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Medienbildung und das Social Web: Rahmenbedingungen zukunftsoffener Medienbildungsarbeit unter Bedingungen vernetzer Sozialität.. Preprint, Publikationsdatum: 1. Dezember 2011 Benjamin Jörissen , Universität ErlangenNürnberg [email protected], http://joerissen.name Eine redaktionell überarbeitete Fassung dieses Textes erscheint in: Stapf, I./Lauber, A./Fuhs, B./Rosenstock, R. (Hg.): Kinder im Social Web. Qualität in der KinderMedienKultur. BadenBaden: Nomos 2012. Dieser Text darf unter der folgenden Lizenz ganz oder in Auszügen verwendet werden (offenes Dateiformat per Email erhältlich). Für wissenschaftliche Zitate wird die Verwendung der o.a. Druckfassung nachdrücklich empfohlen. Dieser OnlineText enthält unkorrigierte Passagen und kann stillschweigenden Änderungen unterliegen bzw. depubliziert werden. „Medienbildung und das Social Web“ von Benjamin Jörissen steht unter einer Creative Commons NamensnennungNichtKommerziellKeineBearbeitung 3.0 Unported Lizenz

Jörissen: Medienbildung und das Social Web (Preprint)

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Medienbildung  und  das  Social  Web:  Rahmenbedingungen  zukunftsoffener  Medienbildungsarbeit  unter  Bedingungen  vernetzer  Sozialität..

Preprint,  Publikationsdatum:  1.  Dezember  2011

Benjamin  Jörissen,Universität  Erlangen-­‐Nürnberg

[email protected],  http://joerissen.name

Eine  redaktionell  überarbeitete  Fassung  dieses  Textes  erscheint  in:  

Stapf,  I./Lauber,  A./Fuhs,  B./Rosenstock,  R.  (Hg.):  Kinder  im  Social  Web.  Qualität  in  der  KinderMedienKultur.  Baden-­‐Baden:  Nomos  2012.

Dieser  Text  darf  unter  der  folgenden  Lizenz  ganz  oder  in  Auszügen  verwendet  werden  (offenes  Dateiformat  per  Email  erhältlich).  

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„Medienbildung  und  das  Social  Web“  von  Benjamin  Jörissen  steht  unter  einer  

Creative  Commons  Namensnennung-­‐NichtKommerziell-­‐KeineBearbeitung  3.0  Unported  Lizenz  

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 Das Social Web als Inklusions- und TransgressionsphänomenUm die Bildungspotenziale Neuer Medien einzuschätzen, ist es nötig, nicht mit alten

Beobachtungsschemata auf sie zu schauen, sondern sie gleichsam von innen heraus, in der Neuheit ihrer komplexen Strukturen und Architekuren, zu verstehen. Um das, was das Internet heute ist, zu verstehen, ist es meines Erachtens unumgänglich, seine junge Entwicklungsgeschichte in den Blick zu nehmen. Denn erst in einer solchen Perspektive werden entscheidende Details eines medien- und kulturgeschichtlichen Umbruchs, der ohne Vorbild ist, sichtbar – Details, die uns einerseits davor bewahren sollten, simplifizierenden Begriffen wie etwa der des „Mitmachnetzes“ und instrumentalistischen Werkzeugmetaphern wie der des „Internet-Nutzers“ zu vertrauen, und die es umgekehrt ermöglichen, differenzierte pädagogische Einschätzungen vorzunehmen.

Betrachtet man die historische Entwicklung des Internet, so lassen sich grob drei (nimmt man den derzeitigen Trend zu mobilen internetfähigen Kleingeräten wie Smartphones und Smartpads hinzu, vier) einander überlappende Phasen unterscheiden.

Vor dem World Wide Web: Interaktions-Inseln

Die erste Phase bezeichnet die Entwicklung des Internet (ab 1968) vor Entstehung des World Wide Web (WWW) im Jahr 1990. Das WWW wird häufig mit „dem Internet“ gleichgesetzt, stellt aber tatsächlich nur ein Subnetz des Internet – neben anderen Subnetzen, die mit eigenen Anwendungen und Kommunikationsprotokollen arbeiten, dar. Das Prä-WWW-Internet der 1970er und 1980er Jahre war durch eine Vielzahl interaktiver Angebote geprägt. Von der Email und den Mailinglisten, die bis heute nicht abgelöst wurden, über das Diskussionsforen-System USENET mit seinen zehntausenden, hierarchisch gegliederten Diskussionsgruppen, bis zu den meistens von Universitätsrechnern bereitgestellten TELNET-basierten Informations- und Interaktionsangeboten und dem Ende der 1980 Jahre entwickelten Internet Relay Chat-Netz (IRC) war das Internet stets eine Mischung aus Informations- und Interaktionsangebot.

Die Angebote waren allerdings kaum bis gar nicht miteinander verbunden, weil sie erstens in untereinander inkompatiblen Subnetzen und stattfanden und zweitens auch innerhalb eines Subnetzes weltweit tausende Server jeweils unterschiedliche eigene Angebote (wie Bibliothekszugänge, MUD-Rollenspielwelten, eine Auswahl von Usenet-Diskussionsforen, bestimmte IRC-Chaträume mit oft lokaler Relevanz) bereithielten. Festzuhalten ist jedoch ein wesentlicher Punkt: der heute vielbeschworene „User generated content“, also die Tatsache, dass die Inhalte vernetzter Kommunikationsangebote nicht von Plattformanbietern, sondern ausschließlich von den NutzerInnen bereitgestellt werden, war im Prä-WWW-Internet selbstverständlich. Der „Produser“, also der „produzierende Nutzer“, wie es im Web 2.0-Diskurs gerne heißt, ist

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alles andere als ein neues Phänomen: es ist lediglich eines, dass in den 1990er Jahren, der Phase der Ausbreitung des Internet durch den Erfolg des Subnetzes World Wide Web, vergessen wurde, und das heute allerdings in einer ökonomisch unterbauten Form global forciert wird.

Das WWW der 1990er Jahre als Integrationsraum

Die zweite Entwicklungsphase des Internet bezeichnet ungefähr die erste Entwicklungsdekade des WWW, also die 1990er Jahre. Das von Tim Berners-Lee als Ein-Mann-Nebenprojekt am Schweizer CERN entwickelte WWW basierte zunächst auf der Kerntechnologie der mit einer eindeutigen Adresse versehenen, in sich strukturierten, statischen Textseite (html-Seite: Hyper Text Markup Language), des Hyperlinks, der auf andere Seiten verweisen konnte, und einem Protokoll (http: Hyper Text Transfer Protocol). Im Gegensatz zu den anderen Subnetzen setzte aktive Partizipation im WWW ökonomische Ressourcen (Besitz einer Webadresse, Anmietung eines Webspaces) und technische Kompetenzen (html-Seitenprogrammierung und -upload) voraus. Das WWW war insofern für die meisten Menschen eher ein flexibles und leicht zugängliches Rezeptionsmedium. – Gerade diese Verwandtschaft mit der literalen Buchkultur mag für seinen enormen Erfolg mitverantwortlich sein: man konnte es leicht verstehen.

Der Erfolg des WWW seit Mitte der 1990er Jahre trug dazu bei, dass mehr und mehr multimediale und interaktive Inhalte implementiert wurden; so zum Beispiel Web-Forenangebote oder Online-Communities (wie die immer noch existente Funcity) Ähnlich wie im „alten“ Internet waren diese Angebote untereinander kaum vernetzt, doch immerhin bot das WWW der 1990er Jahre einen Integrationsraum, insofern es diese strukturell sehr unterschiedlichen Angebote erstens mittels einer einzigen Anwendung – des Webbrowsers – verfügbar machte und es zweitens ermöglichte, via Hyperlink andere Angebot per Mausklick erreichbar zu machen.

Das neue Netz als emergentes Phänomen

Die ca. ab 2002 bis 2006 anschließende dritte Phase, als „Web 2.0“ oder heute „Social Web“ bezeichnet, wurde technologisch durch die Herausbildung und Durchsetzung eines Bündels neuer Technologien ermöglicht, wie etwa die Durchsetzung offener, freier Standards (zur Datenbeschreibung und zum Datenaustausch). Im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der Webbrowser wurde es möglich, vom Paradigma der jeweils relativ langwierig als Ganzes herunterzuladenden einzelnen WWW-Seite zur weitgehend beliebig gestaltbaren interaktiven Oberfläche überzugehen.

Tatsächlich aber handelt es sich beim „Web 2.0“ nicht nur um ein technologisches, sondern gleichermaßen um ein soziales (und medienkulturelles), informationelles und ökonomisches Phänomen. Eine oft geäußerte Kritik am Marketinglabel „Web 2.0“ (das

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vom IT-Verleger Tim O’Reilly um 2004/2005 global bekannt gemacht wurde) verweist darauf, dass es nicht einen „Versionswechsel“ des WWW gab, sondern vielmehr eine Entwicklung unterschiedlicher Technologien seit Mitte der 1990er Jahre. Dies greift aber zu kurz – denn an der (freilich technologisch irreführenden) Metapher des Versionswechsels dokumentiert sich ein emergentes Aufeinandertreffen sozialer, informationeller, ökonomischer und technologischer Entwicklungen, das als Ganzes betrachtet ein, wenn auch im Detail bisweilen schwer abgrenzbares, „Neues Netz“ (Schmidt 2009) hervorbrachte. Hierbei spielen besagte technologische Entwicklungen, die faktische Verfügbarkeit des Gesamtnetzs durch neue Suchtechnologien (damals Google), die Verbilligung des Netzzugangs und später die Verbreitung von Hochgeschwindigkeitszugängen, die Entstehung der Blogosphere, der Ausbreitung sozialer Online-Netzwerke, kollaborativer Großprojekte wie Wikipedia und schließlich die Übertragung habitualisierter medienkultureller Seh- und Hörgewohnheiten in das Netz (Videosites, Musikangebote) eine tragende Rolle.

„Leben im Netz“ vs. „vernetztes Leben“

Die damit gegebene tiefe Verankerung des Social Web in den Alltag vieler Menschen wird gegenwärtig durch die massenweise Verbreitung mobiler Webzugänge und miniaturisierter Endgeräte (Smartphones, Smartpads) potenziert. Wenn die US-amerikanische Sozialpsychologin Sherry Turkle in ihrem Band „Life on the Screen“ (Turkle 1998) vor dem Hintergrund der Internet-Technologien der 1980er Jahre von einem „Leben im Netz“ sprach (so der deutsche Titel des Bandes), müsste man heute eher vom „Netz im Leben“, letztlich von einer Durchdringung des Lebens durch das Netz, welche die ehemalige Leitdifferenz „medial vs. außermedial“ alltagspraktisch erodieren lässt, sprechen.

War das „Web 1.0“, also das WWW der 1990er Jahre, durch einen Prozess der zunehmenden Integration von medialen und interaktiven Optionen geprägt, so kann man für das „neue Netz“ eher von einem Inklusionsraum sprechen. Inkludiert werden

• die Individuen (ehemals: „Nutzer“), deren Leben aufgrund der enorm gesenkten Partizipationsschwellen zu einem Teil der vernetzten Mediosphäre wird (und umgekehrt),

• die Daten, die in universalen Beschreibungsformaten abgelegt und zunehmend auch auf dieser Ebene semantisch erschlossen werden, und folglich

• die einzelnen Anwendungen des Social Web, die in aller Regel nicht mehr voneinander trennbar sind: jedes Datum, jeder Beitrag kann und wird automatisiert – und kaum kontrollierbar – in unterschiedlichsten Kontexten und an unterschiedlichsten Stellen auftauchen.

GRAFIK „JOURNEY OF A TWEET“; http://www.ngonlinenews.com/news/the-journey-of-a-tweet/

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Transgressionen

Diese Inklusionstendenzen weisen eine Eigendynamik auf: sie bewirken Transformationen, denen wir heute nicht selten mit einiger Irritation gegenüber stehen (vgl. Schirrmacher 2009), weil sie Grenzen überschreiten bzw. neu definieren, so dass man genauer von Transgressionen sprechen muss. Beispielsweise die Transgression des Ökonomischen: Die Marktkapitalisierung des derzeit ca. 750 Millionen Mitglieder umfassenden sozialen Online-Netzwerks Facebook – um ein prominentes Beispiel anzuführen – ist zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes mit geschätzten 50-100 Milliarden Dollar größer als die von Firmen wie Boeing oder Nokia. Sozialität ist zu einem ernstzunehmenden globalen Geschäftsfeld geworden. Umgekehrt sind kaum mehr Angebote zu finden, die nicht kommerziellen Zwecken folgen (wenn auch bisweilen die Erlösmodelle auch großer Social Web-Unternehmen unklar sind). Dass somit die Struktur der sozialen und kulturellen Räume primär nach Maßgabe wirtschaftlicher Gewinninteressen geformt wird, die allenfalls sekundär – nämlich über ökonomischen Erfolg vermittelt und durch dieses Kriterium gefiltert – an (bestehenden oder potenziellen) sozialen und kulturellen Bedarfen ausgerichtet sind, ist ein neues Phänomen, dessen Konsequenzen erst in Ansätzen erkennbar werden; etwa in den Bereichen der Privatheit, der Aggregation und Kombination persönlicher Daten im Hintergrund sowie der Be- bzw. Missachtung von im Web etablierten Freiheitswerten (z.B. durch Einführung eines Klarnamenzwanges bei manchen Angeboten oder durch ökonomische motivierte Zensur), sowie der wirtschaftlichen Ausbeutung von Kreativität (Lovink 2008; Zittrain 2009).

Die mediale Ökonomisierung des Sozialen ist dabei nicht pauschal mit seiner Kommerzialisierung gleichzusetzen: Alle Web-Angebote, auch nicht-kommerzielle, sind in irgendeine ökonomische Form eingebunden (weil sie auf den Betrieb einer technologischen Infrastruktur angewiesen sind). Hier besteht ein Feld, das einer neuen kritischen Aufmerksamkeit auf verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen bedarf. Zugleich wird jedoch – gleichsam retrospektiv – sichtbar, dass es auch vorher keine Position des Außerhalb solcher Interesselagen gab, dass also etwa Privatheit, administrativer und kommerzieller Umgang mit personenbezogenen Daten, Behandlung von Freiheitswerten etc. immer schon medialen Lagerungen unterlagen, die ökonomisch, politisch und administrativ hervorgebracht, kontrolliert (oder auch verhindert) wurden: Angesichts des Umbruchs oder der „gefühlten“ Bedrohung von Werten wird auch ihre Gemachtheit erkennbar und reflektierbar. – Mit dieser vielleicht etwas anstrengenden Anmerkung möchte ich darauf hinweisen, dass mediale Transgressionen sich nicht starr mittels alter Wahrnehmungsschemata (Leitdifferenzen, die aus Werten und Normen resultieren) thematisieren lassen, weil sie eben diese oftmals selbst tangieren. Ökonomisierung und Kommerzialisierung sind daher nicht per se „böse“ oder nachteilig (im Vergleich zu „vorher“), und schon gar nicht lassen sie sich aus der Perspektive eines vorherigen, retrospektiv idealisierten Idealzustandes adäquat

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verstehen, wie es bei den üblichen Thematisierungsformaten – „Chancen und Gefahren“ – zu oft der Fall ist.

Weitere Transgressionsfelder (und sicher handelt es sich um überschneidende Perspektiven) seien hier nur genannt: Die Transgression der Kommunikation, des Wissens und der Information durch Niederschwelligkeit, Kopierbarkeit, Ubiquität und Persistenz (man denke an Wikileaks oder den Arabischen Frühling, um eher plakative Beispiele zu nennen), die Transgressionen des Sozialen durch sich durchsetzende Netzwerkstrukturen, die alten Gemeinschaftsmodellen entgegenstehen bzw. diese teilweise in sich aufheben und dabei transformieren, sowie schließlich die bereits mehrfach angesprochene Transgression der Mediosphäre selbst in die alltägliche Lebenswelt und ihre Aspekte hinein.

Mediatisierung von Bildung

All dies mag andeutungsweise darauf hinweisen, dass die gegenwärtigen medialen Umbrüche gleichsam in Tiefe (der bewirkten qualitativen Strukturveränderungen), Breite (Globalität des Phänomens) und Höhe (quantitative Bedeutung der Neuen Medien) ausgesprochen massiv sind. Sie stehen etablierten Strukturen, insbesondere der literalen, linearen Buchkultur und den mit ihr einhergehenden Institutionalisierungsformen oftmals diametral entgegen (für die Organisationsform Schule vgl. Böhme 2006) und verändern die Art und Weise, wie Welt und Selbst erfahren, Wissen und Orientierung aufgebaut werden, erheblich (Jörissen/Marotzki 2009).

Medien sind vor diesem Hintergrund nicht mehr als relativ einfache (kontrollierbare) lebensweltliche „Gegenstände“ begreifbar. Weder wäre dies in theoretischer Hinsicht angemessen – das war es nie, doch fiel dies bei einem relativ konstanten Leitmediengefüge weniger ins Gewicht –, noch in der Praxisperspektive. Vielmehr stellen sie zunehmend eine Voraussetzung von Kommunikation, und mithin Sozialität, dar. Sozialität und Kommunikation sind aber ihrerseits die Grundlage aller Lern- und Bildungsprozesse.

Diese „Mediatisierung der Alltagswelt“ (Hepp/Hartmann 2011) betrifft daher Bildung, Erziehung, Lernen und Sozialisation im Kern. Diese sind, als gesellschaftliche organisierte und kulturell-historisch geformte Praktiken, ohnehin in stetem Wandel, wie insbesondere an Modernisierung- und Globalisierungseffekten immer eindrücklicher sichtbar wird. Mediatisierung von Bildung stellt in dieser Hinsicht einen weiteren tiefgreifenden Wandel dar, wenn auch die enorme Strukturträgheit von Bildungsinstitutionen, die sich den medialen Optionen bisher strukturell kaum öffnen, in dieser Hinsicht einen anderen Eindruck erwecken mag. Dieser tiefgreifende Umbruch ist mittlerweile in vielfachen pädagogischen Publikationen breit diskutiert worden (vgl. etwa Fromme/Sesink 2008; Bachmair 2009; Hugger 2009; Hoffmann/Mikos 2010; Albers/Magenheim/Meister 2011).

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Zur Bildungsqualität des Social WebIch möchte im Folgenden die Frage nach den Bildungspotenzialen des Social Web

aufgreifen; insbesondere mit einem Seitenblick auf Kindsein und Kinderkultur. Unter dem Titel „Bildung“ verstehe ich dabei im engeren Sinne besondere, und besonders komplexe, Formen des Lernens, die sich – im Anschluss an den Bildungstheoretiker Winfried Marotzki – etwas vereinfacht als eine Verschränkung von „Dazulernen“ und „Umlernen“ beschreiben lassen, als „Herstellung von Bestimmtheit und Ermöglichung von Umbestimmtheit“ (Marotzki 1990). „Umlernen“ bedeutet dabei insbesondere, neue Erfahrungen zu machen, Erlerntes auf neue Weise zu sehen, es neu zu rahmen, im Zuge dieses Lernens seine Gewohnheiten und Erkenntnismuster zu ändern, sich somit zum Erlernten implizit oder explizit reflexiv zu verhalten, und somit schließlich, sich zu sich in besonderer Weise zu verhalten. Ein solches, anspruchsvolles Lernkonzept versteht Lernen als lebensweltlichen Prozess, der in der Auseinandersetzung mit einer kulturellen, sozialen, materiellen – und eben auch wesentlich medialen – Welt ereignet.

„Medienbildung“ meint aus dieser Perspektive weniger: Bildung über Medien, sondern Bildung in, mit und durch Medien; genauer: Bildung im Horizont von Medialität (Jörissen 2011). Es geht insofern um mehr als Medienkompetenz, die ja eine Kompetenz über Medien ist und die insofern gezwungenermaßen Medialität auf Medien als Gegenstände (der Aneignung, des Lernens etc.) reduziert. Anders formuliert: Medienbildung schaut nicht von „der Bildung“ auf „die Medien“ – so dass ich „Bildung“ als so-und-so gegeben voraussetze –, sondern sie fragt nach der Verschränkung von Medialität und Bildung, aus der notwendig auch neue Sichtweisen auf Bildung hervorgehen.

Im Hinblick auf neue Medien äußert sich diese Verschränkung in (mindestens) den nachfolgenden vier Feldern:

1) der Erweiterung oder auch Transition vom Gemeinschaftsbezug hin zum Bezug auf offene, netzwerkförmige Formen von Sozialität,

2) der partiellen Verschiebung subjektzentrierter Vorstellungen von Kreativität, Originalität und Werkhaftigkeit hin zum Paradigma des Tausches, der Modifikation, des Remixes etc.,

3) der Erweiterung des Verständnisses von Reflexivität hin zu medialisierten Formen der Artikulation, die nicht auf (meta-reflexive) sprachliche Formen rückführbar sind, sowie schließlich

4) der neuen Perspektiven und Optionen der Partizipation und der Partizipationsoffenheit sozialer (medialer) Strukturen und Räume.

Soziale Netzwerke

Aus Raumgründen werde ich im Folgenden lediglich auf das in der Pädagogik wenig diskutierte Thema der Netzwerke eingehen. Angemerkt sei, dass mit dem Folgenden nur

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ein kleiner Ausschnitt der Komplexität des Sachverhalts umrissen wird (verwiesen sei für die anderen Aspekte auf Jörissen/Marotzki 2007 sowie Jörissen/Marotzki 2009).

Zunächst ist hervorzuheben, dass „soziale Netzwerke“ einerseits von den ebenso genannten Internet-Plattformen begrifflich streng zu trennen sind: Soziale Vernetzung benötigt an sich keine digitale Medien; umgekehrt basieren „Netzwerk“-Plattformen wie Facebook zwar auf dem Knüpfen und Pflegen sozialer Kontakte, doch sind sie selbst nicht das soziale Netzwerk, welches sie als Kommunikationsnetzwerk begünstigen (vgl. Hepp 2011).

Netzwerke sind ca. seit den 1950er Jahren ein Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, insbesondere in Soziologie, Mathematik und Informatik. In der Netzwerksoziologie geht, abstrakt betrachtet, um Dynamiken, die sich aus den unterschiedlichen Strukturen und Qualitäten der Verbindung von Akteuren untereinander ergeben. Wenn wir klassischer Weise moderne Sozialität in der Dichotomie von „Gemeinschaft versus Gesellschaft“ betrachten, übersehen wir als dritte und möglicherweise beide Extreme verbindende, Struktur die komplexen, heterogenen, multiplen sozialen Netzwerke, in die der Einzelne sich als eingebettet erlebt, und in die er mit seiner eigenen Lebensgeschichte narrativ-biographisch eingelassen ist. Der Soziologe Harrison C. White spricht von vernetzten Bereichen („networked domains“), die sich etwa wie übereinandergeschichtete Ebenen von Netzwerken – mit je ihrer eigenen Geschichte – vorstellen lassen (White 2008). Unsere Identität ist dann eine Funktion unseres Ortes in unseren jeweiligen Netzwerken.

Gemeinschaft lässt sich von einem solchen Standpunkt aus als eine besondere Perspektive auf Netzwerke betrachten (nämlich auf nur eine dieser vernetzten Domänen, und eine, in der überwiegend starke, vertraute Bindungen zwischen den Personen, als den „Knotenpunkten“ des Netzwerkes, bestehen). In diesem Sinne lässt sich das Sozialisation als ein Prozess der zunehmenden Erschließung und Differenzierung von Netzwerken und Netzwerkbeziehungen betrachten (selbstredend, ohne sie auf diesen einen Aspekt reduzieren zu wollen). Ein Klassiker der Soziologie, der für seine Identitätstheorie bekannte George Herbert Mead (1863-1931), beschrieb die Entstehung des „self“ als Interaktionsprozess, in dem zuerst das kindliche Rollenspiel („play“) und später das Gemeinschaftsspiel (z.B. Mannschaftsspiel, „game“) eine bedeutende Rolle spielen (Mead 1973). Das Rollenspiel ist ganz auf den sozialen Nahraum der ersten und engsten Gemeinschaften bezogen; das Mannschaftsspiel hingegen ist von erheblich komplexerer Struktur: es erfordert, die Perspektiven vieler Beteiligter gleichzeitig zu berücksichtigen (was eine kognitiv so anspruchsvolle Aufgabe ist, dass sie erst im späteren Kindesalter adäquat gelöst werden kann).

Denkt man, über das eigentliche Spiel hinausgehend, an einen Sportverein, so ist dieser ein Gefüge von relativ wenigen engen und vielen eher losen Kontakten. Je nach

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Struktur und Größe variieren die Identifikationen und Sympathien mit Gruppierungen innerhalb des Vereins. Man bleibt möglicherweise nicht in einem Verein, sondern wechselt zu einem anderen, behält dabei einige Kontakte und knüpft viele neue; einige davon sind vielleicht Verstärkungen bereits vorhandener loser Bekanntschaften aus der Schule, etc.: all diese Verbindungen stellen Netzwerke dar, die aufgebaut, aufrechterhalten oder auch teilweise verlassen werden.

Bildungspotenziale sozialer Netzwerke

Ein zentrales Merkmal dieses Prozesses ist die Ausweitung der jeweiligen Netzwerke, und zwar in der Weise, dass nicht nur enge Freundschaften, sondern viele eher schwache Verbindungen zu anderen entstehen. Diese Verbindungen lassen sich unmittelbar als Optionen verstehen: Optionen, jemand anderes besser kennenzulernen – was etwa bedeuten kann, einem bestimmten Interesse (etwa: Interesse an einem bestimmten Stil, an einem bestimmten Hobby, bestimmten (sub-)kulturellen Aktivitäten usw.) verstärkten Ausdruck zu geben und sich diesem zukünftig stärker zuzuwenden. Im Gegensatz zur Form enger Gemeinschaften, also einem dicht geknüpften sozialen Netzwerk, in das relativ wenig wirklich neue Impulse hineinkommen, stellen weite soziale Netzwerke mit vielen schwachen Bindungen also erheblich vielfältigere Möglichkeiten bereit (Granovetter 1983) – so etwa für die eigene Entfaltung im Sinne einer Selbstselektion von (Bildungs-) Umwelten. Dies könnte man als Kultivierungsaspekt oder -potenzial von sozialen Netzwerken bezeichnen.

Netzwerke funktionieren wohlgemerkt nicht nur in eine Richtung: schwache Netzwerkverbindungen werden nicht unbedingt aktiv gesucht; sie ergeben sich ebenso auf Basis der eigenen Sichtbarkeit – also Auffindbarkeit – im Netzwerk. Dass diese schwachen Bindungen in Netzwerken „funktionieren“, und nicht lediglich Verbindungen zu „beliebigen“, zufälligen Anderen herstellen, ist ein Effekt sozialer Netzwerke, den man als „präselektierte Kontingenz“ bezeichnen könnte – als eine Art Eingrenzung des Unerwarteten bei gleichzeitiger Ermöglichung eines signifikanten Maßes an Neuheit und Überraschung (erinnert sei an die oben zitierte bildungstheoretische Formel der „Herstellung von Bestimmtheit bei gleichzeitiger Ermöglichung von Unbestimmtheit“).

Wenn beispielsweise die Qualität von Netzwerkkontakten in einem gegebenen Kontext von den Beteiligten als Maß von Vertrauen gewertet wird (wenn also Vertrauen darüber entscheidet, ob eine Netzwerkverbindung eingegangen wird), so bezieht sich dieses Vertrauen abgestuft auch auf die „Freundesfreunde“: vertrauen wir etwa einem Menschen sehr, und vertraut dieser einem anderen sehr, so ist dieser andere mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch für uns vertrauenswürdig, so wie wir für ihn vertrauenswürdig sind – dies ist der Aspekt der Vorselektion in Netzwerken. Zugleich herrscht Unbestimmtheit, denn erstens wir verwenden wahrscheinlich nicht exakt dieselben Kriterien für „Vertrauenswürdigkeit“, und zweitens haben wir es nun mit

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einem zuvor unbekannten Menschen zu tun, was entsprechend viel „Neues“ in diese Interaktionen einbringt – dies ist der Aspekt der Kontingenz. Analoges kann über Geschmack (Stil, Habitus, Attraktivität) und Informationswertigkeit ausgesagt werden.

Das Social Web: zwischen Offenheit und Echokammer

Das Social Web stellt nun seiner Struktur nach einen geradezu idealen Raum dieser Selbstselektion von Netzwerkverbindungen dar. Es erscheint geradezu als Ratifizierung eines Modernisierungsprozesses, der in vielerlei Hinsicht das alte Gemeinschaftsmodell aufgelöst hat. Dazu trägt in verschiedenen Formen die Technologisierung von (ihrer Natur nach sozialen) Verbindungen von Menschen wesentlich bei.

Beinahe alles im Social Web ist darauf ausgerichtet, diese Form von Sozialität zu ermöglichen und zu befördern: Das einfachste Mittel ist die schlichte Präsentation der „Freunde“ auf den Profilseiten der sozialen Online-Netzwerke, mithin also der „Freundesfreunde“. Im freien Netz der Weblogs, das nun schon seit einer Dekade als „Blogosphere“ bekannt ist, ist die sog. „Blogroll“ fest etabliert: eine Liste der vom Blogbesitzer empfohlenen anderen Blogs. In analoger Weise haben frühe soziale Netzwerke wie Friendster und MySpace primär auf die Präsentation der (handverlesenen) „Top 8“ von Freundesfreunden gesetzt.

Dieses Prinzip ist mit den Jahren erheblich verfeinert und vor allem automatisiert worden: etwa in der Form, dass über zusätzliche semantische und aktionsbasierte Analyse-Algorithmen die „Trefferwahrscheinlichkeit“ relevanter Kontakte erhöht wird. Das soziale Netzwerk „Twitter“ stellt auf dieser Basis ständig relevante neue Kontaktmöglichkeiten vor; auf Facebook entscheiden Algorithmen über die Selektion von als wahrscheinlich interessant errechneten Beiträgen im „Social Feed“ eines Facebook-Nutzers. In stark abstrahierter Form errechnet der Online-Händler Amazon aus ähnlichen Kaufaktivitäts-Profilen seiner Kundschaft relevante Buchempfehlungen (hier besteht das Netzwerk nicht aus Kontaktschließungen, sondern „virtuell“, nach Maßgabe der Ähnlichkeit des Kaufverhaltens).

Diese Algorithmisierung des Sozialen dient nicht nur der besseren Orientierung der Nutzer eines Web-Angebots: Vielmehr wird aus Gründen der ökonomischen Optimierung – möglichst viele neue Nutzer mit möglichst langer Aktivitätszeit an die Plattform zu binden – eine Art Gefälligkeitspolitik betrieben, insofern die Auswahl stark individualisiert erfolgt. Das Moment der Kontingenz wird zugunsten der Wiedererkennung des Ähnlichen zurückgedrängt; dabei geht es (offenbar) um eine Erhöhung der Nutzungsattraktivität durch leichtere Konsumierbarkeit. Diese Ähnlichkeitspolitik, sei es auf sozialen Netzwerkplattformen, in Online-Shops oder in Suchmaschinen-Ergebnissen oder auf News-Seiten, verstärkt die Wahrscheinlichkeit eines „Echokammer-Effekts“: der Bildung von Netzwerken mit geringerem Anteil von Andersheit (Unbestimmtheit) und mit relativ hohem Anteil von Bekanntem (Bestimmtheit).

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In den ökonomisierten medialen Räumen sind die oben dargelegten, „horizonterweiternden“ Kultivierungsoptionen also nicht selbstverständlich gegeben: Sie müssen ihrerseits selbst kultiviert werden, indem „Echokammern“, die gerade befördert werden sollen, vermieden werden. Dies bedeutet mithin eine Kultivierung von Diversität in den eigenen Beziehungen, also etwa auch solcher Kontakte, die unsere Ambiguitätstoleranz herausfordern, die zur Reflexion der eigenen Perspektive anregen, die dezidiertere Artikulationen provozieren, aber diesen auch einen Raum geben, der in der geschlossenen Identitätslogik homogener Echokammern kaum besteht.

Dieser Kultivierungsaspekt geht mithin mit dem Potenzial einer Dezentrierung des eigenen Selbst- und Weltbildes einher – wenn und insofern Anderes und Unerwartetes erfahrbar gemacht wird: eben darin liegt ein wesentlicher Bildungswert des Social Web im Sinne des oben skizzierten Konzepts von Medienbildung.

Anforderungen an zukunftsorientierte MedienbildungsarbeitMedienbildung, so hat Dieter Spanhel kürzlich hervorgehoben, „zielt über die

bisherigen Bestimmungen von Medienkompetenz hinaus auf ein wachsendes Bewusstsein von der Medialität der Bildungsräume und der Medialität aller Bildungsprozesse. Medienbildung reflektiert die mediale Gestaltung der Bildungsräume und der darin ablaufenden Kommunikationsprozesse“ (Spanhel 2010, 50 f.). Daraus geht hervor, dass die aktive Gestaltung medialer Bildungsräume einen (mindestens) ebenso großen Stellenwert einnimmt wie die klassische, handlungsorientierte medienpädagogische Praxis (vgl. ebd., 54 ff.).

Diese Bestimmung ist in der Klarheit dieser Formulierung neu; und sicherlich stellt sie eine Herausforderung dar. Denn diese medialen Bildungsräume können, wenn sie irgend zukunftsoffen sein und wesentliche Einsichten vermitteln sollen, ihrerseits keine „walled gardens“ sein, wie sie das Prä-„Web 2.0“-Internet prägten. Abgegrenzte Inseln, etwa in der Art von online gestellten Elearning-Angeboten, bewegen sich nicht auf dem Niveau dieser Forderung – unabhängig davon, wie gut sie ihren selbstdefinierten „Lehrauftrag“ erfüllen.

Die Gestaltung von netzförmiger Sozialität und Bildungsaspekten im Zeitalter des Social Web ist nolens volens so etwas wie pädagogisches social engineering. Man kann sich entscheiden, die Grundprinzipien des Social Web, etwa aus Sicherheitsgründen, nicht anzuwenden. So ist es etwa nicht selten der Fall, dass aus Medienschutzgründen Kinder auf pädagogischen Online-Plattformen keinen (!) Beitrag ungeprüft veröffentlichen können – was in etwa das diametrale Gegenteil des „Social Feeds“ ist, wie ihn jedes nennenwerte Social Web-Angebot ins Zentrum stellt. In diesem Fall betreibt man etwas, das mit der Vorbereitung auf die hochkomplexen Sachverhalte, wie sie oben nur an einem einzigen isolierten Aspekt, dem Networking, dargelegt wurden, praktisch nichts zu tun haben. Das ist so lange in Ordnung, wie man sich dessen

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bewusst ist (und es nicht unter dem Terminus „Social Web“ firmieren lässt): Unter den vielen Artikulationsoptionen im Kontext Neuer Medien ist längst nicht alles „Social Web“. Arbeit mit Webvideos, Computerspiel-Modding, kreative Online-Communities, phantasievolle, flash-basierte Online-Spielangebote sind nach wie vor Beispiele für interessante und schöne medienpädagogische Gestaltungsprojekte. Sie bereiten jedoch, um dies nochmals zu betonen, in keiner Weise auf die Komplexitäten vor, denen die Kinder von heute in wenigen Jahren ausgesetzt sind.

Hier gibt es, im Sinne der Forderung Spanhels, erheblichen Bedarf an entsprechenden Projekten. Zwischen den kommerziellen Angeboten mit ihren für Kinder und junge Jugendliche nicht unerheblichen Problematiken (so etwa, dass sie von den AGB her gar nicht auf den Plattformen sein dürften, dies aber mangels Alternative von Eltern dennoch unterstützt wird) einerseits und den aus Medienschutzgründen zumeist auf dem techo-sozialen Stand der 1990er Jahre verbleibenden nichtkommerziellen Angeboten andererseits klafft eine Lücke, die hochgradig bedenklich ist.

Nötig sind pädagogische, vorzugsweise nicht-kommerziell betriebene mediale Umgebungen, die es Kindern ermöglichen, Erfahrungen zu machen, die bei hinreichendem Schutz dem Social Web strukturell entsprechen, und die nicht auf dem Stand der „Web 1.0“ stehen bleiben. Es versteht sich, dass Erfahrungen des Neuen für Kinder besonders anschlussfähig sein müssen, um nicht entweder unwirksam (zu fremd, unverständlich, irrelevant) oder sogar problematisch (traumatisch) zu sein: die Kunst der Erziehung besteht nicht zuletzt in der Ermöglichung solcher ausbalancierter Erfahrungen des Neuen. Sie besteht jedoch, wie aus dem Vorgebrachten andererseits erhellt, keineswegs in der Bewahrung vor Fremderfahrungen. Gefragt sind pädagogische Phantasie, pädagogischer Takt, und insbesondere Sachverständnis des neuen, hochkomplexen medialen Feldes.

Denn wenn man Kinderkultur als Kern von Kindermedienkultur ernst nimmt, verträgt sich das schlecht mit starren Vorgaben, die ein bestimmtes, notwendig normatives Bild von „Kindheit“ gleichsam fest in die Medienumgebung einprogrammieren. Im Sinne der Forderung des Michael-Sebastian Honigs muss es vielmehr ermöglicht werden, Kinderkultur auch in medialen Gefügen soweit sich entfalten zu lassen, dass sie selbst „Kindheit“ mitdefiniert (Honig 1999). Dies ist dort der Fall, wo „Kindsein“ als selbstgestellte Entwicklungsaufgabe in einem kinderkulturellen Raum ermöglicht wird. Mediale Räume haben dieses Potenzial, als „neue und eigenständige Räume sozialer Beziehungen und Erfahrungen“ zu fungieren (Honig 1999, S. 158) – aber nur, wenn sie ein hinreichendes Maß an Offenheit und struktureller Mitbestimmung bieten, auch und gerade hinsichtlich der Realisierung und Umsetzung kindlicher Schützbedürfnisse.

In Bezug auf Medienbildung ist der damit formulierte „medienerzieherische“ Anspruch – und das bezieht sich sowohl auf handlungsorientierte Medienpädagogik wie auf die Herstellung medialer Bildungsräume – vor allem so zu deuten: dass es den

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Erziehenden und Verantwortlichen obliegt, sich in aktuellen medialen Kulturen nicht nur hinreichend, sondern fundiert auszukennen. Die pädagogische Sorgfaltspflicht ist nicht durch den Ausschluss eines Lebensbereiches und Kommunikationsstils der nachwachsenden Generationen erfüllbar. Im Gegenteil würde ein erzieherisches Handeln nach dem Muster einer ungewollten „Bewahrpädagogik aus Unwissenheit“ seine entscheidende Aufgabe versäumen. Insofern derzeit – aufgrund der enormen medialen Umbrüche der letzten Jahrzehnte – eine erhebliche generationale Diskrepanz zwischen den medialen Gewohnheiten besteht, entsteht somit eine neue Zumutung an Erziehende (seien es MedienpädagogInnen, PädagogInnen oder Eltern): Keine Medienerziehung ohne Medienbildung – der Erziehenden.

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