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Franz Kafka Amerika Roman

Kafka - Amerika

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Page 1: Kafka - Amerika

Franz Kafka

Amerika

Roman

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Der Heizer

Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der vonseinen armen Eltern nach Amerika geschickt wordenwar, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und einKind von ihm bekommen hatte, in dem schon lang-sam gewordenen Schiff in den Hafen von New Yorkeinfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Sta-tue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärkergewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwertragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt weh-ten die freien Lüfte.

›So hoch!‹ sagte er sich und wurde, wie er so garnicht an das Weggehen dachte, von der immer mehranschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihmvorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer ge-schoben.

Ein junger Mann, mit dem er während der Fahrtflüchtig bekannt geworden war, sagte im Vorüberge-hen: »Ja, haben Sie denn noch keine Lust auszustei-gen?«

»Ich bin doch fertig«, sagte Karl, ihn anlachend,und hob aus Übermut, und weil er ein starker Jungewar, seinen Koffer auf die Achsel. Aber wie er überseinen Bekannten hinsah, der ein wenig seinen Stockschwenkend sich schon mit den andern entfernte,

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merkte er bestürzt, daß er seinen eigenen Regen-schirm unten im Schiff vergessen hatte. Er bat schnellden Bekannten, der nicht sehr beglückt schien, um dieFreundlichkeit, bei seinem Koffer einen Augenblickzu warten, überblickte noch die Situation, um sich beider Rückkehr zurechtzufinden, und eilte davon. Untenfand er zu seinem Bedauern einen Gang, der seinenWeg sehr verkürzt hätte, versperrt, was wahrschein-lich mit der Ausschiffung sämtlicher Passagiere zu-sammenhing, und mußte Treppen, die einander immerwieder folgten, durch fortwährend abbiegende Korri-dore, durch ein leeres Zimmer mit einem verlassenenSchreibtisch mühselig suchen, bis er sich tatsächlich,da er diesen Weg nur ein- oder zweimal und immer ingrößerer Gesellschaft gegangen war, ganz und garverirrt hatte. In seiner Ratlosigkeit und da er keinenMenschen traf und nur immerfort über sich das Schar-ren der tausend Menschenfüße hörte und von derFerne, wie einen Hauch, das letzte Arbeiten der schoneingestellten Maschinen merkte, fing er, ohne zuüberlegen, an eine beliebige kleine Tür zu schlagenan, bei der er in seinem Herumirren stockte.

»Es ist ja offen«, rief es von innen und Karl öffnetemit ehrlichem Aufatmen die Tür.

»Warum schlagen Sie so verrückt auf die Tür?«fragte ein riesiger Mann, kaum daß er nach Karl hin-sah. Durch irgendeine Oberlichtluke fiel ein trübes,

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oben im Schiff längst abgebrauchtes Licht in die kläg-liche Kabine, in welcher ein Bett, ein Schrank, einSessel und der Mann knapp nebeneinander, wie ein-gelagert, standen.

»Ich habe mich verirrt«, sagte Karl, »ich habe eswährend der Fahrt gar nicht so bemerkt, aber es istein schrecklich großes Schiff.«

»Ja, da haben Sie recht«, sagte der Mann mit eini-gem Stolz und hörte nicht auf, an dem Schloß eineskleinen Koffers zu hantieren, den er mit beiden Hän-den immer wieder zudrückte, um das Einschnappendes Riegels zu behorchen.

»Aber kommen Sie doch herein!«, sagte der Mannweiter, »Sie werden doch nicht draußen stehn!«

»Störe ich nicht?« fragte Karl. »Ach, wie werdenSie denn stören!«

»Sind Sie ein Deutscher?« suchte sich Karl noch zuversichern, da er viel von den Gefahren gehört hatte,welche besonders von Irländern den Neuankömmlin-gen in Amerika drohen.

»Bin ich, bin ich«, sagte der Mann. Karl zögertenoch. Da faßte unversehens der Mann die Türklinkeund schob mit der Türe, die er rasch schloß, Karl zusich herein.

»Ich kann es nicht leiden, wenn man mir vom Ganghereinschaut«, sagte der Mann, der wieder an seinemKoffer arbeitete, »da läuft jeder vorbei und schaut

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herein, das soll der Zehnte aushalten!«»Aber der Gang ist doch ganz leer«, sagte Karl, der

unbehaglich an den Bettpfosten gequetscht dastand.»Ja, jetzt«, sagte der Mann. ›Es handelt sich doch

um jetzt‹, dachte Karl, ›mit dem Mann ist schwer zureden.‹

»Legen Sie sich doch aufs Bett, da haben Sie mehrPlatz«, sagte der Mann. Karl kroch, so gut es ging,hinein und lachte dabei laut über den ersten vergebli-chen Versuch, sich hinüberzuschwingen. Kaum warer aber im Bett, rief er: »Gotteswillen, ich habe jaganz meinen Koffer vergessen!«

»Wo ist er denn?«»Oben auf dem Deck, ein Bekannter gibt acht auf

ihn. Wie heißt er nur?« Und er zog aus einer Geheim-tasche, die ihm seine Mutter für die Reise im Rockfut-ter angelegt hatte, eine Visitkarte.

»Butterbaum, Franz Butterbaum.«»Haben Sie den Koffer sehr nötig?«»Natürlich.«»Ja, warum haben Sie ihn dann einem fremden

Menschen gegeben?«»Ich hatte meinen Regenschirm unten vergessen

und bin gelaufen, um ihn zu holen, wollte aber denKoffer nicht mitschleppen. Dann habe ich mich auchhier noch verirrt.«

»Sie sind allein? Ohne Begleitung?«

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»Ja, allein.« ›Ich sollte mich vielleicht an diesenMann halten‹, ging es Karl durch den Kopf, ›wo findeich gleich einen besseren?‹

»Und jetzt haben Sie auch noch den Koffer verlo-ren, vom Regenschirm rede ich gar nicht.« Und derMann setzte sich auf den Sessel, als habe Karls Sachejetzt einiges Interesse für ihn gewonnen.

»Ich glaube aber, der Koffer ist noch nicht verlo-ren.«

»Glauben macht selig«, sagte der Mann und kratztesich kräftig in seinem dunklen, kurzen, dichten Haar,»auf dem Schiff wechseln mit den Hafenplätzen auchdie Sitten. In Hamburg hätte Ihr Butterbaum den Kof-fer vielleicht bewacht, hier ist höchstwahrscheinlichvon beiden keine Spur mehr.«

»Da muß ich aber doch gleich hinaufschaun«, sagteKarl und sah sich um, wie er hinauskommen könnte.

»Bleiben Sie nur«, sagte der Mann und stieß ihnmit einer Hand gegen die Brust, geradezu rauh, insBett zurück.

»Warum denn?« fragte Karl ärgerlich.»Weil es keinen Sinn hat«, sagte der Mann, »in

einem kleinen Weilchen gehe ich auch, dann gehenwir zusammen. Entweder ist der Koffer gestohlen,dann ist keine Hilfe, oder der Mann hat ihn stehenge-lassen. Dann werden wir ihn, bis das Schiff ganz ent-leert ist, desto besser finden. Ebenso auch Ihren

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Regenschirm.«»Kennen Sie sich auf dem Schiff aus?« fragte Karl

mißtrauisch, und es schien ihm, als hätte der sonstüberzeugende Gedanke, daß auf dem leeren Schiffseine Sachen am besten zu finden sein würden, einenverborgenen Haken.

»Ich bin doch Schiffsheizer«, sagte der Mann.»Sie sind Schiffsheizer!« rief Karl freudig, als

überstiege das alle Erwartungen, und sah, den Ellbo-gen aufgestützt, den Mann näher an.

»Gerade vor der Kammer, wo ich mit dem Slowa-ken geschlafen habe, war eine Luke angebracht, durchdie man in den Maschinenraum sehen konnte.«

»Ja, dort habe ich gearbeitet«, sagte der Heizer.»Ich habe mich immer so für Technik interessiert«,

sagte Karl, der in einem bestimmten Gedankengangblieb, »und ich wäre sicher später Ingenieur gewor-den, wenn ich nicht nach Amerika hätte fahren müs-sen.«

»Warum haben Sie denn fahren müssen?«»Ach was!« sagte Karl und warf die ganze Ge-

schichte mit der Hand weg. Dabei sah er lächelnd denHeizer an, als bitte er ihn selbst für das Nichteinge-standene um seine Nachsicht.

»Es wird schon einen Grund haben«, sagte der Hei-zer, und man wußte nicht recht, ob er damit die Er-zählung dieses Grundes fordern oder abwehren

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wollte.»Jetzt könnte ich auch Heizer werden«, sagte Karl,

»meinen Eltern ist es jetzt ganz gleichgültig, was ichwerde.«

»Meine Stelle wird frei«, sagte der Heizer, gab imVollbewußtsein dessen die Hände in die Hosenta-schen und warf die Beine, die in faltigen, lederartigen,eisengrauen Hosen staken, aufs Bett hin, um sie zustrecken. Karl mußte mehr an die Wand rücken.

»Sie verlassen das Schiff?«»Jawohl, wir marschieren heute ab.«»Warum denn? Gefällt es Ihnen nicht?«»Ja, das sind die Verhältnisse, es entscheidet nicht

immer, ob es einem gefällt oder nicht. Übrigens habenSie recht, es gefällt mir auch nicht. Sie denken wahr-scheinlich nicht ernstlich daran, Heizer zu werden,aber gerade dann kann man es am leichtesten werden.Ich also rate Ihnen entschieden ab. Wenn Sie in Euro-pa studieren wollten, warum wollen Sie es denn hiernicht? Die amerikanischen Universitäten sind ja un-vergleichlich besser als die europäischen.«

»Es ist ja möglich«, sagte Karl, »aber ich habe fastkein Geld zum Studieren. Ich habe zwar von irgendjemandem gelesen, der bei Tag in einem Geschäft ge-arbeitet und in der Nacht studiert hat, bis er Doktorund ich glaube Bürgermeister wurde, aber dazu ge-hört doch eine große Ausdauer, nicht? Ich fürchte, die

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fehlt mir. Außerdem war ich kein besonders guterSchüler, der von der Schule ist mir wirklich nichtschwer geworden. Und die Schulen hier sind vielleichtnoch strenger. Englisch kann ich fast gar nicht. Über-haupt ist man hier gegen Fremde so eingenommen,glaube ich.«

»Haben Sie das auch schon erfahren? Na, dann ist'sgut. Dann sind Sie mein Mann. Sehen Sie, wir sinddoch auf einem deutschen Schiff, es gehört der Ham-burg-Amerika-Linie, warum sind wir nicht lauterDeutsche hier? Warum ist der Obermaschinist ein Ru-mäne? Er heißt Schubal. Das ist doch nicht zu glau-ben. Und dieser Lumpenhund schindet uns Deutscheauf einem deutschen Schiff! Glauben Sie nicht« ihmging die Luft aus, er fackelte mit der Hand, »daß ichklage, um zu klagen. Ich weiß, daß Sie keinen Einflußhaben und selbst ein armes Bürschchen sind. Aber esist zu arg!« Und er schlug auf den Tisch mehrmalsmit der Faust und ließ kein Auge von ihr, während erschlug.

»Ich habe doch schon auf so vielen Schiffen ge-dient« - und er nannte zwanzig Namen hintereinan-der, als sei es ein Wort, Karl wurde ganz wirr - »undhabe mich ausgezeichnet, bin belobt worden, war einArbeiter nach dem Geschmack meiner Kapitäne,sogar auf dem gleichen Handelssegler war ich einigeJahre« - er erhob sich, als sei das der Höchstpunkt

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seines Lebens - »und hier auf diesem Kasten, woalles nach der Schnur eingerichtet ist, wo kein Witzgefordert wird, hier taug ich nichts, hier stehe ich demSchubal immer im Wege, bin ein Faulpelz, verdienehinausgeworfen zu werden und bekomme meinenLohn aus Gnade. Verstehen Sie das? Ich nicht.«

»Das dürfen Sie sich nicht gefallen lassen«, sagteKarl aufgeregt. Er hatte fast das Gefühl davon verlo-ren, daß er auf dem unsicheren Boden eines Schiffes,an der Küste eines unbekannten Erdteils war, so hei-misch war ihm hier auf dem Bett des Heizers zumute.

»Waren Sie schon beim Kapitän? Haben Sie schonbei ihm Ihr Recht gesucht?«

»Ach gehen Sie, gehen Sie lieber weg. Ich will Sienicht hier haben. Sie hören nicht zu, was ich sage,und geben mir Ratschläge. Wie soll ich denn zum Ka-pitän gehen!« Und müde setzte sich der Heizer wiederund legte das Gesicht in beide Hände.

›Einen besseren Rat kann ich ihm nicht geben‹,sagte sich Karl. Und er fand überhaupt, daß er lieberseinen Koffer hätte holen sollen, statt hier Ratschlägezu geben, die doch nur für dumm gehalten wurden.Als ihm der Vater den Koffer für immer übergebenhatte, hatte er im Scherz gefragt: »Wie lange wirst duihn haben?« und jetzt war dieser treue Koffer viel-leicht schon im Ernst verloren. Der einzige Trost warnoch, daß der Vater von seiner jetzigen Lage kaum

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erfahren konnte, selbst wenn er nachforschen sollte.Nur daß er bis New York mitgekommen war, konntedie Schiffsgesellschaft gerade noch sagen. Leid tat esaber Karl, daß er die Sachen im Koffer noch kaumverwendet hatte, trotzdem er es beispielsweise längstnötig gehabt hätte, das Hemd zu wechseln. Da hatteer also am unrichtigen Ort gespart; jetzt, wo er es ge-rade am Beginn seiner Laufbahn nötig haben würde,rein gekleidet aufzutreten, würde er im schmutzigenHemd erscheinen müssen. Sonst wäre der Verlust desKoffers nicht gar so arg gewesen, denn der Anzug,den er anhatte, war sogar besser als jener im Koffer,der eigentlich nur ein Notanzug war, den die Mutternoch knapp vor der Abreise hatte flicken müssen.Jetzt erinnerte er sich auch, daß im Koffer noch einStück Veroneser Salami war, die ihm die Mutter alsExtragabe eingepackt hatte, von der er jedoch nur denkleinsten Teil hatte aufessen können, da er währendder Fahrt ganz ohne Appetit gewesen war und dieSuppe, die im Zwischendeck zur Verteilung kam, ihmreichlich genügt hatte. Jetzt hätte er aber die Wurstgern bei der Hand gehabt, um sie dem Heizer zu ver-ehren. Denn solche Leute sind leicht gewonnen, wennman ihnen irgendeine Kleinigkeit zusteckt, das wußteKarl von seinem Vater her, welcher durch Zigarren-verteilung alle die niedrigeren Angestellten gewann,mit denen er geschäftlich zu tun hatte. Jetzt besaß

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Karl an Verschenkbarem nur noch sein Geld, und daswollte er, wenn er schon vielleicht den Koffer verlo-ren haben sollte, vorläufig nicht anrühren. Wiederkehrten seine Gedanken zum Koffer zurück, und erkonnte jetzt wirklich nicht einsehen, warum er denKoffer während der Fahrt so aufmerksam bewachthatte, daß ihm die Wache fast den Schlaf gekostethatte, wenn er jetzt diesen gleichen Koffer so leichtsich hatte wegnehmen lassen. Er erinnerte sich an diefünf Nächte, während derer er einen kleinen Slowa-ken, der zwei Schlafstellen links von ihm gelegenwar, unausgesetzt im Verdacht gehabt hatte, daß er esauf seinen Koffer abgesehen habe. Dieser Slowakehatte nur darauf gelauert, daß Karl endlich, vonSchwäche befallen, für einen Augenblick einnickte,damit er den Koffer mit einer langen Stange, mit derer immer während des Tages spielte oder übte, zu sichhinüberziehen könne. Bei Tage sah dieser Slowakeunschuldig genug aus, aber kaum war die Nacht ge-kommen, erhob er sich von Zeit zu Zeit von seinemLager und sah traurig zu Karls Koffer hinüber. Karlkonnte dies ganz deutlich erkennen, denn immer hattehie und da jemand mit der Unruhe des Auswanderersein Lichtchen angezündet, trotzdem dies nach derSchiffsordnung verboten war, und versuchte, unver-ständliche Prospekte der Auswanderungsagenturen zuentziffern. War ein solches Licht in der Nähe, dann

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konnte Karl ein wenig eindämmern, war es aber in derFerne oder war dunkel, dann mußte er die Augen of-fenhalten. Diese Anstrengung hatte ihn recht er-schöpft, und nun war sie vielleicht ganz nutzlos gewe-sen. Dieser Butterbaum, wenn er ihn einmal irgendwotreffen sollte! In diesem Augenblick ertönten draußenin weiter Ferne in die bisherige vollkommene Ruhehinein kleine kurze Schläge, wie von Kinderfüßen, siekamen näher mit verstärktem Klang, und nun war esein ruhiger Marsch von Männern. Sie gingen offen-bar, wie es in dem schmalen Gang natürlich war, ineiner Reihe, man hörte Klirren wie von Waffen. Karl,der schon nahe daran gewesen war, sich im Bett zueinem von allen Sorgen um Koffer und Slowaken be-freiten Schlafe auszustrecken, schreckte auf und stießden Heizer an, um ihn endlich aufmerksam zu ma-chen, denn der Zug schien mit seiner Spitze die Türgerade erreicht zu haben.

»Das ist die Schiffskapelle«, sagte der Heizer, »diehaben oben gespielt und gehen jetzt einpacken. Jetztist alles fertig und wir können gehen. Kommen Sie!«Er faßte Karl bei der Hand, nahm noch im letzten Au-genblick ein eingerahmtes Muttergottesbild von derWand über dem Bett, stopfte es in seine Brusttasche,ergriff seinen Koffer und verließ mit Karl eilig dieKabine.

»Jetzt gehe ich ins Büro und werde den Herren

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meine Meinung sagen. Es ist kein Passagier mehr da,man muß keine Rücksicht nehmen.« Dieses wieder-holte der Heizer verschiedenartig und wollte imGehen mit Seitwärtsstoßen des Fußes eine den Wegkreuzende Ratte niedertreten, stieß sie aber bloßschneller in das Loch hinein, daß sie noch rechtzeitigerreicht hatte. Er war überhaupt langsam in seinenBewegungen, denn wenn er auch lange Beine hatte, sowaren sie doch zu schwer.

Sie kamen durch eine Abteilung der Küche, wo ei-nige Mädchen in schmutzigen Schürzen sie begossensie absichtlich Geschirr in großen Bottichen reinigten.Der Heizer rief eine gewisse Line zu sich, legte denArm um ihre Hüfte und führte sie, die sich immerzukokett gegen seinen Arm drückte, ein Stückchen mit.

»Es gibt jetzt Auszahlung, willst du mitkommen?«fragte er.

»Warum soll ich mich bemühn, bring mir das Geldlieber her«, antwortete sie, schlüpfte unter seinemArm durch und lief davon.

»Wo hast du denn den schönen Knaben aufgega-belt?« rief sie noch, wollte aber keine Antwort mehr.Man hörte das Lachen aller Mädchen, die ihre Arbeitunterbrochen hatten.

Sie aber gingen weiter und kamen an eine Tür, dieoben einen kleinen Vorgiebel hatte, der von kleinen,vergoldeten Karyatiden getragen war. Für eine

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Schiffseinrichtung sah das recht verschwenderischaus. Karl war, wie er merkte, niemals in diese Gegendgekommen, die wahrscheinlich während der Fahrt denPassagieren der ersten und zweiten Klasse vorbehal-ten gewesen war, während man jetzt vor der großenSchiffsreinigung die Trennungstüren ausgehobenhatte. Sie waren auch tatsächlich schon einigen Män-nern begegnet, die Besen an der Schulter trugen undden Heizer gegrüßt hatten. Karl staunte über den gro-ßen Betrieb, in seinem Zwischendeck hatte er davonfreilich wenig erfahren. Längs der Gänge zogen sichauch Drähte elektrischer Leitungen, und eine kleineGlocke hörte man immerfort.

Der Heizer klopfte respektvoll an der Türe an undforderte, als man »Herein!« rief, Karl mit einer Hand-bewegung auf, ohne Furcht einzutreten. Dieser tratauch ein, aber blieb an der Tür stehen. Vor den dreiFenstern des Zimmers sah er die Wellen des Meeres,und bei Betrachtung ihrer fröhlichen Bewegungschlug ihm das Herz, als hätte er nicht fünf langeTage das Meer ununterbrochen gesehen. Große Schif-fe kreuzten gegenseitig ihre Wege und gaben demWellenschlag nur so weit nach, als es ihre Schwereerlaubte. Wenn man die Augen klein machte, schienendiese Schiffe vor lauter Schwere zu schwanken. Aufihren Masten trugen sie schmale, aber lange Flaggen,die zwar durch die Fahrt gestrafft wurden, trotzdem

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aber noch hin und her zappelten. Wahrscheinlich vonKriegsschiffen her erklangen Salutschüsse, die Kano-nenrohre eines solchen nicht allzuweit vorüberfahren-den Schiffes, strahlend mit dem Reflex ihres Stahl-mantels, waren wie gehätschelt von der sicheren, glat-ten und doch nicht waagerechten Fahrt. Die kleinenSchiffchen und Boote konnte man, wenigstens von derTür aus, nur in der Ferne beobachten, wie sie in Men-gen in die Öffnungen zwischen den großen Schiffeneinliefen. Hinter alledem aber stand New York undsah Karl mit hunderttausend Fenstern seiner Wolken-kratzer an. Ja, in diesem Zimmer wußte man, wo manwar. An einem runden Tisch saßen drei Herren, dereine ein Schiffsoffizier in blauer Schiffsuniform, diezwei anderen, Beamte der Hafenbehörde, in schwar-zen amerikanischen Uniformen. Auf dem Tisch lagen,hochaufgeschichtet, verschiedene Dokumente welcheder Offizier zuerst mit der Feder in der Hand über-flog, um sie dann den beiden anderen zu reichen, diebald lasen, bald exzerpierten, bald in ihre Aktenta-schen einlegten, wenn nicht gerade der eine, der fastununterbrochen ein kleines Geräusch mit den Zähnenvollführte, seinem Kollegen etwas in ein Protokolldiktierte.

Am Fenster saß an einem Schreibtisch, den Rückender Türe zugewendet, ein kleinerer Herr, der mit gro-ßen Folianten hantierte, die auf einem starken

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Bücherbrett in Kopfhöhe vor ihm aneinandergereihtwaren. Neben ihm stand eine offene, wenigstens aufden ersten Blick leere Kassa.

Das zweite Fenster war leer und gab den bestenAusblick. In der Nähe des dritten aber standen zweiHerren in halblautem Gespräch. Der eine lehnte nebendem Fenster, trug auch die Schiffsuniform und spieltemit dem Griff des Degens. Derjenige, mit dem ersprach, war dem Fenster zugewendet und enthüllte hieund da durch eine Bewegung einen Teil der Ordens-reihe auf der Brust des andern. Er war in Zivil undhatte ein dünnes Bambusstöckchen, das, da er beideHände an den Hüften festhielt, auch wie ein Degenabstand.

Karl hatte nicht viel Zeit, alles anzusehen, dennbald trat ein Diener auf sie zu und fragte den Heizermit einem Blick, als gehöre er nicht hierher, was erdenn wolle. Der Heizer antwortete, so leise als er ge-fragt wurde, er wolle mit dem Herrn Oberkassierreden. Der Diener lehnte für seinen Teil mit einerHandbewegung diese Bitte ab, ging aber dennoch aufden Fußspitzen, dem runden Tisch in großem Bogenausweichend, zu dem Herrn mit den Folianten. DieserHerr, das sah man deutlich, erstarrte geradezu unterden Worten des Dieners, kehrte sich aber endlich nachdem Manne um, der ihn zu sprechen wünschte, undfuchtelte dann, streng abwehrend, gegen den Heizer

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und der Sicherheit halber auch gegen den Diener hin.Der Diener kehrte darauf zum Heizer zurück undsagte in einem Tone, als vertraue er ihm etwas an:»Scheren Sie sich sofort aus dem Zimmer!«

Der Heizer sah nach dieser Antwort zu Karl hinun-ter, als sei dieser sein Herz, dem er stumm seinenJammer klage. Ohne weitere Besinnung machte sichKarl los, lief quer durchs Zimmer, daß er sogar leichtan den Sessel des Offiziers streifte, der Diener lief ge-beugt mit zum Umfangen bereiten Armen, als jage erein Ungeziefer, aber Karl war der erste beim Tischdes Oberkassiers, wo er sich festhielt, für den Fall,daß der Diener versuchen sollte, ihn fortzuziehen.

Natürlich wurde gleich das Zimmer lebendig. DerSchiffsoffizier am Tisch war aufgesprungen, die Her-ren von der Hafenbehörde sahen ruhig, aber aufmerk-sam zu, die beiden Herren am Fenster waren neben-einander getreten, der Diener, welcher glaubte, er seidort, wo schon die hohen Herren Interesse zeigten,nicht mehr am Platze, trat zurück. Der Heizer an derTüre wartete angespannt auf den Augenblick, bisseine Hilfe nötig würde. Der Oberkassier endlichmachte in seinem Lehnsessel eine große Rechtswen-dung.

Karl kramte aus seiner Geheimtasche, die er denBlicken dieser Leute zu zeigen keine Bedenken hatte,seinen Reisepaß hervor, den er statt weiterer

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Vorstellung geöffnet auf den Tisch legte. Der Ober-kassier schien diesen Paß für nebensächlich zu halten,denn er schnippte ihn mit zwei Fingern beiseite, wor-auf Karl, als sei diese Formalität zur Zufriedenheit er-ledigt, den Paß wieder einsteckte.

»Ich erlaube mir zu sagen«, begann er dann, »daßmeiner Meinung nach dem Herrn Heizer Unrecht ge-schehen ist. Es ist hier ein gewisser Schubal, der ihmaufsitzt. Er selbst hat schon auf vielen Schiffen, die erIhnen alle nennen kann, zur vollständigen Zufrieden-heit gedient, ist fleißig, meint es mit seiner Arbeit gut,und es ist wirklich nicht einzusehen, warum er geradeauf diesem Schiff, wo doch der Dienst nicht so über-mäßig schwer ist, wie zum Beispiel auf Handelsseg-lern, schlecht entsprechen sollte. Es kann daher nurVerleumdung sein, die ihn in seinem Vorwärtskom-men hindert und ihn um die Anerkennung bringt, dieihm sonst ganz bestimmt nicht fehlen würde. Ich habenur das Allgemeine über diese Sache gesagt, seine be-sonderen Beschwerden wird er Ihnen selbst vorbrin-gen.« Karl hatte sich mit dieser Rede an alle Herrengewendet, weil ja tatsächlich auch alle zuhörten undes viel wahrscheinlicher schien, daß sich unter allenzusammen ein Gerechter vorfand, als daß dieser Ge-rechte gerade der Oberkassier sein sollte. Aus Schlau-heit hatte außerdem Karl verschwiegen, daß er denHeizer erst so kurze Zeit kannte. Im übrigen hätte er

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noch viel besser gesprochen, wenn er nicht durch dasrote Gesicht des Herrn mit dem Bambusstöckchen be-irrt worden wäre, das er von seinem jetzigen Standortzum erstenmal sah.

»Es ist alles Wort für Wort richtig«, sagte der Hei-zer, ehe ihn noch jemand gefragt, ja ehe man nochüberhaupt auf ihn hingesehen hatte. Diese Über-eiltheit des Heizers wäre ein großer Fehler gewesen,wenn nicht der Herr mit den Orden, der, wie es jetztKarl aufleuchtete, jedenfalls der Kapitän war, offen-bar mit sich bereits übereingekommen wäre, den Hei-zer anzuhören. Er streckte nämlich die Hand aus undrief dem Heizer zu: »Kommen Sie her!« mit einerStimme, fest, um mit einem Hammer darauf zu schla-gen. Jetzt hing alles vom Benehmen des Heizers ab,denn was die Gerechtigkeit seiner Sache anlangte, ander zweifelte Karl nicht.

Glücklicherweise zeigte sich bei dieser Gelegen-heit, daß der Heizer schon viel in der Welt herumge-kommen war. Musterhaft ruhig nahm er aus seinemKöfferchen mit dem ersten Griff ein Bündelchen Pa-piere sowie ein Notizbuch, ging damit, als verstündesich das von selbst, unter vollständiger Vernachlässi-gung des Oberkassiers, zum Kapitän und breitete aufdem Fensterbrett seine Beweismittel aus. Dem Ober-kassier blieb nichts übrig, als sich selbst hinzube-mühn.

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»Der Mann ist ein bekannter Querulant«, sagte erzur Erklärung, »er ist mehr in der Kassa als im Ma-schinenraum. Er hat Schubal, diesen ruhigen Men-schen, ganz zur Verzweiflung gebracht. Hören Sieeinmal!« wandte er sich an den Heizer, »Sie treibenIhre Zudringlichkeit doch schon wirklich zu weit. Wieoft hat man Sie schon aus den Auszahlungsräumenhinausgeworfen, wie Sie es mit Ihren ganz vollständigund ausnahmslos unberechtigten Forderungen verdie-nen! Wie oft sind Sie von dort in die Hauptkassa ge-laufen gekommen! Wie oft hat man Ihnen im gutengesagt, daß Schubal Ihr unmittelbarer Vorgesetzterist, mit dem allein Sie sich als ein Untergebener abzu-finden haben! Und jetzt kommen Sie gar noch her,wenn der Herr Kapitän da ist, schämen sich nicht,sogar ihn zu belästigen, sondern entblöden sich nichteinmal, als eingelernten Stimmführer Ihrer abge-schmackten Beschuldigungen diesen Kleinen mitzu-bringen, den ich überhaupt zum erstenmal auf demSchiffe sehe!«

Karl hielt sich mit Gewalt zurück, vorzuspringen.Aber schon war auch der Kapitän da, welcher sagte:»Hören wir den Mann doch einmal an. Der Schubalwird mir sowieso mit der Zeit viel zu selbständig,womit ich aber nichts zu Ihren Gunsten gesagt habenwill.« Das letztere galt dem Heizer, es war nur natür-lich, daß er sich nicht sofort für ihn einsetzen konnte,

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aber alles schien auf dem richtigen Wege. Der Heizerbegann seine Erklärungen und überwand sich gleicham Anfang, indem er Schubal mit »Herr« titulierte.Wie freute sich Karl am verlassenen Schreibtisch desOberkassiers, wo er eine Briefwaage immer wiederniederdrückte vor lauter Vergnügen. - Herr Schubalist ungerecht! Herr Schubal bevorzugt die Ausländer!Herr Schubal verwies den Heizer aus dem Maschinen-raum und ließ ihn Klosette reinigen, was doch gewißnicht des Heizers Sache war! - Einmal wurde sogardie Tüchtigkeit des Herrn Schubal angezweifelt, dieeher scheinbar als wirklich vorhanden sein sollte. Beidieser Stelle starrte Karl mit aller Kraft den Kapitänan, zutunlich, als sei er sein Kollege, nur damit er sichdurch die etwas ungeschickte Ausdrucksweise desHeizers nicht zu dessen Ungunsten beeinflussen lasse.Immerhin erfuhr man aus den vielen Reden nichts Ei-gentliches, und wenn auch der Kapitän noch immervor sich hinsah, in den Augen die Entschlossenheit,den Heizer diesmal bis zu Ende anzuhören, so wurdendoch die anderen Herren ungeduldig, und die Stimmedes Heizers regierte bald nicht mehr unumschränkt indem Raume, was manches befürchten ließ. Als erstersetzte der Herr in Zivil sein Bambusstöckchen in Tä-tigkeit und klopfte, wenn auch nur leise, auf das Par-kett. Die anderen Herren sahen natürlich hie und dahin, die Herren von der Hafenbehörde, die offenbar

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pressiert waren, griffen wieder zu den Akten und be-gannen, wenn auch noch etwas geistesabwesend, siedurchzusehen, der Schiffsoffizier rückte seinen Tischwieder näher, und der Oberkassier, der gewonnenesSpiel zu haben glaubte, seufzte aus Ironie tief auf.Von der allgemein eintretenden Zerstreuung schiennur der Diener bewahrt, der von den Leiden des unterdie Großen gestellten armen Mannes einen Teil mit-fühlte und Karl ernst zunickte, als wolle er damitetwas erklären.

Inzwischen ging vor den Fenstern das Hafenlebenweiter, ein flaches Lastschiff mit einem Berg von Fäs-sern, die wunderbar verstaut sein mußten, daß sienicht ins Rollen kamen, zog vorüber und erzeugte indem Zimmer fast Dunkelheit; kleine Motorboote, dieKarl jetzt, wenn er Zeit gehabt hätte, genau hätte an-sehen können, rauschten nach den Zuckungen derHände eines am Steuer aufrecht stehenden Mannesschnurgerade dahin! Eigentümliche Schwimmkörpertauchten hie und da selbständig aus dem ruhelosenWasser wurden gleich wieder überschwemmt und ver-sanken vor dem erstaunten Blick; Boote der Ozean-dampfer wurden von heiß arbeitenden Matrosen vor-wärtsgerudert und waren voll von Passagieren, diedarin, so wie man sie hineingezwängt hatte, still underwartungsvoll saßen, wenn es auch manche nicht un-terlassen konnten, die Köpfe nach den wechselnden

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Szenerien zu drehen. Eine Bewegung ohne Ende, eineUnruhe, übertragen von dem unruhigen Element aufdie hilflosen Menschen und ihre Werke!

Aber alles mahnte zur Eile, zur Deutlichkeit, zuganz genauer Darstellung; aber was tat der Heizer? Erredete sich allerdings in Schweiß, die Papiere auf demFenster konnte er längst mit seinen zitternden Händennicht mehr halten; aus allen Himmelsrichtungenströmten ihm Klagen über Schubal zu, von denen sei-ner Meinung nach jede einzelne genügt diesen Schu-bal vollständig zu begraben, aber was er dem Kapitänvorzeigen konnte, war nur ein trauriges Durcheinan-derstrudeln aller insgesamt. Längst schon pfiff derHerr mit dem Bambusstöckchen schwach zur Deckehinauf, die Herren von der Hafenbehörde hieltenschon den Offizier an ihrem Tisch und machten keineMiene, ihn je wieder loszulassen, der Oberkassierwurde sichtlich nur durch die Ruhe des Kapitäns vordem Dreinfahren zurückgehalten, der Diener erwartetein Habachtstellung jeden Augenblick einen auf denHeizer bezüglichen Befehl seines Kapitäns.

Da konnte Karl nicht mehr untätig bleiben. Er gingalso langsam zu der Gruppe hin und überlegte imGehen nur desto schneller, wie er die Sache möglichstgeschickt angreifen könnte. Es war wirklich höchsteZeit, noch ein kleines Weilchen nur, und sie konntenganz gut beide aus dem Büro fliegen. Der Kapitän

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mochte ja ein guter Mann sein und überdies geradejetzt, wie es Karl schien, irgendeinen besonderenGrund haben, sich als gerechter Vorgesetzter zu zei-gen, aber schließlich war er kein Instrument, das manin Grund und Boden spielen konnte und gerade so be-handelte ihn der Heizer, allerdings aus seinem gren-zenlos empörten Innern heraus.

Karl sagte also zum Heizer: »Sie müssen das einfa-cher erzählen, klarer, der Herr Kapitän kann es nichtwürdigen, so wie Sie es ihm erzählen. Kennt er dennalle Maschinisten Laufburschen beim Namen oder garbeim Taufnamen, daß er, wenn Sie nur einen solchenNamen aussprechen, gleich wissen kann, um wen essich handelt? Ordnen Sie doch Ihre Beschwerden,sagen Sie die wichtigste zuerst und absteigend die an-deren, vielleicht wird es dann überhaupt nicht mehrnötig sein, die meisten auch nur zu erwähnen. Mirhaben Sie es doch immer so klar dargestellt!« ›Wennman in Amerika Koffer stehlen kann, kann man auchhie und da lügen‹, dachte er zur Entschuldigung.

Wenn es aber nur geholfen hätte! Ob es nicht auchschon zu spät war? Der Heizer unterbrach sich zwarsofort, als er die bekannte Stimme hörte, aber mit sei-nen Augen, die ganz von Tränen der beleidigten Man-nesehre, der schrecklichen Erinnerungen, der äußer-sten gegenwärtigen Not verdeckt waren, konnte erKarl schon nicht einmal mehr gut erkennen. Wie

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sollte er auch jetzt Karl sah das schweigend vor demjetzt Schweigenden wohl ein, wie sollte er auch jetztplötzlich seine Redeweise ändern, da es ihm dochschien, als hätte er alles was zu sagen war, ohne diegeringste Anerkennung schon vorgebracht und alshabe er andererseits noch gar nichts gesagt und könnedoch den Herren jetzt nicht zumuten, noch alles anzu-hören. Und in einem solchen Zeitpunkt kommt nochKarl, sein einziger Anhänger, daher, will ihm guteLehren geben, zeigt ihm aber statt dessen, daß alles,alles verloren ist.

›Wäre ich früher gekommen, statt aus dem Fensterzu schauen‹, sagte sich Karl, senkte vor dem Heizerdas Gesicht und schlug die Hände an die Hosennaht,zum Zeichen des Endes jeder Hoffnung.

Aber der Heizer mißverstand das, witterte wohl inKarl irgendwelche geheimen Vorwürfe gegen sich,und in der guten Absicht, sie ihm auszureden, fing erzur Krönung seiner Taten mit Karl jetzt zu streiten an.Jetzt, wo doch die Herren am runden Tisch längst em-pört über den nutzlosen Lärm waren, der ihre wichti-gen Arbeiten störte, wo der Hauptkassier allmählichdie Geduld des Kapitäns unverständlich fand und zumsofortigen Ausbruch neigte, wo der Diener, ganz wie-der in der Sphäre seiner Herren, den Heizer mit wil-dem Blicke maß, und wo endlich der Herr mit demBambusstöckchen, zu welchem sogar der Kapitän hie

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und da freundlich hinübersah, schon gänzlich abge-stumpft gegen den Heizer, ja von ihm angewidert, einkleines Notizbuch hervorzog und, offenbar mit ganzanderen Angelegenheiten beschäftigt, die Augen zwi-schen dem Notizbuch und Karl hin und her wandernließ.

»Ich weiß ja«, sagte Karl, der Mühe hatte, den jetztgegen ihn gekehrten Schwall des Heizers abzuwehren,trotzdem aber quer durch allen Streit noch ein Freun-deslächeln für ihn übrig hatte, »Sie haben recht, recht,ich habe ja nie daran gezweifelt.« Er hätte ihm gernaus Furcht vor Schlägen die herumfahrenden Händegehalten, noch lieber allerdings ihn in einen Winkelgedrängt, um ihm ein paar leise, beruhigende Wortezuzuflüstern, die niemand sonst hätte hören müssen.Aber der Heizer war außer Rand und Band. Karl be-gann jetzt schon sogar aus dem Gedanken eine ArtTrost zu schöpfen, daß der Heizer im Notfall mit derKraft seiner Verzweiflung alle anwesenden siebenMänner bezwingen könne. Allerdings lag auf demSchreibtisch, wie ein Blick dorthin lehrte, ein Aufsatzmit viel zu vielen Druckknöpfen der elektrischen Lei-tung; und eine Hand, einfach auf sie niedergedrückt,konnte das ganze Schiff mit allen seinen von feindli-chen Menschen gefüllten Gängen rebellisch machen.

Da trat der doch so uninteressierte Herr mit demBambusstöckchen auf Karl zu und fragte, nicht

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überlaut, aber deutlich über allem Geschrei des Hei-zers: »Wie heißen Sie denn eigentlich?« In diesemAugenblick, als hätte jemand hinter der Tür auf dieseÄußerung des Herrn gewartet, klopfte es. Der Dienersah zum Kapitän hinüber, dieser nickte. Daher gingder Diener zur Tür und öffnete sie. Draußen stand ineinem alten Kaiserrock ein Mann von mittleren Pro-portionen, seinem Ansehen nach nicht eigentlich zurArbeit an den Maschinen geeignet, und war dochSchubal. Wenn es Karl nicht an aller Augen erkannthätte, die eine gewisse Befriedigung ausdrückten, vonder nicht einmal der Kapitän frei war, er hätte es zuseinem Schrecken am Heizer sehen müssen, der dieFäuste an den gestrafften Armen so ballte, als seidiese Ballung das Wichtigste an ihm, dem er alles,was er an Leben habe, zu opfern bereit sei. Da stecktejetzt alle seine Kraft, auch die, welche ihn überhauptaufrecht erhielt.

Und da war also der Feind, frei und frisch imFestanzug, unter dem Arm ein Geschäftsbuch, wahr-scheinlich die Lohnlisten und Arbeitsausweise desHeizers, und sah mit dem ungescheuten Zugeständnis,daß er die Stimmung jedes einzelnen vor allem fest-stellen wolle, in aller Augen der Reihe nach. Die sie-ben waren auch schon alle seine Freunde, denn wennauch der Kapitän früher gewisse Einwände gegen ihngehabt oder vielleicht nur vorgeschützt hatte, nach

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dem Leid, das ihm der Heizer angetan hatte, schienihm wahrscheinlich an Schubal auch das Geringstenicht mehr auszusetzen. Gegen einen Mann wie denHeizer konnte man nicht streng genug verfahren, undwenn dem Schubal etwas vorzuwerfen war, so war esder Umstand, daß er die Widerspenstigkeit des Hei-zers im Laufe der Zeit nicht so weit hatte brechenkönnen, daß es dieser heute noch gewagt hatte, vordem Kapitän zu erscheinen.

Nun konnte man ja vielleicht noch annehmen, dieGegenüberstellung des Heizers und Schubals werdedie ihr vor einem höheren Forum zukommende Wir-kung auch vor den Menschen nicht verfehlen, dennwenn sich auch Schubal gut verstellen konnte, ermußte es doch durchaus nicht bis zum Ende aushaltenkönnen. Ein kurzes Aufblitzen seiner Schlechtigkeitsollte genügen, um sie den Herren sichtbar zu ma-chen, dafür wollte Karl schon sorgen. Er kannte dochschon beiläufig den Scharfsinn, die Schwächen, dieLaunen der einzelnen Herren, und unter diesem Ge-sichtspunkt war die bisher hier verbrachte Zeit nichtverloren. Wenn nur der Heizer besser auf dem Platzgewesen wäre, aber der schien vollständig kampfunfä-hig. Wenn man ihm den Schubal hingehalten hätte,hätte er wohl dessen gehaßten Schädel mit den Fäu-sten aufklopfen können. Aber schon die paar Schrittezu ihm hinzugehen, war er wohl kaum imstande.

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Warum hatte denn Karl das so leicht Vorauszusehen-de nicht vorausgesehen, daß Schubal endlich kommenmüsse, wenn nicht aus eigenem Antrieb, so vom Ka-pitän gerufen. Warum hatte er auf dem Herweg mitdem Heizer nicht einen genauen Kriegsplan bespro-chen, statt, wie sie es in Wirklichkeit getan hatten,heillos unvorbereitet einfach dort einzutreten, wo eineTür war? Konnte der Heizer überhaupt noch reden, jaund nein sagen, wie es bei dem Kreuzverhör, das al-lerdings nur im günstigsten Fall bevorstand, nötigsein würde? Er stand da, die Beine auseinanderge-stellt, die Knie unsicher, den Kopf etwas gehoben,und die Luft verkehrte durch den offenen Mund, alsgäbe es innen keine Lungen mehr die sie verarbeite-ten. Karl allerdings fühlte sich so kräftig und bei Ver-stand, wie er es vielleicht zu Hause niemals gewesenwar. Wenn ihn doch seine Eltern sehen könnten, wieer in fremdem Land vor angesehenen Persönlichkeitendas Gute verfocht und, wenn er es auch noch nichtzum Siege gebracht hatte, so doch zur letzten Erobe-rung sich vollkommen bereitstellte! Würden sie ihreMeinung über ihn revidieren? Ihn zwischen sich nie-dersetzen und loben? Ihm einmal, einmal in die ihnenso ergebenen Augen sehn? Unsichere Fragen und un-geeignetster Augenblick, sie zu stellen!

»Ich komme, weil ich glaube, daß mich der Heizerirgendwelcher Unredlichkeiten beschuldigt. Ein

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Mädchen aus der Küche sagte mir, sie hätte ihn aufdem Wege hierher gesehen. Herr Kapitän und Sie allemeine Herren, ich bin bereit, jede Beschuldigung ander Hand meiner Schriften, nötigenfalls durch Aussa-gen unvoreingenommener und unbeeinflußter Zeugen,die vor der Türe stehen, zu widerlegen.« So sprachSchubal. Das war allerdings die klare Rede einesMannes, und nach der Veränderung in den Mienender Zuhörer hätte man glauben können, sie hörtenzum erstenmal nach langer Zeit wieder menschlicheLaute. Sie bemerkten freilich nicht, daß selbst dieseschöne Rede Löcher hatte. Warum war das erste sach-liche Wort, das ihm einfiel, »Unredlichkeiten«? Hättevielleicht die Beschuldigung hier einsetzen müssen,statt bei seinen nationalen Voreingenommenheiten?Ein Mädchen aus der Küche hatte den Heizer auf demWeg ins Büro gesehen, und Schubal hatte sofort be-griffen? War es nicht das Schuldbewußtsein, das ihmden Verstand schärfte? Und Zeugen hatte er gleichmitgebracht und nannte sie noch außerdem unvorein-genommen und unbeeinflußt? Gaunerei, nichts alsGaunerei! Und die Herren duldeten das und anerkann-ten es noch als richtiges Benehmen? Warum hatte erzweifellos sehr viel Zeit zwischen der Meldung desKüchenmädchens und seiner Ankunft hier verstrei-chen lassen? Doch zu keinem anderen Zwecke, alsdamit der Heizer die Herren so ermüde, daß sie

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allmählich ihre klare Urteilskraft verlören, welcheSchubal vor allem zu fürchten hatte. Hatte er, der si-cher schon lange hinter der Tür gestanden, nicht erstim Augenblick geklopft, als er infolge der nebensäch-lichen Frage jenes Herrn hoffen durfte, der Heizer seierledigt?

Alles war klar und wurde ja auch von Schubalwider Willen so dargeboten, aber den Herrn mußteman es anders, noch handgreiflicher zeigen. Siebrauchten Aufrüttelung. Also, Karl, rasch, nütze we-nigstens die Zeit aus, ehe die Zeugen auftreten undalles überschwemmen!

Eben aber winkte der Kapitän dem Schubal ab, derdarauf hin sofort denn seine Angelegenheit schien fürein Weilchen aufgeschoben zu sein - beiseite trat undmit dem Diener, der sich ihm gleich angeschlossenhatte, eine leise Unterhaltung begann, bei der es anSeitenblicken nach dem Heizer und Karl sowie an denüberzeugtesten Handbewegungen nicht fehlte. Schu-bal schien so seine nächste Rede einzuüben.

»Wollten Sie nicht den jungen Menschen etwas fra-gen, Herr Jakob?« sagte der Kapitän unter allgemei-ner Stille zu dem Herrn mit dem Bambusstöckchen.

»Allerdings«, sagte dieser, mit einer kleinen Nei-gung für die Aufmerksamkeit dankend. Und fragtedann Karl nochmals: »Wie heißen Sie eigentlich?«

Karl, welcher glaubte, es sei im Interesse der

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grollen Hauptsache gelegen, wenn dieser Zwischenfalldes hartnäckigen Fragers bald erledigt würde, antwor-tete kurz, ohne, wie es seine Gewohnheit war, durchVorweisung des Passes sich vorzustellen, den er ersthätte suchen müssen: »Karl Roßmann.«

»Aber«, sagte der mit Jakob Angesprochene undtrat zuerst fast ungläubig lächelnd zurück. Auch derKapitän, der Oberkassier, der Schiffsoffizier, ja sogarder Diener zeigten deutlich ein übermäßiges Erstau-nen wegen Karls Namen. Nur die Herren von der Ha-fenbehörde und Schubal verhielten sich gleichgültig.

»Aber«, wiederholte Herr Jakob und trat mit etwassteifen Schritten auf Karl zu, »dann bin ich ja deinOnkel Jakob, und du bist mein lieber Neffe. Ahnte iches doch die ganze Zeit über!« sagte er zum Kapitänhin, ehe er Karl umarmte und küßte, der alles stummgeschehen ließ.

»Wie heißen Sie?« fragte Karl, nachdem er sichlosgelassen fühlte, zwar sehr höflich, aber gänzlichungerührt, und strengte sich an, die Folgen abzuse-hen, welche dieses neue Ereignis für den Heizer habendürfte. Vorläufig deutete nichts darauf hin, daß Schu-bal aus dieser Sache Nutzen ziehen könnte.

»Begreifen Sie doch, junger Mann, Ihr Glück«,sagte der Kapitän, der durch Karls Frage die Würdeder Person des Herrn Jakob verletzt glaubte, der sichzum Fenster gestellt hatte, offenbar, um sein

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aufgeregtes Gesicht, das er überdies mit einem Ta-schentuch betupfte, den andern nicht zeigen zu müs-sen. »Es ist der Senator Edward Jakob, der sich Ihnenals Ihr Onkel zu erkennen gegeben hat. Es erwartetSie nunmehr, doch wohl ganz gegen Ihre bisherigenErwartungen, eine glänzende Laufbahn. VersuchenSie das einzusehen, so gut es im ersten Augenblickgeht, und fassen Sie sich!«

»Ich habe allerdings einen Onkel Jakob in Ameri-ka«, sagte Karl zum Kapitän gewendet, » aber wennich recht verstanden habe, ist Jakob bloß der Zunamedes Herrn Senators.«

»So ist es«, sagte der Kapitän erwartungsvoll.»Nun, mein Onkel Jakob, welcher der Bruder mei-

ner Mutter ist, heißt aber mit dem Taufnamen Jakob,während sein Zuname natürlich gleich jenem meinerMutter lauten müßte, welche eine geborene Bendel-mayer ist.«

»Meine Herren!« rief der Senator, der von seinemErholungsposten vom Fenster munter zurückkehrte,mit Bezug auf Karls Erklärung aus. Alle mit Ausnah-me der Hafenbeamten brachen in Lachen aus, manchewie in Rührung, manche undurchdringlich.

›So lächerlich war das, was ich gesagt habe, dochkeineswegs‹, dachte Karl.

»Meine Herren«, wiederholte der Senator, »Sienehmen gegen meinen und gegen Ihren Willen an

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einer kleinen Familienszene teil, und ich kann deshalbnicht umhin, Ihnen eine Erläuterung zu geben, da, wieich glaube, nur der Herr Kapitän« - diese Erwähnunghatte eine gegenseitige Verbeugung zur Folge -»vollständig unterrichtet ist.« ›Jetzt muß ich aberwirklich auf jedes Wort achtgeben‹, sagte sich Karlund freute sich, als er bei einem Seitwärtsschauen be-merkte, daß in die Figur des Heizers das Leben zu-rückzukehren begann.

»Ich lebe seit allen den langen Jahren meines ame-rikanischen Aufenthaltes das Wort Aufenthalt paßthier allerdings schlecht für den amerikanischen Bür-ger, der ich mit ganzer Seele bin, seit allen den langenJahren lebe ich also von meinen europäischen Ver-wandten vollständig getrennt, aus Gründen, die er-stens nicht hierhergehören und die zweitens zu erzäh-len mich wirklich zu sehr hernehmen würde. Ichfürchte mich sogar vor dem Augenblick, wo ich viel-leicht gezwungen sein werde, sie meinem lieben Nef-fen zu erzählen, wobei sich leider ein offenes Wortüber seine Eltern und ihren Anhang nicht vermeidenlassen wird.«

›Es ist mein Onkel, kein Zweifel‹, sagte sich Karlund lauschte. ›Wahrscheinlich hat er seinen Namenändern lassen.‹

»Mein lieber Neffe ist nun von seinen Eltern -sagen wir nur das Wort, das die Sache auch wirklich

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bezeichnet einfach beiseitegeschafft worden, wie maneine Katze vor die Tür wirft, wenn sie ärgert. Ich willdurchaus nicht beschönigen, was mein Neffe gemachthat, daß er so gestraft wurde, aber sein Verschuldenist ein solches, daß sein einfaches Nennen schongenug Entschuldigung enthält.«

›Das läßt sich hören‹, dachte Karl, ›aber ich willnicht, daß er alles erzählt. Übrigens kann er es ja auchnicht wissen. Woher denn?‹

»Er wurde nämlich«, fuhr der Onkel fort und stütz-te sich mit kleinen Neigungen auf das vor ihm einge-stemmte Bambusstöckchen, wodurch es ihm tatsäch-lich gelang, der Sache die unnötige Feierlichkeit zunehmen, die sie sonst unbedingt gehabt hätte, »erwurde nämlich von einem Dienstmädchen, JohannaBrummer, einer etwa fünfunddreißigjährigen Person,verführt. Ich will mit dem Worte ›verführt‹ meinenNeffen durchaus nicht kränken, aber es ist dochschwer, ein anderes, gleich passendes Wort zu fin-den.«

Karl, der schon ziemlich nahe zum Onkel getretenwar, drehte sich um, um den Eindruck der Erzählungvon den Gesichtern der Anwesenden abzulesen. Kei-ner lachte, alle hörten geduldig und ernsthaft zu.Schließlich lacht man auch nicht über den Neffeneines Senators bei der ersten Gelegenheit, die sichdarbietet. Eher hätte man schon sagen können, daß

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der Heizer, wenn auch nur ganz wenig, Karl anlächel-te, was aber erstens als neues Lebenszeichen erfreu-lich und zweitens entschuldbar war, da ja Karl in derKabine aus dieser Sache, die jetzt so publik wurde,ein besonderes Geheimnis hatte machen wollen.

»Nun hat diese Brummer«, setzte der Onkel fort,»von meinem Neffen ein Kind bekommen, einen ge-sunden Jungen, welcher in der Taufe den NamenJakob erhielt, zweifellos in Gedanken an meine We-nigkeit, welche, selbst in den sicher nur ganz neben-sächlichen Erwähnungen meines Neffen, auf dasMädchen einen großen Eindruck gemacht haben muß.Glücklicherweise, sage ich. Denn da die Eltern zurVermeidung der Alimentenzahlung oder sonstigen bisan sie selbst heranreichenden Skandals - ich kenne,wie ich betonen muß, weder die dortigen Gesetzenoch die sonstigen Verhältnisse der Eltern-, da siealso zur Vermeidung der Alimentenzahlung und desSkandals ihren Sohn, meinen lieben Neffen, nachAmerika haben transportieren lassen, mit unverant-wortlich ungenügender Ausrüstung, wie man sieht, sowäre der Junge, ohne die gerade noch in Amerika le-bendigen Zeichen und Wunder, auf sich allein ange-wiesen, wohl schon gleich in einem Gäßchen imHafen von New York verkommen, wenn nicht jenesDienstmädchen in einem an mich gerichteten Brief,der nach langen Irrfahrten vorgestern in meinen Besitz

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kam, mir die ganze Geschichte samt Personenbe-schreibung meines Neffen und vernünftigerweise auchNamensnennung des Schiffes mitgeteilt hätte. Wennich es darauf angelegt hätte, Sie, meine Herren, zu un-terhalten, könnte ich wohl einige Stellen jenes Brie-fes« - er zog zwei riesige, engbeschriebene Briefbo-gen aus der Tasche und schwenkte sie - »hier vorle-sen. Er würde sicher Wirkung machen, da er mit eineretwas einfachen, wenn auch immer gutgemeintenSchlauheit und mit viel Liebe zu dem Vater des Kin-des geschrieben ist. Aber ich will weder Sie mehr un-terhalten, als es zur Aufklärung nötig ist, noch viel-leicht gar zum Empfang möglicherweise noch beste-hende Gefühle meines Neffen verletzen, der den Brief,wenn er mag, in der Stille seines ihn schon erwarten-den Zimmers zur Belehrung lesen kann.«

Karl hatte aber keine Gefühle für jenes Mädchen.Im Gedränge einer immer mehr zurücktretenden Ver-gangenheit saß sie in ihrer Küche neben dem Küchen-schrank, auf dessen Platte sie ihren Ellbogen stützte.Sie sah ihn an, wenn er hin und wieder in die Küchekam, um ein Glas zum Wassertrinken für seinenVater zu holen oder einen Auftrag seiner Mutter aus-zurichten. Manchmal schrieb sie in der vertracktenStellung seitlich vom Küchenschrank einen Brief undholte sich die Eingebungen von Karls Gesicht.Manchmal hielt sie die Augen mit der Hand verdeckt,

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dann drang keine Anrede zu ihr. Manchmal kniete siein ihrem engen Zimmerchen neben der Küche und be-tete zu einem hölzernen Kreuz; Karl beobachtete siedann nur mit Scheu im Vorübergehen durch die Spal-te der ein wenig geöffneten Tür. Manchmal jagte siein der Küche herum und fuhr, wie eine Hexe lachend,zurück, wenn Karl ihr in den Weg kam. Manchmalschloß sie die Küchentüre, wenn Karl eingetreten war,und behielt die Klinke so lange in der Hand, bis erweg zu gehn verlangte. Manchmal holte sie Sachen,die er gar nicht haben wollte, und drückte sie ihmschweigend in die Hände. Einmal aber sagte sie»Karl« und führte ihn, der noch über die unerwarteteAnsprache staunte, unter Grimassen seufzend in ihrZimmerchen, das sie zusperrte. Würgend umarmte sieseinen Hals, und während sie ihm bat, sie zu entklei-den, entkleidete sie in Wirklichkeit ihn und legte ihnin ihr Bett, als wolle sie ihn von jetzt niemandemmehr lassen und ihn streicheln und pflegen bis zumEnde der Welt.

»Karl, o du mein Karl!« rief sie, als sähe sie ihnund bestätige sich seinen Besitz, während er nicht dasGeringste sah und sich unbehaglich in dem vielenwarmen Bettzeug fühlte, das sie eigens für ihn aufge-häuft zu haben schien.

Dann legte sie sich auch zu ihm und wollte irgend-welche Geheimnisse von ihm erfahren, aber er konnte

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ihr keine sagen, und sie ärgerte sich im Scherz oderErnst, schüttelte ihn, horchte sein Herz ab, bot ihreBrust zum gleichen Abhorchen hin, wozu sie Karlaber nicht bringen konnte, drückte ihren nacktenBauch an seinen Leib, suchte mit jeder Hand, so wi-derlich, daß Karl Kopf und Hals aus den Kissen her-ausschüttelte, zwischen seinen Beinen, stieß dann denBauch einige Male gegen ihn, ihm war, als sei sie einTeil seiner selbst, und vielleicht aus diesem Grundehatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit ergriffen.Weinend kam er endlich nach vielen Wiedersehens-wünschen ihrerseits in sein Bett. Das war alles gewe-sen, und doch verstand es der Onkel, daraus einegroße Geschichte zu machen. Und die Köchin hattealso auch an ihn gedacht und den Onkel von seinerAnkunft verständigt. Das war schön von ihr gehan-delt, und er würde es ihr wohl noch einmal vergelten.

»Und jetzt«, rief der Senator, »will ich von diroffen hören, ob ich dein Onkel bin oder nicht.«

»Du bist mein Onkel«, sagte Karl und küßte ihmdie Hand und wurde dafür auf die Stirne geküßt. »Ichbin sehr froh, daß ich dich getroffen habe, aber duirrst, wenn du glaubst, daß meine Eltern nur Schlech-tes von dir reden. Aber auch abgesehen davon sind indeiner Rede einige Fehler enthalten gewesen, dasheißt, ich meine, es hat sich in Wirklichkeit nichtalles so zugetragen. Du kannst aber auch wirklich von

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hier aus die Dinge nicht so gut beurteilen, und ichglaube außerdem, daß es keinen besonderen Schadenbringen wird, wenn die Herren in Einzelheiten einerSache, an der ihnen doch wirklich nicht viel liegenkann, ein wenig unrichtig informiert worden sind.«

»Wohl gesprochen«, sagte der Senator, führte Karlvor den sichtlich teilnehmenden Kapitän und fragte:»Habe ich nicht einen prächtigen Neffen?«

»Ich bin glücklich«, sagte der Kapitän mit einerVerbeugung, wie sie nur militärisch geschulte Leutezustandebringen, »Ihren Neffen, Herr Senator, ken-nengelernt zu haben. Es ist eine besondere Ehre fürmein Schiff, daß es den Ort eines solchen Zusammen-treffens abgeben konnte. Aber die Fahrt im Zwischen-deck war wohl sehr arg, ja, wer kann denn wissen,wer da mitgeführt wird. Nun, wir tun alles mögliche,den Leuten im Zwischendeck die Fahrt möglichst zuerleichtern, viel mehr zum Beispiel als die amerikani-schen Linien, aber eine solche Fahrt zu einem Ver-gnügen zu machen, ist uns allerdings noch immernicht gelungen.«

»Es hat mir nicht geschadet«, sagte Karl.»Es hat ihm nicht geschadet!« wiederholte laut la-

chend der Senator.»Nur meinen Koffer fürchte ich verloren zu-« und

damit erinnerte er sich an alles, was geschehen warund was noch zu tun übrigblieb, sah sich um und

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erblickte alle Anwesenden stumm vor Achtung undStaunen auf ihren früheren Plätzen, die Augen auf ihngerichtet. Nur den Hafenbeamten sah man, soweit ihrestrengen, selbstzufriedenen Gesichter einen Einblickgestatteten, das Bedauern an, zu so ungelegener Zeitgekommen zu sein, und die Taschenuhr, die sie jetztvor sich liegen hatten, war ihnen wahrscheinlichwichtiger als alles, was im Zimmer vorging und viel-leicht noch geschehen konnte.

Der erste, welcher nach dem Kapitän seine Anteil-nahme ausdrückte, war merkwürdigerweise der Hei-zer.

»Ich gratuliere Ihnen herzlich«, sagte er und schüt-telte Karl die Hand, womit er auch etwas wie Aner-kennung ausdrücken wollte. Als er sich dann mit dergleichen Ansprache auch an den Senator wendenwollte, trat dieser zurück, als überschreite der Heizerdamit seine Rechte; der Heizer ließ auch sofort ab.

Die übrigen aber sahen jetzt ein, was zu tun war,und bildeten gleich um Karl und den Senator einenWirrwarr. So geschah es, daß Karl sogar eine Gratu-lation Schubals erhielt, annahm und für sie dankte.Als letzte traten in der wieder entstandenen Ruhe dieHafenbeamten hinzu und sagten zwei englischeWorte, was einen lächerlichen Eindruck machte.

Der Senator war ganz in der Laune, um das Ver-gnügen vollständig auszukosten, nebensächlichere

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Momente sich und den anderen in Erinnerung zu brin-gen, was natürlich von allen nicht nur geduldet, son-dern mit Interesse hingenommen wurde. So machte erdarauf aufmerksam, daß er sich die in dem Brief derKöchin erwähnten hervorstechendsten Erkennungszei-chen Karls in sein Notizbuch zu möglicherweise not-wendigem augenblicklichen Gebrauch eingetragenhatte. Nun hatte er während des unerträglichen Ge-schwätzes des Heizers zu keinem anderen Zweck, alsum sich abzulenken, das Notizbuch herausgezogenund die natürlich nicht gerade detektivisch richtigenBeobachtungen der Köchin mit Karls Aussehen zumSpiel in Verbindung zu bringen gesucht.

»Und so findet man seinen Neffen!« schloß er ineinem Ton, als wolle er noch einmal Gratulationenbekommen.

»Was wird jetzt dem Heizer geschehen?« fragteKarl vorbei an der letzten Erzählung des Onkels. Erglaubte in seiner neuen Stellung alles, was er dachte,auch aussprechen zu können.

»Dem Heizer wird geschehen, was er verdient«,sagte der Senator, »und was der Herr Kapitän für guterachtet. Ich glaube, wir haben von dem Heizer genugund übergenug, wozu mir jeder der anwesenden Her-ren sicher zustimmen wird.«

»Darauf kommt es doch nicht an, bei einer Sacheder Gerechtigkeit«, sagte Karl. Er stand zwischen

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dem Onkel und dem Kapitän und glaubte, vielleichtdurch diese Stellung beeinflußt, die Entscheidung inder Hand zu haben.

Und trotzdem schien der Heizer nichts mehr fürsich zu hoffen. Die Hände hielt er halb in dem Hosen-gürtel, der durch seine aufgeregten Bewegungen mitdem Streifen eines gemusterten Hemdes zum Vor-schein gekommen war. Das kümmerte ihn nicht imgeringsten; er hatte sein ganzes Leid geklagt, nunsollte man auch noch die paar Fetzen sehen, die er amLeibe hatte, und dann sollte man ihn forttragen. Erdachte sich aus, der Diener und Schubal, als die zweihier im Range Tiefsten, sollten ihm diese letzte Güteerweisen. Schubal würde dann Ruhe haben und nichtmehr in Verzweiflung kommen, wie sich der Oberkas-sier ausgedrückt hatte. Der Kapitän würde lauter Ru-mänen anstellen können, es würde überall Rumänischgesprochen werden, und vielleicht würde dann wirk-lich alles besser gehen. Kein Heizer würde mehr inder Hauptkassa schwätzen, nur sein letztes Geschwätzwürde man in ziemlich freundlicher Erinnerung behal-ten, da es, wie der Senator ausdrücklich erklärt hatte,die mittelbare Veranlassung zur Erkennung des Nef-fen gegeben hatte. Dieser Neffe hatte ihm übrigensvorher öfters zu nützen gesucht und daher für seinenDienst bei der Wiedererkennung längst vorher einenmehr als genügenden Dank abgestattet; dem Heizer

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fiel gar nicht ein, jetzt noch etwas von ihm zu verlan-gen. Im übrigen, mochte er auch der Neffe des Sena-tors sein, ein Kapitän war er noch lange nicht, aberaus dem Munde des Kapitäns würde schließlich dasböse Wort fallen. - So wie es seiner Meinung ent-sprach, versuchte auch der Heizer, nicht zu Karl hin-zusehen, aber leider blieb in diesem Zimmer der Fein-de kein anderer Ruheort für seine Augen.

»Mißverstehe die Sachlage nicht,« sagte der Sena-tor zu Karl, »es handelt sich vielleicht um eine Sacheder Gerechtigkeit, aber gleichzeitig um eine Sache derDisziplin.«

»Beides und ganz besonders das letztere unterliegthier der Beurteilung des Herrn Kapitäns.«

»So ist es«, murmelte der Heizer. Wer es merkteund verstand, lächelte befremdet.

»Wir aber haben überdies den Herrn Kapitän inseinen Amtsgeschäften, die sich sicher gerade bei derAnkunft in New York unglaublich häufen, so sehrschon behindert, daß es höchste Zeit für uns ist, dasSchiff zu verlassen, um nicht zum Überfluß auch nochdurch irgendwelche höchst unnötige Einmischungdiese geringfügige Zänkerei zweier Maschinisten zueinem Ereignis zu machen. Ich begreife deine Hand-lungsweise, lieber Neffe, übrigens vollkommen, abergerade das gibt mir das Recht, dich eilends von hierfortzuführen.«

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»Ich werde sofort ein Boot für Sie flottmachen las-sen«, sagte der Kapitän, ohne zum Erstaunen Karlsauch nur den kleinsten Einwand gegen die Worte desOnkels vorzubringen, die doch zweifellos als eineSelbstdemütigung des Onkels angesehen werdenkonnten. Der Oberkassier eilte überstürzt zumSchreibtisch und telephonierte den Befehl des Kapi-täns an den Bootsmeister.

›Die Zeit drängt schon‹, sagte sich Karl, ›aber ohnealle zu beleidigen, kann ich nichts tun. Ich kann dochjetzt den Onkel nicht verlassen, nachdem er michkaum wiedergefunden hat. Der Kapitän ist zwar höf-lich, aber das ist auch alles. Bei der Disziplin hörtseine Höflichkeit auf, und der Onkel hat ihm sicheraus der Seele gesprochen. Mit Schubal will ich nichtreden, es tut mir sogar leid, daß ich ihm die Hand ge-reicht habe. Und alle anderen Leute hier sind Spreu.‹

Und er ging langsam in solchen Gedanken zumHeizer, zog dessen rechte Hand aus dem Gürtel undhielt sie spielend in der seinen.

»Warum sagst du denn nichts?« fragte er. »Warumläßt du dir alles gefallen?«

Der Heizer legte nur die Stirn in Falten, als sucheer den Ausdruck für das, was er zu sagen habe. Imübrigen sah er auf Karls und seine Hand hinab.

»Dir ist ja unrecht geschehen wie keinem auf demSchiff, das weiß ich ganz genau.« Und Karl zog seine

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Finger hin und her zwischen den Fingern des Heizers,der mit glänzenden Augen ringsumher schaute, als wi-derfahre ihm eine Wonne, die ihm aber niemand ver-übeln möge.

»Du mußt dich aber zur Wehr setzen, ja und neinsagen, sonst haben doch die Leute keine Ahnung vonder Wahrheit. Du mußt mir versprechen, daß du mirfolgen wirst, denn ich selbst, das fürchte ich mit vie-lem Grund, werde dir gar nicht mehr helfen können.«Und nun weinte Karl, während er die Hand des Hei-zers küßte, und nahm die rissige, fast leblose Handund drückte sie an seine Wangen, wie einen Schatz,auf den man verzichten muß.

Da war aber auch schon der Onkel Senator an sei-ner Seite und zog ihn, wenn auch nur mit dem leichte-sten Zwange, fort.

»Der Heizer scheint dich bezaubert zu haben«,sagte er und sah verständnisinnig über Karls Kopfzum Kapitän hin.

»Du hast dich verlassen gefühlt, da hast du denHeizer gefunden und bist ihm jetzt dankbar, das ist jaganz löblich. Treibe das aber, schon mir zuliebe,nicht zu weit und lerne deine Stellung begreifen.«

Vor der Tür entstand ein Lärmen, man hörte Rufe,und es war sogar, als werde jemand brutal gegen dieTüre gestoßen. Ein Matrose trat ein, etwas verwildert,und hatte eine Mädchenschürze umgebunden.

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»Es sind Leute draußen«, rief er und stieß einmalmit dem Ellbogen herum, als sei er noch im Gedrän-ge. Endlich fand er seine Besinnung und wollte vordem Kapitän salutieren, da bemerkte er die Mädchen-schürze, riß sie herunter, warf sie zu Boden und rief:»Das ist ja ekelhaft, da haben sie mir eine Mädchen-schürze umgebunden.« Dann aber klappte er dieHacken zusammen und salutierte. Jemand versuchtezu lachen, aber der Kapitän sagte streng: »Das nenneich eine gute Laune. Wer ist denn draußen?«

»Es sind meine Zeugen«, sagte Schubal vortretend,»ich bitte ergebenst um Entschuldigung für ihr unpas-sendes Benehmen. Wenn die Leute die Seefahrt hintersich haben, sind sie manchmal wie toll«

»Rufen Sie sie sofort herein!« befahl der Kapitän,und gleich sich zum Senator umwendend, sagte erverbindlich, aber rasch: »Haben Sie jetzt die Güte,verehrter Herr Senator, mit Ihrem Herrn Neffen die-sem Matrosen zu folgen, der Sie ins Boot bringenwird. Ich muß wohl nicht erst sagen, welches Vergnü-gen und welche Ehre mir das persönliche Bekannt-werden mit Ihnen, Herr Senator, bereitet hat. Ich wün-sche mir nur, bald Gelegenheit zu haben, mit Ihnen,Herr Senator, unser unterbrochenes Gespräch über dieamerikanischen Flottenverhältnisse wieder einmalaufnehmen zu können und dann vielleicht neuerdingsauf so angenehme Weise, wie heute, unterbrochen zu

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werden.«»Vorläufig genügt mir dieser eine Neffe«, sagte der

Onkel lachend. »Und nun nehmen Sie meinen bestenDank für Ihre Liebenswürdigkeit und leben Sie wohl.Es wäre übrigens gar nicht so unmöglich, daß wir«, -er drückte Karl herzlich an sich - »bei unserer näch-sten Europareise vielleicht für längere Zeit mit Ihnenzusammenkommen könnten.«

»Es würde mich herzlich freuen«, sagte der Kapi-tän. Die beiden Herren schüttelten einander dieHände, Karl konnte nur noch stumm und flüchtigseine Hand dem Kapitän reichen, denn dieser war be-reits von den vielleicht fünfzehn Leuten in Anspruchgenommen, welche unter Führung Schubals zwaretwas betroffen, aber doch sehr laut einzogen. DerMatrose bat den Senator, vorausgehen zu dürfen, undteilte dann die Menge für ihn und Karl, die leicht zwi-schen den sich verbeugenden Leuten durchkamen. Esschien, daß diese im übrigen gutmütigen Leute denStreit Schubals mit dem Heizer als einen Spaß auffaß-ten, dessen Lächerlichkeit nicht einmal vor dem Kapi-tän aufhöre. Karl bemerkte unter ihnen auch das Kü-chenmädchen Line, welche, ihm lustig zuzwinkernd,die vom Matrosen hingeworfene Schürze umband,denn es war die ihre.

Weiter dem Matrosen folgend, verließen sie dasBüro und bogen in einen kleinen Gang ein, der sie

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nach ein paar Schritten zu einem Türchen brachte,von dem aus eine kurze Treppe in das Boot hinab-führte, welches für sie vorbereitet war. Die Matrosenim Boot, in das ihr Führer gleich mit einem einzigenSatz hinuntersprang, erhoben sich und salutierten.Der Senator gab Karl gerade eine Ermahnung zu vor-sichtigem Hinuntersteigen, als Karl noch auf der ober-sten Stufe in heftiges Weinen ausbrach. Der Senatorlegte die rechte Hand unter Karls Kinn, hielt ihn festan sich gepreßt und streichelte ihn mit der linkenHand. So gingen sie langsam Stufe für Stufe hinabund traten engverbunden ins Boot, wo der Senator fürKarl gerade sich gegenüber einen guten Platz aus-suchte. Auf ein Zeichen des Senators stießen die Ma-trosen vom Schiffe ab und waren gleich in voller Ar-beit. Kaum waren sie ein paar Meter vom Schiffe ent-fernt, machte Karl die unerwartete Entdeckung, daßsie sich gerade auf jener Seite des Schiffes befanden,wohin die Fenster der Hauptkassa gingen. Alle dreiFenster waren mit Zeugen Schubals besetzt, welchefreundschaftlichst grüßten und winkten, sogar derOnkel dankte, und ein Matrose machte das Kunst-stück, ohne eigentlich das gleichmäßige Rudern zuunterbrechen, eine Kußhand hinaufzuschicken. Es warwirklich, als gäbe es keinen Heizer mehr. Karl faßteden Onkel, mit dessen Knien sich die seinen fast be-rührten, genauer ins Auge, und es kamen ihm Zweifel,

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ob dieser Mann ihm jemals den Heizer werde ersetzenkönnen. Auch wich der Onkel seinem Blicke aus undsah auf die Wellen hin, von denen ihr Boot um-schwankt wurde.

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Der Onkel

Im Hause des Onkels gewöhnte sich Karl bald andie neuen Verhältnisse. Der Onkel kam ihm aber auchin jeder Kleinigkeit freundlich entgegen, und niemalsmußte Karl sich erst durch schlechte Erfahrungen be-lehren lassen, wie dies meist das erste Leben im Aus-land so verbittert.

Karls Zimmer lag im sechsten Stockwerk einesHauses, dessen fünf untere Stockwerke, an welchesich in der Tiefe noch drei unterirdische anschlossen,von dem Geschäftsbetrieb des Onkels eingenommenwurden. Das Licht, das in sein Zimmer durch zweiFenster und eine Balkontüre eindrang, brachte Karlimmer wieder zum Staunen, wenn er des Morgens ausseiner kleinen Schlafkammer hier eintrat. Wo hätte erwohl wohnen müssen, wenn er als armer kleiner Ein-wanderer ans Land gestiegen wäre? Ja, vielleicht hätteman ihn, was der Onkel nach seiner Kenntnis der Ein-wanderungsgesetze sogar für sehr wahrscheinlichhielt, gar nicht in die Vereinigten Staaten eingelassen,sondern ihn nach Hause geschickt, ohne sich weiterdarum zu kümmern, daß er keine Heimat mehr hatte.Denn auf Mitleid durfte man hier nicht hoffen, und eswar ganz richtig, was Karl in dieser Hinsicht überAmerika gelesen hatte; nur die Glücklichen schienen

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hier ihr Glück zwischen den unbekümmerten Gesich-tern ihrer Umgebung wahrhaft zu genießen.

Ein schmaler Balkon zog sich vor dem Zimmer sei-ner ganzen Länge nach hin. Was aber in der Heimat-stadt Karls wohl der höchste Aussichtspunkt gewesenwäre, gestattete hier nicht viel mehr als den Überblicküber eine Straße, die zwischen zwei Reihen förmlichabgehackter Häuser gerade, und darum wie fliehend,in die Ferne sich verlief, wo aus vielem Dunst dieFormen einer Kathedrale ungeheuer sich erhoben.Und morgens wie abends und in den Träumen derNacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer drän-gender Verkehr, der, von oben gesehen, sich als eineaus immer neuen Anfängen ineinandergestreute Mi-schung von verzerrten menschlichen Figuren und vonDächern der Fuhrwerke aller Art darstellte, von deraus sich noch eine neue, vervielfältigte, wildere Mi-schung von Lärm, Staub und Gerüchen erhob, undalles dieses wurde erfaßt und durchdrungen von einemmächtigen Licht, das immer wieder von der Mengeder Gegenstände verstreut, fortgetragen und wiedereifrig herbeigebracht wurde und das dem betörtenAuge so körperlich erschien, als werde über dieserStraße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Au-genblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen.Vorsichtig wie der Onkel in allem war, riet er Karl,sich vorläufig ernsthaft nicht auf das geringste

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einzulassen. Er sollte wohl alles prüfen und anschau-en, aber sich nicht gefangennehmen lassen. Die erstenTage eines Europäers in Amerika seien ja einer Ge-burt vergleichbar, und wenn man sich hier auch,damit nur Karl keine unnötige Angst habe, raschereingewöhne, als wenn man vom Jenseits in diemenschliche Welt eintrete, so müsse man sich dochvor Augen halten, daß das erste Urteil immer aufschwachen Füßen stehe und daß man sich dadurchnicht vielleicht alle künftigen Urteile, mit deren Hilfeman ja hier sein Leben weiterführen wolle, in Unord-nung bringen lassen dürfe. Er selbst habe Neuan-kömmlinge gekannt, die zum Beispiel statt nach die-sen guten Grundsätzen sich zu verhalten, tagelang aufihrem Balkon gestanden und wie verlorene Schafe aufdie Straße hinuntergesehen hätten. Das müsse unbe-dingt verwirren! Diese einsame Untätigkeit, die sichin einen arbeitsreichen New Yorker Tag verschaut,könne einem Vergnügungsreisenden gestattet undvielleicht, wenn auch nicht vorbehaltlos, angeratenwerden, für einen, der hierbleiben wird, sei sie einVerderben, man könne in diesem Fall ruhig diesesWort anwenden, wenn es auch eine Übertreibung ist.Und tatsächlich verzog der Onkel ärgerlich das Ge-sicht, wenn er bei einem seiner Besuche, die immernur einmal täglich, und zwar immer zu den verschie-densten Tageszeiten, erfolgten, Karl auf dem Balkon

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antraf. Karl merkte das bald und versagte sich infol-gedessen das Vergnügen, auf dem Balkon zu stehen,nach Möglichkeit.

Es war ja auch bei weitem nicht das einzige Ver-gnügen, das er hatte. In seinem Zimmer stand einamerikanischer Schreibtisch bester Sorte, wie sich ihnsein Vater seit Jahren gewünscht und auf den ver-schiedensten Versteigerungen um einen ihm erreich-baren billigen Preis zu kaufen gesucht hatte, ohne daßes ihm bei seinen kleinen Mitteln jemals gelungenwäre. Natürlich war dieser Tisch mit jenen angeblichamerikanischen Schreibtischen, wie sie sich auf euro-päischen Versteigerungen herumtreiben, nicht zu ver-gleichen. Er hatte zum Beispiel in seinem Aufsatzhundert Fächer verschiedenster Größe, und selbst derPräsident der Union hätte für jeden seiner Akten einenpassenden Platz gefunden, aber außerdem war an derSeite ein Regulator, und man konnte durch Drehen aneiner Kurbel die verschiedensten Umstellungen undNeueinrichtungen der Fächer nach Belieben und Be-darf erreichen. Dünne Seitenwändchen senkten sichlangsam und bildeten den Boden neu sich erhebenderoder die Decke neu aufsteigender Fächer; schon nacheiner Umdrehung hatte der Aufsatz ein ganz anderesAussehen, und alles ging, je nachdem man die Kurbeldrehte, langsam oder unsinnig rasch vor sich. Es wareine neueste Erfindung, erinnerte aber Karl sehr

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lebhaft an die Krippenspiele, die zu Hause auf demChristmarkt den staunenden Kindern gezeigt wurden,und auch Karl war oft, in seine Winterkleider einge-packt, davor gestanden und hatte ununterbrochen dieKurbeldrehung, die ein alter Mann ausführte, mit denWirkungen im Krippenspiel verglichen, mit demstockenden Vorwärtskommen der Heiligen Drei Köni-ge, dem Aufglänzen des Sternes und dem befangenenLeben im heiligen Stall. Und immer war es ihm er-schienen, als ob die Mutter, die hinter ihm stand,nicht genau genug alle Ereignisse verfolge; er hattesie zu sich hingezogen, bis er sie an seinem Rückenfühlte, und hatte ihr so lange mit lauten Ausrufen ver-borgenere Erscheinungen gezeigt, vielleicht ein Hä-schen, das vorn im Gras abwechselnd Männchenmachte und sich dann wieder zum Lauf bereitete, bisdie Mutter ihm den Mund zuhielt und wahrscheinlichin ihre frühere Unachtsamkeit verfiel. Der Tisch warfreilich nicht dazu gemacht, nur an solche Dinge zuerinnern, aber in der Geschichte der Erfindungen be-stand wohl ein ähnlich undeutlicher Zusammenhangwie in Karls Erinnerungen. Der Onkel war zum Un-terschied von Karl mit diesem Schreibtisch durchausnicht einverstanden, nur hatte er eben für Karl einenordentlichen Schreibtisch kaufen wollen, und solcheSchreibtische waren jetzt sämtlich mit dieser Neuein-richtung versehen, deren Vorzug auch darin bestand,

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bei älteren Schreibtischen ohne große Kosten ange-bracht werden zu können. Immerhin unterließ derOnkel nicht, Karl zu raten, den Regulator möglichstgar nicht zu verwenden; um die Wirkung des Rates zuverstärken, behauptete der Onkel, die Maschinerie seisehr empfindlich, leicht zu verderben und die Wieder-herstellung sehr kostspielig. Es war nicht schwer ein-zusehen, daß solche Bemerkungen, nur Ausflüchtewaren, wenn man sich auch andererseits sagen mußte,daß der Regulator sehr leicht zu fixieren war, was derOnkel jedoch nicht tat.

In den ersten Tagen, an denen selbstverständlichzwischen Karl und dem Onkel häufigere Aussprachenstattgefunden hatten, hatte Karl auch erzählt, daß erzu Hause zwar wenig, aber gern Klavier gespielthabe, was er allerdings lediglich mit den Anfangs-kenntnissen hatte bestreiten können, die ihm die Mut-ter beigebracht hatte. Karl war sich dessen wohl be-wußt, daß eine solche Erzählung gleichzeitig die Bitteum ein Klavier war, aber er hatte sich schon genügendumgesehen, um zu wissen, daß der Onkel auf keineWeise zu sparen brauchte. Trotzdem wurde ihm dieseBitte nicht gleich gewährt, aber etwa acht Tage spätersagte der Onkel, fast in der Form eines widerwilligenEingeständnisses, das Klavier sei eben an gelangt undKarl könne, wenn er wolle, den Transport überwa-chen. Das war allerdings eine leichte Arbeit, aber

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dabei nicht einmal viel leichter als der Transportselbst, denn im Haus war ein eigener Möbelaufzug, inwelchem ohne Gedränge ein ganzer MöbelwagenPlatz finden konnte, und in diesem Aufzug schwebteauch das Piano zu Karls Zimmer hinauf. Karl selbsthätte zwar in dem gleichen Aufzug mit dem Piano undden Transportarbeitern fahren können, aber da gleichdaneben ein Personenaufzug zur Benützung freistand,fuhr er in diesem, hielt sich mittels eines Hebels stetsin gleicher Höhe mit dem anderen Aufzug und be-trachtete unverwandt durch die Glaswände das schöneInstrument, das jetzt sein Eigentum war. Als er es inseinem Zimmer hatte und die ersten Töne anschlug,bekam er eine so närrische Freude, daß er, statt wei-terzuspielen, aufsprang und aus einiger Entfernung,die Hände in den Hüften, das Klavier lieber anstaun-te. Auch die Akustik des Zimmers war ausgezeichnetund sie trug dazu bei, sein anfängliches kleines Unbe-hagen, in einem Eisenhause zu wohnen, gänzlich ver-schwinden zu lassen. Tatsächlich merkte man auch imZimmer, so eisenmäßig das Gebäude von außen er-schien, von eisernen Baubestandteilen nicht das ge-ringste, und niemand hätte auch nur eine Kleinigkeitin der Einrichtung aufzeigen können, welche die voll-ständigste Gemütlichkeit irgendwie gestört hätte. Karlerhoffte in der ersten Zeit viel von seinem Klavier-spiel und schämte sich nicht, wenigstens vor dem

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Einschlafen an die Möglichkeit einer unmittelbarenBeeinflussung der amerikanischen Verhältnisse durchdieses Klavierspiel zu denken. Es klang ja allerdingssonderbar, wenn er vor den in die lärmerfüllte Luftgeöffneten Fenstern ein altes Soldatenlied seiner Hei-mat spielte, das die Soldaten am Abend, wenn sie inden Kasernenfenstern liegen und auf den finsterenPlatz hinausschauen, von Fenster zu Fenster einanderzusingen,- aber sah er dann auf die Straße, so war sieunverändert und nur ein kleines Stück eines großenKreislaufes, das man nicht an und für sich anhaltenkonnte, ohne alle Kräfte zu kennen, die in der Rundewirkten. Der Onkel duldete das Klavierspiel, sagteauch nichts dagegen, zumal sich Karl, auch nach sei-ner Mahnung, nur selten das Vergnügen des Spielsgönnte; ja, er brachte Karl sogar Noten amerikani-scher Märsche und natürlich auch der Nationalhymne,aber allein aus der Freude an der Musik war es wohlnicht zu erklären, als er eines Tages ohne allen ScherzKarl fragte, ob er nicht auch das Spiel auf der Geigeoder auf dem Waldhorn lernen wolle.

Natürlich war das Lernen des Englischen Karlserste und wichtigste Aufgabe. Ein junger Professoreiner Handelshochschule erschien morgens um siebenUhr in Karls Zimmer und fand ihn schon an seinemSchreibtisch bei den Heften sitzen oder memorierendim Zimmer auf und ab gehen. Karl sah wohl ein, daß

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zur Aneignung des Englischen keine Eile groß genugsei und daß er hier außerdem die beste Gelegenheithabe, seinem Onkel eine außerordentliche Freudedurch rasche Fortschritte zu machen. Und tatsächlichgelang es bald, während zuerst das Englische in denGesprächen mit dem Onkel sich auf Gruß und Ab-schiedsworte beschränkt hatte, immer größere Teileder Gespräche ins Englische hinüberzuspielen, wo-durch gleichzeitig vertraulichere Themen sich einzu-stellen begannen. Das erste amerikanische Gedicht,die Darstellung einer Feuersbrunst, das Karl seinemOnkel an einem Abend rezitieren konnte, machtendiesen tiefernst vor Zufriedenheit. Sie standen damalsbeide an einem Fenster in Karls Zimmer, der Onkelsah hinaus, wo alle Helligkeit des Himmels schonvergangen war, und schlug im Mitgefühl der Verselangsam und gleichmäßig in die Hände, während Karlaufrecht neben ihm stand und mit starren Augen dasschwierige Gedicht sich entrang.

Je besser Karls Englisch wurde, desto größere Lustzeigte der Onkel, ihn mit seinen Bekannten zusam-menzuführen, und ordnete nur für jeden Fall an, daßbei solchen Zusammenkünften vorläufig der Eng-lischprofessor sich immer in Karls Nähe zu haltenhabe. Der allererste Bekannte, dem Karl eines Vor-mittags vorgestellt wurde, war ein schlanker, junger,unglaublich biegsamer Mensch, den der Onkel mit

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besonderen Komplimenten in Karls Zimmer führte. Erwar offenbar einer jener vielen, vom Standpunkt derEltern aus gesehen, mißratenen Millionärssöhne, des-sen Leben so verlief, daß ein gewöhnlicher Menschauch nur einen beliebigen Tag im Leben dieses jun-gen Mannes nicht ohne Schmerz verfolgen konnte.Und als wisse oder ahne er dies und als begegne erdem, soweit es in seiner Macht stand, war um seineLippen und Augen ein unaufhörliches Lächeln desGlückes, das ihm selbst, seinem Gegenüber und derganzen Welt zu gelten schien.

Mit diesem jungen Manne, einem Herrn Mack,wurde, unter unbedingter Zustimmung des Onkels,besprochen, gemeinsam um halb sechs Uhr früh, seies in der Reitschule, sei es ins Freie, zu reiten. Karlzögerte zwar zuerst, seine Zusage zu geben, da erdoch noch niemals auf einem Pferd gesessen war unddas Reiten zuerst ein wenig lernen wolle, aber da ihmder Onkel und Mack so sehr zuredeten und das Reitenals bloßes Vergnügen und als gesunde Übung, abergar nicht als Kunst darstellten, sagte er schließlich zu.Nun mußte er allerdings schon um halb fünf Uhr ausdem Bett, und das tat ihm oft sehr leid, denn er litthier, wohl infolge der steten Aufmerksamkeit, die erwährend des Tages aufwenden mußte, geradezu anSchlafsucht, aber in seinem Badezimmer verlor sichdas Bedauern bald. Über die ganze Wanne der Länge

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und Breite nach spannte sich das Sieb der Dusche -*welcher Mitschüler zu Hause, und war er noch soreich, besaß etwas Derartiges und gar noch allein fürsich - und da lag nun Karl ausgestreckt, in dieserWanne konnte er die Arme ausbreiten, ließ die Strö-me des lauen, heißen, wieder lauen und endlich eisi-gen Wassers nach Belieben teilweise oder über dieganze Fläche hin auf sich herab. Wie in dem noch einwenig fortlaufenden Genusse des Schlafes lag er daund fing besonders gern mit den geschlossenen Au-genlidern die letzten, einzeln fallenden Tropfen auf,die sich dann öffneten und über das Gesicht hinflos-sen.

In der Reitschule, wo ihn das hoch sich aufbauendeAutomobil des Onkels absetzte, erwartete ihn bereitsder Englischprofessor, während Mack ausnahmsloserst später kam. Er konnte aber auch unbesorgt erstspäter kommen, denn das eigentliche, lebendige Rei-ten fing erst an, wenn er da war. Bäumten sich nichtdie Pferde aus ihrem bisherigen Halbschlaf auf, wenner eintrat, knallte die Peitsche nicht lauter durch denRaum, erschienen nicht plötzlich auf der umlaufendenGalerie einzelne Personen, Zuschauer, Pferdewärter,Reitschüler oder was sie sonst sein mochten? Karlaber nützte die Zeit vor der Ankunft Macks dazu aus,um doch ein wenig, wenn auch nur die primitivstenVorübungen des Reitens zu betreiben. Es war ein

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langer Mann da, der auf den höchsten Pferderückenmit kaum erhobenem Arm hinaufreichte und der Karldiesen immer kaum eine Viertelstunde dauernden Un-terricht erteilte. Die Erfolge, die Karl hiebei hatte,waren nicht übergroß, und er konnte sich viele engli-sche Klagerufe dauernd aneignen, die er während die-ses Lernens zu seinem Englischprofessor atemlos aus-stieß, der immer am Türpfosten, meist schlafbedürf-tig, lehnte. Aber fast alle Unzufriedenheit mit demReiten hörte auf, wenn Mack kam. Der lange Mannwurde weggeschickt, und bald hörte man in dem nochimmer halbdunklen Saal nichts anderes als die Hufeder galoppierenden Pferde und man sah kaum etwasanderes als Macks erhobenen Arm, mit dem er Karlein Kommando gab. Nach einer halben Stunde sol-chen wie Schlaf vergehenden Vergnügens wurde halt-gemacht. Mack war in großer Eile, verabschiedetesich von Karl, klopfte ihm manchmal auf die Wange,wenn er mit seinem Reiten besonders zufrieden gewe-sen war, und verschwand, ohne vor großer Eile mitKarl auch nur gemeinsam durch die Tür hinauszuge-hen. Karl nahm dann den Professor mit ins Automo-bil, und sie fuhren zu ihrer Englischstunde meist aufUmwegen, denn bei der Fahrt durch das Gedränge dergroßen Straße, die eigentlich direkt von dem Hausedes Onkels zur Reitschule führte, wäre zuviel Zeitverlorengegangen. Im übrigen hörte wenigstens diese

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Begleitung des Englischprofessors bald auf, dennKarl, der sich Vorwürfe machte, den müden Mannnutzlos in die Reitschule zu bemühen, zumal die eng-lische Verständigung mit Mack eine sehr einfachewar, bat den Onkel, den Professor von dieser Pflichtzu entheben. Nach einiger Überlegung gab der Onkeldieser Bitte auch nach.

Verhältnismäßig lange dauerte es, ehe sich derOnkel entschloß, Karl auch nur einen kleinen Ein-blick in sein Geschäft zu erlauben, obwohl Karl öftersdarum ersucht hatte. Es war eine Art Kommissions-und Speditionsgeschäftes, wie sie, soweit sich Karlerinnern konnte, in Europa vielleicht gar nicht zu fin-den war. Das Geschäft bestand nämlich in einem Zwi-schenhandel, der aber die Waren nicht etwa von denProduzenten zu den Konsumenten oder vielleicht zuden Händlern vermittelte, sondern welcher die Ver-mittlung aller Waren und Urprodukte für die großenFabrikskartelle und zwischen ihnen besorgte. Es wardaher ein Geschäft, welches in einem Käufe, Lagerun-gen, Transporte und Verkäufe riesenhaften Umfangsumfaßte und ganz genaue, unaufhörliche telephoni-sche und telegraphische Verbindungen mit den Klien-ten unterhalten mußte. Der Saal der Telegraphen warnicht kleiner, sondern größer als das Telegraphenamtder Vaterstadt, durch das Karl einmal an der Handeines dort bekannten Mitschülers gegangen war. Im

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Saal der Telephone gingen, wohin man schaute, dieTüren der Telephonzellen auf und zu, und das Läutenwar sinnverwirrend. Der Onkel öffnete die nächstedieser Türen, und man sah dort im sprühenden elektri-schen Licht einen Angestellten, gleichgültig gegenjedes Geräusch der Türe, den Kopf eingespannt in einStahlband, das ihm die Hörmuscheln an die Ohrendrückte. Der rechte Arm lag auf einem Tischchen, alswäre er besonders schwer, und nur die Finger, welcheden Bleistift hielten, zuckten unmenschlich gleichmä-ßig und rasch. In den Worten, die er in den Sprech-trichter sagte, war er sehr sparsam, und oft sah mansogar, daß er vielleicht gegen den Sprecher etwas ein-zuwenden hatte, ihn etwas genauer fragen wollte, abergewisse Worte, die er hörte, zwangen, ehe er seineAbsicht ausführen konnte, die Augen zu senken undzu schreiben. Er mußte auch nicht reden, wie derOnkel Karl leise erklärte, denn die gleichen Meldun-gen, wie sie dieser Mann aufnahm, wurden noch vonzwei anderen Angestellen gleichzeitig aufgenommenund dann verglichen, so daß Irrtümer möglichst aus-geschlossen waren. In dem gleichen Augenblick, alsder Onkel und Karl aus der Tür getreten waren,schlüpfte ein Praktikant hinein und kam mit dem in-zwischen beschriebenen Papier heraus. Mitten durchden Saal war ein beständiger Verkehr von hin undhergejagten Leuten. Keiner grüßte, das Grüßen war

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abgeschafft, jeder schloß sich den Schritten des ihmVorhergehenden an und sah auf den Boden, auf demer möglichst rasch vorwärtskommen wollte, oder fingmit den Blicken wohl nur einzelne Worte oder Zahlenvon Papieren ab, die er in der Hand hielt und die beiseinem Laufschritt flatterten.

»Du hast es wirklich weit gebracht«, sagte Karleinmal auf einem dieser Gänge durch den Betrieb, aufdessen Durchsicht man viele Tage verwenden mußte,selbst wenn man jede Abteilung gerade nur gesehenhaben wollte.

»Und alles habe ich vor dreißig Jahren selbst ein-gerichtet, mußt du wissen. Ich hatte damals im Hafen-viertel ein kleines Geschäft, und wenn dort im Tagfünf Kisten abgeladen waren, so war es viel und ichging aufgeblasen nach Hause. Heute habe ich diedrittgrößten Lagerhäuser im Hafen, und jener Ladenist das Eßzimmer und die Gerätekammer der fünfund-sechzigsten Gruppe meiner Packträger.«

»Das grenzt ja ans Wunderbare«, sagte Karl.»Alle Entwicklungen gehen hier so schnell vor

sich«, sagte der Onkel, das Gespräch abbrechend.Eines Tages kam der Onkel knapp vor der Zeit des

Essens, das Karl wie gewöhnlich allein einzunehmengedachte, und forderte ihn auf, sich gleich schwarzanzuziehen und mit ihm zum Essen zu kommen, anwelchem zwei Geschäftsfreunde teilnehmen würden.

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Während Karl sich im Nebenzimmer umkleidete,setzte sich der Onkel zum Schreibtisch und sah diegerade beendete Englischaufgabe durch, schlug mitder Hand auf den Tisch und rief laut: »Wirklich aus-gezeichnet!«

Zweifellos gelang das Anziehen besser, als Karldieses Lob hörte, aber er war auch wirklich seinesEnglischen schon ziemlich sicher.

Im Speisezimmer des Onkels, das er vom erstenAbend seiner Ankunft noch in Erinnerung hatte, erho-ben sich zwei große, dicke Herren zur Begrüßung, eingewisser Green der eine, ein gewisser Pollunder derzweite, wie sich während des Tischgesprächs heraus-stellte. Der Onkel pflegte nämlich kaum ein flüchtigesWort über irgendwelche Bekannten auszusprechenund überließ es immer Karl, durch eigene Beobach-tung das Notwendige oder Interessante herauszufin-den. Nachdem während des eigentlichen Essens nurintime geschäftliche Angelegenheiten besprochenworden waren, was für Karl eine gute Lektion hin-sichtlich kaufmännischer Ausdrücke bedeutete, undman Karl still mit seinem Essen sich hatte beschäfti-gen lassen, als sei er ein Kind, das sich vor allem or-dentlich satt essen müsse, beugte sich Herr Green zuKarl hin und fragte in dem unverkennbaren Bestre-ben, ein möglichst deutliches Englisch zu sprechen,im allgemeinen nach Karls ersten amerikanischen

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Eindrücken. Karl antwortete unter einer Sterbensstilleringsherum mit einigen Seitenblicken auf den Onkelziemlich ausführlich und suchte sich zum Dank durcheine etwas New Yorkisch gefärbte Redeweise ange-nehm zu machen. Bei einem Ausdruck lachten sogaralle drei Herren durcheinander, und Karl fürchteteschon, einen groben Fehler gemacht zu haben; jedochnein, er hatte, wie Herr Pollunder erklärte, sogaretwas sehr Gelungenes gesagt. Dieser Herr Pollunderschien überhaupt an Karl ein besonderes Gefallen zufinden, und während der Onkel und Herr Green wie-der zu den geschäftlichen Besprechungen zurückkehr-ten, ließ Herr Pollunder Karl seinen Sessel nahe zusich hinschieben, fragte ihn zuerst vielerlei über sei-nen Namen, seine Herkunft und seine Reise aus, biser dann schließlich, um Karl wieder ausruhen zu las-sen, lachend, hustend und eilig selbst von sich undseiner Tochter erzählte, mit der er auf einem kleinenLandgut in der Nähe von New York wohnte, wo eraber allerdings nur die Abende verbringen konnte,denn er war Bankier, und sein Beruf hielt ihn in NewYork den ganzen Tag fest. Karl wurde auch gleichherzlichst eingeladen, auf dieses Landgut hinauszu-kommen, ein so frischgebackener Amerikaner wieKarl habe ja auch sicher das Bedürfnis, sich von NewYork manchmal zu erholen. Karl bat den Onkel sofortum die Erlaubnis, diese Einladung annehmen zu

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dürfen, und der Onkel gab auch scheinbar freudigdiese Erlaubnis, ohne aber ein bestimmtes Datum zunennen oder auch nur in Erwägung ziehen zu lassen,wie es Karl und Herr Pollunder erwartet hatten.

Aber schon am nächsten Tage wurde Karl in einBüro des Onkels beordert (der Onkel hatte zehn ver-schiedene Büros allein in diesem Hause), wo er denOnkel und Herrn Pollunder ziemlich einsilbig in denFauteuils liegend antraf.

»Herr Pollunder« sagte der Onkel, er war in derAbenddämmerung des Zimmers kaum zu erkennen,»Herr Pollunder ist gekommen, um dich auf seinLandgut mitzunehmen, wie wir es gestern besprochenhaben«

»Ich wußte nicht, daß es schon heute sein sollte«,antwortete Karl, »sonst wäre ich schon vorbereitet.«

»Wenn du nicht vorbereitet bist, dann verschiebenwir vielleicht den Besuch besser für nächstens«,meinte der Onkel. »Was für Vorbereitungen!« riefHerr Pollunder. »Ein junger Mann ist immer vorberei-tet.«

»Es ist nicht seinetwegen«, sagte der Onkel, zu sei-nem Gaste gewendet, »aber er müßte immerhin nochin sein Zimmer hinaufgehen, und Sie wären aufgehal-ten.«

»Es ist auch dazu reichlich Zeit«, sagte HerrPollunder, »ich habe auch eine Verzögerung

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vorbedacht und früher Geschäftsschluß gemacht.«»Du siehst«, sagte der Onkel, »was für Unannehm-

lichkeiten dein Besuch schon jetzt veranlaßt.«»Es tut mir leid«, sagte Karl, »aber ich werde

gleich wieder da sein«, und wollte schon wegsprin-gen.

»Übereilen Sie sich nicht«, sagte Herr Pollunder.»Sie machen mir nicht die geringsten Unannehm-

lichkeiten, dagegen macht mir Ihr Besuch eine reineFreude.«

»Du versäumst morgen deine Reitstunde, hast dusie schon abgesagt?«

»Nein«, sagte Karl, dieser Besuch, auf den er sichgefreut hatte, fing an, eine Last zu werden, »ich wußteja nicht -«

»Und trotzdem willst du wegfahren?« fragte derOnkel weiter.

Herr Pollunder, dieser freundliche Mensch, kam zuHilfe. »Wir werden auf der Fahrt bei der Reitschulehalten und die Sache in Ordnung bringen.«

»Das läßt sich hören«, sagte der Onkel. »AberMack wird dich doch erwarten.«

»Erwarten wird er mich nicht«, sagte Karl, »aber erwird allerdings hinkommen.«

»Nun also?« sagte der Onkel, als wäre Karls Ant-wort nicht die geringste Rechtfertigung gewesen.

Wieder sagte Herr Pollunder das Entscheidende:

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»Aber Klara«, sie war Herrn Pollunders Tochter, »er-wartet ihn auch und schon heute abend, und sie hatwohl den Vorzug vor Mack?«

»Allerdings«, sagte der Onkel. »Also lauf schon indein Zimmer«, und er schlug mehrmals wie ohne Wil-len gegen die Armlehne des Fauteuils. Karl war schonbei der Tür, als ihn der Onkel noch mit der Frage zu-rückhielt: »Zur Englischstunde bist du doch wohlmorgen früh wieder hier?«

»Aber!« rief Herr Pollunder und drehte sich, soweites seine Dicke erlaubte, in seinem Fauteuil vor Er-staunen. »Ja darf er denn nicht wenigstens den morgi-gen Tag draußen bleiben? Ich brächte ihn dann über-morgen früh wieder zurück?«

»Das geht auf keinen Fall«, erwiderte der Onkel.»Ich kann sein Studium nicht so in Unordnung kom-men lassen. Später, wenn er in einem an und für sichgeregelten Berufsleben sein wird, werde ich ihm sehrgern auch für längere Zeit erlauben, einer so freundli-chen und ehrenden Einladung zu folgen«

›Was das für Widersprüche sind!‹ dachte Karl.Herr Pollunder war traurig geworden.»Für einen Abend und eine Nacht steht es aber

wirklich fast nicht dafür.«»Das war auch meine Meinung«, sagte der Onkel.»Man muß nehmen, was man bekommt«, sagte

Herr Pollunder und lachte schon wieder.

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»Also, ich warte!« rief er Karl zu, welcher, da derOnkel nichts mehr sagte, davoneilte.

Als er bald reisefertig zurückkehrte, traf er im Büronur noch Herrn Pollunder, der Onkel war fortgegan-gen. Herr Pollunder schüttelte Karl ganz glücklichbeide Hände, als wolle er sich so stark als möglichdessen vergewissern, daß Karl nun doch mitfahre.Karl war noch ganz erhitzt von der Eile und schüttelteauch seinerseits Herrn Pollunders Hände, er freutesich, den Ausflug machen zu können.

»Hat sich der Onkel nicht darüber geärgert, daß ichfahre?«

»Aber nein! Das hat er ja alles nicht so ernst ge-meint. Ihre Erziehung liegt ihm eben am Herzen.«

»Hat er es Ihnen selbst gesagt, daß er das Früherenicht so ernst gemeint hat?«

»O ja«, sagte Herr Pollunder gedehnt und bewiesdamit, daß er nicht lügen konnte.

»Es ist merkwürdig, wie ungern er mir die Erlaub-nis gegeben hat, Sie zu besuchen, obwohl Sie dochsein Freund sind«

Auch Herr Pollunder konnte, obwohl er dies nichtoffen eingestand, keine Erklärung dafür finden, undbeide dachten, als sie in Herrn Pollunders Automobildurch den warmen Abend fuhren, noch lange darübernach, ob wohl sie gleich von anderen Dingen spra-chen.

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Sie saßen eng beieinander, und Herr Pollunder hieltKarls Hand in der seinen, während er erzählte. Karlwollte vieles über das Fräulein Klara hören, als sei erungeduldig über die lange Fahrt und könne mit Hilfeder Erzählungen früher ankommen als in Wirklich-keit. Obwohl er am Abend noch niemals durch dieNew Yorker Straßen gefahren war, und über Trottoirund Fahrbahn, alle Augenblicke die Richtung wech-selnd, wie in einem Wirbelwind der Lärm jagte, nichtwie von Menschen verursacht, sondern wie ein frem-des Element, kümmerte sich Karl, während er HerrnPollunders Worte genau aufzunehmen suchte, umnichts anderes als Herrn Pollunders dunkle Weste,über die quer eine dunkle Kette ruhig hing. Aus denStraßen, wo das Publikum in großer, unverhüllterFurcht vor Verspätung in fliegendem Schritt und inFahrt zeugen, die zu möglichster Eile gebracht waren,zu den Theatern drängte, kamen sie durch Übergangs-bezirke in die Vorstädte, wo ihr Automobil durch Po-lizeileute zu Pferd immer wieder in Seitenstraßen ge-wiesen wurde, da die großen Straßen von den demon-strierenden den Metallarbeitern, die im Streik standen,besetzt waren und nur der notwendigste Wagenver-kehr an den Kreuzungsstellen gestattet werden konn-te. Durchquerte dann das Automobil, aus dunkleren,dumpf hallenden Gassen kommend, eine dieser, gan-zen Plätzen gleichenden, großen Straßen, dann

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erschienen nach beiden Seiten hin in Perspektiven,denen niemand bis zum Ende folgen konnte, die Trot-toirs angefüllt mit einer in winzigen Schritten sich be-wegenden Masse, deren Gesang einheitlicher war alsder einer einzigen Menschenstimme. In der freigehal-tenen Fahrbahn aber sah man hie und da einen Polizi-sten auf unbeweglichem Pferde oder Träger von Fah-nen oder beschriebenen, über die Straße gespanntenTüchern oder einer von Mitarbeitern und Ordonnan-zen umgebenen Arbeiterführer oder einen Wagen derelektrischen Straßenbahn, der sich nicht rasch genuggeflüchtet hatte und nun leer und dunkel dastand,während der Führer und der Schaffner auf der Platt-form saßen. Kleine Trupps von Neugierigen standenweit entfernt von den wirklichen Demonstranten undverließen ihre Plätze nicht, obwohl sie über die ei-gentlichen Ereignisse im Unklaren blieben. Karl aberlehnte froh in dem Arm, den Herr Pollunder um ihngelegt hatte; die Überzeugung, daß er bald in einembeleuchteten, von Mauern umgebenen, von Hundenbewachten Landhause ein willkommener Gast seinwerde, tat ihm über alle Maßen wohl, und wenn erauch wegen einer beginnenden Schläfrigkeit nichtmehr alles, was Herr Pollunder sagte, fehlerlos oderwenigstens nicht ohne Unterbrechung auffaßte, soraffte er sich doch von Zeit zu Zeit auf und wischtesich die Augen, um wieder für eine Weile

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festzustellen, ob Herr Pollunder seine Schläfrigkeitbemerke, denn das wollte er um jeden Preis vermiedenwissen.

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Ein Landhaus bei New York

»Wir sind angekommen«, sagte Herr Pollunder ge-rade in einem von Karls verlorenen Momenten. DasAutomobil stand vor einem Landhaus, das, nach derArt von Landhäusern reicher Leute in der UmgebungNew Yorks, umfangreicher und höher war, als essonst für ein Landhaus nötig ist, das bloß einer Fami-lie dienen soll. Da nur der untere Teil des Hauses be-leuchtet war, konnte man gar nicht bemessen, wieweit es in die Höhe reichte. Vorne rauschten Kastani-enbäume, zwischen denen - das Gitter war schon ge-öffnet - ein kurzer Weg zur Freitreppe des Hausesführte. An seiner Müdigkeit beim Aussteigen glaubteKarl zu bemerken, daß die Fahrt doch ziemlich langgedauert hatte. Im Dunkel der Kastanienallee hörte ereine Mädchenstimme neben sich sagen: »Da ist jaendlich der Herr Jakob.«

»Ich heiße Roßmann«, sagte Karl und faßte die ihmhingereichte Hand eines Mädchens, das er jetzt inUmrissen erkannte.

»Er ist ja nur Jakobs Neffe«, sagte Herr Pollundererklärend, »und heißt selbst Karl Roßmann.«

»Das ändert nichts an unserer Freude, ihn hier zuhaben«, sagte das Mädchen, dem an Namen nicht viellag.

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Trotzdem fragte Karl noch, während er zwischenHerrn Pollunder und dem Mädchen auf das Haus zu-schritt: »Sie sind das Fräulein Klara?«

»Ja«, sagte sie, und schon fiel ein wenig unter-scheidendes Licht vom Hause her auf ihr Gesicht, dassie ihm zuneigte. »Ich wollte mich aber hier in derFinsternis nicht vorstellen.«

›Ja hat sie uns denn am Gitter erwartet?‹ dachteKarl, der im Gehen allmählich aufwachte.

»Wir haben übrigens noch einen Gast heuteabend«, sagte Klara.

»Nicht möglich!« rief Pollunder ärgerlich.»Herrn Green«, sagte Klara.»Wann ist er gekommen?« fragte Karl, wie in einer

Ahnung befangen.»Vor einem Augenblick. Habt ihr denn sein Auto-

mobil nicht vor dem eueren gehört?«Karl sah zu Pollunder auf, um zu erfahren, wie er

die Sache beurteile, aber der hatte die Hände in denHosentaschen und stampfte bloß etwas stärker imGehen.

»Es nützt nichts, nur knapp außerhalb New Yorkszu wohnen, von Störungen bleibt man nicht ver-schont. Wir werden unseren Wohnsitz unbedingt nochweiter verlegen müssen; und sollte ich die halbeNacht durchfahren müssen, ehe ich nach Hausekomme.«

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Sie blieben an der Freitreppe stehen.»Aber Herr Green war doch schon sehr lange nicht

hier«, sagte Klara, die offenbar mit ihrem Vater gänz-lich einverstanden war, ihn aber über sich hinaus be-ruhigen wollte.

»Warum kommt er denn gerade heute abend«,sagte Pollunder, und die Rede rollte schon wütendüber die wulstige Unterlippe, die als loses, schweresFleisch leicht in große Bewegung kam.

»Allerdings!« sagte Klara.»Vielleicht wird er bald wieder weggehen«, be-

merkte Karl und staunte selbst über das Einverständ-nis, in welchem er sich mit diesen noch gestern ihmgänzlich fremden Leuten befand.

»O nein«, sagte Klara, »er hat irgendein großes Ge-schäft für Papa, dessen Besprechung wahrscheinlichlange dauern wird, denn er hat mir schon im Spaß ge-droht, daß ich, wenn ich eine höfliche Hauswirtin seinwill, bis zum Morgen werde zuhören müssen.«

»Also auch das noch. Dann bleibt er über Nacht!«rief Pollunder, als sei damit endlich das Schlimmsteerreicht.

»Ich hätte wahrhaftig Lust«, sagte er und wurdefreundlicher durch den neuen Gedanken, »ich hättewahrhaftig Lust, Sie, Herrn Roßmann, wieder ins Au-tomobil zu nehmen und zu Ihrem Onkel zurückzu-bringen. Der heutige Abend ist schon von vornherein

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gestört, und wer weiß, wann Sie uns nächstens IhrHerr Onkel wieder überläßt. Bringe ich Sie aber heuteschon wieder zurück, so wird er Sie uns nächstensdoch nicht verweigern können.«

Und er faßte Karl schon bei der Hand, um seinenPlan auszuführen. Aber Karl rührte sich nicht, undKlara bat, ihn hierzulassen, denn zumindest sie undKarl würden von Herrn Green nicht im geringsten ge-stört werden können, und schließlich merkte auchPollunder selbst, daß sein Entschluß nicht der festestewar. Überdies - und dies war vielleicht das Entschei-dende - hörte man plötzlich Herrn Green vom ober-sten Treppenaufsatz in den Garten hinunterrufen:»Wo bleibt ihr denn?«

»Kommt«, sagte Pollunder und bog auf die Frei-treppe ein. Hinter ihm gingen Karl und Klara, die ein-ander jetzt im Licht studierten.

›Die roten Lippen, die sie hat‹, sagte sich Karl unddachte an die Lippen des Herrn Pollunder und wieschön sie sich in der Tochter verwandelt hatten.

»Nach dem Nachtmahl«, so sagte sie »werden wir,wenn es Ihnen recht ist, gleich in meine Zimmergehen, damit wir wenigstens diesen Herrn Green lossind, wenn schon Papa sich mit ihm beschäftigenmuß. Und Sie werden dann so freundlich sein, mirKlavier vorzuspielen, denn Papa hat schon erzählt,wie gut Sie das können, ich aber bin leider ganz

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unfähig, Musik auszuüben, und rühre mein Klaviernicht an, so sehr ich die Musik eigentlich liebe.«

Mit dem Vorschlag Klaras war Karl ganz einver-standen, wenn er auch gern Herrn Pollunder mit inihre Gesellschaft hätte ziehen wollen. Vor der riesigenGestalt Greens - an Pollunders Größe hatte sich Karleben schon gewöhnt -, die sich vor ihnen, wie sie dieStufen hinaufstiegen, langsam entwickelte, wich aller-dings von Karl jede Hoffnung, diesem Mann denHerrn Pollunder heute abend irgendwie zu entlocken.

Herr Green empfing sie sehr eilig, als sei vieleseinzuholen, nahm Herrn Pollunders Arm und schobKarl und Klara vor sich in das Speisezimmer, das be-sonders infolge der Blumen auf dem Tische, die sichaus Streifen frischen Laubes halb aufrichteten, sehrfestlich aussah und doppelt die Anwesenheit des stö-renden Herrn Green bedauern ließ. Gerade freute sichnoch Karl, der beim Tische wartete, bis die anderensich setzten, daß die große Glastüre zum Garten hinoffen bleiben würde, denn ein starker Duft wehte her-ein wie in eine Gartenlaube, da ging gerade HerrGreen unter Schnaufen daran, diese Glastüre zuzuma-chen, bückte sich nach den untersten Riegeln, strecktesich nach den obersten und alles so jugendlich rasch,daß der herbeieilende Diener nichts mehr zu tun fand.Die ersten Worte des Herrn Green bei Tische warenAusdrücke des Staunens darüber, daß Karl die

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Erlaubnis des Onkels zu diesem Besuche bekommenhatte. Einen gefüllten Suppenlöffel nach dem anderenhob er zum Mund und erklärte rechts zu Klara, linkszu Herrn Pollunder, warum er so staune und wie derOnkel über Karl wache und wie die Liebe des Onkelszu Karl zu groß sei, als daß man sie noch die Liebeeines Onkels nennen könne.

›Nicht genug, daß er sich hier unnötig einmischt,mischt er sich noch gleichzeitig zwischen mich undden Onkel ein‹, dachte Karl und konnte keinenSchluck der goldfarbigen Suppe hinunterbringen.Dann wollte er sich aber wieder nichts anmerken las-sen, wie gestört er sich fühlte, und begann die Suppestumm in sich hineinzuschütten. Das Essen verginglangsam wie eine Plage. Nur Herr Green und höch-stens noch Klara waren lebhaft und fanden mitunterGelegenheit zu einem kurzen Lachen. Herr Pollunderverfing sich nur einige Male in die Unterhaltung,wenn Herr Green von Geschäften zu sprechen anfing.Doch zog er sich auch von solchen Gesprächen baldzurück, und Herr Green mußte ihn nach einiger Zeitwieder unvermutet damit überraschen. Er legte übri-gens Gewicht darauf und da war es, daß Karl, der auf-horchte, als drohe etwas, von Klara darauf aufmerk-sam gemacht werden mußte, daß der Braten vor ihmstand und er bei einem Abendessen war, daß er vonvornherein nicht die Absicht gehabt habe, diesen

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unerwarteten Besuch zu machen. Denn wenn auch dasGeschäft, von dem noch gesprochen werden solle, vonbesonderer Dringlichkeit sei, so hätte wenigstens dasWichtigste heute in der Stadt verhandelt und das Ne-bensächlichere für morgen oder später aufgespart wer-den können. Und so sei er auch tatsächlich, nochlange vor Geschäftsschluß, bei Herrn Pollunder gewe-sen, habe ihn aber nicht angetroffen, so daß er ge-zwungen gewesen sei, nach Hause zu telephonieren,daß er über Nacht ausbleibe, und herauszufahren.

»Dann muß ich um Entschuldigung bitten«, sagteKarl laut und ehe jemand Zeit zur Antwort hatte,»denn ich bin daran schuld, daß Herr Pollunder seinGeschäft heute früher verließ, und es tut mir sehrleid.«

Herr Pollunder bedeckte den größeren Teil seinesGesichtes mit der Serviette, während Klara Karl zwaranlächelte, doch war es kein teilnehmendes Lächeln,sondern eines, das ihn irgendwie beeinflussen sollte.

»Da braucht es keine Entschuldigung«, sagte HerrGreen, der gerade eine Taube mit scharfen Schnittenzerlegte, »Ganz im Gegenteil, ich bin ja froh, denAbend in so angenehmer Gesellschaft zu verbringen,statt das Nachtmahl allein zu Hause einzunehmen, womich meine alte Wirtschafterin bedient, die so alt ist,daß ihr schon der Weg von der Tür zu meinem Tischschwer fällt, und ich mich für lange in meinen Sessel

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zurücklehnen kann, wenn ich sie auf diesem Gang be-obachten will. Erst vor kurzem habe ich durchgesetzt,daß der Diener die Speisen bis zur Tür des Speise-zimmers bringt, der Weg aber von der Tür zu meinemTisch gehört ihr, soweit ich sie verstehe.«

»Mein Gott«, rief Klara, »ist das eine Treue!«»Ja, es gibt noch Treue auf der Welt«, sagte Herr

Green und führte einen Bissen in den Mund, wo dieZunge, wie Karl zufällig bemerkte, mit einemSchwunge die Speise ergriff. Ihm wurde fast übel under stand auf. Fast gleichzeitig griffen Herr Pollunderund Klara nach seinen Händen.

»Sie müssen noch sitzen bleiben«, sagte Klara.Und als er sich wieder gesetzt hatte, flüsterte sie ihmzu: »wir werden bald zusammen verschwinden.Haben Sie Geduld.«

Herr Green hatte sich inzwischen ruhig mit seinemEssen beschäftigt, als sei es Herrn Pollunders undKlaras natürliche Aufgabe, Karl zu beruhigen, wenner ihm Übelkeiten verursachte.

Das Essen zog sich besonders durch die Genauig-keit in die Länge, mit der Herr Green jeden Gang be-handelte, wenn er auch immer bereit war, jeden neuenGang ohne Ermüdung zu empfangen, es bekam wirk-lich den Anschein, als wolle er sich von seiner altenWirtschafterin gründlich erholen. Hin und wiederlobte er Fräulein Klaras Kunst in der Führung des

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Hauswesens, was ihr sichtlich schmeichelte, währendKarl versucht war, ihn abzuwehren, als greife er siean. Aber Herr Green begnügte sich nicht einmal mitihr, sondern bedauerte öfters, ohne vom Teller aufzu-sehen, die auffallende Appetitlosigkeit Karls. HerrPollunder nahm Karls Appetit in Schutz, obwohl erals Gastgeber Karl auch zum Essen hätte aufmunternsollen. Und tatsächlich fühlte sich Karl durch denZwang, unter dem er während des ganzen Nachtmahlslitt, so empfindlich, daß er gegen die eigene bessereEinsicht diese Äußerung Herrn Pollunders als Un-freundlichkeit auslegte. Und es entsprach nur diesemseinen Zustand, daß er einmal ganz unpassend raschund viel aß und dann wieder für lange Zeit müdeGabel und Messer sinken ließ und der Unbeweglich-ste der Gesellschaft war, mit dem der Diener, der dieSpeisen reichte, oft nichts anzufangen wußte.

»Ich werde schon morgen dem Herrn Senator er-zählen, wie Sie das Fräulein Klara durch Ihr Nichtes-sen gekränkt haben«, sagte Herr Green und be-schränkte sich darauf, die spaßige Absicht dieserWorte durch die Art, wie er mit dem Besteck hantier-te, auszudrücken.

»Sehen Sie nur das Mädchen an, wie traurig esist«, fuhr er fort und griff Klara unters Kinn. Sie ließes geschehen und schloß die Augen.

»Du Dingschen«, rief er, lehnte sich zurück und

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lachte, hochrot im Gesicht, mit der Kraft des Gesät-tigten. Vergebens suchte sich Karl das BenehmenHerrn Pollunders zu erklären. Der saß vor seinem Tel-ler und sah in ihn, als geschähe dort das eigentlichWichtige. Er zog Karls Sessel nicht näher zu sichund, wenn er einmal sprach, so sprach er zu allen,aber zu Karl hatte er nichts Besonderes zu reden. Da-gegen duldete er, daß Green, dieser alte, ausgepichteNew Yorker Junggeselle, mit deutlicher AbsichtKlara berührte, daß er Karl, Pollunders Gast, belei-digte oder wenigstens als Kind behandelte und werweiß zu welchen Taten sich stärkte und vordrang.

Nach Aufhebung der Tafel - als Green die allge-meine Stimmung merkte, war er der erste, der auf-stand und gewissermaßen alle mit sich erhob - gingKarl allein abseits zu einem der großen, durch schma-le weiße Leisten geteilten Fenster, die zur Terrasseführten und die eigentlich, wie er beim Nähertretenmerkte, richtige Türen waren. Was war von der Ab-neigung übriggeblieben, die Herr Pollunder und seineTochter anfangs gegenüber Green gefühlt hatten unddie damals Karl etwas unverständlich vorgekommenwar. Jetzt standen sie mit Green beisammen und nick-ten ihm zu. Der Rauch aus Herrn Greens Zigarre,einem Geschenk Pollunders, die von jener Dicke war,von der der Vater zu Hause hie und da als von einerTatsache zu erzählen pflegte, die er wahrscheinlich

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selbst mit eigenen Augen niemals gesehen hatte, ver-breitete sich in dem Saal und trug Greens Einflußauch in Winkel und Nischen, die er persönlich nie-mals betreten würde. Soweit entfernt Karl auch stand,noch spürte er von dem Rauch einen Kitzel in derNase, und das Benehmen Herrn Greens, nach wel-chem er sich von seinem Platz aus nur einmal schnellumsah, erschien ihm infam. Jetzt hielt er es gar nichtmehr für ausgeschlossen, daß ihm der Onkel die Er-laubnis zu diesem Besuch nur deshalb so lange ver-weigert hatte, weil er den Schema den CharakterHerrn Pollunders kannte und infolgedessen eine Krän-kung Karls bei diesem Besuch, wenn auch nichtgenau voraussah, so doch im Bereich der Möglichkeiterblickte. Auch das amerikanische Mädchen gefielihm nicht, obwohl er sich sie durchaus nicht etwa vielschöner vorgestellt hatte. Seit sich Herr Green mit ihrabgegeben hatte, war er sogar überrascht von derSchönheit, deren ihr Gesicht fähig war, und besondersvon dem Glanz ihrer unbändig bewegten Augen.Einen Rock, der so fest wie der ihre den Körper um-schlossen hätte, hatte er noch niemals gesehen, kleineFalten in dem gelblichen, zarten und festen Stoff zeig-ten die Stärke der Spannung. Und doch lag Karl garnichts an ihr und er hätte gern darauf verzichtet, aufihre Zimmer geführt zu werden, wenn er statt dessendie Tür, auf deren Klinke er für jeden Fall die Hände

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gelegt hatte, hätte öffnen, ins Automobil steigen oder,wenn der Chauffeur schon schlief, allein nach NewYork hätte spazieren dürfen. Die klare Nacht mit demihm zugeneigten vollen Mond stand frei für jeder-mann, und draußen im Freien vielleicht Furcht zuhaben schien Karl sinnlos. Er stellte sich vor - undzum erstenmal wurde ihm in diesem Saale wohl -,wie er am Morgen - früher dürfte er kaum zu Fußnach Hause kommen -* den Onkel überraschen woll-te. Er war zwar noch niemals in seinem Schlafzimmergewesen, wußte auch gar nicht, wo es lag, aber erwollte es schon erfragen. Dann wollte er anklopfenund auf das förmliche »Herein!« ins Zimmer laufenund den lieben Onkel, den er bisher immer nur bishoch hinauf angezogen und zugeknöpft kannte, auf-recht im Bette sitzend, die Augen erstaunt zur Tür ge-richtet, im Nachthemd überraschen. Das war ja anund für sich vielleicht noch nicht viel, aber manmußte nur ausdenken, was das zur Folge haben könn-te. Vielleicht würde er zum erstenmal gemeinsam mitseinem Onkel frühstücken, der Onkel im Bett, er aufeinem Sessel, das Frühstück auf einem Tischchenzwischen ihnen, vielleicht würde dieses gemeinsameFrühstück zu einer ständigen Einrichtung werden,vielleicht würden sie infolge dieser Art Frühstück,was sogar kaum zu vermeiden war, öfters als wie bis-her bloß einmal während des Tages

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zusammenkommen und dann natürlich auch offenermiteinander reden können. Es lag ja schließlich nur andem Mangel dieser offenen Aussprache, wenn erheute dem Onkel gegenüber etwas unfolgsam oder,besser, starrköpfig gewesen war. Und wenn er auchheute über Nacht hierbleiben mußte - es sah leiderganz danach aus, obwohl man ihn hier beim Fensterstehen und auf eigene Faust sich unterhalten ließ -,vielleicht wurde dieser unglückliche Besuch der Wen-depunkt zum Besseren in dem Verhältnis zum Onkel,vielleicht hatte der Onkel in seinem Schlafzimmerheute abend ähnliche Gedanken.

Ein wenig getröstet wandte er sich um. Klara standvor ihm und sagte: »Gefällt es Ihnen denn gar nichtbei uns? Wollen Sie sich hier nicht ein wenig hei-misch fühlen? Kommen Sie, ich will den letzten Ver-such machen.«

Sie führte ihn quer durch den Saal zur Türe. Aneinem Seitentisch saßen die beiden Herren bei leichtschäumenden, in hohe Gläser gefüllten Getränken, dieKarl unbekannt waren und die er zu kosten Lust ge-habt hätte. Herr Green hatte einen Ellbogen auf demTisch, sein ganzes Gesicht war Herrn Pollunder mög-lichst nahe gerückt; wenn man Herrn Pollunder nichtgekannt hätte, hätte man ganz gut annehmen können,es werde hier etwas Verbrecherisches besprochen undkein Geschäft. Während Herr Pollunder mit

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freundlichem Blick Karl zur Türe folgte, sah sichGreen, obwohl man doch schon unwillkürlich sichden Blicken seines Gegenübers anzuschließen pflegt,auch nicht im geringsten nach Karl um, welchem indiesem Benehmen der Ausdruck einer Art Überzeu-gung Greens zu liegen schien, jeder, Karl für sich undGreen für sich, solle hier mit seinen Fähigkeiten aus-zukommen versuchen, die notwendige gesellschaftli-che Verbindung zwischen ihnen werde sich schon mitder Zeit durch den Sieg oder die Vernichtung einesvon beiden herstellen.

›Wenn er das meint‹, sagte sich Karl, ›dann ist erein Narr. Ich will wahrhaftig nichts von ihm, und ersoll mich auch in Ruhe lassen.‹

Kaum war er auf den Gang getreten, fiel ihm ein,daß er sich wahrscheinlich unhöflich benommenhatte, denn mit seinen auf Green gehefteten Augenhatte er sich von Klara aus dem Zimmer fast schlep-pen lassen. Desto williger ging er jetzt neben ihr her.Auf dem Wege durch die Gänge traute er zuerst sei-nen Augen nicht, als er alle zwanzig Schritte einenreich livrierten Diener mit einem Armleuchter stehensah, dessen dicken Schaft jene mit beiden Händenumschlossen hielten.

»Die neue elektrische Leitung ist bisher nur imSpeisezimmer eingeführt«, erklärte Klara. »Wir habendieses Haus erst vor kurzem gekauft und es gänzlich

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umbauen lassen, soweit sich ein altes Haus mit seinereigensinnigen Bauart überhaupt umbauen läßt.«

»Da gibt es also auch schon in Amerika alte Häu-ser«, sagte Karl.

»Natürlich«, sagte Klara lachend und zog ihn wei-ter. »Sie haben merkwürdige Begriffe von Amerika.«

»Sie sollen mich nicht auslachen«, sagte er ärger-lich. Schließlich kannte er schon Europa und Ameri-ka, sie aber nur Amerika.

Im Vorübergehen stieß Klara mit leicht ausge-streckter Hand eine Tür auf und sagte, ohne anzuhal-ten: »Hier werden Sie schlafen.«

Karl wollte sich natürlich das Zimmer gleich an-schauen, aber Klara erklärte ungeduldig und fastschreiend, das habe doch Zeit und er solle nur vorhermitkommen. Sie zogen sich auf dem Gang ein wenighin und her, schließlich meinte Karl, er müsse sichnicht in allem nach Klara richten, riß sich los und tratin das Zimmer. Ein überraschendes Dunkel vor demFenster erklärte sich durch einen Baumwipfel, dersich dort in seinem vollen Umfang wiegte. Man hörteVogelgesang. Im Zimmer selbst, das vom Mondlichtnoch nicht erreicht war, konnte man allerdings fastgar nichts unterscheiden. Karl bedauerte, die elektri-sche Taschenlampe, die er vom Onkel geschenkt be-kommen hatte, nicht mitgenommen zu haben. In die-sem Hause war ja eine Taschenlampe unentbehrlich,

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hätte man ein paar solcher Lampen gehabt, hätte mandie Diener schlafen schicken können. Er setzte sichaufs Fensterbrett und sah und horchte hinaus. Ein auf-gestörter Vogel schien sich durch das Laubwerk desalten: Baumes zu drängen. Die Pfeife eines New Yor-ker Vorortzuges erklang irgendwo im Land. Sonstwar es still.

Aber nicht lange, denn Klara kam eilends herein.Sichtlich böse rief sie: »Was soll denn das?« undklatschte auf ihren Rock. Karl wollte erst antworten,wenn sie höflicher geworden war. Aber sie ging mitgroßen Schritten auf ihn zu, rief: »Also wollen Sie mitmir kommen oder nicht?«, stieß ihn mit Absicht oderbloß in der Erregung, derart in die Brust, daß er ausdem Fenster gestürzt wäre, hätte er nicht noch im letz-ten Augenblick, vom Fensterbrett gleitend, mit denFüßen den Zimmerboden berührt.

»Jetzt wäre ich bald hinaus gefallen«, sagte er vor-wurfsvoll.

»Schade, daß es nicht geschehen ist. Warum sindSie so unartig! Ich stoße Sie noch einmal hinunter.«

Und wirklich umfaßte sie ihn und trug ihn, der, zu-erst verblüfft, sich schwer zu machen vergaß, mitihrem vom Sport gestählten Körper fast bis zum Fen-ster. Aber dort besann er sich, machte sich mit einerWendung der Hüften los und umfaßte sie.

»Ach, Sie tun mir wohl«, sagte sie gleich.

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Aber nun glaubte Karl, sie nicht mehr loslassen zudürfen. Er ließ ihr zwar Freiheit, Schritte nach Belie-ben zu machen, folgte ihr aber und ließ sie nicht los.Es war auch so leicht, sie in ihrem engen Kleid zuumfassen.

»Lassen Sie mich«, flüsterte sie, das erhitzte Ge-sicht eng an seinem, er mußte sich anstrengen, sie zusehen, so nahe war sie ihm. »Lassen Sie mich, ichwerde Ihnen etwas Schönes geben.« ›Warum seufztsie so‹, dachte Karl, ›es kann ihr nicht weh tun, ichdrücke sie ja nicht‹, und er ließ sie noch nicht los.Aber plötzlich, nach einem Augenblick unachtsamen,schweigenden Dastehens, fühlte er wieder ihre wach-sende Kraft an seinem Leib, und sie hatte sich ihmentwunden, faßte ihn mit gut ausgenütztem Obergriff,wehrte seine Beine mit Fußstellungen einer fremdarti-gen Kampftechnik ab und trieb ihn vor sich, mit groß-artiger Regelmäßigkeit Atem holend, gegen dieWand. Dort war aber ein Kanapee, auf das legte sieKarl hin und sagte, ohne sich allzusehr zu ihm hinab-zubeugen: »Jetzt rühr dich, wenn du kannst.«

»Katze, tolle Katze«, konnte Karl gerade noch ausdem Durcheinander von Wut und Scham rufen, indem er sich befand. »Du bist ja Wahnsinnig, du tolleKatze!«

»Gib acht auf deine Wortes«, sagte sie und ließ dieeine Hand zu seinem Halse gleiten, den sie so stark zu

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würgen anfing, daß Karl ganz unfähig war, etwas an-deres zu tun als Luft zu schnappen, während sie mitder anderen Hand an seine Wange fuhr, wie probe-weise sie berührte, sie wieder und zwar immer weiterin die Luft zurückzog und jeden Augenblick mit einerOhrfeige niederfallen lassen konnte.

»Wie wäre es«, fragte sie dabei, »wenn ich dich zurStrafe für dein Benehmen einer Dame gegenüber miteiner tüchtigen Ohrfeige nach Hause schicken wollte?Vielleicht wäre es dir nützlich für deinen künftigenLebensweg, wenn es auch keine schöne Erinnerungabgeben würde. Du tust mir ja leid und bist ein er-träglich hübscher Junge und, hättest du Jiu-Jitsu ge-lernt, hättest du wahrscheinlich mich durchgeprügelt.Trotzdem, trotzdem - es verlockt mich geradezu rie-sig, dich zu ohrfeigen, so wie du jetzt daliegst. Ichwerde es wahrscheinlich bedauern; wenn ich es abertun sollte, so wisse schon jetzt, daß ich es fast gegenmeinen Willen tun werde. Und ich werde mich dannnatürlich nicht mit einer Ohrfeige begnügen, sondernrechts und links schlagen, bis dir die Backen an-schwellen. Und vielleicht bist du ein Ehrenmann, -ich möchte es fast glauben - und wirst mit den Ohr-feigen nicht weiterleben wollen und dich aus der Weltschaffen. Aber warum bist du auch so gegen mich ge-wesen, gefalle ich dir vielleicht nicht? Lohnt es sichnicht, auf mein Zimmer zu kommen? Achtung! Jetzt

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hätte ich dir schon fast unversehens die Ohrfeige auf-geputzt. Wenn du heute also noch so loskommen soll-test, benimm dich nächstens feiner. Ich bin nicht deinOnkel, mit dem du trotzen kannst. Im übrigen will ichdich noch darauf aufmerksam machen, daß du, wennich dich ungeohrfeigt loslasse, nicht glauben mußt,daß deine jetzige Lage und wirkliches Geohrfeigt wer-den vom Standpunkt der Ehre aus das gleiche sind.Solltest du das glauben wollen, so würde ich es dochvorziehen, dich wirklich zu ohrfeigen. Was wohlMack sagen wird, wenn ich ihm das alles erzähle.«

Bei der Erinnerung an Mack ließ sie Karl los, inseinen undeutlichen Gedanken erschien ihm Mack wieein Befreier. Er fühlte noch ein Weilchen KlarasHand an seinem Hals, wand sich daher noch einwenig und lag dann still.

Sie forderte ihn auf, aufzustehen, er antwortetenicht und rührte sich nicht. Sie entzündete irgendwoeine Kerze, das Zimmer bekam Licht, ein blaues Zick-zackmuster erschien auf dem Plafond, aber Karl lag,den Kopf aufs Sofapolster aufgestützt so, wie ihnKlara gebettet hatte, und wandte ihn nicht einen Fin-gerbreit. Klara ging im Zimmer herum, ihr Rockrauschte um ihre Beine, wahrscheinlich beim Fensterblieb sie eine lange Weile stehen.

»Ausgetrotzt?« hörte man sie dann fragen.Karl empfand es schwer, in diesem Zimmer, das

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ihm doch von Herrn Pollunder für diese Nacht zuge-dacht war, keine Ruhe bekommen zu können. Dawanderte dieses Mädchen herum, blieb stehen und re-dete, und er hatte sie doch so unaussprechlich satt.Rasch schlafen und von hier fortgehen war sein einzi-ger Wunsch. Er wollte gar nicht mehr ins Bett, nurhier auf dem Kanapee wollte er bleiben. Er lauerte nurdarauf, daß sie wegginge, um hinter ihr her zur Tür zuspringen, sie zu verriegeln, und dann wieder zurückauf das Kanapee sich zu werfen. Er hatte ein solchesBedürfnis, sich zu strecken und zu gähnen, aber vorKlara wollte er das nicht tun. Und so lag er, starrtehinauf, fühlte sein Gesicht immer unbeweglicher wer-den und eine ihn umkreisende Fliege flimmerte ihm;vor den Augen, ohne daß er recht wußte, was es war.

Klara trat wieder zu ihm, beugte sich in die Rich-tung seiner Blicke und, hätte er sich nicht bezwungen,hätte er sie schon anschauen müssen.

»Ich gehe jetzt«, sagte sie. »Vielleicht bekommstdu später Lust, zu mir zu kommen. Die Tür zu meinenZimmern ist die vierte, von dieser Tür aus gerechnet,auf dieser Seite des Ganges. Du gehst also an dreiweiteren Türen vorüber und die, zu welcher du dannkommst, ist die richtige. Ich gehe nicht mehr hinunterin den Saal, sondern bleibe schon in meinem Zimmer.Du hast mich aber auch ordentlich müde gemacht. Ichwerde nicht gerade auf dich warten, aber wenn du

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kommen willst, so komm. Erinnere dich, daß du ver-sprochen hast, mir auf dem Klavier vorzuspielen.Aber vielleicht habe ich dich ganz entnervt und dukannst dich nicht mehr rühren, dann bleib und schlafdich aus. Dem Vater sage ich vorläufig von unsererRauferei kein Wort; ich bemerke das für den Fall, daßdir das Sorge machen sollte.« Darauf lief sie trotzihrer angeblichen Müdigkeit mit zwei Sprüngen ausdem Zimmer.

Sofort setzte sich Karl aufrecht, dieses Liegen warschon unerträglich geworden. Um ein wenig Bewe-gung zu machen, ging er zur Tür und sah auf denGang hinaus. War dort aber eine Finsternis! Er warfroh, als er die Tür zugemacht und abgesperrt hatteund wieder bei seinem Tisch im Schein der Kerzestand. Sein Entschluß war, nicht länger in diesemHaus zu bleiben, sondern hinunter zu Herrn Pollunderzu gehen, ihm offen zu sagen, wie ihn Klara behandelthatte - am Eingeständnis seiner Niederlage lag ihmgar nichts - und mit dieser wohl genügenden Begrün-dung um die Erlaubnis zu bitten, nach Hause fahrenoder gehen zu dürfen. Sollte Herr Pollunder etwasgegen diese sofortige Heimkehr einzuwenden haben,dann wollte ihn Karl wenigstens bitten, ihn durcheinen Diener zum nächsten Hotel führen zu lassen. Indieser Weise, wie sie Karl plante, ging man zwarsonst in der Regel nicht mit freundlichen Gastgebern

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um, aber noch seltener ging man mit einem Gaste der-art um, wie es Klara getan hatte. Sie hatte sogar nochihr Versprechen, dem Herrn Pollunder von der Raufe-rei vorläufig nichts zu sagen, für eine Freundlichkeitgehalten, das war aber schon himmelschreiend. Ja,war denn Karl zu einem Ringkampf eingeladen wor-den, so daß es für ihn beschämend gewesen wäre, voneinem Mädchen geworfen zu werden, das wahrschein-lich den größten Teil ihres Lebens mit dem Lernenvon Ringkämpferknien verbracht hatte? Am Endehatte sie gar von Mack Unterricht bekommen. Mochtesie ihm nur alles erzählen; der war sicher einsichtig,das wußte Karl, obwohl er niemals Gelegenheit ge-habt hatte, das im einzelnen zu erfahren Karl wußteaber auch, daß, wenn Mack ihn unterrichtete, er nochviel größere Fortschritte als Klara machen würde;dann käme er eines Tages wieder hierher, höchstwahr-scheinlich uneingeladen, untersuchte natürlich zuerstdie Örtlichkeit, deren genaue Kenntnis ein großerVorteil Klaras gewesen war, packte dann diese glei-che Klara und klopfte mit ihr das gleiche Kanapeeaus, auf das sie ihn heute geworfen hatte.

Jetzt handelte es sich nur darum, den Weg zumSaal zurückzufinden, wo er ja wahrscheinlich auchseinen Hut in der ersten Zerstreutheit auf einen unpas-senden Platz gelegt hatte. Die Kerze wollte er natür-lich mitnehmen, aber selbst bei Licht war es nicht

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leicht, sich auszukennen. Er wußte zum Beispiel nichteinmal, ob dieses Zimmer in der gleichen Ebene wieder Saal gelegen war. Klara hatte ihn auf dem Herwegimmer so gezogen, daß er sich gar nicht hatte umse-hen können. Herr Green und die leuchtertragendenDiener hatten ihm auch zu denken gegeben; kurz, erwußte jetzt tatsächlich nicht einmal, ob sie eine oderzwei oder vielleicht gar keine Treppe passiert hatten.Nach der Aussicht zu schließen, lag das Zimmerziemlich hoch, und er suchte sich deshalb einzubil-den, daß sie über Treppen gekommen waren, aberschon zum Hauseingang hatte man ja über Treppensteigen müssen, warum konnte nicht auch diese Seitedes Hauses erhöht sein, Aber wenn wenigstens aufdem Gang irgendwo ein Lichtschein aus einer Tür zusehen oder eine Stimme aus der Ferne auch noch soleise zu hören gewesen wäre!

Seine Taschenuhr, ein Geschenk des Onkels, zeigteelf Uhr, er nahm die Kerze und ging auf den Ganghinaus. Die Tür ließ er offen um für den Fall, als seinSuchen vergeblich wäre, wenigstens sein Zimmer wie-derzufinden und danach, für den äußersten Notfall,die Tür zu Klaras Zimmer. Zur Sicherheit, damit sichdie Türe nicht von selbst schließe, verstellte er sie miteinem Sessel. Auf dem Gange zeigte sich der Übel-stand, daß gegen Karl - er ging natürlich von KlarasTüre weg nach links - ein Luftzug strich, der zwar

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ganz schwach war, aber immerhin leicht die Kerzehätte auslöschen können, so daß Karl die Flamme mitder Hand schützen und überdies öfters stehenbleibenmußte, damit die niedergedrückte Flamme sicher hole.Es war ein langsames Vorwärtskommen, und der Wegschien dadurch doppelt lang. Karl war schon an gro-ßen Strecken der Wände vorübergekommen, die gänz-lich ohne Türen waren, man konnte sich nicht vorstel-len, was dahinter war. Dann kam wieder Tür an Tür,er versuchte, mehrere zu öffnen, sie waren versperrtund die Räume offenbar unbewohnt. Es war eineRaumverschwendung sondergleichen, und Karl dachtean die östlichen New Yorker Quartiere, die ihm derOnkel zu zeigen versprochen hatte, wo angeblich ineinem kleinen Zimmer mehrere Familien wohnten unddas Heim einer Familie in einem Zimmerwinkel be-stand, in dem sich die Kinder um ihre Eltern scharten.Und hier standen so viele Zimmer leer und waren nurdazu da, um hohl zu klingen, wenn man an die Türschlug. Herr Pollunder schien Karl irregeführt zu seinvon falschen Freunden und vernarrt in seine Tochterund dadurch verdorben. Der Onkel hatte ihn sicherrichtig beurteilt, und nur sein Grundsatz, auf die Men-schenbeurteilung Karls keinen Einfluß zu nehmen,schuld an diesem Besuch und an diesen Wanderungenauf den Gängen. Karl wollte das morgen dem Onkelohne Weiteres sagen, denn nach seinem Grundsatz

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würde der Onkel auch das Urteil des Neffen über ihngerne und ruhig anhören. Überdies war dieser Grund-satz vielleicht das einzige, was Karl an seinem Onkelnicht gefiel, und selbst dieses Nichtgefallen war nichtunbedingt.

Plötzlich hörte die Wand an der einen Gangseiteauf, und ein eiskaltes marmornes Geländer trat an ihreStelle. Karl stellte die Kerze neben sich und beugtesich vorsichtig hinüber. Dunkle Leere wehte ihm ent-gegen. Wenn das die Haupthalle des Hauses war - imSchimmer der Kerze erschien ein Stück einer gewöl-beartig geführten Decke -, warum war man nichtdurch diese Halle eingetreten? Wozu diente nur diesergroße, tiefe Raum? Man stand ja hier oben wie aufder Galerie einer Kirche. Karl bedauerte fast, nicht bismorgen in diesem Hause bleiben zu können, er hättegern bei Tageslicht von Herrn Pollunder sich überallherumführen und über alles unterrichten lassen.

Das Geländer war übrigens nicht lang, und baldwurde Karl wieder vom geschlossenen Gang aufge-nommen. Bei einer plötzlichen Wendung des Gangesstieß Karl mit ganzer Wucht an die Mauer, und nurdie ununterbrochene Sorgfalt, mit der er die Kerzekrampfhaft hielt, bewahrte sie glücklicherweise vordem Fallen und Auslöschen. Da der Gang kein Endenehmen wollte, nirgends ein Fenster einen Ausblickgab, weder in der Höhe noch in der Tiefe sich etwas

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rührte, dachte Karl schon, er gehe immerfort im glei-chen Kreisgang in der Runde, und hoffte schon, dieoffene Tür seines Zimmers vielleicht wiederzufinden,aber weder sie noch das Geländer kehrte wieder. Bisjetzt hatte sich Karl von lautem Rufen zurückgehal-ten, denn er wollte in einem fremden Haus zu so spä-ter Stunde keinen Lärm machen, aber jetzt sah er ein,daß es in diesem unbeleuchteten Hause kein Unrechtwar, und machte sich gerade daran, nach beiden Sei-ten des Ganges ein lautes »Hallo!« zu schreien, als erin der Richtung, aus der er gekommen war, ein klei-nes, sich näherndes Licht bemerkte. Jetzt konnte ererst die Länge des geraden Ganges abschätzen; dasHaus war eine Festung, keine Villa. Karls Freudeüber dieses rettende Licht war so groß, daß er alleVorsicht vergaß und darauf zulief; schon bei den er-sten Sprüngen löschte seine Kerze aus. Er achtetenicht darauf, denn er brauchte sie nicht mehr, hierkam ihm ein alter Diener mit einer Laterne entgegen,der ihm den richtigen Weg schon zeigen würde.

»Wer sind Sie?« fragte der Diener und hielt Karldie Laterne ans Gesicht, wodurch er gleichzeitig seineigenes beleuchtete. Sein Gesicht erschien etwas steifdurch einen großen, weißen Vollbart, der erst auf derBrust in seidenartige Ringel ausging. ›Es muß eintreuer Diener sein, dem man das Tragen eines solchenBartes erlaubt‹, dachte Karl und sah diesen Bart

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unverwandt der Länge und Breite nach an, ohne sichdadurch behindert zu fühlen, daß er selbst beobachtetwurde. Im übrigen antwortete er sofort, daß er derGast des Herrn Pollunder sei, aus seinem Zimmer indas Speisezimmer gehen wolle und es nicht findenkönne.

»Ach so«, sagte der Diener »wir haben das elektri-sche Licht noch nicht eingeführt.«

»Ich weiß«, sagte Karl.»Wollen Sie nicht Ihre Kerze an meiner Lampe an-

zünden?« fragte der Diener.»Bitte«, sagte Karl und tat es.»Es zieht hier so auf den Gängen«, sagte der Die-

ner »die Kerze löscht leicht aus, darum habe ich eineLaterne.«

»Ja, eine Laterne ist viel praktischer«, sagte Karl.»Sie sind auch schon von der Kerze ganz betropft«,

sagte der Diener und leuchtete mit der Kerze KarlsAnzug ab.

»Das habe ich ja gar nicht bemerkt!« rief Karl, undes tat ihm sehr leid, da es ein schwarzer Anzug war,von dem der Onkel gesagt hatte, er passe ihm am be-sten von allen. Die Rauferei mit Klara dürfte demAnzug auch nicht genützt haben, erinnerte er sichjetzt. Der Diener war gefällig genug, den Anzug zureinigen, so gut es in der Eile ging; immer wiederdrehte sich Karl vor ihm herum und zeigte ihm noch

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hier und dort einen Fleck, den der Diener folgsam ent-fernte.

»Warum zieht es denn hier eigentlich so?« fragteKarl, als sie schon weitergingen.

»Es ist hier eben noch viel zu bauen«, sagte derDiener, »man hat zwar mit dem Umbau schon ange-fangen, aber es geht sehr langsam. Jetzt streiken auchnoch die Bauarbeiter, wie Sie vielleicht wissen. Manhat viel Ärger mit so einem Bau. Jetzt sind da einpaar große Durchbrüche gemacht worden, die nie-mand vermauert, und die Zugluft geht durch dasganze Haus. Wenn ich nicht die Ohren voll Wattehätte, könnte ich nicht bestehen.«

»Da muß ich wohl lauter reden?«, fragte Karl.»Nein, Sie haben eine klare Stimme«, sagte der

Diener. »Aber um auf diesen Bau zurückzukommen;besonders, hier in der Nähe der Kapelle, die späterunbedingt von dem übrigen Haus abgesperrt werdenmuß, ist die Zugluft gar nicht auszuhalten.«

»Die Brüstung, an der man in diesem Gang vor-überkommt, geht also in eine Kapelle hinaus?«

»Ja.«›Das habe ich mir gleich gedacht‹, sagte Karl.»Sie ist sehr sehenswert«, sagte der Diener, »wäre

sie nicht gewesen, hätte wohl Herr Mack das Hausnicht gekauft.

Herr Mack?« fragte Karl , »ich dachte, das Haus

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gehöre Herrn Pollunder?«»Allerdings«, sagte der Diener »aber Herr Mack

hat doch bei diesem Kauf den Ausschlag gegeben. Siekennen Herrn Mack nicht?«

»O ja«, sagte Karl. »Aber in welcher Verbindungist er denn mit Herrn Pollunder?«

»Er ist der Bräutigam des Fräuleins«, sagte derDiener.

»Das wußte ich freilich nicht«, sagte Karl undblieb stehen.

»Setzt Sie das in solches Erstaunen?« fragte derDiener.

»Ich will es mir nur zurechtlegen. Wenn man sol-che Beziehungen nicht kennt, kann man ja die größtenFehler machen«, antwortete Karl.

»Es wundert mich nur, daß man Ihnen davon nichtsgesagt hat«, sagte der Diener.

»Ja, wirklich«, sagte Karl beschämt.»Wahrscheinlich dachte man, Sie wüßten es«,

sagte der Diener, »es ist ja keine Neuigkeit. Hier sindwir übrigens«, und öffnete eine Türe, hinter der sicheine Treppe zeigte, die senkrecht zu der Hintertüredes ebenso wie bei der Ankunft hell beleuchtetenSpeisezimmers führte.

Ehe Karl in das Speisezimmer eintrat, aus dem mandie Stimmen Herrn Pollunders und Herrn Greens un-verändert wie vor nun wohl schon zwei Stunden

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hörte, sagte der Diener: »Wenn Sie wollen, erwarteich Sie hier und führe Sie dann in Ihr Zimmer. Esmacht immerhin Schwierigkeiten, sich gleich am er-sten Abend hier auszukennen.«

»Ich werde nicht mehr in mein Zimmer zurückkeh-ren«, sagte Karl und wußte nicht, warum er bei dieserAuskunft traurig wurde.

»Es wird nicht so arg sein«, sagte der Diener, einwenig überlegen lächelnd, und klopfte ihm auf denArm. Er hatte sich wahrscheinlich Karls Worte dahinerklärt, daß Karl beabsichtige, während der ganzenNacht im Speisezimmer zu bleiben, sich mit den Her-ren zu unterhalten und mit ihnen zu trinken. Karlwollte jetzt keine Bekenntnisse machen, außerdemdachte er, der Diener, der ihm besser gefiel als die an-deren hiesigen Diener, könne ihm ja dann dieWegrichtung nach New York zeigen, und sagte des-halb: »Wenn Sie hier warten wollen, so ist das sicher-lich eine große Freundlichkeit von Ihnen, und ichnehme sie dankbar an. Jedenfalls werde ich in einerkleinen Weile herauskommen und Ihnen dann sagen,was ich weiter tun werde. Ich denke schon, daß mirIhre Hilfe noch nötig sein wird.« »Gut«, sagte derDiener, stellte die Laterne auf den Boden und setztesich auf ein niedriges Postament, dessen Leere wahr-scheinlich auch mit dem Umbau des Hauses zusam-menhing. »Ich werde also hier warten. Die Kerze

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können Sie auch bei mir lassen«, sagte der Dienernoch, als Karl mit der brennenden Kerze in den Saalgehen wollte.

»Ich bin aber zerstreut«, sagte Karl und reichte dieKerze dem Diener hin, welcher ihm bloß zunickte,ohne daß man wußte, ob er es mit Absicht tat oder obes eine Folge dessen war, daß er mit der Hand seinenBart strich.

Karl öffnete die Tür, die ohne seine Schuld laut er-klärte, denn sie bestand aus einer einzigen Glasplatte,die sich fast bog, wenn die Tür rasch geöffnet und nuran der Klinke festgehalten wurde. Karl ließ die Türerschrocken los, denn er hatte gerade besonders stilleintreten wollen.

Ohne sich mehr umzudrehen, merkte er noch, wiehinter ihm der Diener, der offenbar von seinem Posta-ment herabgestiegen war, vorsichtig und ohne das ge-ringste Geräusch, die Tür schloß.

»Verzeihen Sie, daß ich störe«, sagte er zu den bei-den Herren, die ihn mit ihren großen, erstaunten Ge-sichtern ansahen. Gleichzeitig aber überflog er miteinem Blick den Saal, ob er nicht irgendwo schnellseinen Hut finden könne. Er war aber nirgends zusehen, der Eßtisch war völlig abgeräumt, vielleichtwar der Hut unangenehmerweise irgendwie in dieKüche fortgetragen worden.

»Wo haben Sie denn Klara gelassen?« fragte Herr

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Pollunder, dem übrigens die Störung nicht unliebschien, denn er setzte sich gleich anders in seinemFauteuil und kehrte Karl seine ganze Front zu. HerrGreen spielte den Unbeteiligten, zog eine Brieftascheheraus, die an Größe und Dicke ein Ungeheuer ihrerArt war, schien in den vielen Taschen ein bestimmtesStück zu suchen, las aber während des Suchens auchandere Papiere, die ihm gerade in die Hand kamen.

»Ich hätte eine Bitte, die Sie nicht mißverstehendürfen«, sagte Karl, ging eiligst zu Herrn Pollunderhin und legte, um ihm recht nahe zu sein, die Handauf die Armlehne des Fauteuils.

»Was soll denn das für eine Bitte sein?« fragteHerr Pollunder und sah Karl mit offenem, rückhaltlo-sem Blicke an. »Sie ist natürlich schon erfüllt.« Under legte den Arm um Karl und zog ihn zu sich zwi-schen seine Beine. Karl duldete das gerne, obwohl ersich im allgemeinen doch für eine solche Behandlungallzu erwachsen fühlte. Aber das Aussprechen seinerBitte wurde natürlich schwieriger.

»Wie gefällt es Ihnen denn eigentlich bei uns?«fragte Herr Pollunder.

»Scheint es Ihnen nicht auch, daß man auf demLande sozusagen befreit wird, wenn man aus derStadt herauskommt? Im allgemeinen« - und ein nichtmißzuverstehender, durch Karl etwas verdeckter Sei-tenblick ging auf Herrn Green, »- im allgemeinen

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habe ich dieses Gefühl immer wieder, jeden Abend.«›Er spricht‹, dachte Karl, ›als wüßte er nichts von

dem großen Haus, den endlosen Gängen, der Kapelle,den leeren Zimmern, dem Dunkel überall.‹

»Nun«, sagte Herr Pollunder, »die Bitte!«, und erschüttelte Karl freundschaftlich, der stumm dastand.

»Ich bitte«, sagte Karl und, so sehr er die Stimmedämpfte, es ließ sich nicht vermeiden, daß der dane-ben sitzende Green alles hörte, vor dem Karl dieBitte, die möglicherweise als eine BeleidigungPollunders aufgefaßt werden konnte, so gern ver-schwiegen hätte - »ich bitte, lassen Sie mich nochjetzt, in der Nacht, nach Hause.«

Und da das Ärgste ausgesprochen war, drängtealles andere um so schneller nach, er sagte, ohne diegeringste Lüge zu gebrauchen, Dinge, an die er garnicht eigentlich vorher gedacht hatte. »Ich möchte umalles gerne nach Hause. Ich werde gerne wiederkom-men, denn wo Sie, Herr Pollunder, sind, dort bin auchich gerne. Nur heute kann ich nicht hierbleiben. Siewissen, der Onkel hat mir die Erlaubnis zu diesemBesuch nicht gerne gegeben. Er hat sicher dafür seineguten Gründe gehabt, wie für alles, was er tut, und ichhabe es mir herausgenommen, gegen seine bessereEinsicht die Erlaubnis förmlich zu erzwingen. Ichhabe seine Liebe zu mir einfach mißbraucht. Was fürBedenken er gegen diesen Besuch hatte, ist ja jetzt

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gleichgültig, ich weiß bloß ganz bestimmt, daß nichtsin diesem Bedenken war, was Sie, Herr Pollunder,kränken könnte, der Sie der beste, der allerbesteFreund meines Onkels sind. Kein anderer kann sich inder Freundschaft meines Onkels auch nur im entfern-testen mit Ihnen vergleichen. Das ist ja auch die einzi-ge Entschuldigung für meine Unfolgsamkeit, aberkeine genügende. Sie haben vielleicht keinen genauenEinblick in das Verhältnis zwischen meinem Onkelund mir, ich will daher nur von dem Einleuchtendstensprechen. Solange meine Englischstudien nicht abge-schlossen sind und ich mich im praktischen Handelnicht genügend ungesehen habe, bin ich gänzlich aufdie Güte meines Onkels angewiesen, die ich aller-dings als Blutsverwandter genießen darf. Sie dürfennicht glauben, daß ich schon jetzt irgendwie meinBrot anständig - und vor allem anderen soll michGott bewahren - verdienen könnte. Dazu ist leidermeine Erziehung zu unpraktisch gewesen. Ich habevier Klassen eines europäischen Gymnasiums alsDurchschnittsschüler durchgemacht, und das bedeutetfür den Gelderwerb viel weniger als nichts, denn un-sere Gymnasien sind im Lehrplan sehr rückschrittlich.Sie würden lachen, wenn ich Ihnen erzählen wollte,was ich gelernt habe. Wenn man weiter studiert, dasGymnasium zu Ende macht, an die Universität geht,dann gleicht sich ja wahrscheinlich alles irgendwie

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aus, und man hat zum Schluß eine geordnete Bildung,mit der sich etwas anfangen läßt und die einem dieEntschlossenheit zum Gelderwerb gibt. Ich aber binaus diesem zusammenhängenden Studium leider her-ausgerissen worden; manchmal glaube ich, ich weißgar nichts, und schließlich wäre auch alles, was ichwissen könnte, für Amerikaner noch immer zu wenig.Jetzt werden in meiner Heimat neuestens hie und daReformgymnasien eingerichtet, wo man auch moderneSprachen und vielleicht auch Handelswissenschaftenlernt; als ich aus der Volksschule trat, gab es das nochnicht. Mein Vater wollte mich zwar im Englischenunterrichten lassen, aber erstens konnte ich damalsnicht ahnen, welches Unglück über mich kommenwird und wie ich das Englische brauchen werde, undzweitens mußte ich für das Gymnasium viel lernen, sodaß ich für andere Beschäftigungen nicht besondersviel Zeit hatte. - Ich erwähne das alles, um Ihnen zuzeigen, wie abhängig ich von meinem Onkel bin undwie verpflichtet infolgedessen ich ihm gegenüber auchbin. Sie werden sicher zugeben, daß ich es mir beisolchen Verhältnissen nicht erlauben darf, auch nurdas geringste gegen seinen auch nur geahnten Willenzu tun. Und darum muß ich, um den Fehler, den ichihm gegenüber begangen habe, nur halbwegs wieder-gutzumachen, sofort nach Hause gehen.«

Während dieser langen Rede Karls hatte Herr

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Pollunder aufmerksam zugehört, öfters, besonderswenn der Onkel erwähnt wurde, Karl, wenn auch un-merklich, an sich gedrückt und einige Male ernst undwie erwartungsvoll zu Green hinübergesehen, der sichweiterhin mit seiner Brieftasche beschäftigte. Karlaber war, je deutlicher ihm seine Stellung zum Onkelim Laufe seiner Rede zu Bewußtsein kam, immer un-ruhiger geworden, hatte sich unwillkürlich aus demArm Pollunders zu drängen gesucht. Alles beengteihn hier; der Weg zum Onkel durch die Glastüre, überdie Treppe, durch die Allee, über die Landstraßen,durch die Vorstädte zur großen Verkehrsstraße, ein-mündend in des Onkels Haus, erschien ihm als etwasstreng Zusammengehöriges, das leer, glatt und für ihnvorbereitet dalag und mit einer starken Stimme nachihm verlangte. Herrn Pollunders Güte und HerrnGreens Abscheulichkeit verschwammen, und er wollteaus diesem rauchigen Zimmer nichts anderes für sichhaben als die Erlaubnis zum Abschiednehmen. Zwarfühlte er sich gegen Herrn Pollunder abgeschlossen,gegen Herrn Green kampfbereit, und doch erfüllte ihnringsherum eine unbestimmte Furcht, deren Stößeseine Augen trübten.

Er trat einen Schritt zurück und stand nun gleichweit von Herrn Pollunder und von Herrn Green ent-fernt.»Wollten Sie ihm nicht etwas sagen?« fragteHerr Pollunder Herrn Green und faßte wie bittend

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Herrn Greens Hand.»Ich wüßte nicht, was ich ihm sagen sollte«, sagte

Herr Green, der endlich einen Brief aus seiner Taschegezogen und vor sich auf den Tisch gelegt hatte.

»Es ist recht lobenswert, daß er zu seinem Onkelzurückkehren will, und nach menschlicher Voraus-sicht sollte man glauben, daß er dem Onkel eine be-sondere Freude damit machen wird. Es müßte dennsein, daß er durch seine Unfolgsamkeit den Onkelschon allzu böse gemacht hat, was ja auch möglichist. Dann allerdings wäre es besser, er bliebe hier. Esist eben schwer, etwas Bestimmtes zu sagen; wir sindzwar beide Freunde des Onkels und es dürfte Mühemachen, zwischen meiner und Herrn PollundersFreundschaft Rangunterschiede zu erkennen, aber indas Innere des Onkels können wir nicht hinein schau-en, und ganz besonders nicht über die vielen Kilome-ter hinweg, die uns hier von New York trennen«.

»Bitte, Herr Green«, sagte Karl und näherte sichmit Selbstüberwindung Herrn Green. »Ich höre ausIhren Worten heraus, daß Sie es auch für das bestehalten, wenn ich gleich zurückkehre.«

»Das habe ich durchaus nicht gesagt«, meinte HerrGreen und vertiefte sich in das Anschauen des Brie-fes, an dessen Rändern er mit zwei Fingern hin undher fuhr. Er schien damit andeuten zu wollen, daß ervon Herrn Pollunder gefragt worden sei, ihm auch

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geantwortet habe, währender mit Karl eigentlichnichts zu tun habe.

Inzwischen war Herr Pollunder zu Karl getretenund hatte ihn sanft von Herrn Green weg zu einem dergroßen Fenster gezogen. »Lieber Herr Roßmann«,sagte er, zu Karls Ohr hinabgebeugt, und wischte zurVorbereitung mit dem Taschentuch über sein Gesichtund, bei der Nase innehaltend, schneuzte er sich, »Siewerden doch nicht glauben, daß ich Sie gegen IhrenWillen hier zurückhalten will. Davon ist ja keineRede. Das Automobil kann ich Ihnen zwar nicht zurVerfügung stellen, denn es steht weit von hier in eineröffentlichen Garage, da ich noch keine Zeit hatte, hier,wo alles erst im Werden ist, eine eigene Garage ein-zurichten. Der Chauffeur wiederum schläft nicht hierim Haus, sondern in der Nähe der Garage, ich weißwirklich selbst nicht, wo. Außerdem ist es gar nichtseine Pflicht, jetzt zu Hause zu sein, seine Pflicht istes nur, früh zur rechten Zeit hier vorzufahren. Aberdas alles wären keine Hindernisse für Ihre augen-blickliche Heimkehr, denn wenn Sie darauf bestehen,begleite ich Sie sofort zur nächsten Station der Stadt-bahn, die allerdings so weit entfernt ist, daß Sie nichtviel früher zu Hause ankommen dürften, als wenn Siefrüh - wir fahren ja schon um sieben Uhr - mit mir inmeinem Automobil fahren wollen.«

»Da möchte ich, Herr Pollunder, doch lieber mit

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der Stadtbahn fahren«, sagte Karl.»An die Stadtbahn habe ich gar nicht gedacht. Sie

sagen selbst, daß ich mit der Stadtbahn früher ankom-me, als früh mit dem Automobil.«

»Es ist aber ein ganz kleiner Unterschied.«»Trotzdem, trotzdem, Herr Pollunder«, sagte Karl,

»ich werde in Erinnerung an Ihre Freundlichkeitimmer gerne herkommen, vorausgesetzt natürlich, daßSie mich nach meinem heutigen Benehmen noch ein-laden wollen, und vielleicht werde ich es nächstensbesser ausdrücken können, warum heute jede Minute,um die ich meinen Onkel früher sehe, für mich sowichtig ist.« Und, als hätte er bereits die Erlaubniszum weggehen erhalten, fügte er hinzu: »Aber keines-falls dürfen Sie mich begleiten. Es ist auch ganz un-nötig. Draußen ist ein Diener, der mich gern zur Stati-on begleiten wird. Jetzt muß ich nur noch meinen Hutsuchen.« Und bei den letzten Worten durchschritt erschon das Zimmer, um noch in Eile einen letzten Ver-such zu machen, ob sein Hut doch vielleicht zu findenwäre.

»Könnte ich Ihnen nicht mit einer Mütze aushel-fen?« sagte Herr Green und zog eine Mütze aus derTasche.

»Vielleicht paßt sie Ihnen zufällig.« Verblüfft bliebKarl stehen und sagte: »Ich werde Ihnen doch nichtIhre Mütze wegnehmen. Ich kann ja ganz gut mit

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unbedecktem Kopf gehen. Ich brauche gar nichts«»Es ist nicht meine Mütze. Nehmen Sie nur!«»Dann danke ich«, sagte Karl, um sich nicht aufzu-

halten, und nahm die Mütze. Er zog sie an und lachtezuerst, da sie ganz genau paßte, nahm sie wieder indie Hand und betrachtete sie, konnte aber das Beson-dere, das er an ihr suchte, nicht finden; es war einevollkommen neue Mütze. »Sie paßt so gut!« sagte er.

»Also, sie paßt!« rief Herr Green und schlug aufden Tisch.

Karl ging schon zur Türe zu, um den Diener zuholen, da erhob sich Herr Green, streckte sich nachdem reichlichen Mahl und der vielen Ruhe, klopftestark gegen seine Brust und sagte in einem Ton zwi-schen Rat und Befehl: »Ehe Sie weggehen, müssenSie von Fräulein Klara Abschied nehmen.«

»Das müssen Sie«, sagte auch Herr Pollunder, derebenfalls aufgestanden war. Ihm hörte man es an, daßdie Worte nicht aus seinem Herzen kamen, schwachließ er die Hände an die Hosennaht schlagen undknöpfte immer wieder seinen Rock auf und zu, dernach der augenblicklichen Mode ganz kurz war undkaum zu den Hüften ging, was so dicke Leute wieHerrn Pollunder schlecht kleidete. Übrigens hatteman, wenn er so neben Herrn Green stand, den deutli-chen Eindruck, daß es bei Herrn Pollunder keine ge-sunde Dicke war; der Rücken war in seiner ganzen

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Masse etwas gekrümmt, der Bauch sah weich und un-haltbar aus, eine wahre Last, und das Gesicht erschienbleich und geplagt. Dagegen stand hier Herr Green,vielleicht noch etwas dicker als Herr Pollunder, aberes war eine zusammenhängende, sich gegenseitig tra-gende Dicke, die Füße waren soldatisch zusammenge-klappt, den Kopf trug er aufrecht und schaukelnd; erschien ein großer Turner, ein Vorturner, zu sein.

»Gehen Sie also vorerst«, fuhr Herr Green fort, »zuFräulein Klara. Das dürfte Ihnen sicher Vergnügenmachen und paßt auch sehr gut in meine Zeiteintei-lung hinein. Ich habe Ihnen nämlich tatsächlich, eheSie von hier fortgehen, etwas Interessantes zu sagen,was wahrscheinlich auch für Ihre Rückkehr entschei-dend sein kann. Nur bin ich leider durch höheren Be-fehl gebunden, Ihnen vor Mitternacht nichts zu verra-ten. Sie können sich vorstellen, daß mir das selbstleid tut, denn es stört meine Nachtruhe, aber ich haltemich an meinen Auftrag. Jetzt ist es viertel zwölf, ichkann also meine Geschäfte noch mit Herrn Pollunderzu Ende besprechen, wobei Ihre Gegenwart nur störenwürde, und Sie können ein hübsches Weilchen mitFräulein Klara verbringen. Punkt zwölf stellen Siesich dann hier ein, wo Sie das Nötige erfahren wer-den.«

Konnte Karl diese Forderung ablehnen, die vonihm wirklich nur das Geringste an Höflichkeit und

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Dankbarkeit gegenüber Herrn Pollunder verlangteund die überdies ein sonst unbeteiligter, roher Mannstellte, während Herr Pollunder, den es anging, sichmit Worten und Blicken möglichst zurückhielte. Undwas war jenes Interessante, das er erst um Mitternachterfahren durfte? Wenn es seine Heimkehr nicht we-nigstens um die dreiviertel Stunde beschleunigte, umdie sie jetzt verschob, interessierte es ihn wenig. Abersein größter Zweifel, ob er überhaupt zu Klara gehenkonnte, die doch seine Feindin war. Wenn er wenig-stens das Schlageisen bei sich gehabt hätte, das ihmder Onkel als Briefbeschwerer geschenkt hatte! DasZimmer Klaras mochte ja eine recht gefährliche Höhlesein. Aber nun war es ja ganz und gar unmöglich, hiergegen Klara das Geringste zu sagen, da sie PollundersTochter und, wie er jetzt gehört hatte, gar MacksBraut war. Sie hätte ja nur um eine Kleinigkeit anderssich zu ihm verhalten müssen, und er hätte sie wegenihrer Beziehungen offen bewundert. Noch überlegte erdas alles, aber schon merkte er, daß man keine Über-legungen von ihm verlangte, denn Green öffnete dieTür und sagte dem Diener, der vom Postamentesprang: »Führen Sie diesen jungen Mann zu FräuleinKlara«.

›So führt man Befehle aus‹, dachte Karl, als ihn derDiener, fast laufend, stöhnend vor Altersschwäche,auf einem besonders kurzen Weg zu Klaras Zimmer

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zog. Als Karl an seinem Zimmer vorüberkam, dessenTür noch immer offen stand, wollte er, vielleicht zuseiner Beruhigung, für einen Augenblick eintreten.Der Diener ließ das aber nicht zu.

»Nein«, sagte er, »Sie müssen zu Fräulein Klara.Sie haben es ja selbst gehört.«

»Ich würde mich nur einen Augenblick drinnen auf-halten«, sagte Karl, und er dachte daran, sich zur Ab-wechslung ein wenig auf das Kanapee zu werfen,damit ihm die Zeit rascher gegen Mitternacht vor-rücke.

»Erschweren Sie mir die Ausführung meines Auf-trages nicht«, sagte der Diener.

›Er scheint es für eine Strafe zu halten, daß ich zuFräulein Klara gehen muß‹, dachte Karl und machteein paar Schritte, blieb aber aus Trotz wieder stehen.

»Kommen Sie doch, junger Herr«, sagte der Die-ner, »wenn Sie nun schon einmal hier sind. Ich weiß,Sie wollten noch in der Nacht weggehen, es geht ebennicht alles nach Wunsch, ich habe es Ihnen ja gleichgesagt, daß es kaum möglich sein wird.«

»Ja, ich will weggehen und werde auch weggehen«,sagte Karl, »und will jetzt nur von Fräulein Klara Ab-schied nehmen.«

»So?« sagte der Diener, und Karl sah ihm wohl an,daß er kein Wort davon glaubte.

»Warum zögern Sie also, Abschied zu nehmen;

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kommen Sie doch.«»Wer ist auf dem Gang?« ertönte Klaras Stimme,

und man sah sie aus einer nahen Tür sich vorbeugen,eine große Tischlampe mit rotem Schirm in der Hand.Der Diener eilte zu ihr hin und erstattete die Meldung.Karl ging ihm langsam nach.

»Sie kommen spät«, sagte Klara.Ohne ihr vorläufig zu antworten, sagte Karl zum

Diener leise, aber, da er seine Natur schon kannte, imTon strengen Befehls: »Sie warten auf mich knappvor dieser Tür!«

»Ich wollte schon schlafen gehen«, sagte Klara undstellte die Lampe auf den Tisch. Wie unten im Speise-zimmer schloß auch hier wieder der Diener vorsichtigvon außen die Tür. »Es ist ja schon halb zwölf vor-über.«

»Halb zwölf vorüber?« wiederholte Karl fragend,wie erschrocken über diese Zahlen. »Dann muß ichmich aber sofort Verabschieden«, sagte Karl, »dennPunkt zwölf muß ich schon unten im Speisesaalsein.«

»Was Sie für eilige Geschäfte haben«, sagte Klaraund ordnete zerstreut die Falten ihres losen Nachtklei-des. Ihr Gesicht glühte und immerfort lächelte sie.Karl glaubte, zu erkennen, daß keine Gefahr bestand,mit Klara wieder in Streit zu geraten. »Könnten Sienicht doch noch ein wenig Klavier spielen, wie es mir

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gestern Papa und heute Sie selbst versprochenhaben?«

»Ist es nicht aber schon zu spät?« fragte Karl. Erhätte ihr gern gefällig sein wollen, denn sie war ganzanders als vorher, so als wäre sie irgendwie aufgestie-gen in dem Kreise Pollunders und weiterhin Macks.

»Spät ist es schon«, sagte sie, und es schien ihr dieLust zur Musik schon vergangen zu sein. »Dann wi-derhallt hier auch jeder Ton im ganzen Hause, ich binüberzeugt, wenn Sie spielen, wacht noch oben in derDachkammer die Dienerschaft auf.

Dann lasse ich also das Spiel, ich hoffe ja bestimmtnoch wiederzukommen; übrigens, wenn es Ihnenkeine besondere Mühe macht, besuchen Sie doch ein-mal meinen Onkel und schauen Sie bei der Gelegen-heit auch in mein Zimmer. Ich habe ein prachtvollesPiano. Der Onkel hat es mir geschenkt. Dann spieleich Ihnen, wenn es Ihnen recht ist, alle meine Stück-chen vor, es sind leider nicht viele, und sie passenauch gar nicht zu einem so großen Instrument, aufdem nur Virtuosen sich hören lassen sollten. Aberauch dieses Vergnügen werden Sie haben können,wenn Sie mich von Ihrem Besuch vorher verständi-gen, denn der Onkel will nächstens einen berühmtenLehrer für mich engagieren . - Sie können sich den-ken, wie ich mich darauf freue -, und dessen Spielwird allerdings dafür stehen, mir während der

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Unterrichtsstunde einen Besuch zu machen. Ich bin,wenn ich ehrlich sein soll, froh, daß es für das Spielschon zu spät ist, denn ich kann noch gar nichts, Siewürden staunen, wie wenig ich kann. Und nun erlau-ben Sie, daß ich mich verabschiede, schließlich ist esja doch schon Schlafenszeit.« Und weil ihn Klaragütig ansah und ihm wegen der Rauferei gar nichtsnachzutragen schien, fügte er lächelnd hinzu, währender ihr die Hand reichte: »In meiner Heimat pflegt manzu sagen: ›Schlafe wohl und träume süß‹«

»Warten Sie«, sagte sie, ohne die Hand anzuneh-men, »vielleicht sollten Sie doch spielen.« Und sieverschwand durch eine kleine Seitentür, neben der dasPiano stand.

›Was ist denn‹, dachte Karl. ›Lange kann ich nichtwarten, so lieb sie auch ist.‹ Es klopfte an der Gang-türe, und der Diener, der die Türe nicht ganz zu öff-nen wagte, flüsterte durch einen kleinen Spalt: »Ver-zeihen Sie, ich wurde soeben abberufen und kannnicht mehr warten.«

»Gehen Sie nur«, sagte Karl, der sich nun getraute,den Weg ins Speisezimmer allein zu finden. »LassenSie mir nur die Laterne vor der Türe. Wie spät ist esübrigens?«

»Bald dreiviertel zwölf«, sagte der Diener.»Wie langsam die Zeit vergeht«, sagte Karl. Der

Diener wollte schon die Türe schließen, da erinnerte

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sich Karl, daß er ihm noch kein Trinkgeld gegebenhatte, nahm einen Schilling aus der Hosentasche ertrug jetzt immer Münzengeld, nach amerikanischerSitte lose klingelnd, in der Hosentasche, Banknotendagegen in der Westentasche und reichte ihn demDiener mit den Worten: »Für Ihre guten Dienste«

Klara war schon wieder eingetreten, die Hände anihrer festen Frisur, als es Karl einfiel, daß er den Die-ner doch nicht hätte wegschicken sollen, denn werwürde ihn jetzt zur Station der Stadtbahn führen?Nun, da würde wohl schon Herr Pollunder einen Die-ner noch auftreiben können, vielleicht war übrigensdieser Diener ins Speisezimmer gerufen worden undwürde dann zur Verfügung stehen.

»Ich bitte Sie also doch, ein wenig zu spielen. Manhört hier so selten Musik, daß man sich keine Gele-genheit, sie zu hören, entgehen lassen will.«

»Dann ist es aber höchste Zeit«, sagte Karl ohneweitere Überlegung und setzte sich gleich zum Kla-vier.

»Wollen Sie Noten haben?« fragte Klara.»Danke, ich kann ja Noten nicht einmal vollkom-

men lesen«, antwortete Karl und spielte schon. Es warein kleines Lied, das, wie Karl wohl wußte, ziemlichlangsam hätte gespielt werden müssen, um, besondersfür Fremde, auch nur verständlich zu sein, aber er hu-delte es in ärgstem Marschtempo hinunter. Nach der

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Beendigung fuhr die gestörte Stille des Hauses wie ingroßem Gedränge wieder an ihren Platz. Man saß wiebenommen da und rührte sich nicht.

»Ganz schön«, sagte Klara, aber es gab keine Höf-lichkeitsformel, die Karl nach diesem Spiel hätteschmeicheln können.

»Wie spät ist es?«, fragte er.»Dreiviertel zwölf«»Dann habe ich noch ein Weilchen Zeit«, sagte er

und dachte bei sich: Entweder - oder. »Ich muß janicht alle zehn Lieder spielen, die ich kann, aber eineskann ich nach Möglichkeit gut spielen« Und er fingsein geliebtes Soldatenlied an. So langsam, daß dasaufgestörte Verlangen des Zuhörers sich nach dernächsten Note streckte, die Karl zurückhielt und nurschwer hergab. Er mußte ja tatsächlich bei jedem Lieddie nötigen Tasten mit den Augen erst zusammensu-chen, aber außerdem fühlte er in sich ein Leid entste-hen, das, über das Ende des Liedes hinaus, ein ande-res Ende suchte und es nicht finden konnte. »Ich kannja nichts«, sagte Karl nach Schluß des Liedes und sahKlara mit Tränen in den Augen an.

Da ertönte aus dem Nebenzimmer lautes Hände-klatschen. »Es hört noch jemand zu!« rief Karl aufge-rüttelt.

»Mack«, sagte Klara leise. Und schon hörte manMack rufen: »Karl Roßmann, Karl Roßmann!«

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Karl schwang sich mit beiden Füßen zugleich überdie Klavierbank und öffnete die Tür. Er sah dortMack in einem großen Himmelbett halb liegend sit-zen, die Bettdecke war lose über die Beine geworfen.Der Baldachin aus blauer Seide war die einzige, einwenig mädchenhafte Pracht des sonst einfachen, ausschwerem Holz eckig gezimmerten Bettes. Auf demNachttischchen brannte nur eine Kerze, aber die Bett-wäsche und Macks Hemd waren so weiß, daß dasüber sie fallende Kerzenlicht in fast blendendem Wi-derschein von ihnen strahlte; auch der Baldachinleuchtete, wenigstens am Rande, mit seiner leicht ge-wellten, nicht ganz fest gespannten Seide. Gleich hin-ter Mack versank aber das Bett und alles in vollstän-digem Dunkel. Klara lehnte sich an den Bettpfostenund hatte nur noch Augen für Mack.

»Servus«, sagte Mack und reichte Karl die Hand.»Sie spielen ja recht gut, bisher habe ich bloß IhreReitkunst gekannt«.

»Ich kann das eine so schlecht wie das andere«,sagte Karl.»Wenn ich gewußt hätte, daß Sie zuhören,hätte ich bestimmt nicht gespielt Aber Ihr Fräulein«er unterbrach sich, er zögerte »Braut« zu sagen, daMack und Klara offenbar schon miteinander schliefen.

»Ich ahnte es ja«, sagte Mack, »darum mußte sieKlara aus New York hierherlocken, sonst hätte ich IhrSpiel gar nicht zu hören bekommen. Es ist ja reichlich

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anfängerhaft, und selbst in diesen Liedern, die Siedoch eingeübt hatten und die sehr primitiv gesetztsind, haben Sie einige Fehler gemacht, aber immerhinhat es mich sehr gefreut, ganz abgesehen davon, daßich das Spiel keines Menschen verachte. Wollen Siesich aber nicht setzen und noch ein Weilchen bei unsbleiben? Klara, gib ihm doch einen Sessel.«

»Ich danke«, sagte Karl stockend. »Ich kann nichtbleiben, so gern ich hierbliebe. Zu spät erfahre ich,daß es so wohnliche Zimmer in diesem Hause gibt.«

»Ich baue alles in dieser Art um«, sagte Mack.In diesem Augenblick erklangen zwölf Glocken-

schläge, rasch hintereinander, einer in den Lärm desanderen dreinschlagend. Karl fühlte das Wehen dergroßen Bewegung dieser Glocken an den Wangen.Was war das für ein Dorf, das solche Glocken hatte!

»Höchste Zeit«, sagte Karl, streckte Mack undKlara nur die Hände hin, ohne sie zu fassen, und liefauf den Gang hinaus. Dort fand er die Laterne nichtund bedauerte, dem Diener zu bald das Trinkgeld ge-geben zu haben.

Er wollte sich an der Wand zu der offenen Tür sei-nes Zimmers hintasten, war aber kaum in der Hälftedes Weges, als er Herrn Green mit erhobener Kerzeeilig heranschwanken sah. In der Hand, in der er auchdie Kerze hielt, trug er einen Brief.

»Roßmann, warum kommen Sie denn nicht?

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Warum lassen Sie mich warten? Was haben Sie dennbei Fräulein Klara getrieben?«

›Viele Fragen!‹ dachte Karl, ›und jetzt drückt ermich noch an die Wand‹, denn tatsächlich stand erdicht vor Karl, der mit dem Rücken an der Wandlehnte. Green nahm in diesem Gang eine schon lä-cherliche Größe an, und Karl stellte sich zum Spaßdie Frage, ob er nicht etwa den guten Herrn Pollunderaufgefressen habe.

»Sie sind tatsächlich kein Mann von Wort. Ver-sprechen, um zwölf hinunterzukommen und umschlei-chen statt dessen die Türe Fräulein Klaras. Ich dage-gen habe Ihnen für Mitternacht etwas Interessantesversprochen und bin damit schon da.« Und damitreichte er Karl den Brief.

Auf dem Umschlag stand »An Karl Roßmann, umMitternacht persönlich abzugeben, wo immer er ange-troffen wird«.

»Schließlich«, sagte Herr Green, während Karl denBrief öffnete, »ist es, glaube ich, schon anerkennens-wert, daß ich Ihretwegen aus New York hierhergefah-ren bin, so daß Sie mich durchaus nicht noch auf denGängen Ihnen nachlaufen lassen müßten.«

»Vom Onkel!« sagte Karl, kaum daß er in denBrief hineingeschaut hatte.

»Ich habe es erwartet«, sagte er zu Herrn Green ge-wendet.

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»Ob Sie es erwartet haben oder nicht, ist mir kolos-sal gleichgültig. Lesen Sie nur schon«, sagte dieserund hielt Karl die Kerze hin.

Karl las bei ihrem Licht:

Geliebter Neffe! Wie Du während unseres leiderviel zu kurzen Zusammenlebens schon erkannt habenwirst, bin ich durchaus ein Mann von Prinzipien. Dasist nicht nur für meine Umgebung, sondern auch fürmich sehr unangenehm und traurig, aber ich verdankemeinen Prinzipien alles, was ich bin, und niemanddarf verlangen, daß ich mich vom Erdboden wegleug-ne, niemand, auch Du nicht, mein geliebter Neffe,wenn auch Du gerade der erste in der Reihe wärest,wenn es mir einmal einfallen sollte, jenen allgemeinenAngriff gegen mich zuzulassen. Dann würde ich amliebsten gerade Dich mit diesen beiden Händen, mitdenen ich das Papier halte und beschreibe, auffangenund hochheben. Da aber vorläufig gar nichts daraufhindeutet, daß dies einmal geschehen könnte, muß ichDich nach dem heutigen Vorfall unbedingt von mirfortschicken und ich bitte Dich dringend, mich wederselbst aufzusuchen, noch brieflich oder durch Zwi-schenträger Verkehr mit mir zu suchen. Du hast Dichgegen meinen Willen dafür entschieden, heute abendvon mir fortzugehen, dann bleibe aber auch bei die-sem Entschloß Dein Leben lang, nur dann war es ein

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männlicher Entschluß. Ich erwählte zum Überbringerdieser Nachricht Herrn Green, meinen besten Freund,der sicherlich für Dich schonende Worte genug findenwird, die mir im Augenblick tatsächlich nicht zurVerfügung stehen. Er ist ein einflußreicher Mann undwird Dich, schon mir zuliebe, in Deinen ersten selb-ständigen Schritten mit Rat und Tat unterstützen. Umunsere Trennung zu begreifen, die mir jetzt amSchlusse dieses Briefes wieder unfaßlich scheint, mußich mir immer wieder neuerlich sagen: Von DeinerFamilie, Karl, kommt nichts Gutes. Sollte Herr Greenvergessen, Dir Deinen Koffer und Deinen Regen-schirm auszuhändigen, so erinnere ihn daran.

Mit besten Wünschen für Dein weiteres Wohlerge-hen

Dein treuer Onkel Jakob.

»Sind Sie fertig?« fragte Green.»Ja«, sagte Karl.»Haben Sie mir den Koffer und den Regenschirm

mitgebracht?« fragte Karl.»Hier ist er«, sagte Green und stellte Karls alten

Reisekoffer, den er bisher mit der linken Hand hinterden Rücken versteckt hatte, neben Karl auf denBoden.

»Und den Regenschirm?«, fragte Karl weiter.»Alles hier«, sagte Green und zog auch den

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Regenschirm hervor, den er in einer Hosentasche hän-gen hatte. »Die Sachen hat ein gewisser Schubal, einObermaschinist der ›Hamburg-Amerika-Linie‹ ge-bracht, er hat behauptet, sie auf dem Schiff gefundenzu haben. Sie können ihm bei Gelegenheit danken.«

»Nun habe ich wenigstens meine alten Sachen wie-der«, sagte Karl und legte den Schirm auf den Koffer.

»Sie sollen aber in Zukunft besser auf sie achtge-ben, läßt Ihnen der Herr Senator sagen«, bemerkteHerr Green und fragte dann, offenbar aus privaterNeugierde: »Was ist das eigentlich für ein merkwür-diger Koffer?«

»Es ist ein Koffer, mit dem die Soldaten in meinerHeimat zum Militär einrücken«, antwortete Karl, »esist der alte Militärkoffer meines Vater. Er ist sonstganz praktisch«, fügte er lächelnd hinzu, »vorausge-setzt, daß man ihn nicht irgendwo stehen läßt.«

»Schließlich sind Sie ja belehrt genug«, sagte HerrGreen, »und einen zweiten Onkel haben Sie in Ameri-ka wohl nicht. Hier gebe ich Ihnen noch eine Kartedritter Klasse nach San Franzisko. Ich habe dieseReise für Sie beschlossen, weil erstens die Erwerbs-möglichkeiten im Osten für Sie viel besser sind undweil zweitens hier in allen Dingen, die für Sie in Be-tracht kommen könnten, Ihr Onkel seine Hände imSpiele hat und ein Zusammentreffen unbedingt ver-mieden werden muß. In Frisko können Sie ganz

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ungestört arbeiten; fangen Sie nur ruhig ganz unten anund versuchen Sie, sich allmählich hinaufzuarbeiten.«

Karl konnte keine Bosheit aus diesen Worten her-aushören, die schlimme Nachricht, welche den ganzenAbend in Green gesteckt hatte, war überbracht, undvon nun an schien Green ein ungefährlicher Mann,mit dem man: vielleicht offener reden konnte als mitjedem anderen. Der beste Mensch, der ohne eigeneSchuld zum Boten einer so geheimen und quälendenEntschließung auserwählt wird, muß, solange er siebei sich behält, verdächtig scheinen. »Ich werde«,sagte Karl, die Bestätigung eines erfahrenen Manneserwartend, »dieses Haus sofort verlassen, denn ich binnur als Neffe meines Onkels aufgenommen, währendich als Fremder hier nichts zu suchen habe. WürdenSie so liebenswürdig sein, mir den Ausgang zu zeigenund mich dann auf den Weg zu führen, auf dem ichzur nächsten Gastwirtschaft komme?«

»Aber rasch«, sagte Green. »Sie machen mir nichtwenig Scherereien.«

Beim Anblick des großen Schrittes, den Greengleich gemacht hatte, stockte Karl, das war doch eineverdächtige Eile, und er faßte ihn unten beim Rockund sagte in einem plötzlichen Erkennen des wahrenSachverhaltes: »Eines müssen Sie mir noch erklären:auf dem Umschlag des Briefes, den Sie mir zu über-geben hatten, steht bloß, daß ich ihn um Mitternacht

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erhalten soll, wo immer ich angetroffen werde.Warum haben Sie mich also mit Berufung auf diesenBrief hier zurückgehalten, als ich um viertel zwölfvon hier fort wollte, Sie gingen dabei über Ihren Auf-trag hinaus.«

Green leitete seine Antwort mit einer Handbewe-gung ein, welche das Unnütze von Karls Bemerkungübertrieben darstellte, und sagte dann: »Steht viel-leicht auf dem Umschlag, daß ich mich Ihretwegen zuTode hetzen soll, und läßt vielleicht der Inhalt desBriefes daraufschließen, daß die Aufschrift so aufzu-fassen ist, hätte ich Sie nicht zurückgehalten, hätte ichIhnen den Brief eben um Mitternacht auf der Land-straße übergeben müssen.«

»Nein«, sagte Karl unbeirrt, »es ist nicht ganz so.Auf dem Umschlag steht: ›Zu übergeben nach Mitter-nacht.‹ Wenn Sie zu müde waren, hätten Sie mir viel-leicht gar nicht folgen können, oder ich wäre, was al-lerdings selbst Herr Pollunder geleugnet hat, schonum Mitternacht bei meinem Onkel angekommen, oderes wäre schließlich Ihre Pflicht gewesen, mich inIhrem Automobil, von dem plötzlich nicht mehr dieRede war, zu meinem Onkel zurückzubringen, da ichso danach verlangte, zurückzukehren. Besagt nicht dieÜberschrift ganz deutlich, daß die Mitternacht fürmich noch der letzte Termin sein soll? Und Sie sindes, der die Schuld trägt, daß ich ihn versäumt habe.«

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»Gut«.Karl sah Green mit scharfen Augen an und erkann-

te wohl, wie in Green die Beschämung über dieseEntlarvung mit der Freude über das Gelingen seinerAbsicht kämpfte. Endlich nahm er sich zusammenund sagte in einem Tone, als wäre er Karl, der dochschon lange schwieg, mitten in, die Rede gefallen:»Kein Wort weiter« und schob ihn, der Koffer undSchirm wieder aufgenommen hatte, durch eine kleineTür, die er vor ihm aufstieß, hinaus.

Karl stand erstaunt im Freien. Eine an das Hausangebaute Treppe ohne Geländer führte vor ihmhinab. Er mußte nur hinuntergehen und dann sich einwenig rechts zur Allee wenden, die auf die Landstraßeführte. In dem hellen Mondschein konnte man sichgar nicht verirren. Unten im Garten hörte er das viel-fache Bellen von Hunden, die, losgelassen, ringsher-um im Dunkel der Bäume liefen. Man hörte in dersonstigen Stille ganz genau, wie sie nach ihren großenSprüngen ins Gras schlugen.

Ohne von diesen Hunden belästigt zu werden, kamKarl glücklich aus dem Garten. Er konnte nicht mitBestimmtheit feststellen, in welcher Richtung NewYork lag. Er hatte bei der Herfahrt zu wenig auf dieEinzelheiten geachtet, die ihm jetzt hätten nützlichsein können. Schließlich sagte er sich, daß er ja nichtunbedingt nach New York müsse, wo ihn niemand

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erwarte und einer sogar mit Bestimmtheit nicht erwar-te. Er wählte also eine beliebige Richtung und machtesich auf den Weg.

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Weg nach Ramses

In dem kleinen Wirtshaus, in das Karl nach kurzemMarsch kam, und das eigentlich nur eine kleine letzteStation des New Yorker Fuhrwerkverkehrs bildeteund deshalb kaum für Nachtlager benützt zu werdenpflegte, verlangte Karl die billigste Bettstelle, die zuhaben war, denn er glaubte, mit dem Sparen sofort an-fangen zu müssen. Er wurde, seiner Forderung ent-sprechend, vom Wirt mit einem Wink, als sei er einAngestellter, die Treppe hinaufgewiesen, wo ihn einzerrauftes, altes Frauenzimmer, ärgerlich über den ge-störten Schlaf, empfing und, fast ohne ihn anzuhören,mit ununterbrochenen Ermahnungen, leise aufzutre-ten, in ein Zimmer führte, dessen Tür sie, nicht ohneihn vorher mit einem Pst! angehaucht zu haben,schloß.

Karl wußte zuerst nicht recht, ob die Fenstervor-hänge bloß herabgelassen waren oder ob vielleichtdas Zimmer überhaupt keine Fenster habe, so finsterwar es; schließlich bemerkte er eine kleine, verhängteLuke, deren Tuch er wegzog, wodurch einiges Lichthereinkam. Das Zimmer hatte zwei Betten, die aberbeide schon besetzt waren. Karl sah dort zwei jungeLeute, die in schwerem Schlafe lagen und vor allemdeshalb wenig vertrauenswürdig erschienen, weil sie,

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ohne verständlichen Grund, angezogen schliefen; dereine hatte sogar seine Stiefel an.

In dem Augenblick, als Karl die Luke freigelegthatte, hob einer der Schläfer die Arme und Beine einwenig in die Höhe, was einen derartigen Anblick bot,daß Karl trotz seinen Sorgen in sich hineinlachte.

Er sah bald ein, daß er, abgesehen davon, daß auchkeine andere Schlafgelegenheit, weder Kanapee nochSofa, vorhanden war, zu keinem Schlafe werde kom-men können, denn er durfte seinen erst wiedergewon-nenen Koffer und das Geld, das er bei sich trug, kei-ner Gefahr aussetzen. Weggehen aber wollte er auchnicht, denn er getraute sich nicht, an der Zimmerfrauund dem Wirt vorüber das Haus gleich wieder zu ver-lassen. Schließlich war es ja hier doch vielleicht nichtunsicherer als auf der Landstraße. Auffallend war frei-lich, daß im ganzen Zimmer, soweit sich das bei demhalben Licht feststellen ließ, kein einziges Gepäck-stück zu entdecken war. Aber vielleicht und höchst-wahrscheinlich waren die zwei jungen Leute dieHausdiener, die der Gäste wegen bald aufstehen muß-ten und deshalb angezogen schliefen. Dann war es al-lerdings nicht besonders ehrenvoll, mit ihnen zuschlafen, aber desto ungefährlicher. Nur durfte er sichaber, solange das nicht außer jedem Zweifel stand, aufkeinen Fall zum Schlafe niederlegen.

Unter dem Bett stand eine Kerze mit

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Zündhölzchen, die sich Karl mit schleichenden Schrit-ten holte. Er hatte kein Bedenken, Licht zu machen,denn das Zimmer gehörte nach Auftrag des Wirtesihm ebensogut wie den beiden anderen, die überdiesden Schlaf der halben Nacht schon genossen hattenund durch den Besitz der Betten ihm gegenüber in un-vergleichlichem Vorteil waren. Im übrigen gab er sichnatürlich durch Vorsicht beim Herumgehen und Han-tieren alle Mühe, sie nicht zu wecken.

Zunächst wollte er seinen Koffer untersuchen, umeinmal einen Überblick über seine Sachen zu bekom-men, an die er sich schon nur undeutlich erinnerte undvon denen sicher das Wertvollste schon verlorenge-gangen sein dürfte. Denn wenn der Schubal seineHand auf etwas legt, dann ist wenig Hoffnung, daßman es unbeschädigt zurückbekommt. Allerdingshatte er vom Onkel ein großes Trinkgeld erwartenkönnen, während er aber andererseits wieder beimFehlen einzelner Objekte auf den eigentlichen Koffer-wächter, den Herrn Butterbaum, sich hatte ausredenkönnen.

Über den ersten Anblick beim Öffnen des Kofferswar Karl entsetzt. Wie viele Stunden hatte er währendder Überfahrt darauf verwendet, den Koffer zu ordnenund wieder neu zu ordnen, und jetzt war alles so wilddurcheinander hineingestopft, daß der Deckel beimÖffnen des Schlosses von selbst in die Höhe sprang.

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Bald aber erkannte Karl zu seiner Freude, daß dieUnordnung nur darin ihren Grund hatte, daß man sei-nen Anzug, den er während der Fahrt getragen hatteund für den der Koffer natürlich nicht mehr berechnetgewesen war, nachträglich mit eingepackt hatte. Nichtdas Geringste fehlte. In der Geheimtasche des Rockesbefand sich nicht nur der Paß, sondern auch das vonzu Hause mitgenommene Geld, so daß Karl, wenn erjenes, das er bei sich hatte, dazu legte, mit Geld fürden Augenblick reichlich versehen war. Auch die Wä-sche, die er bei seiner Ankunft auf dem Leib getragenhatte, fand sich vor, rein gewaschen und gebügelt. Erlegte auch sofort Uhr und Geld in die bewährte Ge-heimtasche. Das einzig Bedauerliche war, daß die Ve-roneser Salami, die auch nicht fehlte, allen Sachenihren Geruch mitgeteilt hatte. Wenn sich das nichtdurch irgendein Mittel beseitigen ließ, hatte Karl dieAussicht, monatelang in diesen Geruch eingehüllt her-umzugehen.

Beim Hervorsuchen einiger Gegenstände, die zuun-terst lagen - es waren dies eine Taschenbibel, Brief-papier und die Photographien der Eltern -, fiel ihmdie Mütze vom Kopf und in den Koffer. In ihrer altenUmgebung erkannte er sie sofort, es war seine Mütze,die Mütze, die ihm die Mutter als Reisemütze mitge-geben hatte. Er hatte jedoch aus Vorsicht diese Mützeauf dem Schiff nicht getragen, da er wußte, daß man

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in Amerika allgemein Mützen statt Hüte trägt, wes-halb er die seine nicht schon vor der Ankunft hatte ab-nützen wollen. Nun hatte sie allerdings Herr Greendazu benützt, um sich auf Karls Kosten zu belustigen.Ob ihm vielleicht auch dazu der Onkel den Auftraggegeben hatte? Und in einer unabsichtlichen, wüten-den Bewegung faßte er den Kofferdeckel, der laut zu-klappte.

Nun war keine Hilfe mehr, die beiden Schläferwaren geweckt. Zuerst streckte sich und gähnte dereine, ihm folgte gleich der andere. Dabei war fast derganze Kofferinhalt auf dem Tisch ausgeschüttet; wennes Diebe waren, brauchten sie nur heranzutreten undauszuwählen. Nicht nur um dieser Möglichkeit vorzu-kommen, sondern um auch sonst gleich Klarheit zuschaffen, ging Karl mit der Kerze in der Hand zu denBetten und erklärte, mit welchem Rechte er hier sei.Sie schienen diese Erklärung gar nicht erwartet zuhaben, denn, noch viel zu verschlafen, um reden zukönnen, sahen sie ihn bloß ohne jedes Erstaunen an.Sie waren beide sehr junge Leute, aber schwere Ar-beit oder Not hatten ihnen vorzeitig die Knochen ausden Gesichtern vorgetrieben, unordentliche Bärte hin-gen ihnen ums Kinn, ihr schon lange nicht geschnitte-nes Haar lag ihnen zerfahren auf dem Kopf, und ihretiefliegenden Augen rieben und drückten sie nun nochvor Verschlafenheit mit den Fingerknöcheln.

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Karl wollte ihren augenblicklichen Schwächezu-stand ausnützen und sagte deshalb: »Ich heiße KarlRoßmann und bin ein Deutscher. Bitte, sagen Sie mir,da wir doch ein gemeinsames Zimmer haben, auchIhren Namen und Ihre Nationalität. Ich erkläre nurnoch gleich, daß ich keinen Anspruch auf ein Betthabe, da ich so spät gekommen bin und überhauptnicht die Absicht habe, zu schlafen. Außerdem müs-sen Sie sich nicht an meinem schönen Kleid stoßen,ich bin vollständig arm und ohne Aussichten.«

Der Kleinere von beiden - es war jener, der dieStiefel anhatte - deutete mit Armen, Beinen und Mie-nen an, daß ihn das alles gar nicht interessiere unddaß jetzt überhaupt keine Zeit für derartige Redensar-ten sei, legte sich nieder und schlief sofort; der andere,ein dunkelhäutiger Mann, legte sich auch wieder nie-der, sagte aber noch vor dem Einschlafen mit lässigausgestreckter Hand: »Der da heißt Robinson und istIrländer, ich heiße Delamarche, bin Franzose undbitte jetzt um Ruhe.« Kaum hatte er das gesagt, blieser mit großem Atemaufwand Karls Kerze aus und fielauf das Kissen zurück.

›Diese Gefahr ist also vorläufig abgewehrt‹, sagtesich Karl und kehrte zum Tisch zurück. Wenn ihreSchläfrigkeit nicht Vorwand war, war ja alles gut.Unangenehm war bloß, daß der eine Irländer war.Karl wußte nicht mehr genau, in welchem Buch er

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einmal zu Hause gelesen hatte, daß man sich in Ame-rika vor den Irländern hüten solle. Während seinesAufenthaltes beim Onkel hätte er freilich die besteGelegenheit gehabt, der Frage nach der Gefährlichkeitder Irländer auf den Grund zu gehen, hatte dies aber,weil er sich für immer gut aufgehoben geglaubt hatte,völlig versäumt. Nun wollte er wenigstens mit derKerze, die er wieder angezündet hatte, diesen Irländergenauer ansehen, wobei er fand, daß gerade dieser er-träglicher aussah als der Franzose. Er hatte sogarnoch eine Spur von runden Wangen und lächelte imSchlaf ganz freundlich, soweit das Karl aus einigerEntfernung, auf den Fußspitzen stehend, feststellenkonnte.

Trotz allem fest entschlossen, nicht zu schlafen,setzte sich Karl auf den einzigen Stuhl des Zimmers,verschob vorläufig das Packen des Koffers, da er jadafür die ganze Nacht noch verwenden konnte, undblätterte ein wenig in der Bibel, ohne etwas zu lesen.Dann nahm er die Photographie der Eltern zur Hand,auf welcher der kleine Vater hoch aufgerichtet stand,während die Mutter in dem Fauteuil vor ihm, einwenig eingesunken, dasaß. Die eine Hand hielt derVater auf der Rückenlehne des Fauteuils, die andere,zur Faust geballt, auf einem illustrierten Buch, dasaufgeschlagen auf einem schwachen Schmucktisch-chen ihm zur Seite lag. Es gab auch eine andere

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Photographie, auf welcher Karl mit seinen Eltern ab-gebildet war. Vater und Mutter sahen ihn dort scharfan, während er nach dem Auftrag des Photographenden Apparat hatte anschauen müssen. Diese Photo-graphie hatte er aber auf die Reise nicht mitbekom-men.

Desto genauer sah er die vor ihm liegende an undsuchte von verschiedenen Seiten den Blick des Vatersaufzufangen. Aber der Vater wollte, wie er auch denAnblick durch verschiedene Kerzenstellungen änderte,nicht lebendig werden, sein waagrechter, starkerSchnurrbart sah der Wirklichkeit auch gar nicht ähn-lich, es war keine gute Aufnahme. Die Mutter dage-gen war schon besser abgebildet, ihr Mund war soverzogen, als sei ihr ein Leid angetan worden und alszwinge sie sich zu lächeln. Karl schien es, als müssedies jedem, der das Bild ansah, so sehr auffallen, daßes ihm im nächsten Augenblick wieder schien, dieDeutlichkeit dieses Eindrucks sei zu stark und fast wi-dersinnig. Wie könne man von einem Bild so sehr dieunumstößliche Überzeugung eines verborgenen Ge-fühls des Abgebildeten erhalten! Und er sah vom Bildein Weilchen lang weg. Als er mit den Blicken wiederzurückkehrte, fiel ihm die Hand der Mutter auf, dieganz vorne an der Lehne des Fauteuils herabhing,zum Küssen nahe. Er dachte, ob es nicht vielleichtdoch gut wäre, den Eltern zu schreiben, wie sie es ja

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tatsächlich beide (und der Vater zuletzt sehr streng inHamburg) von ihm verlangt hatten. Er hatte sich frei-lich damals, als ihm die Mutter am Fenster an einemschrecklichen Abend die Amerikareise angekündigthatte, unabänderlich zugeschworen, niemals zuschreiben, aber was galt ein solcher Schwur eines un-erfahrenen Jungen hier in den neuen Verhältnissen!Ebensogut hätte er damals schwören können, daß ernach zwei Monaten amerikanischen Aufenthalts Ge-neral der amerikanischen Miliz sein werde, währender tatsächlich in einer Dachkammer mit zwei Lumpenbeisammen war, in einem Wirtshaus vor New York,und außerdem zugeben mußte, daß er hier wirklich anseinem Platze war. Und lächelnd prüfte er die Gesich-ter der Eltern, als könne man aus ihnen erkennen, obsie noch immer das Verlangen hatten, eine Nachrichtvon ihrem Sohn zu bekommen.

In diesem Anschauen merkte er bald, daß er dochsehr müde war und kaum die Nacht werde durchwa-chen können. Das Bild entfiel seinen Händen, dannlegte er das Gesicht auf das Bild, dessen Kühle seinerWange wohltat, und mit einem angenehmen Gefühleschlief er ein.

Geweckt wurde er früh durch das Kitzeln unter derAchsel. Es war der Franzose, der sich diese Zudring-lichkeit erlaubte. Aber auch der Irländer stand schonvor Karls Tisch und beide sahen ihn mit keinem

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geringeren Interesse an, als es Karl in der Nacht ihnengegenüber getan hatte. Karl wunderte sich nicht dar-über, daß ihn ihr Aufstehen nicht schon geweckthatte; sie mußten durchaus nicht aus böser Absichtbesonders leise aufgetreten sein, denn er hatte tief ge-schlafen und außerdem hatte ihnen das Anziehen undoffenbar auch das Waschen nicht viel Arbeit gemacht.

Nun begrüßten sie einander ordentlich und miteiner gewissen Förmlichkeit, und Karl erfuhr, daß diebeiden Maschinenschlosser waren, die in New Yorkschon lange Zeit keine Arbeit hatten bekommen kön-nen und infolgedessen ziemlich heruntergekommenwaren. Robinson öffnete zum Beweise dessen seinenRock, und man konnte sehen, daß kein Hemd da war,was man allerdings auch schon an dem lose sitzendenKragen hätte erkennen können, der hinten am Rockbefestigt war. Sie hatten die Absicht, in das zwei Ta-gereisen von New York entfernte Städtchen Butter-ford zu marschieren, wo angeblich Arbeitsstellen freiwaren. Sie hatten nichts dagegen, daß Karl mitkom-me, und versprachen ihm erstens, zeitweilig seinenKoffer zu tragen, und zweitens, falls sie selbst Arbeitbekommen sollten, ihm eine Lehrlingsstelle zu ver-schaffen, was, wenn nur überhaupt Arbeit vorhandensei, eine Leichtigkeit wäre. Karl hatte noch kaum zu-gestimmt, als sie ihm schon freundschaftlich den Ratgaben, das schöne Kleid auszuziehen, da es ihm bei

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jeder Bewerbung um eine Stelle hinderlich seinwerde. Gerade in diesem Hause sei eine gute Gelegen-heit, das Kleid los zu werden, denn die Zimmerfraubetreibe einen Kleiderhandel. Sie halfen Karl, derauch rücksichtlich des Kleides noch nicht ganz ent-schlossen war, aus dem Kleid heraus und trugen esdavon. Als Karl, allein gelassen und ein wenig schlaf-trunken, sein altes Reisekleid noch langsam anzog,machte er sich Vorwürfe, das Kleid verkauft zuhaben, das ihm vielleicht bei der Bewerbung um eineLehrlingsstelle schaden, bei der um einen besserenPosten aber nur nützen konnte, und er öffnete die Tür,um die beiden zurückzurufen, stieß aber schon mitihnen zusammen, die einen halben Dollar als Erlösauf den Tisch legten, dabei aber so fröhliche Gesich-ter machten, daß man sich unmöglich dazu überredenkonnte, sie hätten bei dem Verkauf nicht auch ihrenVerdienst gehabt, und zwar einen ärgerlich großen.

Es war übrigens keine Zeit, sich darüber auszu-sprechen, denn die Zimmerfrau kam herein, genau soverschlafen wie in der Nacht, und trieb alle drei aufden Gang hinaus, mit der Erklärung, daß das Zimmerfür neue Gäste hergerichtet werden müsse. Davon waraber natürlich keine Rede, sie handelte nur aus Bos-heit. Karl, der seinen Koffer gerade hatte ordnen wol-len, mußte zusehen, wie die Frau seine Sachen mitbeiden Händen packte und mit einer Kraft in den

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Koffer warf, als seien es irgendwelche Tiere, die manzum Kuschen bringen mußte. Die beiden Schlossermachten sich zwar um sie zu schaffen, zupften sie anihrem Rock, beklopften ihren Rücken, aber wenn siedie Absicht hatten, Karl damit zu helfen, so war dasganz verfehlt. Als die Frau den Koffer zugeklappthatte, drückte sie Karl den Halter in die Hand, schüt-telte die Schlosser ab und jagte alle drei mit der Dro-hung aus dem Zimmer, daß sie, wenn sie nicht folg-ten, keinen Kaffee bekommen würden. Die Fraumußte offenbar gänzlich vergessen haben, daß Karlnicht von allem Anfang an zu den Schlossern gehörthatte, denn sie behandelte sie als eine einzige Bande.Allerdings hatten die Schlosser Karls Kleid ihr ver-kauft und damit eine gewisse Gemeinsamkeit erwie-sen.

Auf dem Gange mußten sie lange hin und hergehen, und besonders der Franzose, der sich in Karleingehängt hatte, schimpfte ununterbrochen, drohte,den Wirt, wenn er sich vorwagen sollte, niederzubo-xen, und es schien eine Vorbereitung dazu zu sein,daß er die geballten Fäuste rasend aneinander rieb.Endlich kam ein unschuldiger kleiner Junge, der sichstrecken mußte, als er dem Franzosen die Kaffeekannereichte. Leider war nur eine Kanne vorhanden, undman konnte dem Jungen nicht begreiflich machen, daßnoch Gläser erwünscht wären. So konnte immer nur

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einer trinken und die beiden anderen standen vor ihmund warteten. Karl hatte keine Lust zu trinken, wollteaber die anderen nicht kränken und stand also, wenner an der Reihe war, untätig da, die Kanne an denLippen.

Zum Abschied warf der Irländer die Kanne auf diesteinernen Fliesen hin. Sie verließen, von niemandemgesehen, das Haus und traten in den dichten, gelbli-chen Morgennebel. Sie marschierten im allgemeinenstill nebeneinander am Rande der Straße, Karl mußteseinen Koffer tragen, die anderen würden ihn wahr-scheinlich erst auf seine Bitte ablösen; hie und daschoß ein Automobil aus dem Nebel, und die dreidrehten ihre Köpfe nach den meist riesenhaftenWagen, die so auffällig in ihrem Bau und so kurz inihrer Erscheinung waren, daß man nicht Zeit hatte,auch nur das Vorhandensein von Insassen zu bemer-ken. Später begannen die Kolonnen von Fuhrwerken,welche Lebensmittel nach New York brachten, unddie in fünf, die ganze Breite der Straße einnehmendenReihen so ununterbrochen dahinzogen, daß niemanddie Straße hätte überqueren können. Von Zeit zu Zeitverbreiterte sich die Straße zu einem Platz, in dessenMitte auf einer turmartigen Erhöhung ein Polizist aufund ab schritt, um alles übersehen und mit einemStöckchen den Verkehr auf der Hauptstraße sowie denvon den Seitenstraßen hier einmündenden Verkehr

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ordnen zu können, der dann bis zum nächsten Platzeund zum nächsten Polizisten unbeaufsichtigt blieb,aber von den schweigenden und aufmerksamen Kut-schern und Chauffeuren freiwillig in genügender Ord-nung gehalten wurde. Über die allgemeine Ruhestaunte Karl am meisten. Wäre nicht das Geschrei dersorglosen Schlachttiere gewesen, man hätte vielleichtnichts gehört als das Klappern der Hufe und das Sau-sen der Antiderapants. Dabei war die Fahrtschnellig-keit natürlich nicht immer die gleiche. Wenn auf ein-zelnen Plätzen infolge allzu großen Andrangs von denSeiten große Umstellungen vorgenommen werdenmußten, stockten die ganzen Reihen und fuhren nurSchritt für Schritt, dann aber kam es auch wieder vor,daß für ein Weilchen alles blitzschnell vorbeijagte,bis es, wie von einer einzigen Bremse regiert, sichwieder besänftigte. Dabei stieg von der Straße nichtder geringste Staub auf, alles bewegte sich in der klar-sten Luft. Fußgänger gab es keine, hier wandertenkeine einzelnen Marktweiber zur Stadt wie in KarlsHeimat, aber doch erschienen hie und da große, flacheAutomobile, auf denen an zwanzig Frauen mitRückenkörben, also doch vielleicht Marktweiber,standen und die Hälse streckten, um den Verkehr zuüberblicken und sich Hoffnung auf raschere Fahrt zuholen.

Dann sah man ähnliche Automobile, auf denen

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einzelne Männer, die Hände in den Hosentaschen,herumspazierten. Auf einem dieser Automobile, dieverschiedene Aufschriften trugen, las Karl untereinem kleinen Aufschrei: »Hafenarbeiter für die Spe-dition Jakob aufgenommen.« Der Wagen fuhr geradeganz langsam, und ein auf der Wagentreppe stehenderkleiner, gebückter, lebhafter Mann lud die drei Wan-derer zum Einsteigen ein. Karl flüchtete sich hinterdie Schlosser, als könne sich auf dem Wagen derOnkel befinden und ihn sehen. Er war froh, daß auchdie beiden die Einladung ablehnten, wenn ihn auchder hochmütige Gesichtsausdruck gewissermaßenkränkte, mit dem sie das taten. Sie mußten durchausnicht glauben, daß sie zu gut waren, um in die Dien-ste des Onkels zu treten. Er gab es ihnen, wenn auchnatürlich nicht ausdrücklich, sofort zu verstehen. Dar-auf bat ihn Delamarche, sich gefälligst nicht in Sa-chen einzumischen, die er nicht verstehe; diese Art,Leute aufzunehmen, sei ein schändlicher Betrug, unddie Firma Jakob sei berüchtigt in den ganzen Verei-nigten Staaten. Karl antwortete nicht, hielt sich abervon nun an mehr an den Irländer, er bat ihn auch, ihmjetzt ein wenig den Koffer zu tragen, was dieser,nachdem Karl seine Bitte mehrmals wiederholt hatte,auch tat. Nur klagte er ununterbrochen über dieSchwere des Koffers, bis es sich zeigte, daß er nur dieAbsicht hatte, den Koffer um die Veroneser Salami zu

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erleichtern, die ihm wohl schon im Hotel angenehmaufgefallen war. Karl mußte sie auspacken, der Fran-zose nahm sie zu sich, um sie mit seinem dolchartigenMesser zu behandeln und fast ganz allein aufzuessen.Robinson bekam nur hie und da eine Schnitte, Karldagegen, der wieder den Koffer tragen mußte, wenn erihn nicht auf der Landstraße stehen lassen wollte,bekam nichts, als hätte er sich seinen Anteil schon imvoraus genommen. Es schien ihm zu kleinlich, um einStückchen zu betteln, aber die Galle regte sich in ihm.

Aller Nebel war schon verschwunden, in der Ferneerglänzte ein hohes Gebirge, das mit welligem Kammin noch ferneren Sonnendunst führte. An der Seite derStraße lagen schlecht bebaute Felder, die sich umgroße Fabriken hinzogen, die dunkel angeraucht imfreien Lande standen. In den wahllos hingestellteneinzelnen Mietskasernen zitterten die vielen Fenster inder mannigfaltigsten Bewegung und Beleuchtung, undauf all den kleinen, schwachen Balkonen hatten Frau-en und Kinder vielerlei zu tun, während um sieherum, sie verdeckend und enthüllend, aufgehängteund hingelegte Tücher und Wäschestücke im Morgen-wind flatterten und mächtig sich bauschten. Glittendie Blicke von den Häusern ab, dann sah man Ler-chen hoch am Himmel fliegen und unten wieder dieSchwalben, nicht allzuweit über den Köpfen der Fah-renden.

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Vieles erinnerte Karl an seine Heimat und er wußtenicht, ob er gut daran tue, New York zu verlassen undin das Innere des Landes zu gehen. In New York wardas Meer und zu jeder Zeit die Möglichkeit der Rück-kehr in die Heimat. Und so blieb er stehen und sagtezu seinen beiden Begleitern, er habe doch wiederLust, in New York zu bleiben. Und als Delamarcheihn einfach weitertreiben wollte, ließ er sich nicht trei-ben und sagte, daß er doch wohl noch das Recht habe,über sich zu entscheiden. Der Irländer mußte erst ver-mitteln und erklären, daß Butterford viel schöner alsNew York sei, und beide mußten ihn noch sehr bitten,ehe er wieder weiterging. Und selbst dann wäre ernoch nicht gegangen, wenn er sich nicht gesagt hätte,daß es für ihn vielleicht besser sei, an einen Ort zukommen, wo die Möglichkeit der Rückkehr in dieHeimat keine so leichte sei. Gewiß werde er dort bes-ser arbeiten und vorwärtskommen, da ihn keine un-nützen Gedanken hindern würden.

Und nun war er es, der die beiden anderen zog, undsie freuten sich so sehr über seinen Eifer, daß sie,ohne sich erst bitten zu lassen, den Koffer abwech-selnd trugen und Karl gar nicht recht verstand, womiter ihnen eigentlich diese Freude verursache. Siekamen in eine ansteigende Gegend und, wenn sie hieund da stehenblieben, konnten sie beim Rückblickdas Panorama New Yorks und seines Hafens immer

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ausgedehnter sich entwickeln sehen. Die Brücke, dieNew York mit Brooklyn verbindet, hing zart über denEast River, und sie erzitterte, wenn man die Augenklein machte. Sie schien ganz ohne Verkehr zu sein,und unter ihr spannte sich das unbelebte, glatte Was-serband. Alles in beiden Riesenstädten schien leerund nutzlos aufgestellt. Unter den Häusern gab eskaum einen Unterschied zwischen den großen und denkleinen. In der unsichtbaren Tiefe der Straßen gingwahrscheinlich das Leben fort nach seiner Art, aberüber ihnen war nichts zu sehen als leichter Dunst, dersich zwar nicht bewegte, aber ohne Mühe verjagbarzu sein schien. Selbst in den Hafen, den größten derWelt, war Ruhe eingekehrt, und nur hie und da glaub-te man, wohl beeinflußt von der Erinnerung an einenfrüheren Anblick aus der Nähe, ein Schiff zu sehen,das eine kurze Strecke sich fortschob. Aber mankonnte ihm auch nicht lange folgen, es entging denAugen und war nicht mehr zu finden.

Aber Delamarche und Robinson sahen offenbarviel mehr, sie zeigten nach rechts und links und über-wölbten mit den ausgestreckten Händen Plätze undGärten, die sie mit Namen benannten. Sie konnten esnicht begreifen, daß Karl über zwei Monate in NewYork gewesen war und kaum etwas anderes von derStadt gesehen hatte als eine Straße. Und sie verspra-chen ihm, wenn sie in Butterford genug verdient

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hätten, mit ihm nach New York zu gehen und ihmalles Sehenswerte zu zeigen und ganz besonders na-türlich jene Örtlichkeiten, wo man sich bis zum Selig-werden unterhielt. Und Robinson begann im An-schluß daran mit vollem Mund ein Lied zu singen,das Delamarche mit Händeklatschen begleitete unddas Karl als eine Operettenmelodie aus seiner Heimaterkannte, die ihm hier mit dem englischen Text vielbesser gefiel, als sie ihm je zu Hause gefallen hatte.So gab es eine kleine Vorstellung im Freien, an deralle Anteil nahmen, nur die Stadt unten, die sich an-geblich bei dieser Melodie unterhielt, schien garnichts davon zu wissen.

Einmal fragte Karl, wo denn die Spedition Jakobliege, und sofort sah er Delamarches und Robinsonsausgestreckte Zeigefinger vielleicht auf den gleichen,vielleicht auf meilenweit entfernte Punkte gerichtet.Als sie dann weitergingen, fragte Karl, wann sie frü-hestens mit genügendem Verdienst nach New Yorkzurückkehren könnten. Delamarche sagte, das könneschon ganz gut in einem Monat sein, denn in Butter-ford sei Arbeitermangel und die Löhne seien hoch.Natürlich würden sie ihr Geld in eine gemeinsameKasse legen, damit zufällige Unterschiede im Ver-dienst unter ihnen als Kameraden ausgeglichen wür-den. Die gemeinsame Kasse gefiel Karl nicht, obwohler als Lehrling natürlich weniger verdienen würde als

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ausgelernte Arbeiter. Überdies erwähnte Robinson,daß sie natürlich, wenn in Butterford keine Arbeitwäre, weiter wandern müßten, entweder um als Land-arbeiter irgendwo unterzukommen oder vielleichtnach Kalifornien in die Goldwäschereien zu gehen,was, nach Robinsons ausführlichen Erzählungen zuschließen, sein liebster Plan war.

»Warum sind Sie denn Schlosser geworden, wennSie jetzt in die Goldwäschereien wollen?« fragte Karl,der ungern von der Notwendigkeit solcher weiten, un-sicheren Reisen hörte.

»Warum ich Schlosser geworden bin?« sagte Ro-binson, »doch gewiß nicht deshalb, damit meinerMutter Sohn dabei verhungert. In den Goldwäsche-reien ist ein feiner Verdienst.«

»War einmal«, sagte Delamarche.»Ist noch immer«, sagte Robinson und erzählte von

vielen dabei reich gewordenen Bekannten, die nochimmer dort waren, natürlich keinen Finger mehr rühr-ten, aus alter Freundschaft ihm aber und selbstver-ständlich auch seinen Kameraden zu Reichtum verhel-fen würden. »Wir werden schon in Butterford Stellenerzwingen«, sagte Delamarche und sprach damit Karlaus der Seele, aber eine zuversichtliche Ausdrucks-weise war es nicht. Während des Tages machten sienur einmal in einem Wirtshaus halt und aßen davorim Freien an einem, wie es Karl schien, eisernen

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Tisch fast rohes Fleisch, das man mit Messer undGabel nicht zerschneiden, sondern nur zerreißenkonnte. Das Brot hatte eine walzenartige Form, und injedem Brotlaib steckte ein langes Messer. Zu diesemEssen wurde eine schwarze Flüssigkeit gereicht, dieim Halse brannte. Delamarche und Robinsonschmeckte sie aber, sie erhoben oft auf die Erfüllungverschiedener Wünsche ihre Gläser und stießen mit-einander an, wobei sie ein Weilchen lang in der HöheGlas an Glas hielten. Am Nebentisch saßen Arbeiterin kalkbespritzten Blusen, und alle tranken die gleicheFlüssigkeit. Automobile, die in Mengen vorüberfuh-ren, warfen Schwaden von Staub über die Tische hin.Große Zeitungsblätter wurden herumgereicht, mansprach erregt vom Streik der Bahnarbeiter, der NameMack wurde öfters genannt. Karl erkundigte sich überihn und erfuhr, daß dies der Vater des ihm bekanntenMack und der größte Bauunternehmer von New Yorkwar. Der Streik kostete ihn Millionen und bedrohtevielleicht seine geschäftliche Stellung. Karl glaubtekein Wort von diesem Gerede schlecht unterrichteter,übelwollender Leute.

Verbittert wurde das Essen für Karl außerdem da-durch, daß es sehr fraglich war, wie das Essen gezahltwerden sollte. Das Natürliche wäre gewesen, daßjeder seinen Teil gezahlt hätte, aber Delamarche wieauch Robinson hatten gelegentlich bemerkt, daß für

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das letzte Nachtlager ihr letztes Geld aufgegangenwar. Uhr, Ring oder sonst etwas Veräußerbares waran keinem zu sehen. Und Karl konnte ihnen dochnicht vorhalten, daß sie an dem Verkauf seiner Klei-der etwas verdient hätten, das wäre doch Beleidigungund Abschied für immer gewesen. Das Erstaunlicheaber war, daß weder Delamarche noch Robinson ir-gendwelche Sorgen wegen der Bezahlung hatten, viel-mehr hatten sie gute Laune genug, möglichst oft An-knüpfungen mit der Kellnerin zu versuchen, die stolzund mit schwerem Gang zwischen den Tischen hinund her ging. Ihr Haar ging ihr von den Seiten einwenig lose in Stirn und Wangen, und sie strich esimmer wieder zurück, indem sie mit den Händen dar-unter hinfuhr. Schließlich, als man vielleicht das erstefreundliche Wort von ihr erwartete, trat sie zum Ti-sche, legte beide Hände auf ihn und fragte: »Werzahlt?«

Nie waren Hände rascher aufgeflogen als jetzt jenevon Delamarche und Robinson, die auf Karl zeigten.Karl erschrak darüber nicht, denn er hatte es ja vor-ausgesehen, und sah nichts Schlimmes darin, daß dieKameraden, von denen er ja auch Vorteile erwartete,einige Kleinigkeiten von ihm bezahlen ließen, wennes auch anständiger gewesen wäre, diese Sache vordem entscheidenden Augenblick ausdrücklich zu be-sprechen. Peinlich war bloß, daß er das Geld erst aus

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der Geheimtasche heraufbefördern mußte. Seine ur-sprüngliche Absicht war es gewesen, das Geld für dieletzte Not aufzuheben und sich also vorläufig mit sei-nen Kameraden gewissermaßen in eine Reihe zu stel-len. Der Vorteil, den er durch dieses Geld und vorallem durch das Verschweigen des Besitzes gegen-über den Kameraden erlangte, wurde für diese mehrals reichlich dadurch aufgewogen, daß sie schon seitihrer Kindheit in Amerika waren, daß sie genügendeKenntnisse und Erfahrungen für Gelderwerb hattenund daß sie schließlich an bessere Lebensverhältnisseals ihre gegenwärtigen nicht gewöhnt waren. Diesebisherigen Absichten, die Karl rücksichtlich seinesGeldes hatte, mußten an und für sich durch diese Be-zahlung nicht gestört werden, denn einen Vierteldollarkonnte er schließlich entbehren und deshalb also einVierteldollarstück auf den Tisch legen und erklären,dies sei sein einziges Eigentum und er sei bereit, esfür die gemeinsame Reise nach Butterford zu opfern.Für die Fußreise genügte ein solcher Betrag auchvollkommen. Nun aber wußte er nicht, ob er genü-gend Kleingeld hatte, und überdies lag dieses Geldsowie die zusammengelegten Banknoten irgendwo inder Tiefe der Geheimtasche, in der man eben am be-sten etwas fand, wenn man den ganzen Inhalt auf denTisch schüttete. Außerdem war es höchst unnötig, daßdie Kameraden von dieser Geheimtasche überhaupt

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etwas erfuhren. Nun schien es zum Glück, daß dieKameraden sich noch immer mehr für die Kellnerininteressierten als dafür, wie Karl das Geld für die Be-zahlung zusammenbrächte. Delamarche lockte dieKellnerin durch die Aufforderung, die Rechnung auf-zustellen, zwischen sich und Robinson und sie konntedie Zudringlichkeiten der beiden nur dadurch abweh-ren, daß sie einem oder dem anderen die ganze Handauf das Gesicht legte und ihn wegschob. Inzwischensammelte Karl, heiß vor Anstrengung, unter derTischplatte in der einen Hand das Geld, das er mit deranderen Stück für Stück in der Geheimtasche herum-jagte und herausholte. Endlich glaubte er, obwohl erdas amerikanische Geld noch nicht genau kannte, erhätte, wenigstens der Menge der Stücke nach, eine ge-nügende Summe, und legte sie auf den Tisch. DerKlang des Geldes unterbrach sofort die Scherze. ZuKarls Ärger und zu allgemeinem Erstaunen zeigtesich, daß fast ein ganzer Dollar dalag. Keiner fragtezwar, warum Karl von dem Gelde, das für eine beque-me Eisenbahnfahrt nach Butterford gereicht hätte, frü-her nichts gesagt hatte, aber Karl war doch in großerVerlegenheit. Langsam strich er, nachdem das Essenbezahlt war, das Geld wieder ein, noch aus seinerHand nahm Delamarche ein Geldstück, das er für dieKellnerin als Trinkgeld brauchte, die er umarmte undan sich drückte, um ihr dann, von der anderen Seite

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her, das Geld zu überreichen.Karl war ihnen dankbar, daß sie auf dem Weiter-

marsch keine Bemerkungen über das Geld machten,und er dachte sogar eine Zeitlang daran, ihnen seinganzes Vermögen einzugestehen, unterließ das aberdoch, da sich keine rechte Gelegenheit fand. GegenAbend kamen sie in eine mehr ländliche, fruchtbareGegend. Ringsherum sah man ungeteilte Felder, diesich in ihrem ersten Grün über sanfte Hügel legten,reiche Landsitze umgrenzten die Straße, und stunden-lang ging man zwischen den vergoldeten Gittern derGärten, mehrmals kreuzten sie den gleichen langsamfließenden Strom und vielemal hörten sie über sichdie Eisenbahnzüge auf den hoch sich schwingendenViadukten donnern.

Eben ging die Sonne an dem geraden Rande fernerWälder nieder, als sie sich auf einer Anhöhe inmitteneiner kleinen Baumgruppe ins Gras hinwarfen, umsich von den Strapazen auszuruhen. Delamarche undRobinson lagen da und streckten sich nach Kräften.Karl saß aufrecht und sah auf die ein paar Meter tieferführende Straße, auf der immer wieder Automobile,wie schon während des ganzen Tages, leicht aneinan-der vorübereilten, als würden sie in genauer Anzahlimmer wieder von der Ferne abgeschickt und in dergleichen Anzahl in der anderen Ferne erwartet. Wäh-rend des ganzen Tages seit dem frühesten Morgen

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hatte Karl kein Automobil halten, keinen Passagieraussteigen gesehen.

Robinson machte den Vorschlag, die Nacht hier zuverbringen, da sie alle genügend müde wären, da siedann desto früher ausmarschieren könnten und da sieschließlich kaum ein billigeres und besser gelegenesNachtlager vor Einbruch völliger Dunkelheit findenkönnten. Delamarche war einverstanden, und nur Karlglaubte zu der Bemerkung verpflichtet zu sein, daß erGeld genug habe, um das Nachtlager für alle auch ineinem Hotel zu bezahlen. Delamarche sagte, sie wür-den das Geld noch brauchen, er solle es nur gut aufhe-ben. Delamarche verbarg nicht im geringsten, daßman mit Karls Geld schon rechnete. Da sein ersterVorschlag angenommen war, erklärte nun Robinsonweiter, nun müßten sie aber vor dem Schlafen, umsich für morgen zu kräftigen, etwas Tüchtiges essen,und einer solle das Essen für alle aus dem Hotelholen, das in nächster Nähe an der Landstraße mit derAufschrift »Hotel Occidental« leuchtete. Als derJüngste, und da sich auch sonst niemand meldete, zö-gerte Karl nicht, sich für diese Besorgung anzubieten,und ging, nachdem er eine Bestellung auf Speck, Brotund Bier erhalten hatte, ins Hotel hinüber.

Es mußte eine große Stadt in der Nähe sein, denngleich der erste Saal des Hotels, den Karl betrat, warvon einer lauten Menge erfüllt, und an dem Büfett,

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das sich an einer Längswand und an den zwei Seiten-wänden hinzog, liefen unaufhörlich viele Kellner mitweißen Schürzen vor der Brust und konnten doch dieungeduldigen Gäste nicht zufriedenstellen, dennimmer wieder hörte man an den verschiedensten Stel-len Flüche und Fäuste, die auf den Tisch schlugen.Karl wurde von niemandem beachtet; es gab auch imSaale selbst keine Bedienung, die Gäste, die an winzi-gen, bereits zwischen drei Tischnachbarn verschwin-denden Tischen saßen, holten alles, was sie wünsch-ten, beim Büfett. Auf allen Tischchen stand einegroße Flasche mit Öl, Essig oder dergleichen, und alleSpeisen, die vom Büfett geholt wurden, wurden vordem Essen aus dieser Flasche übergossen. WollteKarl überhaupt erst zum Büfett kommen, wo ja dannwahrscheinlich, besonders bei seiner großen Bestel-lung, die Schwierigkeiten erst beginnen würden,mußte er sich zwischen vielen Tischen durchdrängen,was natürlich bei aller Vorsicht nicht ohne grobe Be-lästigung der Gäste durchzuführen war, die jedochalles wie gefühllos hinnahmen, selbst als Karl einmal,allerdings gleichfalls von einem Gast, gegen einTischchen gestoßen wurde, das er fast umgeworfenhätte. Er entschuldigte sich zwar, wurde aber offenbarnicht verstanden, verstand übrigens auch nicht das ge-ringste von dem, was man ihm zurief.

Beim Büfett fand er mit Mühe ein kleines freies

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Plätzchen, auf dem ihm eine lange Weile die Aussichtdurch die aufgestützten Ellbogen seiner Nachbarn ge-nommen war. Es schien hier überhaupt eine Sitte, dieEllbogen aufzustützen und die Faust an die Schläfe zudrücken; Karl mußte daran denken, wie der Latein-professor Dr. Krumpal gerade diese Haltung gehaßthatte und wie er immer heimlich und unversehens her-angekommen war und mittels eines plötzlich erschei-nenden Lineals mit scherzhaftem Ruck die Ellbogenvon den Tischen gestreift hatte.

Karl stand eng ans Büfett gedrängt, denn kaumhatte er sich angestellt, war hinter ihm ein Tisch auf-gestellt worden, und der eine der dort sich niederlas-senden Gäste streifte schwer, wenn er sich nur einwenig beim Reden zurückbog, mit seinem großen HutKarls Rücken. Und dabei war so wenig Hoffnung,vom Kellner etwas zu bekommen, selbst als die bei-den plumpen Nachbarn befriedigt weggegangenwären. Einigemal hatte Karl einen Kellner über denTisch hin bei der Schürze gefaßt, aber immer hattesich der mit verzerrtem Gesicht losgerissen. Keinerwar zu halten, sie liefen nur und liefen nur. Wenn we-nigstens in der Nähe Karls etwas Passendes zumEssen und Trinken gewesen wäre, er hätte es genom-men, sich nach dem Preis erkundigt, das Geld hinge-legt und wäre mit Freude weggegangen. Aber geradevor ihm lagen nur Schüsseln mit heringartigen

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Fischen, deren schwarze Schuppen am Rande goldigglänzten. Die konnten sehr teuer sein und würdenwahrscheinlich niemanden sättigen. Außerdem warenkleine Fäßchen mit Rum erreichbar, aber Rum wollteer seinen Kameraden nicht bringen, sie schienenschon sowieso bei jeder Gelegenheit nur auf den kon-zentriertesten Alkohol auszugehen und darin wollte ersie nicht noch unterstützen.

Es blieb also Karl nichts übrig, als einen anderenPlatz zu suchen und mit seinen Bemühungen vonvorne anzulangen. Nun aber war auch schon die Zeitsehr vorgerückt. Die Uhr am anderen Ende des Saa-les, deren Zeiger man bei scharfem Hinsehen durchden Rauch gerade noch erkennen konnte, zeigte schonneun vorüber. Anderswo am Büfett war aber das Ge-dränge noch größer als an dem früheren, ein wenigabgelegenen Platz. Außerdem füllte sich der Saaldesto mehr, je später es wurde. Immer wieder zogendurch die Haupttüre mit großem Hallo neue Gästeein. An manchen Stellen räumten Gäste selbstherrlichdas Büfett ab und setzten sich aufs Pult und trankeneinander zu, es waren die besten Plätze, man übersahden ganzen Saal.

Karl drängte sich zwar noch weiter durch, aber eineeigentliche Hoffnung, etwas zu erreichen, hatte ernicht mehr. Er machte sich Vorwürfe darüber, daß er,der die hiesigen Verhältnisse nicht kannte, sich zu

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dieser Besorgung angeboten hatte. Seine Kameradenwürden ihn mit vollem Rechte auszanken und garnoch denken, daß er, nur um Geld zu sparen, nichtsmitgebracht hatte. Nun stand er gar in einer Gegend,wo ringsherum an den Tischen warme Fleischspeisenmit schönen, gelben Kartoffeln gegessen wurden; eswar ihm unbegreiflich, wie sich die Leute das ver-schafft hatten.

Da sah er ein paar Schritte vor sich eine ältere, of-fenbar zum Hotelpersonal gehörige Frau, die lachendmit einem Gaste redete. Dabei arbeitete sie fortwäh-rend mit einer Haarnadel in ihrer Frisur herum. Sofortwar Karl entschlossen, seine Bestellung bei dieserFrau vorzubringen, schon weil sie ihm als die einzigeFrau im Saal eine Ausnahme vom allgemeinen Lärmund Jagen bedeutete und dann auch aus dem einfachenGrunde, weil sie die einzige Hotelangestellte war, dieman erreichen konnte, vorausgesetzt allerdings, daßsie nicht beim ersten Wort, das er an sie richtenwürde, in Geschäften fortlief. Aber ganz das Gegen-teil trat ein. Karl hatte sie noch gar nicht angeredet,sondern nur ein wenig belauert, als sie, wie man ebenmanchmal mitten im Gespräch beiseite schaut, zuKarl hinsah und ihn, ihre Rede unterbrechend, freund-lich und in einem Englisch, klar wie die Grammatik,fragte, ob er etwas suche.

»Allerdings«, sagte Karl »ich kann hier gar nichts

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bekommen.«»Dann kommen Sie mit mir, Kleiner«, sagte sie,

verabschiedete sich von ihrem Bekannten, der seinenHut abnahm, was hier wie unglaubliche Höflichkeiterschien, faßte Karl bei der Hand, ging zum Büfett,schob einen Gast beiseite, öffnete eine Klapptüre imPult, durchquerte den Gang hinter dem Pult, wo mansich vor den unermüdlich laufenden Kellnern in achtnehmen mußte, öffnete eine zweifache Tapetentüre,und schon befanden sie sich in großen, kühlen Vor-ratskammern. ›Man muß eben den Mechanismus ken-nen‹, sagte sich Karl.

»Also, was wollen Sie denn?« fragte sie und beugtesich dienstbereit zu ihm herab. Sie war sehr dick, ihrLeib schaukelte sich, aber ihr Gesicht hatte eine, na-türlich im Verhältnis, fast zarte Bildung. Karl warfast versucht, im Anblick der vielen Eßwaren, die hiersorgfältig in Regalen und auf Tischen aufgerichtetlagen, für seine Bestellung rasch ein feineres Nachtes-sen auszudenken, besonders da er erwarten konnte,von dieser einflußreichen Frau billiger bedient zuwerden, schließlich aber nannte er doch wieder, daihm nichts Passendes einfiel, nur Speck, Brot undBier.

»Nichts weiter?« fragte die Frau.»Nein danke«, sagte Karl, »aber für drei Perso-

nen.«

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Auf die Frage der Frau nach den beiden anderen er-zählte Karl in ein paar kurzen Worten von seinen Ka-meraden, es machte ihm Freude, ein wenig ausgefragtzu werden.

»Aber das ist ja Essen für Sträflinge«, sagte dieFrau und erwartete nun offenbar weitere WünscheKarls. Dieser aber fürchtete nun, sie werde ihn be-schenken und kein Geld annehmen wollen, undschwieg deshalb. »Das werden wir gleich zusammen-gestellt haben«, sagte die Frau, ging mit einer beiihrer Dicke bewunderungswerten Beweglichkeit zueinem Tisch hin, schnitt mit einem langen, dünnen,sägeblattartigen Messer ein großes Stück mit vielFleisch durchwachsenen Specks ab, nahm aus einemRegal einen Laib Brot, hob vom Boden drei FlaschenBier auf und legte alles in einen leichten Strohkorb,den sie Karl reichte. Zwischendurch erklärte sie Karl,sie habe ihn deshalb hierhergeführt, weil die Eßwarendraußen auf dem Büfett im Rauch und in den vielenAusdünstungen trotz dem schnellen Verbrauch immerdie Frische verlieren. Für die Leute draußen sei aberalles gut genug. Karl sagte nun gar nichts mehr, denner wußte nicht, wodurch er diese auszeichnende Be-handlung verdiene. Er dachte an seine Kameraden, dievielleicht, so gute Kenner Amerikas sie auch waren,doch nicht bis in diese Vorratskammer gedrungenwären und sich mit den verdorbenen Eßwaren auf dem

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Büfett hätten begnügen müssen. Man hörte hier kei-nen Laut aus dem Saal, die Mauern mußten sehr dicksein, um diese Gewölbe genügend kühl zu erhalten.Karl hatte schon den Strohkorb ein Weilchen lang inder Hand, dachte aber nicht ans Zahlen und rührtesich auch nicht. Nur als die Frau noch nachträglicheine Flasche, ähnlich denen, die draußen auf den Ti-schen standen, in den Korb legen wollte, dankte erschaudernd.

»Haben Sie noch einen weiten Marsch?« fragte dieFrau.

»Bis nach Butterford«, antwortete Karl.»Das ist noch sehr weit«, sagte die Frau.»Noch eine Tagereise«, sagte Karl.»Nicht weiter?« fragte die Frau.»O nein«, sagte Karl.Die Frau rückte einige Sachen auf den Tischen zu-

recht, ein Kellner kam herein, schaute suchend herum,wurde dann von der Frau auf eine große Schüssel, inder ein breiter, mit ein wenig Petersilie bestreuterHaufen von Sardinen lag, hingewiesen und trug danndiese Schüssel in den erhobenen Händen in den Saalhinaus.

»Warum wollen Sie denn eigentlich im Freienübernachten?« fragte die Frau.

»Wir haben hier Platz genug. Schlafen Sie bei unsim Hotel.«

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Das war für Karl sehr verlockend, besonders da erdie vorige Nacht so schlecht verbracht hatte.

»Ich habe mein Gepäck draußen«, sagte er zögerndund nicht ganz ohne Eitelkeit.

»Das bringen Sie nur her«, sagte die Frau, »das istkein Hindernis.«

»Aber meine Kameraden!« sagte Karl und merktesofort, daß die allerdings ein Hindernis waren.

»Die dürfen natürlich auch hier übernachten«,sagte die Frau.

»Kommen Sie nur! Lassen Sie sich nicht so bit-ten.« »Meine Kameraden sind im übrigen braveLeute«, sagte Karl, »aber sie sind nicht rein.«

»Haben Sie den Schmutz im Saal nicht gesehen?«fragte die Frau und verzog das Gesicht. »Zu uns kannwirklich der Ärgste kommen. Ich werde also gleichdrei Betten vorbereiten lassen. Allerdings nur auf demDachboden, denn das Hotel ist vollbesetzt, ich binauch auf den Dachboden übersiedelt, aber besser alsim Freien ist es jedenfalls.«

»Ich kann meine Kameraden nicht mitbringen«,sagte Karl. Er stellte sich vor, welchen Lärm die bei-den auf den Gängen dieses feinen Hotels machen wür-den; Robinson würde alles verunreinigen und Dela-marche unfehlbar selbst diese Frau belästigen.

»Ich weiß nicht, warum das unmöglich sein soll«,sagte die Frau, »aber wenn Sie es so wollen, dann

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lassen Sie eben Ihre Kameraden draußen und kommenallein zu uns.«

»Das geht nicht, das geht nicht«, sagte Karl, »essind meine Kameraden und ich muß bei ihnen blei-ben.«

»Sie sind starrköpfig«, sagte die Frau und sah vonihm weg »man meint es gut mit Ihnen, möchte Ihnengern behilflich sein, und Sie wehren sich mit allenKräften.« Karl sah das alles ein, aber er wußte keinenAusweg, so sagte er nur noch: »Meinen besten Dankfür Ihre Freundlichkeit.« Dann erinnerte er sich daran,daß er noch nicht gezahlt hatte, und fragte nach demschuldigen Betrag.

»Zahlen Sie das erst, wenn Sie mir den Strohkorbzurückbringen«, sagte die Frau. »Spätestens morgenfrüh muß ich ihn haben.«

»Bitte«, sagte Karl. Sie öffnete eine Türe, die gera-dewegs ins Freie führte, und sagte noch, während ermit einer Verbeugung hinaustrat: »Gute Nacht, Siehandeln aber nicht recht.« Er war schon ein paarSchritte weit, da rief sie ihm noch nach: »Auf Wieder-sehen morgen!«

Kaum war er draußen, hörte er auch schon wiederaus dem Saal den ungeschwächten Lärm, in den sichjetzt auch Klänge eines Blasorchesters mischten. Erwar froh, daß er nicht durch den Saal hatte hinausge-hen müssen. Das Hotel war jetzt in allen seinen fünf

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Stockwerken beleuchtet und machte die Straße davorin ihrer ganzen Breite hell. Noch immer fuhren drau-ßen, wenn auch schon in unterbrochener Folge, Auto-mobile, rascher aus der Ferne her anwachsend als beiTage, tasteten mit den weißen Strahlen ihrer Laternenden Boden der Straße ab, kreuzten mit erblassendenLichtern die Lichtzone des Hotels und eilten aufleuch-tend in das weitere Dunkel.

Die Kameraden fand Karl schon in tiefem Schlaf,er war aber auch zu lange ausgeblieben. Gerade woll-te er das Mitgebrachte appetitlich auf Papiere ausbrei-ten, die er im Korb vorfand, um erst, wenn alles fertigwäre, die Kameraden zu wecken, als er zu seinemSchrecken seinen Koffer, den er abgesperrt zurückge-lassen hatte und dessen Schlüssel er in der Taschetrug, vollständig geöffnet sah, während der halbe In-halt ringsherum im Gras verstreut war.

»Steht auf!« rief er. »Ihr schlaft, und inzwischenwaren Diebe da.«

»Fehlt denn etwas?« fragte Delamarche. Robinsonwar noch nicht ganz wach und griff schon nach demBier.

»Ich weiß nicht«, rief Karl, »aber der Koffer istoffen. Das ist doch eine Unvorsichtigkeit, sich schla-fen zu legen und den Koffer hier frei stehen zu las-sen.«

Delamarche und Robinson lachten, und der erstere

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sagte: »Sie dürfen eben nächstens nicht so lange fort-bleiben. Das Hotel ist zehn Schritte entfernt, und Siebrauchen zum Hin- und Herweg drei Stunden. Wirhaben Hunger gehabt, haben gedacht, daß Sie inIhrem Koffer etwas zum Essen haben könnten, undhaben das Schloß so lange gekitzelt, bis es sich aufge-macht hat. Im übrigen war ja gar nichts darin, und Siekönnen alles wieder ruhig einpacken.«

»So«, sagte Karl, starrte in den rasch sich leeren-den Korb und horchte auf das eigentümliche Ge-räusch, das Robinson beim Trinken hervorbrachte, daihm die Flüssigkeit zuerst weit in die Gurgel ein-drang, dann aber mit einer Art Pfeifen wieder zurück-schnellte, um erst dann in großem Erguß in die Tiefezu rollen.

»Haben Sie schon zu Ende gegessen?« fragte er,als sich die beiden einen Augenblick verschnauften.

»Haben Sie denn nicht schon im Hotel gegessen?«fragte Delamarche, der glaubte, Karl beanspruche sei-nen Anteil.

»Wenn Sie noch essen wollen, dann beeilen Siesich«, sagte Karl und ging zu seinem Koffer.

»Der scheint Launen zu haben«, sagte Delamarchezu Robinson.

»Ich habe keine Launen«, sagte Karl, »aber ist dasvielleicht recht, in meiner Abwesenheit meinen Kofferaufzubrechen und meine Sachen herauszuwerfen? Ich

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weiß, man muß unter Kameraden manches dulden,und ich habe mich auch darauf vorbereitet, aber dasist zu viel.

Ich werde im Hotel übernachten und gehe nichtnach Butterford. Essen Sie rasch auf, ich muß denKorb zurückgeben.«

»Siehst du, Robinson, so spricht man«, sagte Dela-marche, »das ist die feine Redeweise. Er ist eben einDeutscher. Du hast mich früh vor ihm gewarnt, aberich bin ein guter Narr gewesen und habe ihn dochmitgenommen. Wir haben ihm unser Vertrauen ge-schenkt, haben ihn einen ganzen Tag mit uns ge-schleppt, haben dadurch zumindest einen halben Tagverloren und jetzt - weil ihn dort im Hotel irgend je-mand gelockt hat - verabschiedet er sich, verabschie-det sich einfach. Aber weil er ein falscher Deutscherist, tut er dies nicht offen, sondern sucht sich den Vor-wand mit dem Koffer, und weil er ein grober Deut-scher ist, kann er nicht weggehen, ohne uns in unsererEhre zu beleidigen und uns Diebe zu nennen, weil wirmit seinem Koffer einen kleinen Scherz gemachthaben.«

Karl, der seine Sachen packte, sagte, ohne sich um-zuwenden: »Reden Sie nur so weiter und erleichternSie mir das Weggehen. Ich weiß ganz gut, was Kame-radschaft ist. Ich habe in Europa auch Freunde ge-habt, und keiner kann mir vorwerfen, daß ich mich

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falsch oder gemein gegen ihn benommen hätte. Wirsind jetzt natürlich außer Verbindung, aber wenn ichnoch einmal nach Europa zurückkommen sollte, wer-den mich alle gut aufnehmen und mich sofort als ihrenFreund anerkennen. - Und Sie, Delamarche, und Sie,Robinson, Sie hätte ich verraten sollen, da Sie doch,was ich niemals vertuschen werde, so freundlichwaren, sich meiner anzunehmen und mir eine Lehr-lingsstelle in Butterford in Aussicht zu stellen. Aberes ist etwas anderes. Sie haben nichts, und das ernied-rigt Sie in meinen Augen nicht im geringsten, aber Siemißgönnen mir meinen kleinen Besitz und suchenmich deshalb zu demütigen, das kann ich nicht aus-halten. Und nun, nachdem Sie meinen Koffer aufge-brochen haben, entschuldigen Sie sich mit keinemWort, sondern beschimpfen mich noch und beschimp-fen weiter mein Volk - damit nehmen Sie mir aberauch jede Möglichkeit, bei Ihnen zu bleiben. Übri-gens gilt das alles nicht eigentlich von Ihnen, Robin-son. Gegen Ihren Charakter habe ich nur einzuwen-den, daß Sie von Delamarche zu sehr abhängig sind.«

»Da sehen wir ja«, sagte Delamarche, indem er zuKarl trat und ihm einen leichten Stoß gab, wie um ihnaufmerksam zu machen »da sehen wir ja, wie Sie sichentpuppen. Den ganzen Tag sind Sie hinter mir ge-gangen, haben sich an meinem Rock gehalten, habenmir jede Bewegung nachgemacht und waren sonst

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still wie ein Mäuschen. Jetzt aber, da Sie im Hotel ir-gendeinen Rückhalt spüren, fangen Sie große Redenzu halten an. Sie sind ein kleiner Schlaumeier, und ichweiß noch gar nicht, ob wir das so ruhig hinnehmenwerden. Ob wir nicht das Lehrgeld für das verlangenwerden, was Sie uns während des Tages abgeschauthaben. Du, Robinson, wir beneiden ihn - meint er -um seinen Besitz. Ein Tag Arbeit in Butterford - vonKalifornien gar nicht zu reden -, und wir haben zehn-mal mehr, als Sie uns gezeigt haben und als Sie inIhrem Rockfutter noch versteckt haben mögen. Also,nur immer Achtung aufs Maul!«

Karl hatte sich vom Koffer erhoben und sah nunauch den verschlafenen, aber vom Bier ein wenig be-lebten Robinson herankommen. »Wenn ich nochlange hierbliebe«, sagte er, »könnte ich vielleichtnoch weitere Überraschungen erleben. Sie scheinenLust zu haben, mich durchzuprügeln.«

»Alle Geduld hat ein Ende«, sagte Robinson.»Sie schweigen besser, Robinson«, sagte Karl,

ohne Delamarche aus den Augen zu lassen, »im In-nern geben Sie mir ja doch recht, aber nach außenmüssen Sie es mit Delamarche halten!«

»Wollen Sie ihn vielleicht bestechen?« fragte Dela-marche.

»Fällt mir nicht ein«, sagte Karl. »Ich bin froh, daßich fortgehe, und ich will mit keinem von Ihnen mehr

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etwas zu tun haben. Nur eines will ich noch sagen,Sie haben mir den Vorwurf gemacht, daß ich Geld be-sitze und es vor Ihnen versteckt habe. Angenommen,daß es wahr ist, war es nicht sehr richtig Leuten ge-genüber gehandelt, die ich erst ein paar Stunden kann-te, und bestätigen Sie nicht noch durch Ihr jetzigesBenehmen die Richtigkeit einer derartigen Hand-lungsweise?«

»Bleib ruhig«, sagte Delamarche zu Robinson, ob-wohl sich dieser nicht rührte.

Dann fragte er Karl: »Da Sie so unverschämt auf-richtig sind, so treiben Sie doch, da wir ja so gemüt-lich beisammenstehen, diese Aufrichtigkeit noch wei-ter und gestehen Sie ein, warum Sie eigentlich insHotel wollen.« Karl mußte einen Schritt über denKoffer hinweg machen, so nahe war Delamarche anihn herangetreten. Aber Delamarche ließ sich dadurchnicht beirren, schob den Koffer beiseite, machte einenSchritt vorwärts, wobei er den Fuß auf ein weißesVorhemd setzte, das im Gras liegengeblieben war,und wiederholte seine Frage.

Wie zur Antwort stieg von der Straße her ein Mannmit einer stark leuchtenden Taschenlampe zu derGruppe herauf. Es war ein Kellner aus dem Hotel.Kaum hatte er Karl erblickt, sagte er: »Ich suche Sieschon fast eine halbe Stunde. Alle Böschungen aufbeiden Straßenseiten habe ich schon abgesucht. Die

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Frau Oberköchin läßt Ihnen nämlich sagen, daß sieden Strohkorb, den sie Ihnen geborgt hat, dringendbraucht.«

»Hier ist er«, sagte Karl mit einer vor Aufregungunsicheren Stimme. Delamarche und Robinson warenin scheinbarer Bescheidenheit beiseite getreten, wiesie es vor fremden gutgestellten Leuten immer mach-ten. Der Kellner nahm den Korb an sich und sagte:»Dann läßt Sie die Frau Oberköchin fragen, ob Sie essich nicht überlegt haben und doch vielleicht im Hotelübernachten wollten. Auch die beiden anderen Herrenwären willkommen, wenn Sie sie mitnehmen wollen.Die Betten sind schon vorbereitet. Die Nacht ist jaheute warm, aber hier, auf der Lehne, ist es durchausnicht ungefährlich zu schlafen, man findet öftersSchlangen.«

»Da die Frau Oberköchin so freundlich ist, werdeich ihre Einladung doch annehmen«, sagte Karl undwartete auf eine Äußerung seiner Kameraden. AberRobinson stand stumpf da, und Delamarche hatte dieHände in den Hosentaschen und schaute zu den Ster-nen hinauf. Beide bauten offenbar darauf, daß Karlsie ohne weiteres mitnehmen werde.

»Für diesen Fall«, sagte der Kellner »habe ich denAuftrag, Sie ins Hotel zu führen und Ihr Gepäck zutragen.«

»Dann warten Sie, bitte, noch einen Augenblick«,

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sagte Karl und bückte sich, um die paar Sachen, dienoch herumlagen, in den Koffer zu legen.

Plötzlich richtete er sich auf. Die Photographiefehlte, sie war ganz oben im Koffer gelegen und warnirgends zu finden. Alles war vollständig, nur diePhotographie fehlte.

»Ich kann die Photographie nicht finden«, sagte erbittend zu Delamarche.

»Welche Photographie?« fragte dieser.»Die Photographie meiner Eltern«, sagte Karl.»Wir haben keine Photographie gesehen«, sagte

Delamarche.»Es war keine Photographie darin, Herr Roß-

mann«, bestätigte auch Robinson von seiner Seite.»Aber das ist doch unmöglich«, sagte Karl, und

seine hilfesuchenden Blicke zogen den Kellner näher.»Sie lag obenauf und jetzt ist sie weg. Wenn Sie dochlieber den Spaß mit dem Koffer nicht gemacht hät-ten.«

»Jeder Irrtum ist ausgeschlossen«, sagte Delamar-che, »in dem Koffer war keine Photographie.«

»Sie war mir wichtiger als alles, was ich sonst imKoffer habe«, sagte Karl zum Kellner, der herumgingund im Grase suchte. »Sie ist nämlich unersetzlich,ich bekomme keine zweite.« Und als der Kellner vondem aussichtslosen Suchen abließ, sagte er noch: »Eswar das einzige Bild, das ich von meinen Eltern

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besaß.«Daraufhin sagte der Kellner laut, ohne jede Be-

schönigung: »Vielleicht könnten wir noch die Tas-chen der Herren untersuchen.«

»Ja«, sagte Karl sofort, »ich muß die Photographiefinden. Aber ehe ich die Taschen durchsuche, sage ichnoch, daß, wer mir die Photographie freiwillig gibt,den ganzen gefüllten Koffer bekommt.« Nach einemAugenblick allgemeiner Stille sagte Karl zum Kell-ner: »Meine Kameraden wollen also offenbar die Ta-schendurchsuchung. Aber selbst jetzt verspreche ichsogar demjenigen, in dessen Tasche die Photographiegefunden wird, den ganzen Koffer. Mehr kann ichnicht tun.«

Sofort machte sich der Kellner daran, Delamarchezu untersuchen, der ihm schwieriger zu behandelnschien als Robinson, den er Karl überließ. Er machteKarl darauf aufmerksam, daß beide gleichzeitig unter-sucht werden müßten, da sonst einer unbeobachtet diePhotographie beiseiteschaffen könnte. Gleich beimersten Griff fand Karl in Robinsons Tasche eine ihmgehörige Krawatte, aber er nahm sie nicht an sich undrief dem Kellner zu: »Was Sie bei Delamarche auchfinden mögen, lassen Sie ihm, bitte, alles. Ich willnichts als die Photographie, nur die Photographie.«

Beim Durchsuchen der Brusttaschen gelangte Karlmit der Hand an die heiße, fettige Brust Robinsons,

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und es kam ihm zu Bewußtsein, daß er an seinen Ka-meraden vielleicht ein großes Unrecht begehe. Er be-eilte sich nun nach Möglichkeit. Im übrigen war allesumsonst, weder bei Robinson noch bei Delamarchefand sich die Photographie vor.

»Es hilft nichts«, sagte der Kellner.»Sie haben wahrscheinlich die Photographie zerris-

sen und die Stücke weggeworfen«, sagte Karl. »Ichdachte, sie wären Freunde, aber im geheimen wolltensie mir nur schaden. Nicht eigentlich Robinson, derwäre gar nicht auf den Einfall gekommen, daß diePhotographie solchen Wert für mich hat, aber destomehr Delamarche.« Karl sah nur den Kellner vor sich,dessen Laterne einen kleinen Kreis beleuchtete, wäh-rend alles sonst, auch Delamarche und Robinson, intiefem Dunkel war.

Es war natürlich gar nicht mehr die Rede davon,daß die beiden in das Hotel mitgenommen werdenkönnten. Der Kellner schwang den Koffer auf dieAchsel, Karl nahm den Strohkorb, und sie gingen.Karl war schon auf der Straße, als er, im Nachdenkensich unterbrechend, stehen blieb und in das Dunkelhinaufrief: »Hören Sie einmal, sollte doch einer vonIhnen die Photographie noch haben und mir ins Hotelbringen wollen - er bekommt den Koffer noch immerund wird, ich schwöre es, nicht angezeigt.« Es kamkeine eigentliche Antwort herunter, nur ein

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abgerissenes Wort war zu hören, der Beginn einesZurufs Robinsons, dem aber offenbar Delamarche so-fort den Mund stopfte. Noch eine lange Weile warteteKarl, ob man sich oben nicht doch noch anders ent-scheiden würde. Zweimal rief er in Abständen: »Ichbin noch immer da!« Aber kein Laut antwortete, nureinmal rollte ein Stein den Abhang herab, vielleichtdurch Zufall, vielleicht in einem verfehlten Wurf.

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Hotel Occidental

Im Hotel wurde Karl gleich in eine Art Büro ge-führt, in welchem die Oberköchin, ein Vormerkbuchin der Hand, einer jungen Schreibmaschinistin einenBrief in die Schreibmaschine diktierte. Das äußerstpräzise Diktieren, der beherrschte und elastische Ta-stenschlag jagten an dem nur hie und da merklichenTicken der Wanduhr vorüber, die schon fast halbzwölf zeigte. »So!« sagte die Oberköchin, klappte dasVormerkbuch zu, die Schreibmaschinistin sprang aufund stülpte den Holzdeckel über die Maschine, ohnebei dieser mechanischen Arbeit die Augen von Karlzu lassen. Sie sah noch wie ein Schulmädchen aus,ihre Schürze war sehr sorgfältig gebügelt, auf denAchseln zum Beispiel gewellt, die Frisur recht hoch,und man staunte ein wenig, wenn man nach diesenEinzelheiten ihr ernstes Gesicht sah. Nach Verbeu-gungen, zuerst gegen die Oberköchin, dann gegenKarl, entfernte sie sich, und Karl sah unwillkürlichdie Oberköchin mit einem fragenden Blicke an.

»Das ist aber schön, daß Sie nun doch gekommensind«, sagte die Oberköchin.

»Und Ihre Kameraden?«»Ich habe sie nicht mitgenommen«, sagte Karl.»Die marschieren wohl sehr früh aus«, sagte die

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Oberköchin, wie um sich die Sache zu erklären.›Muß sie denn nicht denken, daß ich auch mitmar-

schiere?‹ fragte sich Karl und sagte deshalb, um jedenZweifel auszuschließen: »Wir sind in Unfrieden aus-einandergegangen.«

Die Oberköchin schien das als eine angenehmeNachricht aufzufassen.

»Dann sind Sie also frei?« fragte sie.»Ja, frei bin ich«, sagte Karl, und nichts schien ihm

wertloser.»Hören Sie, möchten Sie nicht hier im Hotel eine

Stelle annehmen?« fragte die Oberköchin.»Sehr gern«, sagte Karl, »ich habe aber entsetzlich

wenig Kenntnisse. Ich kann zum Beispiel nicht ein-mal auf der Schreibmaschine schreiben.«

»Das ist nicht das Wichtigste«, sagte die Oberkö-chin. »Sie bekämen eben vorläufig nur eine ganz klei-ne Anstellung und müßten dann zusehen, durch Fleißund Aufmerksamkeit sich hinaufzubringen. Jedenfallsaber glaube ich, daß es für Sie besser und passenderwäre, sich irgendwo festzusetzen, statt so durch dieWelt zu bummeln. Dazu scheinen Sie mir nicht ge-macht.«

›Das würde alles auch der Onkel unterschreiben‹,sagte sich Karl und nickte zustimmend. Gleichzeitigerinnerte er sich, daß er, um den man so besorgt war,sich noch gar nicht vorgestellt hatte. »Entschuldigen

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Sie, bitte«, sagte er »daß ich mich noch gar nicht vor-gestellt habe, ich heiße Karl Roßmann.«

»Sie sind ein Deutscher, nicht wahr?«»Ja«, sagte Karl, »ich bin noch nicht lange in Ame-

rika.«»Woher sind Sie denn?«»Aus Prag in Böhmen«, sagte Karl.»Sehen Sie einmal an«, rief die Oberköchin in

einem stark englisch betonten Deutsch und hob fastdie Arme, »dann sind wir ja Landsleute, ich heißeGrete Mitzelbach und bin aus Wien. Und Prag kenneich ja ausgezeichnet, ich war ja ein halbes Jahr in derGoldenen Gans auf dem Wenzelsplatz angestellt.Aber denken Sie nur einmal!«

»Wann ist das gewesen?« fragte Karl.»Das ist schon viele, viele Jahre her.«»Die alte Goldene Gans«, sagte Karl, »ist vor zwei

Jahren niedergerissen worden.«»Ja, freilich«, sagte die Oberköchin, ganz in Ge-

danken an vergangene Zeiten.Mit einem Male aber wieder lebhaft werdend, rief

sie und faßte dabei Karls Hände: »Jetzt, da es sichherausgestellt hat, daß Sie mein Landsmann sind,dürfen Sie um keinen Preis von hier fort. Das dürfenSie mir nicht antun. Hätten Sie zum Beispiel Lust,Liftjunge zu werden? Sagen Sie nur ja und Sie sindes. Wenn Sie ein bißchen herumgekommen sind,

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werden Sie wissen, daß es nicht besonders leicht ist,solche Stellen zu bekommen, denn sie sind der besteAnfang, den man sich denken kann. Sie kommen mitallen Gästen zusammen, man sieht Sie immer, mangibt Ihnen kleine Aufträge; kurz, Sie haben jeden Tagdie Möglichkeit, zu etwas Besserem zu gelangen. Füralles übrige lassen Sie mich sorgen.«

»Liftjunge möchte ich ganz gerne sein«, sagte Karlnach einer kleinen Pause. Es wäre ein großer Unsinngewesen, gegen die Stelle eines Liftjungen mit Rück-sicht auf seine fünf Gymnasialklassen Bedenken zuhaben. Eher wäre hier in Amerika Grund gewesen,sich der fünf Gymnasialklassen zu schämen. Übrigenshatten die Liftjungen Karl immer gefallen, sie warenihm wie der Schmuck des Hotels erschienen.

»Sind nicht Sprachkenntnisse erforderlich?« fragteer noch.

»Sie sprechen Deutsch und ein schönes Englisch,das genügt vollkommen.«

»Englisch habe ich erst in Amerika in zweieinhalbMonaten erlernt«, sagte Karl, er glaubte, seinen einzi-gen Vorzug nicht verschweigen zu dürfen.

»Das spricht schon genügend für Sie«, sagte dieOberköchin.

»Wenn ich daran denke, welche Schwierigkeitenmir das Englisch gemacht hat. Das ist allerdingsschon seine dreißig Jahre her. Gerade gestern habe ich

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davon gesprochen. Gestern war nämlich mein fünfzig-ster Geburtstag.« Und sie suchte lächelnd den Ein-druck von Karls Mienen abzulesen, den die Würdedieses Alters auf ihn machte.

»Dann wünsche ich Ihnen viel Glück«, sagte Karl.»Das kann man immer brauchen«, sagte sie, schüt-

telte Karl die Hand und wurde wieder halb traurigüber diese alte Redensart aus der Heimat, die ihr daim Deutschsprechen eingefallen war.

»Aber ich halte Sie hier auf«, rief sie dann.»Und Sie sind gewiß sehr müde, und wir können

auch alles viel besser bei Tag besprechen. Die Freude,einen Landsmann getroffen zu haben, macht ganz ge-dankenlos. Kommen Sie, ich werde Sie in Ihr Zimmerführen.«

»Ich habe noch eine Bitte, Frau Oberköchin«, sagteKarl im Anblick des Telephonkastens, der auf demTisch stand, »es ist möglich, daß mir morgen, viel-leicht sehr früh, meine früheren Kameraden eine Pho-tographie bringen, die ich dringend brauche. WärenSie so freundlich und würden Sie dem Portier telepho-nieren, er möchte die Leute zu mir schicken oder michholen lassen?«

»Gewiß«, sagte die Oberköchin, »aber würde esnicht genügen, wenn er ihnen die Photographie ab-nimmt? Was ist es denn für eine Photographie, wennman fragen darf?«

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»Es ist die Photographie meiner Eltern«, sagteKarl.

»Nein, ich muß mit den Leuten selbst sprechen.«Die Oberköchin sagte nichts weiter und gab telepho-nisch in die Portierloge den entsprechenden Befehl,wobei sie 536 als Zimmernummer Karls nannte.

Sie gingen dann durch eine der Eingangstür entge-gengesetzte Tür auf einen kleinen Gang hinaus, wo andem Geländer eines Aufzuges ein kleiner Liftjungeschlafend lehnte.

»Wir können uns selbst bedienen«, sagte die Ober-köchin leise und ließ Karl in den Aufzug eintreten.

»Eine Arbeitszeit von zehn bis zwölf Stunden isteben ein wenig zuviel für einen solchen Jungen«,sagte sie dann, während sie aufwärts fuhren.

»Aber es ist eigentümlich in Amerika. Da ist dieserkleine Junge zum Beispiel, er ist auch erst vor einemhalben Jahre mit seinen Eltern hier angekommen, erist ein Italiener. Jetzt sieht er aus, als könne er die Ar-beit unmöglich aushalten, hat schon kein Fleisch imGesicht, schläft im Dienst ein, obwohl er von Natursehr bereitwillig ist, - aber er muß nur noch ein hal-bes Jahr hier oder irgendwo anders in Amerika dienenund hält alles mit Leichtigkeit aus, und in fünf Jahrenwird er ein starker Mann sein. Von solchen Beispie-len könnte ich Ihnen stundenlang erzählen. Dabeidenke ich gar nicht an Sie, denn Sie sind ein kräftiger

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Junge; Sie sind siebzehn Jahre alt, nicht?«»Ich werde nächsten Monat sechzehn«, antwortete

Karl.»Sogar erst sechzehn!« sagte die Oberköchin.

»Also nur Mut!«Oben führte sie Karl in ein Zimmer, das zwar

schon als Dachzimmer eine schiefe Wand hatte, imübrigen aber bei einer Beleuchtung durch zwei Glüh-lampen sich sehr wohnlich zeigte.

»Erschrecken Sie nicht über die Einrichtung«, sagtedie Oberköchin, »es ist nämlich kein Hotelzimmer,sondern ein Zimmer meiner Wohnung, die aus dreiZimmern besteht, so daß Sie mich nicht im geringstenstören. Ich sperre die Verbindungstüre ab, so daß Sieganz ungeniert bleiben. Morgen, als neuer Hotelange-stellter, werden Sie natürlich Ihr eigenes Zimmerchenbekommen. Wären Sie mit Ihren Kameraden gekom-men, dann hätte ich Ihnen in der gemeinsamen Schlaf-kammer der Hausdiener aufbetten lassen, aber da Sieallein sind, denke ich, daß es Ihnen hier besser passenwird, wenn Sie auch nur auf einem Sofa schlafenmüssen. Und nun schlafen Sie wohl, damit Sie sichfür den Dienst kräftigen. Er wird morgen noch nichtzu anstrengend sein.«

»Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Freundlichkeit.«»Warten Sie«, sagte sie, beim Ausgang stehenblei-

bend, »da wären Sie aber bald geweckt worden.« Und

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sie ging zu der einen Seitentür des Zimmers, klopfteund rief: »Therese!«

»Bitte, Frau Oberköchin«, meldete sich die Stimmeder kleinen Schreibmaschinistin.

»Wenn du mich früh wecken gehst, so mußt duüber den Gang gehen, hier im Zimmer schläft einGast. Er ist todmüde.« Sie lächelte Karl zu, währendsie dies sagte. »Hast du verstanden?«

»Ja, Frau Oberköchin.«»Also dann gute Nacht!«»Gute Nacht wünsch ich.«»Ich schlafe nämlich«, sagte die Oberköchin zur

Erklärung, »seit einigen Jahren ungemein schlecht.Jetzt kann ich ja mit meiner Stellung zufrieden seinund brauche eigentlich keine Sorgen zu haben. Aberes müssen die Folgen meiner früheren Sorgen sein,die mir diese Schlaflosigkeit verursachen. Wenn ichum drei Uhr früh einschlafe, kann ich froh sein. Daich aber schon um fünf, spätestens um halb sechs wie-der auf dem Platze sein muß, muß ich mich weckenlassen, und zwar besonders vorsichtig, damit ich nichtnoch nervöser werde, als ich es schon bin. Und daweckt mich eben die Therese. Aber jetzt wissen Siewirklich schon alles, und ich komme gar nicht weg.Gute Nacht!« Und trotz ihrer Schwere huschte sie fastaus dem Zimmer.

Karl freute sich auf den Schlaf, denn der Tag hatte

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ihn sehr hergenommen. Und behaglichere Umgebungkonnte er für einen langen, ungestörten Schlaf garnicht wünschen. Das Zimmer war zwar nicht zumSchlafzimmer bestimmt, es war eher ein Wohnzim-mer, oder, richtiger, ein Repräsentationszimmer derOberköchin, und ein Waschtisch war ihm zuliebe ei-gens für diesen Abend hergebracht worden, aber den-noch fühlte sich Karl nicht als Eindringling, sondernnur desto besser versorgt. Sein Koffer war richtig her-gestellt und wohl schon lange nicht in größerer Si-cherheit gewesen. Auf einem niedrigen Schrank mitSchiebefächern, über den eine großmaschige wolleneDecke gezogen war, standen verschiedene Photogra-phien im Rahmen und unter Glas; bei der Besichti-gung des Zimmers blieb Karl da stehen und sah siean. Es waren meist alte Photographien und stellten inder Mehrzahl Mädchen dar, die, in unmodernen, un-behaglichen Kleidern, mit locker aufgesetzten, klei-nen, aber hochgehenden Hüten, die rechte Hand aufeinen Schirm gestützt, dem Beschauer zugewendetwaren und doch mit den Blicken auswichen. Unterden Herrenbildnissen fiel Karl besonders das einesjungen Soldaten auf, der das Käppi auf ein Tischchengelegt hatte, stramm mit seinem wilden schwarzenHaar dastand und voll von einem stolzen, aber unter-drückten Lachen war. Die Knöpfe seiner Uniformwaren auf der Photographie nachträglich vergoldet

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worden. Alle diese Photographien stammten wohlnoch aus Europa, man hätte dies auf der Rückseitewahrscheinlich auch genau ablesen können, aber Karlwollte sie nicht in die Hand nehmen. So wie diesePhotographien hier standen, so hätte er auch die Pho-tographie seiner Eltern in seinem künftigen Zimmeraufstellen mögen.

Gerade streckte er sich nach einer gründlichen Wa-schung des ganzen Körpers, die er, seiner Nachbarinwegen, möglichst leise durchzuführen sich bemühthatte, im Vorgenuß des Schlafes auf seinem Kanapeeaus, da glaubte er ein schwaches Klopfen an einer Türzu hören. Man konnte nicht gleich feststellen, an wel-cher Tür es war, es konnte auch bloß ein zufälligesGeräusch sein. Es wiederholte sich auch nicht gleich,und Karl schlief schon fast, als es wieder erfolgte.Aber nun war kein Zweifel mehr, daß es ein Klopfenwar und von der Tür der Schreibmaschinistin herkam.Karl lief auf den Fußspitzen zur Tür hin und fragte soleise, daß es, wenn man trotz allem nebenan dochschlief, niemanden hätte wecken können: »WünschenSie etwas?«

Sofort und ebenso leise kam die Antwort: »Möch-ten Sie nicht die Tür öffnen? Der Schlüssel steckt aufIhrer Seite.«

»Bitte«, sagte Karl, »ich muß mich nur zuerst an-ziehen.« Es gab eine kleine Pause, dann hieß es: »Das

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ist nicht nötig. Machen Sie auf und legen Sie sich insBett, ich werde ein wenig warten.«

»Gut«, sagte Karl und führte es auch so aus, nurdrehte er außerdem noch das elektrische Licht an.

»Ich liege schon«, sagte er dann etwas lauter. Datrat auch schon aus ihrem dunklen Zimmer die kleineSchreibmaschinistin, genau so angezogen wie untenim Büro, sie hatte wohl die ganze Zeit über nichtdaran gedacht, schlafen zu gehen.

»Entschuldigen Sie vielmals«, sagte sie und standein wenig gebückt vor Karls Lager, »und verraten Siemich, bitte, nicht. Ich will Sie auch nicht lange stören,ich weiß, daß Sie todmüde sind.«

»Es ist nicht so arg«, sagte Karl, »aber es wärevielleicht doch besser gewesen, ich hätte mich ange-zogen.« Er mußte ausgestreckt daliegen, um bis anden Hals zugedeckt sein zu können, denn er besaßkein Nachthemd.

»Ich bleibe ja nur einen Augenblick«, sagte sie undgriff nach einem Sessel. »Kann ich mich zum Kana-pee setzen?«

Karl nickte. Da setzte sie sich so eng zum Kana-pee, daß Karl an die Mauer rücken mußte, um zu ihraufschauen zu können. Sie hatte ein rundes, gleichmä-ßiges Gesicht, nur die Stirn war ungewöhnlich hoch,aber das konnte auch vielleicht nur an der Frisur lie-gen, die ihr nicht recht paßte. Ihr Anzug war sehr rein

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und sorgfältig. In der linken Hand quetschte sie einTaschentuch.

»Werden Sie lange hierbleiben?« fragte sie.»Es ist noch nicht ganz bestimmt«, antwortete

Karl, »aber ich denke, ich werde bleiben.«»Das wäre nämlich sehr gut«, sagte sie und fuhr

mit dem Taschentuch über ihr Gesicht, »ich bin hiernämlich so allein.«

»Das wundert mich«, sagte Karl.»Die Frau Oberköchin ist doch sehr freundlich zu

Ihnen. Sie behandelt Sie gar nicht wie eine Angestell-te. Ich dachte schon, Sie wären Verwandte.«

»O nein«, sagte sie, »ich heiße Therese Berchtold,ich bin aus Pommern.«

Auch Karl stellte sich vor, daraufhin sah sie ihnzum erstenmal voll an, als sei er ihr durch die Na-mensnennung ein wenig fremder geworden. Sieschwiegen ein Weilchen. Dann sagte sie: »Sie dürfennicht glauben, daß ich undankbar bin. Ohne die FrauOberköchin stünde es ja mit mir viel schlechter. Ichwar früher Küchenmädchen hier im Hotel und schonin großer Gefahr, entlassen zu werden, denn ich konn-te die schwere Arbeit nicht leisten. Man stellt hiersehr große Ansprüche. Vor einem Monat ist ein Kü-chenmädchen nur vor Überanstrengung ohnmächtiggeworden und vierzehn Tage im Krankenhaus gele-gen. Und ich bin nicht sehr stark, ich habe früher viel

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zu leiden gehabt und bin dadurch in der Entwicklungein wenig zurückgeblieben; Sie würden wohl garnicht sagen, daß ich schon achtzehn Jahre alt bin.Aber jetzt werde ich schon stärker.«

»Der Dienst hier muß wirklich sehr anstrengendsein«, sagte Karl. »Unten habe ich jetzt einen Liftjun-gen stehend schlafen gesehen.«

»Dabei haben es die Liftjungen noch am besten«,sagte sie »die verdienen ihr schönes Geld an Trinkgel-dern und müssen sich schließlich doch bei weitemnicht so plagen wie die Leute in der Küche. Aber dahabe ich wirklich einmal Glück gehabt, die FrauOberköchin hat einmal ein Mädchen gebraucht, umdie Servietten für ein Bankett herzurichten, hat zu unsKüchenmädchen heruntergeschickt, es gibt hier anfünfzig solcher Mädchen, ich war gerade bei der Handund habe sie sehr zufriedengestellt, denn im Aufbauender Servietten habe ich mich immer ausgekannt. Undso hat sie mich von da an in ihrer Nähe behalten undallmählich zu ihrer Sekretärin ausgebildet. Dabeihabe ich sehr viel gelernt.«

»Gibt es denn da so viel zu schreiben?« fragteKarl.

»Ach, sehr viel«, antwortete sie, »das können Siesich wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Sie habendoch gesehen, daß ich heute bis halb zwölf gearbeitethabe, und heute ist kein besonderer Tag. Allerdings

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schreibe ich nicht immerfort, sondern habe auch vieleBesorgungen in der Stadt zu machen.«

»Wie heißt denn die Stadt?« fragte Karl.»Das wissen Sie nicht?« sagte sie, »Ramses.«»Ist es eine große Stadt?« fragte Karl.»Sehr groß«, antwortete sie, »ich gehe nicht gern

hin. Aber wollen Sie nicht wirklich schon schlafen?«»Nein, nein«, sagte Karl, »ich weiß ja noch gar

nicht, warum Sie hereingekommen sind.«»Weil ich mit niemandem reden kann. Ich bin nicht

wehleidig, aber wenn wirklich niemand für einen daist, so ist man schon glücklich, schließlich von jeman-dem angehört zu werden. Ich habe Sie schon unten imSaal gesehen, ich kam gerade, um die Frau Oberkö-chin zu holen, als sie Sie in die Speisekammer weg-führte.«

»Das ist ein schrecklicher Saal«, sagte Karl.»Ich merke es schon gar nicht mehr«, antwortete

sie. »Aber ich wollte nur sagen, daß ja die Frau Ober-köchin so freundlich zu mir ist, wie es nur meineMutter war. Aber es ist doch ein zu großer Unter-schied in unserer Stellung, als daß ich frei mit ihrreden könnte. Unter den Küchenmädchen habe ichfrüher gute Freundinnen gehabt, aber die sind schonlängst nicht mehr hier, und die neuen Mädchen kenneich kaum. Schließlich kommt es mir manchmal vor,daß mich meine jetzige Arbeit mehr anstrengt als die

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frühere, daß ich sie aber nicht einmal so gut verrichtewie die, und daß mich die Frau Oberköchin nur ausMitleid in meiner Stellung hält. Schließlich muß manja wirklich eine bessere Schulbildung gehabt haben,um Sekretärin zu werden. Es ist eine Sünde, das zusagen, aber oft und oft fürchte ich, wahnsinnig zuwerden. Um Gottes willen«, sagte sie plötzlich vielschneller und griff flüchtig nach Karls Schulter, da erdie Hände unter der Decke hielt, »Sie dürfen aber derFrau Oberköchin kein Wort davon sagen, sonst binich wirklich verloren. Wenn ich ihr außer den Um-ständen, die ich ihr durch meine Arbeit mache, auchnoch Leid bereiten sollte, das wäre wirklich dasHöchste.«

»Es ist selbstverständlich, daß ich ihr nichts sagenwerde«, antwortete Karl.

»Dann ist es gut«, sagte sie, »und bleiben Sie hier.Ich wäre froh, wenn Sie hierblieben, und wir könnten,wenn es Ihnen recht ist, zusammenhalten. Gleich, wieich Sie zum erstenmal gesehen habe, habe ich Ver-trauen zu Ihnen gehabt. Und trotzdem - denken Sie,so schlecht bin ich - habe ich auch Angst gehabt, dieFrau Oberköchin könnte Sie an meiner Stelle zum Se-kretär machen und mich entlassen. Erst wie ich dalange allein gesessen bin, während Sie unten im Bürowaren, habe ich mir die Sache so zurechtgelegt, daßes sogar sehr gut wäre, wenn Sie meine Arbeiten

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übernähmen, denn die würden Sie sicher besser ver-stehen. Wenn Sie die Besorgungen in der Stadt nichtmachen wollten, könnte ich ja diese Arbeit behalten.Sonst aber wäre ich in der Küche gewiß viel nützli-cher, besonders da ich auch schon etwas stärker ge-worden bin.«

»Die Sache ist schon geordnet«, sagte Karl, »ichwerde Liftjunge und Sie bleiben Sekretärin. Wenn Sieaber der Frau Oberköchin nur die geringste Andeu-tung von Ihren Plänen machen, verrate ich auch dasübrige, was Sie mir heute gesagt haben, so leid es mirtun würde.«

Diese Tonart erregte Therese so sehr, daß sie sichbeim Bett niederwarf und wimmernd das Gesicht insBettzeug drückte.

»Ich verrate ja nichts«, sagte Karl, »aber Sie dürfenauch nichts sagen.«

Nun konnte er nicht mehr ganz unter seiner Deckeversteckt bleiben, streichelte ein wenig ihren Arm,fand nichts Rechtes, was er ihr sagen könne, unddachte nur, daß hier ein bitteres Leben sei. Endlichberuhigte sie sich wenigstens so weit, daß sie sichihres Weinens schämte, sah Karl dankbar an, redeteihm zu, morgen lange zu schlafen, und versprach,wenn sie Zeit fände, gegen acht Uhr heraufzukommenund ihn zu wecken.

»Sie wecken ja so geschickt«, sagte Karl.

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»Ja, einiges kann ich«, sagte sie, fuhr mit der Handzum Abschied sanft über seine Decke hin und lief inihr Zimmer.

Am nächsten Tag bestand Karl darauf, gleich sei-nen Dienst anzutreten, obwohl ihm die Oberköchindiesen Tag für die Besichtigung von Ramses freige-ben wollte. Aber Karl erklärte offen, dafür werde sichnoch Gelegenheit finden, jetzt sei es für ihn das Wich-tigste, mit der Arbeit anzufangen, denn eine auf einanderes Ziel gerichtete Arbeit habe er schon in Euro-pa nutzlos abgebrochen und fange als Liftjunge ineinem Alter an, in dem wenigstens die tüchtigerenJungen nahe daran seien, in natürlicher Folge eine hö-here Arbeit zu übernehmen. Es sei ganz richtig, daßer als Liftjunge anfange, aber ebenso richtig sei, daßer sich besonders beeilen müsse. Bei diesen Umstän-den würde ihm die Besichtigung der Stadt gar keinVergnügen machen. Nicht einmal zu einem kurzenWeg, zu dem ihn Therese aufforderte, konnte er sichentschließen. Immer schwebte ihm der Gedanke vorAugen, es könne schließlich mit ihm, wenn er nichtfleißig sei, so weit kommen wie mit Delamarche undRobinson.

Beim Hotelschneider wurde ihm die Liftjungenuni-form ausprobiert, die äußerlich sehr prächtig mitGoldknöpfen und Goldschnüren ausgestattet war, beideren Anziehen es Karl aber doch ein wenig

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schauderte, denn besonders unter den Achseln war dasRöckchen kalt, hart und dabei unaustrockbar naß vondem Schweiß der Liftjungen, die es vor ihm getragenhatten. Die Uniform mußte auch vor allem über derBrust eigens für Karl erweitert werden, denn keine derzehn vorliegenden wollte auch nur beiläufig passen.Trotz dieser Näharbeit, die hier notwendig war, undobwohl der Meister sehr peinlich schien - zweimalflog die bereits abgelieferte Uniform aus seiner Handin die Werkstatt zurück -, war alles in kaum fünf Mi-nuten erledigt, und Karl verließ das Atelier schon alsLiftjunge mit anliegenden Hosen und einem, trotz derbestimmten gegenteiligen Zusicherung des Meisters,sehr beengenden Jäckchen, das immer wieder zuAtemübungen verlockte, da man sehen wollte, ob dasAtmen noch immer möglich war.

Dann meldete er sich bei jenem Oberkellner, unterdessen Befehl er stehen sollte, einem schlanken, schö-nen Mann mit großer Nase, der wohl schon in denVierzigern stehen konnte. Er hatte keine Zeit, sichauch nur auf das geringste Gespräch einzulassen, undläutete bloß einen Liftjungen herbei, zufällig geradejenen, den Karl gestern gesehen hatte. Der Oberkell-ner nannte ihn nur bei seinem Taufnamen Giacomowas Karl erst später erfuhr, denn in der englischenAussprache war der Name nicht zu erkennen. DieserJunge bekam nun den Auftrag, Karl das für den

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Liftdienst Notwendige zu zeigen, aber er war so scheuund eilig, daß Karl von ihm, so wenig auch im Grun-de zu zeigen war, kaum dieses Wenige erfahren konn-te. Sicher war Giacomo auch deshalb verärgert, weiler den Liftdienst offenbar Karls halber verlassenmußte und den Zimmermädchen zur Hilfeleistung zu-geteilt war, was ihm nach bestimmten Erfahrungen,die er aber verschwieg, entehrend vorkam. Enttäuschtwar Karl vor allem dadurch, daß ein Liftjunge mit derMaschinerie des Aufzuges nur insoferne etwas zu tunhatte, als er ihn durch einen einfachen Druck auf denKnopf in Bewegung setzte, während für Reparaturenam Triebwerk derartig ausschließlich die Maschini-sten des Hotels verwendet wurden, daß zum BeispielGiacomo trotz halbjährigem Dienst beim Lift wederdas Triebwerk im Keller, noch die Maschinerie im In-nern des Aufzuges mit eigenen Augen gesehen hatte,obwohl ihn dies, wie er ausdrücklich sagte, sehr ge-freut hätte. Überhaupt war es ein einförmiger Dienstund wegen der zwölfstündigen Arbeitszeit, abwech-selnd bei Tag und Nacht, so anstrengend, daß er nachGiacomos Angaben überhaupt nicht auszuhalten war,wenn man nicht minutenweise im Stehen schlafenkonnte. Karl sagte hiezu nichts, aber er begriff wohl,daß gerade diese Kunst Giacomo die Stelle gekostethatte.

Sehr willkommen war es Karl, daß der Aufzug, den

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er zu besorgen hatte, nur für die obersten Stockwerkebestimmt war, weshalb er es nicht mit den anspruchs-vollsten reichen Leuten zu tun haben würde. Aller-dings konnte man hier auch nicht so viel lernen wieanderswo und es war nur für den Anfang gut.

Schon nach der ersten Woche sah Karl ein, daß erdem Dienst vollständig gewachsen war. Das Messingseines Aufzuges war am besten geputzt, keiner derdreißig anderen Aufzüge konnte sich damit verglei-chen, und es wäre vielleicht noch leuchtender gewe-sen, wenn der Junge, der bei dem gleichen Aufzugdiente, auch nur annähernd so fleißig gewesen wäreund sich nicht in seiner Lässigkeit durch Karls Fleißunterstützt gefühlt hätte. Es war ein geborener Ameri-kaner, namens Renell, ein eitler Junge mit dunklenAugen und glatten, etwas gehöhlten Wangen. Er hatteeinen eleganten Privatanzug, in dem er an dienstfreienAbenden leicht parfümiert in die Stadt eilte; hie undda bat er auch Karl, ihn abends zu vertreten, da er inFamilienangelegenheiten weggehen müsse, und eskümmerte ihn wenig, daß sein Aussehen allen solchenAusreden widersprach. Trotzdem konnte ihn Karl gutleiden und hatte es gern, wenn Renell an solchenAbenden vor dem Ausgehen in seinem Privatanzugunten beim Lift vor ihm stehenblieb, sich noch einwenig entschuldigte, während er die Handschuhe überdie Finger zog, und dann durch den Korridor abging.

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Im übrigen wollte ihm Karl mit diesen Vertretungennur eine Gefälligkeit machen, wie sie ihm gegenübereinem älteren Kollegen am Anfang selbstverständlichschien, eine dauernde Einrichtung sollte es nicht wer-den. Denn ermüdend genug war dieses ewige Fahrenim Lift allerdings und gar in den Abendstunden hattees fast keine Unterbrechung.

Bald lernte Karl auch die kurzen, tiefen Verbeu-gungen machen, die man von den Liftjungen verlangt,und das Trinkgeld fing er im Fluge ab. Es verschwandin seiner Westentasche, und niemand hätte nach sei-nen Mienen sagen können, ob es groß oder klein war.Vor Damen öffnete er die Tür mit einer kleinen Bei-gabe von Galanterie und schwang sich in den Aufzuglangsam hinter ihnen, die in Sorge um ihre Röcke,Hüte und Behänge zögernder als Männer einzutretenpflegten. Während der Fahrt stand er, weil dies dasunauffälligste war, knapp bei der Tür, mit demRücken zu seinen Fahrgästen, und hielt den Griff derAufzugstür, um sie im Augenblick der Ankunft plötz-lich und doch nicht etwa erschreckend seitwärts weg-zustoßen. Selten nur klopfte ihm einer während derFahrt auf die Schulter, um irgendeine kleine Auskunftzu bekommen, dann drehte er sich eilig um, als habeer es erwartet, und gab mit lauter Stimme Antwort.Oft gab es trotz den vielen Aufzügen, besonders nachSchluß der Theater oder nach Ankunft bestimmter

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Expreßzüge, ein solches Gedränge, daß er, kaum daßdie Gäste oben entlassen waren, wieder hinunterrasenmußte, um die dort Wartenden aufzunehmen. Er hatteauch die Möglichkeit, durch Ziehen an einem durchden Aufzugskasten hindurchgehenden Drahtseil, diegewöhnliche Schnelligkeit zu steigern, allerdings wardies durch die Aufzugsordnung verboten und sollteauch gefährlich sein. Karl tat es auch niemals, wenner mit Passagieren fuhr, aber wenn er sie oben abge-setzt hatte und unten andere warteten, dann kannte erkeine Rücksicht und arbeitete an dem Seil mit star-ken, taktmäßigen Griffen wie ein Matrose. Er wußteübrigens, daß dies die anderen Liftjungen auch taten,und er wollte seine Passagiere nicht an andere Jungenverlieren. Einzelne Gäste, die längere Zeit im Hotelwohnten, was hier übrigens ziemlich gebräuchlichwar, zeigten hie und da durch ein Lächeln, daß sieKarl als ihren Liftjungen erkannten, Karl nahm dieseFreundlichkeit mit ernstem Gesichte, aber gerne an.Manchmal, wenn der Verkehr etwas schwächer war,konnte er auch besondere kleine Aufträge annehmen,zum Beispiel, einem Hotelgast, der sich nicht erst insein Zimmer bemühen wollte, eine im Zimmer verges-sene Kleinigkeit zu holen, dann flog er in seinem, insolchen Augenblicken ihm besonders vertrauten Auf-zug allein hinauf, trat in das fremde Zimmer, wo mei-stens sonderbare Dinge, die er nie gesehen hatte,

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herumlagen oder an den Kleiderrechen hingen, fühlteden charakteristischen Geruch einer fremden Seife,eines Parfüms, eines Mundwassers und eilte, ohnesich im geringsten aufzuhalten, mit dem meist trotzundeutlichen Angaben gefundenen Gegenstand wiederzurück. Oft bedauerte er, größere Aufträge nicht über-nehmen zu können, da hierfür eigene Diener und Bo-tenjungen bestimmt waren, die ihre Wege auf Fahrrä-dern, ja sogar Motorrädern besorgten. Nur zu Boten-gängen aus den Zimmern in die Speise- oder Spielsälekonnte sich Karl bei günstiger Gelegenheit verwendenlassen.

Wenn er nach der zwölfstündigen Arbeitszeit dreiTage lang um sechs Uhr abends, die nächsten dreiTage um sechs Uhr früh aus der Arbeit kam, war er somüde, daß er geradewegs, ohne sich um jemanden zukümmern, in sein Bett ging. Es lag im gemeinsamenSchlafsaal der Liftjungen, die Frau Oberköchin, derenEinfluß vielleicht doch nicht so groß war, wie er amersten Abend geglaubt hatte, hatte sich zwar bemüht,ihm ein eigenes Zimmerchen zu verschaffen, und eswäre ihr wohl auch gelungen, aber da Karl sah, wel-che Schwierigkeiten es machte und wie die Oberkö-chin öfters mit seinem Vorgesetzten, jenem so be-schäftigten Oberkellner, wegen dieser Sache telepho-nierte, verzichtete er darauf und überzeugte die Ober-köchin von dem Ernst seines Verzichtes mit dem

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Hinweis darauf, daß er von den anderen Jungenwegen eines nicht eigentlich selbsterarbeiteten Vorzu-ges nicht beneidet werden wolle.

Ein ruhiges Schlafzimmer war dieser Schlafsaal al-lerdings nicht. Denn da jeder einzelne die freie Zeitvon zwölf Stunden verschiedenartig auf Essen,Schlaf, Vergnügen und Nebenverdienst verteilte, warim Schlafsaal immerfort die größte Bewegung. Daschliefen einige und zogen die Decke über die Ohren,um nichts zu hören; wurde doch einer geweckt, dannschrie er so wütend über das Geschrei der anderen,daß auch die übrigen noch so guten Schläfer nichtstandhalten konnten. Fast jeder Junge hatte seine Pfei-fe, es wurde damit eine Art Luxus getrieben, auchKarl hatte sich eine angeschafft und fand bald Ge-schmack an ihr. Nun durfte aber im Dienst nicht ge-raucht werden, die Folge dessen war, daß im Schlaf-saal jeder, solange er nicht unbedingt schlief, auchrauchte. Infolgedessen stand jedes Bett in einer eige-nen Rauchwolke und alles in einem allgemeinenDunst. Es war unmöglich durchzusetzen, obwohl ei-gentlich die Mehrzahl grundsätzlich zustimmte, daßin der Nacht nur an einem Ende des Saales das Lichtbrennen sollte. Wäre dieser Vorschlag durchgedrun-gen, dann hätten diejenigen, welche schlafen wollten,dies im Dunkel der einen Saalhälfte - es war ein gro-ßer Saal mit vierzig Betten - ruhig tun können,

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während die anderen im beleuchteten Teil Würfeloder Karten hätten spielen und alles übrige besorgenkönnen, wozu Licht nötig war. Hätte einer, dessenBett in der beleuchteten Saalhälfte stand, schlafengehen wollen, so hätte er sich in eines der freien Bet-ten im Dunkel legen können, denn es standen immerBetten genug frei, und niemand wendete gegen einederartige vorübergehende Benützung seines Bettesdurch einen anderen etwas ein. Aber es gab keineNacht, in der diese Einteilung befolgt worden wäre.Immer wieder fanden sich zum Beispiel zwei, welche,nachdem sie das Dunkel zu etwas Schlaf ausgenützthatten, Lust bekamen, in ihren Betten auf einem zwi-schen sie gelegten Brett Karten zu spielen, und natür-lich drehten sie eine passende elektrische Lampe auf,deren stechendes Licht die Schlafenden, wenn sie ihmzugewendet waren, auffahren ließ. Man wälzte sichzwar noch ein wenig herum, fand aber schließlichauch nichts Besseres zu tun, als mit dem gleichfallsgeweckten Nachbarn auch ein Spiel bei neuer Be-leuchtung vorzunehmen. Und wieder dampften natür-lich auch alle Pfeifen. Es gab allerdings auch einige,die um jeden Preis schlafen wollten - Karl gehörtemeist zu ihnen - und die, statt den Kopf aufs Kissenzu legen, ihn mit dem Kissen bedeckten oder hinein-wickelten; aber wie wollte man im Schlaf bleiben,wenn der nächste Nachbar in tiefer Nacht aufstand,

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um vor dem Dienst noch ein wenig in der Stadt demVergnügen nachzugehen, wenn er in dem am Kopfen-de des eigenen Bettes angebrachten Waschbecken lautund wassersprühend sich wusch, wenn er die Stiefelnicht nur polternd anzog, sondern stampfend sich bes-ser in sie hineintreten wollte - fast alle hatten trotzamerikanischer Stiefelform zu enge Stiefel -, um dannschließlich, da ihm eine Kleinigkeit in seiner Ausstat-tung fehlte, das Kissen des Schlafenden zu heben,unter dem man, allerdings schon längst geweckt, nurdarauf wartete, auf ihn loszufahren. Nun waren sieaber auch alle Sportsleute und junge, meist kräftigeBurschen, die keine Gelegenheit zu sportlichen Übun-gen versäumen wollten. Und man konnte sicher sein,wenn man in der Nacht, mitten aus dem Schlaf durchgroßen Lärm geweckt, aufsprang, auf dem Bodenneben seinem Bett zwei Ringkämpfer zu finden undbei greller Beleuchtung auf allen Betten in der Rundeaufrecht stehende Sachverständige in Hemd und Un-terhosen. Einmal fiel anläßlich eines solchen nächtli-chen Boxkampfes einer der Kämpfer über den schla-fenden Karl, und das erste, was Karl beim Öffnen derAugen erblickte, war das Blut, das dem Jungen ausder Nase rann und, ehe man noch etwas dagegen un-ternehmen konnte, das ganze Bettzeug überfloß. Oftverbrachte Karl fast die ganzen zwölf Stunden mitVersuchen, einige Stunden Schlaf zu gewinnen,

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obwohl es ihn auch sehr lockte, an den Unterhaltun-gen der anderen teilzunehmen; aber immer wiederschien es ihm, daß alle anderen in ihrem Leben einenVorsprung vor ihm hatten, den er durch fleißigere Ar-beit und ein wenig Verzichtleistung ausgleichenmüsse. Obwohl ihm also hauptsächlich seiner Arbeitwegen am Schlaf sehr gelegen war, beklagte er sichdoch weder gegenüber der Oberköchin, noch gegen-über Therese über die Verhältnisse im Schlafsaal,denn erstens trugen im ganzen und großen alle Jungenschwer daran, ohne sich ernstlich zu beklagen, undzweitens war die Plage im Schlafsaal ein notwendigerTeil seiner Aufgabe als Liftjunge, die er ja aus denHänden der Oberköchin dankbar übernommen hatte.

Einmal in der Woche hatte er beim Schichtwechselvierundzwanzig Stunden frei, die er zum Teil dazuverwendete, bei der Oberköchin ein, zwei Besuche zumachen und mit Therese, deren kärgliche freie Zeit erabpaßte, irgendwo, in einem Winkel, auf einem Kor-ridor und selten nur in ihrem Zimmer, einige flüchtigeReden auszutauschen. Manchmal begleitete er sieauch auf ihren Besorgungen in der Stadt, die allehöchst eilig ausgeführt werden mußten. Dann liefensie fast, Karl mit ihrer Tasche in der Hand, zur näch-sten Station der Untergrundbahn, die Fahrt verging imNu, als werde der Zug ohne jeden Widerstand nurhingerissen, schon waren sie ihm entstiegen,

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klapperten, statt auf den Aufzug zu warten, der ihnenzu langsam war, die Stufen hinauf, die großen Plätze,von denen sternförmig die Straßen auseinanderflogen,erschienen und brachten ein Getümmel in den vonallen Seiten geradlinig strömenden Verkehr, aber Karlund Therese eilten eng beisammen in die verschiede-nen Büros, Waschanstalten, Lagerhäuser und Ge-schäfte, in denen telephonisch nicht leicht zu besor-gende, im übrigen nicht besonders verantwortlicheBestellungen oder Beschwerden auszurichten waren.Therese merkte bald, daß Karls Hilfe hiebei nicht zuverachten war, daß sie vielmehr in vieles eine großeBeschleunigung brachte. Niemals mußte sie in seinerBegleitung wie sonst oft darauf warten, daß die über-beschäftigten Geschäftsleute sie anhörten. Er trat andas Pult und klopfte so lange mit den Knöcheln dar-auf, bis es half, er rief über Menschenmauern seinnoch immer etwas überspitztes, aus hundert Stimmenleicht herauszuhörendes Englisch hin, er ging auf dieLeute ohne Zögern zu, und mochten sie sich hochmü-tig in die Tiefe der längsten Geschäftssäle zurückge-zogen haben. Er tat es nicht aus Übermut und würdig-te jeden Widerstand, aber er fühlte sich in einer siche-ren Stellung, die ihm Rechte gab, das Hotel Occiden-tal war eine Kundschaft, deren man nicht spottendurfte, und schließlich war Therese trotz ihrer ge-schäftlichen Erfahrung hilfsbedürftig.

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»Sie sollten immer mitkommen«, sagte sie manch-mal, glücklich lachend, wenn sie von einer besondersgut ausgeführten Unternehmung kamen.

Nur dreimal während der eineinhalb Monate, dieKarl in Ramses blieb, war er längere Zeit, über einpaar Stunden, in Thereses Zimmerchen. Es war natür-lich kleiner als irgendein Zimmer der Oberköchin, diewenigen Dinge, welche darin standen, waren gewis-sermaßen nur um das Fenster gelagert, aber Karl ver-stand schon nach seinen Erfahrungen aus dem Schlaf-saal den Wert eines eigenen, verhältnismäßig ruhigenZimmers, und wenn er es auch nicht ausdrücklichsagte, so merkte Therese doch, wie ihm ihr Zimmergefiel. Sie hatte keine Geheimnisse vor ihm, und eswäre auch nicht gut möglich gewesen, nach ihrem Be-such damals, am ersten Abend, noch Geheimnisse vorihm zu haben. Sie war ein uneheliches Kind, ihr Vaterwar Baupolier und hatte die Mutter und das Kind ausPommern sich nachkommen lassen; aber als hätte erdamit seine Pflicht erfüllt oder als hätte er andereMenschen erwartet als die abgearbeitete Frau und dasschwache Kind, die er an der Landungsstelle in Emp-fang nahm, war er bald nach ihrer Ankunft ohne vielErklärungen nach Kanada ausgewandert, und die Zu-rückgebliebenen hatten weder einen Brief noch einesonstige Nachricht von ihm erhalten, was zum Teilauch nicht zu verwundern war, denn sie waren in den

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Massenquartieren des New Yorker Ostens unauffind-bar verloren.

Einmal erzählte Therese - Karl stand neben ihrbeim Fenster und sah auf die Straße - vom Tode ihrerMutter. Wie die Mutter und sie an einem Winter-abend - sie konnte damals etwa fünf Jahre alt gewe-sen sein - jede mit ihrem Bündel durch die Straßeneilten, um Schlafstellen zu suchen. Wie die Mutter siezuerst bei der Hand führte - es war ein Schneesturmund nicht leicht vorwärtszukommen -, bis die Handerlahmte und sie Therese, ohne sich nach ihr umzuse-hen, losließ, die sich nun Mühe geben mußte, sichselbst an den Röcken der Mutter festzuhalten. Oftstolperte Therese und fiel sogar, aber die Mutter warwie in einem Wahn und hielt nicht an. Und dieseSchneestürme in den langen, geraden New YorkerStraßen! Karl hatte noch keinen Winter in New Yorkmitgemacht. Geht man gegen den Wind, und der drehtsich im Kreise, kann man keinen Augenblick dieAugen öffnen, immerfort zerreibt einem der Wind denSchnee auf dem Gesicht, man läuft, aber kommt nichtweiter, es ist etwas Verzweifeltes. Ein Kind ist dabeinatürlich gegen die Erwachsenen im Vorteil, es läuftunter dem Wind durch und hat noch ein wenig Freudean allem. So hatte auch damals Therese ihre Mutternicht ganz begreifen können, und sie war fest davonüberzeugt, daß, wenn sie sich an jenem Abend

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klüger - sie war eben noch ein so kleines Kind - zuihrer Mutter verhalten hätte, diese nicht einen so jam-mervollen Tod hätte erleiden müssen. Die Mutter wardamals schon zwei Tage ohne Arbeit gewesen, nichtdas kleinste Geldstück war mehr vorhanden, der Tagwar ohne einen Bissen im Freien verbracht worden,und in ihren Bündeln schleppten sie nur unbrauchbareFetzen mit sich herum, die sie, vielleicht aus Aber-glauben, nicht wegzuwerfen wagten. Nun war derMutter für den nächsten Morgen Arbeit bei einemBau in Aussicht gestellt worden, aber sie fürchtete,wie sie Therese den ganzen Tag über zu erklärensuchte, die günstige Gelegenheit nicht ausnützen zukönnen, denn sie fühlte sich todmüde, hatte schon amMorgen zum Schrecken der Passanten auf der Gasseviel Blut gehustet, und ihre einzige Sehnsucht war,irgendwo in die Wärme zu kommen und sich auszuru-hen. Und gerade an diesem Abend war es unmöglich,ein Plätzchen zu bekommen. Dort, wo sie nicht schonvom Hausbesorger aus dem Torgang gewiesen wur-den, in dem man sich immerhin vom Wetter ein wenighätte erholen können, durcheilten sie die engen, eisi-gen Korridore, durchstiegen die hohen Stockwerke,umkreisten die schmalen Terrassen der Höfe, klopftenwahllos an Türen, wagten einmal niemanden anzu-sprechen, baten dann jeden, der ihnen entgegenkam,und einmal oder zweimal hockte die Mutter atemlos

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auf der Stufe einer stillen Treppe nieder, riß Therese,die sich fast wehrte, an sich und küßte sie mitschmerzhaftem Anpressen der Lippen. Wenn mannachher weiß, daß das die letzten Küsse waren, be-greift man nicht, daß man, und mag man ein kleinerWurm gewesen sein, so blind sein konnte, das nichteinzusehen. In manchen Zimmern, an denen sie vor-überkamen, waren die Türen geöffnet, um eine er-stickende Luft herauszulassen, und aus dem rauchigenDunst, der, wie durch einen Brand verursacht, dieZimmer erfüllte, trat nur die Gestalt irgend jemandeshervor, der im Türrahmen stand und entweder durchseine stumme Gegenwart oder durch ein kurzes Wortdie Unmöglichkeit eines Unterkommens in dem be-treffenden Zimmer bewies. Therese schien es jetzt imRückblick, daß die Mutter nur in den ersten Stundenernstlich einen Platz suchte, denn nachdem etwa Mit-ternacht vorüber war, hat sie wohl niemanden mehrangesprochen, obwohl sie mit kleinen Pausen bis zurMorgendämmerung nicht aufhörte weiterzueilen undobwohl in diesen Häusern, in denen weder Haustorenoch Wohnungstüren je verschlossen werden, immer-fort Leben ist und einem auf Schritt und Tritt Men-schen begegnen. Natürlich war es kein Laufen, das sierasch weiterbrachte, sondern es war nur die äußersteAnstrengung, deren sie fähig waren, und es konnte inWirklichkeit ganz gut auch bloß ein Schleichen sein.

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Therese wußte auch nicht, ob sie von Mitternacht bisfünf Uhr früh in zwanzig Häusern oder in zwei odergar nur in einem Haus gewesen waren. Die Korridoredieser Häuser sind nach schlauen Plänen der bestenRaumausnützung, aber ohne Rücksicht auf leichteOrientierung angelegt; wie oft waren sie wohl durchdie gleichen Korridore gekommen! Therese hatte wohlin dunkler Erinnerung, daß sie das Tor eines Hauses,das sie ewig durchsucht hatten, wieder verließen, aberebenso schien es ihr, daß sie sich auf der Gasse gleichumgewandt und wieder in dieses Haus gestürzt hät-ten. Für das Kind war es natürlich ein unbegreiflichesLeid, einmal von der Mutter gehalten, einmal sich anihr festhaltend, ohne ein kleines Wort des Trostes mit-geschleift zu werden, und das Ganze schien damalsfür seinen Unverstand nur die Erklärung zu haben,daß die Mutter von ihm weglaufen wolle. Darum hieltsich Therese desto fester, selbst wenn die Mutter siean einer Hand hielt, der Sicherheit halber auch nochmit der anderen Hand an den Röcken der Mutter, undheulte in Abständen. Sie wollte nicht hier zurückge-lassen werden, zwischen den Leuten, die vor ihnen dieTreppe stampfend emporstiegen, die hinter ihnen,noch nicht zu sehen, hinter einer Wendung der Treppeherankamen, die in den Gängen vor einer Tür Streitmiteinander hatten und einander gegenseitig in dasZimmer hineinstießen. Betrunkene wanderten mit

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dumpfem Gesang im Haus umher, und glücklichschlüpfte noch die Mutter mit Therese durch solchesich gerade schließende Gruppen. Gewiß hätten siespät in der Nacht, wo man nicht mehr so achtgab undniemand mehr unbedingt auf seinem Recht bestand,wenigstens in einen der allgemeinen, von Unterneh-mern vermieteten Schlafsäle sich drängen können, anderen einigen sie vorüberkamen, aber Therese ver-stand es nicht, und die Mutter wollte keine Ruhemehr. Am Morgen, dem Beginn eines schönen Win-tertages, lehnten sie beide an einer Hausmauer undhatten dort vielleicht ein wenig geschlafen, vielleichtnur mit offenen Augen herumgestarrt. Es zeigte sich,daß Therese ihr Bündel verloren hatte, und die Muttermachte sich daran, Therese zur Strafe für die Unacht-samkeit zu schlagen, aber Therese hörte keinenSchlag und spürte keinen. Sie gingen dann weiterdurch die sich belebenden Gassen, die Mutter an derMauer, kamen über eine Brücke, wo die Mutter mitder Hand den Reif vom Geländer streifte, und gelang-ten schließlich, damals hatte Therese es hingenom-men, heute verstand sie es nicht, gerade zu jenemBau, zu dem die Mutter für jenen Morgen bestelltwar. Sie sagte Therese nicht, ob sie warten oder weg-gehen solle, und Therese nahm dies als Befehl zumWarten, da dies ihren Wünschen am besten entsprach.Sie setzte sich also auf einen Ziegelhaufen und sah zu,

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wie die Mutter ihr Bündel aufschnürte, einen buntenFetzen herausnahm und damit ihr Kopftuch umband,das sie während der ganzen Nacht getragen hatte.Therese war zu müde, als daß ihr auch nur der Gedan-ke gekommen wäre, der Mutter zu helfen. Ohne sichin der Bauhütte zu melden, wie dies üblich war, undohne jemanden zu fragen, stieg die Mutter eine Leiterhinauf, als wisse sie schon selbst, welche Arbeit ihrzugeteilt war. Therese wunderte sich darüber, da dieHandlangerinnen gewöhnlich nur unten mit Kal-klöschen, mit dem Hinreichen der Ziegel und mit son-stigen einfachen Arbeiten beschäftigt werden. Siedachte daher, die Mutter wolle heute eine besser be-zahlte Arbeit ausführen, und lächelte verschlafen zuihr hinauf. Der Bau war noch nicht hoch, kaum biszum Erdgeschoß, gediehen, wenn auch schon diehohen Gerüststangen für den weiteren Bau, allerdingsnoch ohne Verbindungshölzer, zum blauen Himmelragten. Oben umging die Mutter geschickt die Mau-rer, die Ziegel auf Ziegel legten und sie unbegreifli-cherweise nicht zur Rede stellten, sie hielt sich vor-sichtig mit zarter Hand an einem Holzverschlag, derals Geländer diente, und Therese staunte unten inihrem Dusel diese Geschicklichkeit an und glaubtenoch einen freundlichen Blick der Mutter erhalten zuhaben. Nun kam aber die Mutter auf ihrem Gang zueinem kleinen Ziegelhaufen, vor dem das Geländer

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und wahrscheinlich auch der Weg aufhörte, aber siehielt sich nicht daran, ging auf den Ziegelhaufen los,ihre Geschicklichkeit schien sie verlassen zu haben,sie stieß den Ziegelhaufen um und fiel über ihn hin-weg in die Tiefe. Viele Ziegel rollten ihr nach undschließlich, eine ganze Weile später, löste sich ir-gendwo ein schweres Brett los und krachte auf sienieder. Die letzte Erinnerung Thereses an ihre Mutterwar, wie sie mit auseinandergestreckten Beinen dalagin dem karierten Rock, der noch aus Pommern stamm-te, wie jenes auf ihr liegende rohe Brett sie fast be-deckte, wie nun die Leute von allen Seiten zusammen-liefen und wie oben vom Bau irgendein Mann zornigetwas hinunterrief.

Es war spät geworden, als Therese ihre Erzählungbeendet hatte. Sie hatte ausführlich erzählt, wie essonst nicht ihre Gewohnheit war, und gerade beigleichgültigen Stellen, wie bei der Beschreibung derGerüststangen, die jede für sich allein in den Himmelragten, hatte sie mit Tränen in den Augen innehaltenmüssen. Sie wußte jede Kleinigkeit, die damals vor-gefallen war, jetzt, nach zehn Jahren, ganz genau, undweil der Anblick ihrer Mutter oben im halbfertigenErdgeschoß das letzte Andenken an das Leben derMutter war und sie es ihrem Freunde gar nicht deut-lich genug überantworten konnte, wollte sie nach demSchlusse ihrer Erzählung noch einmal darauf

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zurückkommen, stockte aber, legte das Gesicht in dieHände und sagte kein Wort mehr.

Es gab aber auch lustigere Zeiten in TheresensZimmer. Gleich bei seinem ersten Besuch hatte Karldort ein Lehrbuch der kaufmännischen Korrespondenzliegen gesehen und auf seine Bitten geborgt erhalten.Es wurde gleichzeitig besprochen, daß Karl die imBuch enthaltenen Aufgaben machen und Therese, diedas Buch, soweit es für ihre kleinen Arbeiten nötigwar, schon durchstudiert hatte, zur Durchsicht vorle-gen solle. Nun lag Karl ganze Nächte lang, Watte inden Ohren, unten auf seinem Bett im Schlafsaal, derAbwechslung halber in allen möglichen Lagen, las imBuch und kritzelte die Aufgaben in ein Heftchen, miteiner Füllfeder, die ihm die Oberköchin zur Beloh-nung dafür geschenkt hatte, daß er für sie ein großesInventarverzeichnis sehr praktisch angelegt und reinausgeführt hatte. Es gelang ihm, die meisten Störun-gen der anderen Jungen dadurch zum Guten zu wen-den, daß er sich von ihnen immer kleine Ratschläge inder englischen Sprache geben ließ, bis sie dessenmüde wurden und ihn in Ruhe ließen. Oft staunte er,wie die anderen mit ihrer gegenwärtigen Lage ganzausgesöhnt waren, ihren provisorischen Charakter -ältere als zwanzigjährige Liftjungen wurden nicht ge-duldet - gar nicht fühlten, die Notwendigkeit einerEntscheidung über ihren künftigen Beruf nicht

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einsahen und trotz Karls Beispiel nichts anderes lasenals höchstens Detektivgeschichten, die in schmutzigenFetzen von Bett zu Bett gereicht wurden.

Bei den Zusammenkünften korrigierte nun Theresemit übergroßer Umständlichkeit; es ergaben sich strit-tige Ansichten, Karl führte als Zeugen seinen großenNew Yorker Professor an, aber der galt bei Thereseebenso wenig wie die grammatikalischen Meinungender Liftjungen. Sie nahm ihm die Füllfeder aus derHand und strich die Stelle, von deren Fehlerhaftigkeitsie überzeugt war, durch, Karl aber strich in solchenZweifelfällen, obwohl im allgemeinen keine höhereAutorität als Therese die Sache zu Gesicht bekommensollte, aus Genauigkeit die Striche Theresens wiederdurch. Manchmal allerdings kam die Oberköchin undentschied dann immer zu Theresens Gunsten, wasnoch nicht beweisend war, denn Therese war ihre Se-kretärin. Gleichzeitig aber brachte sie die allgemeineVersöhnung, denn es wurde Tee gekocht, Gebäck ge-holt, und Karl mußte von Europa erzählen, allerdingsmit vielen Unterbrechungen von seiten der Oberkö-chin, die immer wieder fragte und staunte, wodurchsie Karl zu Bewußtsein brachte, wie vieles sich dortin verhältnismäßig kurzer Zeit von Grund aus geän-dert hatte und wie vieles wohl auch schon seit seinerAbwesenheit anders geworden war und immerfort an-ders wurde.

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Karl mochte etwa einen Monat in Ramses gewesensein, als ihm eines Abends Renell im Vorübergehensagte, er sei vor dem Hotel von einem Mann mitNamen Delamarche angesprochen und nach Karl aus-gefragt worden. Renell habe nun keinen Grund ge-habt, etwas zu verschweigen, und habe der Wahrheitgemäß erzählt, daß Karl Liftjunge sei, jedoch Aus-sicht habe, infolge der Protektion der Oberköchinnoch ganz andere Stellen zu bekommen. Karl merkte,wie vorsichtig Renell von Delamarche behandelt wor-den war, der ihn sogar für diesen Abend zu einem ge-meinsamen Nachtmahl eingeladen hatte.

»Ich habe nichts mehr mit Delamarche zu tun«,sagte Karl »nimm du dich nur auch vor ihm in acht!«

»Ich?« sagte Renell, streckte sich und eilte weg. Erwar der zierlichste Junge im Hotel, und es ging unterden anderen Jungen, ohne daß man den Urheberwußte, das Gerücht um, daß er von einer vornehmenDame, die schon längere Zeit im Hotel wohnte, imLift zumindest abgeküßt worden sei. Für den, der dasGerücht kannte, hatte es unbedingt einen großen Reiz,jene selbstbewußte Dame, in deren Äußerem nicht dasGeringste die Möglichkeit eines solchen Benehmensahnen ließ, mit ihren ruhigen, leichten Schritten, zar-ten Schleiern, streng geschnürter Taille an sich vor-übergehen zu sehen. Sie wohnte im ersten Stock, undRenells Lift war nicht der ihre, aber man konnte

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natürlich, wenn die anderen Lifts augenblicklich be-setzt waren, solchen Gästen den Eintritt in einen an-deren Lift nicht verwehren. So kam es, daß dieseDame hie und da in Karls und Renells Lift fuhr, undtatsächlich immer nur, wenn Renell Dienst hatte. Eskonnte Zufall sein, aber niemand glaubte daran, undwenn der Lift mit den beiden abfuhr, gab es in derganzen Reihe der Liftjungen eine mühsam unter-drückte Unruhe, die sogar schon zum Einschreiteneines Oberkellners geführt hatte. Sei es nun, daß dieDame, sei es, daß das Gerücht die Ursache war, je-denfalls hatte sich Renell verändert, war noch bei wei-tem selbstbewußter geworden, überließ das Putzengänzlich Karl, der schon auf die nächste Gelegenheiteiner gründlichen Aussprache hierüber wartete, undwar im Schlafsaal gar nicht mehr zu sehen. Kein an-derer war so vollständig aus der Gemeinschaft derLiftjungen ausgetreten, denn im allgemeinen hieltenalle, zumindest in Dienstfragen, streng zusammen undhatten eine Organisation, die von der Hoteldirektionanerkannt war.

Alles dieses ließ sich Karl durch den Kopf gehen,dachte auch an Delamarche, und verrichtete im übri-gen seinen Dienst wie immer. Gegen Mitternachthatte er eine kleine Abwechslung, denn Therese, dieihn öfters mit kleinen Geschenken überraschte, brach-te ihm einen großen Apfel und eine Tafel Schokolade.

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Sie unterhielten sich ein wenig, durch die Unterbre-chungen, welche die Fahrten mit dem Aufzug brach-ten, kaum gestört. Das Gespräch kam auch auf Dela-marche, und Karl merkte, daß er sich eigentlich durchTherese hatte beeinflussen lassen, wenn er ihn seit ei-niger Zeit für einen gefährlichen Menschen hielt, dennso erschien er allerdings Therese nach Karls Erzäh-lungen. Karl jedoch hielt ihn im Grunde nur für einenLumpen, der durch das Unglück sich hatte verderbenlassen und mit dem man schon auskommen konnte.Therese widersprach dem aber sehr lebhaft und for-derte Karl in langen Reden das Versprechen ab, keinWort mit Delamarche mehr zu reden. Statt diesesVersprechen zu geben, drängte sie Karl wiederholt,schlafen zu gehen, da Mitternacht schon längst vor-über war, und als sie sich weigerte, drohte er, seinenPosten zu verlassen und sie in ihr Zimmer zu führen.Als sie endlich bereit war wegzugehen, sagte er:»Warum machst du dir so unnötige Sorgen, Therese:Für den Fall, daß du dadurch besser schlafen solltest,verspreche ich dir gerne, daß ich mit Delamarche nurreden werde, wenn es sich nicht vermeiden läßt.«Dann kamen viele Fahrten, denn der Junge am Neben-lift wurde zu irgendeiner anderen Hilfeleistung ver-wendet, und Karl mußte beide Lifts besorgen. Es gabGäste, die von Unordnung sprachen, und ein Herr, dereine Dame begleitete, berührte Karl sogar leicht mit

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dem Spazierstock, um ihn zur Eile anzutreiben, eineErmahnung, die recht unnötig war. Wenn doch wenig-stens die Gäste, da sie sahen, daß bei dem einen Liftkein Junge stand, gleich zu Karls Lift getreten wären,aber das taten sie nicht, sondern gingen zu dem Ne-benlift und blieben dort, die Hand an der Klinke, ste-hen oder traten gar selbst in den Aufzug ein, was nachdem strengsten Paragraphen der Dienstordnung dieLiftjungen um jeden Preis verhüten sollten. So gab esfür Karl ein sehr ermüdendes Hin- und Herlaufen,ohne daß er aber dabei das Bewußtsein gehabt hätte,seine Pflicht genau zu erfüllen. Gegen drei Uhr frühwollte überdies ein Packträger, ein alter Mann, mitdem er ein wenig befreundet war, irgendeine Hilfelei-stung von ihm haben, aber die konnte er nun keines-falls leisten, denn gerade standen Gäste vor seinenbeiden Lifts, und es gehörte Geistesgegenwart dazu,sich sofort mit großen Schritten für eine Gruppe zuentscheiden. Er war daher glücklich, als der andereJunge wieder antrat, und rief ein paar Worte des Vor-wurfs wegen seines langen Ausbleibens zu ihm hin-über, obwohl er wahrscheinlich keine Schuld daranhatte.

Nach vier Uhr früh trat ein wenig Ruhe ein, aberKarl brauchte sie auch schon dringend. Er lehnteschwer am Geländer neben seinem Aufzug, aß lang-sam den Apfel, aus dem schon nach dem ersten Biß

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ein starker Duft strömte, und sah in einen Licht-schacht hinunter, der von den großen Fenstern derVorratskammern umgeben war, hinter denen hängen-de Massen von Bananen im Dunkel gerade nochschimmerten.

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Der Fall Robinson

Da klopfte ihm jemand auf die Schulter. Karl, dernatürlich dachte, es wäre ein Gast, steckte den Apfeleiligst in die Tasche und eilte, kaum daß er den Mannansah, zum Aufzug hin.

»Guten Abend, Herr Roßmann«, sagte nun aber derMann »ich bin es, Robinson.«

»Sie haben sich aber verändert!« sagte Karl undschüttelte den Kopf.

»Ja, es geht mir gut«, sagte Robinson und sah anseiner Kleidung hinunter, die vielleicht aus ziemlichfeinen Stücken bestand, aber so zusammengewürfeltwar, daß sie geradezu schäbig aussah. Das Auffal-lendste war eine offenbar zum erstenmal getrageneweiße Weste mit vier kleinen, schwarz eingefaßtenTäschchen, auf die Robinson auch durch Vorstreckender Brust aufmerksam zu machen suchte.

»Sie haben teuere Kleider«, sagte Karl und dachteflüchtig an sein schönes einfaches Kleid, in dem ersogar neben Renell hätte bestehen können und das diezwei schlechten Freunde verkauft hatten.

»Ja«, sagte Robinson, »ich kaufe mir fast jedenTag irgend etwas. Wie gefällt Ihnen die Weste?«

»Ganz gut«, sagte Karl.»Es sind aber keine wirklichen Taschen, das ist nur

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so gemacht«, sagte Robinson und faßte Karl bei derHand, damit sich dieser selbst davon überzeuge. AberKarl wich zurück, denn aus Robinsons Mund kam einunerträglicher Branntweingeruch.

»Sie trinken wieder viel«, sagte Karl und standschon wieder am Geländer.

»Nein«, sagte Robinson, »nicht viel«, und fügte imWiderspruch zu seiner früheren Zufriedenheit hinzu:»Was hat der Mensch sonst auf der Welt.« Eine Fahrtunterbrach das Gespräch, und kaum war Karl wiederunten, erfolgte ein telephonischer Anruf, laut dessenKarl den Hotelarzt holen sollte, da eine Dame im sie-benten Stockwerk einen Ohnmachtsanfall erlittenhatte. Während dieses Weges hoffte Karl im gehei-men, daß Robinson sich inzwischen entfernt habenwerde, denn er wollte nicht mit ihm gesehen werdenund, in Gedanken an Theresens Warnung, auch vonDelamarche nichts hören. Aber Robinson wartetenoch in der steifen Haltung eines Vollgetrunkenen,und gerade ging ein höherer Hotelbeamter in schwar-zem Gehrock und Zylinderhut vorüber, glücklicher-weise ohne Robinson, wie es schien, besonders zu be-achten.

»Wollen Sie, Roßmann, nicht einmal zu uns kom-men, wir haben es jetzt sehr fein«, sagte Robinsonund sah Karl lockend an.

»Laden Sie mich ein oder Delamarche?« fragte

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Karl.»Ich und Delamarche. Wir sind darin einig«, sagte

Robinson.»Dann sage ich Ihnen und bitte Sie, Delamarche

das gleiche auszurichten: Unser Abschied war, wenndas nicht schon an und für sich klar gewesen seinsollte, ein endgültiger. Sie beide haben mir mehr Leidgetan als irgend jemand. Haben Sie sich vielleicht inden Kopf gesetzt, mich auch weiterhin nicht in Ruhezu lassen?«

»Wir sind doch Ihre Kameraden«, sagte Robinson,und widerliche Tränen der Trunkenheit stiegen ihm indie Augen.

»Delamarche läßt Ihnen sagen, daß er Sie für allesFrühere entschädigen will. Wir wohnen jetzt mit Bru-nelda zusammen, einer herrlichen Sängerin.« Und imAnschluß daran wollte er gerade ein Lied in hohenTönen singen, wenn ihn nicht Karl noch rechtzeitigangezischt hätte: »Schweigen Sie, aber augenblick-lich; wissen Sie denn nicht, wo Sie sind!«

»Roßmann«, sagte Robinson, nun rücksichtlich desSingens eingeschüchtert »ich bin doch Ihr Kamerad,sagen Sie, was Sie wollen. Und nun haben Sie hiereine so schöne Position, könnten Sie mir einiges Geldüberlassen?«

»Sie vertrinken es ja bloß wieder«, sagte Karl, »dasehe ich in Ihrer Tasche sogar irgendeine

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Branntweinflasche, aus der Sie gewiß, während ichweg war, getrunken haben, denn anfangs waren Sie janoch ziemlich bei Sinnen.«

»Das ist nur zur Stärkung, wenn ich auf einemWege bin«, sagte Robinson entschuldigend.

»Ich will Sie ja nicht mehr bessern«, sagte Karl.»Aber das Geld!« sagte Robinson mit aufgerisse-

nen Augen.»Sie haben wohl von Delamarche den Auftrag be-

kommen, Geld mitzubringen. Gut, ich gebe IhnenGeld, aber nur unter der Bedingung, daß Sie sofortvon hier fortgehen und niemals mehr mich hier besu-chen. Wenn Sie mir etwas mitteilen wollen, schreibenSie an mich. Karl Roßmann, Liftjunge, Hotel Occi-dental, genügt als Adresse. Aber hier dürfen Sie, daswiederhole ich, mich nicht mehr besuchen. Hier binich im Dienst und habe keine Zeit für Besuche. Wol-len Sie also das Geld unter dieser Bedingung?« fragteKarl und griff in die Westentaschen, denn er war ent-schlossen, das Trinkgeld der heutigen Nacht zu op-fern. Robinson nickte bloß zu der Frage und atmeteschwer. Karl deutete das unrichtig und fragte noch-mals: »Ja oder nein?«

Da winkte ihn Robinson zu sich heran und flüsterteunter Schlingbewegungen, die schon ganz deutlichwaren: »Roßmann, mir ist sehr schlecht.«

»Zum Teufel«, entfuhr es Karl, und mit beiden

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Händen schleppte er ihn zum Geländer. Und schonergoß es sich aus Robinsons Mund in die Tiefe. Hilf-los strich er in den Pausen, die ihm seine Übelkeitließ, blindlings zu Karl hin.

»Sie sind wirklich ein guter Junge«, sagte er dann,oder: »Es hört schon auf«, was aber noch lange nichtrichtig war, oder: »Die Hunde, was haben sie mir dortfür ein Zeug eingegossen!« Karl hielt es vor Unruheund Ekel bei ihm nicht mehr aus und begann auf undab zu gehen. Hier, im Winkel neben dem Aufzug, warja Robinson ein wenig versteckt, aber wie, wenn ihndoch jemand bemerkte, einer dieser nervösen, reichenGäste, die nur darauf warten, dem herbeilaufendenHotelbeamten eine Beschwerde mitzuteilen, für wel-che dieser dann wütend am ganzen Hause Rachenimmt, oder wenn einer dieser immerfort wechselndenHoteldetektivs vorüberkäme, die niemand kennt außerder Direktion und die man in jedem Menschen vermu-tet, der prüfende Blicke, vielleicht bloß aus Kurzsich-tigkeit, macht. Und unten brauchte nur jemand beidem die ganze Nacht nicht aussetzenden Restaurati-onsbetrieb in die Vorratskammern zu gehen, staunenddie Scheußlichkeit im Lichtschacht zu bemerken undKarl telephonisch anzufragen, was denn um Himmelswillen da oben los sei. Konnte Karl dann Robinsonverleugnen? Und wenn er es täte, würde sich nichtRobinson in seiner Dummheit und Verzweiflung statt

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aller Entschuldigung gerade nur auf Karl berufen?Und mußte dann nicht Karl sofort entlassen werden,da dann das Unerhörte geschehen war, daß einLiftjunge, der niedrigste und entbehrlichste Angestell-te in der ungeheueren Stufenleiter der Dienerschaftdieses Hotels, durch seinen Freund das Hotel hattebeschmutzen und die Gäste erschrecken oder ganzvertreiben lassen. Konnte man einen Liftjungen weiterdulden, der solche Freunde hatte, von denen er sichüberdies während seiner Dienststunden besuchenließ? Sah es nicht ganz so aus, als ob ein solcherLiftjunge selbst ein Säufer oder gar etwas Ärgeres sei,denn welche Vermutung war einleuchtender, als daßer seine Freunde aus den Vorräten des Hotels so langeüberfütterte, bis sie an einer beliebigen Stelle diesesgleichen, peinlich rein gehaltenen Hotels solcheDinge ausführten, wie jetzt Robinson. Und warumsollte sich ein solcher Junge auf die Diebstähle vonLebensmitteln beschränken, da doch die Möglichkei-ten zu stehlen bei der bekannten Nachlässigkeit derGäste, den überall offenstehenden Schränken, den aufden Tischen herumliegenden Kostbarkeiten, den auf-gerissenen Kassetten, den gedankenlos hingeworfenenSchlüsseln wirklich unzählige waren.

Gerade sah Karl in der Ferne Gäste aus einem Kel-lerlokal heraufsteigen, in dem eben eine Varietévor-stellung beendet worden war. Karl stellte sich zu

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seinem Aufzug und wagte sich gar nicht nach Robin-son umzudrehen, aus Furcht vor dem, was er zu sehenbekommen könnte. Es beruhigte ihn wenig, daß erkeinen Laut, nicht einmal einen Seufzer, von dorthörte. Er bediente zwar seine Gäste und fuhr mitihnen auf und ab, aber seine Zerstreutheit konnte erdoch nicht ganz verbergen, und bei jeder Abwärts-fahrt war er darauf gefaßt, unten eine peinliche Über-raschung vorzufinden.

Endlich hatte er wieder Zeit, nach Robinson zusehen, der in seinem Winkel ganz klein kauerte unddas Gesicht gegen die Knie drückte. Seinen runden,harten Hut hatte er weit aus der Stirne geschoben.

»Also jetzt gehen Sie schon«, sagte Karl leise undbestimmt.

»Hier ist das Geld. Wenn Sie sich beeilen, kann ichIhnen noch den kürzesten Weg zeigen.«

»Ich werde nicht weggehen können«, sagte Robin-son und wischte sich mit einem winzigen Taschentu-che die Stirn, »ich werde hier sterben. Sie können sichnicht vorstellen, wie schlecht mir ist. Delamarchenimmt mich überall in die feinen Lokale mit, aber ichvertrage dieses zimperliche Zeug nicht, ich sage esDelamarche täglich.«

»Hier können Sie nun einmal nicht bleiben«, sagteKarl, »bedenken Sie doch, wo Sie sind. Wenn manSie hier findet, werden Sie bestraft, und ich verliere

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meinen Posten. Wollen Sie das?«»Ich kann nicht weggehen«, sagte Robinson, »lie-

ber springe ich da hinunter«, und er zeigte zwischenden Geländerstangen in den Lichtschacht.

»Wenn ich hier so sitze, so kann ich es noch ertra-gen, aber aufstehen kann ich nicht, ich habe es jaschon versucht, während Sie weg waren.«

»Dann hole ich also einen Wagen, und Sie fahrenins Krankenhaus«, sagte Karl und schüttelte einwenig Robinsons Beine, der jeden Augenblick in völ-lige Teilnahmslosigkeit zu verfallen drohte. Aberkaum hatte Robinson das Wort Krankenhaus gehört,das ihm schreckliche Vorstellungen zu erweckenschien, als er laut zu weinen anfing und die Hände,um Gnade bittend, nach Karl ausstreckte.

»Still«, sagte Karl, schlug ihm mit einem Klaps dieHände nieder, lief zu dem Liftjungen, den er in derNacht vertreten hatte, bat ihn für ein kleines Weilchenum die gleiche Gefälligkeit, eilte zu Robinson zurück,zog den noch immer Schluchzenden mit aller Kraft indie Höhe und flüsterte ihm zu: »Robinson, wenn Siewollen, daß ich mich Ihrer annehme, dann strengenSie sich aber an, jetzt eine ganz kleine Strecke Wegsaufrecht zu gehen. Ich führe Sie nämlich in mein Bett,in dem Sie so lange bleiben können, bis Ihnen gut ist.Sie werden staunen, wie bald Sie sich erholen werden.Aber jetzt benehmen Sie sich nur vernünftig, denn auf

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den Gängen sind überall Leute, und auch mein Bettist in einem allgemeinen Schlafsaal. Wenn man aufSie auch nur ein wenig aufmerksam wird, kann ichnichts mehr für Sie tun. Und die Augen müssen Sieoffenhalten, ich kann Sie da nicht wie einen Todkran-ken herumführen.«

»Ich will ja alles tun, was Sie für recht halten«,sagte Robinson, »aber Sie allein werden mich nichtführen können. Könnten Sie nicht noch Renellholen?«

»Renell ist nicht hier«, sagte Karl.»Ach ja«, sagte Robinson, »Renell ist mit Dela-

marche beisammen. Die beiden haben mich ja nachIhnen ausgeschickt. Ich verwechsle schon alles.« Karlbenützte diese und noch andere unverständlicheSelbstgespräche Robinsons, um ihn vorwärts zuschieben, und kam mit ihm auch glücklich bis zueiner Ecke, von der aus ein etwas schwächer beleuch-teter Gang zum Schlafsaal der Liftjungen führte. Ge-rade jagte in vollem Lauf ein Liftjunge auf sie zu undan ihnen vorüber. Im übrigen hatten sie bis jetzt nurungefährliche Begegnungen gehabt; zwischen vierund fünf Uhr war nämlich die stillste Zeit, und Karlhatte wohl gewußt, daß, wenn ihm das WegschaffenRobinsons jetzt nicht gelänge, in der Morgendämme-rung und im beginnenden Tagesverkehr überhauptnicht mehr daran zu denken wäre.

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Im Schlafsaal war am anderen Ende des Saales ge-rade eine große Rauferei oder sonstige Veranstaltungim Gange, man hörte rhythmisches Händeklatschen,aufgeregtes Füßetrappeln und sportliche Zurufe. Inder bei der Tür gelegenen Saalhälfte sah man in denBetten nur wenige unbeirrte Schläfer, die meistenlagen auf dem Rücken und starrten in die Luft, wäh-rend hie und da einer, bekleidet oder unbekleidet, wieer gerade war, aus dem Bett sprang, um nachzusehen,wie die Dinge am anderen Saalende standen. Sobrachte Karl Robinson, der sich an das Gehen inzwi-schen ein wenig gewöhnt hatte, ziemlich unbeachtetin Renells Bett, da es der Türe sehr nahe lag undglücklicherweise nicht besetzt war, während in sei-nem eigenen Bett, wie er aus der Ferne sah, ein frem-der Junge, den er gar nicht kannte, ruhig schlief.Kaum fühlte Robinson das Bett unter sich, als er so-fort - ein Bein baumelte noch aus dem Bett heraus -einschlief. Karl zog ihm die Decke weit über das Ge-sicht und glaubte, sich wenigstens für die nächste Zeitkeine Sorgen machen zu müssen, da Robinson gewißnicht vor sechs Uhr früh erwachen würde, und bisdahin würde er wieder hier sein und dann, vielleichtschon mit Renell, ein Mittel finden, um Robinsonwegzubringen. Eine Inspektion des Schlafsaales durchirgendwelche höheren Organe gab es nur in außeror-dentlichen Fällen, die Abschaffung der früher

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üblichen allgemeinen Inspektion hatten die Liftjungenschon vor Jahren durchgesetzt, es war also auch vondieser Seite nichts zu fürchten.

Als Karl wieder bei seinem Aufzug angelangt war,sah er, daß sowohl sein Aufzug als auch jener seinesNachbarn gerade in die Höhe fuhren. Unruhig warteteer darauf, wie sich das aufklären würde. Sein Aufzugkam früher herunter, und es entstieg ihm jener Junge,der vor einem Weilchen durch den Gang gelaufenwar.

»Ja, wo bist du denn gewesen, Roßmann?« fragtedieser.

»Warum bist du weggegangen? Warum hast du esnicht gemeldet?«

»Aber ich habe ihm doch gesagt, daß er mich einWeilchen vertreten soll«, antwortete Karl und zeigteauf den Jungen vom Nachbarlift, der gerade heran-kam.

»Ich habe ihn doch auch zwei Stunden lang wäh-rend des größten Verkehrs vertreten.«

»Das ist alles sehr gut«, sagte der Angesprochene»aber das genügt doch nicht. Weißt du denn nicht,daß man auch die kürzeste Abwesenheit während desDienstes im Büro des Oberkellners melden mußt?Dazu hast du ja das Telephon da. Ich hätte dich schongerne vertreten, aber du weißt ja, daß das nicht soleicht ist. Gerade waren vor beiden Lifts neue Gäste

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vom Vier-Uhr-dreißig-Expreßzug. Ich konnte dochnicht zuerst mit deinem Lift laufen und meine Gästewarten lassen, so bin ich also zuerst mit meinem Lifthinaufgefahren!«

»Nun?« fragte Karl gespannt, da beide Jungenschwiegen.

»Nun«, sagte der Junge vom Nachbarlift, »da gehtgerade der Oberkellner vorüber, sieht die Leute vordeinem Lift ohne Bedienung, bekommt Galle, fragtmich, der ich gleich hergerannt bin, wo du steckst, ichhabe keine Ahnung davon, denn du hast mir ja garnicht gesagt, wohin du gehst, und so telephoniert ergleich in den Schlafsaal, daß sofort ein anderer Jungeherkommen soll.«

»Ich habe dich ja noch im Gang getroffen«, sagteKarls Ersatzmann. Karl nickte.

»Natürlich«, beteuerte der andere Junge »habe ichgleich gesagt, daß du mich um deine Vertretung gebe-ten hast, aber hört denn der auf solche Entschuldigun-gen, Du kennst ihn wahrscheinlich noch nicht. Undwir sollen dir ausrichten, daß du sofort ins Büro kom-men sollst. Also halte dich lieber nicht auf und laufhin. Vielleicht verzeiht er es dir noch, du warst jawirklich nur zwei Minuten weg. Berufe dich nur ruhigdarauf, daß du mich um Vertretung gebeten hast.Davon, daß du mich vertreten hast, rede lieber nicht,laß dir raten, mir kann nichts geschehen, ich hatte

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Erlaubnis, aber es ist nicht gut, von einer solchenSache zu reden und sie noch in diese Angelegenheitzu mischen, mit der sie nichts zu tun hat.«

»Es ist das erstemal gewesen, daß ich meinen Po-sten verlassen habe«, sagte Karl.

»Das ist immer so, nur glaubt man es nicht«, sagteder Junge und lief zu seinem Lift, da sich Leute nä-herten.

Karls Vertreter, ein etwa vierzehnjähriger Junge,der offenbar mit Karl Mitleid hatte, sagte: »Es sindschon viele Fälle vorgekommen, in denen man solcheSachen verziehen hat. Gewöhnlich wird man zu ande-ren Arbeiten versetzt. Entlassen wurde, soviel ichweiß, wegen einer solchen Sache nur einer. Du mußtdir eine gute Entschuldigung ausdenken. Auf keinenFall sage, daß dir plötzlich schlecht geworden ist, dalacht er dich aus. Da ist es schon besser, du sagst, einGast hat dir irgendeine eilige Bestellung an einen an-deren Gast aufgegeben und du weißt nicht mehr, werder erste Gast war, und den zweiten hast du nicht fin-den können.«

»Na«, sagte Karl, »es wird nicht so schlimm wer-den«, nach allem, was er gehört hatte, glaubte er ankeinen guten Ausgang mehr. Und wenn selbst dieseDienstversäumnis verziehen werden sollte, so lagdoch drinnen im Schlafsaal noch Robinson als leben-dige Schuld, und es war bei dem galligen Charakter

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des Oberkellners nur zu wahrscheinlich, daß man sichmit keiner oberflächlichen Untersuchung begnügenund Robinson schließlich doch noch aufstöbernwürde. Es bestand wohl kein ausdrückliches Verbot,nach dem fremde Leute in den Schlafsaal nicht mitge-nommen werden durften, aber dies bestand nur des-halb nicht, weil eben unausdenkbare Dinge nicht ver-boten werden.

Als Karl in das Büro des Oberkellners eintrat, saßdieser gerade bei seinem Morgenkaffee, machte ein-mal einen Schluck und sah dann wieder in ein Ver-zeichnis, das ihm offenbar der gleichfalls anwesendeoberste Hotelportier überbracht hatte. Es war dies eingroßer Mann, den seine üppige, reichgeschmückteUniform - noch auf den Achseln und die Arme hinun-ter schlängelten sich goldene Ketten und Bänder -noch breitschultriger machte, als er von Natur auswar. Ein glänzender schwarzer Schnurrbart, weit inSpitzen ausgezogen, so wie ihn Ungarn tragen, rührtesich auch bei der schnellsten Kopfbewegung nicht. Imübrigen konnte sich der Mann infolge seiner Kleider-last überhaupt nur schwer bewegen und stellte sichnicht anders als mit seitwärts eingestemmten Beinenauf, um sein Gewicht richtig zu verteilen.

Karl war frei und eilig eingetreten, wie er es sichhier im Hotel angewöhnt hatte, denn die Langsamkeitund Vorsicht, die bei Privatpersonen Höflichkeit

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bedeutet, hält man bei Liftjungen für Faulheit. Außer-dem mußte man ihm auch nicht gleich beim Eintretensein Schuldbewußtsein ansehen. Der Oberkellnerhatte zwar flüchtig auf die sich öffnende Tür hinge-blickt, war dann aber sofort zu seinem Kaffee und zuseiner Lektüre zurückgekehrt, ohne sich weiter umKarl zu kümmern. Der Portier aber fühlte sich viel-leicht durch Karls Anwesenheit gestört, vielleichthatte er irgendeine geheime Nachricht oder Bitte vor-zutragen, jedenfalls sah er alle Augenblicke bös undmit steif geneigtem Kopf nach Karl hin, um sichdann, wenn er, offenbar seiner Absicht entsprechend,mit Karls Blicken zusammengetroffen war, wiederdem Oberkellner zuzuwenden. Karl aber glaubte, eswürde sich nicht gut ausnehmen, wenn er jetzt, da ernun schon einmal hier war, das Büro wieder verließe,ohne vom Oberkellner den Befehl hiezu erhalten zuhaben. Dieser aber studierte weiter das Verzeichnisund aß zwischendurch von einem Stück Kuchen, vondem er hie und da, ohne im Lesen innezuhalten, denZucker abschüttelte. Einmal fiel ein Blatt des Ver-zeichnisses zu Boden, der Portier machte nicht einmalden Versuch, es aufzuheben, er wußte, daß er es nichtzustande brächte, es war auch nicht nötig, denn Karlwar schon zur Stelle und reichte das Blatt dem Ober-kellner, der es ihm mit einer Handbewegung abnahm,als sei es von selbst vom Boden aufgeflogen. Die

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ganze kleine Dienstleistung hatte nichts genützt, dennder Portier hörte auch weiterhin mit seinen bösenBlicken nicht auf.

Trotzdem war Karl gefaßter als früher. Schon daßseine Sache für den Oberkellner so wenig Wichtigkeitzu haben schien, konnte man für ein gutes Zeichenhalten. Es war schließlich auch nur begreiflich. Natür-lich bedeutet ein Liftjunge gar nichts und darf sichdeshalb nichts erlauben, aber eben deshalb, weil ernichts bedeutet, kann er auch nichts Außerordentli-ches anstellen. Schließlich war der Oberkellner in sei-ner Jugend selbst Liftjunge gewesen - was noch derStolz dieser Generation von Liftjungen war -, er wares gewesen, der die Liftjungen zum erstenmal organi-siert hatte, und gewiß hat auch er einmal ohne Erlaub-nis seinen Posten verlassen, wenn ihn auch jetzt aller-dings niemand zwingen konnte, sich daran zu erin-nern, und wenn man auch nicht außer acht lassendurfte, daß er, gerade als gewesener Liftjunge, darinseine Pflicht sah, diesen Stand durch zeitweilig un-nachsichtliche Strenge in Ordnung zu halten. Nunsetzte aber Karl außerdem seine Hoffnung auf dasVorrücken der Zeit. Nach der Bürouhr war es schonviertel sechs, jeden Augenblick konnte Renell zurück-kehren, vielleicht war er sogar schon da, denn esmußte ihm doch aufgefallen sein, daß Robinson nichtzurückgekommen war, übrigens konnten sich

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Delamarche und Renell gar nicht weit vom Hotel Oc-cidental aufgehalten haben, wie Karl jetzt einfiel,denn sonst hätte auch Robinson in seinem elendenZustand den Weg hierher nicht gefunden. Wenn nunRenell Robinson in seinem Bett antraf, was doch ge-schehen mußte, dann war alles gut. Denn praktisch,wie Renell war, besonders wenn es sich um seine In-teressen handelte, würde er schon Robinson irgendwiegleich aus dem Hotel entfernen, was ja um so leichtergeschehen konnte, als Robinson sich inzwischen einwenig gestärkt hatte und überdies wahrscheinlich De-lamarche vor dem Hotel wartete, um ihn in Empfangzu nehmen. Wenn aber Robinson einmal entfernt war,dann konnte Karl dem Oberkellner viel ruhiger entge-gentreten und für diesmal vielleicht noch mit einer,wenn auch schweren, Rüge davonkommen. Dannwürde er sich mit Therese beraten, ob er der Oberkö-chin die Wahrheit sagen dürfe - er für seinen Teil sahkein Hindernis -, und wenn das möglich war, würdedie Sache ohne besonderen Schaden aus der Welt ge-schafft sein.

Gerade hatte sich Karl durch solche Überlegungenein wenig beruhigt und machte sich daran, das in die-ser Nacht eingenommene Trinkgeld unauffällig zuüberzählen, denn es schien ihm dem Gefühl nach be-sonders reichlich gewesen zu sein, als der Oberkellnerdas Verzeichnis mit den Worten »Warten Sie noch,

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bitte, einen Augenblick, Feodor« auf den Tisch legte,elastisch aufsprang und Karl so laut anschrie, daß die-ser erschrocken vorerst nur in das große, schwarzeMundloch starrte.

»Du hast deinen Posten ohne Erlaubnis verlassen.Weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet Entlas-sung. Ich will keine Entschuldigungen hören, deineerlogenen Ausreden kannst du für dich behalten, mirgenügt vollständig die Tatsache, daß du nicht dawarst. Wenn ich das einmal dulde und verzeihe, wer-den nächstens alle vierzig Liftjungen während desDienstes davonlaufen, und ich kann meine fünftau-send Gäste allein die Treppe hinauftragen.«

Karl schwieg. Der Portier war näher gekommenund zog das Röckchen Karls, das einige Falten warf,ein wenig tiefer, zweifellos um den Oberkellner aufdiese kleine Unordentlichkeit im Anzug Karls beson-ders aufmerksam zu machen.

»Ist dir vielleicht plötzlich schlecht geworden?«fragte der Oberkellner listig.

Karl sah ihn prüfend an und antwortete: »Nein.«»Also nicht einmal schlecht ist dir geworden?«

schrie der Oberkellner desto stärker.»Also dann mußt du ja irgendeine großartige Lüge

erfunden haben. Welche Entschuldigung hast du?Heraus damit.«

»Ich habe nicht gewußt, daß man telephonisch um

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Erlaubnis bitten muß«, sagte Karl.»Das ist allerdings köstlich«, sagte der Oberkell-

ner, faßte Karl beim Rockkragen und brachte ihn fastin der Schwebe vor eine Dienstordnung der Lifts, diean der Wand aufgenagelt war. Auch der Portier ginghinter ihnen zur Wand hin.

»Da, lies!« sagte der Oberkellner und zeigte aufeinen Paragraphen. Karl glaubte, er solle es für sichlesen.

»Laut!« kommandierte aber der Oberkellner.Statt laut zu lesen, sagte Karl, in der Hoffnung,

damit den Oberkellner besser zu beruhigen: »Ichkenne den Paragraphen, ich habe ja die Dienstord-nung auch bekommen und genau gelesen. Aber geradeeine solche Bestimmung, die man niemals braucht,vergißt man. Ich diene schon zwei Monate und habeniemals meinen Posten verlassen.«

»Dafür wirst du ihn jetzt verlassen«, sagte derOberkellner, ging zum Tisch hin, nahm das Verzeich-nis wieder zur Hand, als wolle er darin weiterlesen,schlug damit aber auf den Tisch, als sei es ein nutzlo-ser Fetzen, und ging, starke Röte auf Stirn und Wan-gen, kreuz und quer im Zimmer herum.

»Wegen eines solchen Bengels hat man das nötig!Solche Aufregungen beim Nachtdienst!« stieß er eini-gemal hervor.

»Wissen Sie, wer gerade hinauffahren wollte, als

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dieser Kerl hier vom Lift weggelaufen war?« wandteer sich zum Portier. Und er nannte einen Namen, beidem es dem Portier, der gewiß alle Gäste kannte undbewerten konnte, so schauderte, daß er schnell aufKarl hinsah, als sei nur dessen Existenz eine Bestäti-gung dessen, daß der Träger jenes Namens eine Zeit-lang bei einem Lift, dessen Junge weggelaufen war,nutzlos hatte warten müssen.

»Das ist schrecklich!« sagte der Portier und schüt-telte langsam in grenzenloser Beunruhigung den Kopfgegen Karl hin, welcher ihn traurig ansah und dachte,daß er nun auch für die Begriffstützigkeit dieses Man-nes werde büßen müssen.

»Ich kenne dich übrigens auch schon«, sagte derPortier und streckte seinen dicken, großen, steifge-spannten Zeigefinger aus.

»Du bist der einzige Junge, welcher mich grund-sätzlich nicht grüßt. Was bildest du dir eigentlich ein!Jeder, der an der Portierloge vorübergeht, muß michgrüßen. Mit den übrigen Portiers kannst du es halten,wie du willst, ich aber verlange gegrüßt zu werden.Ich tue zwar manchmal so, als ob ich nicht aufpaßte,aber du kannst ganz ruhig sein, ich weiß sehr genau,wer mich grüßt oder nicht, du Lümmel!« Und erwandte sich von Karl ab und schritt hochaufgerichtetauf den Oberkellner zu, der aber, statt sich zu desPortiers Sache zu äußern, sein Frühstück beendete

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und eine Morgenzeitung überflog, die ein Diener ebenins Zimmer hereingebracht hatte.

»Herr Oberportier«, sagte Karl, der während derUnachtsamkeit des Oberkellners wenigstens die Sachemit dem Portier ins reine bringen wollte, denn er be-griff, daß ihm vielleicht der Vorwurf des Portiersnicht schaden konnte, wohl aber dessen Feindschaft»ich grüße Sie ganz gewiß. Ich bin doch noch nichtlange in Amerika und stamme aus Europa, wo manbekanntlich viel mehr grüßt, als nötig ist. Das habeich mir natürlich noch nicht ganz abgewöhnen kön-nen, und noch vor zwei Monaten hat man mir in NewYork, wo ich zufällig in höheren Kreisen verkehrte,bei jeder Gelegenheit zugeredet, mit meiner übertrie-benen Höflichkeit aufzuhören. Und da sollte ich gera-de Sie nicht gegrüßt haben! Ich habe Sie jeden Tageinigemal gegrüßt. Aber natürlich nicht jedesmal,wenn ich Sie gesehen habe, da ich doch täglich hun-dertmal an Ihnen vorüberkomme.«

»Du hast mich jedesmal zu grüßen, jedesmal, ohneAusnahme, du hast die ganze Zeit, während du mitmir sprichst, die Kappe in der Hand zu halten, du hastmich immer mit ›Oberportier‹ anzureden und nichtmit ›Sie‹. Und alles das jedesmal und jedesmal.«

»Jedesmal?« wiederholte Karl leise und fragend, ererinnerte sich jetzt, wie er vom Portier während derganzen Zeit seines hiesigen Aufenthaltes immer streng

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und vorwurfsvoll angeschaut worden war, schon vonjenem ersten Morgen an, an dem er, seiner dienendenStellung noch nicht recht angepaßt, etwas zu kühn,diesen Portier ohne weiteres umständlich und dring-lich ausgefragt hatte, ob nicht zwei Männer vielleichtnach ihm gefragt und etwa eine Photographie für ihnzurückgelassen hätten.

»Jetzt siehst du, wohin ein solches Benehmenführt«, sagte der Portier, der wieder ganz nahe zu Karlzurückgekehrt war, und zeigte auf den noch lesendenOberkellner, als sei dieser der Vertreter seiner Rache.

»In deiner nächsten Stellung wirst du es schon ver-stehen, den Portier zu grüßen, und wenn es auch nurvielleicht in einer elenden Spelunke sein wird.«

Karl sah ein, daß er eigentlich seinen Posten schonverloren hatte, denn der Oberkellner hatte es bereitsausgesprochen, der Oberportier als fertige Tatsachewiederholt, und wegen eines Liftjungen dürfte wohldie Bestätigung der Entlassung seitens der Hoteldi-rektion nicht nötig sein. Es war allerdings schnellergegangen, als er gedacht hatte, denn schließlich hatteer doch zwei Monate gedient, so gut er konnte, undgewiß besser als mancher andere Junge. Aber auf sol-che Dinge wird eben im entscheidenden Augenblickoffenbar in keinem Weltteil, weder in Europa, noch inAmerika, Rücksicht genommen, sondern es wird soentschieden, wie einem in der ersten Wut das Urteil

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aus dem Munde fährt. Vielleicht wäre es jetzt am be-sten gewesen, wenn er sich gleich verabschiedet hätteund weggegangen wäre, die Oberköchin und Thereseschliefen vielleicht noch, er hätte sich, um ihnen dieEnttäuschung und Trauer über sein Benehmen wenig-stens beim persönlichen Abschied zu ersparen, brief-lich verabschieden, hätte rasch seinen Koffer packenund in der Stille fortgehen können. Blieb er aber auchnur einen Tag noch, und er hätte allerdings ein wenigSchlaf gebraucht, so erwartete ihn nichts anderes alsAufbauschung seiner Sache zum Skandal, Vorwürfevon allen Seiten, der unerträgliche Anblick der TränenTheresens und vielleicht gar der Oberköchin undmöglicherweise zuguterletzt auch noch eine Bestra-fung. Andererseits aber beirrte es ihn, daß er hier zweiFeinden gegenüberstand und daß an jedem Wort, daser aussprechen würde, wenn nicht der eine, so der an-dere etwas aussetzen und zum Schlechten deutenwürde. Deshalb schwieg er und genoß vorläufig dieRuhe, die im Zimmer herrschte, denn der Oberkellnerlas noch immer die Zeitung, und der Oberportier ord-nete sein über den Tisch hin verstreutes Verzeichnisnach den Seitenzahlen, was ihm bei seiner offenbarenKurzsichtigkeit große Schwierigkeiten machte.

Endlich legte der Oberkellner die Zeitung gähnendhin, vergewisserte sich durch einen Blick auf Karl,daß dieser noch anwesend sei, und drehte die Glocke

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des Tischtelephons an. Er rief mehrere Male»Hallo!«, aber niemand meldete sich.

»Es meldet sich niemand«, sagte er zum Oberpor-tier. Dieser, der das Telephonieren, wie es Karlschien, mit besonderem Interesse beobachtete, sagte:»Es ist ja schon dreiviertel sechs. Sie ist gewiß schonwach. Läuten Sie nur stärker.« In diesem Augenblickkam, ohne weitere Aufforderung, das telephonischeGegenzeichen.

»Hier Oberkellner Ishary«, sagte der Oberkellner.»Guten Morgen, Frau Oberköchin. Ich habe Sie

doch nicht am Ende geweckt? Das tut mir sehr leid.Ja, ja, dreiviertel sechs ist es schon. Aber es tut miraufrichtig leid, daß ich Sie erschreckt habe. Sie soll-ten während des Schlafens das Telephon abstellen.Nein, nein, tatsächlich, es gibt für mich keine Ent-schuldigung, besonders bei der Geringfügigkeit derSache, wegen der ich Sie sprechen will. Aber natür-lich habe ich Zeit, bitte sehr, ich bleibe beim Tele-phon, wenn es Ihnen recht ist.«

»Sie muß im Nachthemd zum Telephon gelaufensein«, sagte der Oberkellner lächelnd zum Oberpor-tier, der die ganze Zeit über mit gespanntem Gesichts-ausdruck zum Telephonkasten sich gebückt gehaltenhatte.

»Ich habe sie wirklich geweckt, sie wird nämlichsonst von dem kleinen Mädel, das bei ihr auf der

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Schreibmaschine schreibt, geweckt, und die muß esheute ausnahmsweise versäumt haben. Es tut mir leid,daß ich sie aufgeschreckt habe, sie ist sowieso ner-vös.«

»Warum spricht sie nicht weiter?«»Sie ist nachschauen gegangen, was mit dem

Mädel los ist«, antwortete der Oberkellner schon mitder Muschel am Ohr, denn es läutete wieder.

»Sie wird sich schon finden«, redete er weiter insTelephon hinein.

»Sie dürfen sich nicht von allem so erschreckenlassen. Sie brauchen wirklich eine gründliche Erho-lung. Ja also, meine kleine Anfrage. Es ist da einLiftjunge namens« - er drehte sich fragend nach Karlum, der, da er genau aufpaßte, gleich mit seinemNamen aushelfen konnte - »also namens Karl Roß-mann. Wenn ich mich recht erinnere, so haben Siesich für ihn ein wenig interessiert; leider hat er IhreFreundlichkeit schlecht belohnt, er hat ohne Erlaubnisseinen Posten verlassen, hat mir dadurch schwere,jetzt noch gar nicht übersehbare Unannehmlichkeitenverursacht, und ich habe ihn daher soeben entlassen.Ich hoffe, Sie nehmen die Sache nicht tragisch. Wiemeinen Sie? Entlassen, ja, entlassen. Aber ich sagteIhnen doch, daß er seinen Posten verlassen hat. Nein,da kann ich Ihnen wirklich nicht nachgeben, liebeFrau Oberköchin. Es handelt sich um meine Autorität,

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da steht viel auf dem Spiel, so ein Junge verdirbt mirdie ganze Bande. Gerade bei den Liftjungen muß manteuflisch aufpassen. Nein, nein, in diesem Falle kannich Ihnen den Gefallen nicht tun, so sehr ich es mirimmer angelegen sein lasse, Ihnen gefällig zu sein.Und wenn ich ihn schon trotz allem hier ließe, zu kei-nem anderen Zweck, als um meine Galle in Tätigkeitzu erhalten, Ihretwegen, ja, Ihretwegen, Frau Oberkö-chin, kann er nicht hierbleiben. Sie nehmen einen An-teil an ihm, den er durchaus nicht verdient, und da ichnicht nur ihn kenne, sondern auch Sie, weiß ich, daßdas zu den schwersten Enttäuschungen für Sie führenmüßte, die ich Ihnen um jeden Preis ersparen will. Ichsage das ganz offen, obwohl der verstockte Junge einpaar Schritte vor mir steht. Er wird entlassen, nein,nein, Frau Oberköchin, er wird vollständig entlassen,nein, nein, er wird zu keiner anderen Arbeit versetzt,er ist vollständig unbrauchbar. Übrigens laufen jaauch sonst Beschwerden gegen ihn ein. Der Oberpor-tier zum Beispiel, ja also, was denn, Feodor, ja, Feo-dor beklagt sich über die Unhöflichkeit und Frechheitdieses Jungen. Wie, das soll nicht genügen? Ja, liebeFrau Oberköchin, Sie verleugnen wegen dieses Jun-gen Ihren Charakter. Nein, so dürfen Sie mir nicht zu-setzen.«

In diesem Augenblick beugte sich der Portier zumOhr des Oberkellners und flüsterte etwas. Der

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Oberkellner sah ihn zuerst erstaunt an und redetedann so rasch in das Telephon, daß Karl ihn anfangsnicht ganz genau verstand und auf den Fußspitzenzwei Schritte näher trat.

»Liebe Frau Oberköchin«, hieß es, »aufrichtig ge-sagt, ich hätte nicht geglaubt, daß Sie eine so schlech-te Menschenkennerin sind. Eben erfahre ich etwasüber Ihren Engelsjungen, was Ihre Meinung über ihngründlich ändern wird, und es tut mir fast leid, daßgerade ich es Ihnen sagen muß. Dieser feine Jungealso, den Sie ein Muster von Anstand nennen, läßtkeine dienstfreie Nacht vergehen, ohne in die Stadt zulaufen, aus der er erst am Morgen wiederkommt. Ja,ja, Frau Oberköchin, das ist durch Zeugen bewiesen,durch einwandfreie Zeugen, ja. Können Sie mir nunvielleicht sagen, wo er das Geld zu diesen Lustbarkei-ten hernimmt? Wie er die Aufmerksamkeit für seinenDienst behalten soll? Und wollen Sie vielleicht auchnoch, daß ich Ihnen beschreiben soll, was er in derStadt treibt? Diesen Jungen loszuwerden will ichmich aber ganz besonders beeilen. Und Sie, bitte,nehmen das als Mahnung, wie vorsichtig man gegenhergelaufene Burschen sein soll.«

»Aber, Herr Oberkellner«, rief nun Karl, förmlicherleichtert durch den großen Irrtum, der hier unterlau-fen schien und der vielleicht am ehesten dazu führenkonnte, daß sich alles noch unerwartet besserte, »da

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liegt bestimmt eine Verwechslung vor. Ich glaube, derHerr Oberportier hat Ihnen gesagt, daß ich jede Nachtweggehe Das ist aber durchaus nicht richtig, ich binvielmehr jede Nacht im Schlafsaal, das können alleJungens bestätigen. Wenn ich nicht schlafe, lerne ichkaufmännische Korrespondenz, aber aus dem Schlaf-saal rühre ich mich keine Nacht. Das ist ja leicht zubeweisen. Der Herr Oberportier verwechselt mich of-fenbar mit jemand anderem, und jetzt verstehe ichauch, warum er glaubt, daß ich ihn nicht grüße.«

»Wirst du sofort schweigen«, schrie der Oberpor-tier und schüttelte die Faust, wo andere einen Fingerbewegt hätten. »Ich soll dich mit jemand anderem ver-wechseln! Ja, dann kann ich nicht mehr Oberportiersein, wenn ich die Leute verwechsle. Hören Sie nur,Herr Ishary, dann kann ich nicht mehr Oberportiersein, nun ja, wenn ich die Leute verwechsle. In mei-nen dreißig Dienstjahren ist mir allerdings noch keineVerwechslung passiert, wie mir hunderte von HerrenOberkellnern, die wir seit jener Zeit hatten, bestätigenmüssen, aber bei dir, miserabler Junge, soll ich mitden Verwechslungen angefangen haben. Bei dir, mitdeiner auffallenden, glatten Fratze. Was gibt es da zuverwechseln! Du könntest jede Nacht hinter meinemRücken in die Stadt gelaufen sein, und ich bestätigebloß nach deinem Gesicht, daß du ein ausgegorenerLump bist.«

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»Laß, Feodor!« sagte der Oberkellner, dessen tele-phonisches Gespräch mit der Oberköchin plötzlichabgebrochen worden zu sein schien. »Die Sache ist jaganz einfach. Auf seine Unterhaltungen in der Nachtkommt es in erster Reihe gar nicht an. Er möchte javielleicht vor seinem Abschied noch irgendeine großeUntersuchung über seine Nachtbeschäftigung verursa-chen wollen. Ich kann mir schon vorstellen, daß ihmdas gefallen würde. Es würden womöglich alle vierzigLiftjungen heraufzitiert und als Zeugen einvernom-men, die würden ihn natürlich auch alle verwechselthaben, es müßte also zur Zeugenschaft allmählich dasganze Personal heran, der Hotelbetrieb würde natür-lich auf ein Weilchen eingestellt, und wenn er dannschließlich doch hinausgeworfen würde, so hätte erdoch wenigstens seinen Spaß gehabt. Also das ma-chen wir lieber nicht. Die Oberköchin, diese guteFrau, hat er schon zum Narren gehalten, und damitsoll es genug sein. Ich will nichts weiter hören; dubist wegen Dienstversäumnis auf der Stelle aus demDienst entlassen. Da gebe ich dir eine Anweisung andie Kasse, daß dir dein Lohn bis zum heutigen Tageausgezahlt werde. Das ist übrigens bei deinem Ver-halten - unter uns gesagt - einfach ein Geschenk, dasich dir nur aus Rücksicht auf die Frau Oberköchinmache.«

Ein telephonischer Anruf hielt den Oberkellner ab,

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die Anweisung sofort zu unterschreiben.»Die Liftjungen geben mir aber heute zu schaffen!«

rief er schon nach Anhören der ersten Worte.»Das ist ja unerhört!« rief er nach einem Weilchen.

Und vom Telephon weg wandte er sich zum Hotelpor-tier und sagte: »Bitte, Feodor, halt mal diesen Bur-schen ein wenig, wir werden noch mit ihm zu redenhaben.« Und ins Telephon gab er den Befehl: »Kommsofort herauf!«

Nun konnte sich der Oberportier wenigstens austo-ben, was ihm beim Reden nicht hatte gelingen wollen.Er hielt Karl oben am Arm fest, aber nicht etwa mitruhigem Griff, der schließlich auszuhalten gewesenwäre, sondern er lockerte hie und da den Griff undmachte ihn dann mit Steigerung fester und fester, wasbei seinen großen Körperkräften gar nicht aufzuhörenschien und ein Dunkel vor Karls Augen verursachte.Aber er hielt Karl nicht nur, sondern als hätte er auchden Befehl bekommen, ihn gleichzeitig zu strecken,zog er ihn auch hie und da in die Höhe und schüttelteihn, wobei er immer wieder halb fragend zum Ober-kellner sagte: »Ob ich ihn jetzt nur nicht verwechsle,ob ich ihn jetzt nur nicht verwechsle.«

Es war eine Erlösung für Karl, als der oberste derLiftjungen, ein gewisser Beß, ein ewig fauchender,dicker Junge eintrat, und die Aufmerksamkeit desOberportiers ein wenig auf sich lenkte. Karl war so

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ermattet, daß er kaum grüßte, als er zu seinem Erstau-nen hinter dem Jungen Therese, leichenblaß, unor-dentlich angezogen, mit lose aufgesteckten Haaren,hereinschlüpfen sah. Im Augenblick war sie bei ihmund flüsterte: »Weiß es schon die Oberköchin?«

»Der Oberkellner hat es ihr telephoniert«, antwor-tete Karl.

»Dann ist es schon gut, dann ist es schon gut«,sagte sie rasch, mit lebhaften Augen.

»Nein«, sagte Karl.»Du weißt ja nicht, was sie gegen mich haben. Ich

muß weg, die Oberköchin ist davon auch schon über-zeugt. Bitte, bleib nicht hier, geh hinauf, ich werdemich dann von dir verabschieden kommen.«

»Aber, Roßmann, was fällt dir denn ein, du wirstschön bei uns bleiben, solange es dir gefällt. DerOberkellner macht ja alles, was die Oberköchin will,er liebt sie ja, ich habe es letzthin erfahren. Da sei nurruhig.«

»Bitte, Therese, geh jetzt weg. Ich kann mich nichtso gut verteidigen, wenn du hier bist. Und ich mußmich genau verteidigen, weil Lügen gegen mich vor-gebracht werden. Je besser ich aber aufpassen undmich verteidigen kann, desto mehr Hoffnung ist, daßich bleibe. Also, Therese-« Leider konnte er in einemplötzlichen Schmerz nicht unterlassen, leise hinzuzu-fügen: »Wenn mich nur dieser Oberportier losließe!

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Ich wußte gar nicht, daß er mein Feind ist. Aber wieer mich immerfort drückt und zieht.« ›Warum sageich das nur!‹ dachte er gleichzeitig, ›kein Frauenzim-mer kann das ruhig anhören‹, und tatsächlich wandtesich Therese, ohne daß er sie noch mit der freienHand hätte davon abhalten können, an den Oberpor-tier: »Herr Oberportier, bitte, lassen Sie doch sofortden Roßmann frei. Sie machen ihm ja Schmerzen. DieFrau Oberköchin wird gleich persönlich kommen, unddann wird man schon sehen; daß ihm in allem Un-recht geschieht. Lassen Sie ihn los; was kann es Ihnendenn für ein Vergnügen machen, ihn zu quälen!« Undsie griff sogar nach des Oberportiers Hand.

»Befehl, kleines Fräulein, Befehl«, sagte der Ober-portier und zog mit der freien Hand Therese freund-lich an sich, während er mit der anderen Karl nunsogar angestrengt drückte, als wolle er ihm nicht nurSchmerzen machen, sondern als habe er mit diesem inseinem Besitz befindlichen Arm ein besonderes Ziel,das noch lange nicht erreicht sei.

Therese brauchte einige Zeit, um sich der Umar-mung des Oberportiers zu entwinden, und wollte sichgerade beim Oberkellner, der sich noch immer vondem sehr umständlichen Beß erzählen ließ, für Karleinsetzen, als die Oberköchin mit raschem Schritteeintrat.

»Gott sei Dank!« rief Therese und man hörte einen

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Augenblick lang im Zimmer nichts als diese lautenWorte. Gleich sprang der Oberkellner auf und schobBeß zur Seite.

»Sie kommen also selbst, Frau Oberköchin?Wegen dieser Kleinigkeit? Nach unserem Telephon-gespräch konnte ich es ja ahnen, aber geglaubt habeich es eigentlich doch nicht. Und dabei wird die SacheIhres Schützlings immerfort ärger. Ich fürchte, ichwerde ihn tatsächlich nicht entlassen, aber dafür ein-sperren lassen müssen. Hören Sie selbst.« Und erwinkte Beß herbei.

»Ich möchte zuerst ein paar Worte mit dem Roß-mann reden«, sagte die Oberköchin und setzte sichauf einen Sessel, da sie der Oberkellner hierzu nötig-te.

»Karl, bitte, komm näher«, sagte sie dann. Karlfolgte oder wurde vielmehr vom Oberportier näher ge-schleppt.

»Lassen Sie ihn doch los«, sagte die Oberköchinärgerlich, »er ist doch kein Raubmörder!« Der Ober-portier ließ ihn tatsächlich los, drückte aber vorhernoch einmal so stark, daß ihm selbst vor Anstrengungdie Tränen in die Augen traten.

»Karl«, sagte die Oberköchin, legte die Händeruhig in den Schoß und sah Karl mit geneigtem Kopfean - es war gar nicht wie ein Verhör - »vor allemwill ich dir sagen, daß ich noch vollständiges

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Vertrauen zu dir habe. Auch der Herr Oberkellner istein gerechter Mann, dafür bürge ich. Wir beide wol-len dich im Grunde gerne hier behalten« - sie sah hie-bei flüchtig zum Oberkellner hinüber, als wolle siebitten, ihr nicht ins Wort zu fallen. Es geschah auchnicht. »Vergiß also, was man dir bis jetzt vielleichthier gesagt hat. Vor allem, was dir vielleicht der HerrOberportier gesagt hat, mußt du nicht besondersschwer nehmen. Er ist zwar ein aufgeregter Mann,was bei seinem Dienst kein Wunder ist, aber er hatauch Frau und Kinder und weiß, daß man einen Jun-gen, der nur auf sich angewiesen ist, nicht unnötigplagen muß, sondern daß das schon die übrige Weltgenügend besorgt.«

Es war ganz still im Zimmer. Der Oberportier sah,Erklärungen fordernd, auf den Oberkellner, dieser sahauf die Oberköchin und schüttelte den Kopf. DerLiftjunge Beß grinste recht sinnlos hinter dem Rückendes Oberkellners. Therese schluchzte vor Freude undLeid in sich hinein und hatte alle Mühe, es niemandenhören zu lassen.

Karl aber blickte, obwohl das nur als schlechtesZeichen aufgefaßt werden konnte, nicht auf die Ober-köchin, die gewiß nach seinem Blick verlangte, son-dern vor sich auf den Fußboden. In seinem Arm zuck-te der Schmerz nach allen Richtungen, das Hemdklebte an den Striemen fest, und er hätte eigentlich

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den Rock ausziehen und die Sache besehen sollen.Was die Oberköchin sagte, war natürlich sehr freund-lich gemeint, aber unglücklicherweise schien es ihm,als müsse es gerade durch das Verhalten der Oberkö-chin zutage treten, daß er keine Freundlichkeit verdie-ne, daß er die Wohltaten der Oberköchin zwei Mona-te unverdient genossen habe, ja, daß er nichts anderesverdiene, als unter die Hände des Oberportiers zukommen.

»Ich sage das«, fuhr die Oberköchin fort, »damit dujetzt unbeirrt antwortest, was du übrigens wahrschein-lich auch sonst getan hättest, wie ich dich zu kennenglaube.«

»Darf ich, bitte, inzwischen den Arzt holen, derMann könnte nämlich inzwischen verbluten«, mischtesich plötzlich der Liftjunge Beß sehr höflich, abersehr störend ein.

»Geh«, sagte der Oberkellner zu Beß, der gleichdavonlief. Und dann zur Oberköchin: »Die Sache istdie. Der Oberportier hat den Jungen da nicht zumSpaß festgehalten. Unten, im Schlafsaal der Liftjun-gen, ist nämlich in einem Bett sorgfältig zugedecktein wildfremder, schwer betrunkener Mann aufgefun-den worden. Man hat ihn natürlich geweckt und woll-te ihn wegschaffen. Da hat dieser Mann aber einengroßen Radau zu machen angefangen, immer wiederherumgeschrien, der Schlafsaal gehöre dem Karl

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Roßmann, dessen Gast er sei, der ihn hergebrachthabe und der jeden bestrafen werde, der ihn anzurüh-ren wagen würde. Im übrigen müsse er auch deshalbauf den Karl Roßmann warten, weil ihm dieser Geldversprochen habe und es nur holen gegangen sei.Achten Sie, bitte, darauf, Frau Oberköchin: Geld ver-sprochen habe und es holen gegangen sei. Du kannstauch achtgeben, Roßmann«, sagte der Oberkellner ne-benbei zu Karl, der sich gerade nach Therese umge-dreht hatte, die wie gebannt den Oberkellner anstarrteund immer wieder entweder irgendwelche Haare ausder Stirn strich oder diese Handbewegung um ihrerselbst willen machte.

»Aber vielleicht erinnere ich dich an irgendwelcheVerpflichtungen. Der Mann unten hat nämlich weiter-hin gesagt, daß ihr beide nach deiner Rückkunft ir-gendeiner Sängerin einen Nachtbesuch machen wer-det, deren Namen allerdings niemand verstanden hat,da ihn der Mann immer nur unter Gesang aussprechenkonnte.«

Hier unterbrach sich der Oberkellner, denn diesichtlich bleich gewordene Oberköchin erhob sichvom Sessel, den sie ein wenig zurückstieß.

»Ich verschone Sie mit dem Weiteren«, sagte derOberkellner.

»Nein, bitte, nein«, sagte die Oberköchin und er-griff seine Hand »erzählen Sie nur weiter, ich will

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alles hören, darum bin ich ja hier.«Der Oberportier, der vortrat und sich zum Zeichen

dessen, daß er von Anfang an alles durchschaut hatte,laut auf die Brust schlug, wurde vom Oberkellner mitden Worten: »Ja, Sie hatten ganz recht, Feodor!«gleichzeitig beruhigt und zurückgewiesen.

»Es ist nicht mehr viel zu erzählen«, sagte derOberkellner.

»Wie die Jungen eben schon sind, haben sie denMann zuerst ausgelacht, haben dann mit ihm Streitbekommen, und er ist, da dort immer gute Boxer zurVerfügung stehen, einfach niedergeboxt worden; undich habe gar nicht zu fragen gewagt, an welchen undan wie vielen Stellen er blutet, denn diese Jungen sindfürchterliche Boxer, und ein Betrunkener macht esihnen natürlich leicht!«

»So«, sagte die Oberköchin, hielt den Sessel an derLehne und sah auf den Platz, den sie eben verlassenhatte.

»Also sprich doch, bitte, ein Wort, Roßmann!«sagte sie dann. Therese war von ihrem bisherigenPlatz zur Oberköchin hinübergelaufen und hatte sich,was sie Karl sonst niemals hatte tun sehen, in dieOberköchin eingehängt. Der Oberkellner stand knapphinter der Oberköchin und glättete langsam einenkleinen, bescheidenen Spitzenkragen der Oberköchin,der sich ein wenig umgeschlagen hatte. Der

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Oberportier neben Karl sagte: »Also wird's?«, wolltedamit aber nur einen Stoß maskieren, den er unterdes-sen Karl in den Rücken gab.

»Es ist wahr«, sagte Karl, infolge des Stoßes unsi-cherer, als er wollte, »daß ich den Mann in denSchlafsaal gebracht habe.«

»Mehr wollen wir nicht wissen«, sagte der Portierim Namen aller. Die Oberköchin wandte sich stummzum Oberkellner und dann zu Therese.

»Ich konnte mir nicht anders helfen«, sagte Karlweiter.

»Der Mann ist mein Kamerad von früher her, erkam, nachdem wir uns zwei Monate lang nicht gese-hen hatten, hierher, um mir einen Besuch zu machen,war aber so betrunken, daß er nicht wieder allein fort-gehen konnte.«

Der Oberkellner sagte neben der Oberköchin halb-laut vor sich hin: »Er kam also zu Besuch und warnachher so betrunken, daß er nicht fortgehen konnte.«Die Oberköchin flüsterte über die Schulter dem Ober-kellner etwas zu, der mit einem offenbar nicht zu die-ser Sache gehörigen Lächeln Einwände zu machenschien. Therese - Karl sah nur zu ihr hin- drückte ihrGesicht in völliger Hilflosigkeit an die Oberköchinund wollte nichts mehr sehen. Der einzige, der mitKarls Erklärung vollständig zufrieden war, war derOberportier, welcher einigemal wiederholte: »Es ist ja

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ganz recht, seinem Saufbruder muß man helfen«, unddiese Erklärung jedem der Anwesenden durch Blickeund Handbewegungen einzuprägen suchte.

»Schuld also bin ich«, sagte Karl und machte einePause, als warte er auf ein freundliches Wort seinerRichter, das ihm Mut zur weiteren Verteidigunggeben könnte, aber es kam nicht, »schuld bin ich nurdaran, daß ich den Mann - er heißt Robinson, ist einIrländer - in den Schlafsaal gebracht habe. Alles an-dere, was er gesagt hat, hat er aus Betrunkenheit ge-sagt und ist nicht richtig.«

»Du hast ihm also kein Geld versprochen?« fragteder Oberkellner.

»Ja«, sagte Karl, und es tat ihm leid, daß er dasvergessen hatte, er hatte sich aus Unüberlegtheit oderZerstreutheit in allzu bestimmten Ausdrücken alsschuldlos bezeichnet.

»Geld habe ich ihm versprochen, weil er michdarum gebeten hat. Aber ich wollte es nicht holen,sondern ihm das Trinkgeld geben, das ich heute nachtverdient hatte.« Und er zog zum Beweise das Geldaus der Tasche und zeigte auf der flachen Hand diepaar kleinen Münzen.

»Du verrennst dich immer mehr«, sagte der Ober-kellner. »Wenn man dir glauben sollte, müßte manimmer das, was du früher gesagt hast, vergessen. Zu-erst hast du also den Mann - nicht einmal den Namen

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Robinson glaube ich dir, so hat, seit es Irland gibt,kein Irländer geheißen -, zuerst also hast du ihn nurin den Schlafsaal gebracht, wofür allein du übrigensschon im Schwung hinausfliegen könntest, Geld aberhast du ihm zuerst nicht versprochen, dann wieder,wenn man dich überraschend fragt, hast du ihm Geldversprochen. Aber wir haben hier kein Antwort- undFragespiel, sondern wollen deine Rechtfertigunghören. Zuerst aber wolltest du das Geld nicht holen,sondern ihm dein heutiges Trinkgeld geben, dann aberzeigt sich, daß du dieses Geld noch bei dir hast, alsooffenbar doch noch anderes Geld holen wolltest,wofür auch dein langes Ausbleiben spricht. Schließ-lich wäre es ja nichts Besonderes, wenn du für ihn ausdeinem Koffer hättest Geld holen wollen; daß du esaber mit aller Kraft leugnest, das ist allerdings etwasBesonderes, ebenso wie du auch immerfort verschwei-gen willst, daß du den Mann erst hier im Hotel be-trunken gemacht hast, woran ja nicht der geringsteZweifel ist, denn du selbst hast zugegeben, daß er al-lein gekommen ist, aber nicht allein weggehen konnte,und er selbst hat ja im Schlafsaal herumgeschrien,daß er dein Gast ist. Fraglich also bleiben jetzt nurnoch zwei Dinge, die du, wenn du die Sache vereinfa-chen willst, selbst beantworten kannst, die man aberschließlich auch ohne deine Mithilfe wird feststellenkönnen: Erstens, wie hast du dir den Zutritt zu den

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Vorratskammern verschafft, und zweitens, wie hast duverschenkbares Geld angesammelt?«

›Es ist unmöglich, sich zu verteidigen, wenn nichtguter Wille da ist‹, sagte sich Karl und antwortetedem Oberkellner nicht mehr, so sehr Therese wahr-scheinlich darunter litt. Er wußte, daß alles, was ersagen konnte, hinterher ganz anders aussehen würde,als es gemeint gewesen war, und daß es nur der Artder Beurteilung überlassen bleibe, Gutes oder Bösesvorzufinden.

»Er antwortet nicht«, sagte die Oberköchin.»Es ist das Vernünftigste, was er tun kann«, sagte

der Oberkellner.»Er wird sich schon noch etwas ausdenken«, sagte

der Oberportier und strich mit der früher grausamenHand behutsam seinen Bart.

»Sei still«, sagte die Oberköchin zu Therese, die anihrer Seite zu schluchzen begann, »du siehst, er ant-wortet nicht, wie kann ich denn da etwas für ihn tun?Schließlich bin ich es, die vor dem Herrn Oberkellnerunrecht behält. Sag doch, Therese, habe ich deinerMeinung nach etwas für ihn zu tun versäumt?« Wiekonnte das Therese wissen, und was nützte es, daßsich die Oberköchin durch diese öffentlich an daskleine Mädchen gerichtete Frage und Bitte vor diesenbeiden Herren vielleicht viel vergab?

»Frau Oberköchin«, sagte Karl, der sich noch

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einmal aufraffte, aber nur um Therese die Antwort zuersparen, zu keinem anderen Zweck, »ich glaubenicht, daß ich Ihnen irgendwie Schande gemachthabe, und nach genauer Untersuchung müßte das auchjeder andere finden.«

»Jeder andere«, sagte der Oberportier und zeigtemit dem Finger auf den Oberkellner »das ist eineSpitze gegen Sie, Herr Ishary.«

»Nun, Frau Oberköchin«, sagte dieser, »es ist halbsieben, hohe und höchste Zeit. Ich denke, Sie lassenmir am besten das Schlußwort in dieser schon allzuduldsam behandelten Sache.«

Der kleine Giacomo war hereingekommen, wolltezu Karl treten, ließ aber, durch die allgemein herr-schende Stille erschreckt, davon ab und wartete.

Die Oberköchin hatte seit Karls letzten Worten denBlick nicht von ihm gewendet, und es deutete auchnichts darauf hin, daß sie die Bemerkung des Ober-kellners gehört hatte. Ihre Augen sahen voll auf Karlhin, sie waren groß und blau, aber ein wenig getrübtdurch das Alter und die viele Mühe. Wie sie so da-stand und den Sessel vor sich schwach schaukelte,hätte man ganz gut erwarten können, sie werde imnächsten Augenblick sagen: ›Nun, Karl, die Sache ist,wenn ich es überlege, noch nicht recht klargestellt undbraucht, wie du richtig gesagt hast, noch eine genaueUntersuchung. Und die wollen wir jetzt veranstalten,

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ob man sonst damit einverstanden ist oder nicht, dennGerechtigkeit muß sein.‹

Statt dessen aber sagte die Oberköchin nach einerkleinen Pause, die niemand zu unterbrechen gewagthatte - nur die Uhr schlug in Bestätigung der Wortedes Oberkellners halb sieben und mit ihr, wie jederwußte, gleichzeitig alle Uhren im ganzen Hotel, esklang im Ohr und in der Ahnung wie das zweimaligeZucken einer einzigen großen Ungeduld -: »Nein,Karl, nein, nein! Das wollen wir uns nicht einreden.Gerechte Dinge haben auch ein besonderes Aussehen,und das hat, ich muß es gestehen, deine Sache nicht.Ich darf das sagen und muß es auch sagen; ich muß esgestehen, denn ich bin es, die mit dem besten Vorur-teil für dich hergekommen ist. Du siehst, auch There-se schweigt.« (Aber sie schwieg doch nicht, sie wein-te.)

Die Oberköchin stockte in einem plötzlich sieüberkommenden Entschluß und sagte: »Karl, kommeinmal her«, und als er zu ihr gekommen war - gleichvereinigten sich hinter seinem Rücken der Oberkell-ner und der Oberportier zu lebhaftem Gespräch -,umfaßte sie ihn mit der linken Hand, ging mit ihmund der willenlos folgenden Therese in die Tiefe desZimmers und dort mit beiden einigemal auf und ab,wobei sie sagte: »Es ist möglich, Karl, und daraufscheinst du zu vertrauen, sonst würde ich dich

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überhaupt nicht verstehen, daß eine Untersuchung dirin einzelnen Kleinigkeiten recht geben wird. Warumdenn nicht? Du hast vielleicht tatsächlich den Ober-portier gegrüßt. Ich glaube es sogar bestimmt, ichweiß auch, was ich von dem Oberportier zu haltenhabe, du siehst, ich rede selbst jetzt noch offen zu dir.Aber solche kleine Rechtfertigungen helfen dir garnichts. Der Oberkellner, dessen Menschenkenntnis ichim Laufe vieler Jahre zu schätzen gelernt habe, undwelcher der verläßlichste Mensch ist, den ich über-haupt kenne, hat deine Schuld klar ausgesprochen,und die scheint mir allerdings unwiderleglich. Viel-leicht hast du bloß unüberlegt gehandelt, vielleichtaber bist du nicht der; für den ich dich gehalten habe.Und doch«, damit unterbrach sie sich gewissermaßenselbst und sah flüchtig nach den beiden Herren zu-rück, »kann ich es mir noch nicht abgewöhnen, dichfür einen im Grunde anständigen Jungen zu halten.«

»Frau Oberköchin! Frau Oberköchin!« mahnte derOberkellner, der ihren Blick aufgefangen hatte.

»Wir sind gleich fertig«, sagte die Oberköchin undredete nun schneller auf Karl ein: »Höre, Karl, so wieich die Sache übersehe, bin ich noch froh, daß derOberkellner keine Untersuchung einleiten will; denn,wollte er sie einleiten, ich müßte es in deinem Interes-se verhindern. Niemand soll erfahren, wie und womitdu den Mann bewirtet hast, der übrigens nicht einer

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deiner früheren Kameraden gewesen sein kann, wiedu vorgibst, denn mit denen hast du ja zum Abschiedgroßen Streit gehabt, so daß du nicht jetzt einen vonihnen traktieren wirst. Es kann also nur ein Bekanntersein, mit dem du dich leichtsinnigerweise in der Nachtin irgendeiner städtischen Kneipe verbrüdert hast.Wie konntest du mir, Karl, alle diese Dinge verber-gen, Wenn es dir im Schlafsaal vielleicht unerträglichwar und du zuerst aus diesem unschuldigen Grundemit deinem Nachtschwärmen angefangen hast, warumhast du denn kein Wort gesagt, du weißt, ich wolltedir ein eigenes Zimmer verschaffen und habe daraufgeradezu erst über deine Bitten verzichtet. Es scheintjetzt, als hättest du den allgemeinen Schlafsaal vorge-zogen, weil du dich dort ungebundener fühltest. Unddein Geld hattest du doch in meiner Kassa aufgeho-ben, und die Trinkgelder brachtest du mir jedeWoche; woher, um Gottes willen, Junge, hast du dasGeld für deine Vergnügungen genommen und woherwolltest du jetzt das Geld für deinen Freund holen?Das sind natürlich lauter Dinge, die ich wenigstensjetzt dem Oberkellner gar nicht andeuten darf, denndann wäre vielleicht eine Untersuchung unausweich-lich. Du mußt also unbedingt aus dem Hotel, undzwar so schnell als möglich. Geh direkt in die Pensi-on Brenner - du warst doch schon mehrmals mit The-rese dort -, sie werden dich auf diese Empfehlung hin

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umsonst aufnehmen - « und die Oberköchin schriebmit einem goldenen Crayon, den sie aus der Blusezog, einige Zeilen auf eine Visitenkarte, wobei sieaber die Rede nicht unterbrach - »deinen Kofferwerde ich dir gleich nachschicken. Therese, lauf dochin die Garderobe der Liftjungen und pack seinen Kof-fer!« (Aber Therese rührte sich noch nicht, sondernwollte, wie sie alles Leid ausgehalten hatte, nun auchdie Wendung zum Besseren, welche die Sache Karlsdank der Güte der Oberköchin nahm, ganz miterle-ben.)

Jemand öffnete, ohne sich zu zeigen, ein wenig dieTür und schloß sie gleich wieder. Es mußte offenbarGiacomo gegolten haben, denn dieser trat vor undsagte: »Roßmann, ich habe dir etwas auszurichten.«

»Gleich«, sagte die Oberköchin und steckte Karl,der mit gesenktem Kopf ihr zugehört hatte, die Visi-tenkarte in die Tasche, »dein Geld behalte ich vorläu-fig, du weißt, du kannst es mir anvertrauen. Heutebleib zu Hause und überlege deine Angelegenheit,morgen - heute habe ich keine Zeit, auch habe ichmich schon viel zu lange hier aufgehalten - kommeich zu Brenner, und wir werden zusehen, was wir wei-ter für dich machen können. Verlassen werde ich dichnicht, das sollst du jedenfalls schon heute wissen.Über deine Zukunft mußt du dir keine Sorgen ma-chen, eher über die letztvergangene Zeit.« Darauf

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klopfte sie ihm leicht auf die Schulter und ging zumOberkellner hinüber. Karl hob den Kopf und sah dergroßen, stattlichen Frau nach, die sich in ruhigemSchritt und freier Haltung von ihm entfernte.

»Bist du denn gar nicht froh«, sagte Therese, diebei ihm zurückgeblieben war »daß alles so gut ausge-fallen ist?«

»O ja«, sagte Karl und lächelte ihr zu, wußte abernicht, warum er darüber froh sein sollte, daß man ihnals einen Dieb wegschickte. Aus Theresens Augenstrahlte die reinste Freude, als sei es ihr ganz gleich-gültig, ob Karl etwas verbrochen hatte oder nicht, ober gerecht beurteilt worden war oder nicht, wenn manihn nur gerade entwischen ließ, in Schande oder inEhren. Und so verhielt sich gerade Therese, die dochin ihren eigenen Angelegenheiten so peinlich war undein nicht ganz eindeutiges Wort der Oberköchin wo-chenlang in ihren Gedanken drehte und untersuchte.Mit Absicht fragte er: »Wirst du meinen Koffer gleichpacken und wegschicken?« Er mußte gegen seinenWillen vor Staunen den Kopf schütteln, so schnellfand sich Therese in die Frage hinein, und die Über-zeugung, daß in dem Koffer Dinge waren, die manvor allen Leuten geheimhalten mußte, ließ sie garnicht nach Karl hinübersehen, gar nicht ihm die Handreichen, sondern nur flüstern: »Natürlich, Karl,gleich, gleich werde ich den Koffer packen.« Und

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schon war sie davongelaufen.Nun ließ sich aber Giacomo nicht mehr halten, und

aufgeregt durch das lange »Warte«, rief er laut: »Roß-mann, der Mann wälzt sich unten im Gang und willsich nicht wegschaffen lassen. Sie wollten ihn insKrankenhaus bringen lassen, aber er wehrt sich undbehauptet, du würdest niemals dulden, daß er insKrankenhaus kommt. Man solle ein Automobil neh-men und ihn nach Hause schicken, du würdest dasAutomobil bezahlen. Willst du?«

»Der Mann hat Vertrauen zu dir«, sagte der Ober-kellner. Karl zuckte mit den Schultern und zählte Gia-como sein Geld in die Hand.

»Mehr habe ich nicht«, sagte er dann.»Ich soll dich auch fragen, ob du mitfahren willst«,

fragte noch Giacomo, mit dem Gelde klimpernd.»Er wird nicht mitfahren«, sagte die Oberköchin.»Also, Roßmann«, sagte der Oberkellner schnell

und wartete gar nicht, bis Giacomo draußen war, »dubist auf der Stelle entlassen.«

Der Oberportier nickte mehrere Male, als wären esseine eigenen Worte, die der Oberkellner nur nach-spreche.

»Die Gründe deiner Entlassung kann ich gar nichtlaut aussprechen, denn sonst müßte ich dich einsper-ren lassen.«

Der Oberportier sah auffallend streng zur

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Oberköchin hinüber, denn er hatte wohl erkannt, daßsie die Ursache dieser allzu milden Behandlung war.

»Jetzt geh zu Beß, zieh dich um, übergib Beß deineLivree und verlasse sofort, aber sofort das Haus.«

Die Oberköchin schloß die Augen, sie wollte damitKarl beruhigen. Während er sich zum Abschied ver-beugte, sah er flüchtig, wie der Oberkellner die Handder Oberköchin wie im geheimen umfaßte und mit ihrspielte. Der Oberportier begleitete Karl mit schwerenSchritten bis zur Tür, die er ihn nicht schließen ließ,sondern selbst noch offen hielt, um Karl nachschreienzu können: »In einer Viertelminute will ich dich beimHaupttor an mir vorübergehen sehen! Merk dir das!«

Karl beeilte sich, wie er nur konnte, um nur beimHaupttor eine Belästigung zu vermeiden, aber es gingalles viel langsamer, als er wollte. Zuerst war Beßnicht gleich zu finden und jetzt, in der Frühstückszeit,war alles voll Menschen, dann zeigte sich, daß einJunge sich Karls alte Hosen ausgeborgt hatte, undKarl mußte die Kleiderständer bei fast allen Bettenabsuchen, ehe er diese Hosen fand, so daß wohl fünfMinuten vergangen waren, ehe Karl zum Haupttorkam. Gerade vor ihm ging eine Dame mitten zwischenvier Herren. Sie gingen alle auf ein großes Automobilzu, das sie erwartete und dessen Schlag bereits einLakai geöffnet hielt, während er den freien linkenArm seitwärts waagrecht und steif ausstreckte, was

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höchst feierlich aussah. Aber Karl hatte umsonst ge-hofft, hinter dieser vornehmen Gesellschaft unbemerkthinauszukommen. Schon faßte ihn der Oberportier beider Hand und zog ihn zwischen zwei Herren hin-durch, die er um Verzeihung bat, zu sich hin.

»Das soll eine Viertelminute gewesen sein«, sagteer und sah Karl von der Seite an, als beobachte er eineschlecht gehende Uhr. »Komm einmal her«, sagte erdann und führte ihn in die große Portierloge, die Karlzwar schon längst einmal anzusehen Lust gehabthatte, in die er aber jetzt, von dem Portier geschoben,nur mit Mißtrauen eintrat. Er war schon in der Tür,als er sich umwandte und den Versuch machte, denOberportier wegzuschieben und wegzukommen.

»Nein, nein, hier geht man hinein«, sagte der Ober-portier und drehte Karl um.

»Ich bin doch schon entlassen«, sagte Karl undmeinte damit, daß ihm im Hotel niemand mehr etwaszu befehlen habe.

»Solange ich dich halte, bist du nicht entlassen«,sagte der Portier, was allerdings auch richtig war.

Karl fand schließlich auch keine Ursache, warum ersich gegen den Portier wehren sollte. Was konnte ihmdenn auch im Grunde noch geschehen? Überdies be-standen die Wände der Portierloge ausschließlich ausungeheueren Glasscheiben, durch die man die im Ve-stibül gegeneinanderströmende Menschenmenge

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deutlich sah, als wäre man mitten unter ihnen. Ja, esschien in der ganzen Portierloge keinen Winkel zugeben, in dem man sich vor den Augen der Leute ver-bergen konnte. So eilig es dort draußen die Leute zuhaben schienen, denn mit ausgestrecktem Arm undgesenktem Kopf, mit spähenden Augen, mit hochge-haltenen Gepäckstücken suchten sie ihren Weg, soversäumte doch kaum einer, einen Blick in die Por-tierloge zu werfen, denn hinter deren Scheiben warenimmer Ankündigungen und Nachrichten ausgehängt,die sowohl für die Gäste als für das HotelpersonalWichtigkeit hatten. Außerdem aber bestand noch einunmittelbarer Verkehr der Portierloge mit dem Vesti-bül, denn an zwei großen Schiebefenstern saßen zweiUnterportiers und waren unaufhörlich damit beschäf-tigt, Auskünfte in den verschiedensten Angelegenhei-ten zu erteilen. Das waren geradezu überbürdeteLeute, und Karl hätte behaupten wollen, daß derOberportier, wie er ihn kannte, sich in seiner Lauf-bahn um diese Posten herumgewunden hatte. Diesezwei Auskunftserteiler hatten - von außen konnteman sich das nicht richtig vorstellen - in der Öffnungdes Fensters immer zumindest zehn fragende Gesich-ter vor sich. Unter diesen zehn Fragern, die immerfortwechselten, war oft ein Durcheinander von Sprachen,als sei jeder einzelne von einem anderen Lande abge-sandt. Immer fragten einige gleichzeitig, immer

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redeten außerdem einzelne untereinander. Die meistenwollten etwas aus der Portierloge holen oder etwasdort abgeben, so sah man immer auch ungeduldigfuchtelnde Hände aus dem Gedränge ragen. Einmalhatte einer ein Begehren wegen irgendeiner Zeitung,die sich unversehens von der Höhe aus entfaltete undfür einen Augenblick alle Gesichter verhüllte. All die-sem mußten nun die zwei Unterportiers standhalten.Bloßes Reden hätte für ihre Aufgabe nicht genügt, sieplapperten, besonders der eine, ein düsterer Mann miteinem das ganze Gesicht umgebenden dunklen Bart,gab die Auskunft ohne die geringste Unterbrechung.Er sah weder auf die Tischplatte, wo er fortwährendHandreichungen auszuführen hatte, noch auf das Ge-sicht dieses oder jenes Fragers, sondern ausschließlichstarr vor sich, offenbar um seine Kräfte zu sparen undzu sammeln. Übrigens störte wohl sein Bart ein wenigdie Verständlichkeit seiner Rede, und Karl konnte indem Weilchen, während dessen er bei ihm stehen-blieb, sehr wenig von dem Gesagten auffassen, wennes auch möglicherweise trotz dem englischen Bei-klang gerade fremde Sprachen waren, die er gebrau-chen mußte. Außerdem beirrte es, daß sich eine Aus-kunft so knapp an die andere anschloß und in sieüberging, so daß oft noch ein Frager mit gespanntemGesicht zuhorchte, da er glaubte, es gehe noch umseine Sache, um erst nach einem Weilchen zu merken,

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daß er schon erledigt war. Gewöhnen mußte man sichauch daran, daß der Unterportier niemals bat, eineFrage zu wiederholen, selbst wenn sie im ganzen ver-ständlich und nur ein wenig undeutlich gestellt war,ein kaum merkliches Kopfschütteln verriet dann, daßer nicht die Absicht habe, diese Frage zu beantworten,und es war Sache des Fragestellers, seinen eigenenFehler zu erkennen und die Frage besser zu formulie-ren. Besonders damit verbrachten manche Leute sehrlange Zeit vor dem Schalter. Zur Unterstützung derUnterportiers war jedem ein Laufbursche beigegeben,der in gestrecktem Lauf von einem Bücherregal undaus verschiedenen Kasten alles herbeizubringen hatte,was der Unterportier gerade benötigte. Das waren diebestbezahlten, wenn auch anstrengendsten Posten, diees im Hotel für ganz junge Leute gab, in gewissemSinne waren sie auch noch ärger daran als die Unter-portiers, denn diese hatten bloß nachzudenken und zureden, während die jungen Leute gleichzeitig nach-denken und laufen mußten. Brachten sie einmal etwasUnrichtiges herbei, so konnte sich natürlich der Un-terportier in der Eile nicht damit aufhalten, ihnenlange Belehrungen zu geben, er warf vielmehr ein-fach, das, was sie ihm auf den Tisch legten, mit einemRuck vom Tisch hinunter. Sehr interessant war dieAblösung der Unterportiers, die gerade kurz nach demEintritt Karls stattfand. Eine solche Ablösung mußte

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natürlich, wenigstens während des Tages, öfters statt-finden, denn es gab wohl kaum einen Menschen, deres länger als eine Stunde hinter dem Schalter ausge-halten hätte. Zur Ablösungszeit ertönte nun eineGlocke, und gleichzeitig traten aus einer Seitentür diezwei Unterportiers, die jetzt an die Reihe kommensollten, jeder von seinem Laufburschen gefolgt. Siestellten sich vorläufig untätig beim Schalter auf undbetrachteten ein Weilchen die Leute draußen, um fest-zustellen, in welchem Stadium sich gerade die augen-blickliche Fragebeantwortung befand. Schien ihnender Augenblick passend, um einzugreifen, klopften siedem abzulösenden Unterportier auf die Schulter, der,obwohl er sich bisher um nichts, was hinter seinemRücken vorging, gekümmert hatte, sofort verstandund seinen Platz freimachte. Das Ganze ging so rasch,daß es oft die Leute draußen überraschte und sie ausSchrecken über das so plötzlich vor ihnen auftau-chende neue Gesicht fast zurückwichen. Die abgelö-sten zwei Männer streckten sich und begossen dannüber zwei bereitstehenden Waschbecken ihre heißenKöpfe. Die abgelösten Laufburschen durften sich abernoch nicht strecken, sondern hatten noch ein Weil-chen damit zu tun, die während ihrer Dienststundenauf den Boden geworfenen Gegenstände aufzuhebenund an ihren Platz zu legen.

Alles dieses hatte Karl mit der angespanntesten

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Aufmerksamkeit in wenigen Augenblicken in sichaufgenommen, und mit leichten Kopfschmerzen folgteer still dem Oberportier, der ihn weiterführte. Offen-bar hatte auch der Oberportier den großen Eindruckbeachtet, den diese Art der Auskunftserteilung aufKarl gemacht hatte, und er riß plötzlich an KarlsHand und sagte: »Siehst du, so wird hier gearbeitet.«Karl hatte ja allerdings hier im Hotel nicht gefaulenzt,aber von solcher Arbeit hatte er doch keine Ahnunggehabt, und fast völlig vergessend, daß der Oberpor-tier sein großer Feind war, sah er zu ihm auf undnickte stumm und anerkennend mit dem Kopf. Dasschien dem Oberportier aber wieder eine Überschät-zung des Unterportiers und vielleicht eine Unhöflich-keit gegenüber seiner Person zu sein, denn, als hätteer Karl zum Narren gehalten, rief er, ohne Besorgnis,daß man ihn hören könnte: »Natürlich ist dieses hierdie dümmste Arbeit im ganzen Hotel; wenn man eineStunde zugehört hat, kennt man so ziemlich alle Fra-gen, die gestellt werden, und den Rest braucht man janicht zu beantworten. Wenn du nicht frech und unge-zogen gewesen wärest, gelogen, gelumpt, gesoffenund gestohlen hättest, hätte ich dich vielleicht bei soeinem Fenster anstellen können, denn dazu kann ichausschließlich nur vernagelte Köpfe brauchen.«

Karl überhörte gänzlich die Beschimpfung, soweitsie ihn betraf, so sehr war er darüber empört, daß die

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ehrliche und schwere Arbeit der Unterportiers, stattanerkannt zu werden, verhöhnt wurde, und überdiesverhöhnt von einem Mann, der, wenn er es gewagthätte, sich einmal zu einem solchen Schalter zu set-zen, gewiß nach ein paar Minuten unter dem Geläch-ter aller Frager hätte abziehen müssen.

»Lassen Sie mich«, sagte Karl, seine Neugierde inbetreff der Portierloge war bis zum Übermaß gestillt»ich will mit Ihnen nichts mehr zu tun haben.«

»Das genügt nicht, um fortzukommen«, sagte derOberportier, drückte Karls Arme, daß dieser sie garnicht rühren konnte, und trug ihn förmlich an das an-dere Ende der Portierloge. Sahen die Leute draußendiese Gewalttätigkeit des Oberportiers nicht. Oder,wenn sie es sahen, wie faßten sie sie denn auf, daßkeiner sieh darüber aufhielt, daß niemand wenigstensan die Scheibe klopfte, um dem Oberportier zu zei-gen, daß er beobachtet werde und nicht nach seinemGutdünken mit Karl verfahren dürfe.

Aber bald hatte Karl auch keine Hoffnung mehr,vom Vestibül aus Hilfe zu bekommen, denn der Ober-portier griff an eine Schnur, und über den Scheibender halben Portierloge zogen sich im Fluge bis in dieletzte Höhe schwarze Vorhänge zusammen. Auch indiesem Teil der Portierloge waren ja Menschen, aberalle in voller Arbeit und ohne Ohr und Auge für alles,was nicht mit ihrer Arbeit zusammenhing. Außerdem

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waren sie ganz vom Oberportier abhängig und hätten,statt Karl zu helfen, lieber geholfen, alles zu verber-gen, was auch immer dem Oberportier eingefallenwäre. Da waren zum Beispiel sechs Unterportiers beisechs Telephonen. Die Anordnung war, wie mangleich bemerkte, so getroffen, daß immer einer bloßGespräche aufnahm, während sein Nachbar nach denvom ersten empfangenen Notizen die Aufträge tele-phonisch weiterleitete. Es waren dies jene neuestenTelephone, für die keine Telephonzelle nötig war,denn das Glockenläuten war nicht lauter als ein Zir-pen, man konnte in das Telephon mit Flüstern hinein-sprechen und doch kamen die Worte dank besondererelektrischer Verstärkungen mit Donnerstimme anihrem Ziele an. Deshalb hörte man die drei Sprecheran ihren Telephonen kaum und hätte glauben können,sie beobachteten murmelnd irgendeinen Vorgang inder Telephonmuschel, während die drei anderen, wiebetäubt von dem auf sie herandringenden, für die Um-gebung im übrigen unhörbaren Lärm, die Köpfe aufdas Papier sinken ließen, das zu beschreiben ihre Auf-gabe war. Wieder stand auch hier neben jedem derdrei Sprecher ein Junge zur Hilfeleistung; diese dreiJungen taten nichts anderes, als abwechselnd denKopf horchend zu ihrem Herrn zu strecken und danneilig, als würden sie gestochen, in riesigen, gelbenBüchern - die umschlagenden Blättermassen

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überrauschten bei weitem jedes Geräusch der Tele-phone - die Telephonnummern herauszusuchen.

Karl konnte sich tatsächlich nicht enthalten, dasalles genau zu verfolgen, obwohl der Oberportier, dersich gesetzt hatte, ihn in einer Art Umklammerungvor sich hinhielt.

»Es ist meine Pflicht«, sagte der Oberportier undschüttelte Karl, als wolle er nur erreichen, daß dieserihm sein Gesicht zuwende, »das, was der Oberkellneraus welchen Gründen immer versäumt hat, im Namender Hoteldirektion wenigstens ein wenig nachzuholen.So tritt hier immer jeder für den anderen ein. Ohnedas wäre ein so großer Betrieb undenkbar. Du willstvielleicht sagen, daß ich nicht dein unmittelbarer Vor-gesetzter bin; nun, desto schöner ist es von mir, daßich mich dieser sonst verlassenen Sache annehme. Imübrigen bin ich in gewissem Sinne als Oberportierüber alle gesetzt, denn mir unterstehen doch alle Toredes Hotels, also dieses Haupttor, die drei: Mittel unddie zehn Nebentore, von den unzähligen Türchen undtürlosen Ausgängen gar nicht zu reden. Natürlichhaben mir alle in Betracht kommenden Bedienungs-mannschaften unbedingt zu gehorchen. Gegenüberdiesen großen Ehren habe ich natürlich andererseitsvor der Hoteldirektion die Verpflichtung, niemandenhinauszulassen, der nur im geringsten verdächtig ist.Gerade du aber kommst mir, weil es mir so beliebt,

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sogar stark verdächtig vor.« Und vor Freude darüberhob er die Hände und ließ sie wieder stark zurück-schlagen, daß es klatschte und wehtat.

»Es ist möglich«, fügte er hinzu und unterhielt sichdabei königlich, »daß du bei einem anderen Ausgangunbemerkt hinausgekommen wärest, denn du standestmir natürlich nicht dafür, besondere Anweisungendeinetwegen ergehen zu lassen. Aber da du nun ein-mal hier bist, will ich dich genießen. Im übrigen habeich nicht daran gezweifelt, daß du das Rendezvous,das wir uns beim Haupttor gegeben hatten, auch ein-halten wirst, denn das ist eine Regel, daß der Frecheund der Unfolgsame gerade dort und dann mit seinenLastern aufhört, wo es ihm schadet. Du wirst das andir selbst gewiß noch oft beobachten können.«

»Glauben Sie nicht«, sagte Karl und atmete den ei-gentümlich dumpfen Geruch ein, der vom Oberportierausging, und den er erst hier, wo er so lange in seinernächsten Nähe stand, bemerkte, »glauben Sie nicht«,sagte er, »daß ich vollständig in Ihrer Gewalt bin, ichkann ja schreien.«

»Und ich kann dir den Mund stopfen«, sagte derOberportier ebenso ruhig und schnell, wie er es wohlnötigenfalls auszuführen gedachte.

»Und meinst du denn wirklich, wenn man deinet-wegen hereinkommen sollte, es würde sich jemandfinden, der dir recht geben würde, mir, dem

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Oberportier gegenüber? Du siehst also wohl den Un-sinn deiner Hoffnungen ein. Weiße du, wie du noch inder Uniform warst, da hast du ja tatsächlich noch einwenig beachtenswert ausgesehen, aber in diesemAnzug, der tatsächlich nur in Europa möglich ist!«Und er zerrte an den verschiedensten Stellen des An-zuges, der jetzt allerdings, obwohl er vor fünf Mona-ten noch fast neu gewesen war, abgenützt, faltig, vorallem aber dreckig war, was hauptsächlich auf dieRücksichtslosigkeit der Liftjungen zurückzufahrenwar, die jeden Tag, um den Saalboden dem allgemei-nen Befehl gemäß glatt und staubfrei zu erhalten, ausFaulheit keine eigentliche Reinigung vornahmen, son-dern mit irgendeinem Öl den Boden besprengten unddamit gleichzeitig alle Kleider auf den Kleiderstän-dern schändlich bespritzten. Nun konnte man seineKleider aufheben, wo man wollte, immer fand sicheiner, der gerade seine Kleider nicht bei der Handhatte, dagegen die versteckten fremden Kleider mitLeichtigkeit fand und sich ausborgte. Und womöglichwar dieser eine gerade derjenige, der an diesem Tagedie Saalreinigung vorzunehmen hatte und der danndie Kleider nicht nur mit dem Öl bespritzte, sondernvollständig von oben bis unten begoß. Nur Renellhatte seine kostbaren Kleider an irgendeinem gehei-men Orte versteckt, von wo sie kaum jemals einerhervorgezogen hatte, zumal sich ja auch niemand

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vielleicht aus Bosheit oder Geiz fremde Kleider aus-borgte, sondern aus bloßer Eile und Nachlässigkeitdort nahm, wo er sie fand. Aber selbst auf RenellsKleid war mitten auf dem Rücken ein kreisrunder, röt-licher Ölfleck, und in der Stadt hätte ein Kenner andiesem Fleck selbst in diesem eleganten jungen Mannden Liftjungen feststellen können.

Und Karl sagte sich bei diesen Erinnerungen, daßer auch als Liftjunge genug gelitten hatte und daßdoch alles vergebens gewesen war, denn nun war die-ser Liftjungendienst nicht, wie er gehofft hatte, eineVorstufe zu besserer Anstellung gewesen, vielmehrwar er jetzt noch tiefer hinabgedrückt worden undsogar sehr nahe an das Gefängnis geraten. Überdieswurde er jetzt noch vom Oberportier festgehalten, derwohl darüber nachdachte, wie er Karl noch weiter be-schämen könne. Und, völlig vergessend, daß derOberportier durchaus nicht der Mann war, der sichvielleicht überzeugen ließ, rief Karl, während er sichmit der gerade freien Hand mehrmals gegen die Stirnschlug: »Und wenn ich Sie wirklich nicht gegrüßthaben sollte, wie kann denn ein erwachsener Menschwegen eines unterlassenen Grußes so rachsüchtigwerden!«

»Ich bin nicht rachsüchtig«, sagte der Oberportier,»ich will nur deine Taschen durchsuchen. Ich binzwar überzeugt, daß ich nichts finden werde, denn du

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wirst wohl vorsichtig gewesen sein und hast wohl dei-nen Freund allmählich alles, jeden Tag etwas, weg-schleppen lassen. Aber durchsucht worden mußt dusein.« Und schon griff er in die eine von Karls Rock-taschen mit solcher Gewalt, daß die seitlichen Nähteplatzten.

»Da ist also schon nichts«, sagte er und überklaub-te in seiner Hand den Inhalt dieser Tasche, einen Re-klamekalender des Hotels, ein Blatt mit einer Aufgabeaus kaufmännischer Korrespondenz, einige Rock- undHosenknöpfe, die Visitenkarte der Oberköchin, einenPolierstift für die Nägel, den ihm einmal ein Gastbeim Kofferpacken zugeworfen hatte, einen alten Ta-schenspiegel, den ihm Renell einmal zum Dank fürvielleicht zehn Vertretungen im Dienste geschenkthatte, und noch ein paar Kleinigkeiten.

»Da ist also nichts«, wiederholte der Oberportierund warf alles unter die Bank, als sei es selbstver-ständlich, daß das Eigentum Karls, soweit es nicht ge-stohlen war, unter die Bank gehöre.

›Jetzt ist's aber genug‹, sagte sich Karl - sein Ge-sicht mußte glühend rot sein -, und als der Oberpor-tier, durch die Gier unvorsichtig gemacht, in Karlszweiter Tasche herumgrub, fuhr Karl mit einem Ruckaus den Ärmeln heraus, stieß im ersten, noch unbe-herrschten Sprung einen Unterportier ziemlich starkgegen seinen Apparat, lief durch die schwüle Luft,

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eigentlich langsamer, als er beabsichtigt hatte, zurTür, war aber glücklich draußen, ehe der Oberportierin seinem schweren Mantel sich auch nur hatte erhe-ben können. Die Organisation des Wachdienstesmußte doch nicht so mustergültig sein, es läutete zwarvon einigen Seiten, aber Gott weiß zu welchenZwecken! Hotelangestellte gingen zwar im Torgangin solcher Anzahl kreuz und quer, daß man fast darandenken konnte, sie wollten in unauffälliger Weise denAusgang unmöglich machen, denn viel sonstigen Sinnkonnte man in diesem Hin- und Hergehen nicht erken-nen; jedenfalls kam Karl bald ins Freie, mußte abernoch das Hoteltrottoir entlanggehen, denn zur Straßekonnte man nicht gelangen, da eine ununterbrocheneReihe von Automobilen stockend sich am Haupttorvorbeibewegte. Diese Automobile waren, um nur sobald als möglich zu ihrer Herrschaft zu kommen, ge-radezu ineinandergefahren, jedes wurde vom nachfol-genden vorwärtsgeschoben. Fußgänger, die es beson-ders eilig hatten, auf die Straße zu gelangen, stiegenzwar hie und da durch die einzelnen Automobile hin-durch, als sei dort ein öffentlicher Durchgang, und eswar ihnen ganz gleichgültig, ob im Automobil nur derChauffeur und die Dienerschaft saß oder auch die vor-nehmsten Leute. Ein solches Benehmen schien aberKarl doch übertrieben, und man mußte sich wohl inden Verhältnissen schon auskennen, um das zu

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wagen; wie leicht konnte er an ein Automobil geraten,dessen Insassen das übelnahmen, ihn hinunterwarfenund einen Skandal veranlaßten, und nichts hatte er alsein entlaufener verdächtiger Hotelangestellter in Hem-därmeln mehr zu fürchten. Schließlich konnte ja dieReihe der Automobile nicht in Ewigkeit so fortgehen,und er war auch, solange er sich ans Hotel hielt, ei-gentlich am wenigsten verdächtig. Tatsächlich gelang-te Karl endlich an eine Stelle, wo die Automobilreihezwar nicht aufhörte, aber zur Straße hin abzog undlockerer wurde. Gerade wollte er in den Verkehr derStraße schlüpfen, in dem wohl noch viel verdächtigeraussehende Leute, als er war, frei herumliefen, dahörte er in der Nähe seinen Namen rufen. Er wandtesich um und sah, wie zwei ihm wohlbekannte Liftjun-gen aus einer niedrigen, kleinen Türöffnung, die wieder Eingang einer Gruft aussah, mit äußerster An-strengung eine Bahre herauszogen, auf der, wie Karlnun erkannte, wahrhaftig Robinson lag, Kopf, Gesichtund Arme mannigfaltig umbunden. Es war häßlichanzusehen, wie er die Arme an die Augen führte, ummit dem Verbande die Tränen abzuwischen, die er vorSchmerzen oder vor Sonstigem Leid oder gar vorFreude über das Wiedersehen mit Karl vergoß.

»Roßmann«, rief er vorwurfsvoll, »warum läßt dumich denn so lange warten! Schon eine Stunde ver-bringe ich damit, mich zu wehren, damit ich nicht

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wegtransportiert werde, ehe du kommst. DieseKerle« - und er gab dem einen Liftjungen ein Kopf-stück, als sei er durch die Verbände vor Schlägen ge-schützt - »sind ja wahre Teufel. Ach, Roßmann, derBesuch bei dir ist mir teuer zu stehen gekommen.«

»Was hat man dir denn gemacht?« sagte Karl undtrat an die Bahre heran, welche die Liftjungen, umsich auszuruhen, lachend niederstellten.

»Du fragst noch«, seufzte Robinson »und siehst,wie ich ausschaue. Bedenke, ich bin ja höchstwahr-scheinlich für mein ganzes Leben zum Krüppel ge-schlagen. Ich habe fürchterliche Schmerzen von hierbis hierher« - und er zeigte zuerst auf den Kopf unddann auf die Zehen - »Ich möchte dir wünschen, daßdu gesehen hattest, wie ich aus der Nase geblutethabe. Meine Weste ist ganz verdorben, die habe ichüberhaupt dort gelassen, meine Hosen sind zerfetzt,ich bin in Unterhosen« - und er lüftete die Decke einwenig und lud Karl ein, unter sie zu schauen.

»Was wird nur aus mir werden! Ich werde zumin-dest einige Monate liegen müssen, und das will ichdir gleich sagen, ich habe niemanden anderen alsdich, der mich pflegen könnte, Delamarche ist ja vielzu ungeduldig. Roßmann, Roßmannchen!« Und Ro-binson streckte die Hand nach dem ein wenig zurück-tretenden Karl aus, um ihn durch Streicheln für sichzu gewinnen.

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»Warum habe ich dich nur besuchen müssen!« wie-derholte er mehrere Male, um Karl die Mitschuldnicht vergessen zu lassen, die dieser an seinem Un-glück hatte.

Nun erkannte zwar Karl sofort, daß das KlagenRobinsons nicht von seinen Wunden, sondern vondem ungeheueren Katzenjammer stammte, in dem ersich befand, da er, in schwerer Trunkenheit kaum ein-geschlafen, gleich geweckt und zu seiner Überra-schung blutig geboxt worden war und sich in der wa-chen Welt gar nicht mehr zurechtfinden konnte. DieBedeutungslosigkeit der Wunden war schon an denunförmlichen, aus alten Fetzen bestehenden Verbän-den zu sehen, mit denen ihn die Liftjungen offenbarzum Spaß ganz und gar umwickelt hatten. Und auchdie zwei Liftjungen an den Enden der Bahre prustetenvor Lachen von Zeit zu Zeit. Nun war aber hier nichtder Ort, Robinson zur Besinnung zu bringen, dennstürmend eilten hier die Passanten, ohne sich um dieGruppe an der Bahre zu kümmern, vorbei, öfterssprangen Leute mit richtigem Turnerschwung überRobinson hinweg, der mit Karls Geld bezahlte Chauf-feur rief: »Vorwärts, vorwärts!« Die Liftjungen hobenmit letzter Kraft die Bahre auf, Robinson erfaßteKarls Hand und sagte schmeichelnd: »Nun komm, sokomm doch.« War nicht Karl in dem Aufzug, in demer sich befand, im Dunkel des Automobils noch am

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besten aufgehoben, Und so setzte er sich neben Ro-binson, der den Kopf an ihn lehnte. Die zurückblei-benden Liftjungen schüttelten ihm, als ihrem gewese-nen Kollegen, durch das Coupéfenster herzlich dieHand, und das Automobil drehte sich mit scharferWendung zur Straße hin. Es schien, als müsse unbe-dingt ein Unglück geschehen, aber gleich nahm deralles umfassende Verkehr auch die schnurgeradeFahrt dieses Automobils ruhig in sich auf.

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Ein Asyl

Es mußte wohl eine entlegene Vorstadtstraße sein,in der das Automobil haltmachte, denn ringsherumherrschte Stille, am Trottoirrand hockten Kinder undspielten. Ein Mann mit einer Menge alter Kleiderüber den Schultern rief beobachtend zu den Fensternder Häuser empor. In seiner Müdigkeit fühlte sichKarl unbehaglich, als er aus dem Automobil auf denAsphalt trat, den die Vormittagssonne warm und hellbeschien.

»Wohnst du wirklich hier?« rief er ins Automobilhinein.

Robinson, der während der ganzen Fahrt friedlichgeschlafen hatte, brummte irgendeine undeutliche Be-jahung und schien darauf zu warten, daß Karl ihn hin-austragen werde.

»Dann habe ich hier also nichts mehr zu tun. Lebwohl«, sagte Karl und machte sich daran, die einwenig sich senkende Straße abwärts zu gehen.

»Aber Karl, was fällt dir denn ein?« rief Robinsonund stand schon vor lauter Sorge ziemlich aufrecht,nur mit noch etwas unruhigen Knien, im Wagen.

»Ich muß doch gehen«, sagte Karl, der der raschenGesundung Robinsons zugesehen hatte.

»In Hemdärmeln?« fragte dieser.

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»Ich werde mir schon noch einen Rock verdienen«,antwortete Karl, nickte Robinson zuversichtlich zu,grüßte mit erhobener Hand und wäre wirklich fortge-gangen, wenn nicht der Chauffeur gerufen hätte:»Noch einen kleinen Augenblick Geduld, mein Herr!«

Es zeigte sich unangenehmerweise, daß der Chauf-feur noch Ansprüche auf eine nachträgliche Bezah-lung stellte, denn die Wartezeit vor dem Hotel warnoch nicht bezahlt.

»Nun ja«, rief aus dem Automobil Robinson in Be-stätigung der Richtigkeit dieser Forderung, »ich habeja dort so lange auf dich warten müssen. Etwas mußtdu ihm noch geben.«

»Ja, freilich«, sagte der Chauffeur.»Ja, wenn ich nur noch etwas hätte«, sagte Karl

und griff in die Hosentaschen, obwohl er wußte, daßes nutzlos war.

»Ich kann mich nur an Sie halten«, sagte derChauffeur und stellte sich breitbeinig auf, »von demkranken Mann dort kann ich nichts verlangen.«

Vom Tor her näherte sich ein junger Bursch mitzerfressener Nase und hörte aus einer Entfernung voneinigen Schritten zu. Gerade machte durch die Straßeein Polizeimann die Runde, faßte mit gesenktem Ge-sicht den hemdärmeligen Menschen ins Auge undblieb stehen.

Robinson, der den Polizeimann auch bemerkt hatte,

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machte die Dummheit, aus dem anderen Fenster ihmzuzurufen: »Es ist nichts, es ist nichts!«, als ob maneinen Polizeimann wie eine Fliege verscheuchenkönnte. Die Kinder, welche den Polizeimann beob-achtet hatten, wurden nun durch sein Stillstehen auchauf Karl und den Chauffeur aufmerksam und liefen imTrab herbei. Im Tor gegenüber stand eine alte Frauund sah starr hinüber.

»Roßmann!« rief da eine Stimme aus der Höhe. Eswar Delamarche, der das vom Balkon des letztenStockwerks rief. Er selbst war nur schon recht undeut-lich gegen den weißlich blauen Himmel zu sehen,hatte offenbar einen Schlafrock an und beobachtetemit einem Operngucker die Straße. Neben ihm warein roter Sonnenschirm aufgespannt, unter dem eineFrau zu sitzen schien.

»Halloh!« rief er mit größter Anstrengung, um sichverständlich zu machen, »ist Robinson auch da?«

»Ja«, antwortete Karl, von einem zweiten, viel lau-teren »Ja« Robinsons aus dem Wagen kräftig unter-stützt.

»Halloh!« rief es zurück, »ich komme gleich!«Robinson beugte sich aus dem Wagen.»Das ist ein Mann«, sagte er, und dieses Lob Dela-

marches war an Karl gerichtet, an den Chauffeur, anden Polizeimann und an jeden, der es hören wollte.Oben auf dem Balkon, den man aus Zerstreutheit

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noch ansah, obwohl ihn Delamarche schon verlassenhatte, erhob sich nun unter dem Sonnenschirm tat-sächlich eine starke Frau in rotem, taillenlosem Kleid,nahm den Operngucker von der Brüstung und sahdurch ihn auf die Leute hinunter, die nur allmählichdie Blicke von ihr wandten. Karl sah in ErwartungDelamarches in das Haustor und weiterhin in denHof, den eine fast ununterbrochene Reihe von Ge-schäftsdienern durchquerte, von denen jeder eine klei-ne, aber offenbar sehr schwere Kiste auf der Achseltrug. Der Chauffeur war zu seinem Wagen getretenund putzte, um die Zeit auszunützen, mit einem Fet-zen die Wagenlaternen. Robinson befühlte seineGliedmaßen, schien erstaunt über die geringenSchmerzen zu sein, die er trotz größter Aufmerksam-keit fühlen konnte, und begann vorsichtig, mit tief ge-neigtem Gesicht, einen der dicken Verbände am Beinzu lösen. Der Polizeimann hielt sein schwarzes Stöck-chen quer vor sich und wartete still, mit der großenGeduld, die Polizeileute haben müssen, ob sie nun imgewöhnlichen Dienst oder auf der Lauer sind. DerBursche mit der zerfressenen Nase setzte sich aufeinen Torstein und streckte die Beine von sich. DieKinder näherten sich Karl allmählich mit kleinenSchritten, denn dieser schien ihnen, obwohl er sienicht beachtete, wegen seiner blauen Hemdärmel derwichtigste von allen zu sein.

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An der Länge der Zeit, die bis zur Ankunft Dela-marches verging, konnte man die große Höhe diesesHauses ermessen. Und Delamarche kam sogar sehreilig, mit nur flüchtig zugezogenem Schlafrock.

»Also, da seid ihr!« rief er erfreut und streng zu-gleich. Bei seinen großen Schritten enthüllte sich stetsfür einen Augenblick seine farbige Unterkleidung.Karl begriff nicht ganz, warum Delamarche hier, inder Stadt, in der riesigen Mietskaserne, auf der offe-nen Straße, so bequem angezogen herumging, als seier in seiner Privatvilla. Ebenso wie Robinson hatteauch Delamarche sich sehr verändert. Sein dunkles,glatt rasiertes, peinlich reines, von roh ausgearbeite-ten Muskeln gebildetes Gesicht sah stolz und respekt-einflößend aus. Der grelle Schein seiner jetzt immeretwas zusammengezogenen Augen überraschte. Seinvioletter Schlafrock war zwar alt, fleckig und für ihnzu groß, aber aus diesem häßlichen Kleidungsstückbauschte sich oben eine mächtige, dunkle Krawatteaus schwerer Seide.

»Nun?« fragte er alle insgesamt. Der Polizeimanntrat ein wenig näher und lehnte sich an den Motorka-sten des Automobils. Karl gab eine kleine Erklärung.

»Robinson ist ein wenig marod, aber wenn er sichMühe gibt, wird er schon die Treppen hinaufgehenkönnen; der Chauffeur hier will noch eine Nachzah-lung zum Fahrgeld, das ich schon bezahlt habe. Und

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jetzt gehe ich. Guten Tag.«»Du gehst nicht«, sagte Delamarche.»Ich habe es ihm auch schon gesagt«, meldete sich

Robinson aus dem Wagen.»Ich gehe doch«, sagte Karl und machte ein paar

Schritte. Aber Delamarche war schon hinter ihm undschob ihn mit Gewalt zurück.

»Ich sage, du bleibst!« rief er.»Aber laßt mich doch«, sagte Karl und machte sich

bereit, wenn es nötig sein sollte, mit den Fäusten sichdie Freiheit zu verschaffen, so wenig Aussicht auf Er-folg gegenüber einem Mann wie Delamarche auchwar. Aber da stand doch der Polizeimann, da war derChauffeur, hie und da gingen Arbeitergruppen durchdie sonst freilich ruhige Straße; würde man es denndulden, daß ihm von Delamarche ein Unrecht gesche-he? In einem Zimmer hätte er mit ihm nicht allein seinwollen, aber hier? Delamarche zahlte jetzt ruhig demChauffeur, der unter vielen Verbeugungen den unver-dient großen Betrag einsteckte und aus Dankbarkeitzu Robinson ging und mit diesem offenbar darübersprach, wie er am besten herausbefördert werdenkönnte. Karl sah sich unbeobachtet, vielleicht duldeteDelamarche ein stillschweigendes Fortgehen leichter;wenn Streit vermieden werden konnte, war es natür-lich am besten, und so ging Karl einfach in die Fahr-bahn hinein, um möglichst rasch wegzukommen. Die

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Kinder strömten zu Delamarche, um ihn auf KarlsFlucht aufmerksam zu machen, aber er mußte selbstgar nicht eingreifen, denn der Polizeimann sagte mitvorgestrecktem Stabe »Halt!« »Wie heißt du?« fragteer, schob den Stab unter den Arm und zog langsamein Buch hervor. Karl sah ihn jetzt zum erstenmal ge-nauer an, es war ein kräftiger Mann, hatte aber schonfast ganz weißes Haar.

»Karl Roßmann«, sagte er.»Roßmann«, wiederholte der Polizeimann, zweifel-

los nur, weil er ein ruhiger und gründlicher Menschwar, aber Karl, der es hier eigentlich zum erstenmalmit amerikanischen Behörden zu tun bekam, sahschon in dieser Wiederholung das Aussprechen einesgewissen Verdachtes. Und tatsächlich konnte seineSache nicht gut stehen, denn selbst Robinson, derdoch so sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigtwar, bat aus dem Wagen heraus mit stummen lebhaf-ten Handbewegungen den Delamarche, er möge Karldoch helfen. Aber Delamarche wehrte ihn mit hasti-gem Kopfschütteln ab und sah untätig zu, die Händein seinen übergroßen Taschen. Der Bursche auf demTürstein erklärte einer Frau, die jetzt erst aus demTore trat, den ganzen Sachverhalt von allem Anfangan. Die Kinder standen in einem Halbkreis hinter Karlund sahen still zum Polizeimann hinauf.

»Zeig deine Ausweispapiere«, sagte der

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Polizeimann. Das war wohl nur eine formelle Frage;denn wenn man keinen Rock hat, wird man auch nichtviel Ausweispapiere bei sich haben. Karl schwiegdeshalb, um lieber auf die nächste Frage ausführlichzu antworten und so den Mangel der Ausweispapieremöglichst zu vertuschen.

Aber die nächste Frage war: »Du hast also keineAusweispapiere?« und Karl mußte antworten: »Beimir nicht.«

»Das ist aber schlimm«, sagte der Polizeimann, sahnachdenklich im Kreise umher und klopfte mit zweiFingern auf den Deckel seines Buches.

»Hast du irgendeinen Verdienst?« fragte der Poli-zeimann schließlich.

»Ich war Liftjunge«, sagte Karl.»Du warst Liftjunge, bist es also nicht mehr, und

wovon lebst du denn jetzt?«»Jetzt werde ich mir eine neue Arbeit suchen.«»Ja, bist du denn entlassen worden?«»Ja, vor einer Stunde.«»Plötzlich?«»Ja«, sagte Karl und hob wie zur Entschuldigung

die Hand. Die ganze Geschichte konnte er hier nichterzählen, und wenn es auch möglich gewesen wäre, soschien es doch ganz aussichtslos, ein drohendes Un-recht durch Erzählung eines erlittenen Unrechts abzu-wehren. Und wenn er sein Recht nicht von der Güte

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der Oberköchin und von der Einsicht des Oberkell-ners erhalten hatte, von der Gesellschaft hier auf derStraße hatte er es gewiß nicht zu erwarten.

»Und ohne Rock bist du entlassen worden?« fragteder Polizeimann.

»Nun ja«, sagte Karl; also auch in Amerika gehörtees zur Art der Behörden, das, was sie sahen, noch ei-gens zu fragen. (Wie hatte sein Vater bei der Beschaf-fung des Reisepasses über die nutzlosen Fragereiender Behörden sich ärgern müssen!) Karl hatte großeLust wegzulaufen, sich irgendwo zu verstecken undkeine Fragen mehr anhören zu müssen. Und nun stell-te gar der Polizeimann jene Frage, vor der sich Karlam meisten gefürchtet und in deren unruhiger Voraus-sicht er sich bisher wahrscheinlich unvorsichtiger be-nommen hatte, als es sonst geschehen wäre.

»In welchem Hotel warst du denn angestellt?«Er senkte den Kopf und antwortete nicht, auf diese

Frage wollte er unbedingt nicht antworten. Es durftenicht geschehen, daß er, von einem Polizeimann es-kortiert, wieder ins Hotel Occidental zurückkäme, daßdort Verhöre stattfanden, zu denen seine Freunde undFeinde bei gezogen würden, daß die Oberköchin ihreschon sehr schwach gewordene gute Meinung überKarl gänzlich aufgab, da sie ihn, den sie in der Pensi-on Brenner vermutete, von einem Polizeimann aufge-griffen, in Hemdärmeln, ohne ihre Visitenkarte,

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zurückgekehrt fand, während der Oberkellner viel-leicht nur voll Verständnis nicken und der Oberportierdagegen von der Hand Gottes sprechen würde, dieden Lumpen endlich gefunden habe.

»Er war im Hotel Occidental angestellt«, sagte De-lamarche und trat an die Seite des Polizeimannes.

»Nein«, rief Karl und stampfte mit dem Fuße auf,»es ist nicht wahr!« Delamarche sah ihn mit spöttischzugespitztem Munde an, als könne er noch ganz ande-re Dinge verraten. Unter die Kinder brachte die uner-wartete Aufregung Karls große Bewegung, und siezogen zu Delamarche hin, um lieber von dort aus Karlgenau anzusehen. Robinson hatte den Kopf völlig ausdem Wagen gesteckt und verhielt sich vor Spannungganz ruhig; hie und da ein Augenzwinkern war seineeinzige Bewegung. Der Bursche im Tor schlug in dieHände vor Vergnügen, die Frau neben ihm gab ihmeinen Stoß mit dem Ellbogen, damit er ruhig sei. DieGepäckträger hatten gerade Frühstückspause und er-schienen sämtlich, mit großen Töpfen schwarzen Kaf-fees, in dem sie mit Stangenbroten herumführten. Ei-nige setzten sich auf den Trottoirrand, alle schlürftenden Kaffee sehr laut.

»Sie kennen wohl den Jungen?« fragte der Polizei-mann den Delamarche.

»Besser, als mir lieb ist«, sagte dieser.»Ich habe ihm seinerzeit viel Gutes getan, er aber

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hat sich dafür sehr schlecht bedankt, was Sie wohl,selbst nach dem ganz kurzen Verhör, das Sie mit ihmangestellt haben, leicht begreifen werden.«

»Ja«, sagte der Polizeimann »er scheint ein ver-stockter Junge zu sein.«

»Das ist er«, sagte Delamarche, »aber es ist dasnoch nicht seine schlechteste Eigenschaft«.

»So?« sagte der Polizeimann.»Ja«, sagte Delamarche, der nun im Reden war und

dabei mit den Händen in den Taschen seinen ganzenMantel in schwingende Bewegung brachte, »das istein feiner Hecht. Ich und mein Freund dort im Wagen,wir haben ihn zufällig im Elend aufgegriffen, er hattedamals keine Ahnung von amerikanischen Verhältnis-sen, er kam gerade aus Europa, wo man ihn auchnicht hatte brauchen können; nun, wir schleppten ihnmit uns, ließen ihn mit uns leben, erklärten ihm alles,wollten ihm einen Posten verschaffen, dachten, trotzallen Anzeichen, die dagegen sprachen, noch einenbrauchbaren Menschen aus ihm zu machen, da ver-schwand er einmal in der Nacht, war einfach weg, unddas unter Begleitumständen, die ich lieber verschwei-gen will. War es so oder nicht?« fragte Delamarcheschließlich und zupfte Karl am Hemdärmel.

»Zurück, ihr Kinder!« rief der Polizeimann, denndiese hatten sich so weit vorgedrängt, daß Delamar-che fast über eines gestolpert wäre. Inzwischen waren

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auch die Gepäckträger, die bisher die Interessantheitdieses Verhörs unterschätzt hatten, aufmerksam ge-worden und hatten sich in dichtem Ring hinter Karlversammelt, der nun auch nicht einen Schritt hätte zu-rücktreten können und überdies unaufhörlich in denOhren das Durcheinander der Stimmen dieser Ge-päckträger hatte, die in einem gänzlich unverständli-chen, vielleicht mit slawischen Worten untermischtenEnglisch mehr polterten als redeten.

»Danke für die Auskunft«, sagte der Polizeimannund salutierte vor Delamarche.

»Jedenfalls werde ich ihn mitnehmen und demHotel Occidental zurückgeben lassen.« Aber Dela-marche sagte: »Dürfte ich die Bitte stellen, mir denJungen vorläufig zu überlassen, ich hätte einiges mitihm in Ordnung zu bringen. Ich verpflichte mich, ihndann selbst ins Hotel zurückzuführen.«

»Das kann ich nicht tun«, sagte der Polizeimann.Delamarche sagte: »Hier ist meine Visitenkarte«,

und reichte ihm ein Kärtchen.Der Polizeimann sah es anerkennend an, sagte

aber, verbindlich lächelnd: »Nein, es ist vergeblich.«So sehr sich Karl bisher vor Delamarche gehütet

hatte, jetzt sah er in ihm die einzig mögliche Rettung.Es war zwar verdächtig, wie sich dieser beim Polizei-mann um Karl bewarb, aber jedenfalls würde sich De-lamarche leichter als der Polizeimann bewegen lassen,

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ihn nicht ins Hotel zurückzuführen. Und selbst wennKarl an der Hand des Delamarche ins Hotel zurück-kam, so war es viel weniger schlimm, als wenn es inBegleitung des Polizeimannes geschah. Vorläufigaber durfte natürlich Karl nicht zu erkennen geben,daß er tatsächlich zu Delamarche wollte, sonst waralles verloren. Und unruhig sah er auf die Hand desPolizeimannes, die sich jeden Augenblick erhebenkonnte, um ihn zu fassen.

»Ich müßte doch wenigstens erfahren, warum erplötzlich entlassen worden ist«, sagte schließlich derPolizeimann, während Delamarche mit verdrießli-chem Gesicht beiseite sah und die Visitenkarte zwi-schen den Fingerspitzen zerdrückte.

»Aber er ist doch gar nicht entlassen!« rief Robin-son zu allgemeiner Überraschung und beugte sich, aufden Chauffeur gestützt, möglichst weit aus demWagen.

»Im Gegenteil, er hat ja dort einen guten Posten. ImSchlafsaal ist er der oberste und kann hineinfahren,wen er will. Nur ist er riesig beschäftigt, und wennman etwas von ihm haben will, muß man lange war-ten. Immerfort steckt er beim Oberkellner, bei derOberköchin und ist Vertrauensperson. Entlassen ist erauf keinen Fall. Ich weiß nicht, warum er das gesagthat. Wie kann er denn entlassen sein? Ich habe michim Hotel schwer verletzt, und da hat er den Auftrag

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bekommen, mich nach Hause zu schaffen, und weil ergerade ohne Rock war, ist er eben ohne Rock mitge-fahren. Ich konnte nicht noch warten, bis er den Rockholt.«

»Nun also«, sagte Delamarche mit ausgebreitetenArmen, in einem Ton, als werfe er dem PolizeimannMangel an Menschenkenntnis vor, und diese seinezwei Worte schienen in die Unbestimmtheit der Aus-sage Robinsons eine widerspruchslose Klarheit zubringen.

»Ist das aber auch wahr?« fragte der Polizeimannschon schwächer.

»Und wenn es wahr ist, warum gibt der Junge vor,entlassen zu sein?«

»Du sollst antworten«, sagte Delamarche.Karl sah den Polizeimann an, der hier zwischen

fremden, nur auf sich selbst bedachten Leuten Ord-nung schaffen sollte, und etwas von seinen allgemei-nen Sorgen ging auch auf Karl über. Er wollte nichtlügen und hielt die Hände fest verschlungen auf demRücken.

In dem Tore erschien ein Aufseher und klatschte indie Hände, zum Zeichen, daß die Gepäckträger wiederan ihre Arbeit gehen sollten. Sie schütteten den Bo-densatz aus ihren Kaffeetöpfen und zogen verstum-mend mit schwankenden Schritten ins Haus.

»So kommen wir zu keinem Ende«, sagte der

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Polizeimann und wollte Karl am Arm fassen. Karlwich unwillkürlich noch ein wenig zurück, fühlte denfreien Raum, der sich ihm infolge des Abmarsches derGepäckträger eröffnet hatte, wandte sich um und setz-te sich unter einigen großen Anfangssprüngen inLauf. Die Kinder brachen in einen einzigen Schrei ausund liefen mit ausgestreckten Ärmchen ein paarSchritte mit.

»Haltet ihn!« rief der Polizeimann die lange, fastleere Gasse hinab und lief unter gleichmäßigem Aus-stoßen dieses Rufes in geräuschlosem, große Kraftund Übung verratendem Lauf hinter Karl her. Es warein Glück für Karl, daß die Verfolgung in einem Ar-beiterviertel stattfand. Die Arbeiter halten es nicht mitden Behörden. Karl lief mitten in der Fahrbahn, weiler dort die wenigsten Hindernisse hatte, und sah nunhie und da auf dem Trottoir Arbeiter stehenbleibenund ihn ruhig beobachten, während der Polizeimannihnen sein »Haltet ihn!« zurief und in seinem Lauf, erhielt sich klugerweise auf dem glatten Trottoir, unauf-hörlich den Stab gegen Karl hin ausstreckte. Karlhatte wenig Hoffnung und verlor sie fast ganz, als derPolizeimann nun, da sie sich Quergassen näherten, diegewiß auch Polizeipatrouillen enthielten, geradezu be-täubende Pfiffe ausstieß. Karls Vorteil war lediglichseine leichte Kleidung, er flog, oder besser stürzte, diesich immer mehr senkende Straße hinab, nur machte

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er, zerstreut infolge seiner Verschlafenheit, oft zuhohe, zeitraubende und nutzlose Sprünge. Außerdemaber hatte der Polizeimann sein Ziel, ohne nachden-ken zu müssen, immer vor Augen, für Karl dagegenwar der Lauf doch eigentlich Nebensache, er mußtenachdenken, unter verschiedenen Möglichkeiten aus-wählen, immer neu sich entschließen. Sein etwas ver-zweifelter Plan war vorläufig, die Quergassen zu ver-meiden, da man nicht wissen konnte, was in ihnensteckte, vielleicht würde er da geradewegs in eineWachstube hineinlaufen; er wollte sich, solange esnur ging, an diese weithin übersichtliche Straße hal-ten, die erst tief unten in eine Brücke auslief, die,kaum begonnen, in Wasser- und Sonnendunst ver-schwand. Gerade wollte er sich nach diesem Ent-schluß zu schnellerem Lauf zusammennehmen, umdie erste Querstraße besonders eilig zu passieren, dasah er nicht allzu weit vor sich einen Polizeimann,lauernd an die dunkle Mauer eines im Schatten liegen-den Hauses gedrückt, bereit, im richtigen Augenblickauf Karl loszuspringen. Jetzt blieb keine Hilfe als dieQuergasse, und als er gar aus dieser Gasse ganzharmlos beim Namen gerufen wurde - es schien ihmzwar zuerst eine Täuschung zu sein, denn ein Sausenhatte er schon die ganze Zeit lang in den Ohren -, zö-gerte er nicht mehr länger und bog, um die Polizeileu-te möglichst zu überraschen, auf einem Fuß sich

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schwenkend, rechtwinklig in diese Gasse ein.Kaum war er zwei Sprünge weit gekommen - daß

man seinen Namen gerufen hatte, hatte er schon wie-der vergessen, nun pfiff auch der zweite Polizeimann,man merkte seine unverbrauchte Kraft, ferne Passan-ten in dieser Querstraße schienen eine raschere Gang-art anzunehmen -, da griff aus einer kleinen Haustüreeine Hand nach Karl und zog ihn mit den Worten»Still sein!« in einen dunklen Flur. Es war Delamar-che, ganz außer Atem, mit erhitzten Wangen, seineHaare klebten ihm rings um den Kopf. Den Schlaf-rock trug er unter dem Arm und war nur mit Hemdund Unterhose bekleidet. Die Türe, welche nicht daseigentliche Haustor war, sondern nur einen unschein-baren Nebeneingang bildete, hatte er gleich geschlos-sen und versperrt.

»Einen Augenblick«, sagte er dann, lehnte sich mithochgehaltenem Kopf an die Wand und atmeteschwer. Karl lag fast in seinen Armen und drücktehalb besinnungslos das Gesicht an seine Brust.

»Da laufen die Herren«, sagte Delamarche undstreckte den Finger aufhorchend gegen die Tür. Wirk-lich liefen jetzt die zwei Polizeileute vorbei, ihr Lau-fen klang in der leeren Gasse, wie wenn Stahl gegenStein geschlagen wird.

»Du bist aber ordentlich hergenommen«, sagte De-lamarche zu Karl, der noch immer an seinem Atem

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würgte und kein Wort herausbringen konnte. Dela-marche setzte ihn vorsichtig auf den Boden, knieteneben ihm nieder, strich ihm mehrmals über die Stirnund beobachtete ihn.

»Jetzt geht es schon«, sagte Karl und stand müh-sam auf.

»Dann also los«, sagte Delamarche, der seinenSchlafrock wieder angezogen hatte, und schob Karl,der noch vor Schwäche den Kopf gesenkt hielt, vorsich her. Von Zeit zu Zeit schüttelte er Karl, um ihnfrischer zu machen.

»Du willst müde sein?« sagte er.»Du konntest doch im Freien laufen wie ein Pferd,

ich aber mußte hier durch die verfluchten Gänge undHöfe schleichen. Glücklicherweise bin ich aber auchein Läufer.« Vor Stolz gab er Karl einen weit ausge-holten Schlag auf den Rücken.

»Von Zeit zu Zeit ist ein solches Wettrennen mitder Polizei eine gute Übung.«

»Ich war schon müde, wie ich zu laufen anfing«,sagte Karl.

»Für schlechtes Laufen gibt es keine Entschuldi-gung«, sagte Delamarche.

»Wenn ich nicht wäre, hätten sie dich schon längstgefaßt.«

»Ich glaube auch«, sagte Karl.»Ich bin Ihnen sehr verpflichtet.«

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»Kein Zweifel«, sagte Delamarche.Sie gingen durch einen langen, schmalen Flurgang,

der mit dunklen, glatten Steinen gepflastert war. Hieund da öffnete sich rechts oder links ein Treppenauf-gang oder man erhielt einen Durchblick in einen ande-ren größeren Flur. Erwachsene waren kaum zu sehen,nur Kinder spielten auf den leeren Treppen. An einemGeländer stand ein kleines Mädchen und weinte, daßihr vor Tränen das ganze Gesicht glänzte. Kaum hattesie Delamarche bemerkt, als sie, mit offenem Mundenach Luft schnappend, die Treppe hinauflief und sicherst hoch oben beruhigte, als sie nach häufigem Um-drehen sich überzeugt hatte, daß ihr niemand folgeoder folgen wolle.

»Die habe ich vor einem Augenblick niederge-rannt«, sagte Delamarche lachend und drohte ihr mitder Faust, worauf sie schreiend weiter hinauflief.

Auch die Höfe, durch die sie kamen, waren fastgänzlich verlassen. Nur hie und da schob ein Ge-schäftsdiener einen zweirädrigen Karren vor sich her,eine Frau füllte an der Pumpe eine Kanne mit Wasser,ein Briefträger durchquerte mit ruhigen Schritten denganzen Hof, ein alter Mann mit weißem Schnauzbartsaß mit übergeschlagenen Beinen vor einer Glastürund rauchte eine Pfeife, vor einem Speditionsgeschäftwurden Kisten abgeladen, die unbeschäftigten Pferdedrehten gleichmütig die Köpfe, ein Mann in einem

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Arbeitsmantel überwachte mit einem Papier in derHand die ganze Arbeit; in einem Büro war das Fen-ster geöffnet, und ein Angestellter, der an seinemSchreibpult saß, hatte sich von ihm abgewendet undsah nachdenklich hinaus, wo gerade Karl und Dela-marche vorübergingen.

»Eine ruhigere Gegend kann man sich gar nichtwünschen«, sagte Delamarche.

»Am Abend ist ein paar Stunden lang großer Lärm,aber während des Tages geht es hier musterhaft zu.«Karl nickte, ihm schien die Ruhe zu groß zu sein.

»Ich könnte gar nicht anderswo wohnen«, sagteDelamarche, »denn Brunelda verträgt absolut keinenLärm. Kennst du Brunelda? Nun, du wirst sie jasehen. Jedenfalls empfehle ich dir, dich möglichst stillaufzufahren.«

Als sie zu der Treppe kamen, die zur Wohnung De-lamarches führte, war das Automobil bereits wegge-fahren, und der Bursche mit der zerfressenen Nasemeldete, ohne über Karls Wiedererscheinen irgendwiezu staunen, er habe Robinson die Treppe hinaufgetra-gen. Delamarche nickte ihm bloß zu, als sei er seinDiener, der eine selbstverständliche Pflicht erfüllthabe, und zog Karl, der ein wenig zögerte und auf diesonnige Straße sah, mit sich die Treppe hinauf. »Wirsind gleich oben«, sagte Delamarche einige Malewährend des Treppensteigens, aber seine Voraussage

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wollte sich nicht erfüllen, immer wieder setzte sich aneine Treppe eine neue in nur unmerklich veränderterRichtung an. Einmal blieb Karl sogar stehen, nichteigentlich vor Müdigkeit, aber vor Wehrlosigkeit ge-genüber dieser Treppenlänge.

»Die Wohnung liegt ja sehr hoch«, sagte Delamar-che, als sie weitergingen, »aber auch das hat seineVorteile. Man geht sehr selten aus, den ganzen Tag istman im Schlafrock, wir haben es sehr gemütlich. Na-türlich kommen in diese Höhe auch keine Besucheherauf.«

›Woher sollten denn die Besuche kommen?‹ dachteKarl. Endlich erschien auf einem Treppenabsatz Ro-binson vor einer geschlossenen Wohnungstür, undnun waren sie angelangt; die Treppe war noch nichteinmal zu Ende, sondern führte im Halbdunkel weiter,ohne daß irgend etwas auf ihren baldigen Abschlußhinzudeuten schien.

»Ich habe es mir ja gedacht«, sagte Robinson leise,als bedrückten ihn noch Schmerzen »Delamarchebringt ihn! Roßmann, was wärest du ohne Delamar-che!« Robinson stand in Unterkleidung da und suchtesich nur, soweit es möglich war, in die kleine Bett-decke einzuwickeln, die man ihm aus dem Hotel Oc-cidental mitgegeben hatte; es war nicht einzusehen,warum er nicht in die Wohnung ging, statt hier vormöglicherweise vorüberkommenden Leuten sich

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lächerlich zu machen.»Schläft sie?« fragte Delamarche.»Ich glaube nicht«, sagte Robinson, »aber ich habe

doch lieber gewartet, bis du kommst.«»Zuerst müssen wir schauen, ob sie schläft«, sagte

Delamarche und beugte sich zum Schlüsselloch.Nachdem er lange unter verschiedenartigen Kopfdre-hungen hindurchgeschaut hatte, erhob er sich undsagte: »Man sieht sie nicht genau, das Rouleau istheruntergelassen. Sie sitzt auf dem Kanapee, abervielleicht schläft sie.«

»Ist sie denn krank?« fragte Karl, denn Delamarchestand da, als bitte er um Rat. Nun aber fragte er inscharfem Tone zurück: »Krank?«

»Er kennt sie ja nicht«, sagte Robinson entschuldi-gend.

Ein paar Türen weiter waren zwei Frauen auf denKorridor getreten, sie wischten die Hände an ihrenSchürzen rein, sahen auf Delamarche und Robinsonund schienen sich über sie zu unterhalten. Aus einerTür sprang ein noch ganz junges Mädchen mit glän-zendem blondem Haar und schmiegte sich zwischendie zwei Frauen, indem es sich in ihre Arme einhäng-te.

»Das sind widerliche Weiber«, sagte Delamarcheleise, aber offenbar nur aus Rücksicht auf die schla-fende Brunelda, »nächstens werde ich sie bei der

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Polizei anzeigen und werde für Jahre Ruhe vor ihnenhaben. Schau nicht hin«, zischte er dann Karl an, dernichts Böses daran gefunden hatte, die Frauen anzu-schauen, wenn man nun schon einmal auf dem Gangauf das Erwachen Bruneldas warten mußte. Und är-gerlich schüttelte er den Kopf, als habe er von Dela-marche keine Ermahnungen anzunehmen, und wollte,um dies noch deutlicher zu zeigen, auf die Frauen zu-gehen, da hielt ihn aber Robinson mit den Worten»Roßmann, hüte dich!« am Ärmel zurück, und Dela-marche, schon durch Karl gereizt, wurde über ein lau-tes Auflachen des Mädchens so wütend, daß er mitgroßem Anlauf, Arme und Beine werfend, auf dieFrauen zueilte, die jede in ihre Türe wie weggewehtverschwanden.

»So muß ich hier öfters die Gänge reinigen«, sagteDelamarche, als er mit langsamen Schritten zurück-kehrte; da erinnerte er sich an Karls Widerstand undsagte: »Von dir aber erwarte ich ein ganz anderes Be-nehmen, sonst könntest du mit mir schlechte Erfah-rungen machen.«

Da rief aus dem Zimmer eine fragende Stimme insanftem, müdem Tonfall: »Delamarche?«

»Ja«, antwortete Delamarche und sah freundlich dieTür an, »können wir eintreten?«

»O ja«, hieß es, und Delamarche öffnete, nachdemer noch die zwei hinter ihm Wartenden mit einem

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Blick gestreift hatte, langsam die Tür.Man trat in vollständiges Dunkel ein. Der Vorhang

der Balkontüre, ein Fenster war nicht vorhanden, warbis zum Boden hinabgelassen und wenig durchschei-nend, außerdem aber trug die Überfüllung des Zim-mers mit Möbeln und herumhängenden Kleidern vielzu seiner Verdunkelung bei. Die Luft war dumpf, undman roch geradezu den Staub, der sich hier in Win-keln, die offenbar für jede Hand unzugänglich waren,angesammelt hatte. Das erste, was Karl beim Eintrittbemerkte, waren drei Kasten, die knapp hintereinan-der aufgestellt waren.

Auf dem Kanapee lag die Frau, die früher vom Bal-kon hinuntergeschaut hatte. Ihr rotes Kleid hatte sichunten ein wenig verzogen und hing in einem großenZipfel bis auf den Boden, man sah ihre Beine fast biszu den Knien, sie trug dicke weiße Wollstrümpfe;Schuhe hatte sie keine.

»Das ist eine Hitze, Delamarche«, sagte sie, wand-te das Gesicht von der Wand, hielt ihre Hand lässig inSchwebe gegen Delamarche hin, der sie ergriff undküßte. Karl sah nur ihr Doppelkinn an, das bei derWendung des Kopfes auch mitrollte.

»Soll ich den Vorhang vielleicht hinaufziehen las-sen?« fragte Delamarche.

»Nur das nicht«, sagte sie mit geschlossenenAugen und wie verzweifelt, »dann wird es ja noch

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ärger.«Karl war zum Fußende des Kanapees getreten, um

die Frau genauer anzusehen, er wunderte sich überihre Klagen, denn die Hitze war gar nicht außeror-dentlich.

»Warte, ich werde es dir ein wenig bequem ma-chen«, sagte Delamarche ängstlich, öffnete oben amHalse ein paar Knöpfe und zog dort das Kleid ausein-ander, so daß der Hals und der Ansatz der Brust freiwurde und ein zarter, gelblicher Spitzensaum desHemdes erschien.

»Wer ist das«, sagte die Frau plötzlich und zeigtemit dem Finger auf Karl »warum starrt er mich soan?«

»Du fängst bald an, dich nützlich zu machen«,sagte Delamarche und schob Karl beiseite, während erdie Frau mit den Worten beruhigte: »Es ist nur derJunge, den ich zu deiner Bedienung mitgebrachthabe.«

»Aber ich will doch niemanden haben!« rief sie.»Warum bringst du mir fremde Leute in die Woh-

nung?«»Aber die ganze Zeit wünschst du dir doch eine

Bedienung«, sagte Delamarche und kniete nieder; aufdem Kanapee war trotz seiner großen Breite nebenBrunelda nicht der geringste Platz.

»Ach, Delamarche«, sagte sie, »du verstehst mich

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nicht und verstehst mich nicht.«»Dann verstehe ich dich also wirklich nicht«, sagte

Delamarche und nahm ihr Gesicht zwischen beideHände.

»Aber es ist ja nichts geschehen, wenn du willst,geht er augenblicklich fort.«

»Wenn er schon einmal hier ist, soll er bleiben«,sagte sie nun wieder, und Karl war ihr in seiner Mü-digkeit für diese vielleicht gar nicht freundlich ge-meinten Worte so dankbar, daß er, immer in undeutli-chen Gedanken an diese endlose Treppe, die er nunvielleicht gleich wieder hätte abwärtssteigen müssen,über den auf seiner Decke friedlich schlafenden Ro-binson hinwegtrat und trotz allem ärgerlichen Hände-fuchteln Delamarches sagte: »Ich danke Ihnen jeden-falls dafür, daß Sie mich noch ein wenig hier lassenwollen. Ich habe wohl schon vierundzwanzig Stundennicht geschlafen, dabei genug gearbeitet und verschie-dene Aufregungen gehabt. Ich bin schrecklich müde.Ich weiß gar nicht recht, wo ich bin. Wenn ich aberein paar Stunden geschlafen habe, können Sie michohne Rücksichtnahme fortschicken, und ich werdegerne gehen.«

»Du kannst überhaupt hierbleiben«, sagte die Frauund fügte ironisch hinzu, »Platz haben wir ja in Über-fluß, wie du siehst.«

»Du mußt also fortgehen«, sagte Delamarche, »wir

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können dich nicht brauchen.«»Nein, er soll bleiben«, sagte die Frau nun wieder

im Ernste. Und Delamarche sagte zu Karl wie in Aus-führung dieses Wunsches: »Also leg dich schon ir-gendwo hin.«

»Er kann sich auf die Vorhänge legen, aber er mußsich die Stiefel ausziehen, damit er nichts zerreißt.«

Delamarche zeigte Karl den Platz, den sie meinte.Zwischen der Türe und den drei Schränken war eingroßer Haufen von verschiedenartigsten Fenstervor-hängen hingeworfen. Wenn man alle regelmäßig zu-sammengefaltet, die schweren zuunterst und weiterhinauf die leichteren gelegt und schließlich die ver-schiedenen in den Haufen gesteckten Bretter undHolzringe herausgezogen hätte, so wäre es ein erträg-liches Lager geworden, so war es nur eine schaukeln-de und gleitende Masse, auf die sich aber Karl trotz-dem augenblicklich legte, denn zu besonderen Schlaf-vorbereitungen war er zu müde und mußte sich auchmit Rücksicht auf seine Gastgeber hüten, viel Um-stände zu machen.

Er war schon fast im eigentlichen Schlaf, da hörteer einen lauten Schrei, erhob sich und sah die Brunel-da aufrecht auf dem Kanapee sitzen, die Arme weitausbreiten und Delamarche, der vor ihr kniete, um-schlingen. Karl, dem der Anblick peinlich war, lehntesich wieder zurück und versenkte sich in die

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Vorhänge zur Fortsetzung des Schlafes. Daß er eshier auch nicht zwei Tage aushalten würde, schienihm klar zu sein, desto nötiger aber war es, sich zuerstgründlich auszuschlafen, um sich dann bei völligemVerstande schnell und richtig entschließen zu können.

Aber Brunelda hatte schon Karls vor Müdigkeitgroß aufgerissene Augen, die sie schon einmal er-schreckt hatten, bemerkt und rief: »Delamarche, ichhalte es vor Hitze nicht aus, ich brenne, ich muß michausziehen, ich muß baden, schick die beiden aus demZimmer, wohin du willst, auf den Gang, auf den Bal-kon, nur daß ich sie nicht mehr sehe! Man ist in seinereigenen Wohnung, und immerfort gestört. Wenn ichmit dir allein wäre, Delamarche! Ach Gott, sie sindnoch immer da! Wie dieser unverschämte Robinsonsich in Gegenwart einer Dame in seiner Unterkleidungstreckt. Und wie dieser fremde Junge, der mich voreinem Augenblick ganz wild angeschaut hat, sichwieder gelegt hat, um mich zu täuschen! Nur weg mitihnen, Delamarche, sie sind mir eine Last, sie liegenmir auf der Brust, wenn ich jetzt umkomme, ist es ih-retwegen.«

»Sofort sind sie draußen, zieh dich nur aus«, sagteDelamarche, ging zu Robinson hin und schüttelte ihnmit dem Fuß, den er ihm auf die Brust setzte. Gleich-zeitig rief er Karl zu: »Roßmann, aufstehen! Ihr müßtbeide auf den Balkon! Und wehe euch, wenn ihr

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hereinkommt, ehe man euch ruft! Und jetzt flink, Ro-binson.« - dabei schüttelte er Robinson stärker -»und du, Roßmann, gib acht, daß ich nicht auch überdich komme«, dabei klatschte er laut zweimal in dieHände.

»Wie lang das dauert!« rief Brunelda auf dem Ka-napee, sie hatte beim Sitzen die Beine weit auseinan-dergestellt, um ihrem übermäßig dicken Körper mehrRaum zu verschaffen, nur mit größter Anstrengung,unter vielem Schnappen und häufigem Ausruhen,konnte sie sich so weit bücken, um ihre Strümpfe amobersten Ende zu fassen und ein wenig hinunterzuzie-hen, gänzlich ausziehen konnte sie sich nicht, dasmußte Delamarche besorgen, auf den sie nun ungedul-dig wartete.

Ganz stumpf vor Müdigkeit war Karl von demHaufen hinuntergekrochen und ging langsam zur Bal-kontüre, ein Stück Vorhangstoff hatte sich ihm umden Fuß gewickelt, und er schleppte es gleichgültigmit. In seiner Zerstreutheit sagte er sogar, als er anBrunelda vorüberkam: »Ich wünsche gute Nacht« undwanderte dann an Delamarche vorbei, der den Vor-hang der Balkontüre ein wenig beiseite zog, auf denBalkon hinaus. Gleich hinter Karl kam Robinson,wohl nicht minder schläfrig, denn er summte vor sichhin: »Immerfort malträtiert man einen! Wenn Brunel-da nicht mitkommt, gehe ich nicht auf den Balkon.«

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Aber trotz dieser Versicherung ging er ohne jedenWiderstand hinaus, wo er sich, da Karl schon in denLehnstuhl gesunken war, sofort auf den Steinbodenlegte.

Als Karl erwachte, war es schon Abend, die Sternestanden schon am Himmel, hinter den hohen Häusernder gegenüberliegenden Straßenseite stieg der Scheindes Mondes empor. Erst nach einigem Umherschauenin der unbekannten Gegend, einigem Aufatmen in derkühlen, erfrischenden Luft wurde sich Karl dessen be-wußt, wo er war. Wie unvorsichtig war er gewesen,alle Ratschläge der Oberköchin, alle Warnungen The-resens, alle eigenen Befürchtungen hatte er vernach-lässigt, saß hier ruhig auf dem Balkon Delamarchesund hatte hier gar den halben Tag verschlafen, als seinicht hier hinter dem. Vorhang Delamarche, sein gro-ßer Feind. Auf dem Boden wand sich der fahle Robin-son und zog Karl am Fuße, er schien ihn auch aufdiese Weise geweckt zu haben, denn er sagte: »Duhast einen Schlaf, Roßmann! Das ist die sorglose Ju-gend. Wie lange willst du denn noch schlafen? Ichhätte dich ja noch schlafen lassen, aber erstens ist esmir da auf dem Boden zu langweilig und zweitenshabe ich einen großen Hunger. Ich bitte dich, steh einwenig auf, ich habe da unten, im Sessel drin, etwaszum Essen aufgehoben, ich möchte es gern herauszie-hen. Du bekommst dann auch etwas.« Und Karl, der

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aufstand, sah nun zu, wie Robinson, ohne aufzuste-hen, sich auf dem Bauch herüberwälzte und mit aus-gestreckten Händen unter dem Sessel eine versilberteSchale hervorzog, wie sie etwa zum Aufbewahren vonVisitenkarten dient. Auf dieser Schale lag aber einehalbe, ganz schwarze Wurst, einige dünne Zigaretten,eine geöffnete, aber noch gut gefüllte und von Ölüberfließende Sardinenbüchse und eine Menge meistzerdrückter und zu einem Ballen gewordener Bon-bons. Dann erschien noch ein großes Stück Brot undeine Art Parfümflasche, die aber etwas anderes alsParfüm zu enthalten schien, denn Robinson zeigte mitbesonderer Genugtuung auf sie und schnalzte zu Karlhinauf.

»Siehst du, Roßmann«, sagte Robinson, währender Sardine nach Sardine hinunterschlang und hie undda die Hände vom Öl an einem Wolltuch reinigte, dasoffenbar Brunelda auf dem Balkon vergessen hatte.»Siehst du, Roßmann, so muß man sich sein Essenaufheben, wenn man nicht verhungern will. Du, ichbin ganz beiseite geschoben. Und wenn man immer-fort als Hund behandelt wird denkt man schließlich,man ist's wirklich. Gut daß du da bist, Roßmann, ichkann wenigstens mit jemandem reden. Im Hausespricht ja niemand mit mir. Wir sind verhaßt. Undalles wegen der Brunelda. Sie ist ja natürlich einprächtiges Weib. Du-« und er winkte Karl zu sich

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herab, um ihm zuzuflüstern, - »ich habe sie einmalnackt gesehen. O!« Und in der Erinnerung an dieseFreude fing er an, Karls Beine zu drücken und zuschlagen, bis Karl ausrief: »Robinson, du bist ja ver-rückt«, seine Hände packte und zurückstieß.

»Du bist eben noch ein Kind, Roßmann«, sagteRobinson, zog einen Dolch, den er an einer Hals-schnur trug, unter dem Hemd hervor, nahm die Dolch-kappe ab und zerschnitt die harte Wurst. »Du mußtnoch viel zulernen. Bist aber bei uns an der richtigenQuelle. Setz dich doch. Willst du nicht auch etwasessen? Nun, vielleicht bekommst du Appetit, wenn dumir zuschaust. Trinken willst du auch nicht, Du willstaber rein gar nichts. Und gesprächig bist du geradeauch nicht besonders. Aber es ist ganz gleichgültig,mit wem man auf dem Balkon ist, wenn nur über-haupt jemand da ist. Ich bin nämlich sehr oft auf demBalkon. Das macht der Brunelda solchen Spaß. Esmuß ihr nur etwas einfallen, einmal ist es ihr kalt, ein-mal heiß, einmal will sie schlafen, einmal will sie sichkämmen, einmal will sie das Mieder öffnen, einmalwill sie es anziehen, und da werde ich immer auf denBalkon geschickt. Manchmal tut sie wirklich das, wassie sagt, aber meistens liegt sie nur so wie früher aufdem Kanapee und rührt sich nicht. Früher habe ichöfters den Vorhang so ein wenig weggezogen unddurchgeschaut, aber seit einmal Delamarche bei einer

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solchen Gelegenheit - ich weiß genau, daß er es nichtwollte, sondern es nur auf Bruneldas Bitte tat - mirmit der Peitsche einige Male ins Gesicht geschlagenhat - siehst du die Striemen? -, wage ich nicht mehr,durchzuschauen. Und so liege ich dann hier auf demBalkon und habe kein Vergnügen außer essen. Vorge-stern, wie ich des Abends so allein gelegen bin, da-mals war ich noch in meinen eleganten Kleidern, dieich leider in deinem Hotel verloren habe - dieseHunde; reißen einem die teueren Kleider vom Leib! -wie ich also da so allein gelegen bin und durch dasGeländer hinuntergeschaut habe, war mir alles sotraurig und ich habe zu heulen angefangen. Da ist zu-fällig, ohne daß ich es gleich bemerkt habe, die Bru-nelda zu mir herausgekommen in dem roten Kleid -das paßt ihr doch von allen am besten -, hat mir einwenig zugeschaut und hat endlich gesagt: ›Robinsonwarum weinst du?‹ Dann hat sie ihr Kleid gehobenund hat mir mit dem Saum die Augen abgewischt.Wer weiß, was sie noch getan hätte, wenn nicht Dela-marche nach ihr gerufen hätte und sie nicht sofortwieder ins Zimmer hätte hineingehen müssen. Natür-lich habe ich gedacht, jetzt sei die Reihe an mir, undhabe durch den Vorhang gefragt, ob ich schon insZimmer darf. Und was meinst du, hat die Bruneldagesagt: ›Nein!‹ hat sie gesagt, und ›Was fällt dir ein?‹hat sie gesagt.«

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»Warum bleibst du denn hier, wenn man dich sobehandelt?« fragte Karl.

»Verzeih, Roßmann, du fragst nicht sehr gescheit«,antwortete Robinson. »Du wirst schon auch noch hierbleiben, und wenn man dich noch ärger behandelt.Übrigens behandelt man mich gar nicht so arg.«

»Nein«, sagte Karl, »ich gehe bestimmt weg, undwomöglich noch heute abend. Ich bleibe nicht beieuch.«

»Wie willst du denn zum Beispiel das anstellen,heute abend wegzugehen?« fragte Robinson, der dasWeiche aus dem Brot herausgeschnitten hatte undsorgfältig in dem Öl der Sardinenbüchse tränkte.»Wie willst du weggehen, wenn du nicht einmal insZimmer hineingehen darfst?«

»Warum dürfen wir denn nicht hineingehen?«»Nun, solange es nicht geläutet hat, dürfen wir

nicht hineingehen«, sagte Robinson, der mit mög-lichst weit geöffnetem Munde das fette Brot verspei-ste, während er mit einer Hand das vom Brot herab-tropfende Öl auffing, um von Zeit zu Zeit das nochübrige Brot in diese, als Reservoir dienende, hohleHand zu tauchen. »Es ist hier alles strenger geworden.Zuerst war da nur ein dünner Vorhang, man hat zwarnicht durchgesehen, aber am Abend hat man doch dieSchatten erkannt. Das war der Brunelda unangenehm,und da habe ich einen ihrer Theatermäntel zu einem

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Vorhang umarbeiten und statt des alten Vorhangeshier aufhängen müssen. Jetzt sieht man gar nichtsmehr. Dann habe ich früher immer fragen dürfen, obich schon hineingehen darf, und man hat mir, je nachden Umständen, ja oder nein geantwortet, aber dannhabe ich das wahrscheinlich zu sehr ausgenützt undzu oft gefragt. Brunelda konnte das nicht ertragen -und sie ist trotz ihrer Dicke sehr schwach veranlagt,Kopfschmerzen hat sie oft und Gicht in den Beinenfast immer - und so wurde bestimmt, daß ich nichtmehr fragen darf, sondern daß, wenn ich hineingehenkann, auf die Tischglocke gedrückt wird. Das gibt einsolches Läuten, daß es mich selbst aus dem Schlafeweckt - ich habe einmal eine Katze zu meiner Unter-haltung hier gehabt, die ist vor Schrecken über diesesLäuten weggelaufen und nicht mehr zurückgekom-men; also, geläutet hat es heute noch nicht, wenn esnämlich läutet, dann darf ich nicht nur, sondern mußhineingehen - und wenn es einmal so lange nicht läu-tet, dann kann es noch sehr lange dauern.«

»Ja«, sagte Karl, »aber was für dich gilt, muß dochnoch nicht für mich gelten. Überhaupt gilt so etwasnur für den, der es sich gefallen läßt.«

»Aber«, rief Robinson, »warum sollte denn dasnicht auch für dich gelten? Selbstverständlich gilt esauch für dich. Warte hier nur ruhig mit mir, bis esläutet. Dann kannst du ja versuchen, ob du

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wegkommst.«»Warum gehst du denn eigentlich nicht fort von

hier? Nur deshalb, weil Delamarche dein Freund istoder, besser, war. Ist denn das ein Leben? Wäre es danicht in Butterford besser, wohin ihr zuerst wolltet?Oder gar in Kalifornien, wo du Freunde hast?«

»Ja«, sagte Robinson, »das konnte niemand vor-aussehen.« Und ehe er weiter erzählte, sagte er noch:»Auf dein Wohl, lieber Roßmann« und nahm einenlangen Zug aus der Parfümflasche. »Wir waren ja da-mals, wie du uns so gemein hast sitzenlassen, sehrschlecht daran. Arbeit konnten wir in den erstenTagen keine bekommen, Delamarche übrigens wolltekeine Arbeit, er hätte sie schon bekommen, sondernschickte nur immer mich auf die Suche, und ich habekein Glück. Er hat sich nur so herumgetrieben, aberes war schon fast Abend, da hatte er nur ein Damen-portemonnaie mitgebracht. Es war zwar sehr schön,aus Perlen, jetzt hat er es der Brunelda geschenkt,aber es war fast nichts darin. Dann sagte er, wir soll-ten in die Wohnungen betteln gehen, bei dieser Gele-genheit kann man natürlich manches Brauchbare fin-den, wir sind also betteln gegangen, und ich habe,damit es besser aussieht, vor den Wohnungstüren ge-sungen. Und wie schon Delamarche immer Glück hat,kaum sind wir vor der zweiten Wohnung gestanden,einer sehr reichen Wohnung im Parterre, und haben

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an der Tür der Köchin und dem Diener etwas vorge-sungen, da kommt die Dame, der diese Wohnung ge-hört, eben Brunelda, die Treppe herauf. Sie war viel-leicht zu stark geschnürt und konnte die paar Stufengar nicht heraufkommen. Aber wie schön sie ausgese-hen hat, Roßmann! Sie hat ein ganz weißes Kleid miteinem roten Sonnenschirm gehabt. Zum Ablecken warsie. Zum Austrinken war sie. Ach Gott, ach Gott, warsie schön. So ein Frauenzimmer! Nein, sag mir nur,wie kann es so ein Frauenzimmer geben? Natürlich istdas Mädchen und der Diener ihr gleich entgegenge-laufen und haben sie fast hinaufgetragen. Wir sindrechts und links von der Tür gestanden und haben sa-lutiert, das macht man hier so. Sie ist ein wenig ste-hengeblieben, weil sie noch immer nicht genug Atemhatte, und nun weiß ich nicht, wie das eigentlich ge-schehen ist, ich war durch das Hungern nicht ganz beiVerstand, und sie war eben in der Nähe noch schönerund riesig breit und infolge eines besonderen Mieders,ich kann es dir dann im Kasten zeigen, überall so fest;kurz, ich habe sie ein bißchen hinten angerührt, aberganz leicht, weißt du, nur so angerührt. Natürlichkann man das nicht dulden, daß ein Bettler eine reicheDame anrührt. Es war ja fast keine Berührung, aberschließlich war es eben doch eine Berührung. Werweiß, wie schlimm das ausgefallen wäre, wenn mirnicht Delamarche sofort eine Ohrfeige gegeben hätte,

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und zwar eine solche Ohrfeige, daß ich sofort meinebeiden Hände für die Wange brauchte.«

»Was ihr getrieben habt!« sagte Karl, von der Ge-schichte ganz gefangen genommen, und setzte sichauf den Boden. »Das war also Brunelda?«

»Nun ja«, sagte Robinson, »das war Brunelda.«»Sagtest du nicht einmal, daß sie eine Sängerin

ist?« fragte Karl.»Freilich ist sie eine Sängerin, und eine große Sän-

gerin«, antwortete Robinson, der eine große Bonbon-masse auf der Zunge wälzte und hie und da ein Stück,das aus dem Mund gedrängt wurde, mit dem Fingerwieder zurückdrückte. »Aber das wußten wir natür-lich damals noch nicht, wir sahen nur, daß es eine rei-che und sehr feine Dame war. Sie tat, als wäre nichtsgeschehen, und vielleicht hatte sie auch nichts ge-spürt, denn ich hatte sie tatsächlich nur mit den Fin-gerspitzen angetippt. Aber immerfort hat sie den De-lamarche angesehen, der ihr wieder - wie er dasschon trifft - gerade in die Augen zurückgeschaut hat.Darauf hat sie zu ihm gesagt: ›Komm mal auf einWeilchen hinein‹ und hat mit dem Sonnenschirm indie Wohnung gezeigt, wohin Delamarche ihr vorange-hen sollte. Dann sind sie beide hineingegangen, unddie Dienerschaft hat hinter ihnen die Tür zugemacht.Mich haben sie draußen vergessen, und da habe ichgedacht, es wird nicht gar so lange dauern, und habe

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mich auf die Treppe gesetzt, um Delamarche zu er-warten. Aber statt Delamarches ist der Diener heraus-gekommen und hat mir eine ganze Schüssel Suppeherausgebracht. ›Eine Aufmerksamkeit Delamarches!‹sagte ich mir. Der Diener blieb noch, während ich aß,ein Weilchen bei mir stehen und erzählte mir einigesüber Brunelda, und da habe ich gesehen, welche Be-deutung der Besuch bei Brunelda für uns haben könn-te. Denn Brunelda war eine geschiedene Frau, hatteein großes Vermögen und war vollständig selbstän-dig! Ihr früherer Mann, ein Kakaofabrikant, liebte siezwar noch immer, aber sie wollte von ihm nicht dasgeringste hören. Er kam sehr oft in die Wohnung,immer sehr elegant, wie zu einer Hochzeit, angezo-gen - das ist Wort für Wort wahr, ich kenne ihnselbst -, aber der Diener wagte trotz der größten Be-stechung nicht, Brunelda zu fragen, ob sie ihn emp-fangen wollte, denn er hatte schon einige Male ge-fragt, und immer hatte ihm Brunelda das, was sie ge-rade bei der Hand hatte, ins Gesicht geworfen. Einmalsogar ihre große gefüllte Wärmflasche, und mit derhatte sie ihm einen Vorderzahn ausgeschlagen. Ja,Roßmann, da schaust du!«

»Woher kennst du den Mann?« fragte Karl.»Er kommt manchmal auch herauf«, sagte Robin-

son.»Herauf?« Karl schlug vor Staunen leicht mit der

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Hand auf den Boden.»Du kannst ruhig staunen«, fuhr Robinson fort,

»selbst ich habe gestaunt, wie mir das der Diener da-mals erzählt hat. Denk nur, wenn Brunelda nicht zuHause war, hat sich der Mann von dem Diener in ihreZimmer führen lassen und immer eine Kleinigkeit alsAndenken mitgenommen und immer etwas sehr Teue-res und Feines für Brunelda zurückgelassen und demDiener streng verboten zu sagen, von wem es ist.Aber einmal, als er etwas - wie der Diener sagte undich glaube es - geradezu Unbezahlbares aus Porzel-lan mitgebracht hatte, muß Brunelda es irgendwie er-kannt haben, hat es sofort auf den Boden geworfen,ist darauf herumgetreten, hat es angespuckt und nocheiniges andere damit gemacht, so daß es der Dienervor Ekel kaum hinaustragen konnte.«

»Was hat ihr denn der Mann getan?« fragte Karl.»Das weiß ich eigentlich nicht«, sagte Robinson.

»Ich glaube aber, nichts Besonderes, wenigstens weißer es selbst nicht. Ich habe ja schon manchmal mitihm darüber gesprochen. Er erwartet mich täglich dortan der Straßenecke, wenn ich komme, so muß ich ihmNeuigkeiten erzählen; kann ich nicht kommen, warteter eine halbe Stunde und geht dann wieder weg. Eswar für mich ein guter Nebenverdienst, denn er be-zahlte die Nachrichten sehr vornehm, aber seit Dela-marche davon erfahren hat, muß ich ihm alles

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abliefern, und so gehe ich seltener hin.«»Aber was will der Mann haben?« fragte Karl.

»Was will er denn haben? Er hört doch, sie will ihnnicht.«

»Ja«, seufzte Robinson, zündete sich eine Zigarettean und blies unter großen Armschwenkungen denRauch in die Höhe. Dann schien er sich anders zu ent-schließen und sagte: »Was kümmert das mich? Ichweiß nur, er würde viel Geld dafür geben, wenn er sohier auf dem Balkon liegen dürfte wie wir.«

Karl stand auf, lehnte sich ans Geländer und sahauf die Straße hinunter. Der Mond war schon sicht-bar, in die Tiefe der Gasse drang sein Licht aber nochnicht. Die am Tag so leere Gasse war, besonders vorden Haustoren, gedrängt voll von Menschen, allewaren in langsamer, schwerfälliger Bewegung, dieHemdärmel der Männer, die hellen Kleider der Frauenhoben sich schwach vom Dunkel ab, alle waren ohneKopfbedeckung. Die vielen Balkone ringsum warennun insgesamt besetzt, dort saßen beim Licht einerGlühlampe die Familien, je nach der Größe des Bal-kons, um einen kleinen Tisch herum oder bloß aufSesseln in einer Reihe oder sie steckten wenigstensdie Köpfe aus dem Zimmer hervor. Die Mütter saßenbreitbeinig da, die Füße zwischen den Geländerstan-gen hinausgestreckt, und lasen Zeitungen, die fast bisauf den Boden reichten, oder spielten Karten,

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scheinbar stumm, aber unter starken Schlägen auf dieTische, die Frauen hatten den Schoß voll Näharbeitund erübrigten nur hie und da einen kurzen Blick fürihre Umgebung oder für die Straße. Eine blonde,schwache Frau auf dem benachbarten Balkon gähnteimmerfort, verdrehte dabei die Augen und hob immervor den Mund ein Wäschestück, das sie gerade flick-te; selbst auf den kleinsten Balkonen verstanden esdie Kinder, einander zu jagen, was den Eltern sehr lä-stig fiel. Im Inneren vieler Zimmer waren Grammo-phone aufgestellt und bliesen Gesang oder Orchestral-musik hervor, man kümmerte sich nicht besonders umdiese Musik, nur hie und da gab der Familienvatereinen Wink, und irgend jemand eilte ins Zimmer hin-ein, um eine neue Platte einzulegen. An manchen Fen-stern sah man vollständig bewegungslose Liebespaa-re, an einem Fenster Karl gegenüber stand ein solchesPaar aufrecht, der junge Mann hatte seinen Arm umdas Mädchen gelegt und drückte mit der Hand ihreBrust.

»Kennst du jemanden von den Leuten hier neben-an?« fragte Karl Robinson, der nun auch aufgestan-den war, und, weil es ihn fröstelte, außer der Bett-decke auch noch die Decke Bruneldas um sich ge-wickelt hielt.

»Fast niemanden, das ist ja eben das Schlimme anmeiner Stellung«, sagte Robinson und zog Karl näher

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zu sich, um ihm ins Ohr flüstern zu können, »sonsthätte ich mich augenblicklich nicht gerade zu bekla-gen. Die Brunelda hat ja Delamarches wegen alles,was sie hatte, verkauft und ist mit all ihren Reichtü-mern hierher in diese Vorstadtwohnung gezogen,damit sie sich ihm ganz widmen kann und damit sieniemand stört, übrigens war das auch der WunschDelamarches.« »Und die Dienerschaft hat sie entlas-sen?« fragte Karl.

»Ganz richtig«, sagte Robinson. »Wo sollte manauch die Dienerschaft hier unterbringen, Diese Dienersind ja sehr anspruchsvolle Herren. Einmal hat Dela-marche bei der Brunelda einen solchen Diener einfachmit Ohrfeigen aus dem Zimmer getrieben, da ist einenach der andern geflogen, bis der Mann draußen war.Natürlich haben die anderen Diener sich mit ihm ver-einigt und vor der Tür Lärm gemacht, da ist Delamar-che herausgekommen (ich war damals nicht Diener,sondern Hausfreund, aber doch war ich mit den Die-nern beisammen) und hat gefragt: ›Was wollt ihr?‹Der älteste Diener, ein gewisser Isidor, hat daraufhingesagt: ›Sie haben mit uns nichts zu reden, unsereHerrin ist die gnädige Frau.‹ Wie du wahrscheinlichmerkst, haben sie Brunelda sehr verehrt. Aber Brunel-da ist, ohne sich um sie zu kümmern, zu Delamarchegelaufen, sie war damals doch noch nicht so schwerwie jetzt, hat ihn vor allen umarmt, geküßt und

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›Liebster Delamarche‹ genannt. ›Und schick dochschon diese Affen weg‹, hat sie endlich gesagt. Affen- das sollten die Diener sein; stell dir die Gesichtervor, die sie da machten. Dann hat die Brunelda dieHand Delamarches zu ihrer Geldtasche hingezogen,die sie am Gürtel trug, Delamarche hat hineingegrif-fen und also angefangen, die Diener auszuzahlen; dieBrunelda hat sich nur dadurch an der Auszahlung be-teiligt, daß sie mit der offenen Geldtasche im Gürteldabei gestanden ist. Delamarche mußte oft hineingrei-fen, denn er verteilte das Geld, ohne zu zählen undohne die Forderungen zu prüfen. Schließlich sagte er:›Da ihr also mit mir nicht reden wollt, sage ich euchnur im Namen Bruneldas: Packt euch, aber sofort.‹ Sosind sie entlassen worden, es gab dann noch einigeProzesse, Delamarche mußte sogar einmal zu Gericht,aber davon weiß ich nichts Genaueres. Nur gleichnach dem Abschied der Diener hat Delamarche zuBrunelda gesagt: ›Jetzt hast du also keine Diener-schaft?‹ Sie hat gesagt: ›Aber da ist ja Robinson.‹Daraufhin hat Delamarche gesagt und hat mir dabeieinen Schlag auf die Achsel gegeben: ›Also gut, duwirst unser Diener sein.‹ Und Brunelda hat mir dannauf die Wange geklopft. Wenn sich die Gelegenheitfindet, Roßmann, laß dir auch einmal von ihr auf dieWange klopfen. Du wirst staunen, wie schön das ist.«

»Du bist also Delamarches Diener geworden?«

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sagte Karl zusammenfassend.Robinson hörte das Bedauern aus der Frage heraus

und antwortete: »Ich bin Diener, aber das bemerkennur wenige Leute. Du siehst, du selbst wußtest esnicht, obwohl du doch schon ein Weilchen bei unsbist. Du hast ja gesehen, wie ich in der Nacht bei euchim Hotel angezogen war. Das Feinste vom Feinenhatte ich an. Gehen Diener so angezogen? Nur isteben die Sache die, daß ich nicht oft weggehen darf,ich muß immer bei der Hand sein, in der Wirtschaftist eben immer etwas zu tun. Eine Person ist eben zuwenig für die viele Arbeit. Wie du vielleicht bemerkthast, haben wir sehr viele Sachen im Zimmer herum-stehen; was wir eben bei dem großen Auszug nichtverkaufen konnten, haben wir mitgenommen. Natür-lich hätte man es wegschenken können, aber Bruneldaschenkt nichts weg. Denk dir nur, welche Arbeit esgegeben hat, diese Sachen die Treppe heraufzutra-gen.« »Robinson, du hast das alles heraufgetragen?«rief Karl.

»Wer denn sonst?« sagte Robinson. »Es war nochein Hilfsarbeiter da, ein faules Luder; ich habe diemeiste Arbeit allein machen müssen. Brunelda istunten beim Wagen gestanden, Delamarche hat obenangeordnet, wohin die Sachen zu legen sind, und ichbin immerfort hin und her gelaufen. Es hat zwei Tagegedauert, sehr lange, nicht wahr? Aber du weißt ja gar

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nicht, wieviel Sachen hier im Zimmer sind, alle Ka-sten sind voll und hinter den Kasten ist alles vollge-stopft bis zur Decke hinauf. Wenn man ein paar Leutefür den Transport aufgenommen hätte; wäre ja allesbald fertig gewesen, aber Brunelda wollte es nieman-dem außer mir anvertrauen. Das war ja sehr schön,aber ich habe damals meine Gesundheit für mein gan-zes Leben verdorben, und was habe ich denn sonstgehabt als meine Gesundheit? Wenn ich mich nur einwenig anstrenge, sticht es mich hier und hier und hier.Glaubst du, diese Jungen im Hotel, diese Grasfrö-sche - was sind sie denn sonst? - hätten mich jemalsbesiegen können, wenn ich gesund wäre? Aber wasmir auch fehlen sollte, dem Delamarche und der Bru-nelda sage ich kein Wort, ich werde arbeiten, solangees gehen wird, und wenn es nicht mehr gehen wird,werde ich mich hinlegen und sterben, und dann erst,zu spät, werden sie sehen, daß ich krank gewesen binund trotzdem immerfort und immerfort weitergearbei-tet und mich in ihren Diensten zu Tode gearbeitethabe. Ach Roßmann-«, sagte er schließlich und trock-nete die Augen an Karls Hemdärmel. Nach einemWeilchen sagte er: »Ist dir denn nicht kalt, du stehstda so im Hemd?«

»Geh, Robinson«, sagte Karl, »immerfort weinstdu. Ich glaube nicht, daß du so krank bist. Du siehstganz gesund aus, aber weil du immerfort da auf dem

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Balkon liegst, hast du dir so Verschiedenes ausge-dacht. Du hast vielleicht manchmal einen Stich in derBrust, das habe ich auch, das hat jeder. Wenn alleMenschen wegen jeder Kleinigkeit so weinen wolltenwie du, müßten die Leute auf allen Balkonen wei-nen.«

»Ich weiß es besser«, sagte Robinson und wischtenun die Augen mit dem Zipfel seiner Decke. »DerStudent, der nebenan bei der Vermieterin wohnt, dieauch für uns kochte, hat mir letzthin, als ich das Eß-geschirr zurückbrachte, gesagt: ›Hören Sie einmal,Robinson, sind Sie nicht krank?‹ Mir ist verboten, mitden Leuten zu reden, und so habe ich nur das Geschirrhingelegt und wollte weggehen. Da ist er zu mir ge-gangen und hat gesagt: ›Hören Sie, Mann, treiben Siedie Sache nicht zum Äußersten, Sie sind krank.‹ ›Jaalso, ich bitte, was soll ich denn machen,‹ habe ichgefragt. ›Das ist Ihre Sache‹, hat er gesagt und hatsich umgedreht. Die anderen dort bei Tisch haben ge-lacht, wir haben ja hier überall Feinde, und so bin ichlieber weggegangen.«

»Also Leuten, die dich zum Narrenhalten, glaubstdu, und Leuten, die es gut mit dir meinen, glaubst dunicht.«

»Aber ich muß doch wissen, wie mir ist«, fahr Ro-binson auf, kehrte aber gleich wieder zum Weinen zu-rück.

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»Du weißt eben nicht, was dir fehlt, du solltest ir-gendeine ordentliche Arbeit für dich suchen, statt hierDelamarches Diener zu machen. Denn soweit ichnach deinen Erzählungen und nach dem, was ichselbst gesehen habe, urteilen kann, ist das hier keinDienst, sondern eine Sklaverei. Das kann keinMensch ertragen, das glaube ich dir. Du aber denkst,weil du Delamarches Freund bist, darfst du ihn nichtverlassen. Das ist falsch; wenn er nicht einsieht, wasfür ein elendes Leben du führst, so hast du ihm gegen-über nicht die geringsten Verpflichtungen mehr.«

»Du glaubst also wirklich, Roßmann, daß ich michwieder erholen werde, wenn ich das Dienen hier auf-gebe?«

»Gewiß«, sagte Karl.»Gewiß?« fragte nochmals Robinson. »Ganz

gewiß«, sagte Karl lächelnd.»Dann könnte ich ja gleich anfangen, mich zu erho-

len«, sagte Robinson und sah Karl an.»Wieso denn?« fragte dieser.»Nun, weil du doch meine Arbeit hier übernehmen

sollst«, antwortete Robinson.»Wer hat dir denn das gesagt?« fragte Karl.»Das ist doch ein alter Plan. Davon wird ja schon

seit einigen Tagen gesprochen. Es hat damit angefan-gen, daß Brunelda mich ausgezankt hat, weil ich dieWohnung nicht sauber genug halte. Natürlich habe

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ich versprochen, daß ich alles gleich in Ordnung brin-gen werde. Nun, das ist aber sehr schwer. Ich kannzum Beispiel in meinem Zustand nicht überallhinkriechen, um den Staub wegzuwischen, man kannsich schon in der Mitte des Zimmers nicht rühren, wieerst dort zwischen den Möbeln und den Vorräten?Und wenn man alles genau reinigen will, muß mandoch auch die Möbel von ihrem Platz wegschieben,und das soll ich allein machen? Außerdem müßte dasalles ganz leise geschehen, weil doch Brunelda, die jadas Zimmer kaum verläßt, nicht gestört werden darf.Ich habe also zwar versprochen, daß ich alles rein ma-chen werde, aber rein gemacht habe ich es tatsächlichnicht. Als Brunelda das bemerkt hat, hat sie zu Dela-marche gesagt, daß das nicht so weitergeht und daßman noch eine Hilfskraft wird aufnehmen müssen.›Ich will nicht, Delamarche‹, hat sie gesagt, ›daß dumir einmal Vorwürfe machst, ich hätte die Wirtschaftnicht gut geführt. Selbst kann ich mich nicht anstren-gen, das siehst du doch ein, und Robinson genügtnicht; am Anfang war er so frisch und hat sich überallumgesehen, aber jetzt ist er immerfort müde und sitztmeist in einem Winkel. Aber ein Zimmer mit so vielGegenständen wie das unsrige hält sich nicht selbst inOrdnung.‹ Daraufhin hat Delamarche nachgedacht,was sich da tun ließe, denn eine beliebige Personkann man natürlich in einen solchen Haushalt nicht

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aufnehmen, auch zur Probe nicht, denn man paßt unsja von allen Seiten auf. Weil ich aber dein guterFreund bin und von Renell gehört habe, wie du dichim Hotel plagen mußt, habe ich dich in Vorschlag ge-bracht. Delamarche war gleich einverstanden, obwohldu dich damals gegen ihn so keck benommen hast,und ich habe mich natürlich sehr gefreut, daß ich dirso nützlich sein konnte. Für dich ist nämlich dieseStellung wie geschaffen, du bist jung, stark und ge-schickt, während ich nichts mehr wert bin. Nur willich dir sagen, daß du noch keineswegs aufgenommenbist; wenn du Brunelda nicht gefällst, können wirdich nicht brauchen. Also strenge dich nur an, daß duihr angenehm bist, für das übrige werde ich schonsorgen.«

»Und was wirst du machen, wenn ich hier Dienersein werde?« fragte Karl; er fühlte sich so frei, dererste Schrecken, den ihm die Mitteilungen Robinsonsverursacht hatten, war vorüber. Delamarche hatte alsokeine schlimmeren Absichten mit ihm, als ihn zumDiener zu machen - hätte er schlimmere Absichtengehabt, dann hätte sie der plapperhafte Robinsongewiß verraten -, wenn es aber so stand, dann getrau-te sich Karl, noch heute nacht den Abschied durchzu-führen. Man kann niemanden zwingen, einen Postenanzunehmen. Und während Karl früher Sorgen gehabthatte, ob er nach seiner Entlassung aus dem Hotel

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bald genug, um vor Hunger geschützt zu sein, einenpassenden und womöglich nicht unansehnlicheren Po-sten bekommen werde, schien ihm jetzt im Vergleichzu dem ihm hier zugedachten Posten, der ihm wider-lich war, jeder andere Posten gut genug, und selbstdie stellungslose Not hätte er diesem Posten vorgezo-gen. Robinson das aber begreiflich zu machen, ver-suchte er gar nicht, besonders da Robinson jetzt injedem Urteil durch die Hoffnung völlig befangen war,von Karl entlastet zu werden.

»Ich werde also«, sagte Robinson und begleitetedie Rede mit behaglichen Handbewegungen - die Ell-bogen hatte er auf das Geländer aufgestützt - »dir zu-nächst alles erklären und die Vorräte zeigen. Du bistgebildet und hast sicher auch eine schöne Schrift, dukönntest also gleich ein Verzeichnis all der Sachenmachen, die wir da haben. Das hat sich Bruneldaschon längst gewünscht. Wenn morgen vormittagschönes Wetter ist, werden wir Brunelda bitten, daßsie sich auf den Balkon setzt, und inzwischen werdenwir ruhig und ohne sie zu stören im Zimmer arbeitenkönnen. Denn darauf, Roßmann, mußt du vor allemachtgeben. Nur nicht Brunelda stören. Sie hört alles,wahrscheinlich hat sie als Sängerin so empfindlicheOhren. Du rollst zum Beispiel das Faß mit Schnaps,das hinter den Kasten steht, heraus, es macht Lärm,weil es schwer ist und dort überall verschiedene

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Sachen herumliegen, so daß man es nicht mit einemMale durchrollen kann. Brunelda liegt zum Beispielruhig auf dem Kanapee und fängt Fliegen, die sieüberhaupt sehr belästigen. Du glaubst also, sie küm-mert sich um dich nicht, und rollst dein Faß weiter.Sie liegt noch immer ruhig. Aber in einem Augen-blick, wo du es gar nicht erwartest und wo du am we-nigsten Lärm machst, setzt sie sich plötzlich aufrecht,schlägt mit beiden Händen auf das Kanapee, daß mansie vor Staub nicht sieht - seit wir hier sind, habe ichdas Kanapee nicht ausgeklopft; ich kann ja nicht, sieliegt doch immerfort darauf - und fängt schrecklichzu schreien an, wie ein Mann, und schreit so stunden-lang. Das Singen haben ihr die Nachbarn verboten,das Schreien aber kann ihr niemand verbieten, siemuß schreien, übrigens geschieht es ja jetzt nur sel-ten, ich und Delamarche sind sehr vorsichtig gewor-den. Es hat ihr ja auch sehr geschadet. Einmal ist sieohnmächtig geworden, und ich habe - Delamarchewar gerade weg - den Studenten von nebenan holenmüssen, der hat sie aus einer großen Flasche mit Flüs-sigkeit bespritzt, es hat auch geholfen, aber dieseFlüssigkeit hat einen unerträglichen Geruch gehabt,noch jetzt, wenn man die Nase zum Kanapee hält,riecht man es. Der Student ist sicher unser Feind, wiealle hier, du mußt dich auch vor allen in acht nehmenund dich mit keinem einlassen.«

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»Du, Robinson«, sagte Karl, »das ist aber einschwerer Dienst. Da hast du mich für einen schönenPosten empfohlen.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Robinson undschüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf, um allemöglichen Sorgen Karls abzuwehren. »Der Posten hatauch Vorteile, wie sie dir kein anderer Posten bietenkann. Du bist immerfort in der Nähe einer Dame wieBrunelda, du schläfst manchmal mit ihr im gleichenZimmer, das bringt schon, wie du dir denken kannst,verschiedene Annehmlichkeiten mit sich. Du wirstreichlich bezahlt werden, Geld ist in Menge da, ichhabe als Freund Delamarches nichts bekommen; nurwenn ich ausgegangen bin, hat mir Brunelda immeretwas mitgegeben, aber du wirst natürlich bezahltwerden wie ein anderer Diener. Du bist ja auch nichtsanderes. Das Wichtigste für dich aber ist, daß ich dirden Posten sehr erleichtern werde. Zunächst werde ichnatürlich nichts machen, damit ich mich erhole, aberwie ich nur ein wenig erholt bin, kannst du auf michrechnen. Die eigentliche Bedienung Bruneldas behalteich überhaupt für mich, also das Frisieren und Anzie-hen, soweit es nicht Delamarche besorgt. Du wirstdich nur um das Aufräumen des Zimmers, um Besor-gungen und die schwereren häuslichen Arbeiten zukümmern haben.«

»Nein, Robinson«, sagte Karl, »das alles verlockt

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mich nicht.«»Mach keine Dummheiten, Roßmann«, sagte Ro-

binson, ganz nahe an Karls Gesicht, »verscherze dirnicht diese schöne Gelegenheit. Wo bekommst dudenn gleich einen Posten? Wer kennt dich? Wenkennst du? Wir, zwei Männer, die schon viel erlebthaben und große Erfahrungen besitzen, sind wochen-lang herumgelaufen, ohne Arbeit zu bekommen. Es istnicht leicht, es ist sogar verzweifelt schwer.«

Karl nickte und wunderte sich, wie vernünftig Ro-binson sprechen konnte. Für ihn hatten diese Rat-schläge allerdings keine Geltung, er durfte hier nichtbleiben, in der großen Stadt würde sich wohl noch einPlätzchen für ihn finden, die ganze Nacht über, daswußte er, waren alle Gasthäuser überfüllt, manbrauchte Bedienung für die Gäste, darin hatte er nunschon Übung. Er würde sich schon rasch und unauf-fällig in irgendeinen Betrieb einfügen. Gerade im ge-genüberliegenden Hause war unten ein kleines Gast-haus untergebracht, aus dem eine rauschende Musikhervordrang. Der Haupteingang war nur mit einemgroßen gelben Vorhang verdeckt, der manchmal, voneinem Luftzug bewegt, mächtig in die Gasse hinaus-flatterte. Sonst war es in der Gasse freilich viel stillergeworden. Die meisten Balkone waren finster, nur inder Ferne fand sich noch hier oder dort ein einzelnesLicht, aber kaum faßte man es für ein Weilchen ins

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Auge, erhoben sich dort die Leute, und während sie indie Wohnung zurückdrängten, griff ein Mann an dieGlühlampe und drehte, als letzter auf dem Balkon zu-rückbleibend, nach einem kurzen Blick auf die Gassedas Licht aus.

›Nun beginnt ja schon die Nacht‹, sagte sich Karl,›bleibe ich noch länger hier, gehöre ich schon zuihnen.‹ Er drehte sich um, um den Vorhang vor derWohnungstür wegzuziehen. »Was willst du?« sagteRobinson und stellte sich zwischen Karl und den Vor-hang.

»Weg will ich«, sagte Karl. »Laß mich! Laßmich!«

»Du willst sie doch nicht stören«, rief Robinson,»was fällt dir denn nur ein!« Und er legte Karl dieArme um den Hals, hing sich mit seiner ganzen Lastan ihn, umklammerte mit den Beinen Karls Beine undzog ihn so im Augenblick auf die Erde nieder. AberKarl hatte unter den Liftjungen ein wenig raufen ge-lernt, und so stieß er Robinson die Faust unter dasKinn, aber schwach und voll Schonung. Der gab Karlnoch rasch und ganz rücksichtslos mit dem Knieeinen vollen Stoß in den Bauch, fang dann aber, beideHände am Kinn, so laut zu heulen an, daß von dembenachbarten Balkon ein Mann unter wildem Hände-klatschen »Ruhe!« befahl. Karl lag noch ein wenigstill, um den Schmerz, den ihm der Stoß Robinsons

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verursacht hatte, zu verwinden. Er wandte nur das Ge-sicht zum Vorhang hin, der ruhig und schwer vor demoffenbar dunklen Zimmer hing. Es schien ja niemandmehr im Zimmer zu sein, vielleicht war Delamarchemit Brunelda ausgegangen, und Karl hatte schon völ-lige Freiheit. Robinson, der sich wirklich wie einWächterhund benahm, war ja endgültig abgeschüttelt.

Da ertönten aus der Ferne von der Gasse her stoß-weise Trommeln und Trompeten. Einzelne Rufe vielerLeute sammelten sich bald zu einem allgemeinenSchreien. Karl drehte den Kopf und sah, wie sich alleBalkone von neuem belebten. Langsam erhob er sich,er konnte sich nicht ganz aufrichten und mußte sichschwer gegen das Geländer drücken. Unten auf demTrottoir marschierten junge Burschen mit großenSchritten, ausgestreckten Armen, die Mützen in dererhobenen Hand, die Gesichter zurückgewandt. DieFahrbahn blieb noch frei. Einzelne schwenkten aufhohen Stangen Lampions, die von einem gelblichenRauch umhüllt waren. Gerade traten die Trommlerund Trompeter in breiten Reihen ans Licht, und Karlstaunte über ihre Menge, da hörte er hinter sich Stim-men, drehte sich um und sah den Delamarche denschweren Vorhang heben und dann aus dem Zimmer-dunkel Brunelda treten, im roten Kleid, mit einemSpitzenüberwurf um die Schultern, einem dunklenHäußchen über dem wahrscheinlich unfrisierten und

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bloß aufgehäuften Haar, dessen Enden lose hie und dahervorsahen. In der Hand hielt sie einen kleinen aus-gespannten Fächer, bewegte ihn aber nicht, sonderndrückte ihn eng an sich.

Karl schob sich dem Geländer entlang zur Seite,um den beiden Platz zu machen. Gewiß würde ihnniemand zum Hierbleiben zwingen und, wenn es auchDelamarche versuchen wollte, Brunelda würde ihn aufseine Bitte sofort entlassen. Sie konnte ihn ja garnicht leiden, seine Augen erschreckten sie. Aber als ereinen Schritt zur Tür hin machte, hatte sie es doch be-merkt und sagte: »Wohin denn, Kleiner?« Karl stock-te vor den strengen Blicken Delamarches, und Brunel-da zog ihn zu sich. »Willst du dir denn nicht den Auf-zug unten ansehen?« sagte sie und schob ihn vor sichan das Geländer. »Weißt du, worum es sich handelt?«hörte Karl sie hinter sich sagen und machte ohne Er-folg eine unwillkürliche Bewegung, um sich ihremDruck zu entziehen. Traurig sah er auf die Gasse hin-unter, als sei dort der Grund seiner Traurigkeit.

Delamarche stand zuerst mit gekreuzten Armenhinter Brunelda, dann lief er ins Zimmer und brachteBrunelda den Operngucker. Unten war hinter den Mu-sikanten der Hauptteil des Aufzuges erschienen. Aufden Schultern eines riesenhaften Mannes saß ein Herr,von dem man in dieser Höhe nichts anderes sah alsseine matt schimmernde Glatze, über der er seinen

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Zylinderhut ständig grüßend hoch erhoben hielt.Rings um ihn wurden offenbar Holztafeln getragen,die, vom Balkon aus gesehen, ganz weiß erschienen;die Anordnung war derartig getroffen, daß diese Pla-kate von allen Seiten sich förmlich an den Herrn an-lehnten, der aus ihrer Mitte hoch hervorragte. Da allesim Gange war, lockerte sich diese Mauer von Plaka-ten immerfort und ordnete sich auch immerfort vonneuem.

Im weiteren Umkreis war um den Herrn die ganzeBreite der Gasse, wenn auch, soweit man im Dunkelschätzen konnte, auf eine unbedeutende Länge hin,von Anhängern des Herrn angefüllt, die sämtlich indie Hände klatschten und wahrscheinlich den Namendes Herrn, einen ganz kurzen, aber unverständlichenNamen, in einem getragenen Gesange verkündeten.Einzelne, die geschickt in der Menge verteilt waren,hatten Automobillaternen mit äußerst starkem Licht,das sie die Häuser auf beiden Seiten der Straße lang-sam auf- und abwärts führten. In Karls Höhe störtedas Licht nicht mehr, aber auf den unteren Ballkonensah man die Leute, die davon bestrichen wurden, ei-ligst die Hände an die Augen führen.

Delamarche erkundigte sich auf die Bitte Bruneldasbei den Leuten auf dem Nachbarbalkon, was die Ver-anstaltung zu bedeuten habe. Karl war ein wenig neu-gierig, ob und wie man ihm antworten würde. Und

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tatsächlich mußte Delamarche dreimal fragen, ohneeine Antwort zu bekommen. Er beugte sich schon ge-fährlich über das Geländer, Brunelda stampfte vorÄrger über die Nachbarn leicht auf, Karl fühlte ihreKnie. Endlich kam doch irgendeine Antwort, abergleichzeitig fingen auf diesem Balkon, der gedrängtvoll Menschen war, alle laut zu lachen an. Daraufhinschrie Delamarche etwas hinüber, so laut, daß, wennnicht augenblicklich in der ganzen Gasse viel Lärmgewesen wäre, alles ringsherum erstaunt hätte aufhor-chen müssen. Jedenfalls hatte es die Wirkung, daßdas Lachen unnatürlich bald sich legte.

»Es wird morgen ein Richter in unserem Bezirk ge-wählt und der, den sie unten tragen, ist ein Kandidat«,sagte Delamarche, vollkommen ruhig zu Brunelda zu-rückkehrend. »Nein!« rief er dann und klopfte liebko-send Brunelda auf den Rücken. »Wir wissen schongar nicht mehr, was in der Welt vorgeht.«

»Delamarche«, sagte Brunelda, auf das Benehmender Nachbarn zurückkommend, »wie gern wollte ichübersiedeln, wenn es nicht so anstrengend wäre. Ichdarf es mir aber leider nicht zumuten.« Und unter gro-ßen Seufzern, unruhig und zerstreut, nestelte sie anKarls Hemd, der möglichst unauffällig immer wiederdiese kleinen, fetten Händchen wegzuschieben suchte,was ihm auch leicht gelang, denn Brunelda dachtenicht an ihn, sie war mit ganz anderen Gedanken

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beschäftigt.Aber auch Karl vergaß bald Brunelda und duldete

die Last ihrer Arme auf seinen Achseln, denn die Vor-gänge auf der Straße nahmen ihn sehr in Anspruch.Auf Anordnung einer kleinen Gruppe gestikulierenderMänner, die knapp vor dem Kandidaten marschiertenund deren Unterhaltungen eine besondere Bedeutunghaben mußten, denn von allen Seiten sah man lau-schende Gesichter sich ihnen zuneigen, wurde uner-warteterweise vor dem Gasthaus haltgemacht. Einerdieser maßgebenden Männer machte mit erhobenerHand ein Zeichen, das sowohl der Menge als auchdem Kandidaten galt. Die Menge verstummte, und derKandidat, der sich auf den Schultern seines Trägersmehrmals aufzustellen suchte und mehrmals in denSitz zurückfiel, hielt eine kleine Rede, während wel-cher er seinen Zylinder in Windeseile hin- und herfah-ren ließ. Man sah das ganz deutlich, denn währendseiner Rede waren alle Automobillaternen auf ihn ge-richtet worden, so daß er in der Mitte eines hellenSternes sich befand.

Nun erkannte man aber auch schon das Interesse,welches die ganze Straße an der Angelegenheit nahm.Auf den Balkonen, die von Parteigängern des Kandi-daten besetzt waren, fiel man mit in das Singen seinesNamens ein und ließ die weit über das Geländer vor-gestreckten Hände maschinenmäßig klatschen. Auf

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den übrigen Balkonen, die sogar in der Mehrzahlwaren, erhob sich ein starker Gegengesang, der aller-dings keine einheitliche Wirkung hatte, da es sich umdie Anhänger verschiedener Kandidaten handelte. Da-gegen verbanden sich weiterhin alle Feinde des anwe-senden Kandidaten zu einem allgemeinen Pfeifen, undsogar Grammophone wurden vielfach wieder in Ganggesetzt. Zwischen den einzelnen Balkonen wurden po-litische Streitigkeiten mit einer durch die nächtlicheStunde verstärkten Erregung ausgetragen. Die meistenwaren schon in Nachtkleidern und hatten nur Über-röcke umgeworfen, die Frauen hüllten sich in große,dunkle Tücher, die unbeachteten Kinder kletterten be-ängstigend auf den Einfassungen der Balkone umherund kamen in immer größerer Zahl aus den dunklenZimmern, in denen sie schon geschlafen hatten, her-vor. Hie und da wurden einzelne unkenntliche Gegen-stände von besonders Erhitzten in der Richtung ihrerGegner geschleudert, manchmal gelangten sie an ihrZiel, meist aber fielen sie auf die Straße hinab, wo sieoft ein Wutgeheul hervorriefen. Wurde den führendenMännern unten der Lärm zu arg, so erhielten dieTrommler und Trompeter den Auftrag einzugreifen,und ihr schmetterndes, mit ganzer Kraft ausgeführtes,nicht endenwollendes Signal unterdrückte allemenschlichen Stimmen bis zu den Dächern der Häu-ser hinauf. Und immer, ganz plötzlich - man glaubte

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es kaum -, hörten sie auf, worauf die hierfür offenbareingeübte Menge auf der Straße in die für einen Au-genblick eingetretene allgemeine Stille ihren Parteige-sang emporbrüllte - man sah im Lichte der Automo-billaternen den Mund jedes einzelnen weit geöffnet -,bis dann die inzwischen zur Besinnung gekommenenGegner zehnmal so stark wie früher aus allen Balko-nen und Fenstern hervorschrien und die Partei untennach ihrem kurzen Sieg zu einem für diese Höhe we-nigstens gänzlichen Verstummen brachten.

»Wie gefällt es dir, Kleiner?« fragte Brunelda, diesich eng hinter Karl hin- und herdrehte, um mit demGucker möglichst alles zu übersehen. Karl antwortetenur durch Kopfnicken. Nebenbei bemerkte er, wieRobinson dem Delamarche eifrig verschiedene Mittei-lungen offenbar über Karls Verhalten machte, denenaber Delamarche keine Bedeutung beizumessenschien, denn er suchte Robinson mit der Linken, mitder Rechten hatte er Brunelda umfaßt, immerfort bei-seite zu schieben. »Willst du nicht durch den Guckerschauen?« fragte Brunelda und klopfte auf KarlsBrust, um zu zeigen, daß sie ihn meine.

»Ich sehe genug«, sagte Karl.»Versuch es doch«, sagte sie »du wirst besser

sehen.«»Ich habe gute Augen«, antwortete Karl »ich sehe

alles.« Er empfand es nicht als Liebenswürdigkeit,

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sondern als Störung, als sie den Gucker seinen Augennäherte, und tatsächlich sagte sie nun nichts als daseine Wort »Du!«, melodisch, aber drohend. Undschon hatte Karl den Gucker an seinen Augen und sahnun tatsächlich nichts.

»Ich sehe ja nichts«, sagte er und wollte denGucker loswerden, aber den Gucker hielt sie fest, undden auf ihrer Brust eingebetteten Kopf konnte erweder zurück noch seitwärts schieben.

»Jetzt siehst du aber schon«, sagte sie und drehtean der Schraube des Guckers.

»Nein, ich sehe noch immer nichts«, sagte Karl unddachte daran, daß er Robinson ohne seinen Willennun tatsächlich entlastet habe, denn Bruneldas uner-trägliche Launen wurden nun an ihm ausgelassen.

»Wann wirst du denn endlich sehen?« sagte sie unddrehte - Karl hatte nun sein ganzes Gesicht in ihremschweren Atem - weiter an der Schraube. »Jetzt?«fragte sie.

»Nein, nein, nein!« rief Karl, obwohl er nun tat-sächlich, wenn auch nur sehr undeutlich, alles unter-scheiden konnte. Aber gerade hatte Brunelda irgendetwas mit Delamarche zu tun, sie hielt den Gucker nurlose vor Karls Gesicht, und Karl konnte, ohne daß siees besonders beachtete, unter dem Gucker hinweg aufdie Straße sehen. Später bestand sie auch nicht mehrauf ihrem Willen und benützte den Gucker für sich.

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Aus dem Gastbaus unten war ein Kellner getreten,und aus der Türschwelle hin und her eilend, nahm erdie Bestellungen der Führer entgegen. Man sah, wieer sich streckte, um das Innere des Lokals zu überse-hen und möglichst viel Bedienung herbeizurufen.Während dieser offenbar einem großen Freitrinkendienenden Vorbereitungen ließ der Kandidat nichtvom Reden ab. Sein Träger, der riesige, nur ihm die-nende Mann, machte immer nach einigen Sätzen einekleine Drehung, um die Rede allen Teilen der Mengezukommen zu lassen. Der Kandidat hielt sich meistganz zusammengekrümmt und versuchte mit ruckwei-sen Bewegungen der einen freien Hand und des Zylin-ders in der anderen seinen Worten möglichste Ein-dringlichkeit zu geben. Manchmal aber, in fast regel-mäßigen Zwischenräumen, durchfuhr es ihn, er erhobsich mit ausgebreiteten Armen, er redete nicht mehreine Gruppe, sondern die Gesamtheit an, er sprach zuden Bewohnern der Häuser bis zu den höchstenStockwerken hinauf, und doch war es vollkommenklar, daß ihn schon in den untersten Stockwerken nie-mand hören konnte; ja, daß ihm auch, wenn die Mög-lichkeit gewesen wäre, niemand hätte zuhören wollen,denn jedes Fenster und jeder Balkon war doch zumin-dest von einem schreienden Redner besetzt. Inzwi-schen brachten einige Kellner aus dem Gasthaus einmit gefüllten leuchtenden Gläsern besetztes Brett, im

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Umfang eines Billards, hervor. Die Führer organisier-ten die Verteilung, die in Form eines Vorbeimarschesan der Gasthaustür erfolgte. Aber obwohl die Gläserauf dem Brett immer wieder nachgehüllt wurden, ge-nügten sie für die Menge nicht, und zwei Reihen vonSchankburschen mußten rechts und links vom Brettdurchschlüpfen und die Menge weiterhin versorgen.Der Kandidat hatte natürlich mit dem Reden aufge-hört und benützte die Pause, um sich neu zu kräftigen.Abseits von der Menge und dem grellen Licht trug ihnsein Träger langsam hin und her, und nur einige sei-ner nächsten Anhänger begleiteten ihn dort und spra-chen zu ihm hinauf.

»Sieh mal den Kleinen«, sagte Brunelda, »er ver-gißt vor lauter Schauen, wo er ist.« Und sie über-raschte Karl und drehte mit beiden Händen sein Ge-sicht sich zu, so daß sie ihm in die Augen sah. Esdauerte aber nur einen Augenblick, denn Karl schüt-telte gleich ihre Hände ab, und ärgerlich darüber, daßman ihn nicht ein Weilchen in Ruhe ließ, und gleich-zeitig voll Lust, auf die Straße zu gehen und alles vonder Nähe anzusehen, suchte er sich nun mit aller Kraftvom Druck Bruneldas zu befreien und sagte: »Bitte,lassen Sie mich weg.«

»Du wirst bei uns bleiben«, sagte Delamarche,ohne den Blick von der Straße zu wenden, und streck-te nur eine Hand aus, um Karl am Weggehen zu

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verhindern.»Laß nur«, sagte Brunelda und wehrte die Hand

des Delamarche ab, »er bleibt ja schon.« Und siedrückte Karl noch fester ans Geländer, er hätte mit ihrraufen müssen, um sich von ihr zu befreien. Undwenn ihm das auch gelungen wäre, was hätte er damiterreicht! Links von ihm stand Delamarche, rechtshatte sich nun Robinson aufgestellt, er war in einerregelrechten Gefangenschaft.

»Sei froh, daß man dich nicht hinauswirft«, sagteRobinson und beklopfte Karl mit der Hand, die erunter Bruneldas Arm durchgezogen hatte.

»Hinauswirft?« sagte Delamarche. »Einen entlaufe-nen Dieb wirft man nicht hinaus, den übergibt mander Polizei. Und das kann ihm gleich morgen früh ge-schehen, wenn er nicht ganz ruhig ist.«

Von diesem Augenblick an hatte Karl an demSchauspiel unten keine Freude mehr. Nur gezwungen,weil er Bruneldas wegen sich nicht aufrichten konnte,beugte er sich ein wenig über das Geländer. Voll ei-gener Sorgen, mit zerstreuten Blicken sah er die Leuteunten an, die in Gruppen von etwa zwanzig Mann vordie Gasthaustüre traten, die Gläser ergriffen, sich um-drehten und diese Gläser in der Richtung gegen denjetzt mit sich beschäftigten Kandidaten schwenkten,einen Parteigruß ausriefen, die Gläser leerten und sie,jedenfalls dröhnend, in dieser Höhe aber unhörbar,

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auf das Brett wieder niedersetzten, um einer neuen,vor Ungeduld lärmenden Gruppe Platz zu machen.Über Auftrag der Führer war die Kapelle, die bisherim Gastbaus gespielt hatte, auf die Gasse getreten,ihre großen Blasinstrumente strahlten aus der dunklenMenge, aber ihr Spiel verging fast im allgemeinenLärm. Die Straße war nun, wenigstens auf der Seite,wo sich das Gasthaus befand, weithin mit Menschenangefüllt. Von oben, woher Karl am Morgen im Au-tomobil gekommen war, strömten sie herab, vonunten, von der Brücke her, liefen sie herauf, undselbst die Leute in den Häusern hatten der Verlockungnicht widerstehen können, in diese Angelegenheit miteigenen Händen einzugreifen, auf den Balkonen undin den Fenstern waren fast nur Frauen und Kinder zu-rückgeblieben, während die Männer unten aus denHaustoren drängten. Nun aber hatte die Musik unddie Bewirtung den Zweck erreicht, die Versammlungwar genügend groß, ein von zwei Automobillaternenflankierter Führer winkte der Musik ab, stieß einenstarken Pfiff aus, und nun sah man den ein wenig ab-geirrten Träger mit dem Kandidaten durch einen vonAnhängern gebahnten Weg eiligst herbeikommen.

Kaum war er bei der Gasthaustüre, begann derKandidat im Schein der nun im engen Kreis um ihngehaltenen Automobillaternen seine neue Rede. Abernun war alles viel schwieriger als früher, der Träger

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hatte nicht die geringste Bewegungsfreiheit mehr, dasGedränge war zu groß. Die nächsten Anhänger, diefrüher mit allen möglichen Mitteln die Wirkung derReden des Kandidaten zu verstärken versucht hatten,hatten nun Mühe, sich in seiner Nähe zu erhalten,wohl zwanzig hielten sich mit aller Anstrengung amTräger fest. Aber selbst dieser starke Mann konntekeinen Schritt nach seinem Willen mehr machen, aneine Einflußnahme auf die Menge durch bestimmteWendungen oder durch passendes Vorrücken oderZurückweichen war nicht mehr zu denken. Die Mengeflutete ohne Plan, einer lag am anderen, keiner standmehr aufrecht, die Gegner schienen sich durch neuesPublikum sehr vermehrt zu haben, der Träger hattesich lange in der Nähe der Gasthaustüre gehalten, nunaber ließ er sich, scheinbar ohne Widerstand, dieGasse auf- und abwärts treiben, der Kandidat redeteimmerfort, aber es war nicht mehr ganz klar, ob ersein Programm auseinanderlegte oder um Hilfe rief;wenn nicht alles täuschte, hatte sich auch ein Gegen-kandidat eingefunden, oder gar mehrere, denn hie undda sah man in irgendeinem plötzlich aufflammendenLicht einen von der Menge emporgehobenen Mannmit bleichem Gesicht und geballten Fäusten eine vonvielstimmigen Rufen begrüßte Rede halten.

»Was geschieht denn da?« fragte Karl und wandtesich in atemloser Verwirrung an seine Wächter.

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»Wie es den Kleinen aufregt«, sagte Brunelda zuDelamarche und faßte Karl am Kinn, um seinen Kopfan sich zu ziehen. Aber das hatte Karl nicht wollenund er schüttelte sich, durch die Vorgänge auf derStraße förmlich rücksichtslos gemacht, so stark, daßBrunelda ihn nicht nur losließ, sondern zurückwichund ihn gänzlich freigab. »Jetzt hast du genug gese-hen«, sagte sie, offenbar durch Karls Benehmen bösegemacht, »geh ins Zimmer, bette auf und bereite allesfür die Nacht vor.« Sie streckte die Hand nach demZimmer aus. Das war ja die Richtung, die Karl schonseit einigen Stunden nehmen wollte, er widersprachmit keinem Wort. Da hörte man von der Gasse herdas Krachen von viel zersplitterndem Glas. Karlkonnte sich nicht bezwingen und sprang noch raschzum Geländer, um flüchtig noch einmal hinunterzu-schauen. Ein Anschlag der Gegner, und vielleicht einentscheidender, war geglückt, die Automobillaternender Anhänger, die mit ihrem starken Licht wenigstensdie Hauptvorgänge vor der gesamten Öffentlichkeitgeschehen ließen und dadurch alles in gewissen Gren-zen gehalten hatten, waren sämtlich und gleichzeitigzerschmettert worden, den Kandidaten und seinenTräger umfing nun die gemeinsame unsichere Be-leuchtung, die in ihrer plötzlichen Ausschreitung wievöllige Finsternis wirkte. Auch nicht beiläufig hätteman jetzt angeben können, wo sich der Kandidat

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befand, und das Täuschende des Dunkels wurde nochvermehrt durch einen gerade einsetzenden, breiten,einheitlichen Gesang, der von unten, von der Brückeher sich näherte.

»Habe ich dir nicht gesagt, was du jetzt zu tunhast!« sagte Brunelda. »Beeile dich. Ich bin müde«,fügte sie hinzu und streckte dann die Arme in dieHöhe, so daß sich ihre Brust noch viel mehr wollteals gewöhnlich. Delamarche, der sie noch immer um-faßt hielt, zog sie mit sich in eine Ecke des Balkons.Robinson ging ihnen nach, um die Überbleibsel sei-nes Essens, die noch dort lagen, beiseite zu schieben.

Diese günstige Gelegenheit mußte Karl ausnützen,jetzt war keine Zeit hinunterzuschauen, von den Vor-gängen auf der Straße würde er unten noch genugsehen, und mehr als von hier oben. In zwei Sprüngeneilte er durch das rötlich beleuchtete Zimmer, aber dieTür war verschlossen und der Schlüssel abgezogen.Der mußte jetzt gefunden werden, aber wer wollte indieser Unordnung einen Schlüssel finden und gar inder kurzen, kostbaren Zeit, die Karl zur Verfügungstand! Jetzt hätte er schon eigentlich auf der Treppesein, hätte laufen und laufen sollen. Und nun suchte erden Schlüssel! Suchte ihn in allen zugänglichenSchubladen, stöberte auf dem Tisch herum, wo ver-schiedenes Eßgeschirr, Servietten und irgendeine an-gefangene Stickerei herumlagen, wurde durch einen

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Lehnstuhl angelockt, auf dem ein ganz verfilzter Hau-fen alter Kleidungsstücke sich befand, in denen derSchlüssel sich möglicherweise befinden, aber niemalsaufgebunden werden konnte, und warf sich schließlichauf das tatsächlich übelriechende Kanapee, um inallen Ecken und Falten nach dem Schlüssel zu tasten.Dann ließ er vom Suchen ab und stockte in der Mittedes Zimmers. Gewiß hatte Brunelda den Schlüssel anihrem Gürtel befestigt, sagte er sich, dort hingen ja soviele Sachen, alles Suchen war umsonst.

Und blindlings ergriff Karl zwei Messer und bohrtesie zwischen die Türflügel, eines oben, eines unten,um zwei voneinander entfernte Angriffspunkte zu er-halten. Kaum hatte er an den Messern gezogen, bra-chen natürlich die Klingen entzwei. Er hatte nichtsanderes wollen, die Stümpfe, die er nun fester einboh-ren konnte, würden desto besser halten. Und nun zoger mit aller Kraft, die Arme weit ausgebreitet, dieBeine weit auseinander gestemmt, stöhnend und dabeigenau auf die Tür aufpassend. Sie würde nicht auf dieDauer widerstehen können, das erkannte er mit Freu-den aus dem deutlich hörbaren Sichlockern der Rie-gel, je langsamer es aber ging, desto richtiger war es,aufspringen durfte ja das Schloß gar nicht, sonstwürde man ja auf dem Balkon aufmerksam werden,das Schloß mußte sich vielmehr ganz langsam von-einander lösen, und darauf arbeitete Karl mit größter

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Vorsicht hin, die Augen immer mehr dem Schlossenähernd.

»Seht einmal«, hörte er da die Stimme des Dela-marche.

Alle drei standen im Zimmer, der Vorhang war hin-ter ihnen schon zugezogen, Karl mußte ihr Kommenüberhört haben, die Hände sanken ihm bei dem An-blick von den Messern herab. Aber er hatte gar nichtZeit, irgendein Wort zur Erklärung oder Entschuldi-gung zu sagen, denn in einem weit über die augen-blickliche Gelegenheit hinausgehenden Wutanfallsprang Delamarche - sein gelöstes Schlafrockseil be-schrieb eine große Figur in der Luft - auf Karl los.Karl wich noch im letzten Augenblick dem Angriffaus, er hätte die Messer aus der Tür ziehen und zurVerteidigung benützen können, aber das tat er nicht,dagegen griff er, sich bückend und aufspringend, nachdem breiten Schlafrockkragen des Delamarche, schlugihn in die Höhe, zog ihn dann noch weiter hinauf -der Schlafrock war ja für Delamarche viel zu groß -und hielt nun glücklich den Delamarche beim Kopf,der, allzusehr überrascht, zuerst blind mit den Händenfuchtelte und erst nach einem Weilchen, aber nochnicht mit ganzer Wirkung mit den Fäusten auf KarlsRücken schlug, der sich, um sein Gesicht zu schützen,an die Brust des Delamarche geworfen hatte. DieFaustschläge ertrug Karl, wenn er sich auch vor

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Schmerzen wand und wenn auch die Schläge immerstärker wurden, aber wie hätte er das nicht ertragensollen, vor sich sah er ja den Sieg. Die Hände amKopf des Delamarche, die Daumen wohl gerade überseinen Augen, führte er ihn vor sich her gegen dasärgste Möbeldurcheinander und versuchte überdies,mit den Fußspitzen das Schlafrockseil um die Füßedes Delamarche zu schlingen und ihn auch so zu Fallzu bringen.

Da er sich aber ganz und gar mit Delamarche be-schäftigen mußte, zumal er dessen Widerstand immermehr wachsen füllte und immer sehniger dieser feind-liche Körper sich ihm entgegenstemmte, vergaß er tat-sächlich, daß er nicht mit Delamarche allein war.Aber nur allzubald wurde er daran erinnert, dennplötzlich versagten seine Füße, die Robinson, der sichhinter ihm auf den Boden geworfen hatte, schreiendauseinander preßte. Seufzend ließ Karl von Delamar-che ab, der noch einen Schritt zurückwich. Bruneldastand mit weit auseinander gestellten Beinen und ge-beugten Knien in ihrer ganzen Breite in der Zimmer-mitte und verfolgte die Vorgänge mit leuchtendenAugen. Als beteilige sie sich tatsächlich an demKampf, atmete sie tief, visierte mit den Augen undließ ihre Fäuste langsam vorrücken. Delamarcheschlug seinen Kragen nieder, hatte nun wieder freienBlick, und nun gab es natürlich keinen Kampf mehr,

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sondern bloß eine Bestrafung. Er faßte Karl vornbeim Hemd, hob ihn fast vom Boden und schleuderteihn, vor Verachtung sah er ihn gar nicht an, so gewal-tig gegen einen ein paar Schritte entfernten Schrank,daß Karl im ersten Augenblick meinte, die stechendenSchmerzen im Rücken und am Kopf, die ihm das Auf-schlagen am Kasten verursachte, stammten unmittel-bar von der Hand des Delamarche. »Du Halunke!«hörte er den Delamarche in dem Dunkel, das vor sei-nen zitternden Augen entstand, noch laut ausrufen.Und in der ersten Erschöpfung, in der er vor dem Ka-sten zusammensank, klangen ihm die Worte »Wartenur!« noch schwach in den Ohren nach.

Als er zur Besinnung kam, war es um ihn ganz fin-ster, es mochte noch spät in der Nacht sein, vom Bal-kon her drang unter dem Vorhang ein leichter Schim-mer des Mondlichts in das Zimmer. Man hörte die ru-higen Atemzüge der drei Schläfer, die bei weitem lau-testen stammten von Brunelda, sie schnaufte imSchlaf, wie sie es bisweilen beim Reden tat; es waraber nicht leicht festzustellen, in welcher Richtung dieeinzelnen Schläfer sich befanden, das ganze Zimmerwar von dem Rauschen ihres Atems voll. Erst nach-dem er seine Umgebung ein wenig geprüft hatte,dachte Karl an sich, und da erschrak er sehr, dennwenn er sich auch ganz krumm und steif von Schmer-zen fühlte, so hatte er doch nicht daran gedacht, daß

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er eine schwere blutige Verletzung erlitten habenkönnte. Nun aber hatte er eine Last auf dem Kopf,und das ganze Gesicht, der Hals, die Brust unter demHemd waren feucht wie von Blut. Er mußte an'sLicht, um seinen Zustand genau festzustellen, viel-leicht hatte man ihn zum Krüppel geschlagen, dannwürde ihn Delamarche wohl gerne entlassen, aber wassollte er dann anfangen, dann gab es wirklich keineAussichten mehr für ihn. Der Bursche mit der zerfres-senen Nase im Torweg fiel ihm ein, und er legte einenAugenblick lang das Gesicht in seine Hände.

Unwillkürlich wandte er sich dann der Tür zu undtastete sich auf allen vieren hin. Bald erfühlte er mitden Fingerspitzen einen Stiefel und weiterhin einBein. Das war Robinson, wer schlief sonst in Stie-feln? Man hatte ihm befohlen, sich quer vor die Türzu legen, um Karl an der Flucht zu hindern. Aberkannte man denn Karls Zustand nicht? Vorläufigwollte er gar nicht entfliehen, er wollte nur ans Lichtkommen. Konnte er also nicht zur Tür hinaus, somußte er auf den Balkon.

Den Eßtisch fand er an einer offenbar ganz anderenStelle als am Abend, das Kanapee, dem sich Karl na-türlich sehr vorsichtig näherte, war überraschender-weise leer, dagegen stieß er in der Zimmermitte aufhochgeschichtete, wenn auch stark gepreßte Kleider,Decken, Vorhänge, Polster und Teppiche. Zuerst

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dachte er, es sei nur ein kleiner Haufen, ähnlich dem,den er am Abend auf dem Sofa gefunden hatte und deretwa auf die Erde gerollt war, aber zu seinem Staunenbemerkte er beim Weiterkriechen, daß da eine ganzeWagenladung solcher Sachen lag, die man wahr-scheinlich für die Nacht aus den Kasten herausgenom-men hatte, wo sie während des Tages aufbewahrt wur-den. Er umkroch den Haufen und erkannte bald, daßdas Ganze eine Art Bettlager darstellte, auf dem hochoben, wie er sich durch vorsichtiges Tasten überzeug-te, Delamarche und Brunelda ruhten.

Jetzt wußte er also, wo alle schliefen, und beeiltesich nun, auf den Balkon zu kommen. Es war eineganz andere Welt, in der er sich nun, außerhalb desVorhangs, schnell erhob. In der frischen Nachtluft, imvollen Schein des Mondes ging er einigemal auf demBalkon auf und ab. Er sah auf die Straße, sie warganz still, aus dem Gasthaus klang noch die Musik,aber nur gedämpft, hervor, vor der Tür kehrte einMann das Trottoir, in der Gasse, in der am Abend in-nerhalb des wüsten allgemeinen Lärms das Schreieneines Wahlkandidaten von tausend anderen Stimmennicht hatte unterschieden werden können, hörte mannun deutlich das Kratzen des Besens auf dem Pflaster.

Das Rücken eines Tisches auf dem Nachbarbalkonmachte Karl aufmerksam, dort saß ja jemand und stu-dierte. Es war ein junger Mann mit einem kleinen

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Spitzbart, an dem er beim Lesen, das er mit raschenLippenbewegungen begleitete, ständig drehte. Er saß,das Gesicht Karl zugewendet, an einem kleinen, mitBüchern bedeckten Tisch, die Glühlampe hatte er vonder Mauer abgenommen, zwischen zwei große Büchergeklemmt, und war nun von ihrem grellen Licht ganzüberleuchtet.

»Guten Abend«, sagte Karl, da er bemerkt zuhaben glaubte, daß der junge Mann zu ihm herüberge-schaut hätte.

Aber das mußte wohl ein Irrtum gewesen sein,denn der junge Mann schien ihn überhaupt noch nichtbemerkt zu haben, legte die Hand über die Augen, umdas Licht abzublenden und festzustellen, wer daplötzlich grüßte, und hob dann, da er noch immernichts sah, die Glühlampe hoch, um mit ihr auch denNachbarbalkon ein wenig zu beleuchten.

»Guten Abend«, sagte dann auch er, blickte einenAugenblick lang scharf hinüber, und fügte dannhinzu: »Und was Weiter?«

»Ich störe Sie?« fragte Karl.»Gewiß, gewiß«, sagte der Mann und brachte die

Glühlampe wieder an ihren früheren Ort.Mit diesen Worten war allerdings jede Anknüpfung

abgelehnt, aber Karl verließ trotzdem die Balkonecke,in der er dem Manne am nächsten war, nicht. Stummsah er zu, wie der Mann in seinem Buche las, die

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Blätter wendete, hie und da in einem anderen Buchedas er immer mit Blitzesschnelle ergriff, irgend etwasnachschlug und öfters Notizen in ein Heft eintrug,wobei er immer überraschend tief das Gesicht zu demHefte senkte.

Ob dieser Mann vielleicht ein Student war? Es sahganz so aus, als ob er studierte. Nicht viel anders -jetzt war es schon lange her - war Karl zu Hause amTisch der Eltern gesessen und hatte seine Aufgabengeschrieben, während der Vater die Zeitung las oderBucheintragungen und Korrespondenzen für einenVerein erledigte und die Mutter mit einer Näharbeitbeschäftigt war und hoch den Faden aus dem Stoffezog. Um den Vater nicht zu belästigen, hatte Karl nurdas Heft und das Schreibzeug auf den Tisch gelegt,während er die nötigen Bücher rechts und links vonsich auf Sesseln angeordnet hatte. Wie still war esdort gewesen! Wie selten waren fremde Leute in jenesZimmer gekommen! Schon als kleines Kind hatteKarl immer gerne zugesehen, wenn die Mutter gegenAbend die Wohnungstür mit dem Schlüssel absperrte.Sie hatte keine Ahnung davon, daß es jetzt mit Karlso weit gekommen war, daß er fremde Türen mitMessern aufzubrechen suchte.

Und welchen Zweck hatte sein ganzes Studium ge-habt! Er hatte ja alles vergessen; wenn es darauf ange-kommen wäre, hier sein Studium fortzusetzen, es

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wäre ihm sehr schwer geworden. Er erinnerte sichdaran, daß er zu Hause einmal einen Monat langkrank gewesen war; welche Mühe hatte es ihn damalsgekostet, sich nachher wieder in dem unterbrochenenLernen zurechtzufinden. Und nun hatte er außer demLehrbuch der englischen Handelskorrespondenzschon so lange kein Buch gelesen.

»Sie, junger Mann«, hörte sich Karl plötzlich ange-sprochen, »könnten Sie sich nicht anderswo aufstel-len? Ihr Herüberstarren stört mich schrecklich. Umzwei Uhr in der Nacht kann man doch schließlich ver-langen, auf dem Balkon ungestört arbeiten zu können.Wollen Sie denn etwas von mir?«

»Sie studieren?« fragte Karl.»Ja, ja«, sagte der Mann und benützte dieses für

das Lernen verlorene Weilchen, um unter seinen Bü-chern eine neue Ordnung einzurichten.

»Dann will ich Sie nicht stören«, sagte Karl, »ichgehe überhaupt schon ins Zimmer zurück. GuteNacht.«

Der Mann gab nicht einmal eine Antwort, miteinem plötzlichen Entschlusse hatte er sich nach Be-seitigung dieser Störung wieder ans Studieren ge-macht und stützte die Stirn schwer in die rechte Hand.

Da erinnerte sich Karl knapp vor dem Vorhangdaran, warum er eigentlich herausgekommen war, erwußte ja noch gar nicht, wie es mit ihm stand. Was

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lastete nur so auf seinem Kopf? Er griff hinauf undstaunte, da war keine blutige Verletzung, wie er imDunkel des Zimmers gefürchtet hatte, es war nur einnoch immer feuchter, turbanartiger Verband. Er war,nach den noch hie und da hängenden Spitzenüberre-sten zu schließen, aus einem alten Wäschestück Bru-neldas gerissen, und Robinson hatte ihn wohl flüchtigKarl um den Kopf gewickelt. Nur hatte er vergessen,ihn auszuwinden, und so war während Karls Bewußt-losigkeit das viele Wasser das Gesicht hinab- undunter das Hemd geronnen und hatte Karl solchenSchrecken eingejagt.

»Sie sind wohl noch immer da?« fragte der Mannund blinzelte hinüber.

»Jetzt gehe ich aber wirklich schon«, sagte Karl»ich wollte hier nur etwas anschauen, im Zimmer istes ganz finster.«

»Wer sind Sie denn?« sagte der Mann, legte denFederhalter in das vor ihm geöffnete Buch und trat andas Geländer. »Wie heißen Sie? Wie kommen Sie zuden Leuten? Sind Sie schon lange hier? Was wollenSie denn anschauen? Drehen Sie doch Ihre Glühlampedort auf, damit man Sie sehen kann.«

Karl tat dies, zog aber, ehe er antwortete, noch denVorhang der Tür fester zu, damit man im Innerennichts merken konnte. »Verzeihen Sie«, sagte er dannim Flüsterton, »daß ich so leise rede. Wenn mich die

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drinnen hören, habe ich wieder einen Krawall.«»Wieder?« fragte der Mann.»Ja«, sagte Karl, »ich habe ja erst abends einen

großen Streit mit ihnen gehabt. Ich muß da noch einefürchterliche Beule haben.« Und er tastete hinten sei-nen Kopf ab. »Was war denn das für ein Streit?«fragte der Mann und fügte, da Karl nicht gleich ant-wortete, hinzu: »Mir können Sie ruhig alles anver-trauen, was Sie gegen diese Herrschaften auf demHerzen haben. Ich hasse sie nämlich alle drei, undganz besonders Ihre Madame. Es sollte mich übrigenswundern, wenn man Sie nicht schon gegen mich ge-hetzt hätte. Ich heiße Josef Mendel und bin Student.«

»Ja«, sagte Karl, »erzählt hat man mir schon vonIhnen, aber nichts Schlimmes. Sie haben wohl einmalFrau Brunelda behandelt, nicht wahr?«

»Das stimmt«, sagte der Student und lachte.»Riecht das Kanapee noch danach?«

»O ja«, sagte Karl.»Das freut mich aber«, sagte der Student und fuhr

mit der Hand durchs Haar. »Und warum macht manIhnen Beulen?«

»Es war ein Streit«, sagte Karl im Nachdenken dar-über, wie er es dem Studenten erklären sollte. Dannaber unterbrach er sich und sagte: »Störe ich Sie dennnicht?« »Erstens«, sagte der Student, »haben Sie michschon gestört, und ich bin leider so nervös, daß ich

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lange Zeit brauche, um mich wieder zurechtzufinden.Seit Sie da Ihre Spaziergänge auf dem Balkon ange-fangen haben, komme ich mit dem Studieren nichtvorwärts. Zweitens aber mache ich um drei Uhrimmer eine Pause. Erzählen Sie also nur ruhig. Es in-teressiert mich auch.«

»Es ist ganz einfach«, sagte Karl. »Delamarchewill, daß ich bei ihm Diener werde. Aber ich willnicht. Ich wäre am liebsten noch gleich abends weg-gegangen. Er wollte mich nicht lassen, hat die Tür ab-gesperrt, ich wollte sie aufbrechen, und dann kam eszu der Rauferei. Ich bin unglücklich, daß ich nochhier bin.«

»Haben Sie denn eine andere Stellung?« fragte derStudent.

»Nein«, sagte Karl, »aber daran liegt mir nichts,wenn ich nur von hier fort wäre.«

»Hören Sie einmal«, sagte der Student, »daran liegtIhnen nichts?« Und beide schwiegen ein Weilchen.»Warum wollen Sie denn bei den Leuten nicht blei-ben?« fragte dann der Student.

»Delamarche ist ein schlechter Mensch«, sagteKarl, »ich kenne ihn schon von früher her. Ich mar-schierte einmal einen Tag lang mit ihm und war froh,als ich nicht mehr bei ihm war. Und jetzt soll ich Die-ner bei ihm werden?«

»Wenn alle Diener bei der Auswahl ihrer

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Herrschaften so heikel sein wollten wie Sie!« sagteder Student und schien zu lächeln. »Sehen Sie, ich binwährend des Tages Verkäufer, niedrigster Verkäufer,eher schon Laufbursche im Warenhaus von Montly.Dieser Montly ist zweifellos ein Schurke, aber dasläßt mich ganz ruhig, wütend bin ich nur, daß ich soelend bezahlt werde. Nehmen Sie sich also an mir einBeispiel.«

»Wie?« sagte Karl, »Sie sind bei Tag Verkäuferund in der Nacht studieren Sie?«

»Ja«, sagte der Student, »es geht nicht anders. Ichhabe schon alles mögliche versucht, aber diese Le-bensweise ist noch die beste. Vor Jahren war ich nurStudent, bei Tag und Nacht, wissen Sie, nur bin ichdabei fast verhungert, habe in einer schmutzigen altenHöhle geschlafen und wagte mich in meinem damali-gen Anzug nicht in die Hörsäle. Aber das ist vor-über.«

»Aber wann schlafen Sie?« fragte Karl und sah denStudenten verwundert an.

»Ja, schlafen!« sagte der Student. »Schlafen werdeich, wenn ich mit meinem Studium fertig bin. Vorläu-fig trinke ich schwarzen Kaffee.« Und er wandte sichum, zog unter seinem Studiertisch eine große Flaschehervor, goß aus ihr schwarzen Kaffee in ein Täßchenund schüttete ihn in sich hinein, so wie man Medizi-nen eilig schluckt, um möglichst wenig von ihrem

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Geschmack zu spüren.»Eine feine Sache, der schwarze Kaffee«, sagte der

Student. »Schade, daß Sie so weit sind, daß ich Ihnennicht ein wenig hinüberreichen kann.«

»Mir schmeckt schwarzer Kaffee nicht«, sagteKarl.

»Mir auch nicht«, sagte der Student und lachte.»Aber was wollte ich ohne ihn anfangen. Ohne denschwarzen Kaffee würde mich Montly keinen Augen-blick behalten. Ich sage immer Montly, obwohl dernatürlich keine Ahnung hat, daß ich auf der Welt bin.Ganz genau weiß ich nicht, wie ich mich im Geschäftbenehmen würde, wenn ich nicht dort im Pult einegleich große Flasche wie diese immer vorbereitethätte, denn ich habe noch nie gewagt, mit dem Kaf-feetrinken auszusetzen, aber, glauben Sie mir nur, ichwürde bald hinter dem Pulte liegen und schlafen. Lei-der ahnt man das, sie nennen mich dort den ›Schwar-zen Kaffee‹, was ein blödsinniger Witz ist und mirgewiß in meinem Vorwärtskommen schon geschadethat.«

»Und wann werden Sie mit Ihrem Studium fertigwerden?« fragte Karl.

»Es geht langsam«, sagte der Student mit gesenk-tem Kopf. Er verließ das Geländer und setzte sichwieder an den Tisch; die Ellbogen auf das offeneBuch aufgestützt, mit den Händen durch seine Haare

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fahrend, sagte er dann: »Es kann noch ein bis zweiJahre dauern.«

»Ich wollte auch studieren«, sagte Karl, als gebeihm dieser Umstand ein Anrecht auf ein noch größe-res Vertrauen, als es der jetzt verstummende Studentihm gegenüber schon bewiesen hatte.

»So«, sagte der Student, und es war nicht ganzklar, ob er in seinem Buche schon wieder las oder nurzerstreut hineinstarrte, »seien Sie froh, daß Sie dasStudium aufgegeben haben. Ich selbst studiere schonseit Jahren eigentlich nur aus Konsequenz. Befriedi-gung habe ich wenig davon und Zukunftsaussichtennoch weniger. Welche Aussichten wollte ich dennhaben! Amerika ist voll von Schwindeldoktoren.«

»Ich wollte Ingenieur werden«, sagte Karl nocheilig zu dem scheinbar schon gänzlich unaufmerksa-men Studenten hinüber.

»Und jetzt sollen Sie Diener bei diesen Leuten wer-den«, sagte der Student und sah flüchtig auf, »dasschmerzt Sie natürlich.«

Diese Schlußfolgerung des Studenten war aller-dings ein Mißverständnis, aber vielleicht konnte esKarl beim Studenten nützen. Er fragte deshalb:»Könnte ich nicht vielleicht auch eine Stelle im Wa-renhaus bekommen?«

Diese Frage riß den Studenten völlig von seinemBuche los; der Gedanke, daß er Karl bei seiner

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Postenbewerbung behilflich sein könnte, kam ihm garnicht. »Versuchen Sie es«, sagte er, »oder versuchenSie es lieber nicht. Daß ich meinen Posten bei Montlybekommen habe, ist der bisher größte Erfolg meinesLebens gewesen. Wenn ich zwischen dem Studiumund meinem Posten zu wählen hatte, würde ich natür-lich den Posten wählen. Meine Anstrengung geht nurdarauf hin, die Notwendigkeit einer solchen Wahlnicht eintreten zu lassen.« »So schwer ist es, dorteinen Posten zu bekommen«, sagte Karl mehr fürsich.

»Ach, was denken Sie denn«, sagte der Student,»es ist leichter, hier Bezirksrichter zu werden als Tür-öffner bei Montly.«

Karl schwieg. Dieser Student, der doch so viel er-fahrener war als er und der den Delamarche aus ir-gendwelchen Karl noch unbekannten Gründen hatte,der dagegen Karl gewiß nichts Schlechtes wünschte,fand für Karl kein Wort der Aufmunterung, den Dela-marche zu verlassen. Und dabei kannte er noch garnicht die Gefahr, die Karl von der Polizei drohte undvor der er nur bei Delamarche halbwegs geschütztwar.

»Sie haben doch am Abend die Demonstrationunten gesehen? Nicht wahr? Wenn man die Verhält-nisse nicht kannte, sollte man doch denken, dieserKandidat, er heißt Lobter, werde doch irgendwelche

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Aussichten haben oder er komme doch wenigstens inBetracht, nicht?«

»Ich verstehe von Politik nichts«, sagte Karl.»Das ist ein Fehler«, sagte der Student. »Aber ab-

gesehen davon haben Sie doch Augen und Ohren. DerMann hat doch zweifellos Freunde und Feinde gehabt,das kann Ihnen doch nicht entgangen sein. Und nunbedenken Sie, der Mann hat, meiner Meinung nach,nicht die geringsten Aussichten, gewählt zu werden.Ich weiß zufällig alles über ihn, es wohnt da bei unseiner, der ihn kennt. Er ist kein unfähiger Mensch,und seinen politischen Ansichten und seiner politi-schen Vergangenheit nach wäre gerade er der passen-de Richter für den Bezirk. Aber kein Mensch denktdaran, daß er gewählt werden könnte, er wird soprachtvoll durchfallen, als man durchfallen kann, erwird für die Wahlkampagne seine paar Dollars hin-ausgeworfen haben, das wird alles sein.«

Karl und der Student sahen einander ein Weilchenschweigend an. Der Student nickte lächelnd unddrückte mit einer Hand die müden Augen.

»Nun, werden Sie noch nicht schlafen gehen?«fragte er dann. »Ich muß ja auch wieder studieren.Sehen Sie, wieviel ich noch durchzuarbeiten habe.«Und er blätterte ein halbes Buch rasch durch, um Karleinen Begriff von der Arbeit zu geben, die noch aufihn wartete.

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»Dann also gute Nacht«, sagte Karl und verbeugtesich.

»Kommen Sie doch einmal zu uns herüber«, sagteder Student, der schon wieder an seinem Tisch saß,»natürlich nur, wenn Sie Lust haben. Sie werden hierimmer große Gesellschaft finden. Von neun bis zehnUhr abends habe ich auch für Sie Zeit.«

»Sie raten mir also, bei Delamarche zu bleiben?«fragte Karl.

»Unbedingt«, sagte der Student und senkte schonden Kopf zu seinen Büchern. Es schien, als hätte garnicht er das Wort gesagt; wie von einer Stimme ge-sprochen, die tiefer war als jene des Studenten, klanges noch in Karls Ohren nach. Langsam ging er zumVorhang, warf noch einen Blick auf den Studenten,der jetzt ganz unbeweglich, von der großen Finsternisumgeben, in seinem Lichtschein saß, und schlüpfteins Zimmer. Die vereinten Atemzüge der drei Schläferempfingen ihn. Er suchte die Wand entlang das Kana-pee und, als er es gebunden hatte, streckte er sichruhig auf ihm aus, als sei es sein gewohntes Lager.Da ihm der Student, der den Delamarche und die hie-sigen Verhältnisse genau kannte und überdies ein ge-bildeter Mann war, geraten hatte, hier zu bleiben,hatte er vorläufig keine Bedenken. So hohe Ziele wieder Student hatte er nicht, wer weiß, ob es ihm sogarzu Hause gelungen wäre, das Studium zu Ende zu

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führen, und wenn es zu Hause kaum möglich schien,so konnte niemand verlangen, daß er es hier im frem-den Lande tue. Die Hoffnung aber, einen Posten zufinden, in dem er etwas leisten und für seine Leistun-gen anerkannt werden könnte, war gewiß größer,wenn er vorläufig die Dienerstelle bei Delamarche an-nahm und aus dieser Sicherheit heraus eine günstigeGelegenheit abwartete. Es schienen sich ja in dieserStraße viele Büros mittleren und unteren Ranges zubefinden, die vielleicht im Falle des Bedarfes bei derAuswahl ihres Personals nicht gar zu wählerischwaren. Er wollte ja gern, wenn es sein mußte, Ge-schäftsdiener werden, aber schließlich war es ja garnicht ausgeschlossen, daß er auch für reine Büroarbeitaufgenommen werden konnte und einstmals als Büro-beamter an seinem Schreibtisch sitzen und ohne Sor-gen ein Weilchen lang aus dem offenen Fenster schau-en würde wie jener Beamte, den er heute früh beimDurchmarsch durch die Höfe gesehen hatte. Beruhi-gend fiel ihm ein, als er die Augen schloß, daß erdoch jung war und daß Delamarche ihn doch einmalfreigeben würde; dieser Haushalt sah ja wirklich nichtdanach aus, als sei er für die Ewigkeit gemacht. Wennaber Karl einmal einen solchen Posten in einem Bürohätte, dann wollte er sich mit nichts anderem beschäf-tigen als mit seinen Büroarbeiten und nicht die Kräftezersplittern wie der Student. Wenn es nötig sein

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sollte, wollte er auch die Nacht fürs Büro verwenden,was man ja im Beginn bei seiner geringen kaufmänni-schen Vorbildung sowieso von ihm verlangen würde.Er wollte nur an das Interesse des Geschäftes denken,dem er zu dienen hätte, und allen Arbeiten sich unter-ziehen, selbst solchen, die andere Bürobeamte alsihrer nicht würdig zurückweisen würden. Die gutenVorsätze drängten sich in seinem Kopf, als stehe seinkünftiger Chef vor dem Kanapee und lese sie von sei-nem Gesicht ab.

In solchen Gedanken schlief Karl ein und nur imersten Halbschlaf störte ihn noch ein gewaltiges Seuf-zen Bruneldas, die, scheinbar von schweren Träumengeplagt, sich auf ihrem Lager wälzte.

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Das Naturtheater von Oklahoma

Karl sah an einer Straßenecke ein Plakat mit fol-gender Aufschrift: »Auf dem Rennplatz in Claytonwird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Perso-nal für das Theater in Oklahoma aufgenommen! Dasgroße Theater von Oklahoma ruft euch! Es ruft nurheute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit ver-säumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunftdenkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! WerKünstler werden will, melde sich! Wir sind das Thea-ter, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort!Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwün-schen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bisMitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wirdalles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verfluchtsei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!«

Es standen zwar viele Leute vor dem Plakat, aberes schien nicht viel Beifall zu finden. Es gab so vielPlakate, Plakaten glaubte niemand mehr. Und diesesPlakat war noch unwahrscheinlicher, als Plakate sonstzu sein pflegen. Vor allem aber hatte es einen großenFehler, es stand kein Wörtchen von der Bezahlungdarin. Wäre sie auch nur ein wenig erwähnungswertgewesen, das Plakat hätte sie gewiß genannt; es hättedas Verlockendste nicht vergessen. Künstler werden

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wollte niemand, wohl aber wollte jeder für seine Ar-beit bezahlt werden.

Für Karl stand aber doch in dem Plakat eine großeVerlockung. »Jeder war willkommen«, hieß es. Jeder,also auch Karl. Alles, was er bisher getan hatte, warvergessen, niemand wollte ihm daraus einen Vorwurfmachen. Er durfte sich zu einer Arbeit melden, diekeine Schande war, zu der man vielmehr öffentlicheinladen konnte! Und ebenso öffentlich wurde dasVersprechen gegeben, daß man auch ihn annehmenwürde. Er verlangte nichts Besseres, er wollte endlichden Anfang einer anständigen Laufbahn finden, undhier zeigte er sich vielleicht. Mochte alles Großspre-cherische, das auf dem Plakate stand, eine Lüge sein,mochte das große Theater von Oklahoma ein kleinerWanderzirkus sein, es wollte Leute aufnehmen, daswar genügend. Karl las das Plakat nicht zum zweitenMale, suchte aber noch einmal den Satz: »Jeder istwillkommen« hervor. Zuerst dachte er daran, zu Fußnach Clayton zu gehen, aber das wären drei Stundenangestrengten Marsches gewesen, und er wäre dannmöglicherweise gerade zurecht gekommen, um zu er-fahren, daß man schon alle verfügbaren Stellen be-setzt hätte. Nach dem Plakat war allerdings die Zahlder Aufzunehmenden unbegrenzt, aber so warenimmer alle derartigen Stellenangebote abgefaßt. Karlsah ein, daß er entweder auf die Stelle verzichten oder

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fahren mußte. Er überrechnete sein Geld, es hätteohne diese Fahrt für acht Tage gereicht, er schob diekleinen Münzen auf der flachen Hand hin und her.Ein Herr, der ihn beobachtet hatte, klopfte ihm auf dieSchulter und sagte: »Viel Glück zur Fahrt nach Clay-ton.« Karl nickte stumm und rechnete weiter. Aber erentschloß sich bald, teilte das für die Fahrt notwendi-ge Geld ab und lief zur Untergrundbahn. Als er inClayton ausstieg, hörte er gleich den Lärm vielerTrompeten. Es war ein wirrer Lärm, die Trompetenwaren nicht gegeneinander abgestimmt, es wurderücksichtslos geblasen. Aber das störte Karl nicht, esbestätigte ihm vielmehr, daß das Theater von Oklaho-ma ein großes Unternehmen war. Aber als er aus demStationsgebäude trat und die ganze Anlage vor sichüberblickte, sah er, daß alles noch größer war, als ernur irgendwie hatte denken können, und er begriffnicht, wie ein Unternehmen nur zu dem Zweck, umPersonal zu erhalten, derartige Aufwendungen ma-chen konnte. Vor dem Eingang zum Rennplatz warein langes, niedriges Podium aufgebaut, auf dem Hun-derte von Frauen, als Engel gekleidet, in weißen Tü-chern mit großen Flügeln am Rücken, auf langen,goldglänzenden Trompeten bliesen. Sie waren abernicht unmittelbar auf dem Podium, sondern jede standauf einem Postament, das aber nicht zu sehen war,denn die langen wehenden Tücher der Engelkleidung

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hüllten es vollständig ein. Da nun die Postamente sehrhoch, wohl bis zwei Meter hoch waren, sahen die Ge-stalten der Frauen riesenhaft aus, nur ihre kleinenKöpfe störten ein wenig den Eindruck der Größe,auch ihr gelöstes Haar hing zu kurz und fast lächer-lich zwischen den großen Flügeln und an den Seitenhinab. Damit keine Einförmigkeit entstehe, hatte manPostamente in der verschiedensten Größe verwendet;es gab ganz niedrige Frauen, nicht weit über Lebens-größe, aber neben ihnen schwangen sich andere Frau-en in solche Höhe hinauf, daß man sie beim leichte-sten Windstoß in Gefahr glaubte. Und nun bliesenalle diese Frauen.

Es gab nicht viele Zuhörer. Klein, im Vergleich zuden großen Gestalten, gingen etwa zehn Burschen vordem Podium hin und her und blickten zu den Frauenhinauf. Sie zeigten einander diese oder jene, sie schie-nen aber nicht die Absicht zu haben, einzutreten undsich aufnehmen zu lassen. Nur ein einziger ältererMann war zu sehen, er stand ein wenig abseits. Erhatte gleich auch seine Frau und ein Kind im Kinder-wagen mitgebracht. Die Frau hielt mit der einen Handden Wagen, mit der anderen stützte sie sich auf dieSchulter des Mannes. Sie bewunderten zwar dasSchauspiel, aber man erkannte doch, daß sie ent-täuscht waren. Sie hatten wohl auch erwartet, eine Ar-beitsgelegenheit zu finden, dieses Trompetenblasen

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aber beirrte sie. Karl war in der gleichen Lage. Er tratin die Nähe des Mannes, hörte ein wenig den Trompe-ten zu und sagte dann: »Hier ist doch die Aufnahme-stelle für das Theater von Oklahoma?«

»Ich glaubte es auch«, sagte der Mann, »aber wirwarten hier schon seit einer Stunde und hören nichtsals die Trompeten. Nirgends ist ein Plakat zu sehen,nirgends ein Ausrufer, nirgends jemand, der Auskunftgeben könnte.«

Karl sagte: »Vielleicht wartet man, bis mehr Leutezusammenkommen. Es sind wirklich noch sehr wenighier.«

»Möglich«, sagte der Mann, und sie schwiegenwieder. Es war auch schwer, im Lärm der Trompetenetwas zu verstehen. Aber dann flüsterte die Frauetwas ihrem Manne zu, er nickte, und sie rief gleichKarl an: »Könnten Sie nicht in die Rennbahn hin-übergehen und fragen, wo die Aufnahme stattfindet?«

»Ja«, sagte Karl, »aber ich müßte über das Podiumgehen, zwischen den Engeln durch.«

»Ist das so schwierig?« fragte die Frau.Für Karl erschien ihr der Weg leicht, ihren Mann

aber wollte sie nicht ausschicken.»Nun ja«, sagte Karl, »ich werde gehen.«»Sie sind sehr gefällig«, sagte die Frau, und sie wie

auch ihr Mann drückten Karl die Hand.Die Burschen liefen zusammen, um aus der Nähe

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zu sehen, wie Karl auf das Podium stieg. Es war, alsbliesen die Frauen stärker, um den ersten Stellensu-chenden zu begrüßen. Diejenigen aber, an deren Po-stament Karl gerade vorüberging, gaben sogar dieTrompeten vom Munde und beugten sich zur Seite,um seinen Weg zu verfolgen. Karl sah auf dem ande-ren Ende des Podiums einen unruhig auf und ab ge-henden Mann, der offenbar nur auf Leute wartete, umihnen alle Auskunft zu geben, die man nur wünschenkonnte. Karl wollte schon auf ihn zugehen, da hörte erüber sich seinen Namen rufen.

»Karl!« rief der Engel. Karl sah auf und fing vorfreudiger Überraschung zu lachen an. Es war Fanny.

»Fanny!« rief er und grüßte mit der Hand hinauf.»Komm doch her!« rief Fanny. »Du wirst doch

nicht an mir vorüberlaufen!« Und sie schlug die Tü-cher auseinander, so daß das Postament und eineschmale Treppe, die hinaufführte, freigelegt wurde.

»Ist es erlaubt hinaufzugehen?« fragte Karl.»Wer will uns verbieten, daß wir einander die

Hand drücken!« rief Fanny und blickte sich erzürntum, ob nicht etwa schon jemand mit dem Verbotekäme. Karl lief aber schon die Treppe hinauf.

»Langsamer!« rief Fanny. »Das Postament und wirbeide stürzen um!« Aber es geschah nichts, Karl kamglücklich bis zur letzten Stufe. »Sieh nur«, sagteFanny, nachdem sie einander begrüßt hatten, »sich

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nur, was für eine Arbeit ich bekommen habe.«»Es ist ja schön«, sagte Karl und sah sich um. Alle

Frauen in der Nähe hatten schon Karl bemerkt und ki-cherten. »Du bist fast die Höchste«, sagte Karl undstreckte die Hand aus, um die Höhe der anderen abzu-messen.

»Ich habe dich gleich gesehen«, sagte Fanny, »alsdu aus der Station kamst, aber ich bin leider hier inder letzten Reihe, man sieht mich nicht, und rufenkonnte ich auch nicht. Ich habe zwar besonders lautgeblasen, aber du hast mich nicht erkannt.«

»Ihr blast ja alle schlecht«, sagte Karl, »laß micheinmal blasen.«

»Aber gewiß«, sagte Fanny und reichte ihm dieTrompete, »aber verdirb den Chor nicht, sonst entläßtman mich.«

Karl fing zu blasen an; er hatte gedacht, es sei einegrob gearbeitete Trompete, nur zum Lärmmachen be-stimmt, aber nun zeigte es sich, daß es ein Instrumentwar, das fast jede Feinheit ausführen konnte. Warenalle Instrumente von gleicher Beschaffenheit, sowurde ein großer Mißbrauch mit ihnen getrieben.Karl blies, ohne sich vom Lärm der anderen stören zulassen, aus voller Brust ein Lied, das er irgendwo ineiner Kneipe einmal gehört hatte. Er war froh, einealte Freundin getroffen zu haben und hier, vor allenbevorzugt, die Trompete blasen zu dürfen und

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möglicherweise bald eine gute Stellung bekommen zukönnen. Viele Frauen stellten das Blasen ein und hör-ten zu; als er plötzlich abbrach, war kaum die Hälfteder Trompeten in Tätigkeit, erst allmählich kam wie-der der vollständige Lärm zustande.

»Du bist ja ein Künstler«, sagte Fanny, als Karl ihrdie Trompete wieder reichte. »Laß dich als Trompeteraufnehmen.«

»Werden denn auch Männer aufgenommen?« fragteKarl.

»Ja«, sagte Fanny, »wir blasen zwei Stunden lang.Dann werden wir von Männern, die als Teufel ange-zogen sind, abgelöst. Die Hälfte bläst, die Hälftetrommelt. Es ist sehr schön, wie überhaupt die ganzeAusstattung sehr kostbar ist. Ist nicht auch unserKleid sehr schön? und die Flügel?« Sie sah an sichhinab.

»Glaubst du«, fragte Karl, »daß auch ich noch eineStelle bekommen werde?«

»Ganz bestimmt«, sagte Fanny, »es ist ja das größ-te Theater der Welt. Wie gut es sich trifft, daß wirwieder beisammen sein werden. Allerdings kommt esdarauf an, welche Stelle du bekommst. Es wäre näm-lich auch möglich, daß wir, auch wenn wir beide hierangestellt sind, uns doch gar nicht sähen.«

»Ist denn das Ganze wirklich so groß?« fragteKarl.

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»Es ist das größte Theater der Welt«, sagte Fannynochmals, »ich habe es allerdings selbst noch nichtgesehen, aber manche meiner Kolleginnen, die schonin Oklahoma waren, sagen, es sei fast grenzenlos.«

»Es melden sich aber wenig Leute«, sagte Karl undzeigte hinunter auf die Burschen und die kleine Fami-lie.

»Das ist wahr«, sagte Fanny. »Bedenke aber, daßwir in allen Städten Leute aufnehmen, daß unsereWerbetruppe immerfort reist und daß es noch vielesolcher Truppen gibt.«

»Ist denn das Theater noch nicht eröffnet?« fragteKarl.

»O ja«, sagte Fanny, »es ist ein altes Theater, aberes wird immerfort vergrößert.«

»Ich wundere mich«, sagte Karl, »daß sich nichtmehr Leute dazu drängen.«

»Ja«, sagte Fanny, »es ist merkwürdig.«»Vielleicht«, sagte Karl, »schreckt dieser Aufwand

an Engeln und Teufeln mehr ab, als er anzieht.«»Wie du das herausfinden kannst«, sagte Fanny.

»Es ist aber möglich. Sag es unserem Führer, viel-leicht kannst du ihm dadurch nützen.«

»Wo ist er,« fragte Karl.»In der Rennbahn«, sagte Fanny, »auf der Schieds-

richtertribüne.«»Auch das wundert mich«, sagte Karl, »warum

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geschieht denn die Aufnahme auf der Rennbahn?«»Ja«, sagte Fanny, »wir machen überall die größten

Vorbereitungen für den größten Andrang. Auf derRennbahn ist eben viel Platz. Und in allen Ständen,wo sonst die Wetten abgeschlossen werden, sind dieAufnahmekanzleien eingerichtet. Es sollen zweihun-dert verschiedene Kanzleien sein.«

»Aber«, rief Karl, »hat denn das Theater von Okla-homa so große Einkünfte, um derartige Werbetruppenerhalten zu können?«

»Was kümmert uns denn das?« sagte Fanny. »Abernun geh, Karl, damit du nichts versäumst, ich mußauch wieder blasen. Versuche, auf jeden Fall einenPosten bei dieser Truppe zu bekommen, und kommgleich zu mir, es melden. Denke daran, daß ich in gro-ßer Unruhe auf die Nachricht warte.«

Sie drückte ihm die Hand, ermahnte ihn zur Vor-sicht beim Hinabsteigen, setzte wieder die Trompetean die Lippen, blies aber nicht, ehe sie Karl unten aufdem Boden in Sicherheit sah. Karl legte wieder dieTücher über die Treppe, so wie sie früher gewesenwaren, Fanny dankte durch Kopfnicken, und Karlging, das eben Gehörte nach verschiedenen Richtun-gen hin überlegend, auf den Mann zu, der schon Karloben bei Fanny gesehen und sich dem Postament ge-nähert hatte, um ihn zu erwarten.

»Sie wollen bei uns eintreten?« fragte der Mann.

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»Ich bin der Personalchef dieser Truppe und heiße Siewillkommen.« Er war ständig wie aus Höflichkeit einwenig vorgebeugt, tänzelte, obwohl er sich nicht vonder Stelle rührte, und spielte mit seiner Uhrkette.

»Ich danke«, sagte Karl, »ich habe das Plakat IhrerGesellschaft gelesen und melde mich, wie es dort ver-langt wird.«

»Sehr richtig«, sagte der Mann anerkennend, »lei-der verhält sich hier nicht jeder so richtig.«

Karl dachte daran, daß er jetzt den Mann daraufaufmerksam machen könnte, daß möglicherweise dieLockmittel der Werbetruppe gerade wegen ihrerGroßartigkeit versagten. Aber er sagte es nicht, denndieser Mann war gar nicht der Führer der Truppe, undaußerdem wäre es wenig empfehlend gewesen, wenner, der noch gar nicht aufgenommen war, gleich Ver-besserungsvorschläge gemacht hätte. Darum sagte ernur: »Es wartet draußen noch einer, der sich auch an-melden will und der mich nur vorausgeschickt hat.Darf ich ihn jetzt holen?«

»Natürlich«, sagte der Mann, »je mehr kommen,desto besser.«

»Er hat auch eine Frau bei sich und ein kleinesKind im Kinderwagen. Sollen die auch kommen?«

»Natürlich«, sagte der Mann und schien über KarlsZweifel zu lächeln. »Wir können alle brauchen.«

»Ich bin gleich wieder zurück«, sagte Karl und lief

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wieder zurück an den Rand des Podiums. Er winktedem Ehepaar zu und rief, daß alle kommen dürften. Erhalf, den Kinderwagen auf das Podium heben, und siegingen nun gemeinsam. Die Burschen, die das sahen,berieten sich miteinander, stiegen dann langsam, biszum letzten Augenblick noch zögernd, die Hände inden Taschen, auf das Podium hinauf und folgtenschließlich Karl und der Familie. Eben kamen ausdem Stationsgebäude der Untergrundbahn neue Pas-sagiere hervor, die, angesichts des Podiums mit denEngeln, staunend die Arme erhoben. Immerhin schienes, als ob die Bewerbung um Stellen nun doch lebhaf-ter werden sollte. Karl war sehr froh, so früh, viel-leicht als erster, gekommen zu sein, das Ehepaar warängstlich und stellte verschiedene Fragen darüber, obgroße Anforderungen gestellt würden. Karl sagte, erwisse noch nichts Bestimmtes, er hätte aber wirklichden Eindruck erhalten, daß jeder ohne Ausnahme ge-nommen würde. Er glaube, man dürfe getrost sein.Der Personalchef kam ihnen schon entgegen, war sehrzufrieden, daß so viele kamen, rieb sich die Hände,grüßte jeden einzelnen durch eine kleine Verbeugungund stellte sie alle in eine Reihe. Karl war der erste,dann kam das Ehepaar und dann erst die anderen. Alssie sich alle aufgestellt hatten - die Burschen dräng-ten sich zuerst durcheinander, und es dauerte einWeilchen, ehe bei ihnen Ruhe eintrat -, sagte der

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Personalchef, während die Trompeten verstummten:»Im Namen des Theaters von Oklahoma begrüße ichSie. Sie sind früh gekommen« (es war aber schonbald Mittag), »das Gedränge ist noch nicht groß, dieFormalitäten Ihrer Aufnahme werden daher bald erle-digt sein. Sie haben natürlich alle Ihre Legitimations-papiere bei sich.«

Die Burschen holten gleich irgendwelche Papiereaus den Taschen und schwenkten sie gegen den Perso-nalchef hin, der Ehemann stieß seine Frau an, dieunter dem Federbett des Kinderwagens ein ganzesBündel Papiere hervorzog. Karl allerdings hattekeine. Sollte das ein Hindernis für seine Aufnahmewerden? Immerhin wußte Karl aus Erfahrung, daßsich derartige Vorschriften, wenn man nur ein wenigentschlossen ist, leicht umgehen lassen. Es war nichtunwahrscheinlich. Der Personalchef überblickte dieReihe, vergewisserte sich, daß alle Papiere hatten,und da auch Karl die Hand, allerdings die leere Handerhob, nahm er an, auch bei ihm sei alles in Ordnung.

»Es ist gut«, sagte dann der Personalchef undwinkte den Burschen ab, die ihre Papiere gleich unter-sucht haben wollten, »die Papiere werden jetzt in denAufnahmekanzleien überprüft werden. Wie Sie schonaus unserem Plakat gesehen haben, können wir jedenbrauchen. Wir müssen aber natürlich wissen, welchenBeruf er bisher ausgeübt hat, damit wir ihn an den

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richtigen Ort stellen können, wo er seine Kenntnisseverwerten kann.«

›Es ist ja ein Theater‹, dachte Karl zweifelnd undhörte sehr aufmerksam zu.

»Wir haben daher«, fuhr der Personalchef fort, »inden Buchmacherbuden Aufnahmekanzleien eingerich-tet, je eine Kanzlei für eine Berufsgruppe. Jeder vonihnen wird mir also jetzt seinen Beruf angeben, dieFamilie gehört im allgemeinen zur Aufnahmekanzleides Mannes. Ich werde Sie dann zu den Kanzleienführen, wo zuerst Ihre Papiere und dann Ihre Kennt-nisse von Fachmännern überprüft werden sollen, eswird nur eine ganz kurze Prüfung sein, niemand mußsich fürchten. Dort werden Sie dann auch gleich auf-genommen werden und die weiteren Weisungen erhal-ten. Fangen wir also an. Hier, die erste Kanzlei, ist,wie schon die Aufschrift sagt, für Ingenieure be-stimmt. Ist vielleicht ein Ingenieur unter Ihnen?« Karlmeldete sich. Er glaubte, gerade weil er keine Papierehatte, müsse er bestrebt sein, alle Formalitäten mög-lichst rasch durchzujagen, eine kleine Berechtigung,sich zu melden, hatte er auch, denn er hatte ja Inge-nieur werden wollen. Aber als die Burschen sahen,daß Karl sich meldete, wurden sie neidisch und mel-deten sich auch alle; alle meldeten sich. Der Personal-chef streckte sich in die Höhe und sagte zu den Bur-schen: »Sie sind Ingenieur?« Da senkten sie alle

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langsam die Hände, Karl dagegen bestand auf seinerersten Meldung. Der Personalchef sah ihn zwar un-gläubig an, denn Karl schien ihm zu kläglich angezo-gen und auch zu jung, um Ingenieur sein zu können,aber er sagte doch nichts weiter, vielleicht aus Dank-barkeit, weil Karl ihm, wenigstens seiner Meinungnach, die Bewerber hereingeführt hatte. Er zeigte bloßeinladend nach der Kanzlei, und Karl ging hin, wäh-rend sich der Personalchef den anderen zuwandte.

In der Kanzlei für Ingenieure saßen an den zweiSeiten eines rechtwinkeligen Pultes zwei Herren undverglichen zwei große Verzeichnisse, die vor ihnenlagen. Der eine las vor, der andere strich in seinemVerzeichnis die vorgelesenen Namen an. Als Karlgrüßend vor sie hintrat, legten sie sofort die Verzeich-nisse fort und nahmen andere große Bücher vor, diesie aufschlugen.

Der eine, offenbar nur ein Schreiber, sagte: »Ichbitte um Ihre Legitimationspapiere.«

»Ich habe sie leider nicht bei mir«, sagte Karl.»Er hat sie nicht bei sich«, sagte der Schreiber zu

dem anderen Herrn und schrieb die Antwort gleich insein Buch ein.

»Sie sind Ingenieur;« fragte dann der andere, derder Leiter der Kanzlei zu sein schien.

»Ich bin es noch nicht«, sagte Karl schnell, »aber -«

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»Genug«, sagte der Herr noch viel schneller, »danngehören Sie nicht zu uns. Ich bitte, die Aufschrift zubeachten.« Karl biß die Zähne zusammen, der Herrmußte es bemerkt haben, denn er sagte: »Es ist keinGrund zur Unruhe. Wir können alle brauchen.« Under winkte einem der Diener, die beschäftigungsloszwischen den Barrieren umhergingen: »Führen Siediesen Herrn zu der Kanzlei für Leute mit technischenKenntnissen.«

Der Diener faßte den Befehl wörtlich auf und faßteKarl bei der Hand. Sie gingen zwischen vielen Budendurch, in einer sah Karl schon einen der Burschen, derschon aufgenommen war und den Herren dort dan-kend die Hand drückte. In der Kanzlei, in die Karljetzt gebracht wurde, war, wie Karl vorausgesehenhatte, der Vorgang ähnlich wie in der ersten Kanzlei.Nur schickte man ihn von hier, da man hörte, daß ereine Mittelschule besucht hatte, in die Kanzlei für ge-wesene Mittelschüler. Als Karl dort aber sagte, erhätte eine europäische Mittelschule besucht, erklärteman sich auch dort für unzuständig und ließ ihn in dieKanzlei für europäische Mittelschüler führen. Es wareine Bude am äußeren Rand, nicht nur kleiner, son-dern sogar niedriger als alle anderen. Der Diener, derihn hierher gebracht hatte, war wütend über die langeFührung und die vielen Abweisungen, an denen seinerMeinung nach Karl allein die Schuld tragen müßte. Er

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wartete nicht mehr die Fragen ab, sondern lief gleichfort. Diese Kanzlei war wohl auch die letzte Zuflucht.Als Karl den Kanzleileiter erblickte, erschrak er fastüber die Ähnlichkeit, die dieser mit einem Professorhatte, der wahrscheinlich noch jetzt an der Realschulezu Hause unterrichtete. Die Ähnlichkeit bestand aller-dings, wie sich gleich herausstellte, nur in Einzelhei-ten; aber die auf der breiten Nase ruhende Brille, derblonde, wie ein Schaustück gepflegte Vollbart, dersanft gebeugte Rücken und die immer unerwartet her-vorbrechende laute Stimme hielten Karl noch einigeZeit in Staunen. Glücklicherweise mußte er auch nichtsehr aufmerken, denn es ging hier einfacher zu als inden anderen Kanzleien. Es wurde zwar auch hier ein-getragen, daß seine Legitimationspapiere fehlten, undder Kanzleileiter nannte es eine unbegreifliche Nach-lässigkeit, aber der Schreiber, der hier die Oberhandhatte, ging schnell darüber hinweg und erklärte nacheinigen kurzen Fragen des Leiters, während sich die-ser gerade zu einer größeren Frage anschickte, Karlfür aufgenommen. Der Leiter wandte sich mit offenemMund gegen den Schreiber, dieser aber machte eineabschließende Handbewegung, sagte: »Aufgenom-men« und trug auch gleich die Entscheidung ins Buchein. Offenbar war der Schreiber der Meinung, ein eu-ropäischer Mittelschüler zu sein, sei schon etwas soSchmähliches, daß man es jedem, der es von sich

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behauptete, ohne weiteres glauben könnte. Karl fürseinen Teil hatte nichts dagegen einzuwenden, er gingzu ihm hin und wollte ihm danken. Es gab aber nocheine kleine Verzögerung, als man ihn jetzt nach sei-nem Namen fragte. Er antwortete nicht gleich, er hatteeine Scheu, seinen wirklichen Namen zu nennen undaufschreiben zu lassen. Sobald er hier auch nur diekleinste Stelle erhalten und zur Zufriedenheit ausfül-len würde, dann mochte man seinen Namen erfahren,jetzt aber nicht; allzulange hatte er ihn verschwiegen,als daß er ihn jetzt hätte verraten sollen. Er nanntedaher, da ihm im Augenblick kein anderer Name ein-fiel, den Rufnamen aus seinen letzten Stellungen:»Negro.«

»Negro?« fragte der Leiter, drehte den Kopf undmachte eine Grimasse, als hätte Karl jetzt den Höhe-punkt der Unglaubwürdigkeit erreicht. Auch derSchreiber sah Karl eine Weile lang prüfend an, dannaber wiederholte er »Negro« und schrieb den Namenein.

»Sie haben doch nicht Negro aufgeschrieben?« fuhrihn der Leiter an.

»Ja, Negro«, sagte der Schreiber ruhig und machteeine Handbewegung, als habe nun der Leiter das Wei-tere zu veranlassen. Der Leiter bezwang sich auch,stand auf und sagte: »Sie sind also für das Theatervon Oklahoma-«, aber weiter kam er nicht, er konnte

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nichts gegen sein Gewissen tun, setzte sich und sagte:»Er heißt nicht Negro.«

Der Schreiber zog die Augenbrauen in die Höhe,stand nun selbst auf und sagte: »Dann teile also ichIhnen mit, daß Sie für das Theater in Oklahoma auf-genommen sind und daß man Sie jetzt unserem Füh-rer vorstellen wird.«

Wieder wurde ein Diener gerufen, der Karl zurSchiedsrichtertribüne führte.

Unten an der Treppe sah Karl den Kinderwagen,und gerade kam auch das Ehepaar herunter, die Fraumit dem Kind auf dem Arm.

»Sind Sie aufgenommen?« fragte der Mann, er warviel lebhafter als früher, auch die Frau sah ihm la-chend über die Schulter. Als Karl antwortete, eben seier aufgenommen worden und gebe zur Vorstellung,sagte der Mann: »Dann gratuliere ich. Auch wir sindaufgenommen worden. Es scheint ein gutes Unterneh-men zu sein, allerdings kann man sich nicht gleich inalles einfinden, so ist es aber überall.« Sie sagten ein-ander noch »Auf Wiedersehen«, und Karl stieg zurTribüne hinauf. Er ging langsam, denn der kleineRaum oben schien von Leuten überfüllt zu sein, under wollte sich nicht eindrängen. Er blieb sogar stehenund überblickte das große Rennfeld, das auf allen Sei-ten bis an ferne Wälder reichte. Ihn erfaßte die Lust,einmal ein Pferderennen zu sehen, er hatte in Amerika

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noch keine Gelegenheit dazu gefunden. In Europa warer einmal als kleines Kind zu einem Rennen mitge-nommen worden, konnte sich aber an nichts andereserinnern, als daß er von der Mutter zwischen vielenMenschen, die nicht auseinanderweichen wollten,durchgezogen worden war. Er hatte also eigentlichüberhaupt noch kein Rennen gesehen. Hinter ihm fingeine Maschinerie zu schnarren an, er drehte sich umund sah auf dem Apparat, auf dem beim Rennen dieNamen der Sieger veröffentlicht werden, jetzt folgen-de Aufschrift in die Höhe ziehen: »Kaufmann Kallamit Frau und Kind«. Hier wurden also die Namen derAufgenommenen den Kanzleien mitgeteilt.

Gerade liefen einige Herren, lebhaft miteinandersprechend, Bleistifte und Notizblätter in den Händen,die Treppe hinunter, Karl drückte sich ans Geländer,um sie vorbeizulassen, und stieg, da nun oben Platzgeworden war, hinauf. In einer Ecke der mit Holzge-ländern versehenen Plattform - das Ganze sah wiedas flache Dach eines schmalen Turmes aus - saß, dieArme entlang des Holzgeländers ausgestreckt, einHerr, dem ein breites weißes Seidenband mit der Auf-schrift: »Führer der zehnten Werbetruppe des Thea-ters von Oklahoma« quer über die Brust hing. Nebenihm stand auf einem Tischchen ein gewiß auch beiden Rennen verwendeter telephonischer Apparat,durch den der Führer offenbar alle notwendigen

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Angaben über die einzelnen Bewerber noch vor derVorstellung erfuhr, denn er stellte Karl zunächst garkeine Fragen, sondern sagte zu einem Herrn, der mitgekreuzten Beinen, die Hand am Kinn, neben ihmlehnte: »Negro, ein europäischer Mittelschüler.« Undals sei damit der sich tief verneigende Karl für ihn er-ledigt, sah er die Treppe hinunter, ob nicht wieder je-mand käme. Aber da niemand kam, hörte er manch-mal dem Gespräch, das der andere Herr mit Karl führ-te, zu, blickte aber meistens über das Rennfeld hinund klopfte mit den Fingern auf das Geländer. Diesezarten und doch kräftigen, langen und schnell beweg-ten Finger lenkten zeitweilig Karls Aufmerksamkeitauf sich, obwohl ihn der andere Herr genügend in An-spruch nahm.

»Sie sind stellungslos gewesen?« fragte dieser Herrzunächst. Diese Frage, sowie fast alle anderen Fragen,die er stellte, waren sehr einfach, ganz unverfänglich,und die Antworten wurden überdies nicht durch Zwi-schenfragen nachgeprüft; trotzdem aber wußte ihnender Herr durch die Art, wie er sie mit großen Augenaussprach, wie er ihre Wirkung mit vorgebeugtemOberkörper beobachtete, wie er die Antworten mit aufdie Brust gesenktem Kopfe aufnahm und hie und dalaut wiederholte, eine besondere Bedeutung zu geben,die man zwar nicht verstand, deren Ahnung aber vor-sichtig und befangen machte. Es kam öfters vor, daß

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es Karl drängte, die gegebene Antwort zu widerrufenund durch eine andere, die vielleicht mehr Beifall fin-den würde, zu ersetzen, aber er hielt sich doch immernoch zurück, denn er wußte, welch schlechten Ein-druck ein derartiges Schwanken machen mußte, undwie unberechenbar überdies die Wirkung der Antwor-ten meist war. Überdies aber schien ja seine Aufnah-me schon entschieden zu sein, dieses Bewußtsein gabihm Rückhalt.

Die Frage, ob er stellungslos gewesen sei, beant-wortete er mit einem einfachen »Ja.«

»Wo waren Sie zuletzt angestellt?« fragte dann derHerr. Karl wollte schon antworten, da hob der Herrden Zeigefinger und sagte noch einmal: »Zuletzt!«

Karl hatte auch schon die erste Frage richtig ver-standen, unwillkürlich schüttelte er die letzte Bemer-kung als beirrend mit dem Kopfe ab und antwortete:»In einem Büro.«

Das war noch die Wahrheit, würde aber der Herreine nähere Auskunft über die Art des Büros verlan-gen, so mußte er lügen. Aber das tat der Herr nicht,sondern stellte die überaus leicht ganz wahrheitsge-mäß zu beantwortende Frage: »Waren Sie dort zufrie-den? «

»Nein!« rief Karl, ihm fast in die Rede fallend. Beieinem Seitenblick bemerkte Karl, daß der Führer einwenig lächelte. Karl bereute die unbedachte Art seiner

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letzten Antwort, aber es war zu verlockend gewesen,das Nein hinauszuschreien, denn während seiner gan-zen letzten Dienstzeit hatte er nur den größtenWunsch gehabt, irgendein fremder Dienstgeber mögeeinmal eintreten und diese Frage an ihn richten. SeineAntwort konnte aber noch einen anderen Nachteilbringen, denn der Herr konnte nun fragen, warum ernicht zufrieden gewesen sei. Statt dessen fragte er je-doch: »Zu welchem Posten fühlen Sie sich geeignet?«Diese Frage enthielt möglicherweise wirklich eineFalle, denn wozu wurde sie gestellt, da Karl dochschon als Schauspieler aufgenommen war? Obwohl erdas aber erkannte, konnte er sich dennoch nicht zu derErklärung überwinden, er fühle sich für den Schau-spielerberuf besonders geeignet. Er wich daher derFrage aus und sagte, auf die Gefahr hin, trotzig zu er-scheinen: »Ich habe das Plakat in der Stadt gelesen,und da dort stand, daß man jeden brauchen kann,habe ich mich gemeldet.«

»Das wissen wir«, sagte der Herr, schwieg undzeigte dadurch, daß er auf seiner früheren Frage be-harre.

»Ich bin als Schauspieler aufgenommen«, sagteKarl zögernd, um dem Herrn die Schwierigkeit, in dieihn die letzte Frage gebracht hatte, begreiflich zu ma-chen.

»Das ist richtig«, sagte der Herr und verstummte

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wieder.»Nein«, sagte Karl, und die ganze Hoffnung, einen

Posten gefunden zu haben, kam ins Wanken, »ichweiß nicht, ob ich zum Theaterspielen geeignet bin.Ich will mich aber anstrengen und alle Aufträge aus-zuführen suchen.«

Der Herr wandte sich dem Leiter zu, beide nickten,Karl schien richtig geantwortet zu haben, er faßtewieder Mut und erwartete aufgerichtet die nächsteFrage. Die lautete: »Was wollten Sie denn ursprüng-lich studieren?«

Um die Frage genauer zu bestimmen - an der ge-nauen Bestimmung lag dem Herrn immer sehr viel -fügte er hinzu: »In Europa, meine ich.« Hierbei nahmer die Hand vom Kinn und machte eine schwache Be-wegung, als wolle er damit gleichzeitig andeuten, wieferne Europa und wie bedeutungslos die dort einmalgefaßten Pläne seien.

Karl sagte: »Ich wollte Ingenieur werden.« DieseAntwort widerstrebte ihm zwar, es war lächerlich, imvollen Bewußtsein seiner bisherigen Laufbahn inAmerika die alte Erinnerung, daß er einmal habe In-genieur werden wollen, hier aufzufrischen - wäre eres denn selbst in Europa jemals geworden? -, aber erwußte gerade keine andere Antwort und sagte deshalbdiese.

Aber der Herr nahm es ernst, wie er alles ernst

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nahm. »Nun, Ingenieur«, sagte er, »können Sie wohlnicht gleich werden, vielleicht würde es Ihnen abervorläufig entsprechen, irgendwelche niedrigere techni-sche Arbeiten auszuführen.«

»Gewiß«, sagte Karl, er war sehr zufrieden, erwurde zwar, wenn er das Angebot annahm, aus demSchauspielerstand unter die technischen Arbeiter ge-schoben, aber er glaubte tatsächlich, sich bei dieserArbeit besser bewähren zu können. Übrigens, dieswiederholte er sich immer wieder, es kam nicht sosehr auf die Art der Arbeit an, als vielmehr darauf,sich überhaupt irgendwo dauernd festzuhalten.

»Sind Sie denn kräftig genug für schwerere Ar-beit?« fragte der Herr.

»O ja«, sagte Karl.Hierauf ließ der Herr Karl näher zu sich herankom-

men - und befühlte seinen Arm.»Es ist ein kräftiger Junge«, sagte er dann, indem

er Karl am Arm zum Führer hinzog. Der Führer nick-te lächelnd, reichte, ohne sich übrigens aus seiner Ru-helage aufzurichten, Karl die Hand und sagte: »Dannsind wir also fertig. In Oklahoma wird alles nochüberprüft werden. Machen Sie unserer WerbetruppeEhre!«

Karl verbeugte sich zum Abschied, er wollte sichdann auch von dem anderen Herrn verabschieden, die-ser aber spazierte schon, als sei er mit seiner Arbeit

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vollständig fertig, das Gesicht in die Höhe gerichtet,auf der Plattform auf und ab. Während Karl hinunter-stieg, wurde zur Seite der Treppe auf der Anzeigetafeldie Aufschrift hochgezogen: »Negro, technischer Ar-beiter.«

Da alles hier seinen ordentlichen Gang nahm, hättees Karl nicht mehr so sehr bedauert, wenn auf derTafel sein wirklicher Name zu lesen gewesen wäre. Eswar alles sogar überaus sorgfältig eingerichtet, dennam Fuß der Treppe wurde Karl schon von einem Die-ner erwartet, der ihm eine Binde um den Arm fest-machte. Als Karl dann den Arm hob, um zu sehen,was auf der Binde stand, war dort der ganz richtigeAufdruck »Technischer Arbeiter.«

Wohin Karl nun aber geführt werden mochte, zu-erst wollte er doch Fanny melden, wie glücklich allesabgelaufen war. Aber zu seinem Bedauern erfuhr ervom Diener, daß die Engel ebenso wie auch die Teu-fel schon nach dem nächsten Bestimmungsort derWerbetruppe abgereist seien, um dort die Ankunft derTruppe für den nächsten Tag bekanntzumachen.

»Schade«, sagte Karl, es war die erste Enttäu-schung, die er in diesem Unternehmen erlebte, »ichhatte eine Bekannte unter den Engeln.«

»Sie werden sie in Oklahoma wiedersehen«, sagteder Diener, »nun aber kommen Sie, Sie sind der letz-te.«

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Er führte Karl an der hinteren Seite des Podiumsentlang, auf dem früher die Engel gestanden waren;jetzt waren dort nur mehr die leeren Postamente.Karls Annahme aber, daß ohne die Musik der Engelmehr Stellensuchende kommen würden, erwies sichnicht als richtig, denn vor dem Podium standen jetztüberhaupt keine Erwachsenen mehr, nur ein paar Kin-der kämpften um eine lange weiße Feder, die wahr-scheinlich aus einem Engelsflügel gefallen war. EinJunge hielt sie in die Höhe, während die anderen Kin-der mit einer Hand seinen Kopf niederdrücken wolltenund mit der anderen Hand nach der Feder langten.

Karl zeigte auf die Kinder, der Diener aber sagte,ohne hinzusehen: »Kommen Sie rascher, es hat sehrlange gedauert, ehe Sie aufgenommen wurden. Manhatte wohl Zweifel.«

»Ich weiß nicht«, sagte Karl erstaunt, er glaubte esaber nicht. Immer, selbst bei den klarsten Verhältnis-sen, fand sich doch irgend jemand, der seinem Mit-menschen Sorgen machen wollte. Aber vor demfreundlichen Anblick der großen Zuschauertribüne, zuder sie jetzt kamen, vergaß Karl bald die Bemerkungdes Dieners. Auf dieser Tribüne war nämlich einegroße, lange Bank, mit einem weißen Tuch gedeckt,alle Aufgenommenen saßen, mit dem Rücken zurRennbahn, auf der nächst tieferen Bank und wurdenbewirtet. Alle waren fröhlich und aufgeregt, gerade

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als sich Karl unbemerkt als letzter auf die Bank setz-te, standen viele mit erhobenen Gläsern auf, und einerhielt einen Trinkspruch auf den Führer der zehntenWerbetruppe, den er den »Vater der Stellensuchen-den« nannte. Jemand machte darauf aufmerksam, daßman ihn auch von hier aus sehen könne, und tatsäch-lich war die Schiedsrichtertribüne mit den zwei Her-ren in nicht allzu großer Entfernung sichtbar. Nunschwenkten alle ihre Gläser in diese Richtung, auchKarl faßte das vor ihm stehende Glas, aber so lautman auch rief und so sehr man sich bemerkbar zu ma-chen suchte, auf der Schiedsrichtertribüne deutetenichts darauf hin, daß man die Ovation bemerkte oderwenigstens bemerken wolle. Der Führer lehnte in derEcke wie früher, und der andere Herr stand nebenihm, die Hand am Kinn. Ein wenig enttäuscht setzteman sich wieder, hie und da drehte sich noch einernach der Schiedsrichtertribüne um, aber bald beschäf-tigte man sich nur mit dem reichlichen Essen; großesGeflügel, wie es Karl noch nie gesehen hatte, mit vie-len Gabeln in dem knusprig gebratenen Fleisch,wurde herumgetragen, Wein wurde immer wieder vonden Dienern eingeschenkt - man merkte es kaum,man war über seinen Teller gebückt, und in den Be-cher fiel der Strahl des roten Weines -, und wer sichan der allgemeinen Unterhaltung nicht beteiligenwollte, konnte Bilder von Ansichten des Theaters von

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Oklahoma besichtigen, die an einem Ende der Tafelaufgestapelt waren und von Hand zu Hand gehen soll-ten. Doch kümmerte man sich nicht viel um die Bil-der, und so geschah es, daß bei Karl, der der letztewar, nur ein Bild ankam. Nach diesem Bild zu schlie-ßen, mußten aber alle sehr sehenswert sein. DiesesBild stellte die Loge des Präsidenten der VereinigtenStaaten dar. Beim ersten Anblick konnte man denken,es sei nicht eine Loge, sondern die Bühne, so weit ge-schwungen ragte die Brüstung in den freien Raum.Diese Brüstung war ganz aus Gold in allen ihren Tei-len. Zwischen den wie mit der feinsten Schere ausge-schnittenen Säulchen waren nebeneinander Medail-lons früherer Präsidenten angebracht, einer hatte eineauffallend gerade Nase, aufgeworfene Lippen undunter gewölbten Lidern starrgesenkte Augen. Ringsum die Loge, von den Seiten und von der Höhe,kamen Strahlen von Licht; weißes und doch mildesLicht enthüllte förmlich den Vordergrund der Loge,während ihre Tiefe hinter rotem, unter vielen Tönun-gen sich faltendem Samt, der an der ganzen Umran-dung niederfiel und durch Schnüre gelenkt wurde, alseine dunkle, rötlich schimmernde Leere ersehnen.Man konnte sich in dieser Loge kaum Menschen vor-stellen, so selbstherrlich sah alles aus. Karl vergaßdas Essen nicht, sah aber doch oft die Abbildung an,die er neben seinen Teller gelegt hatte.

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Schließlich hätte er doch noch sehr gerne wenig-stens eines der übrigen Bilder angesehen, selbst holenwollte er es sich aber nicht, denn ein Diener hatte dieHand auf den Bildern liegen und die Reihenfolgemußte wohl gewahrt werden; er suchte also nur dieTafel zu überblicken und festzustellen, ob sich nichtdoch noch ein Bild nähere. Da bemerkte er staunend -zuerst glaubte er es gar nicht - unter den am tiefstenzum Essen gebeugten Gesichtern ein gut bekanntes:Giacomo. Gleich lief er zu ihm hin. »Giacomo!« riefer.

Dieser, schüchtern wie immer, wenn er überraschtwurde, erhob sich vom Essen, drehte sich in demschmalen Raum zwischen den Bänken, wischte mitder Hand den Mund, war dann aber sehr froh, Karl zusehen, bat ihn, sich neben ihn zu setzen, oder bot sichan, zu Karls Platz hinüberzukommen; sie wollten ein-ander alles erzählen und immer beisammen bleiben.Karl wollte die anderen nicht stören, jeder sollte des-halb vorläufig seinen Platz behalten, das Essen werdebald zu Ende sein, und dann wollten sie natürlichimmer zueinander halten. Aber Karl blieb doch nochbei Giacomo, nur um ihn anzusehen. Was für Erinne-rungen an vergangene Zeiten! Wo war die Oberkö-chin? Was machte Therese, Giacomo selbst hatte sichin seinem Äußeren fast gar nicht verändert, die Vor-aussage der Oberköchin, daß er in einem halben Jahr

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ein knochiger Amerikaner werden müsse, war nichteingetroffen, er war zart wie früher, die Wangen ein-gefallen wie früher, augenblicklich allerdings warensie gerundet, denn er hatte im Mund einen übergroßenBissen Fleisch, aus dem er die überflüssigen Knochenlangsam herauszog, um sie dann auf den Teller zuwerfen. Wie Karl an seiner Armbinde ablesen konnte,war auch Giacomo nicht als Schauspieler, sondern alsLiftjunge aufgenommen, das Theater von Oklahomaschien wirklich jeden brauchen zu können! In den An-blick Giacomos verloren, blieb aber Karl allzulangevon seinem Platze fort. Eben wollte er zurückkehren,da kam der Personalchef, stellte sich auf eine derhöher gelegenen Bänke, klatschte in die Hände undhielt eine kleine Ansprache, während die meisten auf-standen, und die Sitzengebliebenen, die sich nichtvom Essen trennen konnten, durch Stöße der anderenschließlich auch zum Aufstehen gezwungen wurden.

»Ich will hoffen«, sagte er, Karl war inzwischenschon auf den Fußspitzen zu seinem Platz zurückge-laufen, »daß Sie mit unserem Empfangsessen zufrie-den waren. Im allgemeinen lobt man das Essen unse-rer Werbetruppe. Leider muß ich die Tafel schon auf-heben, denn der Zug, der Sie nach Oklahoma bringensoll, fährt in fünf Minuten. Es ist zwar eine langeReise, Sie werden aber sehen, daß für Sie gut gesorgtist. Hier stelle ich Ihnen den Herrn vor, der Ihren

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Reisetransport führen wird und dem Sie Gehorsamschulden.«

Ein magerer, kleiner Herr erkletterte die Bank, aufwelcher der Personalchef stand, nahm sich kaum Zeit,eine flüchtige Verbeugung zu machen, sondern be-gann sofort mit ausgestreckten nervösen Händen zuzeigen, wie sie sich alle sammeln, ordnen und in Be-wegung setzen sollten. Aber zunächst folgte man ihmnicht, denn derjenige aus der Gesellschaft, der schonfrüher eine Rede gehalten hatte, schlug mit der Handauf den Tisch und begann eine längere Dankrede, ob-wohl - Karl wurde ganz unruhig - eben gesagt wor-den war, daß der Zug bald abfahre. Aber der Rednerachtete nicht einmal darauf, daß auch der Personal-chef nicht zuhörte, sondern dem Transportleiter ver-schiedene Anweisungen gab, er legte seine Rede großan, zählte alle Gerichte auf, die aufgetragen wordenwaren, gab über jedes sein Urteil ab, und schloß dannzusammenfassend mit dem Ausruf: »Geehrte Herren,so gewinnt man uns!« Alle außer den Angesproche-nen lachten, aber es war doch mehr Wahrheit alsScherz.

Diese Rede büßte man überdies damit, daß jetztder Weg zur Bahn im Laufschritt gemacht werdenmußte. Das war aber auch nicht sehr schwer, denn -Karl bemerkte es erst jetzt - niemand trug ein Ge-päckstück; das einzige Gepäckstück war eigentlich

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der Kinderwagen, der jetzt an der Spitze der Truppe,vom Vater gelenkt, wie haltlos auf und nieder sprang.Was für besitzlose, verdächtige Leute waren hier zu-sammengekommen und wurden doch so gut empfan-gen und behütet! Und dem Transportleiter mußten siegeradezu ans Herz gelegt worden sein. Bald faßte erselbst mit einer Hand die Lenkstange des Kinderwa-gens und erhob die andere, um die Truppe aufzumun-tern, bald war er hinter der letzten Reihe, die er an-trieb, bald lief er an den Seiten entlang, faßte einzelneLangsamere aus der Mitte ins Auge und suchte ihnenmit schwingenden Armen darzustellen, wie sie laufenmüßten.

Als sie auf dem Bahnhof ankamen, stand der Zugschon bereit. Die Leute auf dem Bahnhof zeigten ein-ander die Truppe, man hörte Ausrufe wie: »Alle diesegehören zum Theater von Oklahoma!«, das Theaterschien viel bekannter zu sein, als Karl angenommenhatte, allerdings hatte er sich um Theaterdinge nie-mals gekümmert. Ein ganzer Waggon war eigens fürdie Truppe bestimmt, der Transportleiter drängte zumEinsteigen mehr als der Schaffner. Er sah zuerst injede einzelne Abteilung, ordnete hie und da etwas,und erst dann stieg er selbst ein. Karl hatte zufälligeinen Fensterplatz bekommen und Giacomo nebensich gezogen. So saßen sie aneinandergedrängt undfreuten sich im Grunde beide auf die Fahrt. So

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sorgenlos hatten sie in Amerika noch keine Reise ge-macht. Als der Zug zu fahren begann, winkten sie mitden Händen aus dem Fenster, während die Burschenihnen gegenüber einander anstießen und es lächerlichfanden.

Sie fahren zwei Tage und zwei Nächte. Jetzt erstbegriff Karl die Größe Amerikas. Unermüdlich sah eraus dem Fenster, und Giacomo drängte sich so langemit heran, bis die Burschen gegenüber, die sich vielmit Kartenspiel beschäftigten, dessen überdrüssigwurden und ihm freiwillig den Fensterplatz einräum-ten. Karl dankte ihnen - Giacomos Englisch warnicht jedem verständlich -, und sie wurden im Laufeder Zeit, wie es unter Coupégenossen nicht anderssein kann, viel freundlicher; doch war auch ihreFreundlichkeit oft lästig, da sie zum Beispiel immer,wenn ihnen eine Karte auf den Boden fiel und sie denBoden nach ihr absuchten, Karl oder Giacomo mitaller Kraft ins Bein zwickten. Giacomo schrie dann,immer von neuem überrascht, und zog das Bein in dieHöhe, Karl versuchte einmal, mit einem Fußtritt zuantworten, duldete aber im übrigen alles schweigend.Alles, was ich in dem kleinen, selbst bei offenem Fen-ster von Rauch überfüllten Coupé ereignete, vergingvor dem, was draußen zu sehen war.

Am ersten Tag fuhren sie durch ein hohes Gebirge.Bläulich-schwarze Steinmassen gingen in spitzen

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Keilen bis an den Zug heran, man beugte sich ausdem Fenster und suchte vergebens ihre Gipfel, dunk-le, schmale, zerrissene Täler öffneten sich, man be-schrieb mit dem Finger die Richtung, in der sie sichverloren, breite Bergströme kamen, als große Wellenauf dem hügeligen Untergrund eilend und in sich tau-send kleine Schaumwellen treibend, sie stürzten sichunter die Brücken, über die der Zug fuhr, und siewaren so nah, daß der Hauch ihrer Kühle das Gesichterschauern machte.