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K. Ulsenheimer Juristische Aspekte: Unverbindliche Empfehlungen oder Verrechtlichung der Medizin? JURISTISCHE ASPEKTE Z Kardiol 89:245–250 (2000) © Steinkopff Verlag 2000 Legal aspects: nonbinding recommendations or jurisdiction on medicine? Summary The freedom of therapy granted to doctors through the ages by the jurisdiction does not imply a pre- ferred position of the doctor but lies in the interest of the patient: the doctor af- ter thorough examination should carry out self-responsibly the therapy that is in the best interest of the patient if and as far as the patient agrees. Unfortu- nately, today the freedom of medical treatment is thoroughly and from mul- tiple sides endangered. Danger derives on the one hand from the increasing in- fluence of jurisdiction on medicine, and on the other hand, from the in- creasing specialization and the segre- gation of fields of expertise resulting therefrom. Most dangerous is the mul- tiple and subtle regulation on free med- ical practice of the profession by re- forming the mandatory health insur- ance with quotas, positive lists (al- lowed prescriptions), fixed budgets, etc. That the doctors have substantially contributet to the erosion of freedom of therapy which also increases the risk of criminal and civil liability of the doctor by excessive support of the creation of guidelines in the recent past, is not generally acknowledged. The follow- ing should cast a little light on the missing conscience. Zusammenfassung Die von der Rechtsprechung der Ärzteschaft seit al- ters zuerkannte Therapiefreiheit bedeu- tet keine Vorzugsstellung der Ärzte, sondern dient dem Interesse des Patien- ten: Der Arzt soll eigenverantwortlich, nach gewissenhafter Prüfung im Ein- zelfall diejenige Therapie vornehmen, die dem Wohle des Patienten am besten dient, wenn und soweit dazu dessen Zustimmung vorliegt. Die Freiheit ärzt- lichen Handelns ist heute aber leider ernsthaft und vielfältig bedroht. Gefahr droht einmal von der zunehmenden Verrechtlichung der Medizin, zum an- deren von der fortschreitenden Spezia- lisierung und den daraus resultierenden Fachgebietsabgrenzungen, vor allem aber droht Gefahr infolge der immer zahlreicheren und subtileren reglemen- tierenden Eingriffe in die freie ärztliche Berufsausübung im Zuge der Neuge- staltung der gesetzlichen Krankenver- sicherung mit Richtgrößen, Positiv- listen, festen Budgets u. a. Dass die Ärzteschaft zu diesem Erosionsprozess der Therapiefreiheit, der das zivil- und strafrechtliche Haftungsrisiko des Arztes erhöht, durch die übermäßige Förderung der Leitlinienerstellung in jüngster Zeit auch selbst erheblich bei- getragen hat und beiträgt, ist vielen lei- der nicht recht bewusst. Die nachfol- genden Ausführungen sollen dieses fehlende Bewusstsein ein wenig auf- hellen. ZFK 521 Eingegangen: 12. Oktober 1999 Akzeptiert: 28. Oktober 1999 Vortrag vom 2. 10. 99, gehalten im Rahmen der Herbsttagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie Rechtsanwalt Prof. Dr. Dr. Klaus Ulsenheimer Maximiliansplatz 12/IV D-80333 München I. Die seit einigen Jahren im Gesundheitswesen mit großem En- gagement geführte Diskussion um das Pro und Contra, die möglichen Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken fachspe- zifischer nationaler Leitlinien hat zu erheblichen Irritationen, Mißverständnissen und Kontroversen geführt. Der Grund hierfür liegt darin, daß die Problematik äußerst vielschichtig ist, die Verschiedenartigkeit der Aspekte aber meist infolge der Konzentration auf nur einen Standpunkt zu kurz kommt. Um so erfreulicher ist es, daß in der heutigen Sitzung das Thema „Leitlinien/Richtlinien“ aus einem dreifachen Blick-

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K. Ulsenheimer Juristische Aspekte: Unverbindliche Empfehlungen oder Verrechtlichung der Medizin?

JURISTISCHE ASPEKTEZ Kardiol 89:245–250 (2000)© Steinkopff Verlag 2000

Legal aspects: nonbindingrecommendations or jurisdiction onmedicine?

Summary The freedom of therapygranted to doctors through the ages bythe jurisdiction does not imply a pre-ferred position of the doctor but lies inthe interest of the patient: the doctor af-ter thorough examination should carryout self-responsibly the therapy that isin the best interest of the patient if andas far as the patient agrees. Unfortu-nately, today the freedom of medicaltreatment is thoroughly and from mul-tiple sides endangered. Danger deriveson the one hand from the increasing in-

fluence of jurisdiction on medicine,and on the other hand, from the in-creasing specialization and the segre-gation of fields of expertise resultingtherefrom. Most dangerous is the mul-tiple and subtle regulation on free med-ical practice of the profession by re-forming the mandatory health insur-ance with quotas, positive lists (al-lowed prescriptions), fixed budgets,etc. That the doctors have substantiallycontributet to the erosion of freedom oftherapy which also increases the risk ofcriminal and civil liability of the doctorby excessive support of the creation ofguidelines in the recent past, is notgenerally acknowledged. The follow-ing should cast a little light on themissing conscience.

Zusammenfassung Die von derRechtsprechung der Ärzteschaft seit al-ters zuerkannte Therapiefreiheit bedeu-tet keine Vorzugsstellung der Ärzte,sondern dient dem Interesse des Patien-ten: Der Arzt soll eigenverantwortlich,nach gewissenhafter Prüfung im Ein-zelfall diejenige Therapie vornehmen,

die dem Wohle des Patienten am bestendient, wenn und soweit dazu dessenZustimmung vorliegt. Die Freiheit ärzt-lichen Handelns ist heute aber leiderernsthaft und vielfältig bedroht. Gefahrdroht einmal von der zunehmendenVerrechtlichung der Medizin, zum an-deren von der fortschreitenden Spezia-lisierung und den daraus resultierendenFachgebietsabgrenzungen, vor allemaber droht Gefahr infolge der immerzahlreicheren und subtileren reglemen-tierenden Eingriffe in die freie ärztlicheBerufsausübung im Zuge der Neuge-staltung der gesetzlichen Krankenver-sicherung mit Richtgrößen, Positiv-listen, festen Budgets u. a. Dass dieÄrzteschaft zu diesem Erosionsprozessder Therapiefreiheit, der das zivil- undstrafrechtliche Haftungsrisiko des Arztes erhöht, durch die übermäßigeFörderung der Leitlinienerstellung injüngster Zeit auch selbst erheblich bei-getragen hat und beiträgt, ist vielen lei-der nicht recht bewusst. Die nachfol-genden Ausführungen sollen diesesfehlende Bewusstsein ein wenig auf-hellen.

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Eingegangen: 12. Oktober 1999Akzeptiert: 28. Oktober 1999Vortrag vom 2. 10. 99, gehalten im Rahmender Herbsttagung der Deutschen Gesellschaftfür Kardiologie

RechtsanwaltProf. Dr. Dr. Klaus UlsenheimerMaximiliansplatz 12/IVD-80333 München

I.

Die seit einigen Jahren im Gesundheitswesen mit großem En-gagement geführte Diskussion um das Pro und Contra, diemöglichen Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken fachspe-zifischer nationaler Leitlinien hat zu erheblichen Irritationen,

Mißverständnissen und Kontroversen geführt. Der Grundhierfür liegt darin, daß die Problematik äußerst vielschichtigist, die Verschiedenartigkeit der Aspekte aber meist infolgeder Konzentration auf nur einenStandpunkt zu kurz kommt.Um so erfreulicher ist es, daß in der heutigen Sitzung dasThema „Leitlinien/Richtlinien“ aus einem dreifachen Blick-

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winkel betrachtet wird und auf diese Weise die nötigen Diffe-renzierungen in der Beurteilung sichtbar werden. Dabei be-steht meine Aufgabe darin, ausschließlich die rechtlichenGe-sichtspunkte im Rahmen dieser Gesamtschau vorzutragen, sodaß meine Ausführungen naturgemäß stark fokussiert sindund daher etwas „überzeichnet“ erscheinen mögen.

1. Ich möchte Sie im folgenden nicht mit Begriffsjurispru-denz langweilen, aber doch einige, wie mir scheint, wesentli-che Klarstellungen treffen, die für das Verständnis und dieWertung der Leitlinien aus rechtlicher Sicht von zentraler Be-deutung sind.a) Weder die höchstrichterliche Rechtsprechung auf dem Ge-biet der Arzthaftung noch die einschlägigen Gesetzestextenoch das juristische Fachschrifttum zur zivil- und strafrecht-lichen Verantwortlichkeit des Arztes verwenden den Begriffder „Leitlinie“. Statt dessen findet sich hier der Begriff des„fachärztlichen Standards“, der Facharztqualität, die jederArzt jedem Patienten bei seiner Behandlung schuldet und diefrüher gebräuchlichen Begriffe „Stand der Wissenschaft“oder „Kunstregeln“ abgelöst hat. Damit soll der gesetzlicheTerminus der „im Verkehr erforderlichen Sorgfalt“, wie in § 276 BGB der Maßstab für das rechtlich Erlaubte und Gebo-tene umschrieben ist, näher konkretisiert und die Frage be-antwortet werden, wie sich ein umsichtiger, gewissenhafterArzt in der jeweiligen Situation verhalten hätte.

Durch den Rückgriff auf den Standard, d. h. das in der ärzt-lichen Praxis und Erfahrung Bewährte, naturwissenschaftlichGesicherte, anders formuliert, die gute, verantwortungsbe-wußte ärztliche Übung2 in Diagnostik und Therapie weist dieRechtsprechung zur Bestimmung der „im Verkehr erforderli-chen Sorgfalt“ auf die Medizinzurück: die berufsspezifischeSorgfaltspflicht richtet sich nach den jeweiligen, wechselndenmedizinischenMaßstäben und muß deshalb von einem medi-zinischenSachverständigen ermittelt werden3. Mangels Sach-kompetenz können nicht die Gerichte darüber entscheiden,welchen der in Rede stehenden Heilverfahren der Vorzug ge-bührt4, und damit nicht die Richter den Inhalt des Standardsbestimmen, vielmehr ist dieser das Ergebnis einer medizini-schen Auseinandersetzung.b) Die Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundes-gerichtshofs haben deshalb immer wieder die ärztliche The-rapiefreiheit anerkannt und deutlich gemacht, daß weder dieRichter noch sonstige staatliche Gewalt medizinische Metho-denstreitigkeiten entscheiden können und dürfen. So heißt esschon in einer frühen Entscheidung des Reichsgerichts:

„Die allgemeinen oder weitaus überwiegend anerkanntenRegeln der ärztlichen Wissenschaft genießen grundsätzlichkeine Vorzugsstellung vor den von der Wissenschaft abge-lehnten Heilverfahren ärztlicher Außenseiter oder nichtärztli-cher Heilbehandler“5.

Ähnlich formulierte der BGH im Jahre 1991: Denn da derPatient „das Recht hat, jede nicht gegen die guten Sitten ver-

stoßende Behandlungsmethode zu wählen, kann aus dem Um-stand, daß der Heilbehandler den Bereich der Schulmedizinverlassen hat, nicht von vornherein auf einen Behandlungs-fehler geschlossen werden“6.

Selbstverständlich bedeutet dies „keinen Freibrief fürGewissenlosigkeit“7, keine Willkür oder schrankenloseWahlfreiheit des Arztes, vielmehr muß die erforderlicheSorgfalt zum Schutz des Patienten strikt eingehalten wer-den. Aber diese richterliche Kontrolle8 steckt nur die Gren-zen ab. Denn „Qualitätsstandard“ bedeutet nach der Recht-sprechung „nicht Standardbehandlung. Im Gegenteil kön-nen Besonderheiten des Falles oder ernsthafte Kritik an derhergebrachten Methode ein Abweichen von der Standard-methode fordern“.

Der Arzt muß außerdem weder „stets das jeweils neuesteTherapiekonzept mittels einer auf den jeweils neuesten Standgebrachten apparativen Ausstattung“ einsetzen9, noch ist erverpflichtet, „das als das wirksamste geltende Mittel auchdann anzuwenden, wenn seine auf sachliche Gründe gestütztepersönliche Überzeugung mit der überwiegenden Meinungnicht übereinstimmt“10. Ferner dürfen sich – betonte der BGHvor einigen Jahren – die Sorgfaltsanforderungen nicht unbe-sehen an den Möglichkeiten von Universitätskliniken undSpezialkrankenhäusern orientieren, sondern müssen sichauch an den für diesen Patienten in dieser Situation faktischerreichbaren Gegebenheiten ausrichten, sofern auch mit ihnenein zwar nicht optimaler, aber noch ausreichender medizini-scher Standard erreicht werden kann.11 In Grenzen ist deshalbder zu fordernde medizinische Standard je nach den personel-len und sachlichen Möglichkeiten verschieden.12

c) Demnach ist die Methodenwahl eine höchstpersönliche,von der ärztlichen Verantwortung getragene Entscheidung,die innerhalb einer gewissen Bandbreite – eines Korridors –nicht oder nur begrenzt justitiabel ist13. Sie beläßt dem Arzt„einen von ihm zu verantwortenden Risikobereich“ im Rah-men der Regeln der ärztlichen Kunst14, „unabhängig von derFessel normierender Vorschriften nach pflichtgemäßem undgewissenhaftem Ermessen“ im Einzelfall die Behandlungs-methode zu wählen, die nach seiner Überzeugung für dasWohl des Patienten am besten ist.15

d) Dies muß sich auch auf den Inhalt und die rechtliche Be-wertung der Leitlinien auswirken. Da sie den jeweiligen Standder Medizin für bestimmte Krankheitsbilder wiedergeben sol-len, können sie nur – in Abhängigkeit von den unterschied-lichen sachlichen Voraussetzungen – als „Orientierungs-marken“, „Handlungsempfehlungen“ oder „Richtschnur“ dasgebotene Verhalten, also den gesetzlichen Terminus der „imVerkehr erforderlichen Sorgfalt“16 konkretisieren, aber keineabsolute Verbindlichkeit entfalten. Die Sorge mancher Medi-ziner, die „Standards“ seien zu streng und würden von denÖkonomen immer mehr als Grundlage für eine abrechenbareLeistung genutzt, während Leitlinien „mehr Bewegungsfrei-heit“ beließen17, ist daher aus haftungsrechtlicher Sicht unbe-

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gründet. „Standard“ und „Leitlinie“ sind kein aliud und„keine Gegensätze“18, sondern bedeuten für die Rechtspre-chung inhaltlich und funktionell dasselbe, nämlich Hilfen fürdie konkrete Ausfüllung und Ergänzung der gesetzlichen Ge-neralklausel „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“.e) Dasselbe gilt für den Begriff der „Richtlinie“, den manverschiedentlich in der Haftungsjudikatur19 oder in Gesetzenantrifft, allerdings ebenfalls ohne inhaltliche Bestimmung,weshalb wir auf ganz unterschiedliche Bedeutungsinhaltestoßen.aa) Hinsichtlich der „Richtlinienkompetenz“ des Vorstandsder Bundesärztekammer bemerkt der Bundesgerichtshof, eshandle sich dabei um „Empfehlungen“ einer ärztlichen Be-rufsorganisation, um „Entscheidungshilfen“, aber nicht umallgemein verbindliche Rechtsnormen.20

Der Empfehlungscharakter der „Richtlinien“ wird auchdeutlich, wenn die Bundesärztekammer etwa „Richtlinienfür die Sterbehilfe“ formuliert, da auf diesem Feld schwie-rigster ärztlicher Entscheidungen, wo alles von den konkre-ten Umständen des Einzelfalles abhängt, immer nur Richt-punkte, Hinweise und Ratschläge, nicht aber verbindlichegenerelle Handlungsanweisungen gegeben werden kön-nen.21

bb) Im neuen Transplantationsgesetz22 von 1997 und imTransfusionsgesetz von 199823 haben die von der Bundesärz-tekammer aufzustellenden „Richtlinien“ für die Todesfest-stellung bzw. zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilensowie zur Anwendung von Blutprodukten nur eine widerleg-liche Vermutung, aber keine Verbindlichkeitzur Folge24. Wennund soweit die Richtlinien beachtet werden, wird vermutet,daß der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wis-senschaft und Technik eingehalten worden ist.cc) Andersist die Sach- und Rechtslage im Berufs- und Sozi-alrecht, das gleichzeitig Qualitäts- und Wirtschaftlichkeits-recht25 ist. Beides wird künftig zunehmend durch „Richtli-nien“ der Bundesausschüsse26 bestimmt. Diese „legen ver-bindlich fest, welche neuen Untersuchungs- und Behand-lungsmethoden vergütet werden“, und sind sanktionsbewehrt,gelten allerdings nur im ambulantenSektor für die Ver-tragsärzte, nichtdagegen im Krankenhausbereich27. Diese„Richtlinien“ haben also außerhalb des sozialrechtlichen Be-reichs keineVerbindlichkeit.f) Im Ergebnis ist also festzuhalten: Weder Leitlinien nochRichtlinien sind im Arzthaftungsrecht gesetzlich oder richter-lich definiert. Deshalb wundert die schillernde, ja verwirrendeVielfalt unterschiedlichster Definitionen und Abgrenzungs-versuche nicht, doch sind diese Bemühungen aus haftungs-rechtlicherSicht pure Semantik, die in der Sache nicht wei-terführen.Wenn es um die zivil- und strafrechtliche Verant-wortlichkeit des Arztes geht, sind Leit- und Richtlinien nichtsanderes als bedeutungsgleiche Hilfsmittel, um die „im Ver-kehr erforderliche Sorgfalt“ und damit den „fachärztlichenStandard“ zu bestimmen.

2. In dieser Funktion sind sie zeitgebunden, einem ständigenWandel unterworfen und deshalb immer wieder erneuerungs-und aktualisierungsbedürftig. Weder Leitlinien noch Richtli-nien noch Standards haben Rechtsnormcharakter, äußern alsokeine unmittelbare rechtlicheWirksamkeit. Sie sind „für denRichter, der in eigener Verantwortung über das Vorliegen“ ei-nes Behandlungsfehlers zu urteilen hat, „zwar eine Entschei-dungshilfe, entbinden ihn aber nicht von der Verpflichtung“,das ganze Meinungsspektrum der ärztlichen Wissenschaft indie Prüfung des Sorgfaltspflichtverstoßes im Einzelfall einzu-beziehen.28 Leit- und Richtlinien bilden nur eine Richtschnurfür den „Regelfall“, von der aufgrund der Gegebenheiten desEinzelfalles Abweichungen nicht nur zulässig, sondern unterUmständen sogar geboten sind.29 Denn „Leitlinien“ und„Richtlinien“ stellen eine „Verlagerung der Entscheidung vonder individuellen auf die kollektive Ebene dar30, während imSchadensersatzprozeß und in Strafverfahren gegen den Arztgerade die Besonderheiten des jeweiligen Sachverhalts, ins-besondere auch die Eigenheiten und der Wille des Patientenzu berücksichtigen sind.

3. Der Inhalt der Leitlinien, der meist über den Sachverstän-digen,manchmal sicher auch infolge eigener Recherchen derRichter, Staatsanwälte oder anwaltlichen Vertreter Eingang indie Justizpraxis findet, ist zwar sicherlich oft die maßgebendeGrundlage bei der Urteilsfindung,31 und zwar um so eher odermehr, als es sich um einen „Normal“- bzw. „Regelfall“ han-delt und je stärker allgemeine Organisations- und Strukturfra-gen (z. B. apparative Ausstattung, Abgrenzung der Verant-wortlichkeiten) eine Rolle spielen. Die Leitlinie kann sichaber auch durch neue Forschungsergebnisse oder aus sonsti-gen Gründen als überholt oder unbrauchbar erweisen. DieLeit- oder Richtlinie ist also im konkreten Einzelfall – undeben den hat die Rechtsprechung zu entscheiden – ebenso wieder Standard „bei Gott nicht alles“,32 sondern nur ein – mehroder weniger wichtiges – Kriterium zur Beantwortung derFrage, ob die vom Arzt getroffene diagnostische oder thera-peutische Maßnahme vertretbar war und mit der gebotenenSorgfalt durchgeführt wurde.

4. Leit- und Richtlinien haben deshalb für den „Abweich-ler“ bzw. „Befolger“ – ebenso wie der „Standard“ – wederstets haftungsbegründende noch stets haftungsbefreiende,entlastende Wirkung. „Die Abweichung von einer bestehen-den Leitlinie“ – und dasselbe gilt für die Richtlinie – „istnie automatischein Behandlungsfehler“.33 Allerdings befin-det sich derjenige, der ihnen folgt, im Regelfall „auf der si-cheren Seite“ und braucht seine Therapie nicht besonderszu rechtfertigen. Insofern hat Weißauer recht, wenn er inder „Festlegung von Leistungs- und Sorgfaltsmaßstäben“durch Leitlinien oder andere Regelwerke „gleich welcherRechtsqualität ein Mehr an Rechtssicherheit“ für den Arztsieht.34

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5. Aber – man muß auch die andere Seite des Januskopfessehen:a) Derjenige, der den Leitlinien nicht folgt, gerät in eineAußenseiterposition,die der Begründung, der Rechtfertigungbedarf, und damit trägt er das Risiko, daß ihm diese mißlingt,ja es besteht die große Gefahr, daß die Nichtbeachtung einerLeitlinie mit einem Behandlungsfehler gleichgesetzt wird.Diese Gefahr ist kein Phantom, sondern ganz real, wenn manz. B. in einer Subskriptions-Ankündigung der „Leitlinien“ fürdie Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie wörtlich liest, eshandle sich dabei um „verbindliche Leitlinien der DeutschenGesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie“, oderwenn es in einer Ankündigung der Universität Bremen wört-lich heißt: „In zunehmendem Maße werden durch die medizi-nischen Fachgesellschaften ärztliche Leitlinien erstellt. Diesebringen die Medizin erstmals in größerem Umfang in die Si-tuation, Normen guten ärztlichen Handelns durch professio-nelle Normsetzung festzulegen.“

Vom Empfehlungs- und Orientierungscharakter der Leitli-nien ist in diesen Beispielsfällen, die sich zwanglos vermeh-ren ließen, nicht mehr die Rede, vielmehr wird den Leitliniendurch ihre „offizielle“ Erstellung und „amtliche“ Verlautba-rung seitens der AWMF eine Art „autoritative Wirkung“35 und– daraus abgeleitet – fälschlicherweise eine quasi-normativeKraft beigelegt. Dagegen nützen auch Vorbehalte im Klein-gedruckten am Anfang oder Schluß einer Leitlinie nichts.Denn es entfaltet sich eine Eigendynamik, in denen die Leit-linie zum „Grundsatz“ wird, der alles andere verdrängt, so daßsich – nicht zuletzt unter dem Eindruck forensischer Aus-einandersetzungen – die Vielfalt der Methoden mehr undmehr reduziert. Damit wird nicht nur die Eigenverantwor-tung, die ärztliche Intuition, der Wagemut, neue Wege zu gehen, gebremst, sondern auch ein Handeln nach „Schema“ gefördert, das Tor zur Defensivmedizin also aufge-stoßen.b) Leitlinien „rationalisieren den Haftpflichtprozeß insofern,als sie die Feststellung des allgemeinen medizinischen Stan-dards einer ärztlichen Krankheitsbehandlung erleichtern“,heißt es bei Hart.36 Diese „Erleichterung“ bedeutet aber aufder Kehrseite, also im Falle nicht leitliniengetreuer ärztlicherTherapie, eine für den Patienten leichter durchsetzbare Haf-tung des Arztes,zumal der Autor37 schon jetzt betont, die „un-begründete Abweichung“ könne „eine Vermutung für dieKausalität des Fehlers für den Schaden zugunsten des Patien-ten auslösen“. Eine solche Beweislastumkehr gibt es bislangnur bei grobenBehandlungsfehlern, und damit sehen Sie, inwelche Richtung die Entwicklung geht und wie begründetmeine Sorge ist, daß es zu dem Fehlschluß: Leitlinien-mißachtung = ärztliches Fehlverhalten kommt.

6. Diese Bedenken werden auch nicht dadurch aufgewogen,daß im Gegenzug denjenigen, der die Leitlinie befolgt, „prin-zipiell“ kein Behandlungsfehlervorwurf treffen soll.38 Denn

„prinzipiell“ bedeutet hier nicht „ausnahmslos“, da Leitlinienja veralten, obsolet, durch Zeitablauf inhaltlich unrichtig wer-den können. Dieser Aspekt, die „Veralterung“, ist außeror-dentlich ernst zu nehmen. Denn ebenso wie die Formulierungder Leitlinien wird ihre durch den Fortschritt der Medizin not-wendige Änderung viel Zeit erfordern, so daß das statischeElement überwiegt. Leitlinien haben die Tendenz, ein gewis-ses Beharrungsvermögen zu entwickeln, und können deshalbsogar dem Standard widersprechen, wenn die Entwicklungweitergegangen ist und sie nicht rasch genug angepaßt wer-den.

Die praktische Tätigkeit wird für den Arzt durch die Leit-linien künftig also keineswegs nur einfacher und sicherer,vielmehr muß er bei der Krankenbehandlung prüfen,1. ob es für den konkreten Fall Leitlinien gibt,2. ob er diesen folgen soll,3. ob die Leitlinien dem medizinischen Standard entsprechen

(oder inzwischen hätten angepaßt werden müssen),4. wie er sich bei „konkurrierenden“ Leitlinien verschiedener

Fachgesellschaften verhalten soll, z. B. wenn Chirurgen,Unfallchirurgen und Gefäßchirurgen unterschiedliche Leit-linien zur Thromboseprophylaxe oder Chirurgen undGynäkologen verschiedene Leitlinien zur Behandlung desMammakarzinoms erstellen,

5. ob im konkreten Fall sachliche Gründe für die Nichtbefol-gung der Leitlinien sprechen.

7. Ich möchte deshalb nachdrücklich vor einer „Leitlinieneu-phorie“ warnen. Denn während Gesetzgebung und Recht-sprechung „kaum reglementierend in die Kernzone der ärztli-chen Berufstätigkeit eingreifen, überziehen sich die medizini-schen Fachgebiete selbst im Zuge ihres Fortschreitens, ihrerProfessionalisierung und Spezialisierung mit einem zuneh-mend engeren und angespannteren Netzwerk“39 von „Emp-fehlungen“, „Vereinbarungen“, „Leitlinien“, „Richtlinien“und ähnlichen Regelungen. Der deutsche Drang oder Hangzum Perfektionismus, das Bedürfnis unserer Gesellschaft, al-les und jedes zu reglementieren, findet hier mit immer mehrund immer detaillierteren Bestimmungen ein offenbar reichesBetätigungsfeld. Dabei übersieht man: „Überreglementie-rung“ kann „leicht zu Überängstlichkeit und damit zu ent-scheidungshemmendem Immobilismus,40 also zu einer defen-siv-medizinischen Haltung führen, was weder im Interesseder Patienten noch der Ärzteschaft liegen kann. Zwischen1989und 1996haben die Amerikaner 19nationale Leitlinienaufgestellt, die Deutschen dagegen in knapp 4 Jahren über800; dies sagt eigentlich alles!

8. Außerdem engen diese aus der medizininternen Ausei-nandersetzung hervorgehenden „immer anspruchsvolleren Maßgaben“ für die nach § 276 BGB geforderte Sorgfalt denFreiraum ärztlichen Ermessens zunehmend ein und führen imErgebnis zu einer Selbstbindungder Medizin, die das ohnehin

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beträchtliche forensische Risiko des Arztes weiter steigert.Denn je höher die medizinische Wissenschaft die Meßlattelegt, um so größer ist die Gefahr, daß der einzelne Arzt „nichthoch genug springt“. Ein gefährlicher circulus vitiosus, dendie fortschreitende Arbeitsteilung und Spezialisierung zusätz-lich verstärken, wird damit in Gang gesetzt: Je perfekter, prä-ziser und umfassender die ausformulierten medizinischen„Leitlinien“ – um so strenger die rechtlichen Prüfungsmaß-stäbe, um so höher die richterlichen Sorgfaltsanforderungenund damit um so größer das zivil- und/oder strafrechtlicheHaftungsrisiko.

9. Mit Recht hat Weißauer41 die Leitlinien als „sublime Formeiner mittelbaren“, gleichsam von innen her zunehmenden„Verrechtlichung der Medizin“ genannt, und damit bewirkensie – wie ich hinzufügen möchte – zwangsläufig eine schlei-chende Erosion der ärztlichen Therapiefreiheit. Nicht zuletztunter dem Einfluß forensischer Auseinandersetzungen – etwawenn ein Urteil die Einhaltung der Leitlinien fordert – wird„die Vielfalt der allgemein anerkannten und bewährten Me-thoden“ mehr und mehr reduziert und der individuelle Ent-scheidungsspielraum eingeschränkt.42

Diese Tendenz wird noch dadurch verstärkt, daß die Leit-linien aus Sicht der Kassen ein bestimmtes Versorgungsni-veau sichern und nur dieses bezahlt werden soll.43 Die Defi-nition des Angemessenen und medizinisch Notwendigen liegtaber für 90 % der Patienten, nämlich für die gesetzlich Versi-cherten, nicht bei den Ärzten, sondern bei den Soziallei-stungsträgern. Für den einzelnen Arzt heißt dies, daß er bei derweitaus überwiegenden Zahl aller Patienten zwar einerseitsdie Behandlung entsprechend den Leitlinien „bezahlt be-kommt“, andererseits aber aus rein finanziellen Erwägungenheraus abweichende Therapien nicht mehr vornehmen kann.Dies bedeutet eine wirtschaftlicheFesselung und zugleicheine erhebliche Einschränkung der Therapiefreiheit nach demMotto: „Wer zahlt, schafft an“.

10. Außerdem werden die „Leitlinien“ als Haftungsmaßstabnatürlich überaus zweifelhaft, wenn der Einfluß des Aspektsder Wirtschaftlichkeitbei ihrer Formulierung nicht deutlicherkennbar wird. Denn dann besteht die Gefahr, daß Sachver-ständige und Gerichte das ärztliche Vorgehen an unzutreffen-den Maßstäben messen, weil die „Leitlinien“ nicht mehr denaktuellen medizinischen Standard wiedergeben. Die Vermi-schung der lex artis mit gesundheitsökonomischenZielenwäre aus meiner Sicht eine schwerwiegende Fehlentwick-lung, die auf das Arzthaftungsrecht voll durchschlagen wird.Ich fühlte mich insoweit bisher als „einsamer Rufer in derWüste“. Inzwischen hat aber auch Laufs diese Bedenken auf-gegriffen und auf „die Gefahr allmählich wirksamer freiheits-beschränkender ökonomischer Infiltration des medizinischenStandards“44 hingewiesen, wenn „ökonomische Überlegun-gen die Bewertungskriterien für Diagnose- und Therapiestra-

tegien bestimmen und medizinische Forschung daran orien-tiert wird.“45

Daß diese Sorge berechtigt ist, zeigt auch die „Oberleitli-nie“ der BÄK und KBV, aus der die Verquickung medizini-scher und wirtschaftlicher Kriterien überdeutlich hervorgeht:„Leitlinien sind als gültig (valide) anzusehen, wenn durch dieBefolgung ihrer Empfehlungen die zu erwartenden gesund-heitlichen und ökonomischen Ergebnisse tatsächlich erzieltwerden können.“

Von medizinischer Seite ist deshalb streng darauf zu ach-ten, daß bei der Aufstellung der Leitlinien keine wirtschaftli-chen Vorgaben Berücksichtigung finden. Sicherlich „bedarfes eines Rahmens der wirtschaftlich Verantwortbaren. Dochdie Verantwortlichkeiten dürfen sich nicht verwischen. Überdie medizinischen Standards entscheidet die Medizin“, nichtdie Politik, nicht die Juristen und auch nicht Krankenkassen.46

11. Schließlich muß das prozedurale Verfahren bei der Ent-wicklung der Leitlinien überdacht werden. Ich stelle nur ei-nige Fragen: Welche Gruppen werden in die Formulie-rungskommission gewählt? Wer beruft die Kommissions-mitglieder? Gibt es insoweit nur Vorschläge oder eineWahl? Müssen für den Universitätsbereich, die Kranken-häuser und den Bereich der niedergelassenen Ärzte unter-schiedliche Leitlinien formuliert werden? Wenn ja: Wie istsichergestellt, daß die niedergelassenen Ärzte sich Gehörverschaffen, d. h. in die Erstellung der Leitlinien eingebun-den werden?

Wie läßt sich gewährleisten, daß sachfremde Einflüsse,z. B. Einflüsse aus der Wirtschaft oder aus wissenschaftli-chem Interesse ausgeklammert bzw. ausgeschaltet werden?Wer sorgt sich um die Evaluation der Leitlinien? Wer ak-tualisiert sie, nachdem sie formuliert worden sind? Sinddazu die wissenschaftlichen Gesellschaften, bestimmte Ex-pertengremien oder der eine oder andere sog. „Qualitätszir-kel“ aufgerufen?

Ich will diese Fragen, die sich leicht vermehren lassen,nicht beantworten, sondern nur aufzeigen, daß auch unter demAspekt der Kompetenzund Legitimationzur Erstellung vonLeitlinien noch erhebliche Probleme zu lösen sind.

III.

Ich komme zum Schluß: Leitlinien sind zwar nur Empfehlun-gen,werden aber in der Praxis zu weiterer Verrechtlichungder Medizinund einer Einschränkung der Therapiefreiheitführen. Darin liegt eine erhebliche Gefahr.

Denn Fortschrittsdrang, der Wille zur Selbsterneuerung,das Wagnis des abweichenden persönlichen Urteils in einerkomplexen Behandlungssituation dürfen nicht gehemmt oderbehindert werden, da ihnen Arzt und Patient letztlich diegroßartigen Leistungen der Medizin verdanken. „ÄrztlichesHandeln entzieht sich der Kanonisierung. Es wird diktiert von

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den Besonderheiten des Einzelfalles, von der Notwendigkeit,der Individualität des Patienten gerecht zu werden.“47 DerArzt braucht daher den von der Rechtsordnung anerkanntenEntscheidungsspielraum, um die im konkreten Behandlungs-fall „eigens angemessene Reaktion“ zu finden.48

„Ganz selten nur gibt es dieMethode. Selbst wenn eineMethode der Wahl existiert, ist ihr Anwendungsfeld durchpersönliche Variablen bestimmt“49, nämlich durch den Willendes Patienten, der nach sachverständiger Beratung durch denArzt selbständig entscheiden soll, welcher Methode mit ihrenunterschiedlichen Chancen und Risiken, Belastungen und Ne-benwirkungen er den Vorzug geben will. Da ärztliche Metho-denfreiheit und Patientenautonomie untrennbar zusammen-gehören, bedeutet mehr Bindung und Kontrolle des Arztesnicht nur eine Einengung seines ärztlichen Handlungsspiel-raums und eine Erhöhung seines forensischen Risikos, son-dern auch für den Patienten ein Stück Verlust an Entschei-dungsfreiheit und Selbstbestimmung. „Die Therapiefreiheitsteht in der Gefahr einer Außensteuerung der Medizin durchein Übermaß an Judifizierung und Schematisierung“.50

Daraus ist aber nicht die Schlußfolgerung zu ziehen, daßsich die Ärzteschaft bei der Formulierung der Leitlinien sper-ren, eine Verweigerungshaltung einnehmen, in Attentismusverfallen soll. Dies wäre gänzlich verkehrt! Denn wenn diewissenschaftlichen Fachgesellschaften, die Berufsverbände,die Qualitätszirkel und die anderen an der Entwicklung derMedizin interessierten Ärzte ihr Wissen und ihre Arbeitskraftbei der Formulierung der Leitlinien nicht einbringen, über-nehmen, wie das Beispiel Holland zeigt, andere, nämlich dieKrankenkassen, diese Aufgabe. Wenn insoweit schon ein ge-setzlicher Auftrag besteht, ist es allemal besser, autonom, frei-willig hierbei mitzuwirken als heteronom, fremdbestimmtsich von dritter Seite Lösungen aufzwingen zu lassen.

Deshalb plädiere ich mit Nachdruck dafür, daß sich dieÄrzte an die Spitzeder Leitlinienbewegung setzen, damit aberzugleich auch das Tempo und die Modalitäten bestimmen. Ichhalte es für unabdingbar, daß die Ärzte hier die Führerschaftübernehmen, dabei aber die Kunst des rechten Maßes befol-gen und unter Berücksichtigung aller, auch der haftungs-rechtlichen Aspekte, der Wahrung der Therapiefreiheitundunter Beschränkungder Regelungsmaterienund des Rege-lungsinhaltsvorgehen. Niemand hat ihnen Zahl und inhaltli-che Ausgestaltung der Leitlinien vorgegeben.

Leitlinien erfordern einen breiten wissenschaftlichen Kon-sens, müssen sich auf das Wesentliche konzentrieren und dür-fen dem Arzt nicht die Freiheit zur verantwortlichen, also be-gründeten Entscheidung im Einzelfall beschneiden. Ein Zu-viel an derartigen – an sich unverbindlichen – Regelwerkenund Vorgaben führt letztlich zu mehr Verrechtlichung der Me-dizin, schwächt dadurch die Eigenverantwortung des Arztesund läuft damit dem Wohl des Patienten zuwider, auf das eshauptsächlich ankommt.

1Vortrag v. 2. 10. 99, gehalten im Rahmen der Herbsttagung der Deut-schen Gesellschaft für Kardiologie

2Franzki, in: Leitlinien in der Chirurgie, herausgegeben von Jost undLangkau, 1997, 33.

3BGH MDR 1994, 483.4RG HRR 1938, Nr. 936.5RGSt 67, 12, 22.6BGH NJW 1991, 1536; ebenso BGHSt 37, 385, 387.7RGSt 67, 12, 22.8vgl. Schreiber, Notwendigkeit und Grenzen rechtlicher Kontrolle derMedizin 1983, S. 38.

9BGH NJW 1988, 763.10BGH NJW 1988, 763 f.11BGH NJW 1994, 1597, 1598.12BGH NJW 1993, 2989.13Weißauer, a. a. O., S. 49.14BGHSt 37, 385, 387.15Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 2. Aufl.

1999, § 3 Rdnr. 13.16Pelz a. a. O., S. 24.17Peter, Anästhesiologie und Intensivmedizin 1995, 61 (Diskussions-

beitrag); deutsche Sektion für Osteosynthesefragen, Arztrecht 1997, 72.

18Weißauer, Anästhesiologie und Intensivmedizin 1995, 62.19BGHSt 1, 318, 321 f.; 37, 383, 385.20BGHSt 37, 385, 386; siehe dazu die Anmerkung von Laufs/Reihling,

JZ 1992, 105, 106.21siehe dazu auch Opderbecke/Weißauer MedR 1998, 395 ff.22§ 15 Abs. 1 TPG.23§ 12 Abs. 2, 18 Abs. 2 TFG.24Deutsch NJW 1998, 3377.25Hart MedR 1998, 12.26§ 92 SG V.27§§ 92 ff. SGB V.28BGHSt 37, 385, 386.29Pelz, a. a. O., S. 24.30Pelz, a. a. O., S. 26 unter Berufung auf Buchborn, MedR 1993, 330.31Pelz, a. a. O., S. 24, 25, 30.32Pelz, a. a. O., S. 29.33Hart, MedR 1998, 12.34Anästhesiologie und Intensivmedizin 1998, 179.35Bruns, Arztrecht 1998, 184.36Hart, MedR 1998, S. 12.37Hart, MedR 1998, S. 13.38Hart, a. a. O., S. 12, 13 oben.39Laufs, in: Handbuch des Arztrechts, 1992, § 99 Rdnr. 4, MedR 1986,

169.40Eser, Der Arzt im Spannungsfeld von Recht und Ethik, in: Ethische

Probleme des ärztlichen Alltags, 1988, S. 98.41Weißauer, in: Chefarzt aktuell, Juli 1997 Nr. 4/97, S. 10.42Wawersik, Anästhesiologie und Intensivmedizin 1995, 47.43Hoffmann, Arzt und Krankenhaus 1998, 195.44FS für Deutsch, 1998, S. 628.45Hart, MedR 1996, 60, 70.46Die AWMF hat dies offenbar erkannt und betont deshalb mit Nach-

druck, daß in den Leitlinien keine wirtschaftlichen Vorgaben oder Er-wägungen Berücksichtigung finden dürfen.

47Jung, ZStW Bd. 97 (1985), S. 54.48Laufs, a. a. O., S. 586.49Jung ZStW Bd. 97 (1985), S. 54.50Laufs, FS Deutsch., S. 631.

250 Zeitschrift für Kardiologie, Band 89, Heft 3 (2000)© Steinkopff Verlag 2000