wird er aber im Wörterbuch nach dem französischen Wort für 'putzen' suchen. Die Kollokationécouter des CD kann zwar von écouter = 'hören' abgeleitet werden. Bei der Bildung von *Je n'airien écouté leitet ihn die Vokabelgleichung dagegen in die Irre. Wenn er une heure als Übersetzungvon 1. 'Stunde', 2. 'Uhr' gelernt hat, so wird er weder auf Vous avez l'heure? noch auf être à l'heureverfallen, evtl. aber auf: *Tu as une nouvelle heure? Wenn er mit dem frz. Wort arriver das dt.Wort 'ankommen' assoziiert, so müssen ihm die weit häufiger vorkommenden frz. ÄußerungenJ'arrive. - Qu'est-ce qui t'arrive? – Il m'est arrivé quelque chose de très curieux zunächst sehrmerkwürdig vorkommen. Wenn er schließlich nach einer frz. Entsprechung für dt. 'abnehmen'sucht, so muss er sich durch mindestens fünf verschiedene semantische Konzepte kämpfen. Be-herrscht er die "Arbeit mit dem Wörterbuch", so kann er theoretisch folgende Konzepte versprachli-chen: La lune décroît - Personne ne décroche - La température baisse - J’ai beaucoup maigri - Ilenlevait son chapeau - Le vent a diminué. Solche Erfahrungen werden in dem Schüler zwangsläufig den Eindruck verstärken, dass Franzö-sisch eben eine schwere Sprache ist und dass man nie sicher sein kann, ob die Wörter auch 'passen',wenn man sie in Sätze einfügt. Die Lehrenden können das Risiko zwar minimieren, wenn sie inner-halb der "pädagogischen Provinz" des Lehrbuchs mit seinen sorgsam ausgewählten Satzbeispielenbleiben. Sobald sie jedoch ihre Schüler auf das freie Feld des an der Sprach-wirklichkeit ausgerich-teten kommunikativen Sprechens oder Schreibens führen wollen, nehmen die Schwierigkeitenmeist überhand.

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Polysemie und Kontextabhängigkeit als LernproblemDer Grund für dieses Dilemma liegt einmal in dem allseits bekannten Phänomen der sprachlichenPolysemie, d.h. also in der Tatsache, dass in einer lebendigen Sprache einer Form oft mehrere Be-deutungen zukommen, diese aber vom Schüler kaum sofort alle mit gelernt werden können. Einweiteres Phänomen ist die absolute Kontextabhängigkeit jedweder sprachlichen Form. Sie ist zwarals solche ebenfalls bekannt, doch in ihrer Tragweite für das fremdsprachliche Lernen bisher zu we-nig berücksichtigt worden. In beiden Gegebenheiten dokumentiert sich die Eigenständigkeit einesjeden sprachlichen Systems. Auch und gerade wenn es strukturelle Gemeinsamkeiten zwischenzwei Sprachen gibt (wie dies bei dem Französischen und dem Deutschen der Fall ist), setzen Wort-gleichungen und muttersprachlich geprägte Konzeptbildungen den Schüler auf eine Lernschiene,die ihm eine falsche Sicherheit vorspiegelt. Diese durch den selbstverständlichen Rekurs auf dieGebrauchsbedingungen der muttersprachlichen Äquivalente erzeugte Sicherheit bricht brutal zu-sammen, sobald der Schüler anfängt, sich frei zu äußern. Er erfährt dann schmerzlich, dass es nichtreicht, die französische Vokabel z.B. für ein bestimmtes Verb zu kennen, sondern dass er die se-mantischen und syntaktischen Gebrauchsbedingungen dieses spezifischen Verbs, also seine Kollo-kationsmöglichkeiten, seine Valenz bzw. die Satzkonstituenten, mit denen es zusammen passt, ken-nen muss. Aufgrund der partiellen Ähnlichkeit zwischen den beiden Sprachen muss er praktisch je-desmal 'lernen', ob die Gebrauchsbedingungen gleich sind oder nicht. Der Vergleich mit der Mut-tersprache soll also stattfinden, aber eben im Hinblick auf das Bewusstsein der möglichen Anders-artigkeit. Auf diese wäre jedesmal ausdrücklich hinzuweisen, da sonst automatisch der mutter-sprachliche Habitus greift.

Linguistik und DidaktikWie aber soll dies in der Praxis geschehen? Steht nicht eine 'kognitive' Überforderung der Schülerzu befürchten, so dass ihnen die Lust an der fremdsprachlichen Kommunikation erst recht vergeht?Die sprachlichen Gegebenheiten können wir nicht ändern, wohl aber den didaktischen Umgang mitihnen. Für die gängige Unterrichtspraxis ist die "Arbeit an Grammatik, Wortschatz und Ausspra-che" bzw. die Vermittlung von "grammatischen, lexikalischen und phonetischen Kennt-nissen" eineSelbstverständlichkeit. Ebenso selbstverständlich rangiert sie vor der "gelenkten" und erst recht vorder "freien"' Kommunikation (soweit letztere überhaupt in den ersten Lernjahren gewagt wird). DieIsolierung der linguistischen Teilgebiete hat die Didaktik aus der Theoriebildung der Systemlin-guistik übernommen. Eine lernpsychologische Begründung dafür fehlt bis heute. Solange es imFremdsprachenunterricht vorrangig um das Entschlüsseln von Texten ging (wie heute noch im La-teinunterricht), mag diese Vorgehensweise durchaus ihre Berechtigung haben. Seit jedoch im Un-terricht der lebenden Fremdsprachen die Produktion, also das mündliche und schriftliche Ver-sprachlichen von Gedanken, Wünschen, Meinungen, Gefühlen, Erfahrungen, Erlebnissen, Kennt-nissen usw. im Vordergrund steht, sollte die aus der Tradition der (nicht mehr gesprochenen) "altenSprachen" überkommene Didaktik zumindest hinter fragt werden. Die künstlich aufgerissene Kluftzwischen den isoliert betrachteten sprachlichen Elementen und der ganzheitlichen sprachlichenKommunikation könnte sich als lernpsychologisches Hindernis erweisen, an dem sich die "Tranfer-versuche" der kommunikativen Didaktik gegenwärtig die Zähne ausbeißen. Die Alternative wäre,den Graben zuzuschütten und sich in Theorie und Praxis den sprachlichen Elementen, hier demWort, unmittelbar in der Kommunikation zuzuwenden.

Das Wort in der Kommunikation: Praktische UmsetzungDem Lernziel der fremdsprachlichen Kommunikationsfähigkeit nähert man sich erst dann, wennder Schüler die gelernten Wörter in der Kommunikation richtig verwenden kann. Die Gebrauchsbe-dingungen sind – da sie nicht völlig mit denen des deutschen Äquivalents übereinstimmen – viel zukompliziert, als dass sie dem Schüler am einzelnen Wort beigebracht werden könnten. Streng ge-nommen hat das Einzelwort auch gar keine 'Bedeutung', da es sie erst aus der Umgebung erhält.

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Warum also dann das Wort nicht in dieser 'Umgebung' aufsuchen und es zu einer größeren sprachli-chen Einheit zusammenbinden, die gleichsam als Baustein für die Produktion der französischenÄußerung fungiert? Anstatt Wörter in ihrer sozusagen abstrakten 'Lexikon-Bedeutung' lernen zulassen - Substantive mit bestimmtem oder unbestimmtem Artikel (damit man ihre Genuszugehörig-keit weiß), Verben im Infinitiv (damit man ihr Konjugationsparadigma weiß) oder Adjektive inmaskuliner und femininer Form (damit man ihre 'Bildung' weiß) - könnte man sie dem Schüler auchin ihrem natürlichen Kontext als Lerneinheit bewusst machen und als fertigen Baustein für die Ver-sprachlichung seiner Äußerungswünsche zur Verfügung stellen.So treten z.B. Substantive in unterschiedlichen Kommunikationssituationen mit verschiedenen Be-gleitern auf. Es gibt sowohl le sport als auch du sport und de sport. Diese drei verschiedenen Bau-steine hängen von der Valenz der voran stehenden Verben ab. Hier sind es Verben vom Typ aimerund faire. Sie versprachlichen zwei grundverschiedene kommunikative Absichten. Mit aimer kannman seine Vorlieben bzw. Abneigungen ausdrücken, mit faire, was man z.B. in seiner Freizeitmacht. Da in einer gegebenen Kommunikationssituation immer nur bestimmte grammatische Mar-kierungen in bezug auf Person, Numerus und Tempus in Frage kommen, lassen sich die entspre-chenden Formen des Subjektpronomens und des konjugierten Verbs ebenfalls zu einem Bausteinzusammen fassen. Für die Sprechintention "Vorlieben ausdrücken" ergeben sich also folgende Bau-stein-Varianten: j'aime/ j'adore, je n'aime pas/ je déteste/ j'aime mieux/ je préfère, für die Sprechin-tention "Freizeitaktivitäten ausdrücken" die beiden unterschiedlichen Bausteine je fais und je nefais pas. Unter dem Aspekt des 'Könnens' (nicht des 'Wissens') scheint es lernpsy-chologisch durch-aus sinnvoll, den Schülern das konjugierte Verb in der 1. Person 'ins Ohr' zu bringen. Zum einenlassen sich aus der 1. Person sehr leicht die beiden anderen Personen des Singulars ableiten (diemündlichen Formen sind sogar identisch), zum anderen lässt sich der Infinitiv seinerseits sehr leichtmit dem Futur proche und mit aimer + Infinitiv automatisieren. In einem an den Äußerungswünschen der Schüler orientierten kommunikativen Französisch-unter-richt begegnen diese unterschiedlichen Lerneinheiten oder Baustein-Typen zwangsläufig bei derErarbeitung bestimmter Themen. Einigt man sich z.B. darauf, dass die Schüler in einem Frage-Ant-wort-Spiel ihren französischen Partnern ihre Vorlieben und Abneigungen mitteilen wollen, so kämeetwa folgender Dialog zu Mes préférences zustande:

Tu aimes le sport? Oui, j'aime/ j'adoreNon, je n'aime pas/ je détesteNon, j'aime mieux/ je préfère la musiqueOui, j'aime le foot/ la natation/ l'athlétisme

Quel est ton animal préféré? J'aime les chiens / les phoques / ...Je n'ai pas d'animal préféré.

Qu'est-ce que tu aimesporter comme vêtements? J'aime porter des jeans (noirs / bleus) / des pulls larges / ...

J’aime les pull-overs / les sweat-shirts / les blousons/ ...Je n'ai pas de vêtement(s) préféré(s).

Quelle est ta couleurpréférée? J'aime le vert / le brun / le bleu / le violet / le noir / le jaune / l’orange / le

rouge / le grisQuelles sont tes matièrespréférées? J'aime l'anglais / le français / le dessin / la biologie / les mathématiques.

J'adore la musique, mais je déteste la physique

In einer späteren Systematisierungsphase könnte man die Schüler zusammentragen lassen, was siealles mögen oder auch nicht mögen: Sportarten – Freizeitbeschäftigungen – Lektüre – Gerichte, Sü-ßigkeiten, Getränke – Unterrichtsfächer – Farben – Tiere – Kleidungsstücke usw. Durch das selb-ständige Auflisten ordnen sie sowohl den Wortschatz als auch die Grammatik, indem sie die beiden

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Bausteine, die sie zur Versprachlichung ihrer kommunikativen Absicht benötigen, einander zuord-nen, nämlich eine begrenzte Anzahl von Verben (die Vorlieben ausdrücken) und semantisch dazupassende Substantive mit bestimmtem Artikel. Dabei können neben den schon bekannten Substanti-ven für die einzelnen Bereiche evtl. von den Schülern auch weitere Substantive erfragt (oder selbstim Wörterbuch gesucht) werden. Die Substantive sollten nach Geschlecht getrennt aufgeführt wer-den, um zusätzlich eine optische Gedächtnisstütze zu erhalten. Auch der Hinweis auf typischemännliche oder weibliche Endungen könnte hier hilfreich sein.

J'aimeJ'adoreJe n'aimepasJe détesteJ'aimemieuxJe préfère

le sport:le foot – le basket - le volley – le badminton – le hockey – le handball – le tennis – letennis de table – le skatingla natation – la danse

l'équitation – l'athlétisme – l'escrime – l'escaladeles loisirs:le dessin – le jazzla musique – la télé – la radioles expositions – les musées – les promenades – les randonnées – les vidéos – leschansonsles jeux de cartes – les films d’aventure – les matchs de footla lecture:les journaux – les romans d'aventure

les revues – les histoires d'animaux – les petites poésies – les BDles repas:la semoule au lait – la foie – la salade – la pizzale riz au lait – le poissonles spaghetti – les haricots – les petits poisles sucreries:la glace – la pâte d'amandesles boissons:le coca – la citronnadeles matières:le français – le dessin – le sport – l'allemand – l'anglaisla géographie - la musique – la physique – la biologie – l'histoire – l'éthique –l'informatiqueles mathématiquesles couleurs:le vert – le brun – le bleu – le violet – le noir – le jaune – l’orange – le rouge – le grisles animaux:les lions – les chats – les chiens – les tigres – les serpents- les chevaux – les phoques – lessingesles vêtements:les jeans - les pulls larges – les sweat-shirts – les blousons

Die Farben würden in weiteren Auflistungen mit anderen Bausteinen wiederkehren, z.B. bei derBeschreibung der Haar- oder Augenfarbe. Erarbeitet werden sie etwa in einem Dialog über dasAussehen - die Bausteine sind hier durch Kästchen kenntlich gemacht:Quelle est la couleur de tes cheveux? J'ai les cheveux roux/ bruns/blonds/

noirs/châtains/ blond foncé/ châtain clair

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Wortschatzarbeit

Quelle est la couleur de tes yeux? J'ai les yeux bleus/ verts/ gris/ marron/ gris vertErst in diesem Kontext wird deutlich, dass das deutsche Wort 'braun' einmal als brun und einmal alsmarron erscheint und dass für die roten Haare allein das Adjektiv roux in Frage kommt.Bei der Erarbeitung des Themas Mes Activités de loisirs oder Mes Activités pendant les vacancesbringen die lexiko-grammatischen Lerneinheiten zum Ausdruck, was man in seiner Freizeit machtoder in den Ferien machen wird bzw. gemacht hat. Hier fallen die Unterschiede bei den Substantiv-Bausteinen ins Auge. Nach faire ergeben sich zwei Gruppen, je nachdem, ob das Verb bejaht oderverneint gebraucht ist. Die spätere Systematisierung kann dies noch einmal verdeutlichen:

Je faisJe vais faireJ'ai fait

du sport – du vélo – du ski – du tir – du patin à glace – du skating – du dessinde la natation – de la danse – de la musique

de l'équitation – de l'athlétisme – de l'escrime – de l'escaladedes promenades – des randonnées

Je ne fais pasJe ne vais pas faire

Je n'ai pas fait

de sport – de vélo – de ski – de tir – de patin à glace – de dessinde natation – de danse – de musiqued'équitation – d'athlétisme – d'escrime – d'escalade

de promenades – de randonnées

Bei jouer dagegen besteht kein Unterschied bei Bejahung und Verneinung. Hier wird aber die Prä-position gewechselt, je nachdem, ob es um Ballspiele oder um Musikinstrumente geht:Je joue - Je ne joue pasJe vais jouer - Je ne vais pas jouerJ'ai joué - Je n'ai pas joué

au foot – au basket - au volley – au badminton – au hockey –au handball – au tennis – au tennis de tableaux cartes – aux échecs – aux fléchettes

Je joue - Je ne joue pasJe vais - Je ne vais pas jouerJ'ai joué - Je n'ai pas joué

du piano – du basson – du violon de la guitare – de la flûte – de la batteriede l’accordéon – de l'orgue

Eine solche Art der Auflistung hat den Vorteil, dass sie die Substantive in Zusammenhänge bringt,die der sprachlichen Wirklichkeit in ihren formalen wie auch in ihren semantischen und pragmati-schen Dimensionen Genüge tut. Die jeweilige Lerneinheit steht in einem bestimmten thematischen,situationellen, strukturellen und morpho-syntaktischen Zusammenhang. Die Schüler erfahren diesprachlichen Elemente in ihren kommunikativen Funktionen und nicht mehr nur als Wortarten ineinem abstrakten System, wo Substantive, bestimmter oder unbestimmter Artikel sowie Teilungs-artikel und Präpositionen nach komplizierten Regeln zusammen zu fügen sind.An den obigen Beispielen wird deutlich, dass die Verbmarkierungen ebenfalls in ihrem natürlichenKontext gelernt werden können. Die aus Subjektpronomen und Verb bestehende Lerneinheit ließesich zudem um die Objektpronomen erweitern. Dadurch könnte das fast schon traumatisch zu nen-nende Problem der direkten und indirekten Objektpronomen der 3. Person entkrampft werden. Sokönnten die Schüler z.B. die wenigen Verben, die ein indirektes Objekt verlangen (sie machen nur0,7% aller Verben aus), in lexiko-grammatischen Einheiten lernen.In einem Dialog über Mon correspondant/ Ma correspondante könnten z.B. folgende Fragen undAntworten erarbeitet werden:Tu as déjà reçu des lettres? Oui, il/ elle m'a envoyé deux lettres.Il/ Elle t'a écrit en français? Oui, il/ elle m'a écrit en français.

Non, il/ elle ne m'a pas écrit en français.Quand est-ce que tu lui as répondu? Je lui ai répondu toute de suite.

Je ne lui ai pas encore répondu.Tu lui as donné ton numéro de téléphone? Oui, je le lui ai donné par mel.

Non, je ne le lui ai pas encore donné.Tu lui as déjà téléphoné? Oui, je lui ai déjà téléphoné.Tu lui a déjà parlé au téléphone? Non, mais je lui ai écrit un mel.

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Wortschatzarbeit

Tu lui as envoyé une photo? Oui, je lui en ai envoyé une dans ma dernière lettre.Tu lui as déjà demandé s'il/ si elle veutvenir en Allemagne? Oui, je lui ai demandé.

Non, je ne lui ai pas encore demandé.Qu'est-ce qu'il/ elle t'a répondu? Il/ Elle m'a promis de venir l'année prochaine.Tu voudrais aussi lui rendre visite? Oui, j'aimerais bien lui rendre visite.

Um die hier in ihrem natürlichen Kontext vorkommenden, unterschiedlich strukturierten Bausteinezu automatisieren, lässt man sie von den Schülern nach gleichen Strukturmustern ordnen. Es entste-hen folgende komplexe, aber als Einheit zu lernende lexiko-grammatische Bausteine:Tu lui as déjà parlé/ écrit/ téléphoné/ répondu/ demandé?Je lui ai déjà parlé/ écrit/ téléphoné/ répondu/ demandéJe ne lui ai pas encore parlé/ écrit/ téléphoné/ répondu/ demandéIl/ Elle t'a déjà parlé/ écrit/ téléphoné/ répondu/ demandé?Il/ Elle m'a déjà parlé/ écrit/ téléphoné/ répondu/ demandéIl/ Elle ne m'a pas encore parlé/ écrit/ téléphoné/ répondu/ demandé

Während die Verben in den obigen Bausteinen das gemeinsame Bedeutungskonzept 'an eine Personherantreten' ausdrücken, wird in den folgenden Bausteinen auch gesagt, was an die Person 'vermit-telt' wird:Tu lui as déjà écrit/ envoyé une lettre/ un mel/ une carte postale?Tu lui as déjà envoyé/ donné une photo?Je lui ai déjà écrit/ envoyé une lettre/ un mel/ une carte postale Je ne lui ai pas encore écrit/ envoyé une lettre/ un mel/ une carte postaleJe lui ai déjà envoyé/ donné une photoJe ne lui ai pas encore envoyé/ donné une photoJe la lui ai déjà envoyée/ donnéeJe ne la lui ai pas encore envoyée/ donnée

Hier erscheinen 'Vokabeln' in ihrem natürlichen Umfeld. Dabei zeigt sich ein semantischer Zusam-menhang zwischen Verben mit bestimmten Valenzen. Dieses Phänomen, das für Sprache als Kom-munikationsmittel charakteristisch ist und das auch den Schülern einsichtig gemacht werden kann,ermöglicht das Ausdenken von Situationen, in denen bestimmte Baustein-Typen gehäuft vorkom-men und die deshalb als Grundlage für dialogisch angelegte Strukturübungen verwendbar sind. DieSituationen könnten unter aktiver Beteiligung des kreativen Potentials der Schüler gefunden undausgestaltet werden. Im Falle der obigen Bausteine wären z.B. die bestätigenden Antworten sinn-vollerweise mit einer Zeitbestimmung zu kombinieren, die ihrerseits als ganzer Baustein gelerntwird, z.B. en février/ hier/ la semaine dernière/ pendant les vacances/ il y a huit jours. Die Zeitbe-stimmungen wären dann – sobald genug eingeführt wurden - wieder von den Schülern selbst nachsemantischen und formalen Gesichtspunkten systematisch zu ordnen. (Solche systematischen Zu-sammenstellungen sind in den Materialien zum Projekt "Innovativer Franzö-sischunterricht" zu fin-den (siehe die Homepage der Verfasserin).Die ebenfalls sehr fehleranfälligen betonten Pronomen lassen sich nach den entsprechenden (weni-gen) Verben mit à zu einer Lerneinheit zusammenbinden, so dass zwei Bausteine entstehen:Je pense/ songe/ tiens/ renonce à lui/ elle/ eux/ ellesJe m'adresse/ m'attache/ m'attaque/ m'intéresse/ me confie à lui/ elle/ eux/ ellesSituationen, in denen diese Bausteine natürlicherweise vorkommen, wären z.B. innerhalb von The-men wie Mon ami(e) de rêve (evtl. in Form von Gedichten) zu suchen.Bei Sachen gilt es dagegen nur einen Baustein mit dem vorgestellten y zu lernen:J'y pense/ songe/ tiens/ renonceJe m'y attache/ confie/ intéresse

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Wortschatzarbeit

Mit den Schülern zusammen kann überlegt werden, woran man z.B. gewöhnlich 'sein Herz hängt'.

Integrierter WortschatzBegleiter, Objektpronomen und Präpositionen offenbaren in besonders krasser Weise die Problema-tik der Trennung von Wortschatz und Grammatik. Diese 'Wortarten' stehen im Wörterbuch.Schließlich sind es ja 'Wörter', aber sie werden im 'Grammatikbuch' nach einem abstrakten Modellabgehandelt, das zwar das Sprachsystem, nicht aber die Sprachwirklichkeit abbildet.Die obigen Beispiele zeigen, wie die für den Lernprozess offensichtlich nicht besonders günstigeAbtrennung des Wortschatzes von seinen semantischen und syntaktischen Gebrauchsbedingungenaufgehoben werden kann. An die Stelle des Lernens von Wörtern oder 'Vokabeln' treten lexiko-grammatische Lerneinheiten, die von den Schülern als Bausteine zur Versprachlichung ihrer Äuße-rungswünsche verwendet werden können. Dabei bildet sich im Kopf der Schüler anstelle der alten'Grammatik' und des 'mentalen Lexikons' eine an der Realität der Sprachverwendung orientierteneue, Form und Bedeutung zusammenbindende Systematik heraus. Die thematischen Zusammen-stellungen von Substantiven (samt ihren Begleitern), von Adjektiven (z.T. mit den Substantiven zu-sammengebunden), von Verben (ebenfalls nach Sinngruppen samt ihren pronomi-nalen Objekter-gänzungen), von Umstandsbestimmungen (vor allem mit Päpositionen, sodass der unsinnige Rück-griff auf deutsch-französische Entsprechungen entbehrlich wird) – diese Zusammenstellungen sindaufgrund ihrer grammatischen Markiertheit gleichzeitig fertige (wenn auch lexikalisch variable)Bausteine, deren Anschließbarkeit an andere Bausteintypen sofort mit zu lernen ist. Die dadurchgegebene Lernerleichterung wird besonders deutlich, wenn man sich z.B. vor Augen führt, dass dieVerteilung der direkten Objektpronomen der 3. Person (le, la, les) nicht mehr eigens gelernt werdenmuss, sondern per Ausschlussverfahrens feststeht. Die Schüler, die die Bausteine mit den indirektenPronomen gelernt haben, können davon ausgehen, dass alle anderen gängigen Verben, die sie inden ersten vier Lernjahren kennenlernen (ca. 70 % aller Verben), eine direkte Objektergänzung ver-langen.Das unterrichtliche Konzept zur Arbeit mit lexiko-grammatischen Lerneinheiten wird seit mehrerenJahren an verschiedenen Schulen erprobt (siehe die Homepage der Verfasserin). Auf die theore-ti-schen Grundlagen kann hier nicht näher eingegangen werden. Nur soviel ist zu sagen: Es gibt in-zwischen eine Vielzahl von stützenden Forschungsergebnissen aus wissenschaftlichen Disziplinen,die sich mit der Sprachverwendung, dem Muttersprachenerwerb sowie dem Zweit- und Fremdspra-chenerwerb beschäftigen. Sie alle stimmen darin überein, dass die tradierte Auffassung, wonach derSprachbenutzer Wörter nach den Regeln der Grammatik zu Sätzen zusammensetzt, den psychologi-schen Realitäten der Sprachproduktion nicht gerecht wird. Sie postulieren statt dessen die Existenzvon festgefügten lexiko-grammatischen Mehr-Wort-Einheiten, die der Sprachbenutzer nicht 'kon-struiert', sondern fertig zur Verfügung hat. Gleichwohl ist er sich der Struktur dieser Gebilde aufverschiedenen Abstraktionsebenen mehr oder weniger bewusst. Diese Einheiten sind also nicht nur'auswendig' gelernt, sondern in ihren Bestandteilen vom Sprecher analysierbar und variierbar. Siedienen darüber hinaus aufgrund ihres Modellcharakters als Ausgangspunkt für Analogiebildungenund werden damit dem kreativen Aspekt der Sprachproduktion gerecht. (Für eine praxisnahe Dis-kussion der theoretischen Grundlagen s. Segermann, Krista (2003): "Wortschatz und Grammatik imDienste der Kommunikation. Methodische Alternativen zu tradierten Prinzipien des Fremdspra-chenunterrichts." In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 50 (2003):340-350.)

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Wortschatz und Grammatik

Krista Segermann Wortschatz und Grammatik im Dienste der Kommunikation - Methodische Al-ternativen zu tradierten Prinzipien des Fremdsprachenunterrichts(veröffentlicht in: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 2003, H. 4, S. 340-350)

Dass die Grammatik eine der Kommunikation dienende Funktion hat, ist schon seit längerem in denmeisten Lehrplänen verankert. Auch die Verwendung des Wortschatzes soll laut Lehrplan selbstver-ständlich auf die vier kommunikativen Sprachtätigkeiten bezogen sein. Doch wie sieht es mit derVerwirklichung dieser Forderungen in der methodischen Kleinarbeit aus? Der folgende Artikel setzthier an, indem er für drei tradierte Unterrichtsprinzipien mögliche Alternativen vorschlägt und diesevorab auch in ihren theoretischen Begründungen diskutiert. Die Vorschläge ziehen die Konsequen-zen aus einer Entwicklungslinie, in der die Fremdsprachendidaktik sich nun-mehr seit über 100 Jah-ren aus der Bevormundung durch die formale Systemlinguistik zu befreien sucht – angefangen vonder "Neusprachlichen Reformbewegung" und ihrem Verdikt gegen den geistlosen formalen Sprach-unterricht über die Entdeckung der "pragmatischen Dimension" und der "kommunikativen Wende"bis zum "inhaltsorientierten bilingualen Unterricht". Es handelt sich bei den vorgeschlagenen Alter-nativen nicht um oberflächliche Kosmetik. Sie greifen vielmehr recht tief in alteingesessene Haltun-gen und Überzeugungen ein, die sich mit rationalen Argumenten nur schwer verändern lassen. Obhier eine Änderung wünschenswert und möglich ist, mögen die geneigten Leserinnen und Leser da-her jeweils selbst für sich entscheiden.

1. Eine Alternative zum Prinzip der grammatischen ProgressionDie Einführung neuer sprachlicher Formen geschieht nicht anhand von vorgegebenen Lehr-buchtexten, die einer grammatischen Progression folgen, sondern aufgrund der Äußerungswünscheund -bedürfnisse der Lernenden.

1.1 Unterrichtstheoretische Diskussion

1.1.1 Grammatische Progression und LehrbuchDie grammatische Progression als Unterrichtsprinzip geht davon aus, dass das Erlernen einer frem-den Sprache sich vollzieht, indem der Lernende sich nach und nach die Erscheinungen der fremd-sprachlichen Grammatik in Form und Gebrauch aneignet. Für den gesteuerten Fremdsprachener-werb bedeutet dies, dass die grammatische Progression das Rückgrat und die inhaltliche Leitliniedes Unterrichts ausmacht. Das Fortschreiten des Unterrichts bemisst sich nach den abgehandeltenKapiteln der Schulgrammatik – die sich ihrerseits an den traditionellen Beschrei-bungsschemata derdeskriptiv-normativen Grammatiktheorie orientiert. Für die Reihenfolge, in der der Lernende mitden einzelnen grammatischen Erscheinungen einer bestimmten Fremdsprache vertraut gemachtwird, hat sich durch eine lange Lehrbuchtradition eine mehr oder weniger feste Form herausgebil-det. Sie erhebt zwar nicht den Anspruch, wissenschaftlich begründet zu sein, und kann auch hierund da verändert werden, doch gilt sie in ihrem systematischen Anspruch vielfach als unterrichtlichbewährt.

1.1.2 Die Herausforderung durch die 'pragmatische Progression'Die härteste Bewährungsprobe hatte das Prinzip der grammatischen Progression in den 70er Jahrenzu bestehen, als es im Zuge der sog. 'kommunikativen Wende' mit der alternativen Forderung nacheiner 'pragmatischen Progression' konfrontiert wurde. Im geschichtlichen Rückblick lässt sich dieAussichtslosigkeit dieser Alternative damit erklären, dass an dem Prinzip einer systematischen Pro-gression festgehalten wurde. Doch war eine Systematisierung nach Sprechakten, die mit der ganzenempirischen Fülle von schwer klassifizierbaren Performanzfaktoren behaftet sind, gegenüber derüberlieferten Systematisierung von abstrakt zu fassenden grammatischen Erscheinungen von vorn-herein im Nachteil. Das 'pragmatische' Zwischenspiel hat seine Spuren allenfalls in den – unsyste-matisierbaren - Auflistungen von Sprechakten/Sprechintentionen bzw. Situationen der aktuellen

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Wortschatz und Grammatik

Lehrwerke und Lehrpläne hinterlassen; von einer erfolgreichen Integration der beiden konträrenSystematisierungsformen kann allerdings keine Rede sein.

1.1.3 Die Hypothese der 'natürlichen Spracherwerbssequenzen'Kritik an der etablierten Reihenfolge - nicht jedoch an der Notwendigkeit einer grammatischen Pro-gression als solcher - kommt heute wieder verstärkt von einer der sog. Identitätshypothese ver-pflichteten didaktischen Richtung, die vor allem im DaF-Bereich Anhänger findet.27 Danach solltesich die grammatische Progression an den sog. 'natürlichen Spracherwerbssequenzen' orientieren,die einerseits einem universalen kognitiven Entwicklungsschema, andererseits jedoch auch sprachs-pezifischen Entwicklungsgesetzen folgen. Das Bestreben, eine lernpsychologisch begründbare Pro-gression für den Fremdsprachenunterricht aufzustellen, trifft jedoch auf das grundsätzliche Pro-blem, dass eine Parallelisierung von Erst- und Zweitsprachenerwerb vor allem aufgrund des unter-schiedlichen kognitiven Entwicklungsstandes kaum zulässig scheint.

1.1.4 Grammatik als kategoriale WeltbewältigungGenau hier liegt auch der Ansatzpunkt für eine grundsätzliche Infragestellung der grammatischenProgression als didaktisches Prinzip des Fremdsprachenunterrichts. Selbst wenn die Grammatik alsabstraktes internalisiertes Regelsystem aufgefasst wird, kann doch nicht geleugnet werden, dass siesich auf Erscheinungen der Lebenswelt bezieht, indem sie kognitive Kategorien der Weltbewälti-gung widerspiegelt, die als Organisationsprinzipien der Erfahrung zu verstehen sind. Beim Erstspra-cherwerb hängt die Entwicklung dieser kognitiven Kategorien eng mit der Entwicklung der Sprach-fähigkeit zusammen. Diese Kategorien sind zwar universell; ihre konkrete formale Füllung undStrukturierung geschieht jedoch sprach- bzw. kulturspezifisch. Diese natürliche Entwicklung - obman sie nun als quasi automatischen Ablauf eines genetischen Programms oder als aktive, wennauch z.T. unbewusste Verknüpfung von situationsbezogenen Inhaltskonzepten mit sprachlichenFormen auffasst - vollzieht sich bei jedem Menschen nur einmal. Im Fremdsprachenunterricht kannsozusagen eine zweite Parametersetzung erfolgen, die dann als bewusste Besetzung der bekanntenkognitiven Kategorien mit den neuen Formen der Fremdsprache zu interpretieren wäre. Gelerntwerden müssten also nicht die Kategorien – nennt man sie nun grammatisch oder kognitiv – son-dern deren sprachspezifische Besetzung.

1.1.5 Die Rolle der muttersprachlichen KompetenzFolgt man dieser Argumentation, so können die fremdsprachlichen Entsprechungen der mit derMuttersprache gelernten kategorialen Aspekte der Lebenswelt (wie z.B. die gemeinhin als gramma-tisch bezeichneten Kategorien Genus, Numerus, Tempus, Kasus, Modus usw.) an jeder beliebigenStelle des Lehrgangs eingeführt werden. Dem Lernenden ist lediglich zu vermitteln, mit welchen le-xikalischen und morpho-syntaktischen Formelementen die Fremdsprache ausdrückt, dass es sichz.B. um eine einzelne Person oder um mehrere handelt, wer der Handlungsträger ist oder wann et-was geschieht. Der kognitive Rahmen für diese durchaus bedeutungshaltigen und auch lebenswich-tigen Aspekte ist schon vorhanden und muss nicht erst fremdsprachlich aufgebaut werden. In die-sem Sinne bedeutet die muttersprachliche Kompetenz als 'Wissen' um die Organisationsstrukturender Lebenswelt eine entscheidende Hilfe für den Aufbau des fremdsprachlichen Systems. DieseKompetenz ist es, die den Verzicht auf eine systematische Progression rechtfertigt und damitgleichzeitig einen Lehrgangsaufbau ermöglicht, der durch die inhaltlichen Ausdrucksbedürfnisseder Lernenden bestimmt wird. Die fremdsprachlichen Formulierungen unterliegen des weiterenauch keiner lernpsychologisch zu begründenden Schwierigkeitsabstufung. Der rein linguistischeKomplexitätsgrad ist kein verlässlicher Maßstab für die Lernschwierigkeiten. Ein solcher lernpsy-chologisch relevanter Maßstab hätte weitaus mehr Gegebenheiten zu berücksichtigen, die gegen-wärtig noch kaum erforscht sind. Während beim Kleinkind die Formen der Gegenwart selbst-verständlich den Formen der Vergangenheit vorausgehen, kann das mit den Zeitkategorien vertraute

27 Vgl. z.B. Erika Diehl, u.a. Grammatikunterricht – Alles für die Katz? Untersuchungen zum ZweitsprachenerwerbDeutsch. Tübingen: Narr, 2000.

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Wortschatz und Grammatik

Schulkind die Zeitformen in beliebiger Reihenfolge erlernen – motivationspsychologisch gesehenam besten bedarfsorientiert, d.h. in der Reihenfolge, die seinen Äußerungswünschen entspricht.In der vielschichtigen Geschichte des Fremdsprachenunterrichts lassen sich immer wieder Bestre-bungen nachweisen, die einen freien, d.h. nicht von der Systematik der grammatischen Erschei-nun-gen diktierten Zugang zur Sprache propagierten und die bewusste Einordnung der zuvor gelerntengrammatischen Formen in das Sprachsystem später vornahmen. Dies war vor allem auch einer dermethodischen Grundsätze der Neusprachlichen Reformbewegung des ausgehenden 19. und begin-nenden 20. Jahrhunderts. So heißt es z.B. bei Max Walter:

Aus der Verbindung mit der Anschauung und Handlung ergibt sich zugleich eine gute Vorarbeitfür die erst weiter später eintretende grammatische Schulung, die sich dann ganz anders aufbau-en und entwickeln lässt als da, wo diese Erscheinungen meist nur an Sprachmaterial gelehrtwerden, das in keiner Beziehung zu den Erlebnissen und Erfahrungen des Schülers selbst steht,ihm daher nie so zum Bewusstsein kommt, als wenn der Schüler sie sozusagen 'an seinem eige-nen Leibe' durchgemacht hat.28

1.2 Unterrichtspraktische RealisierungWie können die individuellen Äußerungswünsche der Lernenden nun im konkreten Unterricht sti-muliert, identifiziert, gebündelt und für ein sequentielles Lernen bereitgestellt werden?Voraussetzung dafür, dass die Lernenden sich äußern wollen, ist das Schaffen einer entsprechendenUnterrichtsatmosphäre. Die Äußerungswünsche können zunächst nicht anders als in der Mutter-sprache artikuliert werden, allerdings nicht durch fertige deutsche Formulierungen, die dann 'über-setzt' werden, sondern durch Umschreibung. Die steuernde Bündelung der individuellen Äuße-rungswünsche geschieht dadurch, dass die Lerngruppe sich auf ein bestimmtes Thema und eine be-stimmte Situation samt Rollenkonstellation einigt. Den Hintergrund für den situationellen Sprech-anreiz stellt die angestrebte Kommunikation mit den französischen Partnern dar. Die Lernenden be-richten zunächst über sich und ihre Welt. Anhand von Dialogen werden sowohl kurze Gesprächs-äußerungen als auch beschreibende, erzählende und argumentierende Textpassagen erarbeitet, diedie unterschiedlichsten Inhaltskonzepte enthalten.Auszüge aus den Anfangsdialogen:Moi et ma familleTu as des frères et sœurs? Oui, j'ai un frère et une sœur.

Non, je n'ai pas de frères et pas de sœurs.Il/ Elle a quel âge? Il/ Elle a (vingt-quatre) ans.

Où j'habiteTu habites dans une grande ville? Oui, j'habite dans une grande ville.

Oui, la ville où j'habite est grande.Non, la ville où j'habite n’est pas très grande.

Qu'est-ce qu'il y a dans ta ville? Dans ma ville il y a / Nous avons une université, une bibliothèque,une grande tour, un jardin botanique, un hôtel de ville, un théâtre, uncinéma, un stade, des parcs, des piscines, des musées, des écoles, deséglises, des musées et beaucoup de chantiers en ce moment.

Mon écoleComment vas-tu à l'école? J'y vais en bus/ en tram/ à pied ou en vélo.Tu mets combien de temps Je mets à peu près vingt minutes/ un quart d'heure/ unepour aller à l'école? demi- heure.Qu’est-ce qu’il y a comme activités Il y a un groupe de théâtre/ un club d’art/ une équipe dedans ton école? volley/ de basket/ un journal d’élèves/ un club d’élèves et

28 Max Walter: Zur Methodik des Neusprachlichen Unterrichts, 3. Auflage, bearbeitet von Paul Olbrich, Marburg: El-wert, 1917, S. 15.

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Wortschatz und Grammatik

bien d’autres activités encore, je crois.Tu apprends combien de langues J'apprends deux langues étrangères: l'anglais et leétrangères? français. Tu les apprends depuis quand? J'apprends l'anglais depuis cinq ans et le français depuis quelques

mois.

Die Komplexität der Themen wächst mit dem intellektuellen und emotionalen Horizont der Lernen-den. Neben Themen aus dem Alltagsleben treten z.B. auch textvermittelte Aufgabenstellungen wieResümees von und Stellungnahmen zu Hörspielen und Geschichten sowie Problemerörterungen.Die inhaltliche Entscheidung für die jeweiligen Äußerungen trifft die Lerngruppe, über die Art derFormulierung entscheidet der Lehrende mit Hilfe des ihm zur Verfügung stehenden Materialpools.29

Ein gewisser individueller Spielraum bleibt dadurch erhalten, dass die Lernenden die gemeinsamenFragen ihrer jeweiligen Situation entsprechend beantworten. Die Sammlung dieser selbst produzier-ten 'Eigentexte' ergibt das 'Lernbuch', das die sequentiell erarbeiteten sprachlichen Formulierungenausweist und die Grundlage für das individuelle Lernen darstellt. Voraussetzung für einen schnel-len, reibungslosen Ablauf der gemeinsam erfolgenden Versprachlichung der Äußerungswünsche istwiederum das soziale Klima in der Lerngruppe sowie die Gewöhnung an ein verantwortungsvolles,diszipliniertes und auf möglichst viel Eigentätigkeit gerichtetes Arbeiten.

2. Eine Alternative zum Prinzip des Vokabel- und RegellernensAn die Stelle des isolierenden Lernens von Vokabeln und grammatischen Phänomenen tritt das Ler-nen von größeren, Lexik und Morpho-Syntax integrierenden kommunikativen Einheiten, die dieÄußerungswünsche der Lernenden versprachlichen.2.1 Unterrichtstheoretische Diskussion

2.1.1 Das Wort als LerneinheitAls traditionelle sprachliche Lerneinheit hat das 'Wort' im fremdsprachlichen Lernprozess eine do-minierende Stellung. Zwar hat sich die Fremdsprachendidaktik schon seit den 60er Jahren aus-drücklich mit dem Prinzip vertraut gemacht, dass Wörter im Kontext und aus der Situation herauszu vermitteln und zu lernen sind. Dennoch wird der Unterricht nicht selten von der Auffassung be-stimmt, dass das Erlernen einer Fremdsprache darin bestehe, Wörter und Grammatik zu beherr-schen. Der Lehrbuchtext stellt hier die methodisch vermittelnde Instanz dar. In ihn werden die zulernenden Wörter und grammatischen Erscheinungen (von den Lehrbuchautoren) hinein gegebenund aus ihm werden sie (von Lehrenden und Lernenden) im Unterricht wieder heraus gefiltert undzum Lernen bereit gestellt. Schon vor über 100 Jahren erschien dem Neusprachlichen Reformer Wilhelm Viëtor weder der In-halt der Schulgrammatik noch der Wortvorrat des Wörterbuchs als geeignetes Mittel, den Schülereine lebendige Sprache lernen zu lassen: "Und wenn es euch gelänge, ihm die beste Grammatik unddas umfassendste Wörterbuch in den Kopf zu schaffen, so hätte er noch immer keine Sprachegelernt."30 Den "praktischen Schulmann" Günther führt Viëtor mit folgender Invektive an:

[...] Vor allen Dingen vermögen einzelne Wörter beim Zögling kein nachhaltiges Interesse zuerzeugen. Damit hängt zusammen, dass ihr erstmaliges Einprägen, wie auch ihr Festhalten demSchüler unnötige Mühe verursachen muss, die ihm wiederum Zeit und Lust für andere Aufga-ben des Sprachunterrichts raubt. Zu denken und urteilen gibt es dabei nichts; ja die stets auftau-chenden Vorstellungen und Vorstellungsgruppen werden mit Gewalt plötzlich wieder nieder-geschlagen [...] Einzelne Worte und Wortformen im Unterricht sind ein grober Verstoß gegenPsychologie und Pädagogik. (S. 133)

In der Spracherwerbsforschung unserer Tage gibt es schon seit längerem Tendenzen, das Wort alskommunikative Lerneinheit in Frage zu stellen und statt dessen situations- und bedeutungsbezogene29 Zur Realisierung dieser Vorbedingungen vgl. Krista Segermann: "Eine neue Lehrwerk-Konzeption: Lehrbuch für

Lehrer - Lernmaterialien für Schüler", in: Praxis 4/2000, S. 339-348.30 So Viëtor in seiner bekannten Streitschrift "Der Sprachunterricht muss umkehren" von 1882 (wieder abgedruckt in:

Die Neueren Sprachen, 1982, S. 120-148, hier S. 124).

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Wortschatz und Grammatik

sprachliche Einheiten (mit unterschiedlicher Wortanzahl) als Wahrnehmungs- und Lerneinheiten zupostulieren. So spricht Ann Peters31, ausgehend von Untersuchungen zum kindlichen Erstspracher-werb, von "units of language acquisition", die auch beim Zweitspracherwerb wirksam sein könnten.Die neue Herausforderung wäre also, Grundlagenmaterial für den Unterricht zu erstellen, das stattder Worteinheit eine andere Sprach- und Lerneinheit zugrunde legt, die nur in Ausnahmefällen auseinem einzigen Wort besteht, in der Regel jedoch mehrere Lexeme mit grammatischen Markie-run-gen in einer bestimmten syntaktischen Anordnung enthält. Diese neue lexiko-grammatische Einheitmuss ein auch für die Lernenden nachvollziehbares (und also auch umschreibbares) Inhalts-konzeptrepräsentieren, das Ausdruck ihrer Gedanken, Gefühle, Wissenselemente, Erfahrungen, Mutmaßun-gen usw. ist. Dem Lehrenden müsste ein Pool an solchen kommunikativen Lerneinheiten zur Verfü-gung stehen, aus dem er bei der Adhoc-Versprachlichung der Äußerungswünsche seiner Lerngrup-pe bei Bedarf schöpfen kann.

2.1.2 Bestrebungen zur Integration von Lexik und GrammatikIn der Geschichte der Fremdsprachendidaktik hat es immer schon Bestrebungen gegeben, das ge-trennte Lernen von Lexik und Grammatik zu überwinden, da es in der Sprachverwendungssituationwenig hilfreich sei. Neuere Ergebnisse im Bereich der Lexikonforschung und der vor allem auchauf mündlichen Sprachäußerungen beruhenden Korpuslinguistik weisen eindeutig in eine Richtung,die für eine Integration von Lexik und Grammatik plädiert. So heißt es bei John Sinclair32 unmiss-verständlich:

[...] it is folly to decouple lexis and syntax, or either of those and semantics. (S. 108)

[...] the division into grammar and vocabulary obscures a very central area of meaningful organ-ization [...] When we have thoroughly pursued the patterns of co-occurrence of linguisticchoices there will be little or no need of a separate residual grammar or lexicon. (S. 137)

Ähnlich äußert sich auch der Kognitive Linguist Ronald W. Langacker33 im Rahmen seines an Be-deutungskonzepten orientierten Sprachverwendungsmodells:

[...] there is in fact no distinction: lexicon and grammar form a continuum, structures at anypoint along it being fully and properly described as symbolic in nature. By and large, the ele-ments traditionally ascribed to grammar tend to be quite schematic (semantically and/or phono-logically), whereas those assigned to lexicon tend toward greater specificity. Yet the differenceis clearly one of degree, and any particular line of demarcation would be arbitrary. (S. 18)

Vielleicht bahnt sich hier ein Paradigmenwechsel an, der langfristig auch für den Fremdsprachen-unterricht wirksam werden könnte34.

2.1.3 Zur Vereinbarkeit von automatisierten Struktureinheiten und analytischem SprachbewusstseinDas Lernen von lexiko-grammatischen Einheiten wird jedoch nur dann zu einer effektiven s: Kom-petenz führen, wenn die Lernenden damit kreativ umgehen und "aus endlichen Mitteln unendlichenGebrauch" machen können.35 Die neue Lerneinheit ist also trotz ihrer formelhaften Fixiertheit nichtals unanalysed chunk zu verstehen. Vielmehr muss sie in ihrer Struktur, d.h. ihrer Bauweise, vonden Lernenden durchschaut werden. Der für den Sprachgebrauch konstitutive kreative Aspekt derSprache ist mit dem Aspekt der quasi automatischen Abrufbarkeit von holistisch im Gedächtnis ge-speicherten fertigen Spracheinheiten methodisch bewusst in Einklang zu bringen.

31 Ann Peters: The Units of Language Acquisition. Cambridge: Cambridge University Press, 1983.32 John Sinclair : Corpus, Concordance, Collocation. Oxford: Oxford University Press, 1991.33 Ronald W. Langacker: Grammar and Conceptualization. Berlin: Mouton de Gruyter, 1999.34 Sinclair geht so weit, die Ergebnisse der korpuslinguististischen Lexikonforschung als relevant anzusehen für eine

mögliche "database for teachers' reference, a repository of facts about English on which new syllabuses and materialscan be based.” (S. 78).

35 Dieses bekannte Diktum, das seinerzeit von Noam Chomsky als stärkstes Argument gegen die Theorie des Behavio-rismus ins Feld geführt wurde, stammt aus Wilhelm von Humboldts berühmter Schrift "Ueber die Verschiedenheit desmenschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschen-geschlechts" (1830-1835).

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Wortschatz und Grammatik

Lerntheoretische Ansätze dazu werden vor allem in der anglo-amerikanischen Spracherwerbs-for-schung diskutier.36 Sprache kann demzufolge je nach psychologisch und soziologisch motivierterFokussierung auf unterschiedlichen Wegen produziert werden, nämlich sowohl durch Rückgriff aufgrößere lexiko-grammatische Einheiten, die als fertige Formgebilde zur Verfügung stehen, als auchdurch Rückgriff auf abstrakte, aus kognitiver Analyse-Arbeit resultierende morpho-syntaktischeSchemata, mit denen der Sprachbenutzer kreativ umgeht, indem er sie mit der jeweiligen Lexik auf-füllt. Ähnliche Hypothesen zu einer Doppelstrategie finden sich wiederum sowohl bei Sinclair als auchbei Langacker. Die morpho-syntaktischen Schemata werden hier als pattern, phrase, scheme odertemplate bezeichnet.

[...] The model of a highly generalized formal syntax, with slots into which fall neat lists ofwords, is suitable only in rare uses and specialized texts. By far the majority of text is made ofthe occurence of common words in common patterns, or in slight variants of those common pat-terns. (Sinclair, S. 108)

One is first struck by the fixity and regularity of phrases, then by their flexibility and variability,then by the characteristically creative extensions and adaptations which occur. (Sinclair, S. 104)

[...] linguistic patterns occupy the entire spectrum ranging from the wholly idiosyncratic to themaximally general. (Langacker, S. 92)

[...] language is described as a structured inventory of conventional linguistic units [...] whichare either directly manifested as parts of actual expressions, or else emerge by the processes ofabstraction (schematization) and categorization. (Langacker, S. 98)

2.2 Unterrichtspraktische RealisierungWie kann nun im Unterricht die Form und Inhalt verknüpfende kommunikative Lerneinheit in ihrerBauweise, ihrer Variabilität und der multiplen Verwendbarkeit ihrer Bauteile für die Lernenden sotransparent werden, dass sie in ihrem Strukturschema erkannt, gelernt und für den Transfer verfüg-bar wird?Bei der Erarbeitung der 'Eigentexte', die die Äußerungswünsche der Lernenden versprachlichen, lie-fert der Lehrende nur die Teile, die die Lerngruppe nicht selbst durch zunächst bewusste Übertra-gung von schon gelernten Elementen auf die nun benötigten finden kann. Diese Transferleistung be-trifft immer lexiko-grammatische Struktureinheiten (unterschiedlicher Größe), die für die Lernen-den fest mit einem bestimmten Inhaltskonzept verbunden sind. Die Lernenden greifen also auf kon-krete, im Gedächtnis verankerte kommunikative Lerneinheiten zurück, die sie in ihrer schemati-schen Abstraktion als Modell für die neue Lerneinheit insgesamt oder in ihren Teilen benutzen.Evtl. fehlende Lexeme, die der Lehrende liefert, werden dann von ihnen morpho-syntaktisch ein-und angepasst, wobei die grammatischen Kategorien vor allem in ihrer semantischen Funktion alsAusdruck wiederkehrender Lebensweltbezüge gesehen werden.Elemente, die eine neue lexiko-grammatische Einheit bilden, werden in ihrer formelhaften Fixiert-heit gegeben, aber sofort in ihrer Strukturiertheit analysiert. Präpositionen werden also z.B. nicht alsEinzelwörter genannt, sondern nur innerhalb bestimmter Fügungen, die als Ganze jeweils ein In-haltskonzept (z.B. eine Tätigkeit: j'aime jouer au foot oder eine Ortsbestimmung: en France) aus-drücken. Das dahinter stehende Bildungsprinzip wird erhellt und so für den Transfer verfügbar ge-macht.Besondere Aufmerksamkeit ist den Fällen zu widmen, wo Muttersprache und Fremdsprache unter-schiedliche Strukturen benutzen. Hier muss die formale Unterschiedlichkeit auch auf sprach-spezi-fische Konzeptualisierung, und das heißt unterschiedlich strukturierte Inhaltskonzepte, bezogenwerden. Auf diese Weise lässt sich das angestrebte 'Denken in der Fremdsprache' erreichen.36Es können hier nur einige Veröffentlichungen stellvertretend genannt werden: James R. Nattinger & Jeanette S. De

Carrico, Lexical Phrases and Language Teaching. Oxford: Oxford University Press, 1997 (1. Aufl. 1992); ReginaWeinert, "The role of formulaic language in second language acquisition", in: Applied Linguistics 1994, S. 180-205;Alison Wray, "Formulaic sequences in second language teaching", in: Applied Linguistics 21/2000, S. 463-489.

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Wortschatz und Grammatik

Abstraktionsprozesse können zwar individuell verschieden und mehr oder weniger bewusst ablau-fen, doch darf auf ihre Initiierung durch den Lehrenden nicht verzichtet werden. Wenn sie unterblei-ben und keine abstrakten Schemata und Kategorien aus dem konkreten Sprachverwen-dungsbeispielgebildet werden, dann ist der gesamte Lernprozess gefährdet, denn dann erstarren die Lerneinheitenzu unproduktiven Formeln. Der Analyseprozess in der Einführungsphase (d.h. bei der Erarbeitung der 'Eigentexte'), der dieFremdsprache allmählich in ihren spezifischen Gesetzmäßigkeiten fassbar macht, muss - sobald ge-nug Textmaterial vorhanden ist - in eine von den Lernenden selbst zu leistende Systematisierungmünden. Die erlernten strukturellen Bausteine werden so zusammengestellt, dass die zugrunde lie-genden Muster (mit unterschiedlichem Abstraktionsgrad) für die Lernenden selbst sichtbar werden.Diese Art von Systematisierung respektiert jedoch weiterhin das Prinzip der Verknüpfung von In-haltskonzepten mit lexiko-grammatischen Formentsprechungen. Es erfolgt also keine formale Zu-sammenstellung nach grammatischen Phänomenen, wie sie in den gängigen Grammatikbüchern zufinden ist. Die Systematisierungsaufgabe ist flexibel zu handhaben, da sie unter größtmöglicher Be-teiligung der Lernenden geschehen soll. So entsteht aufgrund der versprachlichten Äußerungs-wün-sche der Lernenden eine auf Inhaltskonzepte bezogene 'Eigengrammatik'. Auch die die Strukturenauffüllenden konkreten Inhaltswörter werden von den Lernenden selbst nach thematischen Ge-sichtspunkten in einem 'Eigenwörterbuch' aufgelistet, allerdings nicht als Einzelwörter, sondern in-nerhalb von typischen Kollokationen (Verben + Substantiven, Adjektiven + Substantiven) oderSyntagmen. Dem Lehrenden müssen auch hier (in einem "Lehrbuch für Lehrer"37) modellhaft meh-rere Möglichkeiten für Schüler-Systematisierungen an die Hand gegeben werden.

3. Eine Alternative zum Prinzip des isolierenden 'formbezogenen' ÜbensAn die Stelle des isolierenden Übens zur Aneignung der sprachlichen Teilsysteme (Wortschatz,Grammatik, Aussprache und Orthographie) tritt ein an der Sprachverwendung orientiertes, struktu-rell relevantes Üben als Automatisierung der Verknüpfung von lexiko-grammatischen Strukturein-heiten mit konzeptuellen Sinneinheiten.

3.1 Unterrichtstheoretische Diskussion

3.1.1 Vom Wissen zum Können oder vom deklarativen zum prozeduralen WissenDer in Theorie und Praxis immer noch weithin üblichen Differenzierung des Übens in 'form-zentrierte' vs. 'inhaltszentrierte', 'vorkommunikative' vs. 'kommunikative' oder 'formbezogene' vs.'mitteilungsbezogene' Übungen liegt ein fremdsprachenunterrichtliches Prinzip zugrunde, das einelange Tradition hat. Gemeint ist das Modell der Überführung von Wissen in Können, das auf derlerntheoretischen Annahme beruht, dass zunächst ein Wissen über die Sprache erworben werdenmuss, das dann durch Üben in Können umzusetzen ist. Wissen über die Sprache heißt meistSystemwissen, also Wissen über die Gesetzmäßigkeiten der sprachlichen Teilsysteme, wie es vonder traditionellen Sprachwissenschaft bereit gestellt wird. Können heißt kommunikative Sprachver-wendung, die sich als Anwendung des Wissens versteht.Hierzu ist kritisch anzumerken, dass der Wissensbegriff als solcher viel zu undifferenziert und zuwenig empirisch abgesichert ist, als dass er in einem so zentralen methodischen Bereich wie demdes Übens als bestimmender Faktor für die Konzeption von Übungen eingesetzt werden dürfte. Ne-ben dem verbalisierbaren, bewussten ‘Wissen’ gibt es offenbar noch kaum untersuchte (und auchschwer zu untersuchende) kognitive Prozesse, die sich unterhalb der Schwelle des hellen Bewusst-seins abspielen – in dem großen Bereich des cognitive unconscious.38 Diese impliziten, vom Be-wusstsein unabhängigen kognitiven Prozesse könnten beim Lernen wie bei der Wahrnehmung undder Repräsentation im Gedächtnis eine sehr viel größere Rolle spielen als bisher angenommen. Vor

37Vgl. K. Segermann: „Eine neue Lehrwerkkonzeption …“38Der dem bipolaren abendländischen Denken widersprüchlich erscheinende Begriff wurde von dem Kognitions-

psychologen Arthur S. Reber (Implicit Learning and Tacit Knowledge: An Essay on the cognitive unconscious. NewYork: Oxford University Press, 1993) geprägt.

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Wortschatz und Grammatik

allem scheinen die Beziehungen zwischen den verschiedenen sprachlichen Verarbeitungs- und Ak-tivierungsmodi beim Fremdsprachenlernen sehr viel komplexer, als dass sie von einem linear-kon-sekutiven Modell erfasst werden könnten, das auf der Annahme der Überführung von 'Wissen' in'Können' (bzw. – im Gewand modernerer Terminologie - von 'deklarativem' in 'prozedurales Wis-sen') basiert.

3.1.2 Zur möglichen Relevanz einer neuronalen VerknüpfungstheorieEine adäquatere Beschreibung könnte möglicherweise auf der Basis neuronaler Netzwerke erfolgen.Sieht man die unterschiedlichen sprachlichen Funktionen als neuronale Verknüpfungsprozesse zwi-schen hierarchisch organisierten, funktionalen Ebenen von komplexen Verbänden von Nervenzellenan, dann verlieren die Begriffe Wissen und Können im Sprachlernprozess ihre trügerische substanti-elle Bestimmtheit und lösen sich auf in neuronale Aktivitäten39, die vielfältige Verknüpfungen zwi-schen sprachlichen und nichtsprachlichen funktionalen Zellverbänden zulassen. Dann erscheint dieInteraktion zwischen formalen und inhaltlichen Funktionen, zwischen Bedeutung und Regel undauch zwischen Kognition und Emotion als praktisch gegeben und nicht mehr als theoretisch proble-matisch. Eine solche neuronal zu denkende Verknüpfungstheorie kann die didaktische Aufmerksamkeit dar-auf richten, durch welche unterrichtlichen Impulse die formalen Gesetzmäßigkeiten der Sprache(die zweifellos an einer bestimme Stelle des Gehirns lokalisiert sind) mit den von der sprachlichenForm repräsentierten Bedeutungskonzepten (die an einer anderen Stelle, wahrscheinlich sogar auf-grund ihrer multisensorischen Assoziationen an mehreren Stellen aktiviert werden) sowie mit den inder konkreten Kommunikationssituation zwangsläufig wirksamen emotionalen Faktoren40 (die wie-derum ihre eigenen Lokalisierungen haben) in ein Zusammenspiel gebracht werden, das der Vielfaltder neuronalen Aktivitäten bei der Sprachverwendung entspricht. Die einseitige Aktivierung nur be-stimmter funktionaler Neuronenbündel (etwa der für die Form zuständigen) wäre unter dieser Per-spektive als wenig effektiv einzustufen.

3.1.3 Der geringe Lerneffekt des formbezogenen ÜbensDas im Hinblick auf die Unterrichtspraxis schwerwiegendste Argument gegen ein formbezogenesÜben ist jedoch die empirisch vielfach feststellbare Tatsache, dass der Gewinn aus diesen Übungenrelativ gering ist, und zwar sowohl für das 'Wissen' wie für das 'Können'. Der im 'Wissen' Schwachewird durch die Übung kaum zur besseren Beherrschung des anstehenden sprachlichen Problems ge-führt. Streng genommen findet hier lediglich ein Überprüfen des Lernstands statt, kein übendes Ler-nen. Die Aktualisierung des verfügbaren 'Wissens' unterliegt dagegen sehr komplexen Bedingungenund kann sich auf vielfältige Weise ereignen. Die in den formbezogenen Übungen verlangte (aberauch vom erfolgreichen Schüler keineswegs unbedingt genutzte) Art ist nur eine Möglichkeit, undzwar eine sehr beschränkte, da sie nur die Formen in ihren kategorialen Markierungen aktiviert, alsonur das abstrakte System, so dass die konkrete Sprachverwendung ausgeblendet bleibt.41 Die Alternative, ganz auf solche formbezogenen Übungen zu verzichten und sich statt dessen aufdie Automatisierung der Verknüpfung von lexiko-grammatischen Struktureinheiten mit konzep-tu-ellen Sinneinheiten zu konzentrieren, erscheint im Lichte neuerer, vor allem neuronaler Theorien alsdurchaus sinnvoll. Zu ihrer konkreten Umsetzung bedarf es wiederum eines breitgefächerten Poolsan Übungsmaterialien, die erst noch zu erstellen sind.

39Langacker (1999) neigt eindeutig zu dieser Auffassung: "From the processing standpoint, language must ultimatelyreside in patterns of neurological activity. It does not consist of discrete objects lodged in the brain." (S. 95)

40 "Empfindungen bestimmen nicht unwesentlich, wie der Rest des Gehirns und die Kognition ihre Aufgabenwahrnehmen. Ihr Einfluss ist immens." So der Neurologe Antonio R. Damasio (Descartes' Irrtum. Fühlen, Denkenund das menschliche Gehirn. München: dtv, 1995, 4. Auflage 1997, S. 219) in seiner Theorie der somatischenMarker, die jeder neuronalen Aktivität, also auch den kognitiven Prozessen, beim Durchgang durch das sog. limbischeSystem eine positiv/negativ-Färbung verleihen.

41Wenn im Zusammenhang mit dem formalen Üben von 'Automatisierung' die Rede ist, dann kann sich dies höchstensdarauf beziehen, dass man die Kenntnisse oder Regeln schneller abrufen kann, jedoch nicht darauf, dass man dieFremdsprache dadurch schneller und richtiger gebrauchen kann, um zu kommunizieren.

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Wortschatz und Grammatik

3.2 Unterrichtspraktische RealisierungDie Übungsphase steht zwischen der Einführungsphase und der Systematisierungsphase. Sie setztdie gleiche Lernhaltung voraus, die auch für die anderen Phasen bestimmend ist, nämlich die Erfah-rung von sprachlichen Strukturen als Ausdruck von Inhaltskonzepten. Während die beiden anderenPhasen eher durch analytische Lernprozesse zu charakterisieren sind, zeichnet sich das vorgeschla-gene Üben vor allem dadurch aus, dass hier Formentsprechungen für Sinnkonzepte 'automatisiert'werden, und zwar in dem Sinne, dass sie quasi als Fertigteile unmittelbar abrufbar sind. WelcheLernprozesse sich im Kopf des Lernenden jeweils abspielen, bis dieses Ziel erreicht ist, bleibt demlernenden Individuum überlassen. Das der Übung zugrunde liegende (und vorher erklärte) modell-hafte Strukturschema muss in seiner Bauweise und seinen kategorialen Markierungen zunächst alssolches bewusst realisiert werden. Bei der Übung selbst müssen die artikulierten Äußerungen dannjedoch in ihrer konkreten Ausfüllung als fixierte Gebilde ins Gedächtnis eingehen.Das Grundlagenmaterial für diese Übungen bilden Strukturmuster, die zu einem großen Teil (abernicht ausschließlich) aus den 'Eigentexten' ausgewählt werden, und zwar unter dem Gesichtspunktihrer Relevanz für die mündliche Kommunikation. Was häufig gebraucht wird, muss weitgehendautomatisiert sein, um ein flüssiges Gespräch zu gewährleisten. Da der Übungseffekt vor allem ausder Wiederholung desselben Musters folgt, sind die Übungen so zu gestalten, dass dieselbe Strukturin unterschiedlicher lexikalischer Füllung mehrfach vorkommt. Das Inhaltskonzept, das durch die-ses Strukturmuster versprachlicht wird, bleibt dagegen dasselbe, denn nur so ist die Verknüpfungvon lexiko-grammatischen Struktureinheiten mit konzeptuellen Sinneinheiten gewährleistet. So lässt sich z.B. das Inhaltskonzept, das sich als "Identifizierung einer Sache" umschreiben ließe,mit Hilfe der Struktur eines Relativsatzes versprachlichen. Diese pragmatische Funktion der Struk-tur wird z.B. in folgender Sprechaktsequenz deutlich und für den Lernenden fassbar:

Sprechsituation: "Jemand weiß nicht (oder tut so), um welche Gegenstände es sich handelt"Tu as apporté le livre? Quel livre? Le livre que je t'ai prêtéTu as vu le film? Quel film? Le film qu'on a passé hier soir à la télé.

Es ist anzustreben, die Lernenden mit ihren Ideen daran zu beteiligen, sich entsprechende Situatio-nen auszudenken. Evtl. sind steuernde Substantive oder Auswahlverben vorzugeben, die ein Rela-tivpronomen als Objekt der Handlung verlangen oder auch - in der darauf folgenden Übung bzw. ineiner Mischübung – als handelndes Subjekt (wenn die Form der Relativpronomen, wie hier imFranzösischen, unterschiedlich ist). Statt inhaltlich voneinander unabhängiger Sätze ist auch ein zu-sammenhängender Dialog denkbar.

Devine (Ratespiel)Tu as reçu une lettre? De qui? Devine!C’est un de tes amis qui habitent à Paris? Non.C’est quelqu’un que je connais? Oui. Tu le connaîs très bien, je crois.C’est un garçon que tu trouves sympa? Oui.Un garçon qui me plaît aussi? Je ne sais pas.Un type que tu vois souvent? Oui, assez souvent.Quelqu’un qui habite dans la même maison que moi? C’est ça.Alors, ce type qui t’a écrit cette lettre, doit être mon frère Tu y es. C’est lui., Jean Jacques.Auswahlverben, getrennt nach Tätigkeiten:1. die der Gesuchte selbst ausführt: habiter à, plaire, écrire2. die andere ausführen: connaître, trouver sympa, voir

Um motivierende Übungssätze oder -texte mit gestalten zu können, müssen den Lernenden die je-weiligen Inhaltskonzepte bewusst sein und ihre Versprachlichung im Rahmen ihrer eigenen Äuße-rungswünsche als notwendig erscheinen. Hierin liegt der entscheidende Unterschied zu den formbe-zogenen Übungen in den Lehrbüchern oder den grammatischen Übungsbüchern. Dort sind z.B.

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zwei Sätze in einen Hauptsatz und einen untergeordneten Relativsatz umzuwandeln – gemäß derBeschreibung im Grammatikbuch, wonach "das Relativpronomen im untergeordneten Satz eine No-minalgruppe (vertritt), die die gleichen Lebewesen, Dinge oder Sachverhalte bezeichnet wie die No-minalgruppe, von der der Relativsatz abhängt"42:On va au restaurant. Le restaurant est près de l'abbaye. > On va au restaurant qui est près de l'abbaye.(Etapes, Bd, 1, Unité 6, S. 65)Voilà une B.D. Tu n'as pas encore cette B.D. > Voilà une B.D. que tu n'as pas encore. (Unité 9, S. 95)

Solche Beispielsätze bleiben für die Lernenden ohne Leben, ohne Lebensweltbezug. Sie lassen sichdeshalb nur schwer behalten. Die Lehrbuchübungen werden denn auch nicht mündlich, sondern fastimmer schriftlich bearbeitet. Dadurch wird allerdings gleichzeitig die wertvolle Möglichkeit vertan,dass sich die Lernenden die fremdsprachlichen Strukturen einprägen.Dieser Prozess des Einprägens wird – entgegen einer weit verbreiteten Annahme – gerade durch dieMündlichkeit begünstigt. Die rhythmische Gliederung von Äußerungen, die immer zugleich eineSinngliederung ist, fördert "auf Grund der senso-motorischen Koppelungs- und Rückkoppelungs-verfahren"43 das Einschleifen des melodischen Musters, das der jeweiligen Äußerung zugrundeliegt. Es handelt sich hier jedoch nicht um ein mechanisches Einschleifen, das die pattern practiceder 60er und 70er Jahre trotz der situativen Einbettung der Übungen nur allzu oft charakterisierte.Entscheidend ist, dass die Lernenden die zu übenden Strukturen als Versprachlichung von nachvoll-ziehbaren Inhaltskonzepten empfinden und dass die Länge der Formulierungen ihre Gedächtniska-pazität nicht übersteigt. Die dialogische Anlage der Übungen sorgt dafür, dass durch das auf Sinnausgerichtete Dekodieren der Lautkette die prosodischen Merkmale auch rezeptiv trainiert werden,um das Hörverstehen zu fördern.Die mündliche Arbeitsweise kann durch die Sozialform der Partnerarbeit mit einem Maximum anSprechtätigkeit des einzelnen Schülers verbunden werden. Die Kontrolle geschieht z.B. dadurch,dass die Partner bei Bedarf durch einen Blick auf ihre 'Karteikarten'44 mit den schriftlichen Äuße-rungen die Richtigkeit entweder bestätigen oder korrigieren.

4. Zusammenfassung und Ausblick Die hier als mögliche Alternativen zum herkömmlichen Unterricht dargestellten Prinzipien lassensich als Postulate wie folgt zusammenfassen:1. Einführung neuer sprachlicher Formen aufgrund der Äußerungswünsche der Lernenden2. Lernerinitiierte Verknüpfung von lexiko-grammatischen Struktureinheiten und konzeptuellen

Sinneinheiten3. Konzentration auf inhaltsbezogenes und strukturell relevantes Üben als Automatisierung von

Sprachmustern vor allem für die mündliche Kommunikationsfähigkeit.So gefasst könnten sie als Leitlinien für ein Unterrichtskonzept45 dienen, das sowohl die Gramma-tikarbeit als auch das Vokabellernen aus ihrer kommunikationsfeindlichen Isolation befreit und bei-den sprachlichen Bereichen dadurch wieder die ursprüngliche integrative Funktion zuweist, die ih-nen nicht im linguistischen Beschreibungssystem, wohl aber in der konkreten Sprachverwendungzukommt. Auf diese Weise bestünde die Chance, auch im Unterricht näher an die Sprachwirklich-

42 Hans-Wilhelm Klein & Hartmut Kleineidam: Grammatik des heutigen Französisch, Stuttgart: Klett 1983, Kap. "DiePronomen", S. 94.

43 Gudula List, "'Wissen' und 'Können' beim Spracherwerb – dem ersten und den weiteren", in: Hans Barkowski, RenateFeistauer (Hg.). … in Sachen Deutsch als Fremdsprrache. Hohengehren: Schneider, 2002, S. 126.

44 Diese Karteikarten (mit Verschriftung oder auch mit Bildimpulsen) sind vielfältig einsetzbar. Sie gewährleisten dieWiederholbarkeit, die Kontrolle, die Impulsgebung und die Grundlage für weitere Übungen.

45 Ein solches, von der Autorin entwickeltes Konzept wird seit 1996 an Schulen in Thüringen und vereinzelt auch inNordrhein-Westfalen im Französischunterricht eingesetzt und evaluiert. Für die praktizierenden Lehrer steht ein Poolan themengebundenen Dialogen und anderen Textsorten zur Verfügung, in denen mögliche Äußerungswünsche derSchüler modellhaft versprachlicht sind. Für weitere Informationen vgl. die Homepage der Autorin; s. dort auch Litera-turangaben zu der Verwirklichung des Konzepts im Französischunterricht.

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keit heran zu kommen, eine durchgängig kommunikative Haltung aufzubauen und durch selbstge-wählte Inhalte die Motivation aufrecht zu erhalten. Das (z.T. automatische) Verfügen über größereLerneinheiten könnte die Lernenden früher und schneller zu einer Art Sprachbeherrschung führen,die unmittelbar für die Zwecke sinnvoller Kommunikation verwertbar ist, also für das mündlicheund schriftliche Formulieren gehaltvollerer Äußerungen sowie für das Verstehen von interessieren-den und geistig anspruchsvolleren Texten.

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Krista SegermannPermanente Grammatikrevision: Ein didaktisches Rundgespräch(veröffentlicht in: Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 1999, H. 40, 10-17)

Im folgenden wird ein Rundgespräch wiedergegeben, das um das Thema Grammatik kreist, indem esdie verschiedenen Aspekte im Für-, Gegen- und Miteinander der Argumente beleuchtet. Die wechseln-den Redebeiträge spiegeln die unterschiedlichen, durch Biographie, Persönlichkeit und Erfahrung be-dingten Standpunkte wider, die sich zwischen den Polen systembezogen-normativ und kritisch-innova-tiv bewegen.

Motivation und grammatisches Wissen-Die Grammatik ist schon wichtig. Ohne Grammatik geht es nicht. Aber trotzdem habe ich das unguteGefühl, dass wir es uns eigentlich nicht leisten können, soviel kostbare Unterrichtszeit damit zu ver-bringen.-Ja, und den Schülern macht es meistens auch nicht viel Spaß. Wir demotivieren sie damit, obwohl sieeinsehen, dass es sein muss, denn sie wollen ja auch korrekt sprechen.-Damit haben Sie also das heute so beliebte Fun-Argument selbst relativiert, was mir sehr sympathischist. Was sein muss, muss sein. Wenn ich das meinen Schülern nicht klarmachen kann, habe ich als Päd-agoge versagt.-Ich bin auch der Meinung, dass wir das Ziel, den Schülern ein korrektes Französisch beizubringen,nicht aufgeben dürfen, aber wir müssen sie gleichzeitig auch motivieren.-Wir haben eben festgestellt, dass die Schüler selbst den Ehrgeiz haben, korrekt zu sprechen, also sindsie doch motiviert.-Ich fürchte, so einfach ist das nicht. Ich mache jedenfalls zunehmend die Erfahrung, dass die Gramma-tikübungen einfach nicht den Erfolg bringen, den wir uns von ihnen versprechen. Wenn die Schüler daserst merken - und das ist in manchen Klassen schon der Fall - dann ist es aus mit der Motivation. -Wozu dienen denn eigentlich die Grammatikübungen? Was wollen wir mit ihnen erreichen?-Die Schüler sollen lernen, das grammatische Wissen, das wir ihnen beigebracht haben, richtig anzu-wenden, oder?-Also kann man das Wissen auch falsch anwenden?-Ja das erleben wir doch dauernd bei den Fehlern der Schüler ...-Naja, von mir aus können Sie auch sagen, dass das Wissen der Schüler fehlerhaft bzw. lückenhaft ist.Auf jeden Fall muss erstens Wissen da sein, und zwar solides Wissen, und zweitens müssen die Schülersich darin üben, das Wissen eben auch anzuwenden, d.h. zu nutzen oder - wenn Sie so wollen - dierichtigen Strategien einzusetzen.-Was passiert denn eigentlich in den Grammatikübungen? Ich meine, was passiert bei den Schülern,wenn sie z.B. Lücken in Sätzen oder in einem Text mit bestimmten Formen ausfüllen?-Es wird eine richtige Entscheidung zwischen mehreren Formen verlangt.-Und dabei müssen die Schüler eben ihr Wissen anwenden.-Was beweist, dass es nicht ohne explizites Regelwissen geht. Davon können wir nicht abgehen, sonstwird nur herumgeraten.-Seien wir doch ehrlich: Es wird trotzdem immer viel von den Schülern geraten. Ganz sicher ist dasWissen nie. Es wird ja auch immer mehr, was die Schüler alles im Kopf behalten müssen. Das schaffennur die Leistungsstärkeren.

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Permanente Grammatkrevision

-Also halten wir fest: Wer kein sicheres Wissen hat, kann die Übung nicht schaffen.-Tja, und was schlimmer ist, er lernt dann auch nichts.-Das ist er doch selbst schuld. Ohne Wissen lernt man eben nichts.-Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir unseren Schülern damit nicht ganz gerecht werden. Es klingtso - so abstrakt. Wir haben es doch mit einer lebenden Fremdsprache zu tun.

Anwenden und Sprechenkönnen-Aber das Wissen ist doch nur Mittel zum Zweck. Das Wichtigste ist natürlich die Anwendung!-Meinen Sie damit das Sprechenkönnen?-Ja, das fremdsprachliche Sprechen funktioniert eben nur über die Anwendung von Wissen - im Gegen-satz zum muttersprachlichen Sprechen.-Und wie ist es bei uns, wenn wir Französisch sprechen? Denken Sie dabei an all die Grammatikregeln,die Konjugationstabellen und Paradigmata, die Sie einmal gelernt haben?-Nein, bei mir funktioniert das inzwischen weitgehend ohne Nachdenken.-Und wie sind Sie dahin gekommen? Durch Grammatikübungen?-Eh bien, je ne sais pas. Vor allem wohl durchs häufige Sprechen.-Also müssen wir doch annehmen, dass auch unsere Schüler allein durch Grammatikübungen nicht un-bedingt zum freien Sprechen kommen.-Das behauptet ja auch niemand. Schließlich gibt es da noch die Transferübungen. Sie stellen den Über-gang dar zum mitteilungsbezogenen Sprechen, zum Sprachhandeln - wie es von den Lehrplänen gefor-dert wird. -Aber gerade bei diesem Übergang liegen ja die Schwierigkeiten. Da brauchen wir uns doch nichtsvorzumachen. Vor allem das Sprechen ohne schriftliche Hilfen ist für die Schüler oft eine Überforde-rung, und unsereins hat Mühe, die Fehler auszuhalten und nicht immer dazwischen zu fahren.-Außerdem verstummen die Schüler sehr schnell, wenn sie merken, dass es nicht so richtig geht.-Die Frage stellt sich also umso dringlicher, ob formzentrierte Grammatikübungen, also Übungen, dieder Anwendung von formalem Wissen dienen, die unerlässliche oder auch nur die beste Vorstufe fürdas kommunikative Sprechen (und Schreiben) sind.-Vielleicht müsste wieder mehr automatisiert oder - früher sagte man - habitualisiert werden.-Es gibt ja gelegentlich auch wieder so etwas wie Strukturübungen, was ich gar nicht so schlecht finde,wie z.B. eine Übung zu den Possessivbegleitern: -On va te montrer nos CD? → Oui, vos CD m’intéressent beaucoup-On va te montrer notre appartement? → Oui, votre appartement m’intéresse beaucoup.

-Na, ich weiß nicht. Das klingt doch reichlich stumpfsinnig.-Und es erfordert auch wieder die Konzentration auf die Form, was - wie wir eben festgestellt haben -für unsere Schüler nicht besonders motivierend ist.-Was aber sein muss. Darin waren wir uns doch einig, oder?-Einig waren wir uns darin, dass die Formen beherrscht werden müssen. Wie man am besten zu dieserBeherrschung kommt, das ist - glaube ich - noch offen. -Wenn wir schon von Automatisierung sprechen: Was muss denn eigentlich automatisiert werden? Istes die Anwendung von Wissen, die immer schneller gehen soll, so dass man nachher gar nicht mehrdaran denkt? Oder sind es die Formen, die automatisch da sein sollen, wenn wir sie brauchen?-Beides. Ich sehe da keinen Gegensatz. Die Formen kommen umso schneller, je besser der Schüler seinWissen anwenden kann.

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-Gerade diese Behauptung könnte man in Zweifel ziehen.-Aber wird sie nicht durch die Ergebnisse der neueren Forschung bestärkt? Ich meine die Erkenntnis,dass der Mensch sein deklaratives Wissen in prozedurales Wissen überführen muss.-Die Übertragung von bestimmten Termini aus anderen Wissenschaften (wie hier aus der kognitivenPsychologie) auf das Feld der Fremdsprachendidaktik bietet noch keine Gewähr für eine bessere Fun-dierung unseres Unterrichts. Es ist eben sehr fraglich, ob diese auf sog. Fertigkeiten bezogene Hypothe-se für das Erlernen von Fremdsprachen überhaupt relevant ist. Vielleicht verstellt uns die moderne Ter-minologie sogar den Blick für mögliche andere Lösungen unseres Problems.-Sie meinen, man könnte den Schülern auch auf anderen Wegen dazu verhelfen, die fremdsprachlichenFormen beim Sprechen zur Verfügung zu haben?

Formen als Versprachlichung der Äußerungswünsche der Schüler-Möglicherweise ja. Gehen wir doch einmal einen Moment von der Kommunikationswirklichkeit aus.Woran denkt man vor allem, wenn man normalerweise spricht? An die Formen?-Natürlich nicht; man denkt an den Inhalt, den Sinn, an das, was man übermitteln will.-Und die Formen, die man zur Übermittlung braucht?-Die sind dann automatisch da. -Was unsere Schüler also lernen müssten, um sich ‘normal’ mitteilen zu können, das wäre die Verknüp-fung zwischen dem, was sie sagen wollen, und den passenden französischen Formen. Diese unmittelba-re Verknüpfung von - sagen wir - Sinnkonzepten mit bestimmten Formgebilden, das wär’s eigentlich,was wir mit unseren Schülern festigen, automatisieren oder von mir aus auch anwenden, aber auf jedenFall üben, also wiederholt tun, aktiv praktizieren müssten.-Dass der Form immer auch ein Sinn entsprechen muss, das ist doch selbstverständlich. Wir lassen dieSchüler doch kein sinnloses Zeug lernen. -Und wir bemühen uns doch auch immer um die Einbettung in einen Kontext, in eine Situation.-Ja, aber es ist ein vorgegebener Sinn. Unsere Schüler lernen die Formen für den Inhalt, der im Lehr-buch steht. Warum gehen wir nicht einmal umgekehrt vor?-Was meinen Sie mit ‘umgekehrt’?-Warum gehen wir nicht von den Äußerungswünschen der Schüler aus und geben ihnen für ihre ‘Sinn-konzepte’ die passenden Formen?-Das klingt verlockend, ist aber wohl nicht realisierbar.-Wir hätten dann ja keine Kontrolle mehr über die Formen und damit auch keine grammatische Pro-gression mehr.-Das kommt darauf an, was wir unter grammatischer Progression verstehen wollen. Wir könnten diegrammatischen Phänomene zwar nicht mehr so systematisch Kapitel für Kapitel erarbeiten. Eine Pro-gression würde sich jedoch auf jeden Fall ergeben, allein durch die Tatsache, dass die Schüler auch hierbestimmte Formen nacheinander kennenlernen.-Aber unsystematisch, durcheinander und zuviel auf einmal.-Die Frage ist, ob wir tatsächlich den Schülern damit zuviel zumuten oder ob die Angst vor dem Chaosim Gegenteil daher rührt, dass wir als Lehrer glauben, die Schüler seien ohne eine systematische Erar-beitung der grammatischen Kapitel verloren.-Ja, sind sie das denn nicht? Sie verlangen doch auch selbst nach Systematik.-Selbst als Muttersprachler sind wir im Besitz einer grammatischen Systematik, zumindest nach einigenJahren der scolarisation.

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-Also spricht alles oder doch vieles dafür, unseren Schülern die Systematik nicht vorzuenthalten.

Intuitives Grammatikwissen-Gerade das Muttersprachen-Argument spricht andererseits dafür, unseren Schülern mehr zuzutrauen.Sie ‘wissen’ nämlich - aufgrund ihrer muttersprachlichen Kompetenz - schon eine ganze Menge über‘Grammatik’. -Wenn das nur kein Wunschdenken ist! Unsere Schüler heute wissen oft nicht einmal, was ein Subjektund was ein Objekt ist.-Ich meine nicht das metasprachliche Wissen über die Grammatik. Die Schüler können vielleicht mitden Begriffen nichts anfangen, aber dass einem 12-Jährigen nicht der Unterschied klar ist zwischendem, der zuschlägt und dem, der die Schläge einstecken muss, das können wir wohl nicht behaupten.-Das würde bedeuten, es gibt ein sozusagen intuitives ‘Wissen’, das nicht unbedingt verbalisierbar ist,das vielleicht gar nicht bewusst ist, das aber trotzdem da ist.-Und aus dem wir vielleicht Kapital schlagen könnten.-Im Grunde sind den Schülern alle grammatischen Kategorien und Zusammenhänge geläufig: Person,Genus, Numerus, Kasus, Tempus, Modus, die Bedeutung der Konjunktionen als logische Verknüpfun-gen, Quantität, Qualität, Ort, Zeit usw., denn all diese Kategorien werden gebraucht, um die Welt zubegreifen, um Dinge, Personen und Geschehnisse miteinander in Beziehung zu bringen.-Und was ist mit den Unterschieden zwischen den verschiedenen Sprachen?-Was das Deutsche und das Französische betrifft, so sind die Unterschiede in der sprachlichen Füllungdieser Kategorien nicht sehr groß bzw. leicht verständlich zu machen. Dass es im Französischen nurzwei Geschlechter gibt statt drei, begreift jeder deutschsprachige Schüler schnell, und selbst der unter-schiedliche Umgang mit der Zeit muss nicht unbedingt zum formalen Lernproblem werden. Es könnteeher ein interkulturelles Problem sein.-Ja manchmal frage ich mich wirklich, ob wir nicht mit dem verzweifelten Bemühen, den Unterschiedzwischen Passé composé und Imparfait bewusst zu machen, das Problem im Grunde nur vergrößern.-Wieweit wollen Sie denn nun noch gehen in Ihrem Lobgesang auf das Unbewusste? Sollen wir dennalles im Vagen, Nebulösen lassen? Soll nichts mehr geklärt werden?-Das Unbewusste steht doch nicht unbedingt im Gegensatz zur Klarheit. Intuitives ‘Wissen’ kann treff-sicherer sein als das, was normalerweise mit Wissen gemeint ist. Der Unterschied ist eben nur, dass esschlecht zu verbalisieren ist.-Vielleicht ist es an der Zeit, dass auch wir Abstand nehmen von der ‘klassischen’ Überbewertung desexpliziten Verbalisierens in der Tradition Boileaus: «Ce que l’on conçoit bien s’énonce clairement.»(L’Art poétique I, 152)-Wollen wir nicht nach soviel Theorie und Gelehrsamkeit wieder zum konkreten Unterricht zurückkeh-ren?-Ja, wie soll das denn nun konkret gehen, wenn die Schüler bestimmen, welche Formen sie lernen?

-Die Einführung von den Schülern aus-Anstatt die im Lehrplan vorgeschriebenen Themenbereiche anhand der Lehrbuchtexte abzuarbeitenund danach den Bezug zu den Schülern herzustellen, könnte man - umgekehrt - mit der Welt der Schü-ler beginnen. Lehrer und Schüler einigen sich also auf ein bestimmtes Thema, z.B. „Moi et mafamille“, „L’album de photos“, „Où j’habite“, „Mon copain/ Ma copine“ - „Mon école“ usw.-Das ist ja nicht ganz neu. Themenorientierter, offener Unterricht wird jetzt immer öfter gefordert.

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-Ja, aber die Realisierung bleibt im Ungewissen oder scheint sich für den normalen Unterricht nicht zueignen. -Die Schüler könnten sich doch auch im normalen Unterricht z.B. Fragen und Antworten überlegen, dieman in einem Dialog mit einem französischen Partner formulieren würde. Diese Fragen und Antwortenwerden dann auf Französisch versprachlicht, wobei die Schüler von Anfang an mit formulieren. DerLehrer gibt ihnen nur die Formen, die sie noch nicht kennen und die sie auch durch Rückschluss vonBekanntem auf Unbekanntes - eben aufgrund ihres allgemeinen kategorialen ‘Wissens’ - nicht selbstfinden können. Der Beginn eines Dialogs über das Thema «Mon école» könnte z.B. so aussehen: -Tu vas à quelle école? → Je vais au lycée/ à l’école ... -Tu es dans quelle classe? → Je suis en septième A.-Comment vas-tu à l’école? → J’y vais en bus/ en tram/ à pied.-Nehmen wir einmal an, das Fettgedruckte sei neu. Anstatt den Schülern nun das unregelmäßige Verb-paradigma von aller in allen sechs Personen zu präsentieren, bekommen sie die beiden Formen für die1. und 2. Person Singular, die sie jetzt benötigen - dass es noch weitere Personen gibt, wissen sie ja; dieinteressieren aber im Moment nicht. Tu vas und Je vais werden verbunden mit den erfragten bzw. mit-geteilten Ortsbestimmungen à quelle école bzw. au lycée / à l’école + Name der Schule. Die Verbin-dung entspricht dem Sinnkonzept, das hier versprachlicht werden soll. Man kann den Schülern die un-terschiedlichen Formgebungen von à, au und à l’ zwar erklären, sollte sich dann jedoch nicht einbilden,dass sie die Formen deshalb auch richtig gebrauchen werden. Mehr Erfolgsaussichten haben wir wahr-scheinlich dadurch, dass die Schüler die unterschiedlichen Formen mit den konkreten, von ihnen selbstbestimmten Sinnkonzepten verknüpfen, diese Sinn-Form-Verknüpfung im Gedächtnis speichern undim Dialog wiederholen, d.h. üben.-Soll das heißen, dass sonst keine grammatischen Übungen mehr nötig sind?-Wenn man das Gesagte konsequent zu Ende denkt, so könnten Sie mit Ihrer Vermutung Recht haben.-Und wie behalten die Schüler, dass es zwar dans quelle classe, aber en septième heißt?-Indem sie nicht mehr in einen Entscheidungsnotstand zwischen zwei Präpositionen kommen, sondernsich jede Präposition zusammen mit ihrem jeweiligen Kontext einprägen.-Dann lernen die Schüler diese Formgebilde ja praktisch wie Vokabeln, als acquisition globale, alsoimitativ, um nicht zu sagen behavioristisch.-Nicht unbedingt. (Im übrigen ist der Terminus ‘behavioristisch’ nur in der Fremdsprachendidaktikstigmatisiert - zu Unrecht, wie ich meine. In der Lernpsychologie stellen sowohl Stimulus-Response-Verhalten als auch kognitive Verarbeitung gleichberechtigte Untersuchungsdesigns dar.) Die Schülerlernen diese Formgebilde zwar als Ganzheit, als Formentsprechung zu ihrem Sinnkonzept, aber nichtals black box. Der Lehrer muss dafür sorgen, dass sie wissen, was drin ist, wie sie gebaut sind, d.h. dieStruktur muss von den Schülern durchschaut werden.

Erklärung und Transfer-Also müssen wir sie doch erklären?-Soweit das nötig ist, ja. Aber es ist wahrscheinlich sehr viel weniger nötig, als wir glauben.-Wenn die strukturellen Gesetzmäßigkeiten nicht mehr bewusst gemacht, d.h. verbalisiert werden, wir-ken sie dann etwa auch unbewusst?-Was da genau passiert, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall sind die Schüler - natürlich nicht alle ingleichem Maße - manchmal zu erstaunlichen Transferleistungen fähig, ohne große Erklärungen.-Sie müssten also dann z.B. das Pronominaladverb y bei einem späteren Formulierungswunsch auch füreine andere Ortsbestimmung einsetzen können, wenn sie den Ort nicht noch einmal nennen wollen.

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-Das könnte eben gerade deswegen klappen, weil sie das y beim erstenmal in seiner kommunikativenFunktion kennengelernt haben. Es erwies sich da nämlich als notwendig, weil die Formulierung Je vaisà l’école en bus. zu schwerfällig erschien. Das Phänomen der Ersetzung eines Substantivs durch einPronomen ist den Schülern ja als kommunikative Notwendigkeit bekannt.-Mich erinnert das Ganze trotzdem ein bisschen an die induktive Grammatikerarbeitung. Es ist nur we-niger explizit. Man geht von Beispielsätzen aus und lässt die Schüler die Gesetzmäßigkeiten bzw. diezugrundeliegende Regel selbst finden und auf andere Beispielsätze übertragen.-Na, da gibt es aber doch einen ganz entscheidenden Unterschied. Im einen Fall sind es Beispielsätzedes Lehrers bzw. des Lehrbuchs, im anderen Fall sind es die - wie wir gesagt haben - ‘Äuße-rungswünsche’ der Schüler. Die Motivationslage ist doch eine ganz andere.-Das stimmt. Auch noch so gut gewählte Beispielsätze - was schon schwer genug ist - reißen die Schü-ler nicht vom Hocker.-Und Sie meinen, diese banalen Dialoge, z.B. über die Schule, würden die Schüler tatsächlich mehr mo-tivieren?-Das könnte durchaus sein. Denken Sie doch nur daran, wie sich die Mitarbeit der Schüler schlagartigändert, sobald es um ihre eigenen Belange geht, sobald sie als sie selbst agieren dürfen.

Lexiko-grammatische Formgebilde als Bausteine-Aber mir ist trotzdem noch nicht ganz klar, wie das funktionieren soll, ich meine der kreative Umgangmit diesen - wie sollen wir sie denn nun nennen - mit diesen lexiko-grammatischen Formgebilden.-Es ist tatsächlich schwierig, dafür einen geeigneten Ausdruck zu finden. Die Linguistik kennt nur Wör-ter und den morpho-syntaktischen Regelapparat. Hier haben wir es mit Formgebilden zu tun, in denenLexik und Grammatik untrennbar miteinander verbunden sind. Hier verbinden sich Wörter samt ihrengrammatischen Markierungen in einer bestimmten syntaktischen Anordnung zu einer besonderenStruktur . -Es handelt sich dabei also nicht nur um Kollokationen oder um Redewendungen oder idiomatischeAusdrücke. Die sind ja nicht produktiv.-Genau das ist der Punkt. Vielleicht kann das Bild vom Baustein zum besseren Verständnis beitragen.Jeder Baustein hat eine bestimmte Struktur; diese ist in sich mehr oder weniger flexibel, d.h. einigeElemente können variiert werden. Zum anderen können die Bausteine auf verschiedene Weise mitein-ander zu größeren Bausteinen kombiniert werden.-Die Schüler würden ihre Äußerungen also dann selbst bauen, mit dem Material, das sie schon besitzen.-Ja, und der Lehrer gibt ihnen die erforderlichen neuen Bausteine dazu.-Und ermuntert sie im übrigen immer wieder zum eigenständigen Bauen.-Vielleicht könnten die Schüler diese Bausteine sogar dingfest machen, indem sie sie z.B. auf Karton-kärtchen notieren und damit buchstäblich ‘hantieren’.-Das würde vermutlich den auf größere Anschaulichkeit angewiesenen schwächeren Schülern helfen.-Ganz wichtig scheint mir dabei die Verknüpfung mit der von den Schülern festgesetzten Bedeutung.-Ja, jedem Baustein muss ein bestimmtes Sinnkonzept entsprechen, und zwar eines, das die Schüler ge-rade versprachlichen wollen.-Genau das ist wohl der Unterschied zu den alten exercices structuraux..-Ja, und die stupide Reihung fällt weg. Ein einziger, sozusagen erlebter Kontext zurrt die Verknüpfungzwischen Sinn und Form fest.

Muttersprache und Fremdsprache

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-Gerade bei den deutschen Sinnkonzepten habe ich aber ein ungutes Gefühl. Wir würden ja beständigvon der Muttersprache ausgehen. Die bekommt ja dann einen ganz hohen Stellenwert. Wo bleibt dennda die Einsprachigkeit?-Ja, läuft das nicht aufs Übersetzen hinaus?-Um die Äußerungswünsche überhaupt artikulieren zu können, müssen die Schüler sich doch der Mut-tersprache bedienen dürfen.-Man muss vielleicht darauf achten, dass anschließend keine Umsetzung der deutschen Formen (odergar Wörter) in die französischen Formen stattfindet. Die Aufmerksamkeit der Schüler muss sich daraufkonzentrieren, wie ihr Sinnkonzept in der Fremdsprache ausgedrückt wird, also auf die Struktur derFremdsprache, sei diese nun gleich oder verschieden.-Bei Gleichheit erübrigt sich meist jede weitere Erklärung. Die unbewusste Übertragung kann sich hierja nur positiv auswirken.-Ja, aber bei strukturellen Unterschieden muss man wohl darauf hinweisen.-Auch nicht unbedingt immer. Man könnte versuchen, so weit wie möglich innerhalb der französischenStruktur zu bleiben. Die Formen der Possessivbegleiter z.B. lassen sich sehr gut allein aus dem franzö-sischen System heraus verstehen. Ein Hinweis auf die sehr viel kompliziertere Lage im Deutschen stif-tet hier nur Verwirrung. -Die unterschiedlichen Strukturen bei der Altersangabe z.B. (J’ai douze ans vs. Ich bin zwölf [Jahrealt]) muss man wohl miteinander kontrastieren, in Klasse 7 etwa so: Die Franzosen sagen, dass sie so-undsoviele Jahre haben (gleichsam ‘auf dem Buckel’), wobei man ans nicht weglassen kann, weil manja alles Mögliche mit einem Zahlwort haben kann. Die Deutschen sagen, dass sie soundso alt sind, wo-bei Jahre alt wegfallen kann, weil man mit einem Zahlwort sonst nichts sein kann. -Es sind ja eigentlich für alles Umschreibungen möglich, auch solche eingängigen oder witzigen, diefür die Schüler besonders gut nachvollziehbar sind und ihnen gefallen.

Progression-Ich möchte noch einmal auf das Problem der Progression zurückkommen. Mir ist nicht klar, wie ichGrammatik nach dem Zufallsprinzip aufbauen kann.-Warum sollte eigentlich eine Gliederung nach den Äußerungswünschen der Schüler mehr Zufälligkei-ten enthalten als eine Gliederung nach den Kapiteln der Grammatikbücher?-Das ist aber eine kühne Argumentation!-Wenn die Schüler in den ersten Wochen oder auch Monaten für ihre Äußerungswünsche das Futuroder das Passé composé oder gar den Subjonctif brauchen, was dann?-Dann führen Sie die entsprechenden Formen ein.-Aber das ist doch noch viel zu schwer für Anfänger!-Wieso soll denn eigentlich die Zeitform der Vergangenheit schwerer zu lernen sein als die Zeitformder Gegenwart? Und warum soll die sprachliche Realisierung des Wirklichkeits-modus schwierigersein als die irgendeines anderen Modus? Verwechseln wir da nicht die intellektuellen Fähigkeiten mitden sprachlichen?-Die intellektuellen oder auch kognitiven Fähigkeiten zum Begreifen all dieser Wirklichkeitsaspektebesitzen unsere Schüler ja tatsächlich. Also könnten wir darauf bauen, dass sie aufgrund ihres - sagenwir - intuitiven Wissens jeden Aspekt, den sie versprachlichen wollen, auch selbst einordnen können. -Überschätzen Sie da nicht wieder die Grammatikkenntnisse der Schüler?

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Permanente Grammatkrevision

-Das ist wieder das gleiche Missverständnis wie vorhin. Wir sprechen im Moment nicht von der sprach-wissenschaftlichen Systematik, wie sie sich in den Beschreibungsmodellen der Grammatikbücher fin-den.-Wovon denn?-Von den Funktionen, die die sprachlichen Formen für die Wirklichkeitsbewältigung haben. DieseFunktionen sind den Schülern bekannt. Und wenn wir ihnen die Form für irgendeine dieser Funktionenliefern, z.B. für den Ausdruck der Vergangenheit, für den Grund, den Besitz, die Quantität usw., sowissen sie, wozu diese Form dient. Dieses Wissen befähigt sie zum sprachlichen Handeln, allerdingsnicht zur systemlinguistischen Beschreibung der Grammatik.-Demnach könnten wir also à la rigeur die Zeitformen der Zukunft oder der Vergangenheit vor der Ge-genwart einführen, die Objektpronomen vor den Objekten und die konjugierten Formen ohne den Infi-nitiv?-Wenn das möglich ist, dann eröffnen sich ja in der Tat ganz andere Perspektiven für die grammatischeProgression.-Aber sind manche Formen nicht doch komplexer als andere?-Linguistisch gesehen, ja. Aber sagt das auch etwas über die Lernbarkeit? Wenn die Struktur nachvoll-ziehbar ist - und wir haben eben gesagt, dass wir dafür sorgen müssen - dann müsste sie auch ohne wei-teres lernbar sein.-Würden auch einige Phänomene rausfallen?-Das wird sich zeigen. Auf jeden Fall würde sich eine andere, funktional orientierte Gewichtung erge-ben.-Und wenn es zu viele Formen auf einmal sind, die gelernt werden müssen?-Es wird ja immer nur eine Formentsprechung für ein Sinnkonzept gegeben. Das ist auf jeden Fall zupacken, egal, wie viele grammatische Einzelphänomene da drin vorkommen.-Wenn die Einzelphänomene nicht mehr in ihrer linguistischen Systematik gelernt werden müssen, soist die theoretische Lernbelastung ja sehr viel geringer.

Funktionale Systematik-Gerade die fehlende Systematik bereitet mir persönlich aber noch Kopfzerbrechen. Die Schüler müss-ten doch etwas in der Hand haben, irgendeine Systematik, in der sie nachschlagen können. Sonst bleibtdas doch alles reichlich vage. -Ja, das finde ich auch.-Könnte man nicht eine andere Art von Systematik finden, eben eine, die sich an den Funktionen orien-tiert?-Die müsste dann aber so konkret, so pragmatisch sein, dass sie für die Schüler auch wirklich eine Hilfefür ihr Sprachhandeln darstellt.-Für so etwas würde ich mir wohl eine Vorlage wünschen. Das kann man ja unmöglich alles allein ausdem Hut zaubern.

Selbständigkeit und Individualisierung -Und wenn die funktionale Systematik nun noch von den Schülern selbst gefunden wird, dann sind wirwohl voll auf der Linie des Konstruktivismus.-Na, ich weiß nicht, ob ich mich unbedingt als Konstruktivist etikettieren muss, wenn ich meine Schülerzum selbständigen Arbeiten ermuntere.

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Permanente Grammatkrevision

-Wussten Sie noch nicht, dass Sie nach den neuesten Erkenntnissen der Lerntheorie den Lernprozesssowieso nicht mehr steuern können?-Aha. Das gilt wohl nur theoretisch. Praktisch kann ich das Lernen sehr wohl steuern, und sei es nur da-durch, dass ich mit meinen Vorgaben selbständiges Lernen verhindere.-Wenn wir negativ steuern können, dann können wir auch positiv steuern, indem wir eben keine lern-verhindernden Vorgaben mehr machen.-Meinen Sie damit etwa die Kästchengrammatik und die formalen Grammatikübungen?-Nun, was meinen Sie denn?-Ja vielleicht. Obwohl man andererseits auch keinen Schüler daran hindern sollte, in einem Grammatik-buch nachzuschlagen - wenn er möchte.-Ja aber sie sollten nicht mehr alle auf diese Art des Lernens verpflichtet werden.-Wie weit wollen Sie denn nun wieder gehen in Ihrer Individualisierung? Jedem Schüler seine eigeneGrammatik?-Das wohl nicht, aber vielleicht jedem Schüler seine eigene Art, sich die Grammatik zu erarbeiten.-Vielleicht könnte der Zeitpunkt der Systematisierung und das Tempo jedem einzelnen überlassen blei-ben.-Dann müsste ja die ganze Unterrichtsorganisation geändert werden.-Ja, der Frontalunterricht bzw. der Unterricht im Klassenverband müsste weitgehend durch Einzel- undPartnerarbeit ersetzt werden.-Mir wird ganz schwindlig, wenn ich an all diese Veränderungen denke. Ich glaube, das schaff’ ichnicht mehr.-Das ist, glaube ich, alles eine Frage der Einstellung, auch des Rollenverständnisses. Wenn ich michnicht mehr als Vermittler von theoretischem Wissen empfinde, sondern sozusagen mäeutisch als je-mand, der seinen Schülern dazu verhilft, sich die fremde Sprache und ihre formalen Gesetzmäßigkeitenso anzueignen, dass er sich mit ihrer Hilfe verständigen kann, dann sehe ich auch selbst, was ich me-thodisch ändern muss.-Na, glauben Sie? Ich weiß nicht so recht.-Im übrigen ist das auch eine Sache der Persönlichkeit, und da müssen wir wohl jedem das Recht zubil-ligen, so zu sein, wie er ist.

Rezeptive Grammatik-Ich sehe zwar ein, dass wir langsam zum Schluss kommen müssen, aber einen Punkt möchte ich dochnoch kurz anschneiden. Wie sieht es denn mit der Rezeption aus? Wir können unseren Unterricht dochnicht allein mit den Äußerungswünschen der Schüler bestreiten.-Ich könnte mir vorstellen, dass das Leseverstehen (und vielleicht auch das Hörverstehen) von der an-deren Art der Grammatikvermittlung profitiert.-Also geben wir den Schülern doch Texte?-Ja aber klar doch, und zwar mehr als je zuvor. Wie soll denn sonst die fremde kulturelle Welt in dasKlassenzimmer kommen?-Wenn wir nicht mehr an eine bestimmte Reihenfolge der grammatischen Phänomene gebunden sind,dann haben wir auch mehr Spielraum bei der Auswahl der Texte.-Heißt das, die Texte können dann schwieriger sein?-Gemessen an unserem bisherigen Standard ganz sicher.-Und wie sollen die Schüler diese schwierigen Texte bewältigen?

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Permanente Grammatkrevision

-Indem sie sie nicht mehr auf unbekannte Wörter und unbekannte grammatische Strukturen hin durch-suchen, sondern ihre diversen Fähigkeiten dazu benutzen, den Inhalt zu verstehen.-Die Funktion der unbekannten grammatischen Formen ist ja zu einem großen Teil aus dem Kontext zuerschließen. Also kann im Text viel mehr Grammatik vorkommen, als die Schüler schon produktiv be-herrschen.-Das würde unsere Möglichkeiten vor allem in den ersten Lernjahren enorm erweitern.-Stichwort „die ersten Lernjahre“. Hierzu muss ich unbedingt noch eine Frage loswerden. Betrifft das,was wir jetzt diskutiert haben, also diese sozusagen alternative Art der Grammatikerarbeitung und -fes-tigung nur den Anfangsunterricht, oder soll bzw. kann das immer so weitergehen?-Wenn wir davon ausgehen, dass die Erarbeitung der Grammatik kein Selbstzweck ist, sondern viel-mehr notwendig ist, damit wir unsere Mitteilungsabsichten angemessen versprachlichen können, dannbetrifft dies die ganze Grammatik. Mit den steigenden inhaltlichen Ansprüchen der älter werdendenSchüler steigt auch ihr Anspruch an die formalen Möglichkeiten der französischen Sprache und damitihr Wunsch, sich diese Möglichkeiten anzueignen.-Das Prinzip könnte also dasselbe bleiben. Inhalte, Textsorten, Diskursstrategien, aber auch die konkre-ten methodischen Verfahren müssten der Lerngruppe hingegen angepasst werden.-Eine wichtige Rolle müsste hier doch auch die vermehrte Quantität und Qualität der Textrezeptionspielen.-Es ist zu erwarten, dass von einem bestimmten Niveau an - oder vielleicht auch schon von Anfang an -Produktion und Rezeption sich gegenseitig befruchten. Wie genau - das müssen wir erst noch rauskrie-gen.-Es wären also Früchte zu ernten, die wir gar nicht gesät haben?-Die Schüler haben sie gesät, und sie werden sie ernten.-Entschuldigung, ich vergaß, dass wir Lehrkräfte ja gar nicht mehr gefragt sind.-Na ja, das ist wohl doch etwas differenzierter zu sehen.-Es konnten ja schon sehr viele Probleme angeschnitten werden, aber alles ist unter dem Titel unseresRundgesprächs nun doch nicht unterzubringen.-Jetzt dämmert mir aber allmählich, was dieser Titel eigentlich bedeuten soll. Es ist ja eine Art „perma-nenter Grammatikrevision“, wenn die Schüler bei der Versprachlichung ihrer Äußerungswünsche wiebeim Verstehen der Textbedeutung die grammatischen Formen immer wieder auf ihre Funktion hin ab-klopfen, ihr Strukturverständnis dabei immer wieder testen und in diesem aktiven Tun festigen.-Die Grammatik gerät so nie aus dem Blick. Sie ist permanent da, allerdings nicht isoliert, sondern indem Kontext, in dem sie ihre eigentliche Aufgabe erfüllt.-Mir scheint, dass auch von uns eine Art permanente Revision gefordert wird. Das war alles vielleichtein bisschen viel auf einmal.-Ich bin ganz froh, dass ich viel Stoff zum Nachdenken bekommen habe.-Und Ideen zum Ausprobieren nehmen wir wohl auch mit.-Alors - à la prochaine fois, j’espère.

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Lexiko-Grammatik

Krista Segermann

Ein fremdsprachenunterrichtliches Reformkonzept auf lexiko-grammatischerGrundlage(veröffentlicht in: Wortschatz und Fremdspachenlernen, hrsg. V. Dirk Siepmann, Beiträge zur Fremd-sprachenvermittlung, Sonderheft 9/ 2006, S. 97-143)

This paper presents a reform model of teaching and learning a foreign language with a view to explain-ing both the underlying theory and its practical implementation. The model denies the need for a rigidgrammatical progression, fosters the learning of lexico-grammatical items rather than words and elim-inates the distinctions between lexis and grammar as well as between declarative and procedural know-ledge. The model is based on four main principles:1. New linguistic forms are introduced on the basis of learners’ expressive needs. 2. Learners make the connection between structural and conceptual units. 3. The focus is on content-based and structurally relevant exercises designed to help learners automa-tise linguistic patterns. 4. It is important to ensure that issues explored in the classroom are relevant to learners so that theirmotivation to use the foreign language for comprehension and production will be increased.

Inhalt1. Einleitung2. Reformorientierte Unterrichtsprinzipien2.1. Einführung neuer sprachlicher Formen aufgrund der Äußerungswünsche der Lernenden2.2. Lernerinitiierte Verknüpfung von lexiko-grammatischen Struktureinheiten und konzeptuellen Sinn-

einheiten2.3. Konzentration auf inhaltsbezogenes und strukturell relevantes Üben als Automatisierung von

Sprachmustern vor allem für die mündliche Kommunikationsfähigkeit2.4. Steigerung der Äußerungs- und Verstehensmotivation durch persönlich bedeutsame Inhalte3. Beispiele für Inhaltskonzepte und deren lexiko-grammatische Entsprechungen

1. EinleitungEs wird ein fremdsprachliches Unterrichtskonzept vorgestellt46, das für den Französischunterricht erar-beitet wurde, das jedoch in seinen Grundzügen theoretische Annahmen und praktische Handlungsemp-fehlungen enthält, die auch auf den Unterricht in anderen Fremdsprachen anregend wirken könnten.Zentral für dieses Konzept ist eine Aufhebung der traditionellen Trennung von Wortschatz und Gram-matik und damit natürlich auch eine veränderte Sicht des Wortschatzlernens, das nicht mehr als „Ler-nen von Wörtern“ aufgefasst werden kann. Der Impetus für die Entwicklung des Konzepts war derWunsch, Möglichkeiten für eine Steigerung der unterrichtlichen Effizienz ausfindig zu machen. AlsUntersuchungsobjekt stand in den 90er Jahren der universitäre Französischunterricht für Nicht-Philolo-

46 Unter dem Titel „Jenaer Reformansatz im Fremdsprachenunterricht“ fand im Oktober 2001 in Jena ein Symposium statt,in dem das hier erläuterte Unterrichtskonzept von Vertretern der Jenaer Forschungsgruppe (Prof. Dr. Krista Segermann, Dr.Anne Lequy, Dr. Brigitta Enke, Kerstin Rusteberg) in Theorie und Praxis vorgestellt und mit Beiträgen von Prof. Dr. HansBarkowski (Auslandsgermanistik Jena), Prof. Dr. Henning Düwell (Fachdidaktik Französisch, Göttingen), Prof. Dr. JürgenKurtz (Fachdidaktik Englisch, Karlsruhe), Prof. Dr. Gudula List (Sprachpsychologie, Köln), Prof. Dr. Dieter Wolff (Ange-wandte Linguistik, Wuppertal) diskutiert wurde. Vgl. die Veröffentlichungen dazu von Lequy, 2003 und Rusteberg, 2003.

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Lexiko-Grammatik

gen (Anfängerkurse) zur Verfügung. In jahrelanger eigener Unterrichtsarbeit konnte die Autorin dietheoretischen Ansätze in der Praxis überprüfen und weiterentwickeln.47 Das Erprobungsfeld erweitertesich seit 1996 durch den Einsatz des Konzepts im Sekundarschulbereich, wo die Autorin zusammenmit einigen Lehrerinnen in einem Schulversuch die ersten vier Jahre Französisch nach diesem, denschulischen Bedingungen angepassten Konzept unterrichtete. Inzwischen wird das Konzept an einerwachsenden Zahl von Schulen eingesetzt. Im Jahre 2001 hat eine Evaluation im Auftrag des ThüringerKultusministeriums stattgefunden. Es wurden in zwei Projekt-Klassen (PK) und zwei Nicht-Projekt-Klassen (NPK) jeweils des dritten Lernjahrs die kommunikativen Fähigkeiten Hören, Sprechen (inter-view), Lesen und Schreiben (Beantwortung eines Briefes) getestet. Die Schüler der PK verstanden rd.6% mehr als die der NPK. Beim Sprechen produzierten die Schüler der PK 23% mehr richtige Äuße-rungen als die der NPK, beim Schreiben waren es doppelt so viel korrekte Äußerungen. Der Fehlerquo-tient in den sprachlichen Teilbereichen (Grammatik, Wortschatz, Aussprache) im Mündlichen lag beiden PK insgesamt um rd. 3,5 Punkte, im Schriftlichen um 0,5 Punkte niedriger.Das Konzept verlässt in einigen wesentlichen Bereichen die herkömmlichen Wege des Fremdsprachen-unterrichts und folgt in Theorie und Praxis Vorstellungen, die in sich nicht eigentlich als neu zu be-zeichnen sind. Vielmehr sind diese Grundgedanken, die im Widerspruch zum mainstream zu stehenscheinen, in der bisherigen Entwicklung der Fremdsprachendidaktik vielfältig angelegt. Oft verbandensie sich mit Reformideen; manchmal versuchten sie, einseitige oder polarisierende Strömungen in einausgleichendes Fahrwasser zu lenken. Doch nie gelang es ihnen, vor allem die in den traditionellenBahnen verharrende Unterrichtspraxis merklich zu erschüttern. Das in jüngster Zeit bedrohlich zuneh-mende Unbehagen an der Effizienz des Fremdsprachenunterrichts in Schule und Hochschule – das sichvor allem auch aus den gewachsenen gesellschaftlichen Ansprüchen erklärt – könnte die Chance einerNeuorientierung begünstigen und wenn nicht eine radikale Umkehr, so doch das konsequente Weiter-schreiten auf einem Reformweg bewirken, der seit über einem Jahrhundert das Erreichen der fremd-sprachlichen und fremdkulturellen Kommunikationsfähigkeit im Mündlichen wie im Schriftlichen an-mahnt.Neben diesem nun schon so lange gleichbleibend gültigen fachspezifischen Lernziel sind im heutigenUnterricht an allgemeinbildenden Institutionen bestimmte fachübergreifende Unterrichtsprinzipien zubeachten, die als Ausdruck der aktuellen, auf Mündigkeit der Bürger in einer demokratisch verfasstenGesellschaft abzielenden Bildungsidee zu werten sind. Solche fachübergreifenden Unterrichtsprinzipi-en wie Schülerorientierung, Handlungsorientierung, Selbsttätigkeit, Selbständigkeit, Eigenverantwor-tung, Kreativität, Ganzheitlichkeit, Lebensverbundenheit, Selbst-disziplin, Leistungsbereitschaft usw.48

sind auf ihre Realisierung im Fachunterricht angewiesen. In einem lehrwerkgebundenen, ‘durchmetho-disierten’, auf eine gewisse Lehrerdominanz (zumindest in den ersten Lernjahren) festgelegten Fremd-sprachenunterricht scheint die Realisierung dieser fachübergreifenden Unterrichtsprinzipien besondersschwer, wenn nicht gar unmöglich zu sein. Das hier vorgestellte Unterrichtskonzept lässt sich u.a. dadurch charakterisieren, dass es die genanntenUn-terrichtsprinzipien zu methodischen Prinzipien des Fachunterrichts macht. Schülerorientierung,Ganzheitlichkeit49, Lebensverbundenheit, Kreativität finden sich hier als Leitideen für die theoretischeGrundlegung und die praktische Planung des Fremdsprachenunterrichts wieder.

47 Das Ergebnis hat sich in den unter dem Titel Multimedialer Französischkurs (Hagen: ISL 2000) veröffentlichten Lernma-terialien niedergeschlagen. Weitere Informationen dazu sind auf der Homepage der Autorin: www.romanistik.uni-jena.de/segermann/ zu finden.48 Solche Prinzipien finden sich übereinstimmend in nahezu allen bundesdeutschen Richtlinien und Lehrplänen.49 Vgl. „Schülerorientierter Französischunterricht: ein Konzept zur Verwirklichung einer dringlichen Forderung“ (Seger-mann 1999) und „Ganzheitsdidaktik - ein pädagogisches Konzept auch für den Fremdsprachenunterricht?“ (Segermann2000a).

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Die Darstellung gliedert sich in vier Bereiche, in denen vier maßgebliche reformorientierte Unter-richtsprin-zipien vorgestellt werden, und zwar jeweils unter ihrem unterrichtstheoretischen und ihremunterrichtspraktischen Aspekt. Während die ersten drei Prinzipien Gedankengänge repräsentieren, diesich sowohl in der Theorie als auch in der Praxis mehr oder weniger weit vom mainstream entfernen,entspricht das vierte Prinzip in seiner Formulierung weitgehend den in der aktuellen fremdsprachendi-daktischen Diskussion aufgestellten Postulaten. Auch die unterrichtspraktische Realisierung dieses4.vierten Prinzips orientiert sich z.T. an den dort gemachten Vorschlägen. Die Darstellung geht hier nurinsofern über Bekanntes hinaus, als sie einmal die Bedingungen und Wege für das Erreichen der Forde-rungen aufzeigt, zum anderen Ziele setzt, die über das bisher für möglich gehaltene Maß hinausgehen.Mit allen vier Prinzipien, die sich gegenseitig bedingen und aufeinander aufbauen, verbindet sich derAnspruch einer möglichen Effizienzsteigerung des Fremdsprachenunterrichts. Die bisherigen Erfahrun-gen zeigen, dass das Reformkonzept den Fremdsprachenunterricht in eine Richtung lenken könnte, diediesen Anspruch der Effizienzsteigerung einzulösen vermag.

2. Reformorientierte Unterrichtsprinzipien2.1. Einführung neuer sprachlicher Formen aufgrund der Äußerungswünsche der Lernenden

KurzerläuterungDie Einführung neuer sprachlicher Formen geschieht nicht anhand von vorgegebenen Lehrbuchtexten,die einer grammatischen Progression folgen, sondern aufgrund der Äußerungs-wünsche und -bedürf-nisse der Lernenden.

2.1.1. Unterrichtstheoretische Diskussion

Das Axiom der grammatischen ProgressionDas genannte Unterrichtsprinzip steht im Widerspruch zu dem weithin akzeptierten didaktischen Axi-om, dass das Erlernen einer fremden Sprache sich dadurch vollzieht, dass der Lernende sich nach undnach die Erscheinungen der fremdsprachlichen Grammatik in Form und Gebrauch aneignet. Für dengesteuerten Fremdsprachenerwerb wird dieses Axiom so ausgelegt, dass die grammatische Progressiondas Rückgrat und die inhaltliche Leitlinie des Unterrichts ausmacht. Das bedeutet, das Fortschreitendes Unterrichts bemisst sich nach den abgehandelten Kapiteln der Schulgrammatik – die sich ihrerseitsan den traditionellen Beschreibungsschemata der deskriptiv-normativen Grammatiktheorie orientiert.Für die Reihenfolge, in der der Lernende mit den einzelnen grammatischen Erscheinungen einer be-stimmten Fremdsprache vertraut gemacht wird, hat sich durch eine lange Schulbuchtradition eine mehroder weniger feste Form herausgebildet. Sie erhebt nicht den Anspruch, wissenschaftlich begründet zusein, und kann auch hier und da verändert werden, doch gilt sie in ihrem systematischen Anspruch viel-fach als unterrichtlich bewährt.

Die Herausforderung durch die ‘pragmatische Progression’Die härteste Bewährungsprobe hatte das Axiom der grammatischen Progression in den 80er Jahren zubestehen, als es im Zuge der sog. ‘kommunikativen Wende’ mit der alternativen Forderung nach einer‘pragmatischen Progression’ konfrontiert wurde. Im geschichtlichen Rückblick läßt sich die Aussichts-losigkeit dieser Alternative damit erklären, dass an dem Prinzip einer systematischen Progression fest-gehalten wurde. Doch war eine Systematisierung nach Sprechakten, die mit der ganzen empirischenFülle von schwer klassifizierbaren Performanzfaktoren behaftet sind, gegenüber der überlieferten Sys-

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Lexiko-Grammatik

tematisierung von abstrakt zu fassenden grammatischen Erscheinungen von vornherein im Nachteil.50

Das ‘pragmatische’ Zwischenspiel hat seine Spuren allenfalls in den – unsystematisierbaren - Auflis-tungen von Sprechakten/ Sprechintentionen bzw. Situationen der aktuellen Lehrwerke und Lehrplänehinterlassen; von einer Integration der beiden konträren Systematisierungsformen kann jedoch nicht ge-sprochen werden.51

Die Hypothese der ‘natürlichen Spracherwerbssequenzen’Kritik an der etablierten Reihenfolge - nicht jedoch an der Notwendigkeit einer grammatischen Pro-gression als solcher - kommt heute wieder verstärkt von einer der sog. Identitätshypothese verpflichte-ten didaktischen Richtung, die vor allem im DaF-Bereich Anhänger findet (vgl. Diehl u.a. 2000). Da-nach sollte sich die grammatische Progression an den sog. ‘natürlichen Spracherwerbssequenzen’ ori-entieren, die einerseits einem universalen kognitiven Entwicklungsschema, andererseits jedoch auchsprachspezifischen Entwicklungs-gesetzen folgen. Das Bestreben, eine lernpsychologisch begründbareProgression für den Fremdsprachenunterricht aufzustellen, trifft jedoch auf das grundsätzliche Problem,dass eine Parallelisierung von Erst- und Zweitsprachenerwerb vor allem aufgrund des unterschiedli-chen kognitiven Entwicklungsstandes kaum zulässig scheint.

Grammatik als kategoriale WirklichkeitsbewältigungGenau hier liegt auch der Ansatzpunkt für eine grundsätzliche Infragestellung der grammatischen Pro-gression als didaktisches Axiom des Fremdsprachenunterrichts. Selbst wenn die Grammatik als ab-straktes internalisiertes Regelsystem aufgefasst wird, kann doch nicht geleugnet werden, dass sie sichauf Erscheinungen der Wirklichkeit bezieht, indem sie kognitive Kategorien der Weltbewältigung wi-derspiegelt, die als Organisationsprinzipien der Erfahrung zu verstehen sind. Beim Erstspracherwerbhängt die Entwicklung dieser kognitiven Kategorien eng mit der Entwicklung der Sprachfähigkeit zu-sammen. Diese Kategorien sind zwar universell; ihre konkrete formale Füllung und Strukturierung ge-schieht jedoch sprach- bzw. kulturspezifisch. Diese natürliche Entwicklung - ob man sie nun als quasiautomatischen Ablauf eines genetischen Programms oder als aktive, wenn auch z.T. unbewusste Ver-knüpfung von situationsbezogenen Inhaltskonzepten mit sprachlichen Formen auffasst - vollzieht sichbei jedem Menschen nur einmal.52 Im Fremdsprachenunterricht erfolgt sozusagen eine zweite Parame-tersetzung, die dann als bewusste Besetzung der bekannten kognitiven Kategorien mit den neuen For-men der Fremdsprache zu interpretieren ist. Gelernt werden müssen also nicht die Kategorien – nenntman sie nun grammatisch oder kognitiv – sondern deren sprachspezifische Besetzung.

Die Rolle der muttersprachlichen KompetenzFolgt man dieser Argumentation, so können die fremdsprachlichen Entsprechungen der mit der Mutter-sprache gelernten kategorialen Wirklichkeitsaspekte (wie z.B. die gemeinhin als grammatisch bezeich-neten Kategorien Genus, Numerus, Tempus, Kasus, Modus usw.) an jeder beliebigen Stelle des Lehr-gangs eingeführt werden. Dem Lernenden ist lediglich zu vermitteln, mit welchen lexikalischen undmorpho-syntaktischen Formelementen die Fremdsprache ausdrückt, dass es sich z.B. um eine einzelne

50 An die Stelle der Abfolge grammatischer Erscheinungen sollte eine "Prioritätenliste kommunikativer Absichten" treten,um aus ihr "einen gestuften zyklischen Lehrgang abzuleiten". (Piepho 1974, S. 23) Eine Progression nach Redeakten, dieden vermuteten Mitteilungsbedürfnissen der Schüler entsprechen, entbehrt jedoch der logischen, allgemeingültigen Kriteri-en und öffnet der willkürlichen und auch ideologischen Interpretation Tür und Tor. Im Zusammenhang mit gewis-sen eman-zipatorischen Bestrebungen, die ebenfalls auf Widerstand stießen, setzte sich der Eindruck durch, dass unter der Führungder pragmatischen Progression ein geordnetes Lernen sprachlicher Formen nicht mehr möglich sei und die Lernenden damitdem sprachlichen Chaos ausgesetzt seien.51 Wenn R. Lehberger im Handbuch Fremdsprachenunterricht (3. Aufl. 1995) in dem Artikel "Geschichte des Fremdspra-chenunterrichts seit 1945" von einer zwischen Grammatik und Pragmatik "vermittelnden Methode" spricht, "der freilicheine kohärente Begründung bisher fehlt" (S. 568), so werden die tatsächlichen Schwierigkeiten, die sich aus dem ungelöstenProblemverhältnis der beiden Prinzipien ergeben, damit verschleiert.52 Der frühe Bilingualismus ist in diesem Zusammenhang ein Sonderphänomen.

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Person oder um mehrere handelt, wer der Handlungsträger ist oder wann etwas geschieht. Der kogniti-ve Rahmen für diese durchaus bedeutungshaltigen, u.U. lebenswichtigen Aspekte ist schon vorhandenund muss nicht erst fremdsprachlich aufgebaut werden. In diesem Sinne bedeutet die muttersprachlicheKompetenz als ‘Wissen’ um die Organisationsstrukturen der Wirklichkeit eine entscheidende Hilfe fürden Aufbau des fremdsprachlichen Systems. Diese Kompetenz ist es, die den Verzicht auf eine syste-matische Progression ermöglicht. Damit ist die sprachtheoretische Voraussetzung für die Realisierungdes o.g. Unterrichtsprinzips gegeben, demzufolge die inhaltlichen Ausdrucksbedürfnisse der Lernendentatsächlich den Aufbau des Lehrgangs bestimmen können. Denn die fremdsprachlichen Formulierun-gen unterliegen auch keiner lernpsychologisch zu begründenden Schwierigkeitsabstufung. Der rein lin-guistische Komplexitätsgrad ist kein verlässlicher Maßstab für die Lernschwierigkeiten. Dieser Maß-stab hat vielmehr weitaus mehr Gegebenheiten zu berücksichtigen, die noch wenig erforscht sind.Während beim Kleinkind die Formen der Gegenwart selbstverständlich den Formen der Vergangenheitvorausgehen, kann das mit den Zeitkategorien vertraute Schulkind die Zeitformen in beliebiger Reihen-folge erlernen – motivationspsychologisch gesehen am besten bedarfsorientiert, d.h. in der Reihenfol-ge, die seinen Äußerungswünschen entspricht.In der vielschichtigen Geschichte des Fremdsprachenunterrichts lassen sich immer wieder ‘Reformbe-strebungen’ nachweisen, die einen freien, d.h. nicht von der Systematik der grammatischen Erscheinun-gen diktierten Zugang zur Sprache propagierten und die bewusste Einordnung der zuvor gelerntengrammatischen Formen in das Sprachsystem später vornahmen. Dies war vor allem auch einer der me-thodischen Grundsätze der Neusprachlichen Reformbewegung des ausgehenden 19. und beginnenden20. Jahrhunderts.

Aus der Verbindung mit der Anschauung und Handlung ergibt sich zugleich eine gute Vorarbeit für die erst weiter spätereintretende grammatische Schulung, die sich dann ganz anders aufbauen und entwickeln lässt als da, wo diese Erschei-nungen meist nur an Sprachmaterial gelehrt werden, das in keiner Beziehung zu den Erlebnissen und Erfahrungen desSchülers selbst steht, ihm daher nie so zum Bewusstsein kommt, als wenn der Schüler sie sozusagen ‘an seinem eige-nen Leibe’ durchgemacht hat. (Walter, 1917, S. 15)

2.1.2. Unterrichtspraktische RealisierungWie können die individuellen Äußerungswünsche der Lernenden nun im konkreten Unterricht stimu-liert, identifiziert, gebündelt und für ein sequentielles Lernen bereitgestellt werden?Voraussetzung dafür, dass die Lernenden sich äußern wollen, ist das Schaffen einer entsprechendenUnterrichtsatmosphäre. Die Äußerungswünsche können zunächst nicht anders als in der Mutterspracheartikuliert werden, allerdings nicht durch fertige deutsche Formulierungen, die dann ‘übersetzt’ werden,sondern durch Umschreibung. Die steuernde Bündelung der individuellen Äußerungswünsche ge-schieht dadurch, dass die Lerngruppe sich auf ein bestimmtes Thema und eine bestimmte Situationsamt Rollenkonstellation einigt. Den Hintergrund für den situationellen Sprechanreiz stellt die ange-strebte Kommunikation mit den französischen Partnern dar. Die Lernenden berichten zunächst übersich und ihre Welt und stellen Fragen zu der 'fremden' Welt. Anhand von Dialogen werden sowohl kur-ze Gesprächsäußerungen als auch beschreibende, erzählende und argumentierende Textpassagen erar-beitet, die die unterschiedlichsten Inhaltskonzepte enthalten. Die Komplexität der Themen wächst mitdem intellektuellen und emotionalen Horizont der Lernenden. Neben Themen aus dem Alltagslebentreten z.B. auch textvermittelte Aufgabenstellungen wie Résumés von und Stellungnahmen zu Hörspie-len und Geschichten sowie Problemerörterungen. 53

53 Für die das Jenaer Reformkonzept praktizierenden Lehrer steht ein Pool an themengebundenen Dialogen und anderenTextsorten zur Verfügung, in denen mögliche Äußerungswünsche der Schüler modellhaft versprachlicht sind. Es besteht eininternes Internet-Forum für die Projektteilnehmer, in dem Materialien und Anregungen einzusehen, herunter zu laden undzu diskutieren sind, s. Homepage unter www.romanistik.uni-jena.de/segermann/.

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Die inhaltliche Entscheidung für die jeweiligen Äußerungen trifft die Lerngruppe54, über die Art derFormulierung entscheidet der Lehrende mit Hilfe des ihm zur Verfügung stehenden Materialpools.55

Ein gewisser individueller Spielraum bleibt dadurch erhalten, dass die Lernenden die gemeinsamenFragen ihrer jeweiligen Situation entsprechend beantworten. Die Sammlung dieser selbst produzierten‘Eigentexte’56 ergibt das ‘Lernbuch’, das die sequentiell erarbeiteten sprachlichen Formulierungen aus-weist und die Grundlage für das individuelle Lernen darstellt. Voraussetzung für einen schnellen, rei-bungslosen Ablauf der gemeinsam erfolgenden Versprachlichung der Äußerungswünsche ist wiederumdas soziale Klima in der Lerngruppe sowie die Gewöhnung an ein verantwortungsvolles, diszipliniertesund auf möglichst viel Eigentätigkeit gerichtetes Arbeiten.

2.2. Lernerinitiierte Verknüpfung von lexiko-grammatischen Struktureinheiten und konzeptuel-len Sinneinheiten

KurzerläuterungAn die Stelle des isolierenden Lernens von Vokabeln und Erscheinungen der Grammatik tritt ein Ler-nen, das in der durch die Äußerungswünsche der Lernenden bestimmten Verknüpfung von Form undInhalt auf der Grundlage größerer, Lexik und Morpho-Syntax integrierender kommunikativer Lernein-heiten besteht, die sowohl in ihrer Klanggestalt als auch in ihrer Schriftgestalt aktiviert werden.

2.2.1 Unterrichtstheoretische Diskussion

Das Wort als LerneinheitAls traditionelle sprachliche Lerneinheit hat das „Wort“ im fremdsprachlichen Lernprozess eine starkeStellung. Zwar hat sich die Fremdsprachendidaktik schon seit den 60er Jahren ausdrücklich mit demPrinzip vertraut gemacht, dass Wörter im Kontext und aus der Situation heraus zu vermitteln und zulernen sind57. Dennoch wird der Unterricht nicht selten von der Auffassung bestimmt, dass das Erlerneneiner Fremd-sprache darin bestehe, Wörter und Grammatik zu beherrschen. Der Lehrbuchtext stellt hierdie methodisch vermittelnde Instanz dar. In ihn werden die zu lernenden Wörter und grammatischenErscheinungen (von den Lehrbuchautoren) hineingegeben und aus ihm werden sie (von Lehrenden undLernenden) im Unterricht wieder heraus gefiltert und gelernt. Das notwendige Grundlagenmaterial da-für liefert die Sprachwissenschaft - die man von jeher als materiellen Lieferanten für das Sprachenler-nen heranzog - in Gestalt von Wörter- und Grammatikbüchern.58

Schon vor über 100 Jahren erschienen dem Neusprachlichen Reformer Wilhelm Viëtor weder der In-halt der Schulgrammatik noch der Wortvorrat des Wörterbuchs als geeignetes Mittel, den Schüler einelebendige Sprache lernen zu lassen: “Und wenn es euch gelänge, ihm die beste Grammatik und dasumfassendste Wörterbuch in den Kopf zu schaffen, so hätte er noch immer keine Sprache gelernt.“59

„Den „praktischen Schulmann“ Günther60 führt Viëtor mit folgender Invektive an:

54Der Lehrende darf hier selbstverständlich steuernd eingreifen, um bei zu vielen Vorschlägen eine sprachliche Überforde-rung zu verhindern.55Vgl. Anm. 9.56Der Begriff ist in Anlehnung an die ‘Eigenfibel‘ der Grundschul-Reformbewegung geprägt.57Vgl. das Prinzip des situational teaching in der audio-lingualen und der audio-visuellen Methode (R.M. Müller 1971) so-wie die Rezeption des „britischen Kontextualismus“ (H. Gutschow 1968).58Dass das Wort als linguistische Einheit kaum zu definieren ist, tut dem Prestige der Wörterbuchtradition keinen Abbruch;ebensowenig die Tatsache, dass einzelne Wörter nur eine höchst abstrakte, eben eine ‘Wörterbuch’-Bedeutung haben. Vgl.hierzu Engelkamp (1985): „So bedeutsam die Frage nach der Bedeutung von Wörtern und ihrer Repräsentation ist, die Vor-stellung einer festgefügten Wortbedeutung wird der psychologischen Realität nicht gerecht.“ (S. 313)59So Viëtor in seiner bekannten Streitschrift „Der Sprachunterricht muß umkehren“ von 1882 (1982, S. 124).60„Der Lateinunterricht am Seminar“ in Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik, 1881.

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[...] Vor allen Dingen vermögen einzelne Wörter beim Zögling kein nachhaltiges Interesse zu erzeu-gen. Damit hängt zusammen, daß ihr erstmaliges Einprägen, wie auch ihr Festhalten dem Schülerunnötige Mühe verursachen muß, die ihm wiederum Zeit und Lust für andere Aufgaben des Sprach-unterrichts raubt. Zu denken und urteilen gibt es dabei nichts; ja die stets auftauchenden Vorstel-lungen und Vorstellungsgruppen werden mit Gewalt plötzlich wieder niedergeschlagen [...] EinzelneWorte und Wortformen im Unterricht sind ein grober Verstoß gegen Psychologie und Pädagogik.(S. 133)61

In der Spracherwerbsforschung unserer Tage gibt es schon seit längerem Tendenzen, das Wort alskommunikative Lerneinheit in Frage zu stellen und statt dessen situations- und bedeutungsbezogenesprachliche Einheiten (unterschiedlicher Wortgröße) als Wahrnehmungs- und Lerneinheiten zu postu-lieren. So spricht Ann Peters (1983), ausgehend von Untersuchungen zum kindlichen Erstspracher-werb, von "units of language acquisition", die auch beim Zweitspracherwerb wirksam sein könnten. ImZusammenhang mit dem hier vorgestellten Reformkonzept ließe sich argumentieren: Während dieseEinheiten beim kindlichen Spracherwerb noch nicht als „lexiko-grammatisch“ zu erkennen sind (weilder Aufbau der Syntax parallel zur Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten erst nach der sog. Zwei-und Drei-‘Wort’-Phase einsetzt – wobei die ‘Wörter’ nicht Lexikoneinträgen entsprechen, sondernWirklichkeitsaspekte versprachlichen - können sie beim Fremdsprachenerwerb (aufgrund der weitge-hend abgeschlossenen kognitiven Entwicklung) durchaus mit allen morpho-sytaktischen Merkmalenversehen sein und als solche gelernt werden.Die neue Herausforderung wäre also, Grundlagenmaterial für den Unterricht zu erstellen, das statt derWorteinheit eine andere Sprach- und Lerneinheit zugrunde legt, die nur in Ausnahmefällen aus einemeinzigen Wort besteht, in der Regel jedoch mehrere Lexeme mit grammatischen Markierungen in einerbestimmten syntaktischen Anordnung enthält. Diese neue lexiko-grammatische Einheit muss ein auchfür die Lernenden nachvollziehbares (und also auch umschreibbares) Inhaltskonzept repräsentieren, dasAusdruck ihrer Gedanken, Gefühle, Wissenselemente, Erfahrungen, Mutmaßungen usw. ist. Dem Leh-renden müsste ein Pool an solchen kommunikativen Lerneinheiten zur Verfügung stehen, aus dem erbei der Adhoc-Versprachlichung der Äußerungswünsche seiner Lerngruppe bei Bedarf schöpfen kann(zu Beispielen s. Abschnitt 3).

Bestrebungen zur Integration von Lexik und GrammatikIn der Geschichte der Fremdsprachendidaktik hat es immer schon Bestrebungen gegeben, das getrennteLernen von Lexik und Grammatik zu überwinden, da es in der Sprachverwendungssituation wenig hilf-reich sei. Doch konnten weder Konversationsbücher, Sammlungen von Gesprächen, Redensarten undMuster-sätzen oder sonstige, der Kommunikationswirklichkeit näherkommende Auflistungen62 dasSteuerungsmonopol der in Grammatik- und Wörterbüchern geronnenen Sprache brechen.Neuere Ergebnisse im Bereich der Lexikonforschung und der vor allem auch auf mündlichen Sprach-äußerungen beruhenden Korpuslinguistik weisen eindeutig in eine Richtung, die für eine Integrationvon Lexik und Grammatik plädiert. So heißt es bei John Sinclair ( 1991) unmissverständlich:

[...] it is folly to decouple lexis and syntax, or either of those and semantics (S. 108)

61Auf „den berühmten Sprachforscher Sayce" beruft Viëtor sich mit folgendem Zitat: „Aber vor allem besteht die Sprache,die Zwecke des Lexikographen ausgenommen, nicht aus Wörtern, sondern aus Sätzen. Man wird nie eine fremde Sprachedadurch sprechen lernen, daß man einfach lange Listen von abgerissenen Wörtern dem Gedächtnis überliefert. Kennt manselbst alle Regeln der Grammatik noch dazu, so wird man, wenn es drauf und dran kommt, mit dem Aneinanderreihen derWörter und dem Verstehen von dem, was uns erwidert wird, bald zu Ende sein.“ (1982, S. 125)62Solche Phraseologien und Gesprächssammlungen sind mindestens seit der Zeit der Humanisten belegt; vgl. z.B. die be-rühmten „Schülergespräche“ (Familiarum colloquiorum formulae) des Erasmus von Rotterdam (1522). Durch das Auswen-diglernen ihrer formelhaften Sprache sollte die mündliche Ausdrucksfähigkeit der Schüler erweitert werden.

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[...] the division into grammar and vocabulary obscures a very central area of meaningful organiza-tion [...] When we have thoroughly pursued the patterns of co-occurrence of linguistic choices therewill be little or no need of a separate residual grammar or lexicon. (S. 137)

Ähnlich äußert sich auch der Kognitive Linguist Ronald W. Langacker (1999) im Rahmen seines anBedeutungskonzepten orientierten Sprachverwendungsmodells:

[...] grammar reduces to the structuring and symbolization of conceptual content and thus has no au-tonomous existence at all. (S. 1)[...] there is in fact no distinction: lexicon and grammar form a continuum, structures at any pointalong it being fully and properly described as symbolic in nature. By and large, the elements tradi-tionally ascribed to grammar tend to be quite schematic (semantically and/or phonologically),whereas those assigned to lexicon tend toward greater specificity. Yet the difference is clearly oneof degree, and any particular line of demarcation would be arbitrary. (S. 18)

Vielleicht bahnt sich hier ein Paradigmenwechsel an, der langfristig auch für den Fremdsprachenunter-richt wirksam werden könnte63.

Zur Vereinbarkeit von automatisierten Struktureinheiten und analytischem SprachbewusstseinDas Lernen von lexiko-grammatischen Einheiten wird jedoch nur dann zu einer effektiven fremd-sprachlichen Kompetenz führen, wenn die Lernenden damit kreativ umgehen und „aus endlichen Mit-teln unendlichen Gebrauch“ machen können.64 Die neue Lerneinheit ist also trotz ihrer formelhaften Fi-xiertheit nicht in dem Sinne der formulaic language65 zuzuordnen, dass sie als unanalysed chunk ver-standen wird. Vielmehr muss sie in ihrer Struktur, d.h. ihrer Bauweise, von den Lernenden durchschautwerden. Der für den Sprachgebrauch konstitutive kreative Aspekt der Sprache ist mit dem Aspekt derquasi automatischen Abrufbarkeit von holistisch im Gedächtnis gespeicherten fertigen Spracheinheitenin Einklang zu bringen.Lerntheoretische Ansätze dazu liegen vor in der Dual route-Hypothese, die vor allem in der anglo-ame-rikanischen Spracherwerbsforschung diskutiert wird.66 Sie nimmt eine Doppelstrategie an, der zufolgeSprache je nach psychologisch und soziologisch motivierter Fokussierung auf unterschiedlichen Wegenproduziert werden kann, nämlich sowohl durch Rückgriff auf größere lexiko-grammatische Einheiten,die als fertige Formgebilde zur Verfügung stehen, als auch durch Rückgriff auf abstrakte, aus kogniti-ver Analyse-Arbeit resultierende morpho-syntaktische Schemata, die dann mit der jeweiligen Lexik

63Sinclair (1991) hält – vorausschauend - die Ergebnisse der korpuslinguististischen Lexikonforschung für eine mögliche“database for teachers’ reference, a repository of facts about English on which new syllabuses and materials can be based.”(S. 78). – Auch Langacker (2000) sieht gute Aussichten für die pädagogische Nutzbarmachung: „Perhaps cognitive linguist-ics will prove to be lighter, less onerous, and more appreciative than certain previous theoretical burdens. I hope it will evenprove useful.“ (S. 1)64Dieses Diktum, das seinerzeit von Noam Chomsky als stärkstes Argument gegen die Theorie des Behavioristismus insFeld geführt wurde, hat er Wilhelm von Humboldts Schrift „Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues undihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“ (1830-1835) entnommen (1969, S. 477) undmehrfach zur Stützug seiner eigenen Theorien zitiert, in seinem 1995 (2. Auflage 1996) erschienenen Buch The MinimalistProgram, allerdings ohne Namensnennung nur noch als “one classic formulation” (S. 4).65Mit vorgefertigten, formelhaften Sprachgebilden beschäftigte sich die Linguistik bisher unter dem Begriff der Idiomatizi-tät, der Phraseologie oder auch der Kollokation (vgl. Raupach 1984, Coulmas 1994). Seit den 80er Jahren sind diese mit ei-ner Vielzahl von Termini umschriebenen Gebilde (fixed expressions, prefabricated routines, ready-made formulas, stereo-typed units, conceptual packages usw.) in Arbeiten der anglo-amerikanischen Spracherwerbsforschung (Yorio 1980, 1989,Vihman 1982, Bolander 1989, Nattinger/ De Carrico 1997, 1. Aufl. 1992, Weinert, 1995, Wray 1992, 1999, 2000) voneinem Randphänomen ins Zentrum des Lernprozesses gerückt; vgl. Wray 2000: „[...] from dealing with a peripheral set ofslightly awkward idioms, we shift to the possibility that any quantity of our language could be formulaic.” (S. 466).66Vgl. die vorige Anm. Die Hypothese ist in ihrem Integrationsbemühen nicht neu. Schon in den frühen 70er Jahren gab esim Zusammenhang mit der audio-lingualen Methode Stimmen, die für eine Verbindung von habit formation und cognitivecode-learning plädierten; vgl. z.B. den Aufsatz von Elisabeth Ingram in IRAL von 1971.

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aufgefüllt werden. Allerdings bleibt unklar, wie sich die beiden Verarbeitungsweisen im fremdsprachli-chen Unterricht zueinander verhalten. Ähnliche Hypothesen zu einer Doppelstrategie finden sich wiederum sowohl bei Sinclair als auch beiLangacker. Auf der Basis von korpuslinguistischen Analysen kommt Sinclair (1991) zu dem Schluss:

[...] The model of a highly generalized formal syntax, with slots into which fall neat lists of words, issuitable only in rare uses and specialized texts. By far the majority of text is made up of the occur-rence of common words in common patterns, or in slight variants of those common patterns. (S.108)

Terminologisch scheint das Phänomen der Schematisierung nicht leicht zu fassen. Neben pattern er-scheint z.B. auch phrase. So wenn Sinclair über den kreativen Umgang mit vorgefertigten sprachlichenEinheiten sagt:

One is first struck by the fixity and regularity of phrases, then by their flexibility and variability,then by the characteristically creative extensions and adaptations which occur. (S. 104)

Langacker (1999) verwendet die Termini pattern, scheme und template nebeneinander und versuchtüberdies, auch den überkommenen Begriff der Regel in den Zusammenhang zu integrieren:

[...] linguistic patterns occupy the entire spectrum ranging from the wholly idiosyncratic to the max-imally general. (S. 92)[...] language is described as a structured inventory of conventional linguistic units [...] which areeither directly manifested as parts of actual expressions, or else emerge by the processes of abstrac-tion (schematization) and categorization. (S. 98)The rules [...] are templatic schemas (as opposed to constructive statements) and are immanent intheir instantiations (as opposed to being represented as distinct cognitive entities). (S. 144)

2.2.2. Unterrichtspraktische RealisierungWie kann nun im Unterricht die Form und Inhalt verknüpfende kommunikative Lerneinheit in ihrerBauweise, ihrer Variabilität und der multiplen Verwendbarkeit ihrer Bauteile für die Lernenden sotransparent werden, dass sie in ihrem Strukturschema erkannt, gelernt und für den Transfer verfügbarwird?Bei der Erarbeitung der ‘Eigentexte’, die die Äußerungswünsche der Lernenden versprachlichen, liefertder Lehrende nur die Teile, die die Lerngruppe nicht selbst durch zunächst bewusste Übertragung vonschon gelernten Elementen auf die nun benötigten finden kann. Diese Transferleistung betrifft immerlexiko-grammatische Struktureinheiten (unterschiedlicher Größe), die für die Lernenden fest mit einembestimmten Inhaltskonzept verbunden sind. Die Lernenden greifen also auf konkrete, im Gedächtnisverankerte kommu-nikative Lerneinheiten zurück, die sie in ihrer schematischen Abstraktion als Mo-dell für die neue Lerneinheit insgesamt oder in ihren Teilen benutzen. Evtl. fehlende Lexeme, die derLehrende liefert, werden dann von ihnen morpho-syntaktisch ein- und angepasst, wobei die gramma-tischen Kategorien vor allem in ihrer semantischen Funktion als Ausdruck wiederkehrender Wirklich-keitsbezüge gesehen werden.Elemente, die eine neue lexiko-grammatische Einheit bilden, werden in ihrer formelhaften Fixiertheitgegeben, aber sofort in ihrer Strukturiertheit analysiert. Präpositionen werden also z.B. nicht als Einzel-wörter genannt, sondern nur innerhalb bestimmter Fügungen (mit Verben + Objekten oder mit Artikel+ Substantiv), da nur die Fügung als Ganze ein Inhaltskonzept (z.B. eine Tätigkeit oder eine Zeit-/Ortsbestimmung) ausdrückt. Das dahinter stehende Bildungsprinzip (z.B. frz. en France = en + weibli-che Ländernamen für die Versprachlichung von entsprechenden Ortsangaben)) wird erhellt und so fürden Transfer verfügbar gemacht.

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Besondere Aufmerksamkeit ist den Fällen zu widmen, wo Muttersprache und Fremdsprache unter-schiedliche Strukturen benutzen. Hier muss die formale Unterschiedlichkeit auch auf sprachspezifischeKonzeptualisierung, und das heißt unterschiedlich strukturierte Inhaltskonzepte, bezogen werden. Aufdiese Weise lässt sich das angestrebte ‘Denken in der Fremdsprache’ erreichen. Abstraktionsprozessekönnen zwar individuell verschieden und mehr oder weniger bewusst ablaufen, doch kann auf ihre In-itiierung durch den Lehrenden nicht verzichtet werden. Wenn sie unterbleiben und keine abstraktenSchemata und Kategorien aus dem konkreten Sprachverwendungsbeispiel gebildet werden, dann ist dergesamte Lernprozess gefährdet, denn dann erstarren die Lerneinheiten zu unproduktiven Formeln. Die lexiko-grammatischen Struktureinheiten stellen gleichzeitig auch rhythmische Einheiten dar. Diejeder Sprache innewohnenden prosodischen Gliederungssignale können in ihrer förderlichen Wirkungauf den Sprachlernprozess67 dadurch voll nutzbar gemacht werden, dass die Entsprechung von unité desens und unité rythmique (Wioland, 1991) bewusst als Lernverfahren eingesetzt wird. Das bedeutetkonkret, dass die Lernenden bei der Erarbeitung der kommunikativen Lerneinheiten deren Gliederungin Sinnkonstituenten gleichzeitig auch als rhythmische Gliederung erfahren. Das prosodisch richtigeArtikulieren der rhythmischen Einheiten basiert z.B. in der französischen (wie auch in der englischen)Sprache auf der Beachtung der Pausenverteilung, der Akzentuierung, der Bindungs- und Schwachton-phänomene sowie der für die zusammen-hängende Rede spezifischen Lautrealisierungen, die sich be-trächtlich von der Phonetik des Einzelwortes unterscheiden können.68

Die Beherrschung der prosodischen Gesetzmäßigkeiten bei der Produktion legt außerdem die Grundla-gen für das H ö r v e r s t e h en . Wenn den Lernenden die typischen Merkmale gesprochener Spracheaus ihrer eigenen Sprechtätigkeit bekannt sind, wird es ihnen auch viel leichter fallen, die gehörte Laut-kette in Sinneinheiten zu zerlegen und damit die größte Hürde beim Verstehen gesprochener Sprachezu überwinden (Segermann, 2003).Die so eingeführte Klanggestalt der kommunikativen Lerneinheiten69 geht der S c h r i f t g e s t a l tgrundsätzlich voraus.70 Diese wird dann allerdings sofort danach von den Lernenden selbst - mehr oderweniger selbständig – erstellt. Diese Art des Umgangs mit dem Schreiben wird möglich, sofern denLernenden die Graphem-Phonem-Korrespondenzen (GPK) der Fremdsprache in ihrer eigengesetzli-chen Systematik71 von Anfang an bewusst gemacht werden.72 Aufbauend auf dieser ersten Ebene derLaut-Schrift-Zuordnung prägen die Lernenden sich auf der zweiten Ebene Wortbilder ein (s. dazu wei-ter unten), um schließlich auf der dritten Ebene den prosodischen Einheiten der Lautkette die entspre-chende Schriftgestalt zuzuordnen. Durch die gleichzeitige und zuordnende Repräsentation der Sprachesowohl im mündlichen wie im schriftlichen Medium kann die Hilfestellung der Schrift voll ausgenutztwerden, ohne dass sie sich als Störfaktor für das Mündliche bemerkbar macht (Segermann 2004).73

67Auf die Bedeutung der rhythmischen Gliederung der Rede nicht nur für den Erstspracherwerb, sondern auch für den Er-werb weiterer Sprachen hat Gudula List im Rahmen ihres Beitrags beim Jenaer Symposium hingewiesen.68Prosodische Phänomene werden vor allem auch in der Lehrerausbildung eher vernachlässigt. Der übliche Phonetik-kursmüsste z.B. um die suprasegmentalen Phänomene in der gesprochenen Rede erweitert werden.69Hier hat sich ein dreimaliges Chorsprechen bewährt, bei dem der Lehrer sich immer weiter zurücknimmt und auch dieängstlichen Schüler am Ende voll einstimmen. Eine ausführliche Beschreibung der Unterrichtsverfahren des Jenaer Reform-konzeptes findet sich bei den Materialien des Internet-Forums (s. Anm. 9).70In den ersten drei bis vier Französischstunden wird allerdings rein mündlich gearbeitet. Danach folgt eine Einführung indie Verschriftlichung der bis jetzt gelernten Äußerungen, wobei den bekannten Lauten bzw. Lautkombinationen die jeweili-gen Grapheme bzw. Graphemkombinationen zugeordnet werden. Dem Lehrer liegt zu diesem Zweck eine systematischeZuordnungstabelle im Internet-Forum vor (s. Anm. 9).71Damit wird das uralte Problem der Interferenzen, also der Übertragung des muttersprachlichen Korrespondenzsystems aufdie Fremdsprache, von vornherein ausgeschaltet.72Die Graphem-Phonem-Korrespondenzen waren bei den Neusprachlichen Reformern bekannt, gerieten danach jedoch wie-der weitgehend in Vergessenheit (vgl. Walter 1917).73Damit könnte dem inzwischen verstummten, aber nie ganz geklärten Streit der 70er Jahre um die Priorität der Mündlich-keit ein Ende gesetzt werden.

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Der Analyseprozess in der Einführungsphase (d.h. bei der Erarbeitung der ‘Eigentexte’), der dieFremdsprache allmählich in ihren spezifischen Gesetzmäßigkeiten fassbar macht, muss - sobald genugTextmaterial vorhanden ist - in eine von den Lernenden selbst zu leistende Systematisierung münden.Die erlernten strukturellen Bausteine werden so zusammengestellt, dass die zugrundeliegenden Muster(mit unterschiedlichem Abstraktionsgrad) für die Lernenden selbst sichtbar werden. Diese Art von Sys-tematisierung respektiert jedoch weiterhin das Prinzip der Verknüpfung von Inhaltskonzepten mit lexi-ko-grammatischen Formentsprechungen. Es erfolgt also keine formale Zusammenstellung nach gram-matischen Phänomenen, wie sie in den gängigen Grammatikbüchern zu finden ist. Die Systematisie-rungsaufgabe ist flexibel zu handhaben, da sie unter größtmöglicher Beteiligung der Lernenden gesche-hen soll. So entsteht aufgrund der versprachlichten Äußerungswünsche der Lernenden eine auf Inhalts-konzepte bezogene ‘Eigengrammatik’. Auch die die Strukturen auffüllenden konkreten Inhaltswörterwerden von den Lernenden selbst nach thematischen Gesichtspunkten in einem ‘Eigenwörterbuch’ auf-gelistet, allerdings nicht als Einzelwörter, sondern innerhalb von typischen Kollokationen (Verben +Substantiven, Adjektiven + Substantiven) oder Syntagmen. Dem Lehrenden müssen auch hier (in ei-nem „Lehrbuch für Lehrer“74) modellhaft mehrere Möglichkeiten für Schüler-Systematisierungen andie Hand gegeben werden. Hinzu kommt noch die Systematisierung der Laut-Schrift-Entsprechungen, deren Gesetzmäßigkeitendie Lernenden sofort bei der Versprachlichung ihrer Äußerungswünsche schon gelernt haben, die siejedoch später selbst noch einmal in einer systematischen Übersicht nachvollziehen. Sobald genug Text-material vorhanden ist, werden die Wörter, in denen ein bestimmter Laut oder eine Lautkombinationdurch ein bestimmtes Graphem oder eine Graphemkombination repräsentiert wird, in die selbst gefer-tigte Laut-Schrift-Tabelle eingetragen.75

2.3. Konzentration auf inhaltsbezogenes und strukturell relevantes Üben als Automatisierungvon Sprachmustern vor allem für die mündliche Kommunikationsfähigkeit

KurzerläuterungAn die Stelle des isolierenden Übens zur Aneignung der sprachlichen Teilsysteme (Wortschatz, Gram-matik, Aussprache und Orthographie) tritt ein an der realitätsnahen Sprachverwendung orientiertes,überwiegend mündliches Üben von Strukturmustern, die in Gesprächssituationen häufig auftauchenund daher den Lernenden beim Sprechen und Verstehen quasi automatisch zur Verfügung stehen soll-ten.

2.3.1. Unterrichtstheoretische Diskussion

Vom Wissen zum Können oder vom deklarativen zum prozeduralen WissenDer in Theorie und Praxis immer noch weithin üblichen Differenzierung des Übens in ‘formzentrierte’vs. ‘inhaltszentrierte’, ‘vorkommunikative’ vs. ‘kommunikative’ oder ‘formbezogene’ vs. ‘mitteilungs-bezogene’ Übungen liegt ein fremdsprachenunterrichtliches Axiom zugrunde, das eine lange Traditionhat und heute sogar eine scheinbare Bestätigung durch neuere bezugswissenschaftliche Forschungser-gebnisse erfährt. Gemeint ist das Modell der Überführung von Wissen in Können, das auf derlerntheoretischen Annahme beruht, dass zunächst ein Wissen über die Sprache erworben werden muß,das dann durch Üben in Können umzusetzen ist. Wissen über die Sprache heißt hier Systemwissen,also Wissen über die Gesetzmä-ßigkeiten der sprachlichen Teilsysteme, wie es von der traditionellen

74Vgl. die Ausführungen zu einer neuen Lehrwerk-Konzeption in Segermann (2000b).75Dies ist die einzige Stelle, an der die Lernenden mit Einzelwörtern hantieren. Auch hier können diese jedoch wieder kon-textualisiert werden, indem man die Lernenden die Fragen oder Antworten finden läßt, in denen die Wörter vorkamen.

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Sprachwissenschaft bereit gestellt wird. Können heißt kommunikative Sprachverwendung, die sich hierals Anwendung des Wissens versteht.76

Seine aktuelle Aufwertung verdankt dieses Überführungs-Axiom dem Prestige der sog. KognitivenWissenschaft. Diese Mega-Disziplin hat ein neues Wissenschaftsparadigma heraufgeführt, das compu-tation paradigm77, demzufolge die Funktionsweise des Computers kognitive Prozesse simuliert, diesich im menschlichen Gehirn abspielen und die sich der direkten Beobachtung entziehen. Dazu gehörtvor allem auch der Umgang mit Sprache. Der Mensch wird – analog zum Computer – als Informa-tionsverarbeitungssystem modelliert, das Daten als sog. deklaratives Wissen speichert, die dann auf-grund von prozeduralem Wissen verarbeitet werden78. Nach diesem Modell wird auch der fremdsprach-liche Lernprozess als Anwendung oder Überführung des deklarativen sprachlichen Wissens in prozedu-rales Wissen (= Können) aufgefasst.79 Das Begriffspaar „deklaratives – prozedurales Wissen“ scheintinzwischen weitgehend unhinterfragt80 Eingang in die gängige fremdsprachendidaktische Terminologiegefunden zu haben.81

Kognitionspsychologische und neurologische BeiträgeAuch die kognitionspsychologischen Theorien der modularen Stufenmodelle mit ihren Speicher- undProzessorkomponenten82 unterstützen die Vorstellung von z.T. sogar eingekapselten Wissenssystemen

76Der Begriff ‚Anwendung‘ oder ‚application‘ist mindestens seit dem 18. Jahrhundert belegt , vgl. z.B. den Cours complet(1754) von Mauvillon, wo in bezug auf die“exercices pratiques” von der “manière d’appliquer les règles” die Rede ist(Streuber 1915, S. 583).77George A. Miller unterschied schon 1974 drei aufeinanderfolgende Stufen der psycholinguistischen Wissen-schaftsgeschichte: association paradigm, communication paradigm, computation paradigm. ("Toward a third metaphor forpsycholinguistics." In: W.B. Weimar & D. S. Palermo. (Hrsg.). Cognition and the Symbolic Processes..78Die beiden Begriffe "deklarativ" und "prozedural", die als engumschriebene Fachtermini vor allem in der Informatikbegegnen, wurden von John R. Anderson (1983) in einem allgemeinen Modell zum Wissenserwerb verwendet. Danachvollzieht sich das Erlernen einer Fertigkeit (skill) grundsätzlich auf der Basis deklarativen Wissens ("knowing that"), dasdann allmählich in prozedurales Wissen ("knowing how") übergeht. Bemerkenswert ist allerdings, dass Anderson in denbeiden der Sprache gewidmeten Kapiteln seines Buches die beiden Begriffe kein einziges Mal erwähnt. - In der modernenGedächtnispsychologie werden beide Begriffe sehr viel differenzierter verwendet. Dort unterscheidet man zwischendeklarativen Gedächtnisinhalten (persönliche Ereignisse und Fakten sowie Konzepte und Abstraktionen, Funktions- undStrukturkenntnisse) und nondeklarativen Gedächtnisinhalten (Fähigkeiten und mentale Operationen, die nicht mit bewußtenund verbalisierten Erinnerungen verbunden sind). Der nondeklarative Gedächtnistyp enthält u.a. eine ‚prozedural‘ genannteUnterkategorie, die motorische Fertigkeiten, die Fähigkeit zur perzeptuellen Differenzierung sowie allgemeine kognitiveFähigkeiten, wie z.B. Problemlösen, strategisches Handeln usw. beinhaltet, die alle nicht ohne Übung zu erwerben sind.Vgl. Miltner/ Weiß (1999).79Die Übertragung der Begriffe auf den Kontext der Fremdsprachendidaktik wurde zuerst von Dieter Wolff (1990)vollzogen. Als Beispiele für deklaratives Sprachwissen nennt Wolff die Wortformen und ihre Bedeutungen; prozeduralesSprachwissen ist dagegen das Wissen darüber, wie man Sprache verarbeitet oder produziert, z.B. Verfahren des Zugreifens(retrieval procedures) auf den verfügbaren Wortschatz oder der kontextuellen Bedeutungserschließung. Auch mit dem Stra-tegiebegriff wird das "prozedurale Wissen” in Zusammenhang gebracht. Die Gefahr der Trivia-lisierung ist dabeiunübersehbar; so bringt z.B. Manfred Arendt (1992) die Strategien und Techniken u.a. der Wort-schatz- und Textarbeit mitdem neuen Begriff in Verbindung, ohne dadurch etwas wesentlich Neues zu sagen. Ähnlich trivial mutet es an, wenn inneueren Veröffentlichungen zur Fremdsprachendidaktik und Methodik die Rede ist von "sprachlichem Wissen inkomplexen kognitiven Strukturen", das "prozeduralisiert" werden muß (Timm 1998 S. 31), oder davon, daß im "mentalenLexikon" nicht nur Wörter gespeichert sind, sondern auch "prozedurales Wissen" im Sinne von "Verfahrensweisen für dieBenutzung dieser Wörter" (S. 273).80Vgl. jedoch die Kritik an der unreflektierten Übernahme der Begriffe bei Grotjahn (1999), S. 138 f.81Auch Günther Zimmermann (1997) bedient sich wie selbstverständlich dieser Begriffe und schlägt mit ihrer Hilfe dieBrücke zwischen seinen 1969 geäußerten Gedanken zu einem „fremdsprachendidaktischen Lehrphasenmodell“ und demkognitivistischen Lernphasenmodell mit seinem durch eine Interface-Regelung ermöglichten Übergang „von dem bewusst-seinspflichtigen und nur relativ langsam abrufbaren deklarativen Wissen zu dem i.a. nicht mehr bewussten und automati-sierten prozeduralen Wissen“ (S. 106).82Die Speichermodulen beherbergen das 'mentale Lexikon' und das Welt-/ Situationswissen; als Prozessormodule werdender für die vorsprachliche Konzeptbildung verantwortliche Conceptualizer, der die grammatische und phonolo-gische

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als autonomen Modulen, deren Fähigkeit zur Interaktion in den verschiedenen Theorieentwürfen aller-dings durchaus unterschiedlich bewertet wird. Doch auch bei konnektionistisch orientierten Theorienbleibt die Art und Weise des Funktionierens der Prozessoren weitgehend ungeklärt – ein Problem, ohnedessen Lösung das Verhältnis von Wissen und Können im Sinne eines prozeduralisierten Wissens aufungesicherten Grundlagen beruht.83

Das wachsende Prestige der Neurolinguistik lässt deren Forschungsergebnisse neuerdings auch für dieFremdsprachendidaktik attraktiv erscheinen – werden hier doch Erkenntnisse nicht nur über die psychi-sche Realität der linguistischen Theorien, sondern über deren biologische, hirnphysiologische, neurona-le Realität erwartet. Die bisherigen Ergebnisse sind allerdings in bezug auf unsere Fragestellung ambi-valent. Zwar ist (laut Braitenberg/ Pulvermüller, 1992) “die in der theoretischen Linguistikangenommene modulare Organisation des Sprachsystems empirisch” kaum zu rechtfertigen84, dochwird an dem aus der traditionellen Sprachwissenschaft überkommenen grundsätzlichen Unterschiedzwischen Lexikon und Grammatik als Prämisse festgehalten. So werden z.B. problemlos neuronaleVerbindungen zwischen lexikalischen Sprachelementen und Umweltrepräsentationen (die den obendiskutierten Inhaltskonzepten entsprechen) angenommen. Bei den grammatischen Elementen erschei-nen solche Verknüpfungen mit Bedeutungen jedoch als nicht erwartbar:

Es ist, als ob im Gehirn bestimmte kategoriale Markierungen der Inhaltsmorpheme zusammen mitden Funktionswörtern eine eigene Welt bildeten, in der besondere Regeln gelten. Diese Regeln sindoffenbar im Spiel, wenn aus Wörtern Sätze gebildet werden. (S. 112)

Zur möglichen Relevanz einer neuronalen VerknüpfungstheorieDennoch ist es gerade die Vorstellung der neuronalen Netzwerke, die dazu beitragen könnte, die Di-chotomie von Wissen und Können aufzuheben zugunsten einer flexibleren Beschreibung der unter-schiedlichen sprachlichen Funktionen. Wenn man diese Funktionen nicht mehr als objekthafte statischeGebilde ansieht, sondern als neuronale Verknüpfungsprozesse zwischen hierarchisch organisierten,funktionalen Ebenen von Zellverbänden85, dann verlieren auch die Begriffe Wissen und Können imSprachlernprozess ihre trügerische Bestimmtheit und lösen sich auf in neuronale Aktivitäten86, die viel-fältige Verknüpfungen zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen funktionalen cell assemblies zu-lassen.87 Dann erscheint die Interaktion zwischen formalen und inhaltlichen Funktionen, zwischen Be-deutung und Regel und auch zwischen Kognition und Emotion als praktisch gegeben und nicht mehrals theoretisch problematisch. Eine solche neuronal zu denkende Verknüpfungstheorie kann die didaktische Aufmerksamkeit daraufrichten, durch welche unterrichtlichen Impulse die formalen Gesetzmäßigkeiten der Sprache (die zwei-

Enkodierung besorgende Formulator und der zur artikulatorischen Realisierung führende Articulator unterschieden. Vgl.das an Fodor und Garrett orientierte Sprachverarbeitungsmodell von W. Levelt (1989).83Vgl. Levelt 1989 sowie die Übertragung des Modells auf den Fremdsprachenerwerb durch De Bot (1992). Für die Darstel-lung der Problematik s. Bierwisch/ Schreuder (1992): „The choice of lexical items as a constitutive process of language pro-duction cannot be construed as a straight mapping that triggers simple entries of a fixed list by means of clear-cut matchingconcepts.“ (S. 24)84So die Neurologen V. Braitenberg und F. Pulvermüller vom Max-Planck-Institut Tübingen 1992 in einer vorsichtig formu-lierten Antwort auf die Fragestellung: „Ist die in der theoretischen Linguistik angenommene modulare Organisation desSprachsystems empirisch gerechtfertigt?”85Die cell assemblies wurden schon Ende der 40er Jahre von dem Neurologen D.O. Hebb als funktionale Einheiten anstelleeinzelner Neuronen angenommen, die als einzelne für Störungen viel zu anfällig wären. (The Organization of behavior.New York: Wiley 1949)86Langacker (1999) neigt eindeutig zu dieser Auffassung: „From the processing standpoint, language must ultimately residein patterns of neurological activity. It does not consist of discrete objects lodged in the brain.“ (S. 95) und: „[...] the mean-ings of grammatical constructs represent complex categories, comprising multiple values linked by relationships of elabora-tion and extension to form a network.“ (S. 23)87Vgl. die ausführliche Darstellung einer neurokognitiven Sprachtheorie von Sydney M. Lamb (1999).

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fellos an einer bestimme Stelle des Gehirns lokalisiert88 sind) mit den von der sprachlichen Form reprä-sentierten Bedeutungskonzepten (die an einer anderen Stelle, wahrscheinlich sogar aufgrund ihrer mul-tisensorischen Assoziationen an mehreren Stellen aktiviert werden) sowie mit den in der konkretenKommunikationssituation zwangsläufig wirksamen emotionalen Faktoren89 (die wiederum ihre eigenenLokalisierungen haben) in ein Zusammenspiel gebracht werden, das der Vielfalt der neuronalen Aktivi-täten in der Wirklichkeit der Sprachverwendung entspricht. Die einseitige Aktivierung nur bestimmterfunktionaler Neuronenbündel wäre unter dieser Perspektive als wenig effektiv einzuschätzen.

Die Vagheit des WissensbegriffsDas formorientierte Üben, das die fremdsprachlichen Formen nur unter dem Aspekt ihrer systemati-schen Regelhaftigkeit aktiviert, muss unter dem neurologischen Aspekt als einseitig erscheinen. Dievorher erworbenen (vor allem) grammatischen Kenntnisse werden abgerufen, um die meist in Lücken-texten einzusetzenden richtigen Formen zu finden. Intendiert ist die Anwendung des Wissens. Wie derLernende, der die Aufgabe bewältigt, zu seiner richtigen Lösung kommt, bleibt allerdings im Dunkeldes Lernerhirns verborgen. Ob er sich tatsächlich das vermittelte grammatische ‘Wissen’ vergegen-wärtigt oder ob er die passende Form aufgrund eines ganz anderen ‘Wissens’ einsetzt, ist auch durchempirische Untersuchungen mit Einsatz introspektiver Verfahren schwer zu ermitteln.Der Wissensbegriff als solcher ist also viel zu ungenau, zu wenig empirisch abgesichert, als dass er ineinem so zentralen methodischen Bereich wie dem des Übens als bestimmender Faktor für die Konzep-tion von Übungen eingesetzt werden dürfte. Neben dem verbalisierbaren, bewussten ‘Wissen’ gibt esoffenbar noch kaum untersuchte (und auch schwer untersuchbare) kognitive Prozesse, die sich unter-halb der Schwelle des hellen Bewusstseins abspielen – in dem großen Bereich des cognitive uncons-cious.90 Diese impliziten, vom Bewusstsein unabhängigen kognitiven Prozesse könnten beim Lernenwie bei der Wahrnehmung und der Repräsentation im Gedächtnis eine sehr viel größere Rolle spielenals bisher angenommen.91 Vor allem scheinen die Beziehungen zwischen den verschiedenen sprachli-chen Verarbeitungs- und Aktivierungsmodi beim Fremdsprachenlernen sehr viel komplexer, als dasssie von einem linear-konsekutiven Modell erfasst werden könnten, das auf der Annahme der Überfüh-rung von ‘Wissen’ in ‘Können’ oder von ‘deklarativem Wissen’ in ‘prozedurales Wissen’ basiert.

Der geringe Lerneffekt formaler ÜbungenDas im Hinblick auf die Unterrichtspraxis schwerwiegendste Argument gegen das Überführungs-Axi-om ist jedoch die empirisch vielfach feststellbare Tatsache, dass der Gewinn aus diesen wissensbasier-ten Übungen relativ gering ist, und zwar sowohl für das ‘Wissen’ wie für das ‘Können’. Der im ‘Wis-88Die empirisch vielfach bewiesene neuronale Lokalisierung bestimmter funktionaler Zentren im Neocortex kann alsomitnichten als Stützung der Modularitätshypothese angeführt werden, auch wenn diese Lokalisierung sehr differenzierterfolgt; so ist z.B. nachweisbar, dass die die Morpho-Syntax betreffenden Funktionen beim Erstspracherwerb sowie beimfrühkindlichen Zweitspracherwerb in einer anderen Gehirnregion angesiedelt werden als bei späterem Zweit- oderFremdsprachenerwerb (vgl. Albert & Obler 1978).89„Empfindungen bestimmen nicht unwesentlich, wie der Rest des Gehirns und die Kognition ihre Aufgaben wahr-nehmen.Ihr Einfluß ist immens.“ So der Neurologe Antonio R. Damasio (1995/ 1997, S. 219) in seiner Theorie der so-matischenMarker, die jeder neuronalen Aktivität, also auch den kognitiven Prozessen, beim Durchgang durch das sog. limbischeSystem eine positiv/negativ-Färbung verleihen.90Der dem bipolaren abendländischen Denken widersprüchlich erscheinende Begriff wurde von dem Kognitions-psychologen Arthur S. Reber (1993) geprägt. 91Ein markantes Beispiel für die Relevanz unbewußter Kognitionsprozesse ist der Muttersprachenerwerb. Lamb (1999) ver-gleicht den Spracherwerb in seiner Komplexität und seiner Mühelosigkeit mit dem Erwerb des Sehvermögens und verbindetdies mit einer Kritik am schulischen Spracherwerb: „In either case, it would be a mistake to suppose that the learning invol-ved is like that which college students and scholars consider to be intellectual feats. For all their complexity, these mentalsubsystems are acquired by virtue of the almost automatic functioning of a vast network whose very nature is to acquire in-formation (by building connections) as effortlessly as possible. The treatment of foreign language study in most schools andcolleges, where it tends to be treated more as intellectual investigation than as absorption of information through automaticmental processes, usually misses this important fact.” (S. 8)

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sen’ Schwache wird durch die Übung kaum zur besseren Beherrschung des anstehenden sprachlichenProblems geführt. Streng genommen findet hier lediglich ein Überprüfen des Lernstands statt, keinübendes Lernen. Die Aktualisierung des verfügbaren ‘Wissens’ unterliegt dagegen sehr komplexen Be-dingungen und kann sich auf vielfältige Weise ereignen. Die in den formzentrierten Übungen verlangte(aber auch vom erfolgreichen Schüler keineswegs unbedingt genutzte) Art ist nur eine Möglichkeit,und zwar eine sehr beschränkte, da sie nur die Formen in ihren kategorialen Markierungen aktiviert,also nur das abstrakte System, so dass die Wirklichkeit der Sprachverwendung ausgeblendet bleibt.92 Der Ertrag des formbezogenen Übens für das ‘Können’ wird – nicht zuletzt aufgrund der unzufriedenenStimmen aus der Praxis – auch in der fremdsprachendidaktischen Fachliteratur wieder zunehmend dis-kutiert93 und durch empirische Untersuchungen zu erhellen versucht.94 Auffällig ist hier allerdings dieTatsache, dass die Untersuchungsdesigns in ihrer Mehrzahl von einem eingeschränkten, nämlich demsystemlinguistischen Kognitionsbegriff ausgehen und sich meist an rezeptiven Verstehensprozessen,nur selten an der spontanen Textproduktion orientieren95. Solange der fremdsprachendidaktische For-schungshorizont in diesen engen Kategorien befangen bleibt (die ihrerseits mit den Axiomen der gram-matischen Progression96 und des Wortes als Lerneinheit zusammen hängen), sind kaum weiterführendeHandlungsempfehlungen für die Praxis zu erwarten. Es fragt sich jedoch, ob unser Fremdsprachenun-terricht es sich - angesichts der vermehrten motivationalen Schwierigkeiten - weiterhin leisten kann,einen beträchtlichen Zeitanteil für eine Art von formzentriertem Üben zu investieren, von der zumin-dest zweifelhaft ist, ob sie denn überhaupt die ihr zugedachte ‘vorbereitende’ Funktion erfüllen kann.Die Alternative, ganz auf solche formorientierten Übungen zu verzichten und sich statt dessen auf dieAutomatisierung der Verknüpfung von lexiko-grammatischen Struktureinheiten mit konzeptuellenSinneinheiten zu konzentrieren, erscheint – das haben die ausführlichen vorigen Ausführungen gezeigt– theoretisch alles andere als abwegig. Doch liegt die eigentliche Beweiskraft nicht in der Theorie, son-dern in der Praxis.

2.3.2. Unterrichtspraktische RealisierungDie Übungsphase steht zwischen der Einführungsphase und der Systematisierungsphase. Sie setzt diegleiche Lernhaltung voraus, die auch für die anderen Phasen bestimmend ist, nämlich die Erfahrungvon sprachlichen Strukturen als Ausdruck von Inhaltskonzepten. Während die beiden anderen Phaseneher durch analytische Lernprozesse zu charakterisieren sind, zeichnet sich das vorgeschlagene Üben

92Wenn im Zusammenhang mit dem formalen Üben von ‘Automatisierung’ die Rede ist, dann kann sich dies höchstens dar-auf beziehen, dass man die Kenntnisse oder Regeln schneller abrufen kann, jedoch nicht darauf, dass man die Fremdsprachedadurch schneller und richtiger gebrauchen kann, um zu kommunizieren.93St. D. Krashens Behauptung einer unüberbrückbaren Kluft zwischen acquisition und learning ist in diesem Zusammen-hang nicht mehr als eine Hypothese. Dass sie in ihrer provozierenden Radikalität Gegner und Befürworter auf den Plan ge-rufen hat, hängt weniger mit wissenschaftlichen Beweisen als mit der Tatsache zusammen, dass Gegner und Befürworterunterschiedliche subjektive Erfahrungen (mehr negativer bzw. mehr positiver Art) mit dem fremdsprachlichen Formalunter-richt gemacht haben. 94Vgl. zur Diskussion u.a. Eckert (2000), dort auch weiterführende Literatur.95Bezeichnend ist z.B., dass auch bei den „Textproduktionsaufgaben“ die systemlinguistische Interpretation als einzige inden Blick kommt, so wenn für die über mehrere Zwischenstufen verlaufene, schließlich erfolgreiche Produktion von Tu t’essouvenu (als Pendant zu You remembered) durch anglophone Lerner konstatiert wird: „Die hierfür erforderliche zusammen-gesetzte Vergangenheitsform des passé composé zusammen mit der Konjugation und reflexiven Verwendung eines unregel-mäßigen Verbs stellt hohe Anforderungen an die Lerner.“ (Eckerth 2000, S. 22) Diese Horizontverengung folgt in einemcirculus vitiosus aus einem nach systemlinguistischen Prämissen erfolgenden Unterricht, der keinen Raum läßt für möglicheandere Arten des Formenlernens. So könnte die lexiko-grammatische Einheit Tu t’es souvenu als formales Pendant zu demdamit ausgedrückten Inhaltskonzept sich im Kopf des Lerners auch an einer vorher gelernten Formulierung orientieren, diein gleicher Weise strukturiert ist und damit als schematisches Muster figuriert. Die „Anforderungen“ an die kognitive Verar-beitungskapazität des Lerners würde sich damit beträchtlich verringern. 96Vgl. z.B. Eckerths Bemerkung, dass sich bei Textkonstruktionsaufgaben „natürlich das Problem der Progression“ stelle (S.23).

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vor allem dadurch aus, dass hier Formentsprechungen für Sinnkonzepte ‘automatisiert’ werden, undzwar in dem Sinne, dass sie quasi als Fertigteile unmittelbar abrufbar sind. Welche Lernprozesse sichim Kopf des Lernenden jeweils abspielen, bis dieses Ziel erreicht ist, bleibt dem lernenden Individuumüberlassen. Doch kann die Aufgabenstellung durchaus dazu beitragen, den Anteil des Bewusstseins beider Aktivierung der für den Versprachlichungsprozess erforderlichen Faktoren zu reduzieren.97 Zwarmuss das der Übung zugrunde liegende (und vorher erklärte) modellhafte Strukturschema in seinerBauweise und seinen kategorialen Markierungen zunächst als solches bewusst realisiert werden – beider Übung selbst müssen die artikulierten Äußerungen jedoch in ihrer konkreten Ausfüllung als fixierteGebilde ins Gedächtnis eingehen.Das Grundlagenmaterial für diese Übungen bilden Strukturmuster, die zu einem großen Teil aus den’Eigentexten’ ausgewählt werden, und zwar unter dem Gesichtspunkt ihrer Relevanz für die mündlicheKommunikation.98 Was häufig gebraucht wird, muss weitgehend automatisiert sein, um ein flüssigesGespräch zu gewährleisten. Da der Übungseffekt vor allem aus der Wiederholung desselben Mustersfolgt, sind die Übungen so zu gestalten, dass dieselbe Struktur in unterschiedlicher lexikalischer Fül-lung mehrfach vorkommt. Das Inhaltskonzept, das durch dieses Strukturmuster versprachlicht wird,bleibt dagegen dasselbe, denn nur so ist die Verknüpfung von lexiko-grammatischen Struktureinheitenmit konzeptuellen Sinneinheiten gewährleistet. So lässt sich z.B. das Inhaltskonzept „Identifizierung einer Sache“ mit Hilfe der Struktur eines Rela-tivsatzes versprachlichen. Diese pragmatische Funktion der Struktur wird z.B. in folgenden Sprechakt-sequenzen99 deutlich und für den Lernenden fassbar:Sprechsituation: „Jemand weiß nicht (oder tut so), um welche Gegenstände es sich handelt“Tu as apporté le livre? Quel livre? Le livre que je t’ai prêtéTu as vu le film? Quel film? Le film qu’on a donné hier soir à la télé.Es ist anzustreben, die Lernenden mit ihren Ideen daran zu beteiligen, sich entsprechende Situationenauszudenken. Evtl. sind steuernde Substantive oder Auswahlverben vorzugeben, die ein Relativprono-men als Objekt der Handlung verlangen oder auch - in der darauf folgenden Übung bzw. in einer Mi-schübung – als handelndes Subjekt (wenn die Form der Relativpronomen, wie hier im Französischen,unterschiedlich ist). Statt inhaltlich voneinander unabhängiger Sätze ist auch ein zusammenhängenderDialog denkbar.Um motivierende Übungssätze oder -texte mit gestalten zu können, müssen den Lernenden die jeweili-gen Inhaltskonzepte bewusst sein und ihre Versprachlichung im Rahmen ihrer eigenen Äußerungs-wünsche als notwendig erscheinen. Hierin liegt der entscheidende Unterschied zu den formzentriertenÜbungen in den Lehrbüchern oder den grammatischen Übungsbüchern. Dort sind z.B. zwei Sätze ineinen Hauptsatz und einen untergeordneten Relativsatz umzuwandeln – gemäß der Beschreibung imGrammatikbuch, wonach „das Relativpronomen im untergeordneten Satz eine Nominalgruppe(vertritt), die die gleichen Lebewesen, Dinge oder Sachverhalte bezeichnet wie die Nominalgruppe,von der der Relativsatz abhängt"100:

97Eine gelegentliche „Monitorfunktion“ im Sinne eines bewußten Rückgriffs auf gelernte ‘Wissensbestände’ ist sogar beiMuttersprachlern nicht ganz auszuschließen, so wenn z.B. der Franzose bei der Veränderung des Partizips sich des Ge-schlechts des Substantivs vergewissert (la réplique que tu m‘as faite). Das gleiche Phänomen ist auch beim Gebrauch desdeutschen Possessivpronomens festzustellen (das Zusammenspiel ... und seine Auswirkungen).98Hier muß wiederum ein Pool (für den Lehrenden) geschaffen werden, in dem Modellübungen für die häufigsten Grund-strukturen der Fremdsprache zusammengestellt sind. Für das Französische ist diese Arbeit, die auch größere mündlicheTextkorpora umfasst, inzwischen in Jena in Angriff genommen worden. Die Ergebnisse werden in dem erwähnten Internet-Forum (s. Anm. 9) zur Verfügung gestellt. 99Neben dem Frage-Antwort-Schema sind auch andere Sequenzen denkbar, wie z.B. Aussage – Kommentar dazu; Frage –Gegenfrage usw.100Klein/Kleineidam: Grammatik des heutigen Französisch, Klett 1983, Kap. "Die Pronomen", S. 94.

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On va au restaurant. Le restaurant est près de l’abbaye. > On va au restaurant qui est près del’abbaye.101

Voilà une B.D. Tu n’as pas encore cette B.D. > Voilà une B.D. que tu n’as pas encore.102

Solche Beispielsätze bleiben für die Lernenden ohne Leben, ohne Wirklichkeitsbezug. Sie können siesich daher auch kaum einprägen. Die Lehrbuchübungen werden folglich nicht mündlich, sondern fastimmer schriftlich bearbeitet. Dadurch wird allerdings gleichzeitig die wertvolle Möglichkeit vertan,dass sich die Lernenden die fremdsprachlichen Strukturen einprägen.Dieser Prozess des Einprägens wird – entgegen einer weit verbreiteten Annahme – gerade durch dieMündlichkeit begünstigt. Die rhythmische Gliederung von Äußerungen, die - wie oben ausgeführt –immer zugleich eine Sinngliederung ist fördert „auf Grund der sensu-motorischen Koppelungs- undRückkoppelungsverfahren“ (List 2003, S. ?) das Einschleifen des melodischen Musters, das der jewei-ligen Äußerung zugrunde liegt. Es handelt sich hier jedoch nicht um ein mechanisches Einschleifen,das die pattern practice der 60er und 70er Jahre trotz der situativen Einbettung der Übungen nur allzuoft charakterisierte.103 Entscheidend ist, dass die Lernenden die zu übenden Strukturen als Versprachli-chung von nachvollziehbaren Inhaltskonzepten empfinden und dass die Länge der Formulierungen ihreGedächtniskapazität nicht übersteigt. Die dialogische Anlage der Übungen sorgt dafür, dass durch dasauf Sinn ausgerichtete Dekodieren der Lautkette die prosodischen Merkmale auch rezeptiv trainiertwerden, um das Hörverstehen zu fördern.Die mündliche Arbeitsweise kann durch die Sozialform der Partnerarbeit mit einem Maximum anSprechtätigkeit des einzelnen Schülers verbunden werden. Die Kontrolle geschieht z.B. dadurch, dassdie Partner bei Bedarf durch einen Blick auf Karteikarten mit den schriftlichen Äußerungen die Rich-tigkeit gegenseitig bestätigen oder korrigieren.104

2.4. Steigerung der Äußerungs- und Verstehensmotivation durch persönlich bedeutsame Inhalte

KurzerläuterungWenn die im Unterricht eingesetzten fremdsprachlichen Texte von den Funktionen der Einführung neu-er sprachlicher Formen und der Reproduzierbarkeit durch die Anwendung dieser neuen Formen befreitwerden, kann der Text wieder seine eigentliche kommunikative Funktion erfüllen, die darin besteht, In-halte zu vermitteln, die für die Lernenden persönlich bedeutsam sind, und zwar sowohl in den produ-zierten Texten (d.h. den von ihnen gesprochenen oder geschriebenen sprachlichen Äußerungen) alsauch in den rezipierten Texten (d.h. den von ihnen gehörten oder gelesenen sprachlichen Äußerungen).

101Etapes, Bd, 1, Schülerbuch, S. 65 (Unité 6).102Ebd., S. 95 (Unité 9).103Eine gewisse Ähnlichkeit mit der pattern practice ist unverkennbar. Hauptunterschiede sind die vorherige Analyse, dieInhaltsbezogenheit, die Einbeziehung der Lernenden in die Konstruktion der Übungen, die differenziertere lernpsychologi-sche Basis und der Umfang der möglichen Veränderungen des Strukturmusters.104Solche Karteikarten (mit Verschriftung oder auch mit Bildimpulsen) sind vielfältig einsetzbar. Sie gewährleisten die Wie-derholbarkeit, die Kontrolle, die Impulsgebung und die Grundlage für weitere Übungen.

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2.4.1. Unterrichtstheoretische Diskussion

Durchgängige InhaltsmotivierungEine ausreichende Motivierung zum Erlernen der Fremdsprache ist am besten über den Inhalt zu errei-chen. Der fremdsprachendidaktische Fachdiskurs kreist seit langem um diesen Grundsatz und hat dazuauch eine Reihe von Vorschlägen entwickelt. So wird z.B. dem sog. bilingualen Sachfachunterricht zu-gute gehalten, dass er aufgrund seiner sachlich interessierenden Inhalte sowohl die Motivation für dasVerstehen der Texte als auch die Bereitschaft, darüber zu sprechen, bei den Lernenden steigern könnte.Im sog. creative writing wird die Möglichkeit gesehen, die in den Lernenden schlummernde Phantasieund sprachliche Gestaltungs-kraft zu wecken und den Schreibprozess zu einem sprachschöpferischenErlebnis werden zu lassen. Diese Art des Schreibens gehört zu den kreativen Unterrichtsverfahren, dienicht zuletzt auch deswegen allgemein empfohlen werden, weil sie die negativ konnotierte Lehrer- oderauch Lehrbuchzentriertheit zugunsten der vom Lehrplan geforderten Schülerorientierung verringern.Als Haupthindernis für das Verstehen inhaltlich anspruchsvollerer Texte und für die Ermutigung zummündlichen und schriftlichen Formulieren gehaltvollerer Äußerungen wird dabei vor allem die man-gelnde sprachliche Kompetenz angeführt, die sowohl Lehrende wie Lernende über kurz oder lang zudemotivieren droht.105 Die bisher erörterten drei Unterrichtsprinzipien des Reformkonzepts könnteneinen Ausweg aus diesem Dilemma weisen. Die durchgängige Inhaltsmotivierung und das (z.T. auto-matische) Verfügen über größere Lerneinheiten könnten die Lernenden früher und schneller zu einerArt der Sprachbeherrschung führen, die unmittelbar für die Zwecke sinnvoller Kommunikation ver-wertbar ist, also für das Äußern und Verstehen von interessierenden Inhalten.

Durchgängige Kommunikationshaltung gegenüber dem fremdsprachlichen Text Dass eine gleichbleibende Haltung gegenüber dem Lerngegenstand sich günstig auf die Transferme-chanismen des Lernprozesses auswirkt, kann als lernpsychologisch gesichert gelten. UnterschiedlicheHaltungen – etwa die oben diskutierte Differenzierung zwischen form- und inhaltszentrierten Übungen– schaffen dagegen u.U. eine schwer zu überbrückende Kluft, die eine hemmende Wirkung auf denTransfermechanismus ausüben könnte. Dazu kommt das subjektive Empfinden der Lernenden. DerÜbergang vom formalen Üben zum sog. ‘freien’ Sprechen oder Schreiben wird als großer qualitativerSprung empfunden. Die Anforderungen echter Kommunikation erscheinen um soviel komplexer alsdie, die für die Bewältigung der Mehrzahl der Übungen zu bewältigen sind, dass die Lernenden leichtfrustriert werden, aus Angst vor Fehlern den Mut verlieren und sich z.T. weniger zutrauen, als sie viel-leicht leisten könnten. Die gleiche hemmende Distanz wird auch bei der Rezeption aufgebaut, wenn der Initiationsritus für dasVerstehen fremdsprachlicher Texte anhand einer Lektionserarbeitung geschieht, bei der das Augen-merk des Lehrenden nicht vorrangig darauf gerichtet ist, welcher Inhalt hier durch Sprache übermitteltwird, sondern darauf, wie die unbekannten Vokabeln semantisiert werden können, wie das hier zu be-handelnde grammatische Phänomen aus dem Textzusammenhang heraus erklärt werden kann, welcheFragen zum Inhalt von den Lernenden zu beantworten sind und welche Impulse zu geben sind, um eineReproduktion des Textes zu erreichen. Eine solcherart geführte Lerngruppe verbindet nach kurzer Zeit z.B. mit dem Lesen von fremdsprachli-chen Texten eine Vorstellung, die sehr wenig mit der alltäglichen muttersprachlichen Lesepraxis zu tunhat. Die Kluft zwischen den beiden Leseprozessen wird so groß, dass es - Schülern wie Lehrern– alsunzumutbar und didaktisch naiv erscheint, an fremdsprachliche Texte mit einer dem muttersprachli-chen Lesen vergleichbaren Haltung heranzugehen. Beim Übergang von den Lehrbuchtexten zu Lektü-

105Dieses uralte Problem artikuliert sich in der defätistischen Formulierung, der Schüler bleibe beim Umgang mit der Fremd-sprache zwangsläufig unter seinem geistigen Niveau.

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retexten ist dann wiederum ein qualitativer Sprung zu vollziehen, der oft nur sehr unvollkommen ge-lingt und der wahrscheinlich den Hauptgrund dafür darstellt, dass auch in der sog. Lektürephase nurwenig Begeisterung für das Lesen festzustellen ist.Die genannten, eine nicht zu unterschätzende Rolle spielenden psychischen Faktoren können dadurchins Positive gewendet werden, dass die Lernenden – wie im Reformkonzept vorgeschlagen - möglichstin allen Phasen des Lernprozesses die gleiche, durchgängig kommunikative Haltung gegenüber demLernobjekt, den zu produzierenden und zu rezipierenden Texten, einnehmen.

Sprechen, Schreiben und Verstehen als ‚Selbstzweck’Ein weiteres Spannungsverhältnis, das dem Lernfortschritt eher hinderlich ist, wird aufgebaut, wenndie kommunikativen Tätigkeiten zunächst als Vorwand für den sog. Spracherwerb, also das Vermittelnbzw. ‘Lernen’ von Aussprache, Orthographie, Wortschatz und Grammatik oder auch als Vorwand fürden sog. Kenntniserwerb im Bereich von Landeskunde, Textanalyse und Literatur benutzt werden, an-statt sie von Anfang an in ihrem Eigenwert, d.h. in ihrer Funktion für den mündlichen oder schriftli-chen Austausch von Gedanken, Gefühlen, Erfahrungen, Erlebnissen usw. zu sehen und zu entwickeln.Ein unmittelbar an der Kommunikationsfähigkeit in ihrer Komplexität ausgerichtetes unterrichtlichesSprachhandeln, das auf alle sog. vorbereitenden, an den linguistischen Teilsystemen orientierten Tätig-keiten bewusst verzichtet, ist allerdings solange allein auf den in der Praxis zu erbringenden Erfolgsbe-weis angewiesen, wie die kognitionspsychologischen Theorien der Sprachverarbeitung (auf die sich diegegenwärtige Fremdsprachendidaktik beruft) an den isolierenden linguistischen Modellen festhält.106

Gibt man dagegen die theoretische Trennung zwischen Lexik und Grammatik zugunsten von lexiko-grammatischen Lerneinheiten auf, so lässt sich die bei den kommunikativen Sprachtätigkeiten erforder-liche anspruchsvollere Sprachkompetenz als integrativer Prozess modellieren, bei dem die Lernendendie Fähigkeit trainieren und ausbauen, immer mehr Inhaltskonzepte immer eigenständiger mit denfremdsprachlichen Formentsprechungen zu verknüpfen, und zwar in beiden Richtungen, also sowohlbei der Produktion wie bei der Rezeption. Die Erfordernisse des sog. ‘Spracherwerbs’ werden dabeiebenso selbstverständlich abgedeckt wie der Erwerb landeskundlicher, literarischer und textanalyti-scher Kenntnisse, die mit dem Inhalt der Texte mehr oder weniger eng verwoben sind.

‘Natürliche’ Produktions- und RezeptionsstrategienDie Fokussierung auf den Inhalt der Äußerung, die es zu produzieren oder zu verstehen gilt, kann inden Lernenden all die Ressourcen mobilisieren, die ihnen aus der muttersprachlichen Kommunikationvertraut sind. Ohne inhaltlich motivierte Äußerungs- und Verstehensbereitschaft scheint es dagegensehr problematisch, den Lernenden quasi als weiteres Lernobjekt Strategien und Techniken zu vermit-teln, die sie im Fremdsprachenunterricht anwenden sollen. Dies wird durch die aktuelle Diskussion umLernstrategien und Lerntechniken nur zu deutlich.107

Bei den an eine natürliche Kommunikationshaltung gewöhnten Lernenden wird die Bereitschaft sehrviel größer sein, sich bei dem Versuch, ihre Äußerungsabsichten in der Fremdsprache zu verwirklichen,der Hilfsmittel zu bedienen, die sie auch in der Muttersprache bei Kommunikationsschwierigkeiten (inder Spracherwerbsphase, aber auch später noch) einsetzen. Zu solchen ‘natürlichen’ Produktionsstrate-gien (auf die selbstverständlich auch noch einmal aufmerksam gemacht werden kann) gehören z.B.: die

106Im Unterschied zu den von der damaligen Kommunikationstheorie inspirierten Enkodier- und Dekodiermodellen der 70erJahre, die die Trennung zwischen phonologischer, syntaktischer und semantischer Kodierung als abstrakte Modellierung ei-nes integrativen Prozesses ansahen, scheinen die gegenwärtigen psycholinguistischen Modelle die isolierende Verarbeitungder einzelnen Ebenen als psychische Realität vorauszusetzen. Vgl. z.B. die fremdsprachendidaktische Rezeption dieser Mo-delle bei Lütjeharms (1994), wo der Leseprozess in Worterkennung, syntaktische Analyse und semantische Analyse zerlegtwird und aufgrund dieser isolierenden Betrachtungsweise konsequenterweise auch isolierende Unterrichtspraktiken vorge-schlagen werden.107Vgl. Rampillon/ Zimmermann 1997.

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Umschreibung oder Illustrierung eines Begriffs, für den das Lexem fehlt - die Flexibilität in der Wahldes verfügbaren Strukturmusters – das probierende Erfinden neuer analoger Wortbildungen. In derfremdsprachlichen Kommunikationssituation kommt die Möglichkeit hinzu, die Formulierungsschwie-rigkeiten durch entsprechende Wendungen explizit zu machen. Die natürliche Kommunikationshaltung erleichtert außerdem den (impliziten) Rückgriff auf die Erfah-rungen, die die Lernenden bisher in der Sprachwirklichkeit gemacht haben, z.B., dass Sprechen undSchreiben situationsgebunden, adressatenorientiert, textsorten- und diskursadäquat erfolgen muss, umvon der Sprach-gemeinschaft akzeptiert zu werden.108 Soweit diese Konventionen kulturspezifisch sind,müssen sie allerdings erklärt werden.Bei den Rezeptionsstrategien gelten die gleichen Voraussetzungen. Hier hat die kognitions-psychologische Leseforschung, ausgehend vom muttersprachlichen Lesen, mit dem Begriffspaar bot-tom-up – top-down eine theoretische Diskussionsbasis geschaffen, um die bekannten beiden Seiten dersprachlichen Verständigung neu zu beleuchten. Da mit Hilfe der Sprache immer Wirklichkeitsaspekteverdeutlicht werden, die ihrerseits von den Sozialisations-, aber auch den Individualerfahrungen derKommunikationsteilnehmer bestimmt werden, gibt es kein sprachliches Verstehen ohne die Aktivie-rung dieser nichtsprachlichen Erfahrungen, die mit dem Wissensbegriff (knowledge of the world) wie-derum nur sehr vage umschrieben werden. Die Interaktion der beiden sog. datengeleiteten und wissens-bzw. schemageleiteten109 Verstehensstrategien bildet also die Voraussetzung für gelingende sprachlicheKommunikation. Ein konkurrierendes Nebeneinander kommt in der Wirklichkeit kaum vor.110

Wird die Aufmerksamkeit von vornherein und ausschließlich auf das Verstehen dessen gelenkt, washier gesagt oder geschrieben wird, dann können die Lernenden - und darin liegt die große Chance einesverstehensgeleiteten Fremdsprachenunterrichts - gerade ihre sprachlichen Defizite durch den bewusstenEinsatz der top-down-Strategien ausgleichen. Der Prozess des Inferierens als Hypothesenbildung darfallerdings nicht dahingehend missverstanden werden, dass man den Sinn ‘errät’, weil die Wörter feh-len. Umgekehrt bilden immer bekannte (bzw. vorher bekannt zu machende) Schlüsselwörter den Aus-gangspunkt, weil sie aufgrund der durch sie aktivierten Assoziationen die Erfahrungswelt mobilisieren,die allererst sinnvolle Hypothesen im Rahmen einer bestimmten Textsorte, eines bestimmten Themas,in einer bestimmten Situation, mit einer bestimmten Rollenkonstellation usw. ermöglichen. Auf derGrundlage solcher Vorinformationen kann ein Erwartungshorizont aufgebaut werden, der den Lernen-den durch Mitdenken und Miterleben Texte (und in den Texten durch Einkreisen der möglichen Bedeu-tung auch Wörter bzw. größere lexiko-grammatische Einheiten) erschließt, die ihnen - den herkömmli-chen Maßstäben des Fremdsprachenunterricht zufolge - wegen des sprachlichen Schwierigkeitsgrades(d.h. des fehlenden Vokabulars und der fehlenden Grammatik) eigentlich verschlossen sein müssten.111

Niveauunterschied zwischen Produktion und RezeptionBei einem verstehensgeleiteten Fremdsprachenunterricht verliert der sprachliche Schwierigkeitsgradvon Hör- und Lesetexten seinen maßgebenden Stellenwert. Die Texte werden nicht danach ausgesucht,108Es liegen hier im Grunde die gleichen Voraussetzungen vor wie bei den Rezeptionsstrategien, wo sie allerdings zur Zeitausführlicher diskutiert werden, s. weiter unten.109Der zur Zeit viel bemühte inhaltliche Schemabegriff nimmt an Unbestimmtheit zu, je mehr er umfaßt.110 Wenn in einigen empirischen Untersuchungen zum fremdsprachlichen Lernprozess ein Übergewicht der bottom-up-Ver-fahren gegenüber dem top-down-Verfahren festgestellt wird, so könnte sich dies aus der vorherrschenden Unterrichtsmetho-de erklären. Wird die Lerngruppe methodisch auf Wörter und morpho-syntaktische Erscheinungen fixiert, deren Unbekannt-heit die Sinnfindung des gesamten Textes gefährden, so verliert sie ihre ‘natürliche’ Verstehensmotivation und damit auchdie Möglichkeit, ihre Erfahrung im Umgang mit sprachlichen Äußerungen einzusetzen.111 Ein Beispiel dafür, dass Aussagen über den fremdsprachlichen Leseprozess sehr stark davon beeinflusst werden, welcheRolle dem Wort als Lerneinheit beigemessen wird, findet sich bei Lütjeharms (1994): „Beim Lesen einer Fremdsprachewerden geübte Lesende durch unzureichende Sprachbeherrschung zunächst zu schwachen Lesenden [...] weil es beim Deko-dieren keinen lexikalischen Zugriff geben kann, solange es für die betreffenden Wörter (Morpheme) keine mentalen Reprä-sentationen gibt.“ (S. 56)

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ob sie dem erreichten fremdsprachlichen Niveau der Lernenden entsprechen, sondern vorrangig da-nach, ob sie inhaltlich ansprechen. Sie können und sollten von Anfang an über dem Produktionsniveauder Lerngruppe liegen. Der Unterschied zwischen dem, was man selbst ausdrücken und dem, was mannur verstehen kann, darf und sollte im fremdsprachlichen Bereich mindestens so groß sein wie im mut-tersprachlichen. Daraus folgt, dass für die Entwicklung der mündlichen und schriftlichen Rezeptionsfä-higkeit Texte zum Einsatz kom-men müssen, die in Form und Gehalt eine – im weitesten Sinne - geisti-ge Herausforderung für die Lernenden bedeuten. Voraussetzung dafür ist die Textqualität. ‘Gute’ Texte sind sozusagen Musterbeispiele dafür, wie mandurch Sprache Welt erschaffen kann112 – im Fremdsprachenunterricht vor allem auch ‘fremde’ Welt,die es interkulturell zu verstehen gilt: Räume, Zeiten, Situationen, Ereignisse, Sachverhalte, Personen,Dinge, Gedanken, Argumente, Gefühle, Sinneswahrnehmungen, die sich in ‘Bilder’ umsetzen und als‘wirklich’ erlebt werden, obwohl sie ihre Existenz nur der sprachlichen Gestaltung verdanken. Wenn esdem Unterricht gelingt, diese Textqualität erlebbar zu machen, so werden solche Texte den Lernenden– unter Berücksichtigung ihres individual– und entwicklungspsychologisch bedingten intellektuellenund emotionalen Horizontes - eo ipso so ‘interessant’ erscheinen, dass sie bereit sind, die Anstrengungder Sinn-Entschlüsselung aus den fremdsprachlichen Formen auf sich zu nehmen. Die Länge oder‘Schwierigkeit’ sind dann nur noch relative Größen, relativiert von der Motivationskraft der Texte, diefür die Lernenden zu einem persönlich bedeutsamen und bereichernden Erlebnis werden.113 Überdiesgreifen auch die oben erläuterten Rezeptionsstrategien nur bei Texten, die in sich schlüssig, psycholo-gisch wahrscheinlich, in der Gedanken- oder Geschehensabfolge nachvollziehbar und dem Erwar-tungshorizont zugänglich sind, unabhängig davon, ob die Erwartungen im einzelnen erfüllt werden.114

Trotz des großen Niveauunterschiedes zwischen Rezeption und Produktion sollte auch bei letzterer eingewisser Qualitätsanspruch gewahrt bleiben. Die Texte der Lernenden – seien es mündliche oderschriftliche Beiträge – müssen von Anfang an mehr sein als eine Ansammlung von korrekten Sätzen.Sie müssen im Mündlichen wie im Schriftlichen die jeweiligen textspezifischen Merkmale aufweisen(wie z.B. Thema-Rhema-Gliederung, logische Verknüpfung, Redefloskeln usw.). Als Maßstab solltedie aus der muttersprachlichen Erfahrung gewonnene Textkompetenz gelten. Das bedeutet, dass hierzwischen den Lernenden mehr oder weniger große Unterschiede zu akzeptieren sind, die auf Sensibili-tät und Begabung zurückgehen.

2.4.2. Unterrichtspraktische RealisierungDas Entwickeln des freien Sprechens und Schreibens sowie des selbständigen Verstehens von gespro-chenen und geschriebenen Texten wird jeweils getrennt als eigenständige Phase in den Unterrichts-ab-lauf eingeplant und besitzt von Anfang an einen auch zeitlich herausragenden Stellenwert. Diese Phasedient keinem anderen Zweck als dem übenden, d.h. wiederholten Vollzug der vier Sprachtätigkeiten. Das f r e i e S p r e c h e n beschränkt sich zu Beginn darauf, dass die Lernenden die selbst erarbeitetenDialoge wiederholen, indem sie sich in Partnerarbeit die gelernten Fragen stellen und die individuellpassenden Antworten geben. Dem oft geäußerten Vorwurf des „nur Auswendiggelernten“ ist mit demHinweis zu begegnen, dass die Schüler hier die gelernten Bausteine verwenden, um ihre eigenen Äuße-rungswünsche zu versprachlichen. Dies ist ein anderer lernpsychologischer Vorgang als das Vortragen112Dass die herkömmlichen Lehrbuchtexte diesem Anspruch nicht genügen können, liegt an ihrer Multifunktionalität. Dassauch manche Texte der sog. Schullektüren Langeweile hervorrufen, könnte (neben der selbst auferlegten Beschränkung inWortschatz und Grammatik) an einer zu großen Explizität und Direktheit des sprachlichen Ausdrucks liegen, die dem Leserdas kreative Mitdenken und Miterleben und damit den Anreiz, das Ungesagte selbst zu ergänzen, verleiden.113Dann würde die Wahrscheinlichkeit zunehmen, dass die Lernenden auch nach der Schule zu ‘guter’ Lektüre als einersinnvollen Freizeitbeschäftigung greifen, womit der Unterricht tatsächlich einen nicht unwichtigen Teil seines ‘Bildungsauf-trags’ erfüllt hätte.114Dies trifft auch auf literarische Texte zu, deren wesentliches Merkmal keineswegs immer darin besteht, die Erwartungendes Lesers zu konterkarieren.

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von „Auswendiggelerntem“. (Das Vortragen der Dialoge kann auch als mündliche Leistungskontrollegelten.) Von Anfang an sollten die Lernenden hier jedoch zum Einbringen von kleinen kreativen Vari-anten und typischen Redefloskeln ermutigt werden, um die Dialoge lebendiger zu gestalten. Das erste fr e i e S c h r e i b e n besteht in dem Verfassen von Briefen, die die Lernenden selbständig mit Hilfeder Formulierungen aus den Dialogen verfassen. Diese Übung lässt sich mit unterschiedlichen Themenfortsetzen. Das Produzieren dieser Texte (bei denen sie vorher gelernte lexiko-grammatische Struktu-reinheiten verwenden) vermittelt den Lernenden ein Erfolgserlebnis und ein Gefühl der Sicherheit. Im weiteren Verlauf des Unterrichts werden (unter Beteiligung der Lernenden) inhaltlich ansprechendeProduktionsaufgaben gestellt, bei denen die Lernenden – im Unterschied zu der ebenfalls auf Produkti-on gerichteten Einführungsphase – ihre Äußerungswünsche allein versprachlichen. Sie beschränkensich dabei weitgehend auf die Strukturmuster, die sie schon kennen und deren Transfermöglichkeitensie jetzt nutzen können. In keinem Fall sollten sie ihre Formulierungen durch Übersetzen aus der Mut-tersprache finden. Vereinzelt können sie bei schriftlichen Arbeiten Inhaltswörter mit Hilfe des Wörter-buchs suchen, nachdem sie in den Umgang mit diesem Hilfsmittel (und vor allem in dessen Fallstricke)eingeführt worden sind. Bei mündlichen Äußerungen wird der Lehrende im Einzelfall um Hilfe gebe-ten. Der Lernende muß allerdings immer selbst entscheiden, ob und wie diese Wörter in die geplanteStruktur passen. Der Individualität der Lernenden wird dadurch Rechnung getragen, dass es unter-schiedliche Aufgaben geben kann, wobei auch die Präferenzen für mündliche oder schriftliche Texte –natürlich in einem vertretbaren Rahmen - beachtet werden. Auch in dem Ausmaß an Wagemut lassensich die Lernenden nicht gleichschalten.115 Die beim freien Sprechen und Schreiben nicht zu vermei-denden (und vor allem nicht zu fürchtenden) Fehler sollten in ihrer Zahl immer so gering bleiben, dassdie Lernenden selbst in ihren Produkten eine echte Leistungssteigerung und damit einen individuellenLernfortschritt erblicken. Das H ö r v e r s t e h e n wird dadurch trainiert, dass der Lehrende von Anfang an möglichst viel in derFremdsprache spricht (über Unterrichtliches, aber auch Außer-Unterrichtliches) und dabei der Lern-gruppe die beruhigende Gewissheit vermittelt, dass sie ihrem Lehrer oder ihrer Lehrerin im wesentli-chen folgen können, auch wenn sie nicht alles verstehen. Das L e s e v e r s t e h e n lässt sich zu Be-ginn anhand kleiner unbekannter Texte (evtl. auch aus verfügbaren Lehrbüchern) mit zum größten Teilbekannten Formulierungen üben. Sie sollten auf jeden Fall eine interessante Geschichte, eine Szeneoder andere lohnende Aussagen enthalten, auf die jedoch nicht weiter eingegangen wird. Zur Überprü-fung des Verständnisses reichen hier muttersprachliche Antworten auf die Frage nach den wesentlichenElementen.Ab dem Ende des ersten Lernjahres werden unbekannte Hör- und Lesetexte eingesetzt, die das Produk-tionsniveau der Lernenden deutlich überschreiten. Während entsprechende Hörtexte für die erstenLernjahre generell schwer zu finden sind, mangelt es den vorhandenen Lesetexten oft an inhaltlicherMotivationskraft. Deshalb wird so früh wie möglich der Einsatz französischer Originalliteratur ange-strebt. Geeignet ist vor allem die Jugendliteratur. Eine besondere Empfehlung soll hier für die Ge-schichten von Daniel Pennac ausgesprochen werden, und zwar vor allem die Geschichten um den ju-gendlichen Helden Kamo.116 Mit diesen Romanen hat der Unterricht die Chance, Literatur – wie obendargestellt – in ihrer Qualität für die Lernenden erlebbar zu machen. Ob und wie über diese Literaturauch gesprochen und geschrieben wird, hängt wesentlich von der Reaktion der Lernenden ab. Auchhier gilt der Grundsatz, dass es ihre (freilich auch zu weckenden) Äußerungswünsche sind, die ver-sprachlicht werden.

115Dies zieht natürlich auch andere Maßstäbe bei der Leistungsfeststellung nach sich.116In einer Klasse, die nach dem Jenaer Reformkonzept unterrichtet wird, wurde Kamo. L’agence Babel schon in einer 8.Klasse (2. Lernjahr) erfolgreich gelesen. Die Klasse zeichnet sich allerdings durch besondere Leistungsfähigkeit und einegroße Bereitschaft zum kreativen Mitdenken aus.

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Lexiko-Grammatik

Da Pennac nicht nur ein genialer Erzähler, sondern auch ein geistreicher Aphoristiker ist, sollen einigeseiner Aussprüche ans Ende dieser reformorientierten Unterrichtsprinzipien gestellt werden. Sie kön-nen als geistig-literarische Leitlinien des Reformkonzepts angesehen werden, und zwar im Sinne einervertrauensvollen Versöhnung der Lernenden nicht nur mit dem Lesen von Büchern117, sondern mit derSprache als wunderbares Mittel bedeutsamer, lebendiger Zwiesprache – mit einem Mitmenschen, miteinem Autor, mit sich selbst – ein Instrument, das die Lernanstrengungen lohnt, wenn es im Unterrichtin diesem seinem Eigenwert respektiert und nicht als pädagogisches Mittel zum Zweck benutzt wird,dessen Aneignung man ungeduldig reklamiert.

Venez [les auteurs] souffler dans nos livres! Nos mots ont besoin de corps! Nos livres ont besoin devie! (p. 195)[...] une fois réconciliés avec la lecture, le texte ayant perdu son statut d’énigme paralysante, notreeffort d’en saisir le sens devient un plaisir [...] une fois vaincue la peur de ne pas comprendre lesnotions d’effort et de plaisir œuvrent puissamment l’une en faveur de l’autre. (p. 150)Et le premier de leurs droits [...] est le droit de se taire. (p. 153)On ne force pas une curiosité, on l’éveille. (p. 140)[...] faire confiance [...] à la question qui va naître, et qui entraînera une autre question. (p. 140)

117In seinem romanhaften Essay Comme un roman (Paris: Gallimard 1992, Collection Folio) zeigt Pennac (ausgehend vonseinen Erfahrungen als Französischlehrer) Wege auf, um die (vor allem auch durch die Schule) leseunlustig gewordene Ju-gend wieder zum Lesen zu bringen. Seine auf die Muttersprache bezogenen Ausführungen lassen sich mutatis mutandisauch auf die Fremdsprache beziehen.

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3. Beispiele für Inhaltskonzepte und deren lexiko-grammatische EntsprechungenIm folgenden soll anhand einiger Beispiele die in Jena angelaufene Entwicklungsarbeit zu einer über-sichtlichen Zusammenstellung von Inhaltskonzepten konkretisiert werden. Diese Übersicht kombiniertNotionen, Sprechakte und andere inhaltliche Bestimmungen und füllt sie mit Strukturen der französi-schen Sprache als kommunikativen Lerneinheiten. Die vorläufige Grobgliederung (die keine logische Reihenfolge abbildet) sieht wie folgt aus:I. BESCHREIBUNG/ CHARAKTERISIERUNG: Personen: Äußeres, Charakter, Fähigkeiten/ Kennt-nisse, Befinden/ Zustand, Soziale Beziehungen - Sachen: Eigenschaften (z.B. Form, Farbe, Größe, Ge-wicht, Material, Preis), Funktion – Sachverhalte - Handlungen/ Ereignisse: Stattfinden, Beginn/ Dauer/Ende, Fortführung/ Unterbrechung, Reihenfolge, Gleichzeitigkeit;II. ERZÄHLUNG (Handlungen/ Ereignisse mit/ ohne Objektergänzung): 1. Gegenwart: (Was man ge-wöhnlich tut - Was man gerade tut Was sich ereignet), 2. Vergangenheit (Was man getan hat - Wasman gerade getan hat - Was sich ereignet hat), 3. Zukunft (Was man tun wird - Was sich ereignenwird), 4. Konditional (Was man tun würde - Was sich ereignen würde);III. FESTSTELLUNG: Was immer so ist/ so gemacht wird;IV. VORHANDENSEIN (Personen, Sachen);V. ANWESENHEIT;VI. BESITZ/ ZUGEHÖRIGKEIT;VII. IDENTIFIZIERUNG: Personen, Sachen/ Sachverhalte, Grund, Absicht, Ort, Zeit, Funktion;VIII. ZEITANGABEN (Handlungen/ Ereignisse): Zeitpunkt, Zeitdauer, Häufigkeit, Rechtzeitigkeit,Gleichzeitigkeit, Reihenfolge;IX. ORTSANGABEN: Deiktisch, spezielle Örtlichkeiten, bei Personen, Himmelsrichtung, Entfernung,Richtung, Herkunftsort, Zielort, Adresse;X. SPEZIFIZIERUNG/ DIFFERENZIERUNG (Handlungen/ Ereignisse, Eigenschaften): Quantität,Qualität, Vergleich, Konsequenz;XI. WÜNSCHE/ ABSICHTEN; XII. VORLIEBEN (Handlungen, Sachen, Personen);XIII. BEDÜRFNISSE/ NOTWENDIGKEITEN;XIV. GEBOTE, VERBOTE, ERLAUBNIS, EMPFEHLUNGEN;XV. KÖNNEN als MÖGLICHKEIT, VERMÖGEN, GELEGENHEIT;XVI. BEURTEILUNG/ BEWERTUNG (Personen, Sachen, Sachverhalte, Handlungen/ Ereignisse):mit/ ohne subjektive Einleitung (Ich meine ...);XVII. BENENNUNG DER SPRECHHANDLUNG ((mit performativem Verb);XVIII. LOGISCHE BEZIEHUNGEN: Grund, Absicht, Folge, Opposition, Konzession, Bedingung;XIX. HERVORHEBUNG: Handlungsträger, Handlungsobjekt, Ort, Zeit, Art und Weise, Grund;XX. REDERITUALE: Begrüßung/ Verabschiedung, Vorstellung, Dank, Entschuldigung, Glück-wunsch/ Beileid;XXI. DISKURSFORMELN: Gesprächsformeln, Argumentationsformeln, Umschreibungsformeln,Handicap-Signale, Kontakteme.

Es folgen zwei Beispiele aus dem Bereich „Beschreibung/Charakterisierung“, welche beide dieEinbettung der Lerneinheiten in einen bestimmten thematischen, situationellen, strukturellen undmorpho-syntaktischen Zusammenhang illustrieren; die Trennung des Wortschatzes von seinensemantischen und syntaktischen Gebrauchsbedingungen wird hier aufgehoben:

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Lexiko-Grammatik

1. Informationen einholen über Personen (man selbst, das Gegenüber, andere Personen)1.1. Äußeres Attribuierung bestimmter Merkmale (être,

avoir , porter) positiv + negativBestimmungsfrage

1.1.1 Alter (Geburtstag)

j’ai douze ans - il / elle est jeune /vieux(vieille) / âgé(e)je suis né(e) le ...

Tu as quel âge?

1.1.2Augenfarbe

j’ai les yeux clairs / foncés ; marron / bleus /gris / verts / bleu-gris / marron foncé

Quelle est la couleur de tesyeux?

1.1.3 Haarfarbe,Haarbeschaffenheit

j’ai les cheveux clairs / foncés ; blonds /bruns / châtains / roux / noirs / gris / blancs ;blond foncé - il / elle a les cheveux longs /courts / raides / frisés - il / elle est chauve

Quelle est la couleur de tescheveux?

1.1.4 weitereBehaarung

il a / porte une barbe / une moustache

1.1.5 Gesicht j’ai le visage rond / carré / ovale ; un grosnez / une petite bouche / de grosses lèvres

1.1.6 Wirkung il / elle a l’air malade / bien / mauvais / jeune/ vieux

1.1.7 Schönheit il / elle est joli(e) / beau(belle) - laid(e) /moche; formidablec’est une jolie petite fille / un beau garçon

1.1.8Körpergröße

il / elle est grand(e) / petit(e) / de taillemoyenne - il / elle mesure / fait 1m 70

Il / Elle mesure / fait combien?

1.1.9 Größe:Kleidung, Schu-he

il / elle fait du 40 / 50 - il / elle chausse / fait du 38 / 46

Elle fait quelle taille? - Quelleest sa pointure?

1.1.10 Gewicht il / elle pèse 60 kilos Il pèse combien?1.1.11 Figur il / elle est gros(se) / corpulent(e) / maigre /

mince / costaud1.1.12Brillenträger

il / elle a / porte des lunettes / des lentilles

1.1.13 Stimme il / elle a une voix forte / faible / douce /grave / aiguë

1.1.14 Kleidung il / elle porte un pull-over - il / elle ne portepas de pull-over

Qu’est-ce qu’il / elle porte? -Comment est-il / elle habillé(e)?

1.1.15Nationalität

il / elle est français(e) Quelle est sa nationalité?

1.1.16Mitgliedschaft

Je fais partie de l’orchestre de l’école

1.1.17 Anzahl Nous sommes trois / une dizaine Vous êtes combien?Combien de personnes?

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Lexiko-Grammatik

Beschreibung: Psycho-physisches Befinden

Schließlich veranschaulicht die folgenden Beispiele, wie durch eine Auflistung von Vokabeln in ihrem„natürlichen“ Umfeld eine sinnvolle Verbindung von Grammatik und Wortschatz hergestellt werdenkann. Es zeigt sich, dass die Valenz der Verben, also ihre Objektergänzung, durchaus mit semantischenKategorien zusammenhängt. Gerade durch den auch den Schülern einsichtigen Bedeutungsgehalt die-ser Bausteine könnte das Lernen begünstigt werden. Wenn die Lernenden die indirekten Objektprono-men mit diesen bestimmten Verben verbinden (die insgesamt nur 0,7% ausmachen), können sie im üb-rigen davon ausgehen, dass alle anderen gängigen Verben (die sie in den ersten vier Lernjahren ken-nenlernen) eine direkte Objektergänzung verlangen, d.h. dass bei den Pronomen nur le/ la/ les einge-setzt werden.

Tu lui as déjà parlé/ écrit/ téléphoné/ répondu/ demandé ?Je lui ai déjà parlé/ écrit/ téléphoné/ répondu/ demandé Je ne lui ai pas encore parlé/ écrit/ téléphoné/ répondu/ demandé Il / elle t’a déjà parlé/ écrit/ téléphoné/ répondu/ demandé ?Il / elle m’a déjà parlé/ écrit/ téléphoné/ répondu/ demandé.Il / elle ne m’a pas encore parlé/ écrit/ téléphoné/ répondu/ demandé.

Strukturen: Lexikalische Variablen:il/ elle est/ n’est pas + adj. content(e) – heureux/se) –

joyeux/se – fier/fièremécontent(e) - malheureux(se) -fâché(e) - furieux(se) - triste - déçu(e)

il/ elle est/ n’est pas + en +subst.

(pleine) forme - bonnesanté

mauvaise santé

il/ elle est + de + adj. +subst.

bonne humeur mauvaise humeur

il/ elle se sent/ ne se sentpas

bienà l’aise

il/ elle se sent/ ne se sentpas + adj.

malade - isolé(e

il/ elle va/ ne va pas + adv. bien – mieux mal / plus malil/ elle a/ n’a pas l’air bienil/ elle a/ n’a pas l’air + adj. content mauvais - maladeil/ elle a + certains subst. des problèmes / soucis

une crise de ...il/ elle a des douleurs à +art. déf. + parties du corps

au dos

il/ elle a mal à + art. déf. +parties du corps

à la têteau cœuraux dents

il/ elle souffre de +maladies

d’une maladie de cœur – de la bronchitede maux de tête

il/ elle + verbecaractérisant pos./ nég.

ne s’ennuie pas s’ennuie

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Lexiko-Grammatik

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Schreiben

Krista Segermann

Schreiben wollen und schreiben können - Der bewusste Einsatz von lexiko-gram-matischen Bausteinen im fremd-sprachlichen Lernprozess der Sekundar-stufe I(veröffentlicht in: Französisch heute 2/2005, 241-254)

Supposons que, dans les classes de français, les élèves aient vraiment quelque chose à dire, et qu'ilsveuillent le communiquer par écrit – est-ce qu'ils sauront le faire en français? Comment donc les aiderà écrire ce qu'ils désirent exprimer? L'article suivant esquisse une façon de parvenir à ce but.

Der folgende Beitrag konzentriert sich auf Probleme der fremdsprachlichen Schreibentwicklung imSinne einer kommunikativen Tätigkeit zum Ausdruck eigener Inhaltsvorstellungen im Medium derSchrift. Die These lautet, dass die systematische Entwicklung der expression écrite auf eine ziel-, situa-tions-, textsorten- und adressatenorientierte Haltung angewiesen ist, die nicht erst im fortgeschrittenenLernstadium plötzlich an die Stelle des formorientierten Umgangs mit der Fremdsprache treten darf,sondern die der Schüler von Anfang an als Grundstimmung des Französischunterrichts erfahren muss.

Muttersprachliches und fremdsprachliches SchreibenDas muttersprachliche Schreiben in der Schule ist gegenwärtig "im Umbruch" (Feilke/ Portmann 1996)– glaubt man an die Wirkkraft, die von der boomenden muttersprachlichen Schreib-forschung auf dietatsächliche Praxis ausgeübt werden kann. Von den Ergebnissen und Anregungen könnte auch dasfremdsprachliche Schreiben profitieren - vorausgesetzt, die Besonderheiten des Faktors Fremdsprachewerden dabei angemessen berücksichtigt. Der Hauptunterschied besteht wohl darin, dass das Rohmate-rial der ‚sprachlichen Mittel’, das dem Muttersprachler zur Verfügung steht, dem Fremdsprachenlernererst noch beigebracht werden muss. Diese Tatsache führt dazu, dass das Schreiben anspruchsvoller'echter Texte' im Fremd-sprachenunterricht meist erst dann ins Auge gefasst wird, wenn eben diesesprachlichen Mittel in ausreichender Zahl vorhanden sind bzw. aufgrund ausgedehnter Wortschatz- undGrammatik-arbeit in den vorangegangenen Lernjahren vorhanden sein müssten oder sollten. Dann kannmit dem Verfassen eigener Texte begonnen worden, indem auf die im Muttersprachenunterricht erwor-benen Kenntnisse über Planungs- und Strukturierungsstrategien, über Merkmale von Textsorten, Her-stellung von Kohärenz, besondere Stilmittel usw. zurückgegriffen wird. Oft zahlt sich das lange Wartenallerdings nicht so recht aus, denn der gute Wille der – im günstigsten Fall - 'textgeübten' Schülerscheitert immer wieder massiv an dem allzu fehlerhaften Umgang mit den 'gelernten' sprachlichen Mit-teln innerhalb des fremdsprachlichen Textgebildes.Es stellt sich deshalb die Frage, ob das Modell der Nachgängigkeit der Fremdsprachen nicht durch einsynergetisches Modell abzulösen wäre, indem alle Sprachenfächer gemeinsam die Entwicklung derSchreibfähigkeit (als einer besonderen Kulturtechnik) an dem jeweiligen Reifegrad der Schüler aus-richten. Das würde bedeuten, dass Mutter- und Fremdsprachenunterricht gemeinsam in den Klassen5-10 Textformen auf dem Niveau einüben, das der kognitiven Entwicklung der jeweiligen Altersgruppeentspricht. (Ergebnisse der jüngsten Schreibforschung, vgl. z.B. Feilke 2003, legen im übrigen ein Vor-gehen nahe, das die drei Haupttextsorten Erzählung, Beschreibung und Argumentation nicht mehrgrundsätzlich sequentiell, sondern gleichzeitig in allen Altersstufen auf fortschreitendem Niveau bear-beitet.) Es wäre ein sprachenübergreifender Unterricht denkbar, bei dem nicht nur die Fremdsprachen-fächer evtl. vom Muttersprachenunterricht profitieren. Vielmehr könnte die Motivierung für die Be-schäftigung mit den einen Text konstituierenden Faktoren gerade durch den 'Verfremdungseffekt' deranderen, nicht selbstverständlich beherrschten Sprache gesteigert und der Lernprozess bewusster wahr-

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Schreiben

genommen werden. Der Fremdsprachenunterricht bekäme dann innerhalb der sprachlichen Erziehungeinen ganz anderen Stellenwert - als gleichrangiger Partner des Muttersprachenunterrichts. Vorausset-zung für eine solche 'Aufwertung' wäre allerdings, das Erlernen der Fremdsprache so eng an die kom-munikative Funktion von Sprache zu koppeln, dass die Schüler die fremden sprachlichen Mittel vonAnfang an sowohl produktiv wie rezeptiv nur im Rahmen von Texten erfahren, die auch tatsächlich et-was zu ‚sagen’ haben. Die Arbeit mit kontextlosen (und damit 'toten') Sätzen zur Illustration und An-wendung von Grammatik und Wortschatz wäre unter diesem Aspekt eindeutig kontraproduktiv.

Lexiko-grammatische Bausteine zur Versprachlichung von VorstellungsinhaltenUm den Schülern die fremden sprachlichen Mittel für einen kontextsensitiven Gebrauch im Rahmenvon Texten verfügbar zu machen, muss ihnen die kommunikative Funktion dieser Mittel bewusst ge-macht werden, d.h. ihre Leistung für die Versprachlichung von Vorstellungsinhalten. Dabei ist an diekognitive Entwicklung der Schüler anzuknüpfen. Schon im Grundschulalter haben sie die wesentlichenFunktionen von Sprache für die Wiedergabe von Wirklichkeits-aspekten (unbewusst) erfasst und kön-nen sie mit den Mitteln ihrer Muttersprache mehr oder weniger gut ausdrücken. Diese intuitive Fähig-keit der Zuordnung von sprachlichen Mitteln zu bestimmten Funktionen gilt es auf die Fremdsprachezu übertragen. Die sprachliche Form, die die Funktionen (Handlungsträger – Handlung/ Zustand -Handlungsobjekt – Umstandsbestimmung: Ort, Zeit, Art und Weise – nähere Bestimmung von Hand-lungsträger und Handlungsobjekt – logische Verknüpfung verschiedener Handlungen/ Zustände) aus-drückt, besteht in vielen Fällen aus morpho-syntaktisch markierten Mehr-Wort-Gebilden, die demkompetenten Sprachbenutzer als fertige Formäquivalente für den jeweiligen Wirklichkeitsaspekt zurVerfügung stehen. Die auf den ersten Blick endlos erscheinende Vielzahl solcher lexiko-grammatischerEinheiten wird durch einen jener - die Arbeit unseres Denkens wesentlich bestimmenden - Abstrahie-rungsakte des kognitiven Unbewussten (Reber 1993) auf eine begrenzte Zahl von Mustern oder Sche-mata (patrons) reduziert. Diese enthalten den 'Bauplan', der es dem kompetenten Sprachbenutzer er-möglicht, eine unendliche Zahl von konkreten Bausteinen als Ausprägungen dieses Musters hervorzu-bringen. Der kreative Umgang mit den Bausteinen ist also in gewisser Weise eine Alternative zu derbekannten kreativen Satzgenerierung durch Regelanwendung. Außerdem besitzt der kompetenteSprachbenutzer lineare Verknüpfungs- oder Satzschemata, die die Kombinationsmöglichkeiten der ein-zelnen Bausteine festlegen. Diese weder im Wörterbuch noch in der Grammatik zu findenden Gesetz-mäßigkeiten machen die 'Idiomatizität' der Sprache, d.h. den richtigen Gebrauch von Wörtern in der le-bendigen Rede bzw. Schreibe aus.Der muttersprachliche Sprecher ruft die lexiko-grammatischen Bausteine 'automatisch' ab, sobald ereinen Wirklichkeitsaspekt versprachlichen möchte, d.h. etwas Bestimmtes sagen will. Das Finden derForm ist also immer an den auszudrückenden Inhalt gebunden. Um die Bausteine auch in der Fremd-sprache gleichermaßen verfügbar zu machen, müssten sie ebenfalls als Äquivalente für bestimmte Vor-stellungsinhalte gelernt werden. Ein Höchstmaß an Motivierung - unter Beteiligung vor allem auch deraffektiven Faktoren des Lernprozesses - könnte dadurch erreicht werden, dass der zu versprachlichendeInhalt von den Lernenden selbst gewählt wird.Ein solcher nicht nur schülerorientierter, sondern konsequent schülergesteuerter Unterrichts-ansatzwird in dem Jenaer Konzept des „Innovativen Französischunterrichts“ verwirklicht. Es setzt an dieStelle einer Progression nach grammatischen Phänomenen die Progression nach den Äußerungswün-schen der Lernenden. Die konkrete Vorgehensweise besteht darin, dass sich die Lerngruppe für ein be-stimmtes Thema entscheidet, das dann als Frage-Antwort-Dialog (zur Vorbereitung auf den Dialog mitden fiktiven oder als e-mail Korrespondenten realen französischen Partnern) versprachlicht wird. The-men für das 1. Lernjahr sind z.B. «Ma famille et moi», «Mon école», «Mon ami(e)», «Ma journée».Der Dialog wird so erarbeitet, dass der Lehrer den Schülern nur die Bausteine gibt, die sie noch nicht

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Schreiben

kennen und ansonsten ihnen dabei hilft, die bisher gelernten Bausteine in den neuen Kontext einzubau-en und entsprechend zu modifizieren. Dadurch wird ein kontinuierlicher Transfer des Gelernten undeine maximale Beteiligung der Schüler gewährleistet. Die zunächst mündlichen, dann aber sofort vonden Schülern selbst verschrifteten Fragen und Antworten werden in einem Schüler-Dialogblatt festge-halten, das für alle die gleichen Fragen, aber u.U. individuelle Antworten enthält. Dieses Dialogblatt,das vom Lehrer wiederholt auf seine sprachliche Korrektheit zu überprüfen ist, stellt die Grundlage desLernpensums für jeden Schüler dar. Vorgegebene Texte werden ebenfalls eingesetzt. Sie dienen alsGrundlage für die Entwicklung von Hör- und Leseverstehen, nicht jedoch - wie bei den traditionellenLektionstexten üblich - als Lieferanten für Wortschatz und Grammatik. Diese beiden Bereiche werdenvielmehr nicht getrennt vermittelt, sondern in den Bausteinen integriert. Um die Bausteine frei verfüg-bar und kreativ einsetzbar zu machen, werden Übungen zur Automatisierung eingesetzt (z.B. das Kar-tenspiel «Architecte du francais») und Systematisierungen vorgenommen, bei denen die Schüler die ge-lernten Bausteine nach formalen Gesichtspunkten neu zusammenstellen, z.B. alle Bausteine, die mitc’est, mit il y oder mit j’habite kombinierbar sind. Auch dabei ist jedoch der Inhaltsaspekt immer imAuge zu behalten. Das Zusammensetzen der Bausteine in vielfältigen Kombinationen führt zum Ein-prägen von Satzbaumustern, die für das zusammenhängende Sprechen und Schreiben unabdingbarsind.Hier ist nicht der Ort, das Jenaer Konzept ausführlicher zu erläutern. Ich verweise deshalb auf meineArtikel im Literaturverzeichnis sowie auf meine Homepage. Um einigen gängigen Missverständnissenvorzubeugen, sei hier nur darauf hingewiesen, dass es sich bei den Bausteinen nicht um auswendig ge-lernte Formeln (wie z.B. bei den sog. Redemitteln der Lehrbücher) handelt, sondern um strukturelleGrundelemente der Sprache, die als solche 'gelernt' werden, und zwar in ähnlicher Weise wie die Bau-steine der Muttersprache. Der Begriff des 'Auswendiglernens' scheint dafür zumindest inadäquat – essei denn, man wolle das Erlernen der Muttersprache als 'Auswendiglernen' bezeichnen. An die Stelleder gewohnten Spracherwerbsphasen tritt die Verknüpfung von Inhalt und Form als zentraler Lernideefür die alle Phasen der Produktion. Wortschatz und Grammatik werden während des Prozesses der Ver-sprachlichung der Schülerideen erklärt, wobei auftauchende Fehler die Gelegenheit bieten, die sprachli-chen Gesetzmäßigkeiten wieder ins Gedächtnis zu rufen. 'Transfer' ist ein durchgängiges Prinzip desVersprachlichungsprozesses, dessen Kreativität darauf beruht, die gelernten Bausteine dem neuen Äu-ßerungswunsch anzupassen. Insgesamt ist hier ein neues Denken gefordert, dass sich von einigengrundlegenden Vorstellungen der überkommenen Didaktik freimacht und nicht versucht, das Neue indie alten Schablonen einzuordnen.

Textkomposition mithilfe des Baustein-PrinzipsFür die schriftliche Textkomposition wird den Lernenden auf diese Weise eine Fülle von sprachlichenMitteln zur Verfügung gestellt, mit denen sie schon nach kürzester Zeit Texte von beachtlicher Längeselbständig produzieren können. So fügen sie etwa in einem Brief (an den fiktiven oder realen französi-schen Partner) alle Bausteine aus den gelernten Antworten zu den gewünschten Aussagen zusammenund streuen je nach Bedarf auch Fragen an den Partner ein. Hinzu kommen Einleitungsformeln sowieAdverbien und Konjunktionen zur Textverknüpfung. Der folgende Text stammt aus einer Klassenarbeit nach fünf Monaten Französischunterricht:

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140

Page 141: Jenaer Reformkonzept Krista Segermann Das Jenaer

Schreiben

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Die wenigen Fehler betreffen 2 x die Orthografie, je 1 x eine falsche Genuszuweisung und ein verges-senes Plural-s sowie die Zeichensetzung. Die Syntax ist korrekt, d.h. die Verknüpfung der gelerntenBausteine zu teilweise neuen Sätzen ist gelungen. Nur ein Baustein (en sport) ist offensichtlich falsch(als *en le sport) gespeichert worden. Das le vor jeudi ist dagegen in der Aufzählung wahrscheinlichnur vergessen worden, da die Umstands-Bausteine für die Wochen-tage ansonsten korrekt sind.Um einen Eindruck von der Arbeit mit Bausteinen zu vermitteln, werden im Folgenden die Bausteine,mit denen der Schüler dieser Klasse seinen Text ‘gebaut’ hat, in Satzschemata präsentiert. Die wich-tigsten Neuerungen bei der Konzeption der Bausteine betreffen die Integration von Subjektpronomen(und gegebenenfalls auch Objektpronomen) und Prädikat in einer einzigen Struktureinheit (Pronomen-Verb-BS) sowie die Zusammenbindung von Präposition und Substantiv mitsamt seinen Begleitern (ein-schließlich vor- oder nachgestelltem Adjektiv) in den Subjekt-BS, den Ergänzungs-BS und den Um-stands-BS. Außerdem werden alle Formulierungen mit Fragewörtern unter den Frage-Baustein gefasst.In dem Beispieltext ergeben sich neun Satzschemata, die als solche auch im Kopf des Schülers vorhan-den sind. Er unterscheidet bis jetzt drei Fragesatz-Typen: Fragewort + est-ce que, vorgestelltes Frage-wort + Inversion, nachgestelltes Fragewort. Die Aussagetypen bestimmen sich im wesentlichen nachder Valenz der Verben: direkter Ergänzungs-BS, indirekter Ergänzungs-BS, Umstands-BS (obligato-risch oder fakultativ.) Weiterhin ist zu differenzieren zwischen einem pronominalen und einem nomi-nalen Subjekt (Pronomen-Verb-BS und Nominaler Subjekt-BS). Schließlich kommt noch ein Satz mitPrädikats-nomen vor. Die Terminologie und Ausdifferenzierung der Bausteine ist im übrigen noch vor-läufig. Sie wird im Rahmen eines Mehrsprachigkeits-Projekts auf ihre Kompatibilität mit den übrigeneuropäischen Fremdsprachen überprüft. Die Bezeichnungen sind auf jeden Fall den Erfordernissen desjeweiligen Lernalters der Schüler anzupassen. Da die Bausteine z.T. an unterschiedlichen Stellen imSatz stehen können, werden grundsätzlich keine Großbuchstaben verwendet. Auch die Zeichensetzungin dem Raster entfällt.

SATZSCHEMA 1Umstands-BS Pronomen-Verb-BS Adverb-BS Ergänzungs-BS direkt Umstands-BS

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Page 142: Jenaer Reformkonzept Krista Segermann Das Jenaer

Schreiben

j'ai

il/ elle a

aussi une amie de rêve

un frère

un chat

les cheveux noirs

les yeux marron

au total nous avons

vous avez

nous n’avons pas

même

32 heures de cours

cours

treize matières:

des mathématiques, del'allemand, du dessein, dusport, de l'informatique, dela biologie

une bibliothèque

par semaine

le samedi

j'apprends

tu apprends

deux langues étrangèresl'anglais - le français

depuis 3 ans

depuis quelquesmois

je fais

tu fais

aussi partie de la chorale

partie du club "Tus Iéna".

elle aime

elle adore

le sport

le volley

elle aime lire

elle aime

elle adore

le sport

le volley

je mets à peu près dix minutes pour aller à l'école

dans mon école il y a aussi beaucoup de salles de classes

une salle de professeurs

une cantine

une salle de gymnastique

un terrain de sport

une chorale - un orchestre

voilà

c’est

mon amie de rêve

SATZSCHEMA 2

Umstands-BS Pronomen-Verb-BS Ergänzungs-BS indirektaujourd'hui je veux te parler de mon école/ de mon amie

SATZSCHEMA 3

Umstands-BS Pronomen-Verb-BS Umstands-BSj’y vais à pied

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Page 143: Jenaer Reformkonzept Krista Segermann Das Jenaer

Schreiben

j'aime aller

tu aimes aller

à l'école

le lundi/ le mardi/ le mercredi/le jeudi/ le vendredi

ils finissent à une heure

à deux heures moins cinq

à midi cinq

SATZSCHEMA 4

Nominaler Subjekt-BS Verb-BS Ergänzungs-BS direktEIGENNAME n'aime pas le foot

SATZSCHEMA 5

Nominaler Subjekt-BS Verb-BS Umstands-BSEIGENNAME habite en Argentine (en + Land (weiblich)

2, rue de EIGENNAME

es cours commencent à sept heures et demie

SATZSCHEMA 6

Pronomen-Verb-BS Prädikatsnomen-BS Ergänzungs-BSje suis bon/ bonne en sport

SATZSCHEMA 7

Frage-BS Pronomen-Verb-BS Umstands-BSqu'est-ce qu' il y a dans ton école

SATZSCHEMA 8

Frage-BS Verb- Pronomen-BS Umstands-BScomment vas-tu à l'école

SATZSCHEMA 9

Pronomen-Verb-BS Frage-BStu apprends combien de langues étrangères

Befreiung von einer vorgegebenen grammatischen ProgressionEs fällt auf, dass viele dieser sprachlichen Formulierungen bzw. frei verfügbaren kommuni-kativenEinheiten weit über das in den Lehrwerken zu bewältigende Pensum für das 1. Lernjahr hinausgehen.Dies wird in einem weiteren Beispiel (eine Klassenarbeit nach neun Monaten) noch offensichtlicher:

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143

Page 144: Jenaer Reformkonzept Krista Segermann Das Jenaer

Schreiben

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Hier sind neben orthografischen Fehlern und falscher Genuszuweisung bzw. fehlendem Accord sowieder falschen Verwendung von alors auch einige Bausteine betroffen. J'aime *fais und j'aime *joue sindvielleicht als retroaktive Hemmung durch das Présent des folgenden Handlungsverbs j'écoute bedingt,auf jeden Fall aber ist die Verbindung mit dem Infinitiv nicht intensiv genug eingeprägt worden. Auchdie Ortsbestimmung en cours ist nicht als Einheit gespeichert. Der Verwechslung von sont und ont inils *sont 22 ans liegt möglicherweise nicht die deutsche Versprachlichung der Altersangabe mit 'sein'zugrunde, sondern eher die im deutschen Süden und Südosten mangelnde Unterscheidung zwischenstimmhaftem und stimmlosem –s bei der Liaison.Interessant ist jedoch, was diese Schülerin überhaupt an anspruchsvollen Bausteinen verwendet, darun-ter auch mehrere indirekte Ergänzungs-Bausteine sowie Infinitivkonstruktionen:

je suis bien contente d’avoir de tes nouvelles

aujourd'hui je présente ma famille

après avoir pris mon petit déjeuner je vais à l'école vers 7 heures et demie

je participe activement aux cours

si je m'ennuie je dors à l'école

pendant les récrés je joue au tennis de table

après les cours je fais mes devoirs à la cantine

ensuite je rentre à la maison et range ma chambre

je me couche vers 10 heures 30

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Page 145: Jenaer Reformkonzept Krista Segermann Das Jenaer

Schreiben

bonjour à tes parents

salut aux copains

Die Arbeit mit lexiko-grammatischen Bausteinen, die einer konkreten Inhaltsvorstellung entsprechen,ermöglicht das Erlernen jedweder fremdsprachlichen Form zu jedem beliebigen Zeitpunkt – entschei-dend ist allein der intellektuell angemessene Formulierungswunsch. Eine unter linguistischem Aspektkomplexere Form weist nicht unbedingt auch lernpsychologisch einen höheren Schwierigkeitsgrad auf,zumal den Lernenden der Umgang mit den meisten grammatischen Erscheinungen aufgrund ihrer mut-tersprachlichen Kompetenz vertraut ist. So kann das Passé com-posé der Handlungsverben (j’ai re-gardé la télé/ j’ai joué au foot/ je suis allé voir ma grand-mère) ohne Probleme vor dem Présent dieserVerben eingeführt werden, z.B. wenn die Schüler nach den Osterferien erzählen wollen, was sie allesgemacht haben (Themendialog: Après les vacances). Voraussetzung für zufrieden stellende Leistungenbei der freien Textproduktion ist allerdings das gründliche Lernen der erarbeiteten Bausteine sowie einBewusstmachen ihrer Musterhaftigkeit, so dass die Schüler sowohl über die lexikalische Austauschbar-keit einzelner Elemente als auch über die Kombinierbarkeit der Bausteine Bescheid wissen.

Textrezeption und Textproduktion in methodisch fruchtbarem ZusammenspielNeben der aktiven, schülergesteuerten Dialogerarbeitung bieten sich auch Lesetexte zur Gewinnungvon Bausteinen an. Dabei ist an möglichst authentische Texte gedacht, wie z.B. Antwortbriefe der fran-zösischen Partner, die es zunächst zu verstehen gilt, aus denen sich dann aber gezielt bestimmte Bau-steine für die eigene Produktion gewinnen lassen. Im Folgenden sind einige solcher Bausteine aufgelis-tet, die der e-mail Korrespondenz mit einer französischen Schulklasse entnommen sind:

je le promène souvent

je vais te raconter ma vie au collège

je t’écris pour te raconter ma vie au collège

j’ai un chien qui s’appelle EIGENNAME

merci de ta lettre que nous avons reçue ce matin

ce sont mes parents qui viennent me reprendre

ma mère s’occupe de nous

dans la classe on est 5 filles et 10 garçons

on est en vacances le 30/06/98 et on reprend le 01/09/ 98

c’est un épagneul breton

il y a une récréation d’un petit quart d’heure

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Page 146: Jenaer Reformkonzept Krista Segermann Das Jenaer

Schreiben

j’habite dans un appartement à 10 pièces

envoie-moi ton calendrier scolaire

Werden solche Bausteine von den Schülern als nützlich für ihre eigene Textproduktion erachtet, sindsie in die bestehenden Satzschemata einzuordnen bzw. diese entsprechend zu erweitern, hier z.B. umden Pronomen-Verb-Baustein mit vorgestelltem Objektpronomen, um den Relativsatz-Baustein (inklu-sive Mise en relief), um weitere indirekte Ergänzungs-Bausteine, Bausteine mit c’est und attributiveBausteine sowie Imperative mit Objektpronomen. Auf diese Weise ist ein fruchtbares Zusammenspielzwischen Rezeption und Produktion möglich – unter Wahrung der Eigengesetzlichkeit beider Kommu-nikationsrichtungen, die ein unterschiedliches Kompetenz-niveau voraussetzen.

Kreatives Denken und Schreiben mithilfe automatisierter BausteinmusterDie folgenden Texte zeigen, welche Bausteine den Schülern z.T. fehlten, um unter dem Aspekt dersprachlichen Korrektheit eine bessere Schreibleistung zu erzielen – was umso wünschenswerter er-scheint, als die Texte inhaltlich erstaunlich anspruchsvoll sind. Es handelt sich um Liebesgedichte einer8. Klasse, 2. Lernjahr, die von einer Studentin im Rahmen eines schulpraktischen Seminars als kreativeSchreibarbeit gedacht war, ohne jedoch ausreichend vorbereitet worden zu sein.Das erste Gedicht enthält überwiegend Gefühlsbeschreibungen in der Ich-Form, die für den Verfasser(einen leistungsstarken Schüler) kaum Probleme darstellen. Es ist allenfalls die wohl aus dem Wörter-buch entnommene Lexik, die z.T. Schwierigkeiten bereitet .

Anders steht es mit dem zweiten, wesentlich dramatischeren, appellativen Gedicht einer schwächerenSchülerin.

146

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Schreiben

Was hier vor allem benötigt wird, sind die Verb-Bausteine mit integriertem Objektpronomen sowie dieindirekten Ergänzungs-Bausteine mit den betonten Pronomen. Um die erstaunliche Kreativität und Ori-ginalität der Schüler nicht durch formale Unzulänglichkeiten abzutöten, müssen Mittel und Wege ge-funden werden, das Bemühen um den korrekten Gebrauch der Objektspronomen auf eine Erfolgsschie-ne zu setzen. Dies könnte dadurch geschehen, dass die Beherrschung dieses Phänomens nicht länger alsErgebnis der Anwendung einer abstrakten Regel verstanden wird, sondern Wissen und Können in ei-nem einzigen Prozess miteinander verbunden werden.Wenn die Pronomen mit den zugehörigen Verbformen in einen Baustein zusammen gepackt werden,kann sich sowohl die Form (z.B. me oder moi) als auch die Stellung eher einprägen. Da es sich in derTextsorte des Liebesgedichts meist um die 1. und 2. Person handelt, ist der Unterschied zwischen di-rekter oder indirekter Ergänzung hier zunächst irrelevant. Um diese Bausteinmuster zu automatisieren,werden sie im Rahmen von imaginierten und pointierten Gesprächssituationen mit wechselnder Lexikzu einer Übungssequenz zusammengestellt. Hierbei können die Schüler ihre eigene Fantasie entwi-ckeln, indem sie sich z.B. einen spaßigen Umstands-Baustein ausdenken:Tu m’aimes? Oui, je t’aime jusqu’à la fin du mois Non, je ne peux pas t’aimer

Tu m’attends? Oui, je t’attends jusqu’à demain Non, je ne peux pas t’attendre

Tu me suis? Oui, je te suis jusque dans la cour Non, je ne peux pas te suivre

Tu me sens? Oui, je te sens sans te toucher Non, je ne veux pas te sentir

Tu m’entends? Oui, je t’entends sans te comprendre Non, je ne veux pas t’entendre

Tu me regardes ? Oui, je te regarde sans te voir Non, je ne veux pas te regarder

Tu m’appartiens ? Oui, je t’appartiens sans t’obéir Non, je ne veux pas t’appartenir

Durch die Häufung der gleichen Struktur prägt sich das Bausteinmuster ein, und zwar als Klangbildund als (mentales) Schriftbild. Das bedeutet, dass die Übung unbedingt rein mündlich ablaufen muss(nachdem ein Beispielsatz vorher im Gedächtnis gespeichert wurde). Dazu bedarf es allerdings einerSituation, in der die zu übenden Sprechakt-Sequenzen den Schülern auch plausibel erscheinen und be-stimmten Rollen zuzuordnen sind. Nur dann können sie sie auch behalten und „aus dem Kopf“ produ-zieren. Das ist der wesentliche Unterschied zu der alten pattern practice. Dieser lag ja der zweifellosrichtige Grundgedanke der Strukturiertheit der Sprache zugrunde. Sie trug jedoch weder dem Inhaltsa-spekt noch dem Kreativitätsaspekt ausreichend Rechnung.

Für die Imperativformen wären folgende Mini-Dialoge denkbar:

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Schreiben

Emmène-moi! Je ne peux pas t’emmenerEnlève-moi! Je ne peux pas t’enleverAide-moi! Je ne peux pas t’aider

Regarde-moi! Je ne dois pas te regarderEcoute-moi1 Je ne dois pas t’écouterAttends-moi! Je ne dois pas t’attendreSuis-moi! Je ne dois pas te suivre

Dis-le-moi! Non, je ne vais pas te le direExplique-le-moi! Non, je ne vais pas te l’expliquerDonne-le-moi! Non, je ne vais pas te le donnerEnvoie-le-moi! Non, je ne vais pas te l’envoyer

Falls die Schüler bei der Zusammenstellung solcher Strukturübungen nach fehlenden Verben fragen(die sie in diesem Zusammenhang für passend halten), ist dies eine willkommene Gelegenheit, sie mitweiteren sprachlichen Mitteln sur demande auszustatten.

AusblickEs konnten hier aus Platzgründen nur wenige Textsorten vorgestellt werden. Briefe haben den Vorteil,dass die Schnittmenge zwischen mündlicher und schriftlicher Textproduktion sehr groß ist. Das wirktsich vor allem im Anfangsunterricht günstig aus. Gedichte empfehlen sich vor allem wegen ihrer Kür-ze, aber auch wegen ihres kreativen Potentials. Kleine Geschichten sind ebenfalls möglich. In denKlassen, die nach dem Baustein-Prinzip unterrichtet werden, wurden gute Erfahrungen mit Fantasie-oder Erlebnisgeschichten gemacht. Die Tatsache, dass bei all diesen Textsorten der Inhalt mehr oderweniger frei wählbar ist, wirkte sich bei den meisten Schülern positiv aus. Auch Zusammenfassungenvon Hörspielen oder Kapiteln aus der Klassen-lektüre bzw. der lecture individuelle waren erfolgreich.Letztere sind besonders motivierend, da der Text hier die echten Informationslücken der Klassenkame-raden schließen muss. Wichtig ist bei all diesen Texten, dass sie ohne sprachliche Hilfen, sozusagen nur ‚aus dem Kopf’ pro-duziert werden. In diesen ‚Kopf’ bzw. in das Gedächtnis des Schülers müssen die gebrauchten Mittelaber erst hineingebracht werden. Wenn dies geschieht, und zwar in durchdachter, systematischer Wei-se, dann könnte auf die ‚Hilfstexte’ verzichtet werden, mit denen die Schüler üblicherweise an dieTextproduktion herangeführt werden. Anstatt vorgegebene (mehr oder eher weniger aussagekräftigebzw. motivierende) Lückentexte ausfüllen, durcheinander gebrachte Texte richtig zusammensetzenoder unfertige Texte ergänzen bzw. vervollständigen zu lassen, könnte man sich auch in den erstenLernjahren an wirklich freie Produktionen wagen, die die Schüler eigenverantwortlich und selbstbe-stimmt üben, indem sie sich wiederholt an ihnen versuchen (vgl. die Konzeption der ateliers d’écri-ture).Die für die einzelnen Textsorten und Themen notwendigen Bausteine müssen den Lehrenden freilich ineinem Baustein-Pool bereitgestellt werden. Eine solche Zusammenstellung in einem Computer-Pro-gramm ist in Jena gegenwärtig in Arbeit. Es sind vor allem die elektronischen Medien, die auch dieLehrerhilfen auf eine ganz neue Grundlage stellen können, so dass die expression écrite zusammen mitden übrigen kommunikativen Sprachtätigkeiten auch im Französischen endlich den Stellenwert be-kommt, der ihr in einem auf das Lernziel der Kommunikations-fähigkeit verpflichteten Sprachunter-richt gebührt.

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Schreiben

LiteraturverzeichnisFeilke, H. (2003): Entwicklung schriftlich-konzeptualer Fähigkeiten. In: U. Bredel u.a. (Hrsg.) Didak-

tik der deutschen Sprache, Bd. 1, München, 178-192.Feilke, H. & Portmann, P.R. (Hrsg.) (1996): Schreiben im Umbruch. Schreibforschung und schulisches

Schreiben. Stuttgart.Portmann, P.R. (1991): Schreiben und Lernen: Grundlagen der fremdsprachlichen Schreibdidaktik.

Tübingen.Portmann, P.R. (1996): Arbeit am Text. In: H. Feilke & P.R. Portmann, 158-171.Reber, Arthur S. (1993). Implicit learning and tacit knowledge: An essay on the cognitive unconscious.

New York: OUP.Segermann, K. (1999): Schülerorientierter Französischunterricht: ein Konzept zur Verwirklichung ei-

ner dringlichen Forderung. Französisch heute, 281-293.Segermann, K. (1999): Permanente Grammatikrevision: ein provokatives Rundgespräch. Der fremd-

sprachliche Unterricht/ Französisch 33, H. 40, 10-17.Segermann, K. (2000): Ganzheitsdidaktik - ein pädagogisches Konzept auch für den Fremdsprachenun-

terricht? Fremdsprachenunterricht, 249-253.Segermann, K. (2001): Tua res agitur’: Inhaltsmotivierung statt Stoffbewältigung. Fremdsprachenun-

terricht, 189-195.Segermann, K. (2001): Stundenbeispiele im Gespräch: „Wie der Lehrer, so der Schüler“ – Unterrichts-

führung und Lernleistung. Französisch heute, 448-457.Segermann, K. (2003): Wortschatz und Grammatik im Dienste der Kommunikation. Methodische Al-

ternativen zu tradierten Prinzipien des Fremdsprachenunterrichts. Praxis des neusprachlichen Un-terrichts 50 , 340-350.

Segermann, K. (2004): Die Beziehung zwischen Klanggestalt und Schriftgestalt: Störfaktor oder Lern-hilfe? Französisch heute,184-207.

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Hörverstehen

Krista Segermann

Übungen zum Hörverstehen(veröffentlicht als Artikel Nr. 59 in: Karl-Richard Bausch; Herbert Christ; Hans-Jürgen Krumm: Hand-buch Fremdsprachenunterricht. Tübingen und Basel: Francke 2003; S. 295-299)

1. BestandsaufnahmeSeitdem sich das Hörverstehen als eigenständiges Lernziel im Rahmen eines auf Kommunika-tionsfähigkeit in Realsituationen ausgerichteten Fremdsprachenunterrichs etabliert hat (BROCKHAUS1975), stellen unterrichtliche Maßnahmen zu seiner Entwicklung (hier als Übungen bezeichnet) bisheute eine schwierige didaktisch-methodische Herausforderung dar. Der Grund liegt einerseits in demMangel an geeignetem Textmaterial, andererseits in der methodi-schen Unsicherheit bezüglich eineseffektiven Umgangs mit Hörmaterialien.Neben Leseverstehen, Sprechen und Schreiben ist das Hörverstehen eine der vier spezifischen Kommu-nikationstätigkeiten, die in der Übermittlung von Inhalten/Konzepten durch sprachliche Zeichen beste-hen. Die Besonderheit des Hörverstehens besteht darin, dass hier der Inhalt des vom Sprecher Gesagtenvom Hörer aus akustisch wahrgenommenen, also flüchtigen sprachlichen Zeichen entschlüsselt wird.Bei dieser mündlichen, sog. rezeptiven Tätigkeit handelt es sich um einen konstruktiven Prozess, derdarauf gerichtet ist, das Gehörte mit Sinn zu verbinden. Ohne diese inhaltlich motivierte Intention istkein Hörverstehen, d.h. bewußtes Verstehen durch Hinhören möglich.Die Sinnkonstitution ist das Ergebnis des Zusammenwirkens verschiedener mentaler Einzelleistungen.Sie betreffen zum einen den sprachlichen Bereich, d.h. das Erkennen phonologisch-prosodischer, lexi-kalischer und morpho-syntaktischer Signale (bottom-up), zum anderen den außersprachlichen Bereich,d.h. die Aktivierung der Schemata des kulturell und individuell geprägten Sach- und Erfahrungswissenssowie des Wissens um die Eigengesetzlichkeiten der an sprachlicher Kommunikation beteiligten Fak-toren wie Diskursart, Sprechsituation, Sprechintention, Sprecherrolle (top-down).

2. ProblemaufrißWie kann diese komplexe sprachlich-kognitive Verstehensfähigkeit in der Fremdsprache geübtwerden? Die Schwierigkeit der Aufgabenstellung besteht vor allem darin, dass hier drei Faktoren mit-einander in Einklang zu bringen sind:- der Vollzug der Tätigkeit des Hörverstehens selbst- die Bewußtmachung der dabei angewandten Verfahren- die Überprüfung des Erfolgs.Die Fähigkeit, etwas erfolgreich zu tun, läßt sich am besten durch den wiederholten Vollzug dieser Tä-tigkeit entwickeln. Doch dieser Vollzug allein bringt noch keine Verbesserung. Es kommt auf das Wiean. Schließlich muss der Vollzug durch zusätzliche Schüleraktivitäten überprüft werden. Dies birgt dieGefahr in sich, dass die unterrichtlichen Maßnahmen primär ergebnisorientiert sind, d.h. sich auf dieÜberprüfungstätigkeiten konzentrieren, anstatt sich prozessorientiert auf die Verbesserung der für dasHörverstehen selbst relevanten Fähigkeitselemente zu richten bzw. auf die Verfahren, die bei diesemProzess zum Einsatz kommen.

3. LösungsalternativenBeim gegenwärtigen Stand der Fremdsprachendidaktik lassen sich zwei Übungsmodelle unterscheiden:ein wissensbasiertes, mehr formal orientiertes Komponenten- und Stufenmodell, das überwiegend in

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Hörverstehen

Lehrplänen und Lehrbüchern Anwendung findet) und ein tätigkeitsbasiertes, mehr inhaltlich orientier-tes Integrationsmodell, das sich vielfach, aber vereinzelt in kommunikativen Übungsvorschlägen derfachdidaktischen Diskussion konkretisiert, vgl. z.B. DA FORNO 1994, SEGERMANN 1999.

3.1 Wissensbasiertes, formal orientiertes Komponenten- und StufenmodellDie Übungen folgen einer Stufung, nach der zunächst partielles Wissen aufgebaut wird, das für ein er-folgreiches Hörverstehen als unerläßlich gilt. Das Komponentenwissen wird dann zu einer komplexenHörkompetenz zusammengefügt und beim Hörvorgang angewendet.Isolierte Komponentenübungen:- Übungen zur Laut- bzw. Phonemdiskriminierung- Übungen zur Unterscheidung unterschiedlicher Intonationsmuster- Übungen zum Erkennen von Schlüsselwörtern- Übungen zur Verbindung von Schlüsselwörtern zu Kollokationen und/oder Wortfeldern- Übungen zum Erkennen grammatischer Morpheme und syntaktischer Strukturen- Übungen zum Erkennen der Textstruktur (Gliederungs- und Referenzsignale)- Übungen zur Identifizierung der Text- /Diskursart, der Sprechintention, des Sprachregisters.Überprüfungstätigkeiten:- Zuordnen- Vervollständigen von Lückentexten.

Gestufte KomplexübungenIhr Schwierigkeitsgrad läßt sich nach drei Kriterien stufen:- Verhältnis von Produktion und RezeptionIm Anfängerunterricht sind produziertes und rezipiertes Sprachmaterial nahezu gleich, d.h. die Rezepti-on beschränkt sich auf das Wiedererkennen von zuvor Gelerntem. Mit fortschreitendem Unterricht ent-halten die Texte eine kontrollierte Anzahl unbekannter Sprachelemente, wodurch sich die Möglichkeitergibt, Verfahren zur Bedeutungserschließung von Wörtern und zum Inferieren von Bedeutungszusam-menhängen zu entwickeln.- TextgestaltungMan beginnt mit didaktisierten Texten, die eine Beschränkung in Vokabular und Grammatik, ein ver-langsamtes Sprechtempo und normgerechte Aussprache aufweisen. Haupttextquelle : auf Tonträgernpräsentierte oder vom Lehrenden vorgelesene Lektionstexte und Hörtexte aus dem Lehrbuch, auf die(produktive) Sprachkompetenz der Schüler abgestimmte Unterrichtssprache des Lehrenden. Mit fort-schreitender Lehrbuch-Progression nähern sich die Texte dann in der sprachlichen Komplexität, inSprechtempo, Aussprachevariation und Register immer mehr authentischen Texten an. Das Problembei der Materialbeschaffung besteht meist darin, dass (wie übrigens auch beim Leseverstehen, vgl. Art.57 ) kaum Texte für die Übergangsstufe vorhanden sind.Bei der Textgestaltung der Komplexübungen überwiegt die Form der indirekten Kommunikation mitdem Ziel der Teilhabe am fremdsprachlichen Kulturleben. Möglichkeiten der Schulung des Hörver-stehens in der direkten face-to-face Kommunikation bietet der Lehrer-Schüler-Dialog bzw. der Schüler-Schüler-Dialog, z.B. bei Problemdiskussionen und Textinterpretationen. - Ausmaß der Verstehensleistung und der Steuerung durch die Aufgabenstellung

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Hörverstehen

Hier wird unterschieden zwischen Globalverstehen, Detailverstehen, gelenktem und ungelenk-tem Ver-stehen. Der Schwierigkeitsgrad kann außerdem durch bereitgestellte sprachliche Hilfen (vorwiegendWorterklärungen) und außersprachliche Hilfen (Information über Sprechsituation, Textintention, evtl.auch Inhalt, erläuterndes Bildmaterial oder Grafiken) differenziert werden.Überprüfungstätigkeiten:- Zuordnen (zu Bildern, Grafiken, Überschriften, Inhaltsangaben/-umschreibungen, Texttrans-

kriptionen)- Vervollständigen von Texten mit Inhaltslücken- Korrigieren von Texten mit Inhaltsfehlern- Entscheidung über Richtig/Falsch-Aussagen- Zusammensetzen von ungeordneten Textteilen- Nonverbale Reaktion- Muttersprachliche Inhaltsaussagen- Fremdsprachliche Inhaltsaussagen oder Antworten auf Fragen (unter Berücksichtigung der Produk-

tionskapazität).

3.2: Tätigkeitsbasiertes, inhaltlich orientiertes IntegrationsmodellDas Hörverstehen wird als unteilbarer Prozess angesehen, der von Anfang an nur als ganzheitliche Tä-tigkeit an echten Hörtexten entwickelt werden kann. ‚Echt‘ bedeutet hier, dass der Text in eine normalepsycho-sozial bestimmte mündliche Kommunikationssituation einzuordnen ist und dass er den norma-len Erwartungen eines Hörers entspricht, der darauf aus ist, Neues und für ihn Interessantes zu erfah-ren, in indirekter wie in direkter Kommunikation.Verhältnis von Produktion und RezeptionDie Hörtexte für die indirekte Kommunikation, die auch hier überwiegt, liegen deutlich über dem Pro-duktionsniveau, d.h. sie enthalten immer eine mehr oder weniger große Anzahl an Vokabeln und gram-matischen Strukturen, die den Lernenden unbekannt sind. Auf diese Weise wird das Inferieren alsgrundlegende Hörverstehenstätigkeit durchgängig trainiert. Eine Schwierigkeitsstufung ergibt sich ausder unterschiedlich großen Komplexität der versprachlichten Sinnkonzepte. Eine Orientierung an derLehrbuchprogression ist hier ausgeschaltet.Bei der direkten Kommunikation, d.h. der lebendigen Wechselrede zwischen den Lernenden, entsprichtdie gehörte Sprache notwendigerweise dem Produktionsniveau der Lerngruppe, während der Lehrendein seinen Redebeiträgen darüber hinausgehen kann.TextgestaltungVon Beginn an werden Texte mit normalem Sprechtempo und den typischen Merkmalen gesprochenerSprache (allerdings ohne übertrieben nachlässige Aussprache, ausgeprägte Regio- oder Soziolekte, stö-rende Geräuschkulissen u.ä.) eingesetzt. Lesetexte, u.a. auch mündlich dargebotene Lektionstexte, wer-den nur verwendet, soweit sie den Hörer in seiner Verarbeitungskapazität nicht überfordern und in ihrerTextstruktur sowie ihrem inhaltlich-motivationalen Anspruch der normalen Hörsituation gerecht wer-den. Das Problem bei der Materialbeschaffung besteht hier darin, dass kaum Texte für die Anfangsstufevorhanden sind. Sie könnten von schriftstellerisch begabten Muttersprachlern erstellt (z.B. Hörspiele)oder aus (evtl. geschnittenen) authentischen Tondokumenten (möglichst mit Bildunterstützung) ausge-wählt werden. Entwicklung spezifischer Fähigkeitselemente- Segmentierung des Lautstroms in größere, meist mehr als ein Wort umfassende lexiko-grammati-

sche Sinneinheiten, die als prosodische Einheiten zu erkennen sind.

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Hörverstehen

Um diese sinntragenden Spracheinheiten identifizieren zu können, müssen die Schüler lernen, be-stimmte Sinnstrukturen mit bestimmten lautlich-prosodischen Strukturen zu verbinden. Neben be-stimmten Intonationsmerkmalen wie Pausenverteilung und Akzentuierung gehört dazu vor allem dieVertrautheit mit den für die zusammenhängende Rede typischen Lautrealisierungen. Die z.B. für dasEnglische und Französische charakteristischen Bindungs- und Schwachton-phänomene können hier be-trächtliche Veränderungen bewirken. Es genügt dann nicht mehr, einzelne Phoneme oder Wörter zuidentifizieren. Wenn die Schüler nicht wissen, wie die Wörter oder grammatischen Strukturen in nor-malem (nicht künstlich reduziertem) Sprechtempo in der zusammenhängenden Rede klingen, dannkönnen sie sie dort auch nicht wiederfinden, obwohl sie ihnen bekannt sind. - Analyse der Sinnstrukturen sowie der logischen Gliederung von TextabschnittenDie Sinn-Analyse behandelt die lexikalischen und die morpho-syntaktischen Signale nicht getrennt,sondern ordnet bestimmten lexiko-grammatischen Formgebilden bestimmte Sinnstrukturen zu, etwanach dem rhetorischen Frageschema: Wer tut was, wo, mit wem, wodurch, warum, auf welche Weise,wann? Bei den meisten Äußerungen biete es sich an, nach dem Handlungsträger, dem Handlungsob-jekt, der Vollzugsart und den Umständen der Handlung (Ort, Zeit, Art und Weise, Intensität) zu suchenund diesen abstrakten Konzepten ihre konkrete Versprachlichung zuzuordnen. Die Analyse der logi-schen Gliederung von Textabschnitten richtet sich z.B. auf Grund-, Zweck- und Folge-Beziehungen.- Vertrautheit mit den für gesprochene Sprache typischen DiskursformelnUm den Lernenden die Konzentration auf wesentliche Inhaltsaussagen zu ermöglichen, müssen ihm diefür gesprochene Sprache typischen Diskursformeln so vertraut sein, dass er sie auch in meist sehrschnell gesprochenem Tempo mühelos sofort erkennt. Hierzu gehören z.B. Argumentationsformeln,Redeformeln, die den Kontakt mit dem Zuhörer aufrechterhalten und die Rede hörerbezogen struktu-rieren sowie Strukturen der Hervorhebung, der Modifizierung und der Wertung.Spezielle methodische Verfahren- Einkreisen der Sinnhypothesen durch wiederholtes HörenDie gebildeten Sinnhypothesen können durch wiederholtes Hören bestimmter Textteile auf ihre Taug-lichkeit getestet werden. Dabei lassen sich die möglichen Sinnzuschreibungen immer mehr einkreisenbis zu dem Punkt, wo kaum noch Alternativen übrigbleiben und der Sinn offensichtlich wird, auchwenn die einzelnen Wörter oder grammatischen Strukturen als solche nicht bekannt sind.- Zuordnung von Gehörtem zu GeschriebenemDie Segmentierens des Lautstroms in sinnvolle Einheiten kann dadurch erleichtert werden, dass dieLernenden sich das Gehörte abschnittsweise geschrieben vorstellen und es anschließend mit demschriftlich vorliegenden Text vergleichen. Sinneinheiten, die vom Schriftbild her verstanden werden,vom Lautbild her jedoch zunächst unverständlich geblieben sind, werden nun bewusst parallel zumSchriftbild in ihrer Lautgestalt eingeprägt, so dass sie beim nächsten Mal auch hörend sofort dekodiertwerden können und damit einen Fortschritt in der Hörverstehensleistung bewirken. (SEGERMANN1999)- Finden eigener HörabsichtenDie Lernenden entscheiden selbst über die Hörabsicht, mit der sie an den Text herangehen, z.B. allge-meine Inhaltsorientierung, Hauptaussagen, bestimmte Details, genaues Verstehen bestimmter Textab-schnitte usw. Wichtig ist, dass die Lernenden, indem sie die Verantwortung für die Entwicklung ihresHörverstehens selbst übernehmen, Hörmotivation, Höraufgabe und erreichbares Hörergebnis miteinan-der in Einklang bringen.Überprüfung

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Hörverstehen

Bei dieser Art des analysierenden, den Verstehensprozess bewusstmachenden Umgangs mit Hörtextenfindet die Überprüfung nicht durch zusätzliche Tätigkeiten statt, sondern ergibt sich aus der Hörtätig-keit selbst. Was dann weiter mit den gehörten Texten geschieht, ob sie als Anlass für Résumés, Diskus-sionen usw. genutzt werden, betrifft nicht mehr die Entwicklung des Hörverstehens, sondern die Ent-wicklung der kommunikativen Tätigkeiten des Sprechens (vgl. Art. 61 und 62) und des Schreibens(vgl. Art. 58). Allerdings müssen die gewählten unterrichtlichen Maßnahmen für alle vier Tätigkeitenaufeinander abgestimmt sein. So ist es z.B. unerlässlich, dass das Erarbeiten von und das Arbeiten mitSinneinheiten und ihren lexiko-grammatischen Entsprechungen allen Bereichen gleichermaßen zugrun-de liegt, gemäß dem Prinzip, dass lebendige Sprache in allen Modalitäten in der Verknüpfung von kon-kreter Verwendungsform mit konkret gemeintem Inhalt besteht.

4. Hörverstehen in der FachdiskussionDie das Hörverstehen behandelnde Fachliteratur ist inzwischen kaum noch überschaubar. Einen Über-blick über den Forschungsstand bis Mitte der 80er Jahre geben Dirven /Oakeshott-Taylor (1984/85).Rubin (1995) diskutiert in einem Review-Artikel 115 empirische Studien zum fremdsprachlichen Hör-verstehen. An den heterogenen Ergebnissen zeigt sich deutlich, dass allgemeine Aussagen über Lern-prozesse im Fremdsprachenunterricht ohne die Berücksichtigung des Methodenfaktors nicht möglichsind. An neueren Versuchen einer Taxonomie oder Typologie von Hörverstehensübungen sind Lund(1990) und Segermann (1992, 2. Aufl. 1994) zu nennen. Für die Theorie der Anwendung von Wissenwerden modulare Informationsverarbeitungsmodelle in Anspruch genommen; vgl. hierzu Wolff (1990).Linguistische und neuropsychologische Grundlagenforschung für die integrative Theorie der Verknüp-fung von Sprachzeichen mit Sinnkonzepten findet sich in Langacker (1999) und Hörmann (1976). Anneueren, speziell dem Hörverstehen gewidmeten umfangreichen Monographien seien Rost (1993 und1996) und Cornaire (1998) sowie der Sammelband von Kühn (1996) genannt.

LiteraturBrockhaus, W. (1975), „Zur Fertigkeit des Hörverstehens im neusprachlichen Unterricht“, in: Praxis

des neusprachlichen Unterrichts, 3-12.Cornaire, C. (1998), La compréhension orale, Paris.Dirven R./Oakeshott-Taylor, J. (1984), „Listening Comprehension (Part I)“, in: Language Teaching,

326-343.Dies. (1985) „Listening Comprehension (Part II)“, in: Language Teaching, 2-20.Da Forno, I. (1994) “Vom Mythos, immer alles verstehen zu wollen, oder Hörverstehen ‘mal ganz an-

ders”, in: Zielsprache Englisch, 4, 37-40.Hörmann, H. (1976), Meinen und Verstehen. Grundzüge einer psychologischen Semantik, Frankfurt

a.M.Kühn, P., Hrsg. (1996), Hörverstehen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache, Frankfurt a.M. Langacker, R. W. (1999), Grammar and Conceptualization, Berlin.Lund, R.J. (1990), „A taxonomy for teaching second language listening”, in: Foreign Language An-

nals, 23, 105-115.Rost, M. (1993), Listening in Language Learning, London/New York (1. Auflage 1990).Rost. M. (1996), Listening in Action, New York.Rubin, J. (1995), „A review of second language listening comprehension research“, in: The Modern

Language Journal, 78, 199-221.Segermann, K. (1994): Typologie des fremdsprachlichen Übens, Bochum (1. Aufl. 1992).

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Hörverstehen

Segermann, K. (1999), „Schülerorientierter Französischunterricht: ein Konzept zur Verwirklichung ei-ner dringlichen Forderung“, in: Französisch heute, 3, 281-293.

Vogel, S. (1984), “Von Hörvorlagen zur Kommunikation. Verzweigte Lehr- und Lernwege imkommunikativen Fremdsprachenunterricht unter Berücksichtigung des Hörverstehens”, in:Neusprachliche Mitteilungen, 68-76.

Wolff, D. (1990), „Zur Bedeutung des prozeduralen Wissens bei Verstehens- und Lernprozessen imschulischen Fremdsprachenunterricht”, in: Die Neueren Sprachen, 89, 610-625.

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Klanggestalt und Schriftgestalt

Krista Segermann

Die Beziehung zwischen Klanggestalt und Schriftgestalt: Störfaktor oderLernhilfe?(veröffentlicht in: Französisch heute 2/2004, S. 184-207)

Grundlegende Probleme der Laut-Schrift-EntsprechungAngst vor InterferenzenKlang- und Schriftgestalt sind zwei mediale Möglichkeiten, in denen sich Sprache realisiert und die inunserer Gesellschaft weitgehend zusammen gehören. Beim Erstleseunterricht lernen die Schüler ihreMuttersprache, die sie bisher nur in ihrer Klanggestalt (weitgehend) beherrschen, erstmalig auch in ih-rer Schriftgestalt kennen. Seit dieser ersten ‘Alphabetisierung’ haben die Schüler sozusagen ihresprachliche Unschuld verloren, und es dürfte ihnen schwerfallen, eine weitere Sprache nur mündlich zulernen. Bei der Konfrontation mit der fremdsprachlichen Schrift werden die in der Muttersprache auto-matisierten Laut-Schrift-Entsprechungen oder Phonem-Graphem-Korrespondenzen ohne weiteres (d.h.wenn dem nicht vorgebeugt wird) auf die Fremdsprache(n) übertragen und führen dann zu den bekann-ten und gefürchteten muttersprachlichen Interferenzen.

Kluft zwischen Lautung und SchreibungDie Schwierigkeiten, denen deutsche Schüler bei der Aussprache und Schreibung der französischenSprache begegnen, liegen nicht eigentlich in dem Laut- oder Buchstabensystem der fremden Sprache,sondern in dem Zuordnungssystem von Lauten und Buchstaben, das sich von dem der Mutterspracheunterscheidet. Im Französischen wird zwischen Lautung und Schreibung - im Vergleich zum Deut-schen - eine relativ große ‘Kluft’ konstatiert. Die Zuordnung gilt als verwirrend und in ihrer Systematikkaum lehrbar. Die bisherigen sprachwissenschaftlichen Systematisierungsversuche, die das Systemvollständig, unter Einschluss aller ‘Ausnahmen’, in sich selbst und ohne Lernbezug zu bestimmtenAusgangssprachen untersucht haben, kann diesen demotivierenden Eindruck nur verstärken118.

Didaktisch brauchbare Zuordnungs-TabelleEine ganz andere Sachlage ergibt sich allerdings, wenn man sich unter didaktischer Perspektive auf diePhonem-Graphem-Korrespondenzen beschränkt, die von deutschsprachigen Französischlernenden neugelernt werden müssen, da sie von den deutschen Gewohnheiten abweichen. Eine weitere Beschrän-kung kann dadurch vorgenommen werden, dass nur die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Zuord-nung zu erfassen sind, und Abweichungen (die sich fast immer auf wenige Beispiele reduzieren119) ge-sondert aufgeführt werden. Außerdem sind grundsätzlich alle Fremdwörter ausgeklammert. Unberück-sichtigt bleiben schließlich auch die Besonderheiten der graphie grammaticale. Unter diesen – ein-schränkenden - Bedingungen ist die im Anhang angefügte Tabelle der Phonem-Graphem-Zuordnungentstanden. Sie dient den Lehrenden zur Orientierung und kann als Richtschnur für einen französischenAnfangsunterricht benutzt werden, der die Doppelrepräsentanz der französischen Sprache in Lautungund Schreibung favorisiert.Gestufte Ebenen der Laut-Schrift-Entsprechung

118 Auch die z.T. unter Berücksichtigung der Lernerperspektive erfolgten Zusammenstellungen von Nina Catach (1973).Que faut-il entendre par système graphique du français? Langue française, H. 20, S. 30-44) und François Wioland(1991).Prononcer les mots du français, Paris: Hachette, sind hier nicht ermutigend.

119 Allerdings können darunter auch hochfrequente Wörter sein.

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Klanggestalt und Schriftgestalt

Die gleichzeitige Realisierung von Klang- und Schriftgestalt vollzieht sich auf drei gestuften Ebenen:auf der Ebene der Phonem-Graphem-Korrespondenzen, auf der Ebene der Wörter und schließlich aufder Ebene der verbundenen Rede (chaîne parlée).120 Diese Ebenen bauen aufeinander auf. Die dritteEbene ist für einen kommunikativen Unterricht eindeutig die wichtigste, doch sind deren Merkmaleohne die beiden vorhergehenden Ebenen weder vermittelbar noch lernbar.

Erprobung in der Praxis des französischen AnfangsunterrichtsIm Folgenden werden detaillierte Vorschläge zu methodischen Verfahrensweisen dargestellt, die seitmehreren Jahren im französischen Anfangsunterricht von Gymnasien und Real- bzw. Regelschulen er-probt werden. Der methodische Umgang mit Klang- und Schriftgestalt steht zwar im größeren Zusam-menhang eines umfassenden Unterrichtskonzepts, lässt sich jedoch ohne weiteres in jeder Art von An-fangsunterricht verwirklichen. Die bisherigen Erfahrungen geben Anlass zu der Vermutung, dass durchdiese Verfahren nicht nur eine Optimierung der Aussprache- und Orthographie-Kompetenz, sonderndarüber hinaus auch positive Auswirkungen auf die kommunikativen Fähigkeiten, insbesondere auf dasHörverstehen, zu erzielen sind.121

Unterrichtliche Verfahrensweisen1. Schritt: Vertraut werden mit dem französischen LautsystemIm Gegensatz zu den Franzosen, die Deutsch lernen, treffen die Deutschen, wenn sie Französisch ler-nen, nur auf wenige unbekannte Laute. So sind z.B. alle vorkommenden Vokale aus der Muttersprachebekannt, und bei den Konsonanten gibt es im wesentlichen nur zwei Laute, die nicht im deutschenLautsystem vorhanden sind. Auch die – neuen – Nasale und Halbvokale müssen nicht zum Problemwerden (s. weiter unten).Es bietet sich daher an, in einem kurzen (höchstens 20-minütigen) Diskriminations- und Artikulations-training die Ohren und Zungen der Lernenden in spielerischer, schwungvoller Weise frei zu machen fürdie neue Sprache und ihnen ein Grundvertrauen in ihre Fähigkeit zu vermitteln, die fremden Laute er-fassen und selbst artikulieren zu können. Diese psychologisch positive Einstimmung kann ganz ent-scheidend für den Lernerfolg sein, da ein nicht zu bewältigender fremder Klang, wenn er dennoch auf-gezwungen wird, als Bedrohung der Persönlichkeit durch Ich-Entfremdung empfunden werden kann –was zu negativen Auswirkungen auf das gesamte Fremdsprachenlernen führen würde.122

Der Lehrer beginnt, indem er jeweils einen bekannten Konsonanten mit einem Vokal verbindet unddiese einsilbige Einheit im Chor nachsprechen lässt.123 Dabei gibt er wie ein Dirigent jeweils den Ein-satz für den Schülerchor, der möglichst laut und unbeschwert ‘nachsingt’. Die Schüler sitzen am bestenohne Tische im Kreis, so dass eine lockere Atmosphäre entsteht, in der das Zusammengehörigkeitsge-fühl der Lerngemeinschaft und die Neugierde auf die vom Lehrer initiierten gemeinsamen Aktionengeweckt werden.Es empfiehlt sich, die Klangeinheiten in einer bestimmten vorher festzulegenden Reihenfolge zu prä-sentieren, z.B. so, dass entweder die Verschlusslaute [b] – [p], [d] – [t], [g] – [k] oder die Reibelaute [v]

120 Bezeichnenderweise ist im Deutschen wie im Französischen der Ausdruck für Sprache im Kontext dem Mündlichen ent-nommen.

121 Weitere Informationen über das Unterrichtskonzept unter www..uni-jena.de/fsu/romanistik. Interessenten können dasausgearbeitete Unterrichtsmaterial und weitere didaktisch-methodische Anregungen per e-mail anfordern ([email protected]).

122 Vgl. hierzu Onwuegbuzie Anthony J. & Bailey, Phillip & Daley, Christine E. (1999). Factors associated with foreignlanguage anxiety, Applied Psycholinguistics 20; 217-239.

123 Das Chorsprechen hat sich hier bewährt, weil es den Lernenden die Möglichkeit bietet, sich je nach Temperament – volltönend oder eher schüchtern – an die fremde Sprache heran zu tasten.

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Klanggestalt und Schriftgestalt

– [f], [z] – [s], [�] - [�], die sog. Liquide [l] und [R] oder die Nasalkonsonanten [m] und [n] mit einemder bekannten Vokale [a], [e], [�], [�], [i]124, [o], [�], [ø], [œ], [u], [y] kombiniert werden. Durch denEinsatz der Konsonanten kann das Gehör für den Unterschied zwischen Stimmhaftigkeit und Stimmlo-sigkeit bei den Verschluss- und Reibelauten geschärft werden125. Es dürfte nicht schwer sein, hier auchden aus eingedeutschten Fremdwörtern wie z.B. „Garage“ bekannten Laut [�] einzuführen. Er kannauch als stimmhaftes Gegenstück zu dem deutschen [�] oder aber als Variante ohne d-Vorschlag desenglischen [d�] verdeutlicht werden Bei dem Vergleich mit dem Englischen ist dann allerdings auchauf das Fehlen des t-Vorschlags bei [t�] hinzuweisen.

Bei den E-, O- und Ö-Lauten kann der Unterschied zwischen offenen und geschlossenen Vokalen er-fahren werden.126 Der E-Laut ist in den drei Varianten [e], [�] und [�] bewusst zu machen, und zwar ambesten in Verbindung mit [R], [l], [m] und [n], d.h. ohne Gegenüberstellung von stimmhaften undstimmlosen Konsonanten, um eine Überforderung der Konzentration zu vermeiden. Auch [o] und [ø]sowie [u] und [y] lassen sich kontrastieren, und zwar am besten so, dass der Lehrer z.B. [so] vorgibtund die Schüler mit [sø] reagieren; desgleichen [du] > [dy] etc.Durch Erweiterung der KV-Silbe um einen Endkonsonanten (KVK) kann bei den O- und Ö-Lautengleichzeitig die unterschiedliche Verteilung geübt werden. In offenen Silben, d.h. wenn die Silbe aufVokal endet, steht im Französischen immer die geschlossene Form (z.B. [bo] oder [pø]); in geschlosse-ner Silbe, d.h. wenn die Silbe auf Konsonant endet, öffnet sich automatisch der Vokal (z.B. [���] oder[pœR]). Auch die offenen O- und Ö-Vokale lassen sich jetzt in Lehrer-Schüler-Variation üben, z.B. [f�l>[fœl], [m�R] >[mœR] etc.

Als weitere französische Eigenheit ergibt sich bei Klangeinheiten wie [pœR], [bœR] und [kœR] dashörbare Aussprechen des [R] als Endkonsonant – was in der deutschen Sprache nicht üblich ist. Ob beiden Verschlusslauten [p], [t], [k] auch schon auf die fehlende Behauchung aufmerk-sam gemacht wird,hängt von der Leistungsstärke der Lerngruppe ab. Da mit diesen Einsilblern viele französische Wörterabzudecken sind, kann man den Lernenden nachher glaubhaft versichern, dass sie nicht nur irgendwel-che Laute nachgesprochen haben, sondern in der Mehrzahl schon vollständige französische Wörterzum Ausdruck gebracht haben.Zum Schluss der Lautübung127 lassen sich noch die neuen Nasalvokale [ã], [õ �] und [��]128 vermitteln, in-dem man von den drei Vokalen [a], [o]129, [�] ausgeht und die Schüler dann den Laut erfahren lässt, derentsteht, wenn man das Zäpfchen ein wenig, aber nicht zu stark (d.h. ohne Gong-Effekt) senkt. DieÜbung beginnt mit der Aufeinanderfolge von Vokal- und Nasaleinheit (z.B. [va] - [vã] etc. oder [bo] -[bõ] etc. oder [p�] - [p��] etc. Danach werden die Nasaleinheiten kontrastiert (z.B. [vã] - [võ] oder [bã] -[b��] oder [fõ] - [f��]. Schließlich kann die Lehrervorgabe wieder von den Schülern variiert werden (z.B.

124 Hier ist unbedingt auf die besondere Klangqualität des französischen [i] hinzuweisen, das ‘heller’ klingt als das deutsche[i], vor allem in bestimmten regionalen deutschen Varianten, in denen das [i] gegen [y] tendiert.

125 Beim Einschätzen der Schwierigkeiten ist den regionalen Aussprachegewohnheiten der Schüler Rechnung zu tragen.126 Dem in sprachwissenschaftlichen Darstellungen zuweilen anzutreffenden Hinweis, dass die Entwicklungstendenz der

französischen Sprache dahin gehe, diese Unterschiede in sog. Archiphonemen zu nivellieren, wird hier bewusst nichtRechnung getragen, da damit ein für die Schriftzuordnung wesentliches Merkmal aufgegeben würde.

127 Von dem früher üblichen und im Zuge der ‘kommunikativen Wende’ dann verpönten Lautierkurs unterscheidet sich die-se Lautübung vor allem durch die psychologische Zielsetzung und die spielerische Art der Durchführung.

128 Die auf [�] und [œ] basierenden Nasale werden gemäß dem derzeitigen Entwicklungsstand nicht mehr differenziert undfallen in dem Nasal [��] zusammen.

129 Beim o-Nasal ist von der geschlossenen, nicht der offenen Form auszugehen, da sonst der Unterschied zwischen a-Nasalund o-Nasal nicht deutlich genug wird.

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Klanggestalt und Schriftgestalt

L: [va] – Sch: [vã] oder L: [fõ] – Sch: [f��]). Erfahrungsgemäß ist damit eine mühelose und korrekteAussprache und Differenzierung des a-Nasals, des o-Nasals und des ä-Nasals130 zu erzielen.Die Halbvokale [w], [] und [j] sowie der allein übrig bleibende Konsonant [] lassen sich besser zu-sammen mit ihrer Verschriftung einführen und kommen deshalb bei der vorgeschalteten Lautübungnicht vor. Das Gleiche gilt für die stimmhaften Auslautkonsonanten [b], [d] und [v]. Es soll noch ein-mal betont werden, dass der Erfolg dieser lautlichen Vorübung vor allem davon abhängt, ob der Leh-rende es versteht, die Lernenden durch Einsatz von Gestik und Rhythmik mitzureißen.

2. Schritt: Mündliche DialogerarbeitungIn der zweiten Hälfte der ersten Stunde und in den folgenden ein bis zwei (oder auch drei) Stundenkann die Motivation der Schüler für den Französischunterricht weiter dadurch gesteigert werden, dasssie nun sofort ihre Fähigkeit erfahren, sich mündlich auf Französisch unterhalten zu können. Gemeintsind die Fragen etwa nach Name, Alter, Wohnort und Nationalität (und entsprechende Antworten dar-auf), die allgemein aus dem französischen Anfangsunterricht bekannt sind: Tu t’appelles comment? - Je m’appelle N.Tu as quel âge? - J’ai douze ans.Tu habites où? - J’habite à X.Tu es français(e)? - Non, je suis allemand(e).

Evtl. lässt sich noch die Kommentierung von Bildern aus dem Fotoalbum anschließen, so dass das reinmündliche Arbeiten auch die folgenden sprachlichen Einheiten umfassen würde:Qui est-ce? - C’est mon père/ma mère/mon frère/ma sœur.Bei der Einführung dieser größeren Klanggebilde ist vor allem darauf zu achten, dass die Lernendenihre durch die lautliche Vorübung erreichte Selbstsicherheit in der Aussprache bewahren und weiterausbauen. Während die Vorübung auf der Ebene der Silbe bzw. des Wortes verbleibt, kommt bei denobigen Äußerungen die chaîne parlée mit den prosodischen Merkmalen des Endakzents (bei Wörtern,im Syntagma und im Satz) sowie Bindung und Elision ins Spiel. Die Bindung von zwei Vokalen in tuas, tu es und tu habites, von Konsonant und Vokal in quel âge, douze ans und habite à sowie die Elisi-on in t’appelles, m’appelle, j’ai und j’habite sollte den Lernenden bewusst gemacht werden, um dendeutschen Knacklaut von Anfang an als unfranzösisch zu kennzeichnen. Selbst die Liaison (in Je suisallemande) kann schon praktiziert werden, freilich ohne große Erklärung. Die Erstbegegnung mit derneuen Melodik geht zunächst ohne die schriftliche Fixierung leichter ins Ohr der Lernenden, auchwenn die Wortgrenzen durchaus im Zuge der Bedeutungserhellung – mündlich - markiert werden.Die in dem vorgeschalteten Diskriminations- und Artikulationstraining gewonnenen lautlichen Kennt-nisse können gefestigt werden, indem man die Klanggestalt der Wörter durch Aufzählen ihrer Lauteverdeutlichen lässt. So enthält z.B. das Wort comment die vier Laute k, offenes o, m und a-Nasal unddas Wort allemande die fünf Laute a, l, m, a-Nasal, d. Der letzte Laut, der stimmhafte Auslautkonso-nant [d] (hier als Genusmarkierung) kann bei dieser Gelegenheit als französische Besonderheit einge-führt werden, da das Deutsche am Ende das [d] zu [t] verhärtet (Beispiel: Bad = [ba:t]). Beim späterenAuftauchen der übrigen weichen Auslautkonsonanten [b] und [v] sollte den Lernenden dann die Chan-ce des eigenständigen Transfers gegeben werden (z.B. bei robe oder sportive). Man kann die Bewusst-machung der unterschiedlichen Behandlung der Endkonsonanten jedoch auch erst bei der Verschrif-tungsphase (s. 3. Schritt) vornehmen.Der einzige ungewohnte Laut in diesem ersten Dialog ist das [] in suis. Betrachtet man diesen Halbvo-kal als Variante des Vokals [y] - was in sprachwissenschaftlichen Darstellungen durchaus geschieht -130 Diese Art der Benennung der Nasale nach den Ausgangsvokalen fördert die bewusste Aussprache und verhindert ein un-

differenziertes nasales Geräusch.

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Klanggestalt und Schriftgestalt

so lässt sich die Aussprache von suis dahingegend vereinfachen, dass das Wort als Abfolge von [syi]artikuliert wird, wobei das [i] allerdings so schnell an das [y] anzubinden ist, dass dieses kaum richtigartikuliert, sondern eher gedacht wird und als mentale Vorstellung lediglich die Lippenstellung beein-flusst. (Siehe dazu und zu den weiteren Halbvokalen weiter unten.)

3. Schritt: Einführung in die VerschriftungsstrategienNach zwei bis drei Stunden mündlichen Unterrichts – die Dauer hängt u.a auch von der Gedächtniska-pazität der Lerngruppe ab – erfolgt die Einführung der Schrift, und zwar als Verschriftung des bishermündlich Erarbeiteten. Die Lernenden erwerben damit gleichzeitig Strategien, die sie in die Lage ver-setzen, künftig bei der Neueinführung die mündlichen Spracheinheiten eigenständig zu verschriften,d.h. den bewusst wahrgenommenen Lauten/ Lautkombinationen die entsprechenden Buchstaben/ Buch-stabenkombinationen zuzuordnen, und zwar gemäß den Gesetzmäßigkeiten des französischen Zuord-nungssystems. Hier kommt es darauf an, dass die Lernenden dieses Zuordnungssystems in seiner Ei-genständigkeit und Andersartigkeit als lohnende Lernaufgabe annehmen.131 Die Ersteinführung geschieht so, dass - im Falle der o.g. Beispieldialoge - die jeweils typischen Pho-nem-Graphem-Korrespondenzen genannt werden, also: [y] in tu wird als |u| geschrieben; [k] in com-ment wird als |c| geschrieben; der a-Nasal in comment wird als |en| geschrieben; das [k] in quel wird als|qu| geschrieben; das [�] in âge wird als |ge| geschrieben; das [u] in où wird als |ou| geschrieben; der a-Nasal in français(e) wird als |an| geschrieben, das scharfe s als [ç]. Der o-Nasal in non wird als |on| ge-schrieben und der a-Nasal in allemand(e) wird wiederum als |an| geschrieben. Bei der Verschriftungder Nasale ist darauf aufmerksam zu machen, dass der Buchstabe |n| nur ein Zeichen für den Nasal istund niemals mitgesprochen wird. Die Verschriftung der übrigen Laute kann von der Lerngruppe selb-ständig geleistet werden, da sie aus der deutschen Sprache bekannt ist. Einzig der accent grave auf demoù sowie die Verdoppelungen und die zusätzlichen, nicht hörbaren Buchstaben an den Wortenden oderauch in der Mitte (all[e]mand) müssen als (noch) nicht vorhersehbar hingenommen werden – was er-fahrungsgemäß durch einfache Erklärungen dieser meist grammatischen Phänomene auch gelingt.In den folgenden Stunden werden die Lernenden dann jeweils sofort nach der mündlichen Erarbeitungeiner Sinneinheit zur selbständigen Verschriftung aufgefordert, die sie soweit zu leisten versuchen, wieihre bisherigen Kenntnisse der Phonem-Graphem-Korrespondenzen reichen, während die fehlendenEntsprechungen ihnen nach und nach geliefert werden. Da – wie die Tabelle zeigt – den meisten Pho-nemen mehrere Grapheme/ Graphemkombinationen zuzuordnen sind, ist zwischen systemkonformenund nicht konformen Mutmaßungen zu unterscheiden. Auch wenn es also oft keine Eins-zu-Eins-Ent-sprechung gibt, kann bei den Lernenden doch allmählich der Eindruck eines durchschaubaren Zuord-nungssystems entstehen, dessen Gesetzmäßigkeiten sie selbst entdecken können. Indem sie sich bei je-der selbständigen Verschriftungstätigkeit immer wieder die Zuordnungs-Regeln bewusst machen, wer-den diese allmählich internalisiert und das Zuordnungssystem damit automatisiert. Dazu ist – bei ent-sprechend konsequentem Vorgehen seitens des Lehrenden - ein Zeitraum von ca. einem Lernjahr aus-reichend.132

Während dieser Zeit entsteht außerdem – in einem weiteren, der Systematisierung gewidmeten Unter-richtsschritt - eine von den Lernenden selbst angefertigte Zusammenstellung von Laut-Schrift-Zuord-nungen, die sich – bei individueller graphischer Gestaltung durch die Lerngruppe - im wesentlichen ander Tabelle im Anhang orientiert. Sobald für eine typische Phonem-Graphem-Korrespondenz genügendWörter eingeführt sind, nehmen die Lernenden eine entsprechende Systematisierung vor, d.h. sie stel-

131 Sobald die Schüler merken, dass sie auf diese Weise eine sehr viel größere Lernautonomie und Sicherheit gewinnen,stellen sie sich dieser offenbar als Ansporn empfundenen Aufgabe mit erstaunlichem Engagement.

132 Die bisherigen Erfahrungen mit dem Unterrichtskonzept haben überwiegend gezeigt, dass die Schüler an dieser selbstän-digen Art des Schreibens von Anfang an Gefallen finden.

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Klanggestalt und Schriftgestalt

len bekannte Wörter (oder auch Syntagmen133) mit einem bestimmten Laut bzw. einer bestimmtenLautkombination zusammen, die einem bestimmten Graphem bzw. einer Graphemkombination ent-sprechen. Sie schreiben also z.B. unter a-Nasal [ã] alle Wörter untereinander, die diesen Nasal mit |an|verschriften: français(e), allemand(e), grand(e), ans, tante usw. Später folgt die Verschriftung mit |en|:comment, parents, en, préférences usw. Die Zusammenstellung der Wörter kann am Anfang in der Rei-henfolge ihres Auftretens erfolgen. Günstiger ist allerdings eine Anordnung nach Wörtern, die die glei-che Graphem-Umgebung aufweisen, da sich durch die wiederholte Schreibung Wortteile oder ganzeWortbilder einprägen. Dies kann den Verschriftungsprozess beschleunigen, so dass nicht mehr nur auf-grund von isolierender Phonem-Graphem-Zuordnung geschrieben wird, sondern auch aufgrund derÄhnlichkeit von ganzheitlich wahrgenommenen Wortbildern. Damit ist dann die zweite Ebene (s.o.)der Laut-Schrift-Zuordnung erreicht.

Die Zuordnungstabelle als OrientierungshilfeAusgang von den PhonemenDie Zuordnungstabelle134 geht von den Phonemen aus und ordnet ihnen die jeweiligen Grapheme bzw.Graphemkombinationen zu.135 Die Phonem-Graphem-Zuordnung gibt im übrigen nicht nur Auskunftdarüber, wie ein bestimmter Laut verschriftet werden kann, sondern ermöglicht in ihrer Gesamtheitauch eine Vergewisserung der Aussprache, die ja - im Gegensatz zur Schreibung – immer eindeutig be-stimmbar ist. Zur Erläuterung der Tabelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass nur die französischen Laute auf-geführt werden, deren Verschriftung neu gelernt werden muss, da sie vom Deutschen abweicht. Laute,denen im Deutschen die gleichen Buchstaben entsprechen (wie z.B. der Vokal [a]136 oder die Konso-nanten [f] [l] [m] [n] [p] [t] sowie die stimmhaften Konsonanten [b] [d] [v] im Anlaut und Inlaut kom-men demnach nicht vor. Dagegen finden letztere sich im Auslaut, wo die Verschriftung durch das an-gehängte, aber nicht gesprochene |e| für die Lernenden eine Hilfe bedeutet, wenn es entsprechend be-wusst gemacht wird. Das [R] ist ebenfalls nur mit Einschränkung aufgenommen, und zwar im Auslautund vor Konsonant, da es im Deutschen in diesen Stellungen nicht artikuliert wird. Der stimmlose undder stimmhafte s-Laut sind ausführlich behandelt, da ihre Unterscheidung vor allem in bestimmtendeutschen Regionen große Schwierigkeiten bereitet. Von den Vokalen sind – mit Ausnahme des [a] -alle aufgenommen, da ihre Verschriftung nicht immer der im Deutschen üblichen entspricht.Die Anzahl der Graphem-Spalten, die jedem Phonem zugeordnet sind, spiegelt nicht unbedingt dieVielfalt der Zuordnungsmöglichkeiten wider. Vielmehr lässt sich die vermeintliche Komplexität da-durch auf ein durchaus überschaubares Maß reduzieren, dass zwischen Anlaut, Inlaut und Auslaut un-terschieden und die jeweilige Phonem- bzw. Graphem-Umgebung berücksichtigt wird.

Verschriftung der Laute [g], [k] und [����]

Auch für die auf den ersten Blick recht verwirrende Verschriftung der Laute [g], [k] und [�] gibt es er-lernbare Regeln. Sie hängen – aus historischen Gründen – gemeinromanisch mit der Unterscheidungvon dunklen und hellen Vokalen zusammen.137 Doch ist im Französischen besser von einer Unterschei-

133 Oft sind Syntagmen besser im Gedächtnis der Schüler verankert.134 Die Ausfüllung der Tabelle beruht weitgehend auf den Wörtern, die von den Schülern in den Projektklassen gewünscht

und gelernt wurden.135 Diese Anordnung ist weit übersichtlicher als umgekehrt eine Graphem-Phonem-Zuordnung. Vgl. z.B. den Versuch einer

Sytematisierung nach Graphemen bei Wioland, S. 97-115. 136 Das dunkle [�] entfällt gemäß dem derzeitigen Entwicklungsstand der französischen Sprache.137 Für Lernende, die schon eine romanische Sprache beherrschen, sollte auf diese durchgängige Eigenheit verwiesen wer-

den.

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Klanggestalt und Schriftgestalt

dung der Grapheme auszugehen. Der Laut [g] wird nur dann als |g| geschrieben, wenn ihm ein Konso-nant oder die Grapheme |a|, |o|, |u| bzw. die Graphemkombinationen |au|, |ai|, |ou| oder |ou| folgen, sozu-sagen unabhängig von der Vokalqualität. Nur so wird z.B. erklärlich, dass vor dem ä-Nasal in gain ein[g] artikuliert wird, in geindre dagegen ein [�]. Folgerichtig muss vor den Graphemen |e, i, y|138 ein –stumm bleibendes – |u| eingeschoben werden, wenn das |g| als [g] ausgesprochen werden soll. DasGleiche trifft auch auf das auslautende [g] zu, das immer als |gue| geschrieben wird. Dass das Graphem|x| im Unterschied zum Deutschen vor Vokal weich gesprochen wird, also [gz], darf in der Aufstellungnicht fehlen. Zum Vergleich ist dann auch bei der Verschriftung des k-Lautes die harte Variante [ks]als |x| vor Konsonant in die Tabelle aufgenommen.Dem Laut [k] als stimmlosem Pendant zu [g] entspricht das Graphem |c| ebenfalls nur vor Konsonantund vor den Graphemen |a, o, u| und den mit ihnen beginnenden Graphem-kombinationen. Ein zweitesmögliches Graphem für [k] ist |qu|, das in seiner Kombination mit Vokalen und Nasalen keinerlei Be-schränkung unterliegt. Seine Verwendung erklärt sich aus etymologischen Gründen.139 (Das Graphem |ç| als Entsprechung für das scharfe s vor |a,o,u| ist unter dem Phonem [s] aufgenommen.)Bei dem Laut [�] ist die Graphementsprechung |j| durchgängig möglich. Daneben steht noch das Gra-phem |g| zur Verfügung, aber nur zusammen mit den Graphemen |e, i, y| bzw. den damit beginnendenGraphemkombinationen. Für das auslautende [�] kommt nur die Graphemkombi-nation |ge| in Frage.

Die französischen HalbvokaleBei den französischen Halbvokalen sind – gegenüber der offiziellen phonetischen Umschrift – einigeLernerleichterungen angebracht. Das [w] ist den deutschen Lernenden entweder aus dem vorangegan-genen Englischunterricht bekannt, oder es muss als Variante des deutschen [v] neu gelernt werden. Indie Tabelle wurde es nur in der speziellen Verbindung [w�] und [wa] mit den entsprechenden Gra-phemkombinationen |oin| bzw. |oi| aufgenommen. Es empfiehlt sich, die Aussprache dieser auf den ers-ten Blick schwierigen Verbindungen (z.B. in moins oder toi) dadurch zu üben, dass zunächst die einfa-che Lautkombination [w� bzw. [wa] artikuliert wird und dann der entsprechende Konsonant (oder auchmehrere) davor gesetzt wird: [mw��] bzw. [twa] oder auch [tRwa]. Bei den übrigen Kombinationen mitVokal oder Nasal, bei denen die phonetische Umschrift das Zeichen [w] verwendet (z.B. bei louer >[lwe] oder louange [lwã�] ist es im Sinne einer didaktischen Vereinfachung durchaus gerechtfertigt,das Graphem |ou| als [u], also in seiner Vokalqualität, realisieren zu lassen - freilich ohne den Vokalwirklich auszusprechen, sondern mehr in der Vorstellung, so dass die entsprechende Lippenstellungeingenommen und eine schnelle Verbindung von [ue] bzw. [ua] vollzogen wird. Die gleiche didakti-sche Vereinfachung erfährt auch der – weiter oben schon erwähnte – Halbvokal [] in seiner Verbin-dung mit [i], der als Vokal [y] ‘mental’ realisiert wird140 und deshalb nicht eigens in der Tabelle er-scheint. Der manchmal recht schwer zu vermittelnde Unterschied zwischen Louis und lui kann durchden Hinweis auf die bewusste Vorstellung der unterschiedlichen Vokale [u] und [y] leichter realisiertwerden. Nicht nur vorgestellt, sondern deutlich ausgesprochen werden [u] und [y] vor Vokal dagegen,wenn ihnen eine Konsonantenkombination mit [l] oder [R] vorausgeht, wie z.B. in éblouissant oderbrouette bzw. in cruel oder influence. Diese Fälle tauchen daher in der Tabelle unter [u] und [y] auf.Der dritte Halbvokal, das [j], ist den deutschen Lernenden als Konsonant vertraut. Neu zu lernen ist,dass dieser Laut im Französischen zum einen nur als Endlaut in der Vokal-Verbindung [ij], [�j], [aj]

138 Dass das Graphem |y| im Gegensatz zum Deutschen im Französischen dem Laut [i] entspricht, sollte den Lernendenmöglichst frühzeitig bewusst gemacht werden. Es muss deshalb auch einen Platz in der Tabelle erhalten.

139 Historische und etymologische Erklärungen sind allerdings nicht in jeder Lerngruppe gleichermaßen fruchtbar.140 Vgl. hierzu auch Fritz Abel (1982). Vorschlag eines Abschlussprofils 'Aussprache' für den Französischunterricht an

Deutschsprachige, Die Neueren Sprachen, S. 289-304.

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Klanggestalt und Schriftgestalt

und [œj] vorkommt, zum anderen zwischen Konsonant und Vokal oder Nasal, wo also kein [i], sondernnur ein [j] artikuliert wird (z.B. in mariage >[marja�] oder chien > [�j��]. Bei einer vorausgehendenKonsonantenkombination mit [l] oder [R] wird das [i] allerdings – wie bei den beiden anderen Halbvo-kalen – wiederum artikuliert, wie z.B. in ouvrier und oublier (s. Tabelle unter [ij]). Als letzter unbekannter Laut des französischen Lautsystems bleibt das [], das – didaktisch vereinfacht– als Kombination der beiden vertrauten Phoneme [nj] realisiert werden kann. Bei der Zuordnung desGraphems |gn| müssen die Lernenden sich der Positionsänderung des |n| (das an die zweite Stelle rückt)bewusst werden (z.B. Allemagne)

Hörbarkeit der EndkonsonantenDie Gesetzmäßigkeiten, nach denen die Endkonsonanten ausgesprochen werden oder nicht, sind aus inder Tabelle nicht vollständig ersichtlich. Es könnte deshalb eine weitere systematische Übersicht - un-ter aktiver Beteiligung der Lernenden - zusammengestellt werden. Allerdings kommt man hier nichtohne Ausnahmen aus, die jedoch am besten erst bei ihrem Auftauchen als solche benannt werden.Die Grapheme |d, t, p, s, x, z , g| sowie die Kombination |ct| sind gewöhnlich stumm, es sei denn, esfolgt ihnen ein |e|. Aufgrund dieses |e| werden sie hörbar:

Endkonsonant stumm Endkonsonant hörbar-d grand, tard, bond, fond, prend

Ausnahme: sud-de grande, limonade, Hollande, Inde

-t mot, salut, déodorant, aéroport, élément,vent, il faut

-te route, porte, tête, fête, vente, faute

-p coup, trop -pe coupe, troupe -s mis, jus, dans, autrefois, français,

après, très, dos, nos, repos, dehors,poidsAusnahmen: sens, fils

-se mise, française, chaise, pause, je me repose,chose, grosse

-x prix, choix, deux keine Schreibung mit –xe-z nez, assez, chez -ze gaze, onze-g rang, long -ge mange, auberge, longue, collègue141

-ct instinct, suspect, aspect, respect, exactAusnahme: contact, direct, correct

-cte exacte, suspecte

Das Graphem |l| wird am Ende – wie im Deutschen – in der Regel ausgesprochen (z.B. bol, sol, mal,filleul, seul, civil, avril). Es gibt allerdings einige Ausnahmen. So enden gentil, outil, fusil auf [i], culauf [y]. Das |f| wird ebenfalls in der Regel ausgesprochen (z.B. veuf, neuf, chef, actif, œuf). Ausnahmensind hier die Pluralformen: œufs, bœufs. Bei dem Endkonsonanten |c| wird das [k] in den meisten Fällenausgesprochen (s. Tabelle). Das Verstummen in tabac und blanc ist eher als Ausnahme anzusehen.Dass die Nasalierung aufgrund eines den Graphemen |n| oder |m| folgenden End-e oder durch einen an-deren inlautenden Vokal aufgehoben wird, muss gesondert bewusst gemacht werden. Die Verdoppe-lung von |n| oder |m| ist für die Entnasalierung dagegen nicht so entscheidend.

-n ton, vent, copain, bon -ne bonne, téléphone, semaine, peine, copine-m nom -me somme, commen+Kons interculturel, ancien, impossible n+Vok inégal, animé, immortel

«Graphie grammaticale»

141 Zu der unterschiedlichen lautlichen Realisierung als [g] oder [�] vgl. die Tabelle.

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Klanggestalt und Schriftgestalt

Die nur in der Schreibung erscheinenden grammatischen Suffixe vor allem zur Numerus-, Genus-, Per-son- und Tempusmarkierung stellt für die Aussprache keine besonderen Probleme dar, da die eben ge-nannten Regeln und ihre Erweiterung (s. unten) auch hier gelten, so z.B. das Verstummen der Plural-markierung mit |-s| und |-x| oder die Hörbarkeit des Endkonsonanten bei den weiblichen Adjektiven.Als Besonderheiten bleiben die Endung |ent| der 3. Person Plural, die nicht nasaliert wird, und die Infi-nitivendung auf |er|, die als [e] gesprochen wird.

Klang- und Schriftgestalt auf der Ebene der verbundenen Rede (chaîne parlée)Da Sprache als Medium der zwischenmenschlichen Kommunikation sich auf der formalen Seite wederin isolierten Phonemen/Graphemen noch in isolierten Wörtern vollzieht, sondern in größeren lexiko-grammatischen Einheiten, denen – auf der Inhaltsseite - ein umfassenderes, kontextuell geprägtes Sinn-konzept entspricht, sind den Lernenden auch auf dieser höheren dritten Ebene die Gesetzmäßigkeitender Laut-Schrift-Zuordnung bewusst zu machen. Das Hinausgehen über die Ebene der Wörter ist imFranzösischen vor allem deshalb wichtig, weil die gesprochenen Silben die Wortgrenzen überschreiten.Ein Unterricht, der diese Tatsache vernachlässigt, riskiert nicht nur eine allgemein unfranzösische Aus-sprache der Schüler, sondern erschwert ihnen auch den Zugang zum Hörverstehen. Die als prosodisch oder auch suprasegmental eingeordneten Phänomene gelten als nicht leicht vermit-telbar. Doch auch hier liegt die Schwierigkeit nicht so sehr in der Sache als vielmehr in dem Mangel anmethodischen Verfahrensweisen, die geeignet sind, die Lernenden ohne große Probleme an die inKlang- und Schriftgestalt unterschiedlichen Realisierungsformen von Sprache im Kontext heran zuführen. Diesen Unterschied gilt es gerade bewusst zu machen, und zwar 1. von Anfang an, 2. in direk-ter Gegenüberstellung und 3. im aktiven, selbsttätigen Vollzug des artikulierenden (oder auch nur men-talen) kontextuellen Sprechens und des grapho-motorischen (oder auch nur mentalen) kontextuellenSchreibens.

«Unité rythmique» und «unité de sens»Als Einheit, die der Bewusstmachung der Klang- und Schriftgestalt in der verbundenen Rede (chaîneparlée) zugrunde zu legen ist, steht die unité rythmique142 zur Verfügung. Deren Identifizierung ge-schieht durch Rückgriff auf die Inhaltsseite, denn die Klangeinheit fällt – gemäß dem Wesen der Spra-che als Ausdruck von Inhalt – stets mit einer Sinneinheit (unité de sens) zusammen.143 Da die kommu-nikativen Lerneinheiten, mit denen die Lernenden am Anfang konfrontiert werden, meist aus einer ein-zigen unité rythmique bestehen, bietet es sich an, ihnen diese Einheiten sowohl in ihrer mündlichen alsauch in ihrer schriftlichen Struktur bewusst zu machen. So besteht z.B. die kommunikative LerneinheitJ’ai douze ans in schriftlicher Perspektive aus vier, durch Leerstellen markierten Wörtern, in mündli-cher Perspektive jedoch aus folgenden drei Silben: [Je/du/zã]. Die Lerneinheit J’habite à Iéna bestehtebenfalls aus vier Wörtern, aber aus fünf Silben: [Ja/bi/ta/je/na]. Um eine auf der silbischen Artikulati-on beruhende korrekte kontextuelle Aussprache zu erreichen, muss der Lehrende sozusagen die Wörterals solche auflösen, um den Lernenden die ganz anders geartete Segmentierung deutlich zu machen; inden beiden Beispielen also etwa: J’ai/ dou/ zeans bzw. J’ha/ bi/teà/ Ié/ na. Bei der Gegenüberstellungvon mündlicher und schriftlicher Realisierung wird die für das Französische charakteristische, dieWortgrenzen überschreitende Bindung deutlich, während im Deutschen die Wortgrenzen durch denKehlkopfverschlusslaut, den sog. Knacklaut, markiert werden.

142 Der Terminus mot phonétique scheint hier wenig hilfreich, da er gerade das so notwendige Hinausblicken über die Wort-grenzen verhindert.

143 Vgl. hierzu vor allem Wioland.

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Klanggestalt und Schriftgestalt

Realisierung der DoppelrepräsentanzIm Fortgang des Unterrichts kann die Doppelrepräsentanz der Sprache in ihrer Klang- und Schriftge-stalt dadurch realisiert werden, dass die Schüler zunächst die vom Lehrer vorgesprochenen unités ryth-miques ins Ohr aufnehmen und anschließend bei der selbständigen Verschriftlichung144 alle bisherigenKenntnisse bezüglich der Laut-Schrift-Zuordnung sowohl auf der Phonem-Graphem-Ebene als auchauf der Wortebene aktivieren. Außerdem richten sie ihr Augenmerk zusätzlich auf die Entsprechungvon Lautgestalt und Schriftgestalt der kommunikativen Lerneinheit. Beim Thema «Mon école» könntez.B. die Frage auftauchen, die mündlich so klingt: [kã/t�s/k�/le/kuR//k�/mãs] und die verschriftet wirdals: Quand est-ce que les cours commencent? Beim (individuellen) Aufschreiben haben die Schüler dieKlanggestalt ‘im Ohr’ und aktivieren sie entweder durch leises Sprechen oder auch nur mental; nachdem Aufschreiben sollten sie aufgefordert werden, sich die Schriftgestalt noch einmal vorzustellen(mentales Schriftbild), während sie die Äußerung (für sich halblaut) sprechen. Wenn der ‘Film des Ge-schriebenen’, der dann an ihrem geistigen Auge vorüberzieht, noch irgendwo sozusagen ‘nicht lesbar’ist, schreiben die Schüler genau diese Schwachstellen noch einmal (oder auch mehrmals) auf, um sichdie Schriftgestalt dauerhaft einzuprägen. Die Schwachstellen betreffen nun nicht mehr nur Wörter, son-dern oft die typischen Syntagmen der verbundenen Rede (z.B. c’est, qu’est-ce que, j’ai, j’habite, jejoue).145

Mündliche Silbenstruktur und «e muet», Enchaînement, Liaison, ElisionBei der Gegenüberstellung von Klang- und Schriftgestalt werden dann nach und nach sowohl die Bin-dungs- und Elisionsphänomene als auch der Umgang mit dem [´] bewusst gemacht. Dies ist unumgäng-lich, um die spezifisch mündliche französische Silbenstruktur zu erkennen, die für eine korrekte Aus-sprache entscheidend ist. Um sich mit dem Rhythmus der französischen Sprache vertraut zu machenund nicht allein auf das ‘Erfühlen’ bzw. ‘Erhören‘ angewiesen zu sein, kann das Wissen um einige wei-tere charakteristische Merkmale der Prosodie hilfreich sein. Dazu gehört einmal, dass die Anzahl derSilben in einer unité rythmique (die im übrigen durch eine Sprechpause markiert ist) möglichst gleichgehalten wird146, zum anderen, dass die einzelnen rhythmischen Einheiten innerhalb einer Sequenz,wenn sie denn eine ungleiche Silbenzahl aufweisen, möglichst die gleiche Sprechzeit in Anspruch neh-men, d.h. Einheiten mit kleinerer Silbenzahl werden länger gesprochen, Einheiten mit größerer Silben-zahl kürzer (Beispiele: V[e]nez/et vous verrez > 1/4; Les invités/dansent > 4/1).147

Bei der Regulierung der Silbenzahl spielt der Umgang mit dem [�] eine entscheidende Rolle. Hier istzunächst noch einmal daran zu erinnern, dass das Graphem |e| – im Gegensatz zum Deutschen - nur als[�] und nicht etwa als [e] realisiert werden darf (s. Tabelle). Sodann kann daran angeknüpft werden,dass das |e| am Ende den vorhergehenden Konsonanten (insbesondere |d, t, p, s, x, z, g|) hörbar macht,selbst aber stumm bleibt. Dieses Wissen ist nun nach und nach auf weitere Fälle zu erweitern. Alsnächstes wäre zu klären, dass – diesmal auch auf der Wortebene - das |e| am Ende grundsätzlich nichtgesprochen wird, weder nach Konsonant noch nach Vokal, also weder in Seine oder vaisselle noch inpatrie oder rue. Das betrifft auch die graphie grammaticale in je joue, ils jouent (Verb-Endung) oder inpoupée, vraie, lavée (Substantiv-, Adjektiv-, Partizip-Endung als Genusmarkierung). Doch auch inner-halb der Wörter ist ein eingeschobenes |e| stumm, z.B. in allemand, abonnement, paiement.

144 Diese Eigenaktivität muss so weit wie möglich gefordert und gefördert werden.145 Eine solche mentale Übung hat sich nach unseren Erfahrungen außerordentlich bewährt.146 Eine Einheit (die ja per definitionem keine Sprechpause erlaubt) mit mehr als vier Silben gilt als schwer aussprechbar.

Das Bemühen der französischen Sprache um kurze Einheiten erklärt Wioland wie folgt: «(...) une communication efficacese doit d’arriver au sens le plus rapidement possible en utilisant un minimum de syllabes par unité significative.» (S. 35).

147 Vgl. zum équilibre temporel Wioland, von dem auch die Beispiele stammen (S. 37-39).

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Auf der kontextuellen Ebene gibt es einen einzigen Fall, nämlich den der Elision, wo das |e| auch in derGraphie schon wegfällt. Vielleicht ist es sinnvoll, das Phänomen der Ersetzung des |e| durch ein Apo-stroph vor nachfolgendem Vokal (c’est bien, j’habite, je m’appelle, pas d’espoir) in diesen Zusammen-hang zu stellen. Die Tatsache, dass auch das |i| in s’il und das |a| in je l’ai connue apostrophiert wird,kann hier als Besonderheit erwähnt werden.148

Der häufigste, in der Graphie nicht sichtbare und für die Bestimmung der Silbenstruktur der unitésrythmiques wesentliche Wegfall des [�] ist wohl beim männlichen Artikel le, bei den Pronomina je, me,te, se, ce, bei que als Pronomen und Konjunktion, bei der Verneinungspartikel ne und bei der Präpositi-on de zu beobachten. Bei den Präfixen |de-| und |re-| wird das |e| ebenfalls meist nicht gesprochen, z.B.in je d(e)mande, d(e)essous, d(e)vine und in au r(e)voir, je r(e)garde, vous r(e)tournez. Während bei |de-| das [d] zu dem folgenden Konsonanten gezogen wird (also [��/dmãd]), wird bei |re-| das [R] an dasvorhergehende Wort angehängt (also [oR/waR], [��R/gard]. Dieses Phänomen, dass der Anfangskon-sonant zum Endkonsonanten der vorhergehenden Silbe wird, zeigt das Ausmaß der ‘Respektlosigkeit’des mündlichen Französisch gegenüber den Wortgrenzen.Die Fälle, in denen das [�] ausgesprochen wird, lassen sich – auf das Wesentliche reduziert - wie folgtzusammenfassen:- wenn drei Konsonanten aufeinander folgen (loi des trois consonnes), (Beispiele: appartement,

un(e) fenêtre).- vor dem als Konsonant zählenden sog. h-aspiré (Beispiele: dehors, une haie).- um bei zwei aufeinander folgenden Wörtern zwei identische Konsonanten zu trennen (Beipiele: je

joue, ce soir).- am Ende einer unité rythmique (Beipiele: prends-le, sur ce).- im ersten von zwei Wörtern mit [´] am Anfang einer unité rythmique (Beipiele: ne l(e) dis pas, ne

m(e) quitte pas, je n(e) l’ai pas).Wichtig ist hier zu bemerken, dass der richtige Umgang mit dem [�] nichts damit zu tun hat, wieschnell (bzw. nachlässig) man spricht, sondern dass die genannten Gesetzmäßigkeiten der Norm dergehobenen (nicht nur der familiären) Umgangssprache entsprechen, die für den Französischunterrichtin deutschen Schulen als gültig anzusehen ist.149

Das Gleiche gilt auch für das sog. «Enchaînement», die vokalische und konsonantische Bindungzur Vermeidung des ‘Knacklauts’ (vgl. S. 4), die ein unumgängliches Merkmal einer korrektenAussprache darstellt. Wenn die Lernenden von Anfang an in ihrer eigenen Aussprache daran ge-wöhnt werden, dass man im mündlichen Französisch die Wortgrenzen nicht heraus hört (sondernden Sinn mit Hilfe der Segmentierung in unités rythmiques = unités de sens heraus findet, dannwerden sie auch beim Hörverstehen des französischen O-Tons sehr viel weniger Schwierigkeitenhaben.Freilich gehört dazu auch noch die Meisterung der als Liaison bezeichneten Bindung, bei der einsonst stummer Konsonant hörbar wird. Doch auch hierfür gibt es einige lernbare Grundregeln, dieman nach und nach einführen kann:

1. Die sonst stummen Endkonsonanten |s, x, z | werden als [z] hörbar (Beispiele: les faux amis, allez-y) - die Endkonsonanten |d, t| werden beide als [t] hörbar (Beispiele: quand est-ce que, le grandespoir, tout éveillé ) - die Endkonsonanten |n, r, p| werden als [n], [R], [p] hörbar (Beispiele: en at-tendant , au dernier étage, trop engagé)

2. Grundsätzlich kann nur innerhalb einer unité rythmique gebunden werden, niemals zwischen zweiEinheiten.

148 Die Apostrophierung von tu as zu t’as gehört allerdings in das Register des français familier und daher wohl kaum inden Unterricht.

149 Das Drei-Konsonanten-Gesetz sollte im Schulunterricht auch dort angewendet werden, wo die familiäre Umgangsspra-che die Silbenzahl trotz der Aufeinanderfolge der Konsonanten noch weiter zu verringern strebt.

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3. Deshalb beschränkt sich die Liaison auch auf Wörter, die vom Sinn her zusammengehören:4. Determinanten und Substantive/Adjektive/Pronomen (Beispiele: les hommes, un avis, mes yeux, les

anciens modèles, trois ans, quelles idées),-Pronomen und Verben/Pronomen (Beispiele: nous aimons, on attend, vous y allez, on en veut plus),-Adjektive und Substantive (Beispiele: un grand ennui, au dernier étage),-Einsilbige Adverbien und Adjektive/Partizipien (Beispiele: très irrité, tout ouvert),-Einsilbige Präpositionen und Determinanten/Substantive/Pronomen (Beispiele: dans une heure, auxEtats Unis, sans elle),-Verben und Pronomen mit Bindestrich (Beispiele: vas-y, dit-il, prends-en),-Alle Formen von être und Adjektive/Partizipien (Beispiele: je suis allemand, il est allé, nous sommesémus).5. Von den ‘fixierten Wortgefügen’ (groupes figés) sollten die häufigsten gelernt werden: De temps

en temps – De plus en plus – De moins en moins – De mieux en mieux - Les Etats-Unis - LesChamps Elysées – Comment allez-vous? – Tout à fait – A tout à l’heure - Tout à coup - Avant-hier– Petit à petit – Vis-à-vis – Pas à pas - Mot à mot – Nuit et jour - Sous-entendu (Hier sind es wieder[t], [s] und [z], die als Bindungskonsonant fungieren.)Im Zusammenhang mit den Bindungsphänomenen ist auch die Veränderung der Lautqualität inner-halb der chaîne parlée zu erwähnen. Die Frage ist hier allerdings, wie weit die Schülerausssprachedie tatsächliche Sprachentwicklung abbilden soll. Zweifelsfrei ist wohl die Assimilierung des |d| inder Präposition de (die selbst keinen Silbenwert hat). Das bedeutet, dass das |d| stimmlos gespro-chen wird, wenn die nächste Silbe mit einem stimmlosen Konsonant beginnt. Das [t] wird dann ent-weder an die vorhergehende Silbe angehängt (un peu de café > [��/pøt/ka/fe], beaucoup de problè-mes > [bo/kut/pr�/bl�m]) oder es steht zu Beginn der nächsten Silbe (pas de chat > [pa/t�a], un jusde citron > [��/�y/tsi/tRõ]). Die Entsonorisierung in je peux > [�pø] ist eher als Grenzfall einzustu-fen.150 Die Veränderung von [e] zu [E] in le premier avril oder le premier homme, die auf das ange-bunde[R] zurückgeht, sollte nicht verschwiegen werden. Ebenso muss auf die durch das Enchaîne-ment bewirkte Sonorisierung von [f] zu [v] und von [s] zu [z] z.B. in dix-neuf ans > [diz/nœ/vã]hingewiesen werden.151

Akzent und IntonationIm Unterschied zum Deutschen kann der accent rythmique im Sinne der Betonung nicht auf ver-schiedenen Satzteilen liegen. Er fällt im Französischen immer auf das Ende. Dass dies nicht nur fürdas Wort gilt, sondern vor allem auch für die chaîne parlée, ist den Lernenden frühzeitig bewusstzu machen.152 Voraussetzung für die richtige französische Betonung ist, dass die Lernenden dasSegmentieren in unités rythmiques beherrschen, denn der Akzent kann in der verbundenen Redeimmer nur auf dem Endvokal einer solchen Einheit liegen. Je mehr Silben eine Einheit umfasst, jelänger muss der Sprecher mit der Betonung warten. So ergibt sich ein Hinausschieben der Beto-nung und gleichzeitig eine Beschleunigung der Sprechzeit (débit) von der einsilbigen bis zur mehr-silbigen Einheit : Oui (1) > Bonjour (2) > Je n’ai plus de thé (3) > C’est impossible (4) > Noussommes invités (5) > Seulement pendant les cours (6).Besteht die Äußerung aus mehreren Einheiten, so rückt der Hauptakzent an das Ende der gesamtenÄußerung, während die einzelnen Einheiten am Ende höchstens noch einen kleinen Nebenakzenterhalten. Beispiel: Quel jour/sommes-nous/aujourd’hui? Längere Äußerungen, die kaum zu seg-

150 Die Artikulation von rejeter als [Rœ�te] ist hingegen wohl als nicht ‘schulfähiger’ Substandard anzusehen.151 Zu dem Graphem |x| für [s] bzw. [z] vgl. die Tabelle.152 Die typisch französische Endbetonung ist leider in vielen Chansons aufgrund der Melodik nicht zu lernen. Lieder wie

z.B. das bekannte Sur le pont d’Avignon verführen durch ihre Anfangsbetonung eher zu einer unfranzösichen Betonung.Diesen Umstand sollte man vor allem auch im Grundschulunterricht bedenken, wo das Lied verständlicherweise einegroße Rolle spielt.

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mentieren sind, lassen sich am besten vom betonten Ende her aufzäumen. Dadurch wird die Aus-sprache erfahrungsgemäß einfacher und flüssiger. So beginnt man z.B. bei der Aussage Je lui aidéjà donné la clé mit la clé und kommt über donné la clé - déjà donné la clé - lui ai déjà donné laclé schließlich zu Je lui ai déjà donné la clé, wobei ein starker Akzent (und das Augenmerk) konti-nuierlich auf clé liegt und die vorangehenden Silben relativ schnell und möglichst unbetont zu spre-chen sind.Neben der ‘normalen’ Betonung gibt es jedoch auch im Französischen eine sog. emphatische Beto-nung. Diese kann die oben beschriebenen Gesetzmäßigkeiten zum Teil außer Kraft setzen. Sie lässtsich kaum in Regeln fassen und auch kaum vermitteln, da sie individuell gehandhabt wird und sehrvariabel einsetzbar ist. Hier können nur Beispiele gegeben werden, die die Lernenden je nach Moti-vation durch Freude an der stimmlichen Variation aufgreifen oder nicht. So kann etwa in den Äuße-rungen Cette montre est remarquable de précision oder Il portait un étonnant chapeau de paille derWortakzent auf die Anfangssilbe des Adjektivs fallen und sogar den Hauptakzent am Ende der Äu-ßerung an Stärke übertreffen. Dennoch darf die emphatische Betonung nicht mit der im Deutschenmöglichen Betonungsvariabilität verwechselt werden. Für die Akzentuierung bestimmter Aspekteeiner Äußerung muss sich das Französische bekanntlich der sog. «Mise en relief» bedienen, dersyntaktischen Umschreibung mit c’est ... qui (C’est mon frère / qui me l’a dit) oder c’est ... que(C’est la lettre / que je cherche dans mon sac). Der zu betonende Aspekt (Handlungsträger, Hand-lungsobjekt, Umstände, Verneinung) steht dann innerhalb der Gesamtäußerung am Ende einerunité rythmique.Unter „Intonation“ wird im Französischunterricht vor allem der Unterschied zwischen steigenderund fallender Satzmelodie in Aussage- und Fragesätzen behandelt. Gerade dieser Unterschied stelltjedoch für deutschsprachige Lernende kaum ein Lernproblem dar, denn die Sachlage ist in beidenSprachen im Grunde gleich. Im Deutschen wie im Französischen kann eine Aussage dadurch zurFrage werden, dass man die Stimme hebt (Intonationsfrage): Tu m’accompagneras? Daran ändertsich im Französischen auch nichts, wenn die Frage mit einem intensivierenden Est-ce que eingelei-tet wird (Est-ce que tu m’accompagneras?) oder wenn Subjekt und Prädikat durch Inversion ver-tauscht werden (M’accompagneras-tu?) Diese Art Fragetyp mit grundsätzlich steigender Intonationverlangt immer eine Ja/Nein-Antwort (Entscheidungsfrage, Gesamtfrage). Der zweite möglicheFragetyp enthält immer ein Fragewort, das die Äußerung als Frage (nach einem bestimmten Teila-spekt) kennzeichnet (Teilfrage, Inhaltsfrage). Eine Markierung durch die Intonation ist somit nichterforderlich. Folglich steigt die Satzmelodie nicht an, unabhängig davon, ob das Fragewort nachge-stellt (Tu partiras quand?) oder vorangestellt ist (Quand est-ce que tu partiras? Quand partiras-tu?)

Zusammenfassende Thesen- Aussprache und Schreibung sollten als zwei Seiten ein- und derselben Medaille in gegenseitiger

Zuordnung gelehrt und gelernt werden.- Klang- und Schriftgestalt der französischen Sprache dürfen keinen psychologischen Entfremdungs-

effekt hervorrufen, sondern müssen in ihrem Anderssein vertraut gemacht werden.- Die grundsätzliche Beherrschung von Aussprache und Schreibung im Französischunterricht ist für

deutschsprachige Lernende kein besonderes Problem. Sie kann und sollte innerhalb des erstenLernjahres abgeschlossen sein.153

153 Dieses Richtziel gilt natürlich nur bei entsprechenden Bedingungen, also etwa vier Unterrichtsstunden pro Woche, mitt-lere Leistungsstärke, Lerngruppe nicht über 25.

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- Dazu bedarf es besonderer unterrichtlicher Verfahrensweisen und eines unter didaktischen Ge-sichtspunkten aufbereiteten Unterrichtsmaterials (vgl. Tabelle).

- Die gegenseitige Zuordnung ist auf drei Ebenen in aufsteigender Linie zu berücksichtigen: Pho-nem-Graphem-Korrespondenzen – Wörter in Klang- und Schriftgestalt – unités rythmiques inKlang- und Schriftgestalt.

- Die Zuordnung muss in beiden Richtungen aktiv (selbständiges Verschriften, selbständiges Lesen)von den Lernenden vollzogen werden, wobei Klang- und Schriftgestalt auch nur mental aktiviertwerden können.

- Für das kontextuelle Sprechen und das Verstehen ist der Begriff der unité rythmique zentral, da erdie Verbindung zur Bedeutung (unité de sens) herstellt.

- Durch die Einbeziehung des Bedeutungsaspekts werden die prosodischen (supra-segmentalen)Merkmale im natürlichen Kontext vermittel- und lernbar.

- Die gleichzeitige Präsenz von Klang- und Schriftgestalt der unités rythmiques verringert das Kom-petenzgefälle zwischen der schriftlichen und der mündlichen Verstehensfähigkeit.Eine der wichtigsten Voraussetzungen, die hier nicht als These formuliert, sondern eher als Forde-rung zum Schluss aufgestellt werden soll, ist eine Lehrerausbildung, die die angehenden Lehrer mitdem Rüstzeug versieht, das für den hier vorgeschlagenen Unterricht nötig ist. Damit ist zum einendie Konzeption der universitären Phonetikkurse (sowohl in ihrem theoretischen als auch in ihrempraktischen Teil) und deren Erweiterung um den Bereich der Orthographie angesprochen, zum an-deren deren Integration in die übrige Sprachpraxis angeregt. Dies kann nur gelingen, wenn dieGrundlagen der Sprachpraxis nicht mehr nur unter sprachwissenschaftlichem Aspekt gesehen wer-den, sondern auch didaktische Aspekte einbezogen werden. Nur so wird es den Studierenden mög-lich, die eigene positive Lernerfahrung als Basis für neue schulische Lern- und Übungsformen zunutzen.

AnmerkungFür kritische Beurteilung, Korrektur und Anregungen aus einem gemeinsamen Seminar über Phonie und Gra-phie danke ich Herrn Frédéric Meynier-Heydenreich, Lektor am Institut für Romanistik der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

LiteraturverzeichnisAbel, Fritz (1982): "Vorschlag eines Abschlussprofils "Aussprache' für den Französischunterricht an

Deutschsprachige". Die Neueren Sprachen, S. 289-304.Callamand, Monique (1981): Méthodologie de l’enseignement de la prononciation, Paris. Catach, Nina (1973): "Que faut-il entendre par système graphique du français?" Langue française, H.

20, S. 30-44Grotjahn, Rüdiger (1998): „Ausspracheunterricht: Ausgewählte Befunde aus der Grundlagenforschung

und didaktisch-methodische Implikationen“, Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 9, H.1, S.35-83.

"L’Orale dans l’écrit" (1991): Langue française, H. 9 (Themenheft)Wioland, François (1991): Prononcer les mots du français, Paris: Hachette

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