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Jens Andersen Astrid Lindgren

Jens Andersen Astrid Lindgren - lernwelt...Schriftstellerin bis zu ihrem Tod im Januar 2002 erhielt und die heute im Astrid-Lindgren-Archiv der Königlichen Bibliothek in Stockholm

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  • Jens Andersen

    Astrid Lindgren

  • Jens Andersen

    Astrid LindgrenIhr Leben

    Aus dem Dänischen von

    Ulrich Sonnenberg

    Deutsche Verlags-Anstalt

  • »Was der Sinn des Lebens nicht ist, das weiß ich. Geld und anderes

    Zeug zusammenzukratzen, ein Promileben zu führen, auf den ent-

    sprechenden Seiten der Frauenzeitschriften zu posieren und solch

    eine Angst vor Einsamkeit und Stille zu haben, dass man nie in Ruhe

    und Frieden über die Frage nachdenken kann: Was mache ich mit

    meiner kurzen Zeit auf Erden?«

    A S T R I D L I N D G R E N , 1 9 8 3

  • Inhalt

    Fanpost an die Autorin 9

    À la Garçonne 21

    Mysterien der Fortpflanzung 56

    Allee der Hoffnung 83

    Eure Kinder sind nicht eure Kinder 123

    Mütter aller Länder, vereinigt euch! 163

    Revolution im Kinderzimmer 201

    Trauervögel und Singvögel 244

    Die Poesie der hellen Nächte 287

    Der Kampf um die Fantasie 333

    Ich habe in meiner Einsamkeit getanzt 371

    Danksagung 421

    A N H A N G

    Bibliografie zum Gesamtwerk

    Astrid Lindgrens in deutscher Übersetzung 424

    Quellenverzeichnis 430

    Bildnachweis 440

    Personenregister 442

  • 9

    Fanpost an die Autorin

    In den Siebzigerjahren hatten die Beamten des Postamts an der Ecke

    Dalagatan und Odengatan in Stockholm immer mehr zu tun. Es lag

    an einer älteren Dame, die vielen älteren Damen glich, denen man

    im Stadtteil Vasastan auf der Straße, im Park, im Lebensmittelgeschäft

    oder in einer der Konditoreien begegnete. Über Jahre hinweg war

    täglich eine Handvoll Briefe durch den Briefschlitz dieser älteren

    Dame gefallen, doch als sie 1977, 1987 und 1997 runde Geburtstage

    feierte, mussten die Postboten an der Tür der Dalagatan 46 klingeln,

    um säckeweise Post mit Marken aus aller Welt abzuliefern. Waren

    die vielen Sendungen gelesen und beantwortet, wurden sie in Papp-

    kartons auf dem Dachboden aufbewahrt. Sie enthielten nicht nur

    Glückwünsche und bunte Kinderzeichnungen, sondern auch Grüße

    von Staatsmännern und königlichen Hoheiten sowie Briefe von Men-

    schen, die ein Autogramm wollten oder aber um Geld oder morali-

    sche Unterstützung in irgendeiner politischen Sache baten.

    Die meisten Menschen allerdings, die sich an die am 14. Novem-

    ber 1907 geborene Astrid Lindgren wandten, wollten vor allem ihre

    Begeisterung und Bewunderung ausdrücken. Häufig nutzten sie die

    Gelegenheit, der Autorin die eine oder andere Frage zu stellen. Und

    nicht immer waren diese Fragen so unschuldig wie die einer schwe-

    dischen Kindergartengruppe, die wissen wollte, ob Pferde wirklich

    Eis essen, oder die der neunjährigen Kristina aus Järfälla, die um eine

    Erklärung bat, wie Pippis Vater in der Fernsehserie eine Flaschenpost

    versenden konnte, obwohl er im Gefängnis saß. In den Postbergen

    fanden sich auch pfiffige Fragen von Erwachsenen: So bat der Klemp-

    ner Karlsson aus Kalmar um die Erlaubnis, seine Firma »Karlsson vom

    Dach« nennen zu dürfen; ein Waldbesitzer aus Jämtland erkundigte

    sich, ob die naturbegeisterte Autorin Interesse an ein paar Hektar

  • 10

    Da Astrid Lindgren Mitte der Achtzigerjahre immer schlechter sah und

    Hilfe brauchte, um die vielen Briefe zu lesen, die täglich eintrafen, wurde

    sie nicht nur von ihrer Privatsekretärin Kerstin Kvint, sondern auch von

    ihrer Tochter Karin Nyman (links) unterstützt.

    Nadelwald habe; und ein Mann, der eine Gefängnisstrafe wegen Mor-

    des an seiner Ehefrau verbüßte, wollte wissen, ob Astrid Lindgren sich

    vorstellen könne, ein Buch über sein Leben zu schreiben.

    Nicht wenige der fünfundsiebzigtausend Briefe, die die populäre

    Schriftstellerin bis zu ihrem Tod im Januar 2002 erhielt und die heute

    im Astrid-Lindgren-Archiv der Königlichen Bibliothek in Stockholm

    aufbewahrt werden, waren persönlicher Natur. Wenn es um Pippis

    und Michels Mutter ging, gab es offensichtlich keine Grenze zwischen

    Öffentlichem und Privatem, die man hätte respektieren müssen. Im

    Alter galt Astrid Lindgren als »klok gumma«, als die kluge Alte des

    Nordens – eine Seelsorgerin, die man bei allen Problemen des Lebens

  • 11

    um Rat fragen konnte. So gab es unter den Briefschreibern eine Frau,

    die »Astrid« darum bat, in einem erbitterten Nachbarschaftsstreit zu

    vermitteln, eine andere Ratsuchende erkundigte sich, wie sie mit ihrer

    schwierigen alten Mutter umgehen solle, und eine dritte Schreiberin

    belästigte die wohlhabende Kinderbuchautorin vierzehn Jahre lang

    mit Bettelbriefen. Insgesamt zweiundsiebzig dieser Briefe sind erhal-

    ten, und sie alle enthalten Ersuchen um finanzielle Unterstützung für

    eine Brille, eine Autoreparatur, Klempnerrechnungen, Spielschulden

    und andere Dinge. Aus Österreich fragte ein Mann an, ob Pippis Mut-

    ter ihm einen größeren Geldbetrag für seine Traumvilla Kunterbunt

    schenken könne. Aus Dänemark kamen vierzig Jahre lang zu Weih-

    nachten Briefe von einem Vater, der in allen Einzelheiten von seiner

    Familie erzählte und immer daran dachte, etwas vom Selbstgebacke-

    nen der Kinder beizulegen. Und aus dem Stockholmer Vorort Hässelby

    wurde Astrid Lindgren mit Heiratsanträgen regelrecht bombardiert.

    Sie stammten von einem älteren Herrn, der seine Fühler erst einzog,

    als der Verlag der verwitweten Astrid Lindgren sich einmischte und

    dem hartnäckigen Freier mit einer polizeilichen Verwarnung drohte.

    Die Fanpost nimmt im Archiv der Königlichen Bibliothek den

    größten Raum ein und ist ein Beleg für die kolossale Bedeutung von

    Astrid Lindgrens Werk – als Bücher, Filme oder Fernsehserien. Seit

    Erscheinen der epochalen Pippi-Bücher in den Vierzigerjahren nah-

    men die Briefe beständig zu. Der fleißigen Autorin , die ihre eigenen

    Bücher morgens und im Urlaub schrieb, jeden Nachmittag als Lek-

    torin im Verlag Rabén & Sjögren arbeitete und abends die Manu-

    skripte anderer Autoren las, waren sie schon um 1960 durchaus zur

    Last geworden. Doch erst in den Siebzigerjahren, nachdem Astrid

    Lind gren sich als Lektorin zur Ruhe gesetzt hatte, schwoll die Post

    geradezu lawinenartig an, sodass die Schriftstellerin in den Achtziger-

    jahren eine Sekretärin, Kerstin Kvint, einstellen musste, um die Kor-

    respondenz bewältigen zu können.

    Der Grund dafür waren drei Ereignisse: Das Erscheinen des

    Romans Die Brüder Löwenherz (1973), der sogenannte Pomperipossa-

    Fall (1976), bei dem Astrid Lindgren gegen die schwedische Steuer-

    politik protestierte, und der Friedenspreis des Deutschen Buchhan-

    dels (1978), als die Pazifistin Astrid Lindgren mitten in der Phase der

  • 12

    Abrüstung ihre Dankesrede mit der Erklärung begann, dass der Kampf

    um einen dauerhaften Frieden in der Welt in den Kinderzimmern

    anfange, nämlich mit der Erziehung der künftigen Generation.

    Karin Nyman, die Tochter von Astrid und Sture Lindgren, die im

    Mai 1934 in Stockholm geboren wurde, war ein halbes Jahrhundert

    Zeugin des wachsenden Kults um das Werk und die Person ihrer Mutter.

    Sie erzählt, dass Männer und Frauen jeglichen Alters Astrid Lindgren

    nicht nur schrieben, sondern auch anriefen oder an die Haustür in der

    Dalagatan klopften. Häufig nur mit dem Wunsch, die Hand der Schrift-

    stellerin zu schütteln und ihre Dankbarkeit für die Freude und den

    Trost auszudrücken, den sie in der Fantasiewelt ihrer Bücher gefunden

    hatten. Außerdem schrieben viele junge Menschen aus dem Ausland

    und baten Astrid Lindgren um ihre Hilfe: »Es waren unglückliche

    Kinder und Jugendliche aus Deutschland«, so Karin Nyman, »die in

    das Schweden ziehen wollten, von dem sie in ihren Büchern gelesen

    hatten. Nach Bullerbü oder Saltkrokan. Für Astrid war das ein Problem,

    denn sie wollte die Dinge immer aufs Beste für die Menschen regeln,

    denen es nicht gut ging, und hier konnte sie nichts tun.«

    Ein gescheitertes Familienleben, fehlende Fürsorge oder ein zu

    großer emotionaler Abstand zwischen Eltern und Kindern waren häu-

    fig die Gründe für den verzweifelten Brief eines jungen Menschen. Im

    Jahr 1974 wandte sich beispielsweise ein unglückliches Mädchen an

    Astrid Lindgren. Inspiriert von ihren Büchern hatte sie Schwedisch

    gelernt und erzählte nun von ihrem Vater, der die Familie tyran-

    nisierte und sogar seine Liebhaberin zu Hause wohnen ließ. Astrid

    fiel es schwer, diesen Brief zu vergessen, und sie berichtete einem

    schwedischen Jugendlichen davon, dem es vermutlich half, dass eine

    Gleichaltrige in einem anderen Land ebenfalls Probleme hatte. Die

    sechsundsechzigjährige Astrid Lindgren schrieb:

    »… es gibt offenbar niemanden im ganzen deutschen Reich, an

    den sie sich wenden kann. Eigentlich hat sie keine Lust zu leben,

    sie weiß nicht, was sie will, sie versucht mal dies, mal das und ist

    es nach kurzer Zeit leid. (…) Das Mädchen hat bestimmt gewaltige

    psychische Probleme, aber ich verstehe es nicht ganz, und ich kann

    ihr ja auch nicht helfen. (…) Ja, mein Gott, es gibt so viel Elend.«

  • 13

    »Sie, meine Freunde, haben Ihren Friedenspreis einer Kinderbuchautorin

    verliehen, und da werden Sie kaum weite politische Ausblicke oder Vor-

    schläge zur Lösung internationaler Probleme erwarten. Ich möchte zu

    Ihnen über die Kinder sprechen«, sagt Astrid Lindgren, als sie im Oktober

    1978 in Frankfurt a. M. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

    ausgezeichnet wird und eine Rede über die Abrüstung im Familienleben hält.

    In anderen Briefen – im Archiv liegen dreißig- bis fünfunddreißigtau-

    send Schreiben von Kindern und Jugendlichen aus fünfzig Ländern –

    wurde nach der Fortsetzung eines bestimmten Buches gefragt, man

    wollte wissen, wie man überhaupt ein Buch verfasst, oder bat »Tante

    Astrid«, beim Vorsprechen am Theater oder bei einem Film-Casting

    behilflich zu sein. Der Wunsch, ein Star in der Verfilmung eines Wer-

    kes von Astrid Lindgren zu werden, wurde auch in einem besonderen

  • 14

    Brief geäußert, der im Frühjahr 1971 durch den Briefschlitz in der

    Dalagatan fiel. Verfasst hatte ihn die zwölfjährige Sara Ljungcrantz

    aus Småland, und ganz oben auf der ersten Seite dieses Schreibens

    mit mehreren unterschiedlichen Handschriften und einer Unmenge

    Ausrufezeichen stand: »Willst Du mich GLÜCKLICH machen?«

    Diese Frage leitete einen langen Briefwechsel zwischen der welt-

    berühmten Schriftstellerin, die den aufziehenden Herbst ihrer Kar-

    riere erlebte, und einem entwurzelten und nachdenklichen schwe-

    dischen Mädchen ein, das sich in vielerlei Hinsicht vom Leben

    ausgeschlossen fühlte und mit ihrer Situation als Jugendliche nicht

    zurechtkam. Zu Beginn dieser Korrespondenz, die unter dem Titel

    Dina brev lägger jag under madrassen (Deine Briefe lege ich unter die

    Matratze) erschienen ist, liest man, dass Astrid Lindgren dem Mäd-

    chen gern helfen wollte. Allerdings hatte die dreiundsechzigjährige

    Autorin den Wunsch, sich die temperamentvolle Sara Ljungcrantz

    zunächst etwas genauer anzusehen. Denn ihr erster Brief hatte Astrid

    Lindgren nicht gefallen. Darin hatte ihr Sara den unbescheidenen

    Wunsch nach Probe filmaufnahmen mitgeteilt – gefolgt von einer

    Beschimpfung der Kinderschauspieler des letzten Pippi-Films und

    einer wüsten Kritik an Björn Bergs Zeichnungen im jüngsten Buch

    über Michel aus Lönne berga. An mangelndem Selbstwertgefühl

    schien das Mädchen auf den ersten Blick nicht zu leiden, obwohl

    sie im Grunde genau das tat.

    Astrid Lindgrens erste Antwort an Sara war daher kurz und kühl.

    Sie erteilte ihr einen Denkzettel, und das Mädchen bekam bei der

    Lektüre so rote Ohren, dass es den Brief in die Toilette spülte. Die

    Autorin von einigen ihrer Lieblingsbücher hatte Sara daran erinnert,

    wie gefährlich es sei, Neid zu empfinden, und sie hatte gefragt, ob

    Sara sich vorstellen könne, warum sie so wenige Freunde habe, so

    oft allein sei und sich einsam fühle.

    Ausgerechnet die »Einsamkeit« – dieser in der skandinavischen

    Kultur so tabuisierte, negativ besetzte Begriff, ein Gefühl, das schwer

    zu beschreiben ist, obwohl wir es alle kennen und im Lauf unseres

    Lebens auf viele unterschiedliche Arten allein sein müssen – wurde in

    den folgenden Jahren zum roten Faden in dem Briefwechsel zwischen

    dem einsamen Teenager und der einsamen Schriftstellerin. Astrid

  • 15

    Lindgren konnte in den Siebzigerjahren auf ein Leben zurückblicken,

    in dem sie sich als Kind, als junger Mensch, als alleinstehende Mutter,

    als Witwe und als Künstlerin viele Gedanken darüber gemacht hatte,

    wie es ist, sich selbst überlassen beziehungsweise auf seine eigene

    Gesellschaft angewiesen zu sein. Mitunter hatte sie diese Einsamkeit

    gefürchtet, dann wiederum hatte sie sich unsäglich danach gesehnt.

    Mit dem Wahlspruch ihrer småländischen Familie »Vi sä’r inget utåt«

    (»Nur nichts nach außen dringen lassen«) zog sie stets eine Grenze

    zwischen dem, was die Öffentlichkeit über den Menschen hinter der

    Autorin wissen sollte, und was nicht. Wenn jemand danach fragte,

    sprach Astrid Lindgren jedoch überraschend offen über die Einsam-

    keit in ihrem Privatleben, beispielsweise in einem Interview einer

    schwedischen Zeitung aus den Fünfzigerjahren. Der Journalist wollte

    wissen, wie Astrid Lindgren den plötzlichen Verlust ihres 1952 ver-

    storbenen Mannes verkraftete, und ihre Antwort lautete:

    Zwei Teenager im Abstand von fünfzig Jahren. Während des Briefwechsels

    mit Sara Ljungcrantz in den Siebzigerjahren erkennt Astrid Lindgren auch

    etwas von sich als jungem unangepasstem Mädchen in Vimmerby Anfang

    der Zwanzigerjahre wieder.

  • 16

    »Vor allem will ich mit meinen Kindern zusammen sein. Dann

    will ich mit meinen Freunden zusammen sein. Und darüber hin-

    aus will ich mit mir selbst zusammen sein. Ganz und gar mit mir.

    Der Mensch hat nur einen zerbrechlichen, kleinen Schutz gegen

    das, womit das Leben zuschlagen kann, wenn er nicht gelernt

    hat, allein zu sein. Das ist beinahe das Wichtigste überhaupt.«

    Astrid Lindgrens Überzeugung, dass jeder Mensch, egal wie alt, in

    der Lage sein müsse, das Alleinsein zu ertragen, wird auch ein zen-

    traler Bestandteil ihrer zurückhaltenden Ratschläge an Sara, der es

    so schwerfiel, mit ihrer Familie, Freunden, Lehrern und Psychologen

    zu sprechen, und die auch mit sich selbst nicht zurechtkam. Als

    Astrid Lindgren sich nach Saras ersten vier, fünf Briefen allmählich

    in den Gefühlen des jungen Mädchens und ihrem Blick auf sich

    selbst wiedererkannte – »einsam, verlassen und genervt«, wie Sara es

    formulierte –, begann die alternde Schriftstellerin den Schleier über

    ihre eigene schwierige Jugend zu lüften:

    »Oh, ich wünschte so sehr, dass Du glücklich sein könntest und

    nicht so viele Tränen auf Deiner Wange zu haben brauchtest. Aber

    es ist gut, dass Du fühlen kannst, dass Du Dich um andere sorgst

    und traurige Gedanken denkst, ich fühle mich Dir gerade deshalb

    verwandt. Ich glaube, die schwersten Perioden im Leben eines

    Menschen sind die frühe Jugend und das Alter. Ich habe meine

    Jugend als etwas schrecklich Melancholisches und Schwieriges

    in Erinnerung.«

    Sara versteckte alle Briefe Astrid Lindgrens unter der Matratze. Es

    waren lange Briefe, die niemals herablassend formuliert waren, son-

    dern sich solidarisch mit der problem- und konfliktbeladenen Wirk-

    lichkeit des Mädchens befassten. Gleichzeitig spiegelte sich in Sara

    der unangepasste junge Mensch, der Astrid selbst einmal gewesen

    war, als sie noch Ericsson mit Nachnamen hieß. Ein intelligenter,

    zutiefst melancholischer, rebellischer und sehnsuchtsvoller Teenager

    in den Zwanzigerjahren in einer Kleinstadt in Småland, der sich

    über seine Identität nicht im Klaren war. Dieses schrittweise Wie-

  • 17

    dererleben der eigenen Jugend wurde besonders intensiv im Früh-

    jahr 1972, als Sara in einem ausgesprochen dramatischen Brief von

    einem kurzen Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie berichtete. Sie

    war wegen Panikattacken und wiederholter Auseinandersetzungen

    mit ihrer Familie eingeliefert worden. Nie zuvor habe sie sich so

    »hässlich, dumm, lächerlich und faul gefühlt«, schrieb Sara. Astrid

    Lindgren antwortete umgehend. Und sie leitete ihren Brief mit den

    einfühlsamen Worten »Sara, meine Sara« ein, die sich genau wie

    der Titel ihres Romans Mio, mein Mio an jeden richteten, der ganz

    konkret oder im übertragenen Sinn allein auf einer Bank in einem

    menschenleeren Park saß:

    »›Hässlich, dumm, lächerlich und faul‹ seist Du – das schreibst

    Du in Deinem Brief. Dass Du nicht dumm und nicht lächerlich

    bist, weiß ich mit Sicherheit durch Deine Briefe, wie es um die

    anderen Dinge steht, vermag ich nicht zu sagen. Aber wenn man

    dreizehn Jahre alt ist, glaubt man immer, man sei hässlich, ich

    war in dem Alter überzeugt, dass ich die Hässlichste von allen sei

    und sich niemals irgendjemand in mich verlieben werde – aber

    mit der Zeit entdeckte ich, dass es nicht ganz so schlimm war,

    wie ich glaubte.«

    Der Briefwechsel der beiden erreichte seine intensivste Phase, als

    1973/74 Die Brüder Löwenherz erschien. Astrid Lindgren war damals

    sehr beschäftigt, sie gab viele Interviews und hatte Lesungen im In-

    und Ausland, zugleich musste sie mit mehreren Todesfällen von Men-

    schen zurechtkommen, denen sie sehr nahegestanden hatte – allen

    voran ihr etwas älterer Bruder Gunnar, der ihr seit ihrer Jugend sehr

    nahegestanden und sich zu einem guten männlichen Freund ent-

    wickelt hatte. Astrid hatte ihm in oft geradezu galgenhumoristischen

    Briefen ihr wildes Herz ausgeschüttet. Und gerade in der größten

    Trauer über Gunnars viel zu frühen Tod wollten viele Leser mit der

    Autorin über Die Brüder Löwenherz diskutieren.

    Auch Sara Ljungcrantz. Sie hatte mit der Post ein Widmungsexem-

    plar des Buches erhalten, sich sofort darauf gestürzt und nach eigener

    Lektüre eine »dumme« Rezension in Dagens Nyheter gelesen, wie sie in

  • 18

    einem Brief an Astrid Lindgren tröstend schrieb. Wie konnte jemand

    ein Buch nicht lieben, das so unglaublich spannend und gleichzeitig

    so voller Herzenswärme und Trost war? Astrid Lindgren hatte darauf

    keine Antwort. Allerdings wollte sie in jenem Winter mit Sara über

    ein anderes Thema korrespondieren – nämlich über die Nachricht,

    dass sich das jetzt fünfzehnjährige Mädchen in einen ihrer Lehrer

    verliebt hatte. Das Leben und die Liebe waren für Sara so kompliziert

    geworden, dass sie in einem Brief vom Dezember 1973 versuchte, sich

    selbst zu analysieren:

    »Ich hatte lange darüber nachgedacht, woran es liegen mochte,

    dass ich nicht richtig gelebt hatte. Ich war in meinen Überlegun-

    gen bis zu Falschheit und einer verlorenen Identität gelangt. Ich

    wollte ja so gern ich selbst sein. Aber wer war ich? Ich glaube

    nicht, dass ich einen einzigen Menschen kenne, der er selbst ist.«

    Astrid Lindgren war so fasziniert von Saras Brief, dass sie noch am

    Silvesterabend begann, ihn zu beantworten. Normalerweise verbat

    sie sich am letzten Tag des Jahres Gesellschaft und genoss ihre Ein-

    samkeit bei Klängen von Beethoven und Mozart, einem guten Buch

    und den üblichen Silvesternotizen, in denen sie auf das vergangene

    Jahr zurückblickte. Diesmal jedoch saß sie an der Schreibmaschine

    und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Zurück in die Vergangenheit, zu

    den Jugendjahren in Vimmerby: »Wenn ich lese, was Du über Dich

    selbst schreibst, dann denke ich, dass ich vieles davon wiedererkenne,

    weil ich selbst darüber nachgedacht habe, als ich in Deinem Alter

    war.« Vor allem den philosophischen Beginn von Saras Analyse, in

    dem es um die Angst des Menschen geht, sein wahres Ich zu zeigen,

    wollte Astrid Lindgren gern kommentieren:

    »Nein, damit hast Du ja so recht! Kein Mensch öffnet sich voll

    und ganz, selbst wenn er sich danach sehnt, es zu können. Aber

    jeder Einzelne ist eingesperrt in seiner Einsamkeit. Alle Menschen

    sind einsam, obwohl manche von ihnen so viele Leute um sich

    haben, dass sie es nicht begreifen oder merken. Bis eines schönen

    Tages … Aber Du bist verliebt, und das ist ein herrlicher Zustand.«

  • 19

    Die zwanzigjährige Kati ist die Hauptperson und Ich-Erzählerin in Astrid

    Lindgrens drei Büchern Kati in Amerika, Kati in Italien und Kati in Paris,

    die in Schweden in den Jahren 1950, 1952 und 1953 erschienen; die

    deutschen Erstausgaben kamen beim Oetinger Verlag 1952, 1953 und

    1954 heraus.

    Das zweite Thema, das Astrid Lindgren an Saras Weihnachtsbrief

    faszinierte, war die Beschreibung ihres Verliebtseins in den Lehrer.

    Lindgren vermied es sorgfältig, einen moralischen oder warnenden

    Zeigefinger zu erheben. Stattdessen schrieb sie – und wiederholte

    es in mehreren anderen Briefen –, dass die Liebe die beste Kur der

    Welt gegen Angst und Unsicherheit sei: »Eine Liebe, selbst wenn sie

    ›unglücklich‹ ist, erhöht das Lebensgefühl, das ist unbestreitbar.«

    Sara Ljungcrantz und Astrid Lindgren haben sich nie persönlich

    kennengelernt, näher als in ihrem von 1972 bis 1974 andauernden

    Briefwechsel kamen sie sich nicht. Es gibt noch einen Brief aus dem

    Jahr 1976, in dem die inzwischen siebzehnjährige Sara berichtete,

    was sie bei der erneuten Lektüre von Astrids drei Büchern über die

    junge Kati aus der Kaptensgatan empfunden hatte. Die in den Jahren

    1950 bis 1953 entstandene Trilogie über ein junges Mädchen, das die

    USA, Italien und Paris besucht, hatte in Sara die Reise- und Lebens-

    lust geweckt, aber sie interessierte sich auch dafür, ob die achtzehn-,

    neunzehnjährige Astrid das Vorbild für ihre Hauptperson gewesen

    sei: »Ging es Dir wirklich wie Kati, als Du jung warst?«

  • Bei dieser Frage musste die achtundsechzigjährige Astrid Lind-

    gren an einige Briefe und vergilbte Zettel aus dem schwierigen Jahr

    1926 denken, die sie beim Aufräumen einiger Schubladen wieder-

    gefunden hatte. Damals war sie gezwungen gewesen, von zu Hause

    auszu ziehen:

    »Ich fand einen Zettel (…), einen, den ich schrieb, als ich unge-

    fähr in Deinem Alter war, er lag in einem Brief, und Folgendes

    stand darauf: Life is not so rotten as it seems. Aber ich fand –

    genau wie Du –, dass das Leben absolut mies war. Es kann also

    durchaus sein, dass die Kati-Bücher ein bisschen ›lügnerisch‹ sind

    (Formulierung stammt von Sara, Anm. d. Red.), wenn man von

    ihnen erwartet, dass sie ausdrücken, wie es ist, richtig jung zu

    sein. Aber Kati hat es geschafft, ein wenig reifer zu werden, sie

    war ja auch nicht ganz so jung. Als ich 19–20 Jahre alt war, wollte

    ich mir ständig das Leben nehmen, und ich wohnte mit einem

    Mädchen zusammen, das es noch mehr wollte als ich. (…) Aber

    später begann ich, mich anzupassen, und fand, dass das Leben

    recht angenehm war. Jetzt, in meinem derzeitigen hohen Alter,

    finde ich, dass es einem sehr schwerfällt, glücklich zu sein in

    Anbetracht des Zustands der Welt, und mein Trost ist, dass ich

    nicht mehr jung bin. Mein Gott, wie aufmunternd das alles klingt.

    Stelle ich auf einmal fest. Entschuldige bitte! (…) Leb wohl, Sara.

    Life is not so rotten as it seems.«

  • 21

    À la Garçonne

    »Zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig schafft man es, ungefähr

    vier verschiedene Leben zu führen«, erklärte Astrid Lindgren in den

    Sechzigerjahren in einer deutschen Fernsehsendung, in der es um die

    Phasen im Leben einer Frau ging. Mit derselben natürlichen Ausstrah-

    lung, die die Kinderbuchautorin Ende der Vierzigerjahre zu einem

    Star im schwedischen Radio machte, erzählte sie von dem überwäl-

    tigenden Gefühl, innerhalb von zehn Jahren vier unterschiedliche

    Frauen zu sein: »Um mit dem ersten Leben zu beginnen – wie war

    ich als Fünfzehnjährige? Mir war klar, dass ich erwachsen war, aber

    mir gefiel es nicht.« Diese unsichere, bisweilen unglückliche und

    einsame Fünfzehnjährige, die Trost und Sinn in der Welt der Bücher

    fand, verwandelte sich mit sechzehn, siebzehn Jahren in ein aufge-

    schlossenes, progressives Mädchen ganz im Zeichen der Zeit:

    »Ich machte sehr schnell eine kolossale Veränderung durch und

    wurde von einem Tag auf den anderen ein richtiges Jazzflappergirl,

    wie man damals sagte. Denn das passierte etwa gleichzeitig mit

    dem Durchbruch des Jazz in den glücklichen Zwanzigerjahren.

    Ich ließ mir die Haare schneiden, zum großen Entsetzen meiner

    Eltern, die Bauern waren und am Bestehenden festhielten.«

    Astrid Lindgren (geborene Ericsson) ist noch keine siebzehn Jahre alt,

    als sie 1924 mit einer Jugendrevolte beginnt, die in Vimmerby Auf-

    sehen erregt. In der Kleinstadt gab es ein Kino, ein Theater, die Mis-

    sionsbuchhandlung und die Volkstanzgruppe Smålänningarne (Die

    Småländer), doch als junge Frau, die gern tanzen ging, bewegte man

    sich lieber zur Musik der Gegenwart. Im Sommer bot sich auf Tanz-

    bühnen im Freien Gelegenheit dazu, im Winter ging man ins Stadt-

  • 22

    hotel, wo samstags eine »Soiree mit Tanz« veranstaltet wurde. Nor-

    malerweise gab es zunächst ein längeres Konzert, bei dem die beiden

    Geschlechter getrennt voneinander auf ihren Bänken saßen und gesit-

    tet abwarteten. Anschließend wurde von einundzwanzig Uhr bis eine

    Stunde nach Mitternacht zu den neuesten Schlagern getanzt – »bei

    besonders dekorativer Einrichtung in magischer Beleuchtung«, wie

    das Stadthotel 1924/25 auf der Titelseite der Vimmerby Tidning lockte.

    Zu dieser Zeit trug Astrids beste Freundin Anne-Marie Ingeström

    (später verheiratete Fries) noch lange feminine Kleider, welche die

    sich allmählich abzeichnenden weiblichen Rundungen betonten

    und gleichzeitig verbargen. Das hübsche Mädchen, das Madicken

    (so heißt die Protagonistin in der schwedischen Originalausgabe

    von Madita, Anm. d. Red.) genannt wurde und in der weißen Villa

    des Bankdirektors Fries am bürgerlichen Ende der Prästgårdsallén

    aufgewachsen war, zeigte gern ihr langes dunkles Haar, insbeson-

    dere auf Fotos, die von einem traditionellen, sinnlichen Frauenbild

    dominiert werden. Astrid hingegen begann männliche Kleidung zu

    tragen. Lange Hosen, Jackett und Krawatte hatten in ihre Garderobe

    Einzug gehalten, außerdem Hut und Schlägermütze, die tief über den

    Kurzhaarschnitt gezogen wurde. Wie sie später in einem Interview

    gestehen sollte, fanden sich in ihrem Kopf damals nur wenige ver-

    nünftige und realistische Gedanken, dafür aber zahlreiche aus dem

    Zusammenhang gerissene Zitate von Nietzsche, Dickens, Schopen-

    hauer, Dostojewski und Edith Södergran sowie Eindrücke aus Filmen,

    die zeigten, wie Greta Garbo und andere femmes fatales dieser Zeit

    aussahen und sich benahmen:

    »Es gab etwa 3500 Einwohner (in Vimmerby, Anm. d. Red.), und

    ich war die Erste in der Stadt, die sich die Haare abschnitt. Es

    kam vor, dass Leute, denen ich auf der Straße begegnete, zu

    mir kamen und mich baten, den Hut abzunehmen und meine

    Kurzhaarfrisur zu zeigen. Das war ungefähr zur gleichen Zeit, als

    Victor Margueritte, ein französischer Schriftsteller, sein Buch La

    Garçonne veröffentlichte, ein sehr schockierendes Buch, das ein

    Welterfolg wurde. Ich glaube, alle Mädchen auf der ganzen Welt

    wollten so aussehen wie La Garçonne, ich zumindest wollte es.«

  • 23

    Victor Marguerittes Roman verkaufte sich in den Zwanzigerjahren

    weltweit in einer Auflage von über einer Million Exemplare. Er wurde

    zum Kultbuch für viele junge Frauen, die von einem Aufstand gegen

    die gesellschaftlich vorgegebenen Geschlechterrollen und die viktori-

    anische Prüderie ihrer Eltern träumten. Monique Lerbier, die Protago-

    nistin des Romans, ist ein wandelnder Dorn im Auge des Bürgertums.

    Sie schneidet ihr Haar kurz wie ein Junge, kleidet sich in Jackett und

    Schlips, raucht und trinkt in der Öffentlichkeit, was sonst den Män-

    nern vorbehalten ist, tanzt wild und bekommt ein uneheliches Kind.

    Eine selbstbewusste Selfmade-Frau, die statt Familie die Freiheit und

    ein Leben wählt, in dem sie selbst entscheidet.

    »La Garçonne« wurde sehr schnell zu einem globalen Modephä-

    nomen, das die Männer mit ihrem androgynen Look schockierte.

    Plötzlich wimmelte es in den Großstädten von Frauen mit kurz

    geschnittenen Haaren, die Männerkleidung oder locker sitzende Klei-

    der und Glockenhüte trugen. Die Absicht, die hinter dieser zwei-

    geschlechtlichen Garderobe stand, war eindeutig. Eine junge Frau die-

    ser Zeit wollte nicht aussehen wie ihre Mutter oder ihre Großmutter.

    Sie verzichtete auf das Korsett und die langen, schweren Kleider und

    trug stattdessen funktionalere Kleidung, in der sie sich freier und

    ungezwungener bewegen konnte. Zusammen mit der La-Garçonne-

    Frisur sollte die Kleidung zum Ausdruck bringen, dass Frauen dem

    Geschlecht ähnlich sehen wollten, mit dem sie sich mehr denn je in

    der Geschichte zu messen wagten.

    Als neugierige, eifrig lesende und kulturell interessierte junge

    Frau, die Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Filme und Musik als eine

    Art Fernglas in die große weite Welt nutzte, wusste Astrid Ericsson

    von der Aufregung, die die neue Frauenmode außerhalb der Gren-

    zen Smålands ausgelöst hatte. In skandinavischen Zeitungen und

    Illustrierten rieten einige männliche Journalisten den Frauen davon

    ab, sich die Haare kurz zu schneiden. Der »Shingle-Bob«, wie die La-

    Garçonne-Frisur auch genannt wurde, bekam geradezu rassistische

    Prädikate wie »Apachenschnitt« oder »Hottentottenhaare«. Hinter

    diesen Schreckensbildern lauerte die Angst vor der neuen Frauenrolle.

    Würden die Männer künftig ihre althergebrachte Bedeutung verlie-

    ren? Nicht ganz. Denn die Mehrzahl der jungen, von La Garçonne

  • 24

    inspirierten Frauen träumte von Geborgenheit und einer Familie

    mit Mann und Kindern. Neu war, dass sie auch außerhalb des Hau-

    ses tätig sein wollten, sich gern als Kameradin ihres Mannes sahen

    und – nicht zuletzt – über ihren Körper und ihre Sexualität selbst

    bestimmen wollten.

    Wie gut dieser neue, jungenhafte Look und der damit verbun-

    dene Lebensstil Astrid Ericsson gefiel, geht aus verschiedenen Fotos

    von Anne-Maries siebzehntem Geburtstag im August 1924 hervor,

    auf dem sich vier Burschen – Sonja, Märta, Greta und Astrid – um

    das feminine Geburtstagskind gruppieren. Natürlich war es ein lus-

    tiges Arrangement – vier verkleidete Freundinnen spielen in zwei

    verschiedenen Szenen rivalisierende Freier, die vor der schönen

    Jungfrau knien. Verglichen mit den drei anderen »jungen Män-

    nern« auf dem Foto hat Astrid Ericssons Erscheinung aber etwas

    Souveränes und in sich Ruhendes. Sie spielte keine Rolle, son-

    dern war sie selbst. Ein jungenhaftes Mädchen. Immer hatte sie

    mit anderen Kindern gespielt, ohne sich um das Geschlecht ihrer

    Spielkameraden zu kümmern. Trotz ihrer Unsicherheit in den Teen-

    agerjahren hatte sie nie etwas anderes sein wollen als ein Mädchen.

    Am 22. Mai 1998 erklärte sie in der Göteborgsposten: »Vielleicht, weil

    wir bei unseren Spielen zu Hause auf Näs nie einen Unterschied

    machten, Jungen und Mädchen spielten gleichermaßen wild mit-

    einander.«

    Diese Ausstrahlung eines burschikosen Mädchens fällt auch auf

    anderen Fotos von Astrid Lindgren aus den Zwanzigerjahren und

    vom Anfang der Dreißigerjahre ins Auge. Man sieht eine schlanke

    Frau zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren in langer Hose,

    nun auch mit Weste und Fliege bekleidet. Eine Frau, die beinahe

    demonstrativ Zigaretten raucht und eine herausfordernde Köperhal-

    tung einnimmt. Auf mehreren Fotos wird dieser Eindruck durch ein

    kleines hintergründiges und besserwisserisches Lächeln verstärkt. Es

    scheint, als wäre diese junge Frau in Männerkleidung von einer Aura

    der Unberührbarkeit und Selbstständigkeit umgeben, als wollte sie

    einige der starken und selbstbewussten Zeilen von Astrid Ericssons

    Lieblingsdichterin illustrieren. Edith Södergrans Gedicht »Vierge

    moderne« handelt von einer Jungfrau der neuen Zeit:

  • 25

    Am 28. August 1924 wurde Anne-Marie Fries siebzehn Jahre alt. Ihre

    besten Freundinnen Sonja, Märta, Greta und Astrid (rechts) verkleideten

    sich als junge Männer, die die reizende Madicken umrahmen.

  • »Ich bin keine Frau. Ich bin ein Neutrum.

    Ich bin ein Kind, ein Page, ein kühner Beschluss,

    ich bin ein lachender Streifen Scharlachsonne …

    Ich bin ein Netz für alle gefräßigen Fische,

    ich bin ein Prost auf die Ehre aller Frauen,

    ich bin ein Schritt in Richtung Zufall und Verderben,

    ich bin ein Sprung in die Freiheit und das Selbst (…).«

    Ein Echo dieser Zeilen findet sich in den tatkräftigen weiblichen

    Hauptpersonen von Astrid Lindgrens Jungmädchenbüchern Britt-

    Mari erleichtert ihr Herz (1944), Kerstin und ich (1945) und vor allem

    in den drei Bänden über die nach Freiheit dürstende Kati. Die zwan-

    zigjährige Waise, die als Ich-Erzählerin auftritt, reist im ersten Buch

    nach Amerika. In God’s Own Country kann sie einfach nicht anders,

    als sich und ihr Geschlecht mit Columbus und Generationen von

    männlichen Eroberern zu vergleichen. Sie ist entrüstet über das, was

    sie sieht. In die Opposition zu gehen und, wenn nötig, auch Stellung

    zu beziehen und zu protestieren, ist ein natürlicher, untrennbarer Teil

    von Katis Weiblichkeit: »O ja, Männer sind ein wildes, abenteuer-

    liches, herrliches Geschlecht! Warum entdecken wir Frauen nie neue

    Erdteile? Es ist eigentlich ziemlich schäbig, bloß eine Frau zu sein.«

    Die junge Astrid Ericsson aus Näs hat

    den der zeitgenössischen Mode ent-

    sprechenden Gesichtsausdruck und

    ähnelt den selbstbewussten, freiheits-

    liebenden Frauen, die auch von der

    finnlandschwedischen Schriftstellerin

    Edith Södergran beschrieben wurden.

  • 27

    Was Mutter wohl sagen wird?

    Dass die Menschen in Vimmerby im Jahr 1924 Astrid Ericssons Protest

    so genau verfolgten, lag nicht zuletzt daran, dass sie die Tochter des

    Pächterehepaares vom Pfarrhof war. Durch diese Stellung unterschied

    sich die Familie Ericsson deutlich von gewöhnlichen Bauern und

    Stadtbewohnern. Samuel August Ericsson (1875–1969) war nicht nur

    der für die Kirche verantwortliche Verwalter, sondern gleichzeitig ein

    respektierter Landwirt, der viel von Menschen, Tieren und Acker-

    bau verstand. Im Laufe der Jahre hatte er wie seine ausgesprochen

    fleißige und intelligente Ehefrau Hanna Ericsson (1879–1961) eine

    Reihe kommunaler Ehrenämter bekleidet. Hanna war nicht nur eine

    glänzende Organisatorin des großen Haushalts auf Näs mit vier Kin-

    dern, Großeltern und Gesinde, sondern engagierte sich auch in der

    Armen- und Kinderfürsorge und dem Gesundheitswesen von Vim-

    merby. Außerdem war sie in der ganzen Umgebung berühmt für ihre

    Hühner, die regelmäßig den ersten Preis auf Märkten und Tierschauen

    errangen. Als frommer und gläubiger Mensch war Hanna zudem eine

    aufmerksame Moralwächterin in Astrid Lindgrens Elternhaus, wo die

    vier Kinder die Sonntagsschule besuchen mussten und der Kirchgang

    obligatorisch war.

    An dem Tag im Jahr 1924, an dem Astrid sich die Haare wie die

    Heldin aus Victor Marguerittes Roman schneiden ließ, rief sie zu

    Hause in Näs an und hoffte, dass Samuel August das Telefon abneh-

    men werde, der im Gegensatz zu Hanna die Tat seiner Tochter wohl

    milder, aber kaum mit mehr Verständnis beurteilen würde. Der Vater

    hörte zu und antwortete in einem betrübten Tonfall, es sei keine gute

    Idee, wenn Astrid sofort nach Hause käme. Doch die Tochter stand

    zu ihrer Handlung, und dass sie ihren Protest zur Schau stellte, war

    ja durchaus beabsichtigt. Genauso verhielt es sich, als Astrid einige

    Zeit später der Bitte einer jüngeren Verwandten nachkam, die sie

    während einer Familienfeier fragte, ob sie ihr die Haare schneiden

    könne. In einem auf der CD Astrids röst (Astrids Stimme) dokumen-

    tierten Interview berichtet die Schriftstellerin von diesem Ereignis,

    bei dem sie begann, die Ideen der Frauenbewegung in der Familie

    zu verbreiten. Die Großmutter Lovisa hatte den beiden Mädchen

  • 28

    gegenüber bereits zu verstehen gegeben, dass ihr Astrids kurze Haare

    eigentlich recht gut gefielen.

    Dennoch hat Astrid Lindgren den Empfang in ihrem Elternhaus

    nie vergessen, als sie mit ihrer neuen Frisur heimkam. In der Küche

    auf Näs herrschte Totenstille, während die junge Frau eintrat und

    sich auf einen Stuhl setzte. »Niemand sagte ein Wort, sie gingen

    nur schweigend um mich herum.« Wie Hanna reagierte und welche

    Kommentare sie abgab, ist nicht überliefert, doch es dürfte kaum

    Zweifel daran geben, dass sie ihrer Tochter später unter vier Augen

    sehr deutlich die Meinung gesagt hat. Rebellische Szenen und ego-

    zentrische Ausfälle waren selten bei den vier Kindern der Familie

    Ericsson, und passierte es doch, dass eines der Kinder ausnahmsweise

    über die Stränge schlug, kam die Reaktion immer von Hanna. Der

    disziplinarische Teil der Kindererziehung war nicht Samuel Augusts

    Stärke. Oder in den Worten Astrid Lindgrens:

    »Ich kann mich an ein einziges Mal erinnern, da ich mich meiner

    Mutter widersetzte. Ich war noch ganz klein, drei oder vier Jahre

    alt, als ich eines Tages fand, dass meine Mutter dumm sei, und

    beschloss, auf das Plumpsklo zu fliehen. Ich bin dort sicher nicht

    sehr lange geblieben, aber als ich wieder hereinkam, hatten meine

    Geschwister Bonbons bekommen. Das fand ich so ungerecht, dass

    ich rasend vor Wut nach meiner Mutter trat. Da wurde ich ins

    Esszimmer mitgenommen – und bekam Schläge.«

    So ging es zu in Astrids, Gunnars, Stinas und Ingegerds Kindheit

    auf Näs. Keiner von ihnen zweifelte an der Liebe ihrer Mutter, doch

    im Gegensatz zu Samuel August, der seine Kinder gern umarmte,

    war Hanna zurückhaltend in ihrer Zuwendung. Hanna gegenüber

    musste man sich auch rechtfertigen, wenn man als junger Mensch an

    einem langen Sommerabend zwischen den fluoreszierenden Birken

    im Stadtpark die Zeit vergessen hatte. Dort wurde zu Ziehharmonika-

    musik getanzt, oder man hing auf einer Bank am Wasserturm seinen

    Gedanken nach. Dann ging es in aller Eile heim in die Prästgårdsallén,

    und wenn man vorsichtig die Tür öffnete, war die große Frage, was

    die Mutter wohl sagen würde.

  • 29

    Samuel August und Hanna Ericsson mit ihren vier Kindern. Von links:

    Ingegerd (geb. 1916) auf dem Schoß ihres Vaters, Astrid (geb. 1907),

    Stina (geb. 1911) und Gunnar (geb. 1906) an der Hand seiner

    Mutter.

    »Sie war es, die uns erzog, und ich kann mich nicht entsinnen,

    dass Samuel August sich da je eingemischt hätte«, schrieb Astrid

    Lindgren in den Siebzigerjahren in einem großen und liebevollen

    Essay über ihre Eltern: Das entschwundene Land. Darin berichtet sie

    auch von der spirituellen Seite der Mutter, die wie Samuel August

    gut mit Sprache umgehen konnte – ein Talent, das alle Kinder erben

    sollten. In einem Interview im Aftonbladet vom 4. Juni 1967 erzählte

    Astrid Lindgren:

  • 30

    »Wenn sie Zeit hatte, schrieb meine Mutter Gedichte. Sie trug sie

    in ein Poesiealbum ein. Sie war die Intelligentere der beiden, und

    sie war strenger als mein Vater. Er hatte Kinder sehr, sehr gern.«

    Über eine Frage ließen allerdings weder Samuel August noch Hanna

    mit sich reden: Alle vier Kinder hatten auf dem Hof und auf dem

    Feld mitzuarbeiten. Das ganz Jahr über, auch bevor man zur Schule

    nach Vimmerby aufbrach, ja, selbst am Konfirmationstag waren

    durchaus noch mit den Geschwistern Rüben zu verziehen, bevor

    man sich wusch und umzog. Diese unverbrüchliche Arbeitsgemein-

    schaft zwischen Kindern und Erwachsenen und die pädagogische

    Grundsicht, dass Arbeit adele, haben sich in Astrid Lindgrens Mäd-

    chenbuch Kerstin und ich niedergeschlagen, das von den Zwillingen

    Kerstin und Barbro handelt. Dort wird dem Leser ein Elternpaar vor-

    gestellt, deren Ehe in vielen Punkten Parallelen zum Zusammenhalt

    zwischen Hanna und Samuel August aufweist. Die fleißige, tüchtige

    und allgegenwärtige Mutter im Buch, das im Herbst 1945 gleichzei-

    tig wie das erste Pippi-Langstrumpf-Buch erschien, wird als Feldherr

    der Familie mit dem großen Überblick und einem stets wachen

    Auge für die praktischen Details beschrieben. Der Vater hingegen

    ist ein wirklichkeitsferner Tagträumer, dessen familiäre Stärke in

    der Vergötterung seiner Ehefrau und seiner Kinder liegt. Über das

    Verhältnis zu seinen Zwillingstöchtern sagt er: »Ich gehöre zu der

    Sorte von unglücklichen Eltern, die ihre Kinder höchstens in Not-

    wehr schlagen.« Der sanfte Mann zwischen den drei starken Frauen ist zu Beginn

    des Buches gerade als Major pensioniert worden und hat Frau und

    Töchter überredet, das Leben in der Großstadt aufzugeben und sich

    auf dem Hof der Familie auf dem Land niederzulassen. Das Gut Lill-

    hamra war einige Jahre unbewohnt und verlangt nach liebevollen

    Händen. Es wird, gelinde gesagt, eine gigantische und anstrengende

    Aufgabe für die ganze Familie, und immer wieder muss die Mutter

    gegenüber ihren beiden burschikosen Mädchen Kerstin und Barbro

    betonen, dass die Arbeit auf einem Gutshof nicht nur notwendig für

    die Gemeinschaft sei, sondern auch gut für die Charakterbildung

    jedes einzelnen Menschen. Ihre praktisch orientierte Philosophie

  • 31

    Vimmerby, August 1909. Samuel August Ericsson, seine Ehefrau Hanna

    und ihre beiden ältesten Kinder Astrid und Gunnar zu Besuch bei Ver-

    wandten. Wie auf so vielen anderen Fotos hat sich Astrid in die Arme

    ihres Vaters geflüchtet.

    lässt sich auf zwei Botschaften verkürzen, die auch für ein Kind auf

    Näs in den Jahren 1910 bis 1920 galten: »Man müsse auf das ver-

    zichten, was weniger nötig sei, um das zu bekommen, was nötiger

    sei«, und »Nur wer arbeite und die Arbeit lieben gelernt habe, könne

    jemals glücklich sein«.

    Diese Lehrsätze – Entbehrungen und Arbeit zu mögen, bis man

    umfällt – nahm Astrid Ericsson als Selbstverständlichkeit mit in ihr

    Erwachsenenleben. Ihre Tochter Karin Nyman weiß zu berichten,

    dass ihre Mutter in den Dreißigerjahren und während des Zweiten

    Weltkrieges die schwere Kunst verstand, mit den bescheidenen Mit-

    teln, die der Familie zur Verfügung standen, das Größtmögliche zu

    erwirtschaften – unter anderem durch zwei Arbeitsstellen. Diese Art

  • 32

    zu leben und zu arbeiten behielt Astrid Lindgren auch noch viele

    Jahre nach dem Krieg bei – ja, eigentlich auf eine eigene, erstaunlich

    unangestrengte Weise ihr ganzes Leben lang.

    »Es war diese selbstverständliche Haltung meiner Mutter, unver-

    drossen drauflos zu arbeiten – ohne Stress oder große Gesten –,

    unbeschwert zwischen verschiedenen Aufgaben zu wechseln,

    Briefe zu beantworten, Abteilungsleiterin zu sein und die häusli-

    chen Arbeiten zu erledigen: Betten machen, den Frühstückstisch

    abräumen, nach dem Abendessen abwaschen. Alles so automa-

    tisch, wie sie sich die Zähne putzte. Alles ebenso schnell wie

    effektiv.«

    Im Leben Verzicht zu üben und hart arbeiten zu müssen waren für

    Astrid Lindgren so selbstverständliche Tugenden, dass sie ihre Kinder

    nie eigens dazu ermahnte. Karin Nyman erinnert sich jedoch, dass

    ihre Mutter auch später stets Kraft aus dem Ratschlag schöpfte, den

    Hanna ihren Kindern erteilte, wenn die Arbeit auf dem Feld zu schwer

    und zu langweilig wurde:

    »›Einfach weitermachen, bloß nicht aufhören‹, hatte Hanna

    gesagt, wenn sie mit einer langwierigen und eintönigen Arbeit

    beschäftigt waren wie dem Rübenverziehen oder der Heuernte.

    Noch als Erwachsene machte Astrid unwillkürlich die Handbewe-

    gungen, mit denen sie als Kind das Heubündel zusammengezogen

    hatte – geradeso, als nähme sie Anlauf, um eine Herausforderung

    zu meistern.«

    Mädchen mit Federhaltern

    Im Mai 1923 ging für die fünfzehnjährige Astrid Ericsson die Schulzeit

    zu Ende. Darüber war sie nicht traurig, denn obwohl sie in der Schule

    gut zurechtkam und sich in der abschließenden Schwedischprüfung

    für ein so tugendhaftes Aufsatzthema wie »Vom Wirken der Kloster-

    leute im Mittelalter« entschied, erging es ihr doch häufig wie dem

    burschikoseren der beiden Zwillinge in Kerstin und ich:

  • 33

    »Ich sehnte mich nicht nach der Schulbank zurück, wo man still-

    sitzen musste, bis es einem im ganzen Körper kribbelte und man

    am liebsten laut geschrien und wild um sich geschlagen hätte.

    Mir gefiel es, herumzulaufen und es eilig zu haben.«

    Eine Unruhestifterin war Astrid Ericsson zwar nicht, aber eine kör-

    perliche Unruhe verspürte sie durchaus. Auf dem alten Foto ihres

    Klassenzimmers sitzen alle Kinder ruhig da und sehen den Fotografen

    an – mit Ausnahme von Astrid Ericsson, die aufgestanden ist und

    einen Arm hochreckt. Sie war klein, schlank und gelenkig und trug

    die Haare noch nicht kurz, sondern zu Zöpfen geflochten. Greta

    Fahlstedt, eines der etwas älteren Mädchen, erinnerte sich anlässlich

    von Astrid Lindgrens neunzigstem Geburtstag 1997 in der Vimmerby

    Tidning: »Sie war recht lebhaft, schon damals. Es gingen regelrechte

    Blitze von ihr aus.«

    Die schriftlichen Noten im Abgangszeugnis der Mittleren Reife

    1923 waren ausnahmslos gut. Unter den Prüfungen in den Fächern

    Schwedisch, Deutsch und Englisch verriet insbesondere der Aufsatz

    über die eifrigen Nonnen des Mittelalters, dass die fünfzehnjährige

    Schülerin nicht nur ein gut entwickeltes Vorstellungsvermögen hatte,

    sondern auch Sinn für Humor:

    »Eine Sache, für die die Nonnen viel Zeit aufwendeten, war

    die Handarbeit. Sie bestickten kunstvolle Altartücher, klöppel-

    ten Spitzen, nähten Kleider und vieles andere mehr. Sie waren

    unglaublich geschickt, und ich glaube, wenn die Nonnen hätten

    heiraten dürfen, was nicht der Fall war, hätten sie eine prachtvolle

    Aussteuer bekommen.«

    Abbildung auf nächster Doppelseite:

    Um 1920. Deutschstunde in der Realschule von Vimmerby, an der Tafel

    hinter Studienassessor Tengström steht, dass es sich um »Zungeübungen«

    handelt. Das Mädchen ganz rechts, das mit den Armen gestikuliert, ist

    nicht Pippi Langstrumpf, sondern Astrid Ericsson, eine der tüchtigsten und

    eifrigsten Schülerinnen der Klasse – auch im Fach Deutsch.

  • 36

    Wir wissen nichts über die Diskussionen, die Hanna und Samuel

    August zu dieser Zeit über die Zukunft und die Aussteuer ihrer ältes-

    ten Tochter geführt haben mögen, bevor sie ein Kirchenlied sangen

    und das Licht im Elternschlafzimmer auspusteten. Auch in Astrid

    Lindgrens autobiografischen Aufzeichnungen über das paradiesische

    Leben auf Näs finden sich nur wenige Passagen, die Aufschluss darü-

    ber geben könnten, was die Eltern von den Dingen hielten, bei denen

    sie nicht mit ihren Kindern einer Meinung waren.

    Ob Hanna wohl den Wunsch ihrer fünfzehn, sechzehn Jahre

    alten Tochter unterstützte, ein journalistisches Volontariat bei der

    Vimmerby Tidning zu absolvieren, als sich die Möglichkeit dazu

    ergab? Und was mag Samuel August davon gehalten haben? Hatte

    er womöglich sogar im Vorfeld mit dem Chefredakteur der Zeitung

    darüber gesprochen? Falls ja, dann sicherlich mit gewisser Sorge und

    gewissem Widerstand von Hannas Seite. Denn Journalistinnen waren

    eine Seltenheit und Zeitungsredaktionen eine Männerdomäne, die

    in keiner Weise den demokratischen Durchbruch der Frauenrechte

    in Schweden um 1920 wiederspiegelten. Dennoch ist nicht aus-

    geschlossen, dass Hanna – zumindest im Stillen – den Wunsch der

    Tochter unterstützte, ihr Talent zum Schreiben weiterzuentwickeln

    und in die Welt der Worte einzutauchen. Schließlich hatte sie selbst,

    wie wir aus Das entschwundene Land wissen, als junge, unverheiratete

    Frau davon geträumt, ihre beachtlichen Lese- und Schreibfähigkeiten

    beruflich zu nutzen:

    »Das Lernen war ihr immer leichtgefallen, in ihrem Abgangs-

    zeugnis hatte sie in allen Fächern ausnahmslos die Note ›Sehr

    gut‹. Einst hatte sie gehofft, Lehrerin zu werden, aber die Mutter

    war dagegen gewesen. Kam es ihr jetzt so vor, als gebe sie mit der

    Heirat unwiderruflich etwas auf?«

    Hanna war vermutlich beunruhigt, aber auch ein wenig stolz, dass

    ihre tüchtige Tochter von der führenden Zeitung der Stadt einge-

    stellt wurde. Es kam nur selten vor, dass Frauen, insbesondere so

    junge Mädchen, in Zeitungen schreiben durften oder überhaupt Ein-

    fluss auf die Berichterstattung hatten. Seit dem Modernen Durch-

  • 37

    bruch in den Siebzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts gab es

    in Skandinavien zwar Journalistinnen, allerdings nicht sonderlich

    viele. Fünfzig Jahre später wurden in Schweden weiterhin nur wenige

    Frauen in den Redaktionen eingestellt – obwohl Elin Wägners 1910

    erschienener Roman Pennskaftet (Der Federhalter) das Interesse an

    diesem neuen intellektuellen Arbeitsgebiet für Frauen erhöht hatte.

    Die schlagfertige, streitlustige Barbro, die Protagonistin von Wägners

    Roman, verkörperte nicht nur die moderne, finanziell unabhängige

    Frau, sondern sollte zugleich die Aufmerksamkeit auf einen neuen

    und vitalen Frauentypus lenken – die Meinungsbildnerin. Die soge-

    nannten »Federhalter« setzten die Diskussion über das Wahlrecht der

    Frauen und weibliche Lebensziele außerhalb des Haushalts auf die

    Tagesordnung. Bereits in ihrem Debütroman Norrtullsligan (wörtl. Die

    Norrtull-Gang, die Verfilmung lief in Deutschland unter dem Titel

    Weibliche Junggesellen) aus dem Jahr 1908 hatte Elin Wägner die

    Landflucht junger Frauen wie Astrid Ericsson vorhergesehen. Wägner

    schrieb:

    »Aber warte nur, bis diese für sich selbst sorgenden Frauen begin-

    nen, sich in Stockholm ihre eigenen Wohnräume zu erschaffen.

    Dann entstehen dort ebenso viele kleine Kraftzentren, und die

    Welt wird sich wundern, was wir ausrichten können.«

    Der Besuch eines Gymnasiums war keineswegs zwingende Vorausset-

    zung für eine Journalistenlaufbahn im Schweden der Zwanzigerjahre.

    Die Zeitungen waren für die Ausbildung ihrer Journalisten allein

    verantwortlich, außerdem waren die damaligen Publizisten grund-

    sätzlich der Ansicht, dass man für diese Arbeit entweder geboren sei

    oder auch nicht. Im Fall von Astrid Ericsson bildeten Talent und gute

    persönliche Verbindungen das Sprungbrett für die Einstellung als

    Volontärin. Die eigentliche Ausbildung war so gesehen sehr individu-

    ell und abhängig von der jeweiligen Zeitung. Das bedeutete, dass die

    Probezeit von ein paar Monaten bis zu ein paar Jahren dauern konnte.

    Dass Astrid Ericsson als so junge Frau eine Stelle bei der Vim-

    merby Tidning bekam, lag am Chefredakteur und Inhaber der Zeitung

    Reinhold Blomberg (1877–1947), dem bereits einige Jahre zuvor die

  • 38

    verblüffenden schriftlichen Fähigkeiten des jungen Mädchens auf-

    gefallen waren. Eines Tages im Spätsommer 1921 hatte er in seinem

    Büro in der Storgatan Besuch von Studienassessor Tengström gehabt,

    der in der Schule Schwedisch, Deutsch und Englisch unterrichtete. Er

    wollte Blomberg einen ungewöhnlichen Aufsatz zeigen, den die erst

    dreizehnjährige Astrid Ericsson geschrieben hatte. Wäre das nicht

    etwas für die Zeitung? Der Aufsatz begann mit den Worten:

    »Es ist ein schöner Augustmorgen. Die Sonne ist gerade aufgegan-

    gen, und die Astern, die in einem Beet mitten auf dem Hofplatz

    wachsen, heben ihre tauschweren Köpfe. Es ist so still, so still

    auf dem Hof. Nicht ein Mensch ist zu sehen. Doch warte, dort

    kommen ein paar kleine Mädchen, die sich eifrig miteinander

    unterhalten.«

    Obwohl Blomberg weder Journalist noch Schriftsteller war, vermochte

    er doch zwischen einem guten und einem schlechten Erzähler zu

    unterscheiden. Das war zu jener Zeit notwendig geworden, denn die

    Zeitungsbranche befand sich im Wandel: Aus althergebrachten Par-

    teiblättern wurden moderne Zeitungen, die sich an die ganze Familie

    richteten und nun weit mehr verkaufen mussten als nur Anzeigen,

    Bekanntmachungen, Diskussionsbeiträge und Moralpredigten. Die

    künftigen Leser wollten informiert und unterhalten werden. Das

    hatte der Geschäftsmann Blomberg begriffen.

    Astrid Ericssons Schulaufsatz »På vår gård« (Auf unserem Hof)

    wurde am 7. September 1921 in der Vimmerby Tidning gedruckt. Der

    Text, der den Lesern als »Leseprobe einer für unsere heutige Jugend

    ganz ungewöhnlichen stilistischen Begabung« präsentiert wurde,

    hatte im Grunde alles, was man von einem journalistischen Unter-

    haltungsbeitrag in einer modernen Zeitung erwartete: eine Bühne,

    die im ersten Satz aufgebaut wird, Menschen, die man sofort vor

    sich sieht und an die man sich erinnert, sowie eine Menge sprach-

    licher Energie und Emotionen. Außerdem handelte er von etwas

    allgemein Bekanntem, womit sich erwachsene Leserinnen und Leser

    jeden Alters identifizieren konnten und wonach sie sich zurücksehn-

    ten. Später sollte das Thema dieses Aufsatzes eine zentrale Stellung

  • 39

    Vier Spielkameraden auf Näs, bewaffnet mit Schaufel, Spaten und Boller-

    wagen. Von links: Gunnar, Astrid, Edit, die Tochter des Stallknechts, die

    Gunnar und Astrid unvergessliche Märchen vorlas, und ganz rechts eine

    Enkelin des Pfarrers aus dem Nachbarhaus.

    im Werk der Schriftstellerin haben: das ungebundene, freie Spiel

    des Kindes.

    Um 1920 spielten die Kinder auf dem Land nahezu ständig im

    Freien, und ihre Spiele entstanden im engen Austausch zwischen

    Mensch, Tier und Natur. Astrid Ericssons eigene Kindheit war – wenn

    die Kinder nicht gerade auf dem Feld mithelfen mussten – so voller

    Spiele gewesen, dass sie sich fast zu Tode gespielt hätten, wie sie später

    oft erklärt hat. In ihrer kleinen Erinnerungsskizze im Buch Fyra syskon

    berättar (Vier Geschwister erzählen) schreibt Astrid:

  • 40

    »Die Spiele, ja, wie sie unsere Tage ausfüllten! Was wäre meine

    Kindheit ohne sie gewesen! Was wäre übrigens mit der Kind-

    heit aller Kinder gewesen, wenn es keine Spiele in ihrem Leben

    gegeben hätte?«

    In dem in der Vimmerby Tidning abgedruckten Aufsatz ging es um das

    intensive Spiel, das für die dreizehnjährige Verfasserin allmählich zu

    Ende ging. Dem Leser begegnen zwei Mädchen, die mit den Vorberei-

    tungen für die feierliche Beerdigung einer toten Ratte beschäftigt sind.

    Würdevoll und mit großem Ernst werden das Tier und sein langer,

    dicker Schwanz in ein feines weißes Taschentuch eingewickelt und

    vorsichtig ins Grab gelegt, denn nun wird die Ratte zu Gott kommen:

    »Ernst und stumm standen die beiden Kleinen da, und Maja rang

    sich aus Gründen des Anstands sogar eine Träne ab. Dann lächelte

    die Sonne, und die Astern beugten sich flüsternd einander zu.

    Vielleicht war es aber auch nur der Wind, der ihre Köpfe zusam-

    menbrachte.«

    Nach der Beerdigung der Ratte gibt es keinen Leichenschmaus,

    dafür kommen eine Menge Kinder in der Dämmerung zu neuen

    Spielen zusammen. Ausnahmsweise können sie sich nicht einigen,

    was sie spielen wollen. Sie sind erschöpft und müde, und daher

    endet das Ganze damit, dass die Kinder nach Hause gehen – doch

    das letzte Satzzeichen der Autorin ist ein Ausrufezeichen, denn mor-

    gen kommt ein neuer Tag mit neuen Spielen: »Gute Nacht, Rassel-

    bande!«

    Physik für Journalisten

    Chefredakteur Blomberg vergaß weder den Schulaufsatz noch seine

    Autorin. Vielleicht wurden ihm auch noch andere Textproben der

    jungen Astrid Ericsson präsentiert. Bislang unbekannte und nicht

    publizierte Aufsatzhefte aus der damaligen Zeit belegen die impo-

    nierende Spannweite ihres Talents. Fünf weitere Schwedischaufsätze

    aus dem Jahr 1921 (neben »Auf unserem Hof« und dem Aufsatz über

  • 41

    das Klosterleben aus dem Jahr 1923) zeigen eine blutjunge, aber

    geschickte Erzählerin, die sich ihrer sprachlichen Wirkungsmittel,

    der Genres und Stilarten sehr bewusst war und ihre Ausdrucksformen

    durchaus zu variieren vermochte.

    »Wir anderen schrieben ja so konventionell«, berichtete die neun-

    zigjährige Greta Rundqvist am 11. November 1997 in der Vimmerby

    Tidning. »Schon in der Schule unterschieden sich Astrids Aufsätze von

    den übrigen und wurden vom Lehrer vorgelesen, der ihre Begabung

    erkannt hatte.« Ob sie von einer einsamen Wanderung von Vim-

    merby nach Krön berichtete, vom Heiligen Abend auf Näs erzählte,

    Anekdoten über einen Amerikareisenden aus dem Ort wiedergab

    oder einen spannenden Versuch im Physikunterricht beschrieb – sie

    Anfang Mai 1923 schreibt die fünfzehnjährige Astrid Ericsson in der Real-

    schule einen Abschlussaufsatz über die Arbeit von mittelalterlichen Klos-

    terbewohnern und lobt in diesem Zusammenhang die Mönche und Non-

    nen für ihre Fähigkeit, »den häufig halb verwilderten Kindern den Inhalt

    der Heiligen Schrift beizubringen«.

  • UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

    Jens Andersen

    Astrid Lindgren. Ihr Leben

    Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 448 Seiten, 15,0 x 22,7 cmISBN: 978-3-421-04703-8

    DVA Belletristik

    Erscheinungstermin: September 2015

    Vor siebzig Jahren begann Astrid Lindgrens außerordentliche Karriere als Schriftstellerin. AufPippi Langstrumpf folgten Bücher, die die Kinderliteratur revolutionierten – und ihre Autorinschon zu Lebzeiten zu einer Legende werden ließen. 2002 verstarb Lindgren 94-jährig; mankannte sie als engagierte Frau, die für Frieden, Gerechtigkeit und die Rechte von Kindern eintrat.Jens Andersen erzählt in seiner preisgekrönten Biografie „ihr Werk und Leben erschreckendneu“ (SZ). Über Jahre hinweg studierte er unveröffentlichte Quellen, und so kommt eineAutorin zu Wort, die nicht nur weltweit Erfolge feiern durfte, sondern Einsamkeit und Trauerkannte und ein Leben lang von Schuldgefühlen geplagt war, weil sie ihren unehelichenSohn bei Pflegeeltern hatte unterbringen müssen. Zugleich aber erzählt Jens Andersen eineGeschichte von Moderne und Modernisierung – Astrid Lindgren, die das 20. Jahrhundertmiterlebt und mitgeprägt hat, wird zu einer bewundernswerten Ikone des Jahrhunderts derGleichberechtigung. "Ich lebe einfach und glaube, man muss jeden Tag so leben, als wäre es der einzige." AstridLindgren

    http://www.randomhouse.de/book/edition.jsp?edi=483886