Joachim Kaiser Interview

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  • SZ-Magazin: Wenn dieses Interview ein Theaterstck wre, was wrde in den nchsten drei Stunden passieren?Joachim Kaiser: Sie wrden im ersten Akt versuchen, mich zu provozieren. Im zweiten Akt htte ich mich heftig dagegen gewehrt. Dann htten Sie ein weniges zurckgenommen und ich htte auch ein weniges zugestanden. Und im dritten Akt htten wir uns vershnt und miteinander eine Flasche Champagner getrunken.Wir htten Sie als konservativen Kulturkritiker attackiert? Vielleicht sogar als Reaktionr. Wenn man jung ist, ist man doch auf der Seite des Werdenden. Ich habe mal bei Goethe in Maximen und Reflexionen den tollen Satz gelesen, dass man im Alter immer auf einer bestimmten Stufe stehen bleiben muss. Man muss also nicht versuchen, bis ganz zuletzt progressiver zu sein als die Jngeren.

  • Sie wren also eher der gtige Alte gewesen und nicht der Zornige, der Verblendete, King Lear? Ich wre der nachdenkliche und etwas depressiv gewordene Skeptiker gewesen. Wissen Sie: Erfahrung kann lhmend sein. Wie viele stolze junge Leute habe ich im Lauf meines Lebens gesehen, und was ist dann aus ihnen geworden?

    Andere werden mit sich selbst depressiv, Sie erkranken eher am Mittelma der anderen? Ich werde depressiv, wenn ich ans Essen denke, wenn ich an meine Erfolge denke, wenn ich an meine Frau denke. Was war ich verfressen, und nun schmeckt es mir nicht mehr. Was war ich stolz ber meine Bcher, als ich 35 war, und nun ist die Arbeit fr mich nur noch wie Therapie. Meine Frau starb vor einem Jahr, danach habe ich mich mit Auftrgen eingedeckt, um mich abzulenken. Ich habe immer noch einen Namen, und die Verlage

  • schicken mir Vorschsse. Nur leider sind die tckisch genug und wollen dafr auch ein Manuskript haben. Worber freuen Sie sich heute? Manchmal denke ich: Das mchte ich auch gern wissen. Aber wenn schon die Kunst nicht Trost sein kann, so macht es mir doch Spa, andere Menschen fr die Kunst zu gewinnen, so wie ich das all die Jahre mit meinen Vorlesungen gemacht habe. Und das war ja fr mich immer lebenswichtig. Das ist eigentlich das Einzige, was meine bermige Produktivitt erklrt: dass ich gern fr Dinge werbe, die mir Spa machen, und auf Dinge schiee, die mir keinen bereiten. Und Bildung ist Ihre Waffe? Waffe wrde ich nicht sagen. Es gibt einen Satz, der so schn zynisch klingt und auf den sich alle verstndigen: Bildung ist das, was brig bleibt, wenn man alles vergessen hat, was man gelesen hat. Aber ich finde, man sollte keineswegs alles Wesentliche

  • vergessen Gibt es fr Sie kein Leben auerhalb des Zitats? Bildungsbrger ist fr mich kein Schimpfwort. Sondern eine Berufsbeschreibung? Ein Kritiker wie ich lebt natrlich mit Prferenzen, schwimmt auf einem Strom von Menschen und Gedanken. Das Schreiben ber Musik ist keine Technik, die man erlernt, es erwchst aus einer lebenslangen, lebendigen und produktiven Beziehung zu den Werken, ob das nun Opern sind oder Symphonien oder Sonaten. Wer sich in die Hochkultur begibt, kommt darin um? Die Hochkultur ist ein Geschenk. Sie ist eine der schnen und gewinnenden und das Leben lebenswert machenden Schpfungen. Ist Kulturpessimismus eigentlich nur geistesfaul oder auch

  • langweilig? Ich bin nicht einer von denen, die stndig behaupten: Da hrt etwas auf. Ich bin sehr gegen Kulturpessimismus. Das Lebendige ist Gott sei Dank unvorhersehbar. Welche Rolle spielt dabei das Alter? Das Alter macht melancholisch. Artur Rubinstein etwa, sicherlich der grte Pianist der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts neben Claudio Arrau und Vladimir Horowitz, war ein unglaublich witziger Kerl, der aber auch seine tristen Momente hatte. Einmal sagte er zu mir: Wissen Sie, Herr Kaiser da war er vielleicht 88 oder 89 , ich habe keinen Gesprchspartner, der die gleichen Erfahrungen gemacht hat wie ich, alle Menschen, mit denen ich mich unterhalte, knnten meine Kinder oder Enkel sein. Und irgendein kluger Mann hat einmal gesagt: Es ist ein auerordentlich wichtiges Recht jedes Knstlers, von seinesgleichen beurteilt zu werden. Ich antwortete damals:

  • Ach, Herr Rubinstein, wie knnen Sie so reden? Wir lieben Sie alle so sehr und bewundern Sie. Sie knnen doch nicht sagen, dass Sie einsam sind. Jetzt verstehe ich sehr gut, was er damit meinte.Sie fhlen sich einsam? Sie knnen sich, wahrscheinlich erfolglos, selbst mit neunzig noch Hals ber Kopf verlieben. Freundschaft aber ist ein menschliches Glck, das sehr viel Zeit braucht. Man muss miteinander verdammt viele Scheffel Salz gegessen haben, man muss Erfahrungen gemacht haben, man muss sich auch mal gestritten haben, man muss ein bisschen aneinander gelitten haben, man muss voneinander gelernt haben. Das macht Freundschaft aus. Haben Sie Talent zur Freundschaft? Ich befreunde mich eigentlich nur mit Menschen, die knstlerisch, sthetisch, musikalisch oder als bildende Knstler etwas zu

  • sagen haben. Wenn das der Fall ist, verehre ich sie. Sind Feinde spannender als Freunde? Ich bin seit relativ jungen Jahren eine Figur des ffentlichen Lebens, ich war eine Art Wunderkind. Ich knnte jetzt Bescheidenheit heucheln, aber das war halt so. Natrlich habe ich fr meine Bcher manche schlechte Kritiken bekommen, sicherlich haben sich manche Theaterleute oder Autoren, denen ich geschadet habe, sehr ber mich gergert. Aber alles in allem haben die Leute sich doch gehtet, sich mit einem, wie sie meinten, mchtigen Publizisten nachdrcklich zu verfeinden. Sie waren umgeben von Feigheit. Wenn Sie wissen wollen, wie Feigheit funktioniert, erzhle ich Ihnen eine Geschichte. Ich war bei Friedrich Sieburg eingeladen, der ein berhmter Publizist war und Paris-Korres-pondent der Frankfurter Zeitung. Whrend des

  • Zweiten Weltkriegs war er in Paris Reprsentant der deutschen Kultur, also der Nazi-Kultur. Als wir ber Cocteau und Picasso und die Zeit damals sprachen, sagte Sieburg einmal zu mir: Herr Kaiser, ich war damals so berhmt, dass ich es ablehnen konnte, zu Hitlers 50. Geburtstag die Wrdigungen zu schreiben. Das machte dann der arme Maxim Fackler. Der musste. Fackler arbeitete spter in der Auenpolitik der Sddeutschen Zeitung, ein wirklich reizender lterer Herr.Was sagt Ihnen das Wort Weltekel? Es ist sehr schwer, an eine positive oder gar gtige Ordnung der Welt zu glauben, wenn man erkennt, dass das gesamte Tierreich aus Fressen und Gefressenwerden besteht. Und wenn man sich vor Augen halten muss, dass es eigentlich eine beklemmende Konstruktion ist, wie ein doch wohl liebevoller und alles in allem die Menschen mit guten

  • Vorstzen geschaffen habender Vater oder Schpfer seinen eigenen Sohn zu einem Martertod scheulichster Art verurteilen muss, nur damit die Menschen weiter an ihn glauben. Das Alter hat Sie aber nicht glubig gemacht? Wie ich argumentiere, wie ich schreibe, das hat viel mit dem protestantischen Pfarrhaus zu tun. Meine Mutter war ja Pfarrerstochter. Aber es tut mir leid, ich werde auf meine alten Tage sicher nicht weiser und auch eigentlich nicht frmmer und nicht religiser. Mir bleibt nur eine gewisse Kantische Verzagtheit: Da sind lauter Sachen, die mit unserem Verstand nicht zu lsen sind. Die religisen Fragen kann einem niemand verbieten aber die Antworten gehen doch weit hinaus ber die Mglichkeiten dessen, was der Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft definiert hat.Daraus folgt Ergebenheit? Das kommt vielleicht noch. Ehrlich gesagt,

  • es krnkt mich ein bisschen, dass ich lter werde. Ich kann mich immer noch nicht fgen. Ich wei es schon. Ich wei schon, was die Geschpflichkeit ist und dass der Mensch lter wird. Mir fllt dabei Erich Kstner ein, damals Chef der Deutschen Akademie fr Sprache und Dichtung. Ein oder zwei Tage vorher war ein hoch geehrtes Mitglied gestorben und Kstner musste den Nachruf halten, was er auch sehr kurz tat. Dann machte er eine kleine Pause und fgte hinzu: Der hat gesagt: Dass ich sterben muss, wei ich, aber ich glaube nicht daran. Nun hat er dran glauben mssen. Wir lachten natrlich alle, und Kstner war ganz erschrocken, weil er den Doppelsinn nicht verstand. Der wusste gar nicht, dass er auf Kosten des Toten einen Witz gemacht hatte. Aber Sie, als alter Ironiker. Ironie ist eine tolle Sache und ein Alibi, sich vor Entscheidungen zu drcken. Die

  • Ironie spielt in meinem Leben tatschlich eine groe Rolle. Kann ich das ausfhren? Bitte. Ich bin ja 1928 geboren, ich wurde also in der Nazizeit gro. Ich hatte eine behtete Kindheit in einer kleinen deutschen Provinzstadt. Mein Vater verdiente sehr gut. Er war ein beliebter Arzt. Wir hatten zwei Autos. Wir hatten, was es heute gar nicht mehr gibt, massenhaft Dienstmdchen, die mir die Schuhe zumachten. Das war ganz schn. Mein Vater war ziemlich musisch, er machte viel Kammermusik in unserem Haus in Tilsit, ich lernte damals Leute kennen wie die Pianisten Wilhelm Kempff oder Edwin Fischer. Ich musste auch nicht zur Hitlerjugend, weil mein Vater dem jungen Kollegen, der mich untersuchte, nur sagte: Mir wre es lieb, wenn Sie meinen Sohn nicht brauchen. Und der schrieb mich einfach krank. Einen Satz dieses jungen Arztes werde ich dabei nie

  • vergessen: Wenn dich doch jemand zum Dienst zwingen will, dann nenne mir den Namen, dann wird er bestraft. Sie waren privilegiert. Und fing doch an, unter der fanatischen Sprachregelung, die damals herrschte, zu leiden. Mir passte das nicht. Die Leute mussten ja alle ffentlich reden wie fleischgewordene Fahnensprche. Man durfte nicht skeptisch sein, man durfte nicht deftistisch sein, man hatte sich geflligst mit Freude dem Hitler und seinen Plnen zur Verfgung zu stellen. Ich merkte, dass ich mich dagegen wehren musste und da habe ich die Literatur entdeckt. Mein Vater hatte viel von Thomas Mann im Schrank und sagte, na ja, der Zauberberg sei wohl noch nichts fr mich. Es gibt kaum einen Satz, der einen intelligenten Jungen mehr dazu animiert, etwas zu lesen! Und so las ich mit elf Jahren den Menschenfeind von Molire, spter den Zauberberg

  • von Thomas Mann und kam so zur Ironie, die mir Argumente und auch Haltungen lieferte, um mich gegen eine fanatisierte ffentliche Gestimmtheit zu wehren. Ich erinnere mich zum Beispiel an den schrecklichen Knigsberger Gauleiter, der aus Wuppertal kam, und mit einem lteren Gerichtsprsidenten zu tun hatte, so einem skeptischen Ostpreuen. Der Gauleiter sagte zu ihm: Herr Prsident, wir leben in einer groen Zeit. Da antwortete der Gerichtsprsident: Eine kleinere wre mir lieber.Bekenntnisse eines Unpolitischen. Ich war nie so links wie meine Freunde von der Gruppe 47, das ist richtig. Aber wenn ich auf eine richtige Schweinerei treffe, dann rege ich mich genauso auf wie mit 19 Jahren. Wenn ich das nicht tte, wre ich tot. Und wenn die Ironie zum Alibi wird? Ich habe neulich mal wieder den Zauberberg gelesen und auch den

  • Doktor Faustus, da habe ich doch auch gemerkt, wie viel Manieriertheit und wie viel Selbstgeflligkeit sich mit diesem ironischen Deutschen verbinden kann. In meiner Jugend war die Ironie fr mich tatschlich eine Waffe heute wrde ich sagen, nur ironisch zu sein, das hielte ich doch fr eine Art von Ausflucht.Dann lieber die Flucht ins Pathos? Ich habe nichts gegen Pathos. Pathos ist Zeichen einer inneren Gespanntheit. Wenn Pathos in der ffentlichkeit erscheint, im Theater etwa, dann braucht es Raum. Pathos berwindet einen Abstand zwischen mehreren Figuren. Wenn Knig Philipp und Don Carlos und der Marquis von Posa miteinander reden und es wird ihnen ernst, dann werden sie pathetisch und sprechen groe Schillersche Stze in groem Ton. Das ist durchaus eine Form von Leben. Gibt Pathos dem Leiden erst seine Gestalt? Pathos gehrt zum Leben.

  • Wenn jemand in seinen vier Wnden pathetisch herumschreit, etwa ein Haustyrann, ist er einfach eine komische Figur. Aber wenn Pathos das Leiden ernst nimmt, kann Groes daraus entstehen. Was ging es zum Beispiel dem Beethoven gesundheitlich schlecht: Der hatte Durchfall und Bauchgeschichten, war schon deshalb gezwungen, jeden Tag vier, fnf Stunden spazieren zu gehen, weil er sonst mit seiner Gesundheit nicht fertig geworden wre. Aber aus dieser Art von Malaise hat er eben das Allegretto aus der Siebten Symphonie gemacht oder den ersten Satz der Neunten Symphonie oder bestimmte Stellen aus der Appassionata. Bei Verdi dagegen begegnen einem auch die etwas simpleren Formen von Pathos der wusste schon, auf was die Leute hereinfallen. Kunst, das zeigt Beethoven, kann Zuflucht sein, Schutz vor dem Leben. Kunst ist etwas anderes als

  • das Leben. Nach dem Tod meiner Frau haben viele Menschen zu mir gesagt, Jochen, du hast doch die Musik, die groe Kunst, das ist doch eine Art von Trost. Aber ich konnte damals keine Musik hren, keinen Ton. Wenn man selbst psychisch belastet oder erkrankt ist, was ja keine Schande ist, dann hat man nicht mehr die Freiheit und die geistige und seelische Verfassung, um mit groer Kunst kommunizieren zu knnen. Wenn es einem schlecht geht, hilft einem die Kunst leider berhaupt nicht. Auf dem Flgel hier im Zimmer stehen die Noten einer Bach-Fuge. Was suchen Sie, was finden Sie bei Bach? Bach ist der grte Harmoniker gewesen, den es in der Geschichte der Musik gab. Bei ihm tnt die Musik-Sprache ganz selbstverstndlich. Er ist ungeheuerlich reich. Seine Vielstimmigkeit gewinnt eine enorme Tiefe. Ich spiele zum Beispiel sehr gern

  • die Orgelwerke von Bach auf dem Flgel. Da gibt es Bearbeitungen von Liszt, von einigen Orgelprludien und Fugen. Eine Musik, die groe Wahrheit enthlt. Welche Wahrheit wre das? Bach hat berhaupt nicht diese etwas selbstdemonstrative imperiale Geste, die man doch bei Beethoven, auch bei Wagner und berhaupt im ganzen 19. Jahrhundert bis zu Strauss hin finden kann. Da zeigen die Komponisten, was sie knnen. Bei Bach ist die Geschichte der Musik und der Musiksprache in unglaublicher Weise in seinem Werk enthalten. Wenn die Wahrheit Bachs eine technische ist, was ist die Wahrheit Mozarts? Mozart besitzt einen unbeschreiblichen Reichtum, depressive und kleine traurige Einzelheiten hinzuzufgen. Das geschieht nicht in seinen ausgesprochenen Moll-Werken, die auch sehr schn sind. Doch da nimmt

  • Mozart quasi manchmal Beethoven vorweg und der konnte das noch ein bisschen besser. Aber in Mozarts Dur-Werken, etwa in der Prager Symphonie, da erscheinen pltzlich wie aus dem Nichts Moll-Schatten. Und man ist berwltigt.Gibt es ein Musikstck, das Sie nicht hren knnen, ohne zu weinen? Ich habe praktisch noch nie in meinem Leben Kopfschmerzen gehabt. Ich kann mich eigentlich nicht erbrechen, ich habe vielleicht zweimal gekotzt. Und ich kann auch kaum weinen. Schade, es muss erleichternd sein, wenn man heulen oder kotzen kann. Und nicht alles bei sich behlt. Aber Leidenschaft hat fr Sie mit Musik zu tun, nicht mit Literatur? Und Verehrung mit Musikern, nicht mit Schriftstellern? Na ja, Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger habe ich nicht nur verehrt, sondern sogar ein bisschen geliebt.

  • Ilse Aichinger, haben Sie einmal gesagt, werden Sie immer fr einen Satz lieben: Und der Haifisch trstete sie, wie nur ein Haifisch trsten kann. Was berhrt Sie an diesem Satz sosehr? Der Satz bezieht sich auf die Jdin Ellen aus Ilse Aichingers Roman Die grere Hoffnung. Ellen trumt, dass sie mit wenigen Kindern auf einem kleinen Flo ist, inmitten eines schrecklichen Ozeans. Hinten sieht man ganz fern und unerreichbar die Freiheitsstatue, nur ein Haifisch hatte sich ihnen angeschlossen. Zunchst mal ist ein Haifisch ja nun wahrlich das Gegenteil eines Vertrauen erweckenden Tieres, sondern das Bse und Grausame quasi in Essenz. Wie nun aber die Aichinger in einem Albtraum die Idee produziert, die Welt so aus den Fugen zu finden, dass Trost von nichts anderem kommt als von den eigentlich allerschlimmsten Geschpfen, das hat fr mich eine berraschende poetische Wahrheit.

  • Sie beziehen dieses Bild auch auf die Nazizeit. Natrlich. Wenn eine Halbjdin so etwas im Jahr 1943 trumt, dann ist die Nazizeit als Aura da. Sie waren damals in Tilsit. Und ich war kein Antinazi. Hat Sie das jemandem wie Ilse Aichinger sogar nher gebracht? Wir jungen deutschen Nachkriegs-Intellektuellen kannten wegen der Nazizeit die Bedeutung der jdischen Intellektualitt kaum. Wir hatten die Zwanzigerjahre nicht erlebt und jdische Intellektuelle nie kennengelernt. Es wirkte dann ungeheuerlich, bei Adorno oder eben Aichinger diese jdische Geistigkeit zu erleben.Es war klar, dass es sich um jdische Geistigkeit handelte. Die man sehr bewunderte. Die identifizierbar war? Wissen Sie,

  • meine Mutter hie Abramowski. Der Name klingt nicht gerade germanisch. Ich bin sogar von sehr vielen Leuten fr jdisch gehalten worden, was ich brigens immer gern als Kompliment genommen habe. Ich hoffe, dass ich ein bisschen was von einem jdischen Intellektuellen habe. Ich rede auch mit den Hnden. Und ich war ein ausgesprochenes Schokind von denen. Die haben ja intelligente junge Leute gern.Und doch nahmen Sie aus den Ruinen Deutschlands ein spezielles deutsches kulturelles berlegenheitsgefhl mit. In dem Interviewbuch Ich bin der letzte Mohikaner, das Ihre Tochter Henriette gemeinsam mit Ihnen gemacht hat, sagen Sie: Kein Volk kann nur leben vom, grob gesagt, Sich-Beknirschen. Steckte in uns nicht auch die Erinnerung eines greren und anderen Deutschlands? Und: Waren die

  • Amis nicht auch blo barbarische Russen mit Bgelfalten? Das dachte man damals, ressentimentgeladen, schon manchmal. Und es war ja tatschlich so etwas wie eine kulturelle Krnkung, als etwa die Russen in den Sechzigerjahren das uralte Knigsberger Rathaus abrissen und stattdessen ihr Kulturhaus dorthin stellten, eine ungeheuer hssliche Bauruine. Die Statik funktionierte nicht, acht Stockwerke, und kein Mensch kann darin wohnen. Man sollte freilich nichts dagegen sagen, weil das, was wir Deutsche den Russen angetan haben, unendlich schlimmer ist. Trotzdem krnkt es einen, und ich wollte es eigentlich so nicht wiedersehen. Sie haben mehr als sechzig Jahre gewartet, bis Sie Masuren wieder besuchten, die Landschaft Ihrer Kindheit. Ich bin ja kein Revanchist, ich habe nie an Flchtlingstreffen

  • teilgenommen, aber natrlich sitzt dieser Schrecken immer noch tief in mir. Diese qulende Erinnerung. Und das Allerschlimmste ist, man kann die Qual nicht ffentlich uern. Aber es gibt doch kein Schweigegebot haben sich die Menschen nicht eher freiwillig verschlossen? Die Hlle der Luftangriffe kann man sich heute gar nicht vorstellen. Wenn man in so einem Keller sitzt und die Einschlge immer nher und nher kommen und man nichts tun kann, als zu hoffen, dass man nicht getroffen wird. Diese Angst, die immer prsent war, hat zum Beispiel dazu gefhrt, dass selbst in der phnomenalen Karriere von Wilhelm Furtwngler die Konzerte, die er zwischen 1941 und 1945 machte, mit Abstand die besten waren. Weil die Menschen whrend des Konzerts eben nicht schon darber nachdachten, wo sie spter zum Essen hingehen sollten sondern sich fragten, ob sie morgen

  • noch auf der Welt sind. Eine euphorisierende Untergangsenergie? So zynisch es klingen mag, es war eigentlich ein groes Glck, dass das Stauffenberg-Attentat gescheitert ist. Denn in der totalen Niederlage steckte eine enorme Kraft. Es hat wohl noch nie eine Nation so verloren und ist so mit den eigenen Mitteln geschlagen worden wie die Deutschen. Mnchens Innenstadt zu 90 Prozent kaputt, Hamburg, Essen, Berlin. Diese flchendeckende Zerstrung hat man mit einem gewissen Recht als Strafe dafr empfunden, vielleicht unbewusst, was im Namen Deutschlands nicht nur den Juden, sondern Russen, Englndern, Polen und so vielen mehr angetan wurde. Das hat man verinnerlicht. Man hat gesagt, ja, das haben wir verdient, und jetzt fangen wir wieder an. Eine ganz andere Bedeutung von Befreiung: Befreiung von sich

  • selbst. Man konnte nicht mehr sagen: Die deutschen Soldaten sind die besseren, im Felde unbesiegt. Man konnte nun sagen: Ohne mich. Ja, wir waren frei, weil wir alles verloren hatten. Jetzt schauten wir nach vorn. Die Angst war vorbei. Nun kam der Rausch des Anfangs.Die berhmte, die widersprchliche Stunde Null? Das hat schon vorher angefangen. 1945 sind keine Ideale mehr zusammengebrochen. Es kann keinen halbwegs intelligenten Menschen gegeben haben, der so ahnungslos war, dass er nicht sptestens nach Stalingrad 1943 anfing, ans Ende zu denken. Das ist auch der Zwist, den ich mit meinem Freund Gnter Grass habe, der uerte, er habe erst 1945 bei den Nrnberger Prozessen erkannt, dass Hitler kein feiner Mann war und die Nazis doch irgendwie Dreck am Stecken hatten. Stalingrad ist der eigentliche Einschnitt gewesen. Da

  • wurde mir klar, dass der Krieg verloren ist. Die Existenz danach war wie ein dunkler Tunnel und die einzige Frage: Wie kommst du hier jemals raus? Und als Sie aus dem Tunnel lebend herauskamen, wollten Sie nicht mehr zurckschauen? Wie ein betrchtlicher Teil der Bevlkerung. Wir hatten das Bewusstsein, dieses Schicksal verdient zu haben, und fhlten, dass es lhmend sein kann, allzu viel ber so etwas wie Schuld nachzudenken. Die Beglaubigung der Schuld in den Ruinen befreite von der Zeit davor. Ja, ein wenig. Forsch nach vorn aus diesem Geist entstand auch die Gruppe 47. Viele Emigranten aus der Weimarer Zeit fhlten sich ausgeschlossen, durch eine gewisse jugendliche Khlheit. Die Gruppe 47, das waren geschlagene deutsche Wehrmachtsangehrige, die

  • sagten, die Nazis haben die Sprache und die Literatur kaputt gemacht, wir fangen jetzt neu an. Und alles, was vorher war, das hat mit uns nichts mehr zu tun. Das hat im Einzelnen zu groen Krnkungen gefhrt. Es gibt den Vorwurf, die Gruppe 47 sei antisemitisch gewesen. Das kann schon deshalb nicht sein, weil Wolfgang Hildesheimer und Erich Fried dabei waren. Und mein Freund Guggenheimer. Doch natrlich haben sich jdische Literaten wie Hans Habe oder Robert Neumann gekrnkt gefragt, warum sie nicht eingeladen wurden. Herr Habe, habe ich ihm in einem kilometerlangen Brief geantwortet, die Gruppe 47 ldt auch die berhmten lteren nicht jdischen Deutschen keineswegs ein, den Manfred Hausmann nicht und den Ernst Wiechert nicht und den Ernst Jnger schon gar nicht. Sie ldt ja auch Max Frisch nicht ein. Da treffen sich junge geschlagene deutsche

  • Schriftsteller.

    Wie hat es die Gruppe 47 geschafft, die deutsche Nachkriegskultur so zu dominieren? Das lag zuallererst an Hans Werner Richter, der war ein gruppenbildendes Genie. Er behandelte uns alle gleich schlecht, wie ein Feldwebel bellte er uns an: Gnter, schwtz nicht mehr! Jens, setz dich hin, wir machen jetzt weiter! Die Gruppe 47 war seine Privatangelegenheit. Und wenn sie Erfolg hatte, dann ist sie auch an ihrem Erfolg kaputtgegangen. Als spter lauter Journalisten und Lektoren dabei waren. Aber im Grunde scheint es ganz normal: Jede Zeitschrift, jede Institution des objektivierten geistigen Seins, um es mal ganz primitiv zu sagen, hat eine gewisse Lebenszeit. Und dann ist es aus. Fehlt der Gegenwart der Geist der Gruppe 47? Was fehlt, sind der Mut

  • und die Freiheit, die erst entstehen, wenn tatschlich Krfte aufeinanderstoen. Wenn man also Kritik ffentlich austeilt und aushlt. Heute herrschen eher die Usancen des Nettmiteinanderseins.Ein gesellschaftliches Phnomen: Feigheit, die zu Mittelma fhrt? Da ist es doch ein Kunststck, sich nicht zu langweilen. Die Politik treibt mich besonders in die Resignation. Da kommt die Merkel, die ist ja recht nett, und fngt damit an, dass sie sagt, das deutsche Steuersystem sei derartig kompliziert, das msse man vllig vereinfachen. Und dann springt ihr sogar noch ein Professor bei und schlgt ihr vor, wie das zu machen sei. Doch dann lsst die Merkel den Paul Kirchhof fallen, und das Steuersystem wird von Tag zu Tag schwieriger. Auch wenn man bei uns dreiig Jahre lang darber diskutiert, ob Ladenschlussgesetz ja oder nein, dann scheint das doch objektiv

  • schwachsinnig. Dafr ist mir mein Leben zu schade. Welche Rolle spielen bei all dem die Zeitungen? Die kamen mir frher persnlicher vor. Heute mssen die Leute dort ja unheimlich viel arbeiten, sie sitzen allein vor ihren Computern und reden kaum noch miteinander, auer wenn sie sich auf der Herrentoilette treffen. Frher war das anders, frher gingen wir mittags ausfhrlich essen, und zwar keineswegs in die Kantine, sondern in ein anstndiges Lokal, und tranken eine Flasche Wein und gingen so gegen halb vier wieder in die Zeitung zurck. Zwei, drei Aufstze pro Ausgabe, und der Fall war erledigt. Womit Sie alle Vorurteile gegen das Feuilleton besttigen. Es ist doch immer dasselbe: Das Feuilleton wird belchelt als Region der Spinner. Und dann merken die Chefs, dass die Menschen, die sie treffen, mehr von den Theater- und Musikkritiken reden

  • als von den Leitartikeln. Dann sind sie pltzlich stolz auf ihre Feuilletonisten, weil sie sich mit ihnen schmcken knnen. Man spricht in Gesellschaft gern ber solche gemeinschaftsverbindenden Feuilletongegenstnde wie Opernpremieren. Das ist heute auch noch so, glaube ich, aber natrlich entwickelt die Kultur aus sich heraus lngst nicht mehr die Gesetzmigkeiten und Stilgesetze wie damals. Heute scheint ja alles mglich, und dadurch wird die kritische Betrachtung eigentlich weniger folgenreich und weniger bedeutsam. Sie fhlen sich einsam in unserer Gegenwart ist es das, was Sie meinen, wenn Sie von sich als dem letzten Mohikaner sprechen? Den Kampf um Werktreue, das heit, dass jedes Werk gebunden vieldeutig sei, aber nicht beliebig-faul-vieldeutig, diesen Kampf habe ich

  • offensichtlich verloren. Ich verstehe ja intellektuell, was die Regisseure damit wollen, es geht mir nur gegen den seelischen Strich. Mein Gefhl stimmt einfach nicht damit berein, wenn historische Stcke aus ihrem zeitlichen Rahmen gebrochen werden, weil eben im 15. Jahrhundert ein ganz anderes Tugendsystem herrschte als heute. Gibt es einen Punkt, an dem Sie sich von der Gegenwart verabschiedet haben? Es war wohl ungefhr zu der Zeit, als Peter Jonas Intendant der Staatsoper in Mnchen wurde. Also etwa ab 1993. Seine Hndel-Auffhrungen waren zum Teil recht witzig, doch ich kannte das schon aus London. Aber es gab keine einzige Wagner- und keine Mozart-Auffhrung, die mir auch nur partiell gefallen htte. Ein Gefhl der kulturellen Vereinsamung? Die seit dem Tod meiner Frau auch eine persnliche Vereinsamung ist. Als meine Frau noch

  • lebte, sagte ich grimmig: Wenn du da bist, gehst du mir auf die Nerven, wenn du weg bist, fehlst du mir. Eine ziemlich realistische Beschreibung der meisten ehehnlichen Verhltnisse. Als mir nun neulich mal wieder die Decke auf den Kopf fiel, fuhr ich nach Forte dei Marmi, ein ziemlich teurer italienischer Kurort, dem Thomas Mann seine berhmte Novelle Mario und der Zauberer gewidmet hat. Als ich dort war, wurde mir klar, dass ich zum ersten Mal, solange ich denken kann, eine solche Urlaubsreise allein machte. Der Unterschied: Wenn man verheiratet ist und gemeinsam fhrt, dann sagt man: Guck dir mal diesen Mann an, sein Dackel hat ganz genau das gleiche dmliche Gesicht wie er. Also keine tiefsinnige Bemerkung, aber eine Reaktion aufs Lebendige. Reist man allein, fehlt einem das. Selbst die Erfolge, die ich noch manchmal habe, machen mir keinen allzu groen Spa mehr, es ist ein bisschen langweilig und lhmend, solo

  • zu existieren. Wie haben Sie den Tod Ihrer Frau erlebt? Als eine Krnkung. Wir fhrten keine ideale Ehe, das gibt es gar nicht. Der Schriftsteller Walter Dirks hat einmal zu mir gesagt: Die Ehe ist dazu da, dass die Menschen sich an die menschlichen Bedingungen des Lebens gewhnen. Heute wrde ich noch weitergehen. Wenn ich irgendwo ein ganz eng umschlungenes, sich wahnsinnig ostentativ liebendes junges Paar sehe, dann wei ich: In einem Vierteljahr sind die vllig verkracht auseinander. Wenn ich dagegen ein junges Paar beobachte, wo sie anfngt, eine Geschichte zu erzhlen, und er sie sofort unterbricht, nein, das sagst du ganz falsch, das war doch so und so, und wenn er dann etwas vortrgt und sie kritisiert, lass es doch, das hast du doch schon fnfzehn Mal erzhlt: Dann wei ich, die Beziehung dauert fnfzig Jahre. Sind Sie dem Tod

  • nhergekommen? Nein. Ich wei schon, dass ich sterben muss, und wahrscheinlich relativ bald. Aber ich vermag daraus keine Konsequenzen zu ziehen.Was kann man ber den Tod berhaupt Sinnvolles sagen? Man kann sich den Tod nicht vorstellen. Alle uern immer dasselbe: Gegen den Tod haben sie nichts, sie wollen nur keinen schrecklichen Schmerz und keinen schlimmen Todeskampf. Darauf lege ich auch keinen gesteigerten Wert. Ich bin durch den Tod meiner Frau dem Sterben etwas nhergekommen, aber ich habe nichts fr mein Leben gelernt. Wir haben Sie eingangs gefragt, wie dieses Interview beginnen msste, wenn es ein Theaterstck wre. Wie msste es jetzt enden? Kommt darauf an, wer das Theaterstck geschrieben htte. Wie wrde Beckett so ein Gesprch ausgehen lassen? Das Wort Kritiker

  • kommt, glaube ich, in seinem Werk nur einmal vor, und auch nur in der franzsischen bersetzung von Warten auf Godot: Wenn Wladimir und Estragon sich mit schrecklichen uerungen beschimpfen. Ganz zum Schluss, nach mannigfachen Schmhungen, sagt dann der eine: Du Kritiker! Und der andere bricht zusammen.Wre es ein Stck von Beckett, dann wrden wir hier ewig sitzen. Aber jedes Menschenleben fngt neu von vorn an. Was mssten wir alle fr erotische und gescheite Knstler sein, wenn wir die ganzen Erfahrungen der Menschheit in uns fruchtbar zu machen vermchten: Man liebt sich ja schon seit vielen tausend Jahren. Also Champagner. Richtig. Champagner!