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Julia Kursell Epistemologie des Hörens

Julia Kursell Epistemologie des Hörens - fink.de fileJulia Kursell Epistemologie des Hörens Helmholtz’ physiologische Grundlegung der Musiktheorie Wilhelm Fink

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Julia KursellEpistemologie des Hörens

Julia Kursell

Epistemologie des HörensHelmholtz’ physiologische Grundlegung

der Musiktheorie

Wilhelm Fink

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne

vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig.

© 2018 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;

Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland)

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenHerstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn

ISBN 978-3-7705-5928-2

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Volkswagen Stiftung

Umschlagabbildung:Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen

als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik. Dritte umgearb. Ausg., Braunschweig: Vieweg, 1870, S. 73, Abb. 16a.

Wem sonst als Dir!

Inhalt

Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13Experimentalisierung des Hörens | Musik und Akustik bei Helmholtz | Zum Aufbau des Buchs

Kombinationstöne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27Subjektive Töne  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27Subjektive Sinneserscheinungen, 1810 – 1830 | Tartinitöne | Ein inhomogenes Feld | Kombinationstöne bei Helmholtz | Zurichtungen des Experiments | Ein experimentum crucis

Dur und Moll  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56Störungen | Harmonium und Klavier | Klassifizierung der Akkorde | Dur und Moll in der Musikgeschichte | Dur und Moll in Goethes Tonlehre | Palestrina als Gegenstand der Hörphysiologie

Kontinuierlicher Klang und diskontinuierliche Empfindung  . . . . . . . . . . . . 89Schwebung und Intermittenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89Geräusch | Schall und Leitungssysteme | Die Doppelsirene | Fransen und Löcher im kontinuierlichen Klang | Intermittierende Empfindungen | Turbulenzen | Experimente in der Hörphysiologie

Konsonanz und Dissonanz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125Experimentalisierung von Konsonanz und Dissonanz | Das Diagramm der Rauigkeit | Konsonanz und Dissonanz in der Musikgeschichte

Ton und Klangfarbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143Ton und Töne  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143Sons harmoniques | Töne sehen und hören | Ton und Frequenz | Ton und Töne | Ton und Farbe | Ton und Notation | Formale Notation der Töne im Experiment

Vokale und Klangfarben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166Tonfarben | Verschiedenheit der Töne | Laut und leise | Experimentalisierung der Schallquelle | Ton und Schallquelle | Flüstervokale | Ferne Philologie | Klangsynthese

Resonanztheorie: Kontiguität und Modell  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201Resonanztheorie | Anatomische Studien der Gewebe im Ohr | Konzepte des Schalls und Modelle des Hörens | Resonanz als Schallleitung | Resonanz als Verstärkung | Resonanz als Schwingungsaufschaukelung | Physiologische Analyse | Klaviermodelle

InhaltInhalt

INH A LT8

Experimentalisierung von Wahrnehmung und Musikgeschichte  . . . . . . . . 257Experimentalisierung der Wahrnehmung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257Koordination der Sinne | Koordination der Augen und der Ohren | Tonempfindung und Phase | Geometrisierung

Experimentalisierung der Musikgeschichte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281Tonempfindungen und einfache Töne | Klangverwandtschaft | Instrumentalstimmung

Das Experimentalsystem der Hörforschung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303Helmholtz als Diskursivitätsbegründer | Tonempfindungen | Bernhard Riemanns Theorie der Sinnesphysiologie | Helmholtz’ Theorie der Musiklehre | Akustische Bilder | Klangfarbenmelodie

Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

Vorwort

Im Mai 1862 hält Hermann von Helmholtz vor dem Heidelberger naturhistori-schen und medizinischen Verein einen Vortrag über das Verhältnis von griechi-schen und persisch-arabischen Tonleitern. Die reine große Terz, so Helmholtz, sei nicht von den Griechen aufgefunden worden, sondern gehe vermutlich auf Vorgänge des Stimmens zurück, wie sie sich in Quellen zur arabischen und ins-besondere persischen Musik überliefert fänden. Die Griechen in Alexandria, die erstmals reine Terzen beschrieben, hätten das Intervall in der persisch-ara-bischen Musik gehört und ihm seine Erklärung als Proportion kleiner ganzer Zahlen nachgereicht.

Diese These zielt auf ein Wissen vom Hören. Das Hören, erklärt Helmholtz, müsse wie jeder Gebrauch der Sinnesorgane erlernt werden, und zwar unter Bedingungen, die lokal und historisch gegeben seien. Wer mit einer Leier Töne hören lernt, hört sie anders als derjenige, der eine Laute zur Verfügung hat. Das Erlernen der Sinnesvermögen gleicht in dieser Hinsicht dem Experimentieren, wie Helmholtz in seinem Vortrag „Die Tatsachen der Wahrnehmung“ (1878) aus-führt.1 Der Experimentator tastet sich wie das Kind, das seine Sinne zu gebrauchen lernt, auf einem zunächst unbekannten Terrain voran und hält sich am einmal Gewonnenen fest, um von dort aus neue Schritte ins Unbekannte zu wagen.

Hörphysiologische Experimente, wie Helmholtz sie konzipiert, suchen den Punkt auf, an dem das Sinnesvermögen noch keine selbstverständliche Gege-benheit ist. Die materiellen Voraussetzungen des Hörens und die Begrifflich-keiten müssen hierzu so konkret und so explizit wie möglich gehalten werden. Denn schon der nächste Schritt im Durchlauf des Experiments droht ins Leere zu tappen: Schall ist flüchtig, und die Wahrnehmung bleibt in letzter Instanz im Subjekt eingeschlossen. Das hörphysiologische Experiment kann, wenn es einen Experimentaldurchlauf wiederholt, nur die materiellen und begrifflichen Vorgaben des Hörens kontrollieren.

In der Musik ist jedoch eine Kunst des Hörens und der Produktion von Schall gegeben, die mit erstaunlicher Präzision zu Werke geht. Musiker kennen den Unterschied zwischen reinen Terzen und Terzen, und sie können ihn reprodu-zieren. Und es gibt einen musikalischen Diskurs, in dem über diese Fähigkeiten gesprochen wird. Man bildet idealtypische Begriffe, deren Kern von einem Hof akustisch-perzeptiver Referenten umgeben ist, und versucht, sie mit den mehr oder minder geglückten Umsetzungen zur Deckung zu bringen. Wer zum Bei-spiel Beethovens Opus 14, Nr. 1 hört, wird den verschmelzenden Klang von reinen

1 Hermann von Helmholtz, „Die Tatsachen in der Wahrnehmung“, in: ders., Schriften zur Erkenntnistheorie, kommentiert von Moritz Schlick und Paul Hertz, hg. v. Ecke Bonk, Wien, New York, 1998 (= Kleine Bibliothek für das 21. Jahrhundert; Bd. 2), S. 147 – 175, hier S. 162; siehe auch ders., Handbuch der physiologischen Optik, Leipzig, 1867, S. 452.

VorwortVorwort

VORWORT10

Terzen in der Streichquartettfassung schätzen und sich doch nicht daran stören, dass dieselben notierten Tonhöhen auf dem Klavier in der Originalfassung der Sonate unrein wiedergegeben werden. Dass und wie sich akzidentielle und gemeinte Referenten voneinander entfernen, kann der Musikdiskurs unter-schlagen, der weder den Schall noch das Hören, sondern die Noten als Referenten der idealtypischen Begriffe setzt.

Aus diesem Diskurs schert Helmholtz aus, indem er ihn beim Wort nimmt. An die Stelle der idealtypischen Begriffe setzt er Formeln; die Formeln finden ihr Gegenstück in experimentell generierten synthetischen Klängen. Damit ist gesichert, dass einerseits die verfügbaren musikalischen Begriffe eine hinrei-chende Kontrolle der Experimentalbedingungen zulassen und andererseits die formalen Beschreibungen auch tatsächlich vom Hören handeln. Im Experiment wird der vertraute musikalische Diskurs dem Hören fremd. Das Experiment produziert Phänomene, die den musikalischen Diskurs fliehen und doch un-abweislich hörbar sind.

Das vorliegende Buch hat für die Rekonstruktion der Hörforschung von Helmholtz den Titel Epistemologie des Hörens gewählt, der auf drei Aspekte hinweist, die sich aus der Flüchtigkeit des Schalls und der Veränderlichkeit des Hörens erklären. Zum Ersten stützt sich die Argumentation auf die historische Epistemologie, wie sie von Hans-Jörg Rheinberger auf die französische Wissen-schaftsphilosophie aufbauend gefasst wurde. Damit wird ein nachträglicher Blick auf den Forschungsprozess gerichtet und eine historische Betrachtung favorisiert. Zum Zweiten ist das Hören selbst veränderlich. Es ist nicht nur eine Grundannahme von Helmholtz, dass das Hören erlernt werden muss, sondern die Experimentalaufbauten sind auch ihrerseits Situationen, in denen das Hören neu erlernt wird. Der Experimentator weiß nicht, was das Hören alles vermag, und zwar nicht deshalb, weil es noch nicht hinreichend erforscht wäre, sondern weil das Potential des Sinnesvermögens nicht ausgeschöpft ist. Drittens erkennt Helmholtz in der Geschichte der Musik ein Reservoir von potentiellen Experi-mentalanordnungen, in denen sich historisch wandelnde Voraussetzungen für das Hören stecken. Die Musikgeschichte ist selbst ein Schauplatz der historischen Epistemologie und Helmholtz der erste historische Epistemologe des Hörens.

Das vorliegende Buch will zu einer Epistemologie des Hörens beitragen, indem es einen Erkenntnisprozess zu rekonstruieren versucht, der nicht nur das Wissen über das Hören vermehrt, sondern in das Hören selbst eingreift. Das Vorgehen, das hierfür gewählt wurde, kann sich nicht in einer wechselseitigen Kontextua-lisierung von Musik und Wissenschaft erschöpfen. Vielmehr ist es erforderlich, die materiellen und begrifflichen Voraussetzungen aufzuschlüsseln, unter denen Helmholtz arbeitet und die er selbst umprägt. So wird zum einen am Leitfaden der hörphysiologischen Publikationen von Helmholtz ein Forschungsprozess nachgezeichnet, der von dem ersten Artikel in den Annalen der Physik aus dem Jahr 1856 bis hin zu den letzten von Helmholtz ausgeführten Veränderungen an seinem Buch Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik im Jahr 1877 reicht. Zum anderen werden Diskurse

VORWORT 11

über Musik und Sprachklang rekonstruiert, insofern sie für die Reflexion auf das Wissen der Musik vom Hören notwendig sind. Daraus entsteht eine Abfolge von Kapiteln, die zwar stets einen thematischen Zusammenhang in jeweils einem Forschungsthema von Helmholtz finden, in denen sich aber hörphysiologische und musikalisch-akustische Perspektiven abwechseln.

Seit Floris Cohen innerhalb der Wissenschaftsgeschichte erstmals auf Helm-holtz’ Interesse an einer hörphysiologischen Aufarbeitung der Musikgeschichte hingewiesen hat,2 haben die Verschränkungen von Musik und Wissenschaft vor allem in der angloamerikanischen Forschungslandschaft einige Aufmerksamkeit erfahren. Auch das Verhältnis von Wissenschaft und Musik bei Helmholtz ist seither mehrfach untersucht worden. Das Buch spiegelt im Wesentlichen den Stand der Forschung von 2012 wider, als es als Habilitationsschrift an der Tech-nischen Universität Berlin eingereicht wurde. Den Gutachtern Friedrich Steinle, Wolfgang Auhagen, Stefan Weinzierl und Hans-Jörg Rheinberger danke ich sehr herzlich für ihre Lektüren und ihre Kritik.

Dass diese Arbeit entstehen konnte, verdanke ich glücklichen Umständen, zu denen viele Personen und Institutionen beigetragen haben. Den im Folgenden genannten möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich danken, aber auch vielen ungenannten gilt mein Dank. Hans-Jörg Rheinberger hat mein Forschungs-projekt an seiner Abteilung am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) in Berlin aufgenommen und tatkräftig unterstützt. Die Verbindung von intellektueller Freiheit und wissenschaftlicher Strenge, die er verkörpert, war und ist für mich ein Geschenk. Die von ihm geleitete Forschungsgruppe „Experimentalisierung des Lebens“ am MPIWG bot eine ideale Umgebung für meine Arbeit: Ich danke den ehemaligen Mitgliedern und insbesondere meinem Kollegen Henning Schmidgen herzlich für Solidarität, zahllose Gespräche und eine wunderbare Zeit am MPIWG. Das Virtuelle Labor, das in diesem Forschungs-zusammenhang gegründet wurde, war eine ebenso wichtige Voraussetzung für die Arbeit wie die einzigartige Unterstützung durch die Bibliothek des Instituts – auch den Bibliothekaren und der Digitalisierungsgruppe sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Finanzielle Unterstützung hat das Projekt ferner durch die Volkswagenstiftung erfahren, die es zunächst im Rahmen der „Schlüsselthemen der Geisteswissenschaft“ für das Forschungsprojekt zur „Experimentalisierung des Lebens“ und später durch ein Dilthey-Fellowship gefördert hat. Lorraine Daston, die mich 2011 als Mitglied in ihre Abteilung am MPIWG aufnahm, danke ich für ihre Großzügigkeit. Viktoria Tkaczyk lud mich in der Phase der Fertig-stellung des Buches als Gast in ihre Forschungsgruppe am MPIWG ein. Für Unterstützung danke ich der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar, die mein Projekt aufnahm, und dem Internationalen Kolleg für Kulturtechnik-forschung und Medienphilosophie, Weimar, mit seinen Direktoren Bernhard

2 H. Floris Cohen, Quantifying Music . The Science of Music at the First Stage of the Scientific Revolution, 1580 – 1650, Dordrecht, Boston, Lancaster, 1984 (= The University of Western Ontario series in philosophy of science; Bd. 23), S. xii.

VORWORT12

Siegert und Lorenz Engel, die mir einen Aufenthalt als Short-Term Fellow er-möglicht haben. Für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses danke ich der Volkswagenstiftung. Mein herzlicher Dank gilt ferner Erwin und Elfrieda Hiebert, Alexandra Hui, Myles W. Jackson, Ursula Klein, Birgitta von Malinck-rodt, Tomoko Mamine, Alexandre Metraux, Laura Otis, Antje Radeck, Skuli Sigurdson, Gabriele Werbeck und Hansjakob Ziemer. Selbstverständlich sind alle Fehler meine eigenen.

Einleitung

Experimentalisierung des Hörens

Dieses Buch befasst sich mit der hörphysiologischen Forschung von Hermann von Helmholtz (1821 – 1894). Mit ihr nimmt das Verhältnis von Musik und Natur-wissenschaften eine neue Wendung. Der Schlüssel zur Rekonstruktion dieses Verhältnisses ist das physiologische Experiment. In der Mitte des 19. Jahrhunderts werden in der Physiologie die Funktionen des Lebens zum Objekt experimen-talwissenschaftlicher Untersuchungen. Die systematische wissenschaftliche Erforschung des Gehörsinns beginnt um 1855 mit den Arbeiten von Helmholtz. Die experimentelle Hörforschung stellt eine neue Konfiguration von Natur-wissenschaft und Musik her, in die als drittes Element das Hören eintritt. Zur Beschreibung dieser Konfiguration nutzt das vorliegende Buch ein Ensemble von Begriffen, die in der historischen Epistemologie von Gaston Bachelard, Georges Canguilhem, Michel Foucault und Hans-Jörg Rheinberger geprägt worden sind. Ausgangspunkt ist der Begriff des epistemischen Bruchs.1 Hierunter versteht Bachelard, dass eine selbstverständliche und alltägliche Gegebenheit zum Gegen-stand wissenschaftlicher Reflexion und Erforschung wird. Zu einem solchen Gegenstand eigenen Rechts wird bei Helmholtz das Hören. Wenn das Hören zuvor in Akustik und Musik als selbstverständliche Gegebenheit mitgeführt wurde, so bildet sich nun eine Forschung heraus, die akustische und musikalische Sachverhalte oder Kenntnisse nur noch unter der Voraussetzung heranzieht, dass die Rolle des Hörens in ihnen expliziert werden kann. Eine erste These ist also, dass sich mit der Hörforschung von Helmholtz ein epistemischer Bruch im Sinne von Bachelard vollzieht.

Die Situation, in der sich die Physiologie in der Mitte des 19. Jahrhunderts befindet, kann in Begriffen erfasst werden, die Canguilhem und Rheinberger für eine Epistemologie der Lebenswissenschaften vorgeschlagen haben. Die Physiologie muss, wenn sie die Vorgänge des Lebens in ihre Experimental-anordnungen einspannt, in einem bis dahin ungekannten Ausmaß mit Größen und Komponenten operieren, die sie nicht hinreichend kontrollieren kann. Das lebende Versuchsobjekt entzieht sich, wie Canguilhem gezeigt hat, bis zu einem gewissen Grad einer experimentellen Befragung.2 Entweder entstellt das Expe-riment die Lebensfunktionen, die untersucht werden sollen, oder die lebenden

1 Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 2. Aufl., Frankfurt/M., 1984; vgl. dazu Hans-Jörg Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg, 2007, S. 39 f.

2 Vgl. Georges Canguilhem, „Das Experimentieren in der Tierbiologie“, in: ders., Erkenntnis des Lebens, Berlin: August, 2009, S. 27 – 70; vgl. dazu Cornelius Borck, Volker Hess und Henning Schmidgen (Hg.), Maß und Eigensinn . Studien im Anschluss an Georges Canguilhem, München, 2005.

EinleitungEinleitung

EINLEITU NG14

Objekte transformieren sich unabhängig von den willkürlichen Prozessen, die der Experimentalaufbau an ihnen vollzieht.

Im Begriff des „Experimentalsystems“3 hat Rheinberger sowohl die komple-xen Zusammenhänge, in denen diese Unsicherheitsfaktoren operabel gemacht werden können, als auch eine charakteristische Dynamik der lebenswissen-schaftlichen Experimentalforschung gefasst. In Experimentalsystemen besteht eine funktionale Übergängigkeit der epistemischen und technischen Objekte: Diejenigen Objekte, auf die sich die Fragestellung der Untersuchung richtet, können, sofern ihre Funktion hinlänglich bekannt ist, in einer Fortsetzung des Experimentalzusammenhangs zu einer technischen Voraussetzung werden, so wie jederzeit die technischen Voraussetzungen neue Probleme aufwerfen können, die sie selbst zu Untersuchungsgegenständen werden lassen. Den systemischen Zusammenschluss der Komponenten im Experiment kennzeichnet also eine Offenheit, die sich zeigt, wenn das Experimentieren als länger währender Prozess in Betracht gezogen wird.

Die Physiologie ist mit einer solchen Übergängigkeit zwischen epistemischer und technischer Funktion der Objekte im Experimentalaufbau konfrontiert, wenn sie die Rolle der menschlichen Wahrnehmung im Experiment untersucht. Die Sinnesphysiologie ist also nicht einfach ein Gegenstand bzw. eine Lebens-funktion unter vielen, auf die sich die Experimentalisierung richtet, sondern die Wahrnehmung wird als ein technisches Objekt in Experimentalzusammenhän-gen zur Diskussion gestellt. Die Experimentalzusammenhänge selbst, in denen das jeweilige Sinnesvermögen als technisches Objekt auftritt, müssen nicht den Lebenswissenschaften entstammen, wie nicht zuletzt die Akustik zeigt. Vielmehr bringt die Reflexion auf die Rolle des Hörens im akustischen Experiment eine experimentelle Hörphysiologie überhaupt erst hervor. Eine zweite These lautet demnach, dass die Rolle des physiologischen Experiments für die Begründung der Hörforschung weniger in seinen physiologischen Gegenständen als vielmehr in seiner methodischen Funktion zu suchen ist.

Die Reflexion auf das Hören als technisches Objekt des akustischen Expe-riments, die in der experimentellen Sinnesphysiologie unternommen wird, trifft auf einen Sachverhalt, der mit Bachelard als „epistemisches Hindernis“4 bezeichnet werden kann. Der Gebrauch des Gehörsinns im akustischen Ex-periment vor Helmholtz ist dadurch gekennzeichnet, dass er unhinterfragt nicht nur die Schreibweisen, sondern auch die Hörweisen der Musik übernimmt. Das epistemische Hindernis liegt insbesondere im musikalischen Begriff des Tons. In der Musik wird als Ton eine Einheit der Wahrnehmung bezeichnet, und diese Einheit wird auch von der musikalischen Notation impliziert. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen neue mathematische Instrumente zur formalen Be-schreibung von Schwingungsvorgängen zur Verfügung; Was in der Wahrnehmung

3 Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge . Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt/M., 2006.

4 Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, S. 46 – 50.

EINLEITU NG 15

als Einheit empfunden wird, ist von innerer Komplexität. Während die Mathe-matik komplexe periodische Schwingungen als Vielheiten von Komponenten anschreibt, können sowohl die komplexen periodischen Schwingungen als auch deren Komponenten als musikalische Töne angeschrieben werden. Die Akustik muss sich entweder eingestehen, dass sie an Schreibweisen partizipiert, deren Bezug auf das Hören sie nicht erklären kann, oder sie muss die Rede vom ge-hörten Ton daraufhin überprüfen, welche formalen Implikationen sie mitführt.

Dies ist die Situation, die Helmholtz antrifft, als er die Frage nach dem Hören im akustischen Experiment stellt. Seine Reflexion auf das Hören als technisches Ob-jekt des akustischen Experiments bedarf folglich auch einer Analyse derjenigen Annahmen über das Hören, die in der Musik stillschweigend getroffen werden. Die experimentelle Hörphysiologie wiederum bietet einen „Darstellungsraum“5, in den sowohl das Problem der physikalischen Akustik mit den Gegenständen des Hörens als auch die impliziten Voraussetzungen der musikalischen Unterschei-dungen eingebettet werden können. Im Folgenden soll dieser Darstellungsraum rekonstruiert und sowohl die Geschichte des physikalischen Experiments als auch die Geschichte musikalischer Sachverhalte und Begriffe in die Analyse der physiologischen Hörforschung von Helmholtz mit einbezogen werden.

Wenn sich dieses Buch der historischen Situation zuwendet, in der das Hö-ren von einem alltäglichen Gegenstand zu einem Gegenstand systematischer Forschung wird, gerät lediglich ein kleiner historischer Ausschnitt eines Ex-perimentalsystems der Hörforschung in das Blickfeld der Untersuchung. Die charakteristische Dynamik, die ein Experimentalsystem ausmacht, erschließt sich erst im Rückblick, nämlich aus den Transformationen, die das Experimental-system erfährt. Eine Ausweitung der Untersuchung auf diese Transformationen, die unter anderem zu einer Ausdifferenzierung der Hörforschung in Teildis-ziplinen wie die Psychoakustik oder die Musikpsychologie geführt haben, würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Insofern wird die Frage nach diesen Transformationen auf die Frage nach Helmholtz’ Rolle als Begründer einer systematischen Hörforschung eingeengt. Eine Rechtfertigung sucht die Eingrenzung in Michel Foucaults Begriff des „Diskursivitätsbegründers“6. Mit diesem Begriff differenziert Foucault zwischen den Transformationen, die ein wissenschaftlicher Diskurs im Rahmen bestimmter Diskursregeln durchläuft, und den Transformationen von Diskursivitäten, deren Diskursregeln sich aus einem fortwährenden Rückgriff auf das Moment der Gründung ergeben. Die Begründung eines neuen Diskurses über das Hören erschließt sich nicht allein aus der Begründung einer neuen Wissenschaft vom Hören, sondern sie muss auch die Praktiken des Hörens analysieren und fragen, welche Objekte dem Hören überhaupt einen Rückgriff erlauben.

5 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 9 f., 126 – 140. 6 Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“, in: ders., Schriften in vier Bänden . Dits et Ecrits, Bd. 1:

1954 – 1969, hg. v. Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt/M., 2001, S. 1003 – 1041, hier S. 1023.

EINLEITU NG16

Die Wissenschaftsgeschichte hat die Verflechtungen der physiologischen Experimentalsysteme mit Praktiken und Techniken, die über die Grenzen der wissenschaftlichen Diskurse im engeren Sinne hinausgehen, als „Experimen-talisierung des Lebens“7 bezeichnet. Mitte des 19. Jahrhunderts wird die Phy-siologie, die sich von der Anatomie emanzipiert und das Experiment zu ihrer methodischen Grundlage macht, als eine neue Leitwissenschaft etabliert. Die Techniken und Instrumente, mit denen es gelingt, die Prozesse des Lebens den Experimentalanordnungen der Physiologie zu unterwerfen, werden zum Vor-bild für andere wissenschaftliche Disziplinen, die sich – wie etwa die Psycho-logie oder die Linguistik – in der Folge als Experimentalwissenschaften neu etablieren. Von der Ausbreitung des Experiments werden fortwährend neue Infrastrukturen, Schauplätze und Praktiken erfasst, wie dies bereits in einer Reihe von Forschungsarbeiten gezeigt wurde, die etwa dem urbanen Raum und der Industrialisierung, dem Kriegsgefangenenlager oder dem Alpenraum als Labor oder der wissenschaftlichen Organisation der Arbeit und der beruflichen Eignungsprüfung galten.8 Insbesondere die technischen Neuerungen, die in den Experimentalaufbauten zur Anwendung gelangen, greifen auf den Alltag jenseits der Wissenschaft über, wie dies etwa an der Entwicklung des Kinos aus den Aufzeichnungsmethoden der Experimentalphysiologie aufgezeigt worden ist.9 Schließlich konnte gezeigt werden, dass auch die bildende Kunst und die Literatur von der Experimentalisierung des Lebens erfasst werden und sich vielfach als experimentelle Unternehmungen begreifen.10

In diesen Forschungszusammenhang trägt die vorliegende Arbeit mit ihrer Rekonstruktion der Konfiguration von Naturwissenschaft, Musik und Hören in der physiologischen Akustik von Helmholtz einen weiteren Sachbereich hinein. Diese Rekonstruktion erfordert auch eine Klärung des Verhältnisses von Musik und Wissenschaft, für das auf eine bis in die Antike zurückreichende gemein-same Geschichte von Musik und Wissenschaft zurückgeblickt werden kann. Sie beginnt mit der Legende, nach der Pythagoras die Gesetze der Harmonie auffindet, als er an einer Schmiede vorbeigeht und im Klang der aufschlagenden

7 Vgl. Hans-Jörg Rheinberger und Michael Hagner (Hg.), Die Experimentalisierung des Lebens . Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin, 1993.

8 Vgl. z. B. Sven Dierig, Wissenschaft in der Maschinenstadt . Emil Du Bois-Reymond und seine Laboratorien in Berlin, Göttingen, 2006; Margarete Vöhringer, Avantgarde und Psychotech-nik . Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjet-union, Göttingen, 2007; Philipp Felsch, Laborlandschaften . Physiologische Alpenreisen im 19 . Jahrhundert, Göttingen, 2007; sowie weitere Arbeiten, die aus dem Forschungsprojekt Experimentalisierung des Lebens . Konfigurationen zwischen Wissenschaft, Kunst und Technik, http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/exp (zuletzt besucht am 14. 04. 2017) hervorgegangen sind.

9 Vgl. Marta Braun, Picturing Time . The Work of Etienne-Jules Marey (1830 – 1904), Chicago, 1992; François Dagognet, Etienne-Jules Marey . A Passion for the Trace, New York, 1992.

10 Vgl. Henning Schmidgen, Peter Geimer und Sven Dierig (Hg.), Kultur im Experiment, Berlin, 2004; Carla Cugini, „Er sieht einen Fleck, er malt einen Fleck“ . Physiologische Optik, Impressio-nismus und Kunstkritik, Basel, 2006; Angela Breidbach, Anschauungsraum bei Cézanne . Cézanne und Helmholtz, München, 2003; Michael Gamper, „Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!“ Experiment und Literatur II: 1790 – 1890, Göttingen, 2010.

EINLEITU NG 17

Hämmer die Intervalle der Musik erkennt. Eine Wissenschaft der „Harmonie“ befasst sich in der Folge mit Verhältnissen, die kleinen ganzen Zahlen oder, anders gesagt, harmonischen Proportionen entsprechen. Die harmonischen Proportionen geben eine Ordnung vor, deren Geltungsbereich die Musik über-steigt und die Mathematik, die Architektur oder die Astronomie erfasst. Als Lehre von den Proportionen steht die Musik das Mittelalter hindurch im qua-drivium der septem artes liberales im universitären Curriculum an der Seite von Astronomie, Arithmetik und Geometrie.11

In der Frühen Neuzeit treten neuartige materielle Komponenten in das Ver-hältnis von Wissenschaft und Musik ein, die mit der Entstehung der empirischen Wissenschaften und einem verstärkten Interesse an der Instrumentalmusik zusammenhängen. Kompendien wie Marin Mersennes Harmonie universel-le, contenant la théorie et la pratique de la musique (1636), aber auch Michael Praetorius’ Syntagma musicum (1615 – 1619) oder Robert Fludds Temple of Music (1617) bis hin zu Athanasius Kirchers Musurgia (1650) und Phonurgia (1673)12 räumen der praktischen Ausübung von Musik und vor allem ihren Instrumenten einen hohen Stellenwert ein. Zugleich werden die Schreibweisen der musika-lischen Proportionen auf neue Sachverhalte übertragen, und an die Stelle von sichtbaren Streckenverhältnissen schwingender Körper rücken die zählbaren zeitlichen Einheiten der Frequenz. Mit Joseph Sauveurs Abhandlung Principes d’acoustique et de musique (1701), die den Terminus erstmals verwendet, beginnt die Abgrenzung der „Akustik“ als eigenständiger Bereich innerhalb der Physik. Im Laufe des 18. Jahrhunderts werden Musik und Akustik gleichermaßen von einer Mathematisierung des Wissens erfasst, die sich unter anderem Problem-stellungen wie der Berechnung der Schwingungsbewegungen von Saiten und Luftsäulen zuwendet und Konzepte zur Darstellung mehrdimensionaler Bewe-gungen entwickelt.13 Die Musik hingegen diktiert nicht mehr die harmonischen

11 Vgl. John Fauvel, Raymond Flood und Robin James Wilson (Hg.), Music and Mathematics . From Pythagoras to Fractals, Oxford, 2004; Philippe Vendrix (Hg.), Music and Mathematics in Late Medieval and Early Modern Europe, Turnhout, 2008; Daniel Heller-Roazen, The Fifth Hammer . Pythagoras and the Disharmony of the World, New York, 2011.

12 Mersenne, Marin: Harmonie universelle, contenant la théorie et la pratique de la musique (zuerst Paris 1636), hg. v. François Lesure, 3 Bde., Paris, 1986; Michael Praetorius, Syntagma musicum, 3 Bde., Wittenberg, 1615, Wolfenbüttel, 1619; Robert Fludd, Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris metaphysica, physica atque technica historia, 2 Bde., Oppenheim, 1617 – 1626; Athanasius Kircher, Musurgia universalis sive ars magna consoni et dissoni, Rom, 1650; ders., Phonurgia nova, Kempten, 1673; vgl. dazu Penelope Gouk, Music, Science and Natural Magic in Seventeenth-Century England, New Haven u. a., 1999; dies., „The Role of Harmonics in the Scientific Revolution“, in: The Cambridge History of Western Music Theory, hg. v. Thomas Christensen, Cambridge, 2002, S. 223 – 245; Benjamin Wardhaugh, Music, Experiment and Mathematics in England, 1653 – 1705, Aldershot, 2008; Melanie Wald-Fuhrmann, Welterkennt-nis aus Musik . Athanasius Kirchers „Musurgia universalis“ und die Universalwissenschaft im 17 . Jahrhundert, Kassel, 2006.

13 Vgl. z. B. Bernhard Siegert, Passage des Digitalen . Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissen-schaften, 1500 – 1900, Berlin, 2003; Wladimir Velminski, Form, Zahl, Symbol . Leonhard Eulers Strategien der Anschaulichkeit, Berlin, 2009.

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Gesetze der Natur, sondern sie findet in einer Ordnung der Natur ihre eigene Ordnung wieder.

Die Kulturwissenschaften haben entscheidende Umbrüche in einer Neukon-zeption des Subjekts und des Bewusstseins, dem Autonomiestreben der Künste und der Entflechtung von Wissenschaft und Kunst an den Jahrhundertwenden 1800 und 1900 angesiedelt, und die Geschichte von Wissenschaft und Kunst wurde für diesen Zeitraum als eine Trennungsgeschichte geschrieben.14 Die vorliegende Arbeit favorisiert eine andere Sichtweise, indem sie den Beginn einer Experimentalisierung des Lebens und einen epistemischen Bruch im Kon-zept des Hörens in den Blick nimmt.15 Die Ausdifferenzierung der das Hören, den Schall und die Musik betreffen Forschungsgebiete, die um 1900 erkennbar geworden ist, hat sich bereits innerhalb des Darstellungsraums vollzogen, den der epistemische Bruch der Hörphysiologie eröffnet hat.

Insofern ist der epistemische Bruch weder allein aus der Musikgeschichte noch aus der Geschichte der Akustik zu rekonstruieren. Wenn im Folgenden behauptet wird, dass sich aus einer spezifischen methodischen Konstellation der Experimentalphysiologie ein neues Verhältnis von Musik und Naturwissen-schaften erklärt, dann geht dieses neue Verhältnis – und so lautet eine dritte These – aus einer Rückkopplung von Ohr und Instrument hervor: Helmholtz sieht in der Musikgeschichte einen hörphysiologischen Langzeitversuch, der den Fähigkeiten des Ohrs gilt. Indem die Musiker geeignete Klänge ausfindig machten, an diesen Klängen ihr Gehör übten und unter der Anleitung ihres geübten Gehörs wiederum die Klänge und die Instrumente ihrer Hervorbringung veränderten, stellten sie Zusammenhänge auf, die für Helmholtz mit denjenigen der Experimentalphysiologie vergleichbar sind. Diese Zusammenhänge schlagen sich in den Instrumenten, Kompositionen und nicht zuletzt dem Regelwerk der Musik nieder sowie, genauer noch, in dessen historischen Transformationen.

14 Zur kritischen Reflexion der „Trennungsgeschichte“ von Kultur und Wissenschaft vgl. z. B. Caroline Welsh, „Die Stimmung im Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissen-schaften. Ein Blick auf deren Trennungsgeschichte aus der Perspektive einer Denkfigur“, in: NTM . Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 17 (2009), S. 135 – 169; Mai Wegener, „Der psychophysische Parallelismus. Zu einer Diskursfigur im Feld der wissen-schaftlichen Umbrüche des ausgehenden 19. Jahrhunderts“, in: NTM . Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 17 (2009), S. 277 – 316; sowie das Forschungsprojekt Leonardo-Effekte, aus dem diese und weitere Publikationen hervorgegangen sind, http://www.zfl-berlin.org/leonardo-effekte.html (zuletzt besucht am 02. 09. 2012); vgl. ferner Sabine Schimma und Joseph Vogl (Hg.), Versuchsanordnungen 1800, Berlin, Zürich, 2009. Zum Auto-nomiebegriff in der Musik vgl. Carl Dahlhaus, Die Musiktheorie im 18 . und 19 . Jahrhundert . Erster Teil: Grundzüge einer Systematik, Darmstadt, 1984 (Geschichte der Musiktheorie; Bd. 10), S. 66 – 69.

15 Zum Einschnitt um 1850 für die Physiologie vgl. Hans-Jörg Rheinberger und Michael Hagner, „Einleitung“ in: Experimentalisierung des Lebens, S. 7 – 27, hier S. 10.

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Musik und Akustik bei Helmholtz

Obwohl im Folgenden keine biographische Studie unternommen wird, mag es nützlich sein, einige Eckdaten zu Helmholtz’ wissenschaftlichem Werdegang in Erinnerung zu rufen.16 Helmholtz wird 1821 in Potsdam geboren. Er studiert Medizin an der sogenannten Pépinière, dem Medicinisch-chirurgischen Fried-rich-Wilhelm-Institut in Berlin. Die Wahl fällt nicht zuletzt deshalb auf dieses Studienfach, weil das Institut die Ausbildung finanziert. Als Gegenleistung muss sich Helmholtz zu einem achtjährigen Dienst als Militärchirurg verpflichten. Davon wird er jedoch auf Betreiben Alexander von Humboldts vorzeitig befreit. Nach einer neuroanatomischen Dissertation und der Publikation seiner Arbeit „Ueber die Erhaltung der Kraft“ (1847) tritt Helmholtz 1849 eine Professur für Physiologie in Königsberg an. Er arbeitet dort über die Fortpflanzungsgeschwin-digkeit der Nervenreizung und publiziert die „Beschreibung eines Augenspiegels zur Untersuchung der Netzhaut im lebenden Auge“ (1851).

Helmholtz verfügt nicht über eine professionelle musikalische Ausbildung. Er spielt Klavier, über seinen Unterricht ist nichts Näheres bekannt. Zum Studien-beginn 1837 bringt er in das Wohnheim der Pépinière ein eigenes Klavier mit. Klavierspielende Studenten sind Mitte des 19. Jahrhunderts keine Seltenheit, hingegen ist der Besitz eines eigenen Instruments offenbar keine Selbstver-ständlichkeit, zumal sich Helmholtz in Briefen an die Eltern darüber beschwert, dass Kommilitonen in seine Stube kommen, um auf seinem Klavier zu spielen. Seine Kenntnisse musikalischer Kompositionen umfassen in der Studienzeit unter anderem Sonaten von Mozart und Beethoven, Etüden von Cramer und Klavierauszüge der Opern von Bellini und Rossini. Später musiziert er gemeinsam mit seiner ersten Frau Olga, die eine ausgebildete Stimme besitzt, und besucht vielfach Konzerte.17

Noch in Königsberg berichtet Helmholtz für die Zeitschrift Fortschritte der Physik, die von der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin herausgegeben wird, über neuere Literatur zu akustischen Themen. In einer Sammelrezension kri-tisiert er nicht zuletzt den Diskussionsstil, in dem die Debatte über die Schall-geschwindigkeit geführt wird: „Der Streit wird auf eine unfruchtbare Weise nur dadurch verlängert, daß Prof. Challis streng die veralteten Regeln des Disputierens festhaltend, viele Weitläufigkeiten hervorruft, und dabei den Sinn von keinem einzigen Argumente seiner Gegner versteht.“18 Der Streit geht um die Gültigkeit hydrodynamischer Gleichungen. Während James Challis, der von einem Konzept der Schallstrahlen ausgeht, aus den Gleichungen herleitet, dass es ebene Wellen

16 Zu Helmholtz’ Biographie vgl. Leo Koenigsberger, Hermann von Helmholtz, 3 Bde., Braun-schweig, 1902 – 1903; Helmut Rechenberg, Hermann von Helmholtz . Bilder seines Lebens und Wirkens, Weinheim u. a., 1994.

17 Vgl. dazu u. a. Laura Otis, Müller’s Lab, New York, Oxford, 2007, S. 46 – 48. 18 [Hermann von] Helmholtz, „Akustik. Theorie. [Theorie ebener Wellen]“, in: Die Fortschritte

der Physik im Jahre 1849 . Dargestellt von der physikalischen Gesellschaft zu Berlin, 1853, S. 93 – 97, hier S. 93.

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nicht geben kann, wenden seine Gegner ein, dass diese Gleichungen eben nur unter bestimmten Bedingungen gültig sein könnten, die nicht immer gegeben seien. Helmholtz entdeckt jedoch auf beiden Seiten ungesicherte Schlussfol-gerungen. Einer der Kontrahenten, George Biddell Airy, fügt der Debatte die „Meinung“19 hinzu, dass das Anbranden ebener Luftwellen am Ohr „dem Klange des Zischens, oder des S, vielleicht auch des R“20 entspreche. Challis erwähnt Versuche von Jean-Baptiste Biot zur Schallverständlichkeit am Ende einer 3120 Fuß langen Röhre, zu denen Helmholtz anmerkt, solange man nichts Bestimmtes über die Größe der Exkursionen der Luftteilchen wisse, könne man auch nicht beurteilen, ob Änderungen der Schallwellenform bemerkt würden. Angesichts der geringen und unsystematischen Kenntnisse bleibt all dies Spekulation. Diese ersten Publikationen zur Akustik demonstrieren: Klar artikulieren lässt sich vor-erst nur, dass der Diskurs so nicht weitergeführt werden kann.

Mit eigenen hörphysiologischen Experimenten beginnt Helmholtz 1855, nach-dem er auf eine Professur für Anatomie und Physiologie in Bonn gewechselt ist. Er publiziert im darauffolgenden Jahr seine erste hörphysiologische bzw. physika-lische Abhandlung „Ueber Combinationstöne“ in den Annalen der Physik und Chemie (1856). Nachdem Helmholtz bereits mit seinen Königsberger Studien über die Nervenleitungsgeschwindigkeit in einen Prioritätsstreit verwickelt war und ein von seinen Argumenten überfordertes Publikum angetroffen hat,21 werden die hörphysiologischen Publikationen von vornherein strategisch genau platziert. Mal hält Helmholtz die Beschreibung eines Instruments zurück, mal gibt er eine Quelle nicht preis, bevor er nicht seine eigenen Schlussfolgerungen daraus gezogen hat. Er publiziert einen populärwissenschaftlichen Vortrag über seine Hörtheorie erst nachträglich und ergänzt ihn um Material, das er zur fraglichen Zeit noch nicht öffentlich gemacht hat. Die hörphysiologischen Arbeiten von Helmholtz sind, so kann geschlossen werden, einer in hohem Maße reflektierten und kontrollierten Publikationsstrategie unterworfen.

Helmholtz’ Renommee ist unterdessen vor allem dank der Erfindung des Augenspiegels gewachsen, der sich in der medizinischen Praxis bewährt. Fi-nanzielle Zuwendungen ermöglichen ihm den Erwerb von akustischen Instru-menten, darunter ein Harmonium, das im Labor eingesetzt wird, um die Thesen über die Hörphysiologie nochmals systematisch zu überprüfen.22 Der Wechsel nach Heidelberg auf eine ausschließlich der Physiologie gewidmete Professur im Jahr 1858 bringt dann den Abschluss der intensiven hörphysiologischen Studien und der Publikationstätigkeit zu diesem Thema. Helmholtz schreibt 1860 an den befreundeten Physiologen Franciscus Cornelis Donders in Utrecht: „Ich habe mich daran gemacht, meine akustischen Arbeiten zusammenzuschreiben; es soll daraus ein kleines Buch von möglichst populärer Haltung werden, um es

19 Ebd., S. 96. 20 Ebd. 21 Vgl. Henning Schmidgen, Die Helmholtz-Kurven . Auf der Spur der verlorenen Zeit, Berlin,

2009. 22 Vgl. Kap. 1, „Harmonium und Klavier“, Kap. 2, „Geräusch“.

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auch den Musikliebhabern zugänglich zu erhalten, weil ich meine, auch die physikalisch-physiologische Begründung der Harmonielehre darin niederlegen zu können.“23 Aus dem „kleinen Buch“, wie es Helmholtz nennt, wird die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Harmonie (1863), die knapp sechshundert Seiten umfasst. Er bringt darin seine Thesen über das Hören und die Musik zu einer Synthese, wenngleich er in weiteren Auflagen Veränderungen und Korrekturen vornimmt. „In der principiellen Auffassung der musikalischen Verhältnisse“, schreibt er aber in der vierten und letzten von ihm bearbeiteten Ausgabe von 1877, „habe ich auch in der neuen Auflage nichts ändern zu müssen geglaubt“.24 Nach der dritten Auflage im Jahr 1870 publiziert Helmholtz keine neuen Arbeiten über das Hören mehr.

Im Jahr 1871 wird Helmholtz als Nachfolger von Gustav Magnus auf den Lehr-stuhl für Physik nach Berlin berufen. 1887 wird er zum ersten Direktor der neu gegründeten Physikalisch-Technischen Reichsanstalt ernannt. Nach der Publi-kation der Lehre von den Tonempfindungen schließt er die Bekanntschaft mit Musikern wie dem Geiger Joseph Joachim, zeitweiliger Direktor des Sternschen Konservatoriums in Berlin, und Richard Wagner.25 Er wird in die Werkstätten berühmter Instrumentenbauer eingeladen, so etwa zu dem in Paris ansässigen Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll oder auf das Fabrikgelände der Klavierbaufirma Steinway in New York.26 Helmholtz stirbt 1894 in Berlin. Postum werden 1898 seine Vorlesungen über die mathematischen Principien der Akustik publiziert. Das Hören wird darin auf zwei Seiten abgehandelt: Die physikalische Akustik und ihre mathematische Theorie bedürften keiner ausführlichen Erläuterung mehr, wie sie auf das Hören zu beziehen seien.

Mit seiner Hinwendung zur Hörphysiologie und zur Musik steht Helmholtz auch in einer Tradition von Wissenschaftlern wie Johannes Kepler, Leonhard Euler oder Max Planck, die sich für Musik interessieren und über Musik publi-zieren. Um dieses Interesse geht es in der vorliegenden Arbeit nicht. Für die Rekonstruktion des Darstellungsraums, der vermittelt über die Experimental-physiologie einen neuen Diskurs über das Hören ermöglicht, ist Helmholtz’ Herkunft aus den Lebenswissenschaften entscheidend. Der Ausbildung nach kommt Helmholtz von der Medizin zur Physiologie, und er geht erst nach über zwanzig Jahren Forschungstätigkeit im Bereich der Experimentalphysiologie schließlich zur Physik weiter. Dieser Weg beginnt in den Lebenswissenschaften und im Studium bei dem führenden Physiologen und vergleichenden Anatomen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nämlich Johannes Müller. Er führt von dort

23 Zitiert nach Koenigsberger, Hermann von Helmholtz, Bd. 2, S. 360. 24 [Hermann von] Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage

für die Theorie der Musik, 4., überarb. Aufl., 1877, S. XI. 25 Vgl. Herbert Hörz, Brückenschlag zwischen zwei Kulturen . Helmholtz in der Korrespondenz

mit Geisteswissenschaftlern und Künstlern, Marburg/Lahn, 1997, S. 124 – 132. 26 Vgl. dazu David Cahan, „Helmholtz in Guilded-Age-America. The International Electrical

Congress of 1893 and the Relations of Science and Technology“, in: Annals of Science 67 (2009), S. 1 – 38.

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zu einer physikalistischen Sicht auf den Körper, die Helmholtz gemeinsam mit einer Gruppe von Müllers Schülern vertritt. Und er gelangt schließlich zu dem Punkt, an dem die Physik zur neuen Leitwissenschaft des 19. Jahrhunderts wird.

Zum Aufbau des Buchs

Anstatt die Hörforschung von Helmholtz als eine Unternehmung zu begreifen, die im Grunde getrennte Beiträge zu den unterschiedlichen Disziplinen Musikwis-senschaft, Akustik, Physiologie und Psychologie zusammenstellt und gleichsam nachträglich eine Ausdifferenzierung in „zwei Kulturen“ durch Interdisziplinarität zu heilen versucht, wird im Folgenden davon ausgegangen, dass diese Forschung eine einheitliche und in sich geschlossene Konzeption vorstellt. Es geht also weniger darum, eine Vorgeschichte für eines der Fächer aufzusuchen, die sich seit 1860 in dem neuen Diskurs über das Hören herausgebildet haben.27 Ebenso wenig soll Helmholtz unter einem bestimmten Blickwinkel, wie etwa dem der Musikgeschichte oder der Physikgeschichte, in den entsprechenden historischen Kontext verortet werden. Hierzu liegt bereits eine Reihe von hervorragenden Studien vor.28 Schließlich gibt es vor allem in der Wissenschaftsgeschichte aus den letzten Jahren eine Reihe von Arbeiten, die der Initiative von Elfrieda und Erwin Hiebert, eine transdisziplinäre Forschung zu den Wechselwirkungen von Musik und Wissenschaft im 19. Jahrhundert aufzunehmen, gefolgt sind.29 Hierunter will sich auch dieses Buch einreihen, wenngleich es den Schwerpunkt

27 Vgl. Daniel Muzzulini, Genealogie der Klangfarbe, Bern u. a, 2005 (= Varia Musicologica; Bd. 5), zur expliziten Begründung seiner Vorgehensweise S. 18 f.; Burdette Green und David Butler, „From acoustics to Tonpsychologie“, in: The Cambridge History of Western Music Theory, hg. v. Thomas Christensen, Cambridge, 2002, S. 246 – 271; Edwin G[arrigues] Boring, A History of Experimental Psychology, 2. Aufl., New York, 1950; ders., Sensation and Perception in the History of Experimental Psychology, New York, 1942; Dieter Ullmann, Chladni und die Entwicklung der Akustik von 1750 – 1860, Basel, Boston, Berlin 1996; Robert T. Beyer, Sounds of Our Times . Two Hundred Years of Acoustics, New York u. a., 1999.

28 Auf Seiten der historischen Musikwissenschaft wären zu nennen: Carl Dahlhaus, „Hermann von Helmholtz und der Wissenschaftscharakter der Musiktheorie“, in: Frieder Zaminer (Hg.), Über Musiktheorie: Referate der Arbeitstagung 1870 in Berlin, Köln, 1971, S. 49 – 58; Michael Maier, Jacques Handschins ‚Toncharakter‘ . Zu den Bedingungen seiner Entstehung, Stuttgart, 1991, (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft; Bd. 31), S. 117 – 126; Benjamin Steege, Helmholtz and the Modern Listener, Cambridge, 2012. Auf Seiten der Wissenschaftsgeschichte: Stephan Vogel, „Sensations of Tone, Perception of Sound, and Empiricism: Helmholtz’s Physiological Acoustics“, in: Hermann von Helmholtz and the Foundations of Nineteenth-Century Science, hg. v. David Cahan, Berkeley, Los Angeles, London, 1993, S. 259 – 287.

29 Vgl. Elfrieda und Erwin Hiebert, „Musical Thought and Practice: Links to Helmholtz’s Ton-empfindungen“, in: Lorenz Krüger (Hg.), Universalgenie Helmholtz . Rückblick nach 100 Jahren, Berlin, 1994, S. 295 – 311; Myles W. Jackson, Harmonious Triads . Physicists, Musicians, and Instrument Makers in Nineteenth-Century Germany, Cambridge, Mass., London, 2006; David Pantalony, Altered Sensations . Rudolph Koenig’s Acoustical Workshop in Nineteenth-Century Paris, Dordrecht u. a., 2009; Veit Erlmann, Reason and Resonance . A History of Modern Aurality, New York, 2010; Alexandra E. Hui, The Psychophysical Ear . Musical Experiments, Experimental Sounds, 1840 – 1910, Cambridge, Mass., London, 2013 (= Transformations: Studies

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auf die Rolle des physiologischen Experiments und damit auf eine Fragestellung der historischen Epistemologie legen möchte.

Die Rekonstruktion des hörphysiologischen Darstellungsraums beginnt mit dem Schritt in den Körper: Das erste Kapitel („Kombinationstöne“) behandelt ein Phänomen, anhand dessen Helmholtz zeigen kann, dass im Ohr selbst Schall entsteht. Helmholtz erfindet dazu die klingende Sinusschwingung und löst damit das Ringen von Musik und Physik um das Phänomen des Tons auf. Der epistemische Bruch kann bei dieser Basisoperation der Hörforschung angesetzt werden: Erst nachdem das physikalische Konzept der Frequenz eineindeutig auf einen hörbaren Ton bezogen werden kann, wird es möglich, den Bezug zwischen den Schwingungsphänomenen und ihrer mathematisch-formalen Darstellung zu klären. Das Kapitel rekonstruiert einerseits den Stand der Sinnesphysiologie und der Akustik. Andererseits zeigt es an dem Phänomen der Kombinationstöne, wie die Ordnung der Musik in den Kombinationstönen eine Störung aufdeckt. Obwohl sie lediglich das kontingente Ergebnis einer Schwingungsüberlagerung unter bestimmten Größenverhältnissen sind, treten sie als Töne in ein Ver-hältnis zu den Regeln der Musik. Helmholtz wendet sich daraufhin der Musik-geschichte zu und sucht nach Beispielen dafür, dass dieser kontingente Effekt von Komponisten vermieden wurde. Damit ist auch eine erste Konfiguration von Experimentalphysiologie und Musikgeschichte umrissen: Die Hörphysiologie sucht in historischen Kompositionen Aussagen über die Funktionsweise des Ohrs, indem sie die Bedingungen ihres Erklingens rekonstruiert.

Das zweite Kapitel („Kontinuierlicher Klang und diskontinuierliche Emp-findung“) stellt die Materialkultur des akustischen Experiments vor, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts vorzufinden ist. Das Interesse der physikalischen Akus-tik an einer metrischen Erfassung und mathematisch-formalen Beschreibung des Schalls hat bereits eine Schallproduktion unter Laborbedingungen in Gang gesetzt, die auf die musikalische Praxis zurückwirkt. Der periodische Schall, der im Gegensatz zum Geräusch eine physikalische Untersuchung zulässt, beginnt auch ein musikalisches Klangideal zu formen. Die mit der Industrialisierung aufkommenden Produktionsprozesse geben diesem Ideal zusätzlichen Halt: Ein Ton, der gleichmäßig und unverändert fortbesteht, gilt als schöner Ton, und dieser Ton ist zugleich derjenige, der auf einen physikalischen Begriff zu bringen ist. Bei diesem Ton setzt die Hörforschung von Helmholtz in einer Experimentalreihe an, die im Sinne einer „systematischen Phänomenologie“30 dem periodischen Ausgangsphänomen immer neue Störungen zufügt, die ihrerseits periodische Phänomene sind und insofern einer Formalisierung zugänglich bleiben. Ein Ergebnis dieser Experimentalreihe sind die physiologischen Begriffe der inter-mittierenden Empfindung und der Rauigkeit. Sie können zwar musikalischen

in the History of Science and Technology) und zuletzt Erwin Hiebert, The Helmholtz Legacy in Physiological Acoustics, Cham u.a, 2014.

30 Diesen Begriff prägt Friedrich Steinle im Anschluss an Lorenz Krüger, vgl. Friedrich Steinle, Explorative Experimente . Ampère, Faraday und die Ursprünge der Elektrodynamik, Stuttgart, 2005 (= Reihe Boethius; Bd. 50), S. 315.

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Phänomenen attribuiert werden, aber sie betreffen nicht ein Verhältnis der Töne, sondern die Gesamtheit des Klangs bzw. die Klangmasse. Damit schreibt Helmholtz nicht zuletzt eine musikalische Unterscheidung, nämliche diejenige von Konsonanz und Dissonanz, in einen Darstellungsraum der Physiologie ein, in dem der Gegensatz verschwindet und stattdessen Gradienten der Störung zum Vorschein kommen.

Während die ersten beiden Kapitel also eine Neuordnung von Physik und Phy-siologie vorstellen, die zugleich deren Verhältnis zu den elementaren Begriffen der Musik betrifft, werden im dritten und vierten Kapitel die Grundbegriffe der Hörtheorie von Helmholtz untersucht. Der Ton als einfache Sinusschwingung und die Klangmasse als Gesamtheit des periodischen Schalls geben die Eckdaten der akustischen Untersuchung vor. Der Begriff der Klangfarbe, der im dritten Kapitel („Ton und Klangfarbe“) verhandelt wird, führt eine Binnendifferenzie-rung ein, die eine Alternative zum herkömmlichen Begriff des musikalischen Tons bietet. Die Klangfarbe bezeichnet – so wie Helmholtz sie nun definiert – die Ergebnisse von Fourier-Analysen, das heißt die Zerlegung verschiedener Schwingungsformen in ihre einfachen Komponenten. Der musikalische Ton als epistemisches Hindernis für eine systematische Erforschung des Hörens weicht damit einem neuen Ensemble von Begriffen, die in einer Verknüpfung physikalischer Sachverhalte und formaler Darstellungen gründen und dabei stets mit konkreten hörbaren Objekten einhergehen. Im Fall der Klangfarbe rekur-riert Helmholtz dazu auf die Vokalreihe, die er mit Hilfe einer experimentellen Klangsynthese untersucht.

Das vierte Kapitel („Resonanz: Kontiguität und Modell“) stellt die Resonanz-theorie des Hörens vor. Die Resonanztheorie antwortet unmittelbar auf eine Pattsituation der Anatomie: Die althergebrachte Koppelung von anatomischem und physiologischem Wissen ist an eine Grenze gelangt, und die Anatomen, die mit ihren mikroskopischen Untersuchungen die Strukturen des Innenohrs ans Licht gebracht haben, fordern die Physiologen nun explizit dazu auf, mit anderen, nämlich experimentellen Mitteln weiterzuforschen. Eine Erklärung, die aus den sichtbaren Strukturen selbst hervorginge, wie sie sich die Anatomen noch um 1800 erhofften, steht jedenfalls nicht in Aussicht. Die Resonanztheorie, die Helmholtz zeitgleich zu dieser Aufforderung formuliert, bringt die Dis-kussion des epistemischen Bruchs zu einem ersten Abschluss, indem mit ihr das herkömmliche Konzept der Repräsentation in der Wahrnehmung aufgelöst wird. Die Gehörwahrnehmung ist, dieser Theorie zufolge, keine kontinuierliche Fort-setzung des eintreffenden Schalls, die auf eine Repräsentation der Schallquelle ausgerichtet ist. Vielmehr muss der Schall als ein Produkt des Ohrs konzipiert werden. Wie sich dieser Schall zu einem äußeren Objekt verhält, lernt das Hören erst aus der Erfahrung. Die Repräsentationskette, die in der Schallquelle ihren Ausgangspunkt gesetzt hatte, ist damit aufgebrochen, auch wenn die Modelle, anhand deren Helmholtz dies demonstriert, seine Arbeit in eine Tradition der physiologisch-anatomischen Forschung einschreiben, die immer darauf ange-wiesen war, die unzugänglichen Vorgänge im Ohr anderweitig nachzustellen.

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Wie Helmholtz von hier ausgehend die Musikgeschichte zu einer Experimen-talgeschichte umdeutet, wird im fünften Kapitel („Experimentalisierung von Wahrnehmung und Musikgeschichte“) nachvollzogen. Hierzu wird zunächst ein Vergleich mit dem Handbuch der physiologischen Optik (1856 – 1867) angestellt. Die Sinnesphysiologie hat nicht nur das Zustandekommen von Empfindungen zu klären, sondern auch deren Verhältnis zu den Wahrnehmungen. Während sich in der Optik hierfür ein Modus des Experimentierens ausprägt, der alltäg-liche Wahrnehmungen verfremdet und sie dabei als zusammengesetzte erweist, begnügt sich Helmholtz in der Hörphysiologie nicht mit der experimentellen Klangsynthese für den Nachweis, wie sich Empfindungen und Wahrnehmungen des Hörens zueinander verhalten. Er unternimmt vielmehr eine Rekonstruktion der Musikgeschichte als Experimentalreihe. Das Regelwerk der Musiklehre birgt selbst eine jahrhundertelange Suche nach Klangfolgen, die das Ohr befriedigen und die je verfügbaren Klangerzeuger optimal einsetzen. Die Musikgeschichte wird so zu einer Folge immer neuer Rückkopplungen zwischen Gehör und Klang. Die Basisoperation seiner eigenen akustischen Experimente, die in einer Rück-kopplung von Ohr und Instrument besteht, findet Helmholtz so in der Musik-geschichte wieder.

Nachdem damit die Rekonstruktion des hörphysiologischen Experimental-prozesses von Helmholtz zu einem Abschluss gekommen ist, bietet das sechste Kapitel einen Ausblick auf das Fortbestehen des Experimentalsystems, das Helm-holtz ins Leben gerufen hat („Das Experimentalsystem der Hörforschung“). Denn das Experimentalsystem kann sich erst nachträglich als solches erweisen. Aus den Transformationen heraus, die es in der nachfolgenden Forschung erfährt, wird zu ersehen sein, ob es neue und unvordenkliche Fragestellungen zu produzieren erlaubt. Dieses Experimentalsystem, das die Musik einbegreift, erschöpft sich nicht in der Hervorbringung neuer wissenschaftlicher Objekte. Vielmehr hat es Anteil an den Transformationen, die im 20. Jahrhundert die Musik nicht mehr in Tönen konzipieren, sondern sie, wie es Arnold Schönberg vorführt, in einen Darstellungsraum der Klangfarbe einbetten.

Kombinationstöne

Subjektive Töne

Subjektive Sinneserscheinungen, 1810 – 1830

Hören und Sehen sind Anfang des 19. Jahrhunderts nicht auf demselben Stand ihrer Erforschung. Die Optik wandelt sich zu einer Physiologie des Sehens, eine entsprechende Physiologie des Hörens steht hingegen aus, wie Johannes Müller in einem Anhang zu seiner Abhandlung Zur vergleichenden Physiologie des Ge-sichtssinnes des Menschen und der Thiere (1826) festhält: „Die subjectiven Gehör-empfindungen erwarten einen treuen Selbstbeobachter, der für sie dasjenige wird, was Goethe und Purkyně für die subjectiven Gesichtsempfindungen geworden sind.“1 Damit spricht Müller eine Hinwendung zu den Vorgängen im Körper an, die nach 1800 einsetzt und zu der er selbst mit seinen sinnesphysiologischen For-schungen maßgeblich beiträgt. Wurde zuvor ein Gegensatz zwischen subjektiven, psychischen und objektiven, physischen Phänomenen gesehen, so nimmt mit Johann Wolfgang Goethes Entwurf einer Farbenlehre (1810) und Jan Evangelista Purkyněs Beiträgen zur Kenntnis des Sehens in subjectiver Hinsicht (1818) eine Erforschung der Sinne ihren Anfang, die auch in Vorgängen, die sich außerhalb des Betrachters nicht objektivieren lassen, Gesetzmäßigkeiten vorfindet.

Die einfachste Experimentalanordnung dieser neuartigen Erforschung des Sehens besteht im Schließen der Augen. Dem geschlossenen Auge zeigt sich das Sehen selbst: Die Farben und Lichterscheinungen, die das Auge sieht, wenn der Lichteinfall unterbrochen ist, geben die Funktionsweise des Gesichtssinns zu erkennen.2 Müller verallgemeinert dies für die Sinnesvermögen schlechthin und unterlegt seinen experimentellen Beobachtungen ein neues Konzept der Nerven-funktion. Unabhängig von der Art des Reizes, der einem Nerv zugeführt wird, reagiert dieser Nerv immer auf die für ihn spezifische Weise. Die „spezifischen Sinnesenergien“, die Licht sehen oder Töne hören lassen, aber auch Muskeln zur Kontraktion veranlassen, sind je eine Eigenschaft der Nerven und nicht der phy-sikalischen Reize.3 Zu den gewöhnlichen Reizen, wie dem Licht und dem Schall für das Auge und das Ohr, können andere hinzukommen: Druck, Erschütterung,

1 Johannes Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere. Nebst einem Versuch über die Bewegungen der Augen und über den menschlichen Blick, Leipzig, 1826, S. 454.

2 Vgl. dazu Jonathan Crary, Techniques of the Observer . On Vision and Modernity in the Nine-teenth Century, Cambridge, Mass., 1990; Joseph Vogl, „Der Weg der Farbe“, in: Räume der Romantik, hg. v. Inka Mülder-Bach und Gerhard Neumann, Würzburg, 2007, S. 157 – 168.

3 Vgl. Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes, S. 44 – 55, 452 – 462; ders., Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, 2 Bde., Coblenz, 1833 – 1840, Bd. 1, S. 779 – 781, Bd. 2, S. 254, 258.

KombinationstöneKombinationstöne

KOMBINATIONSTöNE28

Reibung, Kälte oder Wärme, Elektrizität, chemische Reagenzien, „die Pulse des eigenen Körpers“ oder krankhafte, beispielsweise entzündliche Veränderungen des betreffenden Organs oder anderer Teile des Körpers.4 Auf diese Reize reagiert der Nerv jedoch nicht anders als auf die vom vorgelagerten Sinnesorgan primär perzipierten Reize. Müller erläutert in seiner zweiten großen Abhandlung über das Sehen mit dem Titel Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen (1826): „Die Art des Reizes ist also in Beziehung auf die Lichtempfindung überhaupt ein durchaus Gleichgültiges, sie kann nur die Lichtempfindung verändern.“5

Während die äußeren Reize stets nur eine Wirkung auf den Nerv hervor-bringen, ist es Aufgabe der Sinnesphysiologie, zu prüfen, welche Erscheinungen die Nerven selbst hervorzubringen in der Lage sind. Wenn dies für das Hören nach dem Modell der subjektiven Gesichtserscheinungen geschehen soll, müssen entsprechende subjektive Erscheinungen des Gehörsinns aufgefunden werden. Purkyně berichtet in einem Aufsatz aus dem Jahr 1825 über ein Phänomen, das in Frage kommen könnte, den sogenannten Tartinischen dritten Ton. Sei man „von Natur aufgelegt“6, subjektive Erscheinungen wahrzunehmen, so könne man sich leicht davon überzeugen, dass es sich bei dem genannten Ton um eine Erscheinung handele, die ihren Ursprung im Ohr habe.

Die Bezeichnung Tartinischer Ton geht auf einen Traktat des Violinvirtuosen Giuseppe Tartini aus dem Jahr 1754 zurück, in dem er davon berichtet, dass zuweilen drei Töne zu hören sind, wenn nur zwei gespielt werden: Gibt man mit zwei Instrumenten, die in der Lage sind, so lange und so laut man möchte zu spielen, zwei verschiedene Töne an, dann entsteht „aus dem Zusammenstoß der bewegten Luftvolumina der zwei Instrumente ein dritter Ton“.7 Der terzo suono hängt in seiner Tonhöhe von den beiden Ausgangstönen ab: Je weiter auseinander die beiden gespielten Töne liegen, desto höher ist der dritte Ton. Auch der Organist Georg Andreas Sorge, ein Zeitgenosse Tartinis, erwähnt in einer Stimmanleitung den dritten Ton, der beim Spiel von besonders rein ge-stimmten Intervallen auftrete.8

4 Vgl. die Liste der Reize in Müller, Handbuch, Bd. 2, S. 254. 5 Johannes Müller, Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen, Coblenz, 1826, S. 5, Her-

vorhebung im Original. 6 Jan Ev[angelista] Purkyně, „Über den Tartinischen dritten Ton“, in: Sebrané spisy, 13 Bde.,

Prag, 1918 – 37, Bd. 2, S. 58 – 61, hier S. 60. 7 Giuseppe Tartini, Trattato di Musica, secondo la vera scienza dell’armonia, Padua, 1754, S. 13 – 19,

hier S. 13. Vgl. hierzu V. Carlton Maley, The Theory of Beats and Combination Tones . 1700 – 1863, New York, London, 1990, S. 44 – 46; zu Tartini allgemein und zur Bedeutung des Trattato für das Violinspiel vgl. Martin Staehelin: „Giuseppe Tartini über seine künstlerische Entwick-lung. Ein unbekanntes Selbstzeugnis“, Archiv für Musikwissenschaft 35 (1978), S. 251 – 274. Alle Übersetzungen stammen, soweit nicht anders vermerkt, von der Verfasserin.

8 Vgl. Georg Andreas Sorge, Anweisung zur Stimmung und Temperatur sowohl der Orgelwerke, als auch anderer Instrumente, sonderlich aber des Claviers, Hamburg, 1744, S. 40 f. Sorge er-klärt die Tatsache, dass er den dritten Ton zu zwei Tönen im Abstand einer reinen Quinte höre, und einen zweiten, dritten und vierten Ton, den er zu den Tönen einer reinen großen Terz höre, damit, dass „die Natur kein Vacuum leidet“ (S. 41). Die Natur ergänze daher die Verhältnisse 3 zu 2 um eine 1 und 5 zu 4 um 3, 2 und 1. Sorge erhebt – anders als Tartini –

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Purkyně beobachtet den dritten Ton unter anderem bei „zwei reinen Diskant-stimmen“9, die eine große Terz singen. Gerade in diesem Fall sei offenkundig keine der beiden Stimmen der Ursprung des dritten Tons. Davon könne man sich leicht überzeugen: Sobald der dritte Ton vernehmlich werde, „entferne man sich allmählig von den Singenden, stelle sich bald auf diese, bald auf jene Seite, horche bald mit diesem, bald mit jenem Ohr, und versuche nun den Ort anzugeben, von dem jener dritte Ton kommt“.10 Stets bleibe man auf das eigene Organ zurück-verwiesen, und mit zunehmender Fertigkeit im Beobachten dieses Tons werde man sich sogar von ihm „verfolgt fühlen“11. Der Tartinische dritte Ton entstehe nämlich, wie Purkyně behauptet, im Gehörorgan selbst. Davon zeuge auch das „Schwirren, Oscilliren und Schlagen“12 im Ohr, das den dritten Ton begleite.

Von der Kenntnis solcher „subjectiven mitklingenden harmonischen Töne, wovon wir bis jetzt nur gar wenig wissen“,13 erwartet sich Müller die Grundlage für eine neue Physiologie des Gehörs. Sie wären für diese Physiologie des Gehörs, was „die Blendungsfarben für die Physiologie des Gesichtes geworden sind“.14 Weder Müller noch Purkyně verfolgen jedoch die subjektiven Gehörserscheinungen systematisch weiter. Sie konstatieren lediglich, dass der Tartinische dritte Ton eine subjektive Erscheinung sein müsse, weil sich kein Ursprungsort außerhalb des Körpers für diesen Ton benennen lasse. Andere Versuche, gezielt subjektive Gehörserscheinungen zu erzeugen und sie zu beobachten, sind rar. Zwar gehen Müllers Untersuchungen die Versuche von Alessandro Volta und Johann Wilhelm Ritter voraus, verschiedene Sinnesreize durch elektrische Durchströmungen der entsprechenden Organe hervorzurufen, doch verlaufen die entsprechenden Versuche am Ohr mehr oder minder ergebnislos.

Volta verzeichnet bei seinen Versuchen eine Erschütterung, die in einem Höreindruck mündet:

Ich führte zwei sondenartige Metallstäbe mit abgerundeten Enden recht tief in beide Ohren ein und schloss diese an die beiden Extremitäten des Apparates an. In dem Moment, als der Kreis sich schloss, erhielt ich einen Stoß im Inneren des Kopfes und einige Augenblicke später (wobei die Anschlüsse nicht unterbrochen wurden) begann ich, einen Klang oder eher ein Geräusch in den Ohren zu hören, das ich kaum zu bestimmen wüsste; es war eine Art Knacken in Schüben, oder ein Knattern, so als kochte eine Masse oder eine zähflüssige Materie.15

keinen Anspruch darauf, den Ton allererst entdeckt zu haben, sondern er beginnt seine Ausführungen in dem als Dialog zwischen Schüler und Meister verfassten Text mit einer Frage des Schülers nach diesem Phänomen (S. 40).

9 Purkyně, „Über den Tartinischen dritten Ton“, S. 60. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 58. 13 Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes, S. 461. 14 Ebd. 15 A[lessandro] Volta, „On the Electricity excited by the mere Contact of conducting Sub-

stances of different kinds“, Philosophical Transactions of the Royal Society of London 90 (1800), S. 403 – 431, hier S. 427.

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Das Geräusch ist so unangenehm, dass Volta von Wiederholungen des Versuchs absieht, den er überdies für besonders gefährlich hält.

Ritter schließt in seinen Versuchen zur elektrischen Reizung der Sinnes-organe ebenfalls die Ohren an eine Stromquelle an. Er hört, je nachdem ob er die „Hydrogenseite“ oder die „Oxygenseite“16 seiner Batterie oder beide an sein Ohrläppchen anschließt, einen höheren oder tieferen Ton. Ritter führt dies auf eine Veränderung seines durch Schlucken, Klopfen und Streichen gefundenen Körpertons gʹ zurück, der sich auch einstellt, wenn er beide Seiten der Batterie anschließt. Die Ausschläge der Veränderung bei einseitig an die „Diskantseite“ bzw. „Bassseite“17 der Batterie angeschlossenem Ohrläppchen hängen von der Stärke der Batterie ab und verändern den Körperton bis zu einer Terz. Auch Ritter bekennt: „Es ist Schade, dass die unangenehmen Folgen, von denen diese sonst wohl recht interessanten Versuche, in Rücksicht auf die Gesundheit des Experimentators, so unausbleiblich begleitet sind, ihnen so hartnäckige Grenzen setzen.“18 Die Experimente, die Ritter bis zu seinem frühen Tod im Frühjahr 1810 unternimmt, finden keine Nachahmer. Die Physiologie des Gehörs bleibt ein Nebenschauplatz der physiologischen Wendung ins Körperinnere.

Die Akustik fügt sich vorerst nicht in die Neuordnung der Sinnesphysiologie ein, eine Umstellung der Akustik auf eine Physiologie des Hörens bleibt zunächst aus. Gleichwohl vollzieht sich in der physikalischen Akustik um 1800 ein Wandel. Dieser Wandel besteht aber gerade nicht in einer Aufwertung des Hörens. Ernst Florens Friedrich Chladni stellt 1789 der wissenschaftlichen öffentlichkeit mit seinen Klangfiguren ein Verfahren vor, das Hören und Akustik voneinander entkoppelt und dadurch einen Neuanfang in der physikalischen Akustik be-gründet. Die Klangfiguren entstehen aus einer Visualisierung der Bewegungen schwingender bzw. tönender Körper. Für ihre Erzeugung streut Chladni Sand auf Platten und Membranen, die mit einer Saite oder einem Stab in Berührung stehen. Beim Anschlagen oder Streichen der Platte bzw. des Stabes oder der Saite bildet der Sand ein Muster. Er bleibt auf den Kontenlinien der Schwingung liegen, also an den Stellen, an denen sich die gesamte Schwingung des klingenden Körpers in mehrere Subschwingungen teilt, während er an allen anderen Stellen von der Schwingungsbewegung fortgeschoben wird.19

Die Klangfiguren zeigen eine Vielfalt an Schwingungsbewegungen, die das Gehör nicht zu unterscheiden vermag und die sich vorerst auch nicht mathe-

16 J[ohann] W[ilhelm] Ritter, „Neue Versuche und Bemerkungen über die Wirkungen des Galvanismus und der Voltaischen Batterie auf das Gehörorgan“, in: ders., Physisch-Chemische Abhandlungen in chronologischer Folge, 3 Bde., Leipzig, 1806, Bd. 2, S. 108 – 125, hier S. 115. Zu Ritters Versuchen vgl. Klaus Richter, Das Leben des Physikers Johann Wilhelm Ritter . Ein Schicksal in der Zeit der Romantik, Weimar, 2003, S. 128; Erlmann, Reason and Resonance, S. 185 – 202; Siegert, Passage des Digitalen, S. 267 – 275.

17 Ritter, „Neue Versuche“, S. 116. 18 Ebd., S. 118. 19 Ernst Florens Friedrich Chladni, Entdeckungen über die Theorie des Klanges, Leipzig, 1787;

zu Chladni vgl. Ullmann, Chladni und die Entwicklung der Akustik von 1750 – 1860; Jackson, Harmonious Triads, S. 13 – 44.