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philo SPIRIT Abenteuer Philosophie 2/2007 30 Die Kabbala, wörtlich „Überlieferung“, ist die wohl bekannteste Strömung innerhalb der jüdischen Mystik. Heute löst dieser Begriff kontroverse Assoziationen aus: Die einen stehen verlegen und ratlos vor einem Sammelsurium von unverständlichen kabbalistischen Texten und können mit ihnen nichts anfangen. Andere wiederum holen sich die Rosinen aus dem Kuchen, vermischen ihre „Auswahl“ mit weiteren Versatzstücken anderer esoterischer Weltsichten wie beispielsweise Alchemie, Tarot und neuerdings sogar – in den USA überaus geschäftstüchtig und erfolgreich – mit gewissen New-Age-Klischees, die gerade in Mode sind. Doch worum geht es in der Kabbala wirklich? Kabbala Die Mystik des Judentums TEXT: WALTER GUTDEUTSCH

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Die Kabbala, wörtlich „Überlieferung“, ist die wohl bekannteste Strömung innerhalb der jüdischen Mystik. Heute löst dieser

Begriff kontroverse Assoziationen aus: Die einen stehen verlegen und ratlos vor einem Sammelsurium von unverständlichen

kabbalistischen Texten und können mit ihnen nichts anfangen. Andere wiederum holen sich die Rosinen aus dem Kuchen,

vermischen ihre „Auswahl“ mit weiteren Versatzstücken anderer esoterischer Weltsichten wie beispielsweise Alchemie,

Tarot und neuerdings sogar – in den USA überaus geschäftstüchtig und erfolgreich – mit gewissen New-Age-Klischees,

die gerade in Mode sind. Doch worum geht es in der Kabbala wirklich?

KabbalaDie Mystik des Judentums

T E X T : W A L T E R G U T D E U T S C H

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ie Juden unterscheiden zwis-chen den so genannten geoffen-barten und den mündlich über-

lieferten Schriften. Die schriftliche Thorawurde von Gott am Berg Sinai Moses of-fenbart und bildet die bekannten fünfBücher, die Moses zugeschrieben werdenund die den Kern des Alten Testaments derchristlichen Bibel bilden. Im Laufe derJahrhunderte wurde es immer notwendi-ger, die Thora zu kommentieren, umsie damit besser im praktischen Lebenumsetzen zu können. Diese so ge-nannte mündliche Thora wurde späterauch schriftlich festgehalten.

Innerhalb der ursprünglichmündlichen Thora gibt es nun zweiweitere Unterteilungen:

Einerseits finden wir exoterischeTexte (griech. „exoteros“ = dasÄußere betreffend) mit eindeutigenAussagen zu konkreten Lebenssitua-tionen, Rechtsprechung, Verhalten inder Familie und in der Öffentlichkeit,religiöse Gebote und vieles mehr.Eines der wichtigsten Bücher ausdieser Tradition ist der Talmud(wörtlich „Belehrung“, „Studium“),das bedeutendste Schriftwerk des Ju-dentums mit fast 10 000 Seiten ineinem Dutzend Bänden.

Parallel zu diesen gibt es die esote-rischen Texte (griech. „esoteros“ = das In-nere betreffend) für jene Kreise des jüdis-chen Volkes, die nach einem tieferen Ver-ständnis der traditionellen Formen undVorstellungen des Judentums strebten.Eine sehr umfangreiche Literatur hat,besonders seit dem Mittelalter, die Kennt-nisse dieser Mystiker bewahrt.

Wir können sechs größere Hauptströ-mungen unterscheiden, von denen dieKabbala die bedeutendste ist.

Einer der ältesten Texte, auf den dieKabbala zurückgeht, ist das Sefer Jezira,das „Buch der Schöpfung“. Wahrschein-lich wurde es zwischen dem 3. und dem 6.

Jahrhundert n. Chr. verfasst und erzählt,wie Gott die Welt mit Hilfe der 22 Buch-staben des hebräischen Alphabets und derzehn Sefirot erschuf. In diesem Werktaucht zum ersten Mal der Begriff der Se-fira (Plural: Sefirot) auf. Die Vorstellung,dass Zahlen den Aufbau des Kosmos be-stimmen, finden wir auch bei derpythagoräischen Kosmologie.

Gegen Ende des 12. Jahrhunderts ent-wickelte sich die Kabbala im SüdenFrankreichs zu einem eigenständigen Sys-tem innerhalb des Judentums. Rabbini-sche Gelehrsamkeit, Philosophie undMystik erlebten eine Blütezeit. Hier ent-stand das kleine Büchlein Sefer ha-Bahir,den Scholem als ersten echten kabbalis-tischen Text ansieht. Obwohl „bahir“ soviel heißt wie „hell“ oder „klar“, ist dasBuch ausgesprochen verwirrend unddunkel.

Die Sefirot erscheinen hier als Lichter,Kräfte und Eigenschaften, ähnlich dengöttlichen Potenzen, wie sie in der gnos-

tischen Literatur beschrieben werden. Be-merkenswert ist, dass im Buch Bahir ganzselbstverständlich von der Reinkarnationgesprochen wird, als sei damals die Lehreder Wiedergeburt eine bekannte Tatsachegewesen.

Den Höhepunkt der Kabbala-Literaturbildet das monumentale Sefer ha-Sohar,das „Buch des Glanzes“, entstanden im13. Jahrhundert. Die vollständige Aus-

gabe besteht aus mehr als 2000 Seiten.Die deutsche Ausgabe im Diederichs-Verlag hat „nur“ rund 400 Seiten…Teile des Sohar sind möglicherweisewirklich durch automatischesSchreiben entstanden, eine Technik,bei der der Mystiker über einen gött-lichen Namen meditierte, in Trancefiel und zu schreiben begann, „wasimmer aus seiner Hand floss“.

Der Autor Moses de León jedochverwob seine verschiedenen Quellenzu einem Meisterstück spirituellerWeltliteratur: einem Kommentar zurThora in der Form eines mystischenRomans. Dabei wandern Rabbi Simonben Jochai und seine Jünger durchGaliläa. Sie tauschen kabbalistischeErkenntnisse aus, wobei biblischeGestalten wie Abraham und Mosesauftreten, deren Worte, Taten und Per-

sönlichkeiten die Rabbis interpretieren.Der Einfluss der Kabbala reicht ohne

Unterbrechung bis in unsere Zeit. Und ob-wohl die Kabbala im jüdischen Denkenwurzelt, reicht ihr Einfluss weit über dieGrenzen des Judentums hinaus. Dante warvon kabbalistischen Ideen völlig durch-drungen.

Der italienische RenaissancehumanistPico della Mirandola zum Beispiel hieltdie Werke der Kabbala, die er in lateini-scher Übersetzung gelesen hatte, für dieursprüngliche göttliche Offenbarung. DieKabbala, so glaubte er, könnte den Eu-ropäern helfen, Pythagoras, Platon und dieGeheimnisse des katholischen Glaubens

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Der Sefirot-Baum

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besser zu verstehen. Einer von PicosNachfolgern, Johannes Reuchlin, schufdas erste systematische Werk einerchristlichen Kabbala: de arte cabalistica.Im 17. Jahrhundert trug Knorrvon Rosenroth Übersetzungenvieler wichtiger Texte in seinemWerk Cabbala denudata zusam-men, eine Anthologie, die in derdamaligen europäischen Geis-teswelt viel Resonanz fand.Denker wie Leibniz, Lessing,Swedenborg und William Blakewaren kabbalistischen Vorstel-lungen gegenüber offen.

Helena Petrovna Blavatsky,die große Weltreisende undPhilosophin des 19. Jahrhun-derts, studierte intensiv die ihrzugänglichen Quellen (leiderhatte sie nur katastrophaleÜbersetzungen zur Verfügung)und sie war die Erste, die um-fassende Parallelen der jüdi-schen Kabbala mit mystisch-theosophischen Systemen an-derer Kulturkreise aufzeigte.

Im 20. Jahrhundert stößt manzum Beispiel im Werk FranzKafkas und Jorge Luis Borgesauf kabbalistische Spuren. Denzeitgenössischen spirituellenSuchenden ist die Kabbala zueiner reichen und lebendigenQuelle geworden.

Was lehrt die Kabbala?

Die Lehren im Buch Sohar lassen sichwie folgt umreißen (wir beschränken unshier auf die wichtigsten Aspekte):

1. Aïn sofGott ist die Quelle des Lebens und derSchöpfer des Universums, aber er ist un-endlich (aïn sof), unnahbar, unbegreiflich;er ist das Unbekannte (aïn, „nichts“, fürunsere Intelligenz das „nicht Seiende“;

durch die kabbalistische Technik der„Umdrehung“ der Buchstaben ani =„Ich“! Dies erinnert stark an die hinduis-tisch-buddhistische Auffassung von der

Welt der Maya, der Illusion, der Täu-schung, welche unsere sinnlich wahr-nehmbare Welt darstellt).

2. Die Zehn Sefirot bilden in ihrer Gesamtheit symbolisch denhimmlischen oder idealen Menschen, den„Adam Kadmon“. Diese zehn Sefirot wer-den auch der Lebensbaum genannt: jedeSefira bildet eine Emanation Gottes, wo-bei erst die unterste und letzte unseresichtbare Welt bildet.

3. Der Name Gottes, das Tetragrammaton JHWH, bildet einenweiteren Schwerpunkt. Exoterisch wird diese „Formel“ „Jahwe“

ausgesprochen, durch einMissverständnis der Deutungder Vokalisierungszeichenwurde daraus auch „Jehova“.Esoterisch beinhaltet dieseFormel den göttlichen Bauplander gesamten Schöpfung, diesich wiederum in der Thoravom ersten bis zum letzten Zei-chen widerspiegelt.

4. Die Thora (der Pentateuch) wird als Organismus aufgefasst: „DieThora ist eine Explikation und ein Kommentar des Tetra-grammatons“, lehrt ein Kabba-list.

5. Der Chassid (der Fromme, der Heilige)bzw. der Zaddik (der Gerechte,auch im Sinne von „der Heili-ge“) bilden den ethisch-mysti-schen Weg der Kabbala. Dies sind Menschen, derenhöchstes Streben darin besteht,den Weg zurück zur Einheit al-len Seins, zurück in den„Schoß Gottes“ zu gehen, undsei er auch noch so beschwer-lich.

Dazu ist eben der reine Intellekt nicht aus-reichend. Eine natürliche Begabung zurVerinnerlichung, eine Sensibilität für dasUnfassbare (und doch Reale) des Numi-nosen ist notwendig, um von innen denImpuls zum Vorwärtsschreiten auf diesemWeg zu erlangen.

6. Die Gematrie ist eine der verschiedenen Methoden oderTechniken der Kabbala, die darauf beruht,dass im Hebräischen jeder Buchstabe

„Portae Lucis“ (Die Pforten des Lichts) von Joseph ben Abraham Gikatilla (1248-1305): Mann, der einen Baum mit den zehn Sefirot

hält.

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(besser: jedes Zeichen) auch gleichzeitigeinen Zahlenwert darstellt. So kann jedesWort auch als Zahlenwert auf verschie-denste Rechnungsarten dargestellt wer-den. Wenn nun ein anders klingendes Wort dengleichen Zahlenwert hat, so deutet diesauf eine esoterische Sinnverwandtschafthin. – Die Umdeutung von Zeichen inZahlen macht in der Kabbala nur einenTeil aus. Das Wichtige ist nicht das Herumrechnenund das intellektuelle Sich-Ergötzen anwundersamen Gedanken, sondern dasAufsteigen der menschlichen Seele zu-rück zum göttlichen Ursprung.

7. Die TransformationDie Lehre der Kabbala besteht in demWeg der Transformation.Wenn wir wirklich Mystik studieren undleben wollen, müssen wir die Lehre derWandlung der Persönlichkeit in die Praxisumsetzen. Dies ist nichts anderes als ein Reini-gungsprozess der Seele von allem, was„individualistisch“, d.h. trennend wirktund sterblicher Natur ist. Dies ist ver-gleichbar mit der Lehre des alchemischen„Athanor“, dem spirituellen Schmelzofen,in dem das Blei unserer Mängel in dasGold der Tugenden umgeschmolzen undtransformiert wird.

Dieser Weg setzt daher Arbeit an sichselbst voraus. Ohne die bescheidene undkontinuierliche Arbeit an sich selbst wirddie Kabbala (wie jedes andere wahre eso-terische System) für den Studierendennichts weiter sein als eine Unmenge inter-essanter und verworrener Ansichten ver-sponnener, weltabgehobener Mystiker.

Doch derjenige, der sich vom äußerenSchein der Verworrenheit nicht ab-schrecken lässt, der ausdauernd studiertund bescheiden „anklopft“, dem wird „dieTür aufgetan“.

Jeder wird, seinem Bewusstseinsniveauentsprechend, das ernten, was er sät.

Wenn kraftvolles Licht verborgen und in ein Gewand gehüllt ist, wird es zum Vorschein gebracht. Obwohl verborgen, ist das Licht offenbar,denn wäre es nicht verborgen, könnte es nicht offenbar werden. Dasist, als würde man sich wünschen, in die blendende Sonne zu schau-en. Ihr Blenden verhüllt sie, denn du kannst nicht in ihre überwältigen-de Helligkeit blicken. Aber wenn du sie verhüllst – und durch einenSichtschutz auf sie blickst –, kannst du ohne Schaden schauen. Ebenso ist es mit der Emanation: Durch Verbergen und Verhüllen offenbart sie sich.

(Moses Cordovero, 16. Jh.)

Die wilde Kraft der Imagination ist ein Geschenk Gottes. Wenn sie mit der Größe des Geistes verbunden wird, der Macht des Folgerns, der ethischen Tiefe und dem natürlichen Sinn für das Göttliche, dann wird die Imagination zu einem Instrument des heiligen Geistes.

(Abraham Isaac Kook, 20. Jh.)

Wenn du das Geheimnis, deine Seele an oben anzubinden, kennenund deine Gedanken mit Gott verbinden willst – so dass du durch fortgesetzte Kontemplation unaufhörlich die Welt, die kommen wird, erreichst, und Gott immer bei dir ist, in diesem Leben und im nächsten –, dann stell die Buchstaben von Gottes Namen vor dein geistiges Auge, als seien sie in einem Buch in hebräischer Schriftniedergeschrieben. Visualisiere, wie sich jeder Buchstabe bis in dieUnendlichkeit ausdehnt. Was ich meine ist das: Wenn du die Buchsta-ben visualisiert, konzentriere dich mit deinem geistigen Auge auf sie,während du die Unendlichkeit kontemplierst. Beides gemeinsam: unverwandt blicken und meditieren.

(Isaak von Akko, 13.-14. Jh.)

Die Schrift der Thora ist ohne Vokale geschrieben, daher kannst du sieauf verschiedene Weise lesen. Ohne Vokale haben die Konsonantenviele Bedeutungen und zersplittern in Funken. Deshalb darf die Thora-Schriftrolle nicht vokalisiert werden, denn die Bedeutung jedes Wortesentspricht seinen Vokalen. Ist es einmal stimmlich umgesetzt, dann hatjedes Wort nur eine Bedeutung. Ohne Vokale kannst du jedes Wort aufzahllose, wundersame Weisen verstehen.

(Bahya ben Asher, 13.-14. Jh.)

Etwas, das du jemand anderem nicht erklären kannst, wird nistargenannt, „verborgen“, wie der Geschmack von Essen, den man je-mandem, der nie gekostet hat, nicht beschreiben kann. Worte könnenes nicht vermitteln – es ist verborgen. Ähnlich ist es mit der Liebe zuund der Ehrfurcht vor Gott: Es ist unmöglich, jemand anderem zu er-klären, wie sich die Liebe in deinem Herzen anfühlt. Das ist verborgen.

(Menahem Mendel von Peremishlany, 18. Jh.)