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Kafka Parabeln Überblick über die zusammengestellten Materialien 1. Merkmale der Parabel (Kurzfassung) Seite 2 2. Merkmale der Parabel (Langfassung) Seite 3 3. Definition Parabel Seite 5 4. Der Aufbruch (Text) Seite 6 5. Kleine Fabel (Text und Leitfragen) Seite 7 6. Die Bäume (Text) Seite 8 7. Die Bäume - Ein marxistischer Interpretationsansatz Seite 9 8. Heimkehr (Text) Seite 10 9. Heimkehr (Detailanalyse) Seite 11 10. Zu Heimkehr und Der Aufbruch Fremdheitserfahrungen Seite 17 11. Vor dem Gesetz (Text) Seite 20 12. Vergleich der Figuren: Josef K. („Der Prozess") - Der Mann vom Lande („Vor dem Gesetz") Seite 21 13. Paralleltexte von Kunert Seite 22 14. Gleichnis vom verlorenen Sohn Seite 25 Links zu Kafka jolifanto /Kafka ZUM -Kafka

Kafka Parabeln Überblick über die zusammengestellten ... sek 1/Kafka... · 6 Franz Kafka: Der Aufbruch Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht

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Kafka Parabeln Überblick über die zusammengestellten Materialien

1. Merkmale der Parabel (Kurzfassung) Seite 2

2. Merkmale der Parabel (Langfassung) Seite 3

3. Definition Parabel Seite 5

4. Der Aufbruch (Text) Seite 6

5. Kleine Fabel (Text und Leitfragen) Seite 7

6. Die Bäume (Text) Seite 8

7. Die Bäume - Ein marxistischer Interpretationsansatz Seite 9

8. Heimkehr (Text) Seite 10

9. Heimkehr (Detailanalyse) Seite 11

10. Zu Heimkehr und Der Aufbruch

Fremdheitserfahrungen

Seite 17

11. Vor dem Gesetz (Text) Seite 20

12. Vergleich der Figuren: Josef K. („Der Prozess") -

Der Mann vom Lande („Vor dem Gesetz")

Seite 21

13. Paralleltexte von Kunert Seite 22

14. Gleichnis vom verlorenen Sohn Seite 25

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ZUM -Kafka

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Merkmale der Parabel (Kurzfassung)

Vom Griechischen "parabole"= Gleichnis, Vergleichun g

· Lehrhafte Erzählung, die eine · allgemeine (sittliche) Wahrheit oder Erkenntnis d urch einen · analogen Vergleich · aus einem anderen Vorstellun gsbereich erhellt (Analogieschluss), · der nicht ein in allen Einzelheiten unmittelbar ü bereinstimmendes Beispiel gibt wie die Fabel, · sondern nur in einem Vergleichspunkt mit dem Obje kt übereinstimmt, und die · im Gegensatz zum Gleichnis keine direkte Verknüpf ung (so - wie) mit dem zu erläuternden Objekt erhält.

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PARABEL - Die Parabel - eine zweifelhafte Offenbarung?

"Parabola, das Lehrgedicht / erzählet eine kurz Ges chichte / welche ihre Deutung hat / und auch geschehen könnte . Die Fabel aber erzählt vielmals / was nicht gescheh en kann und macht nicht nur die Tiere / sondern auch die St eine reden. Die lassen wir den alten Weibern / jene aber den ve rständigeren Leuten."

So definiert der Barockdichter Georg Philipp Harsdö rffer die kleine Kunstform, an der sich immer wieder große Autoren versucht hab en. Der Poetiklehrer Gottsched beschreibt die Parabel ganz nüchtern so: "... eine unter gewissen Umständen mögliche, aber nicht wirklich vorgefallen e Begebenheit, darunter eine moralische Wahrheit verborgen liegt."

Nun, wem da nicht die Lust zum Lesen vergeht! Da ha lten wir uns doch lieber an Johann Gottfried Herder: "... sie ist ein erhabenes, aber dunkles Bild, ein Götterspruch, den ein rätselhafter Parallelismus gleichsam nur von ferne hertönet ..." Das klingt ein bisschen rätselhaft ... Versuchen wi r es mit einer Erklärung aus dem 20. Jahrhundert! Sie stammt von Andre Jolles: " Die Parabel stellt zwar die Frage, aber sie gibt keine Antwort. Sie legt uns di e Pflicht der Entscheidung auf, aber die Entscheidung selbst enthält sie nicht ." Das ist doch eine echte Hilfe, oder nicht?

Die Parabel gehört wie die Fabel zu den Ausprägunge n bildlicher Erzählrede (vgl. Sprichwort, Gleichnis, Allegorie). Auch die P arabel verfolgt den Zweck, eine im Bild veranschaulichte Erkenntnis (Bildebene ) mit Hilfe eines Analogieschlusses auf die Erkenntnis selbst zu über tragen (Sinnebene). Insofern besteht zwischen Fabel und Parabel eine so weitgehende Übereinstimmung, dass eine prinzipielle Trennung ga r nicht möglich ist. Ein Unterschied besteht darin, dass die Fabel in erster Linie im Bereich von Tieren, Pflanzen, Dingen spielt. Sie muss deshalb anthropom orphisieren und die Züge ihrer Figuren "künstlich" stilisieren, während die Parabelhandlung Beispiel und Bild vorwiegend zwischenmenschlichen Verhältnissen entnimmt. Die Fabel verlagert den Problembereich nach "außen". Sie ist schematischer im Aufbau und in der Wahl des Kodes und ist deshalb auch in d er Deutung die einfachere Form. Die Parabel ist demgegenüber flexibler. Die B eziehungen zwischen Bild- und Sinnebene sind differenzierter und offener. Für den Leser ergeben sich oft verschiedene Dechiffrierungsmöglichkeiten. Denn wäh rend die Fabel als Ganzes Zug um Zug übertragen werden kann, gilt dies für die Parabel nur punktuell. Die Kunst der indirekten Belehrung führt hier über eine relativ selbständige Erzählung, die ohne Erklärung, ohne au sdrücklichen Bezug, vieldeutig bleibt. Die Vielschichtigkeit des gemein ten Sinns gilt besonders für die moderne Parabel. So führen Kafkas parabolische Erzählungen jedes Mal in Bereiche, die durch überkommene Wahrheiten kaum ers chlossen sind. Der Leser wird in seinem Selbst- und Weltverständnis na chhaltig verunsichert. Auch in Brechts Parabeln wird keine positive "Lehre " vermittelt, sondern es wird auf dem Weg über das Beispiel den geläufigen D enkweisen gegenüber

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zum Widerspruch aufgefordert. Der Leser soll lernen , eine kritische Haltung einzunehmen, darauf kann dann die von Brecht intend ierte revolutionäre Aktivierung aufbauen.

Der Unterschied zwischen Fabel und Parabel mag sich für Schüler darauf beschränken, dass für die beiden Formen verschieden e Figuren charakteristisch sind. Im Grunde gelten alle für di e Fabel angestellten didaktischen Überlegungen auch hier. Insofern werde n die Parabel und die parabolische Erzählung am besten durch eine gründli che Fabelbehandlung vorbereitet. Die Schüler werden dann mehr und mehr erkennen, dass die bildhafte Veranschaulichung ein Grundprinzip allen literarischen Gestaltens ist. Da die Parabel vergleicht, sind es auch hier v or allem die Bezugspunkte zwischen den verglichenen Bereichen, die sich der k ritischen Reflexion der Schüler anbieten. Sie müssen davon ausgehen, dass d ie Parabelhandlung Demonstrationsmaterial darstellt und keine isoliert e Geschichte ist, auch wenn sie das gelegentlich zu sein scheint. Die Parabel i st - wie die Fabel - ein rhetorisches Mittel des Erzählers, der das Gemeinte möglichst schlagend zum Ausdruck bringen will. Er greift deshalb zur Verkle idung durch die Parabel, weil er sich davon ein Höchstmaß an Wirkung verspricht. Dass sich auch demagogische Absicht hinter dieser Form verbergen k ann, zeigt das Beispiel vom Aufstand der Glieder gegen den Magen. Um so meh r sind die Schüler aufgefordert, der Beweiskraft der Parabel nicht ohn e weiteres zu vertrauen, sondern die Argumentation kritisch zu überprüfen. B esonders die modernen Parabeln sind ohne intensive Auseinandersetzung nic ht zu bewältigen.

(aus: Literaturunterricht im 9. Schuljahr, Lehrerband zum Lesebuch C9; Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1972

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Was ist eine Parabel?

Wir unterscheiden : Gleichnisse : Gleichnis vom Sämann Parabeln : Der verlorene Sohn Beispielerzählungen : Der barmherzige Samariter

Der eigentliche Sinn dieser Aussagen besteht in der Anwendung eines Falles auf einen ähnlichen Fall: Geh hin und tu desgleiche n! Da der Begriff der Parabel sich im Laufe der Geschichte verändert und weiterentwickelt hat, ist eine eindeutige Bestimmung schwierig. "Zur Parabelstruktur aber gehören folgende Elemente : die bündige Erzählung als Beweisstück der Rede; die Beschränkung auf eine n Fall (Kasus), der ähnliche Fälle erhellen kann; die Zuspitzung auf ei n Wort oder Zeichen (Apophthegma oder Emblem )." (Clemens Heselhaus)

Im Hinblick auf die Beispiele besagt das:

1. Sie enthalten Elemente der realen, sinnlich-wahr nehmbaren Welt. 2. Die klar gegliederte Erzählung eines Vorgangs au f dem Boden der Realität weist aber schon hinaus auf eine erfundene Realität . (Beispiele?) 3. Schließlich wird der Übergang von der Realität z ur Irrealität, zur Nicht-Wirklichkeit sichtbar. (Bringe den Nachweis aus den Texten!) 4. Der Leer wird einem bestimmten Fall gegenüberges tellt, der aber auf einen allgemeingültigen Fall hinweist. Das drückt sich au ch in der Struktur und Form des Sprechens aus. (Beispiele?) 5. zunächst wird nur die vordergründige Welt sichtb ar, aber dahinter erscheint das menschliche Dasein in seinen sozialen, politisc hen, wirtschaftlichen, religiösen Bezügen. (Beispiele?) 6. Je nach Charakter, Temperament, Zeitumständen und Umwelt des Autors hat jede Parabel einen anderen Akzent. Wo liegt er bei diesen Parabeln? 7. Die Parabel ist so angelegt, dass sie den Leser und Hörer nicht aus dem Nachdenken entlässt.

Aus: Hirschenauer, Verstehen und Gestalten 5.Oldenbourg, Mü 1976

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Franz Kafka:

Der Aufbruch

Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: "Wohin reitest du, Herr?", "Ich weiß es nicht", sagte ich, "nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen." "Du kennst also dein Ziel?", fragte er.

"Ja", antwortete ich, "ich sagte es doch: 'Weg-von-hier', das ist mein Ziel." "du hast keinen Essvorrat mit", sagte er. "Ich brauche keinen", sagte ich, "die Reise ist so lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Essvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise."

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Kafka: Kleine Fabel

„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ - „Du musst nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie. Mögliche Leitfragen zur Erschließung des Textes: ♦ Warum die Angst, als die Welt „so breit“ war und das Glücksgefühl, als „endlich

rechts und links in der Ferne Mauern“ auftauchten?

♦ Was symbolisieren die ‘Breite’ und die „Mauern“?

♦ Bewegen sich die Mauern wirklich, wie es der Maus scheint?

♦ Wann kommt der Umschwung vom ‘Laufen’ der Maus und dem ‘Eilen’ der Mauern? Wie kann es zu diesem Umschwung kommen?

♦ Woher kommt die Katze, wann taucht sie (evtl. bereits vorher außerhalb der Wahrnehmung der Maus) auf?

♦ Wer ist die Maus? Wer die Katze?

♦ Gibt es einen Ausweg, wenn ja: Wann und worin besteht er?

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Franz Kafka: Die Bäume

Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.

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Die Bäume (Franz Kafka)

Ein marxistischer Interpretationsansatz Die marxistische Interpretation bemängelte an Kafka das Fehlen des positiven Helden, der beim Aufbau des Sozialismus als Vorbild dienen konnte. Zumindest jedoch wollte man als Idee eine klare sozialistische „Tendenz“. Dieser Begriff ist einer der wichtigsten in der marxistischen Interpretationsmethode. Wegen seines Weltbildes wird Kafka denn auch heftig kritisiert. Die bedeutenden Formqualitäten Kafkas haben jedoch die marxistischen Literaturkritiker nicht ruhen lassen. Seit etwa 1960 schlug ihre negative Wertung um und wurde zumindest in Ansätzen positiv. Sie bahnt sich in dem folgenden Passus von Helmut Richter an: Das Stück „Die Bäume“ will den Begriff der menschlichen Eintracht näher bestimmen.

„Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit keinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden, aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.“

Kafka betrachtet die menschliche Gemeinschaft als eine Ansammlung Entwurzelter, Gefällter, die nur scheinbar mit ihrem Heimatboden verbunden sind und sich willenlos ihrer Umwelt anpassen müssen. Dieses Gleichnis von den gefällten Bäumen im Schnee ist von der Überzeugung erfüllt, dass dem Menschen die Existenzgrundlage genommen ist. Damit hat dieser sein festes, bestimmtes Wesen verloren, die Form seines Daseins ist abhängig geworden von der

Intensität des Druckes, den man auf ihn ausübt. Kafka mag die grausige Klarheit und Konsequenz seines Gedankens selbst empfunden haben; er deutet nur an, spricht nicht aus, dass dieser Vergleich nichts anderes bedeutet, als die menschliche Gemeinschaft mit der Eintracht eines Friedhofs gleichzusetzen. Wiederum hat sich die für unlösbar gehaltene Problematik des Einzelnen zur These von der prinzipiellen Daseinsverfehlung des

Menschen gesteigert. Richter, Helmut: Franz Kafka. Werk und Entwurf. Berlin (Ost, Rütten und Loenig), 1962, S. 75

Für Richter, den marxistischen Literaturkritiker, erscheint Kafka hier als ein Dichter, der sich um die wahre Einsicht bemüht, sie aber nicht findet, weil er sich nicht von der pessimistischen Einstellung lösen kann. Für den Marxisten muss die Welt außerhalb kapitalistischer Verhältnisse optimistisch beurteilt werden. Zumindest jedoch müssen die Sympathien des Dichters, auf wessen Seite er im Klassenkampf steht, deutlich werden.

Entnommen aus.

Verlag für digitale Unterrichtsvorbereitung

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Heimkehr

Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinander verfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffe zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich fühle mich sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht an der Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.

Franz Kafka: Heimkehr

1. Entstehung und Einordnung Der 1920 entstandene Text ist von Brod mit Titel versehen und veröffentlicht worden. Er gehört in inhaltlicher wie formaler Hinsicht zu jener Gruppe von parabolischen Kurztexten, die ein Motiv der abendländischen Tradition zum Gegenstand haben (...). Sie sind alle in der Zeit zwischen 1917 und 1920 konzipiert, aber von Kafka selbst der Veröffentlichung nicht würdig befunden worden. Gemeinsam haben sie außer der starken Inhaltsreduzierung auf bestimmte Grundzüge eine für Kafka bemerkenswerte Rationalität der Aussage. Die Bezugnahme auf überindividuell tradierte Motive scheint überindividuellen Gültigkeitsanspruch zu implizieren, jedenfalls wenn kein ausdrücklicher Ich-Bezug hergestellt wird. Die „Heimkehr" nimmt insofern eine gewisse Ausnahmestellung ein, als hier ausschließlich aus der personalen Perspektive des „Verlorenen Sohnes" erzählt wird. 2. Der literarische Bezug Damit ist der Bezugstext schon genannt: das biblische Gleichnis vom „Verlorenen Sohn". Für die Interpretation des Kafka-Textes sind vor allem die Abweichungen von der biblischen Vorlage wichtig: der biblische Text ist in den Kontext eingebettet. Seine Gleichnisfunktion wird betont, seine Lehre resümiert. Gezeigt werden soll Gottes verzeihende Gnade, die dem reuigen Sünder zuteil wird, selbst wenn er noch so spät umkehrt und keinerlei gute Werke vorzuweisen hat. Der Text wird in der dritten Person und im Präteritum erzählt. Höhepunkt

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bildet die Wiederbegrüßungsszene. Die Szene wird dialogisch ausgestaltet. Nicht unwichtig für das Verständnis ist die Belehrung des unzufriedenen braven Sohnes. Kafka hingegen gestaltet nur einen bestimmten Augenblick der Heimkehr. Abweichend von der biblischen Erzählhaltung wählt er die Ich-Form und die Perspektive des Verlorenen Sohnes. Die Redeweise ist nicht die des Erzählens, sondern des Beschreibens. In einen inneren Monolog wird zunächst die äußere, dann die innere Situation geschildert. Durchgehendes Tempus ist das Präsens. Lediglich das Faktum der Rückkehr wird im Perfekt mitgeteilt und somit auf die Gegenwart bezogen („Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten ... Ich bin angekommen."). Die Zukunft wird nur einmal ihn einer (unbeantworteten) futuristischen Frage angesprochen („Wer wir mich empfangen?"). Im Gegensatz zum Gleichnis der Bibel wird keine explizite Lehre mitgeteilt, es sei denn, dass man den einzigen Aussagesatz, in dem die Ich-Form durch das verallgemeinernde „man" abgelöst wird, so versteht: „Je länger man vor der Tür steht, desto fremder wird man." Anfang und Ende bleiben inhaltlich offen. Gründe für die Ausreise werden ebenso wenig mitgeteilt wie Gründe für die Rückkehr. Wie weit die Reise geführt hat, wie lange sie gedauert hat, was der Sohn erlebt hat, scheint irrelevant zu sein - oder aber es wird als selbstverständlich bekannt vorausgesetzt. Im krassen Gegensatz zur Bibel findet keinerlei Kontakt zwischen Personen statt. Ja, es bleibt - offenbar nicht nur für den Leser, sondern auch für das Ich - ungewiss, ob der Vater, den das Ich als einzige Person erwähnt, überhaupt noch lebt bzw. in dem Hause wohnt. Die Offenheit des Schlusses ergibt sich aus der bleibenden existentiellen Ungewissheit; sie artikuliert sich in den irrealen Fragen, die den (Nicht-) Abschluss und insofern die Parabellehre bilden: die Paradoxie einer Heimkehr ohne Einkehr.

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3. Detailanalyse Das bei Kafka so häufige Handlungsmuster von aufsteigender Handlung, Peripetie und Rückläufigkeit schimmert auch hier durch, aber in gedämpfter Form. Die Betonung von „ich bin zurückgekehrt", „ich bin angekommen" im ersten Drittel des Textes deutet auf eine positive Entwicklung hin. Aber die anschließenden Fragen und die Zusammenfassung zu „Ich bin unsicher" hemmen die Vorwärtsbewegung. Das im nächsten Satz auftauchende einzige „aber" dieses Textes („aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt) lässt den Umschlag erwarten. Die folgende rhetorische Frage „Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn" nimmt die Erklärung für das folgende Verhalten des Sohnes vorweg: das Zurückschrecken vor der Kontaktaufnahme aufgrund des Gefühls der eigenen Nichtigkeit. Die „Rückläufigkeit" des Geschehens führt hier nicht zur Flucht oder ins Exil, sondern zur Erstarrung vor der Küchentür. Darin ähnelt die „Heimkehr" der Parabel „Vor dem Gesetz", wo der „Mann vom Lande" sein Leben vor der unverschlossenen Tür verbringt. Im ersten Drittel des Textes wird die äußere Umgebung unbiblisch und realistisch beschrieben. Zwar ist es nicht etwa der aus „Urteil" und „Verwandlung" bekannte räumliche Rahmen der Kafka’schen Wohnung in der Stadt, sondern ein jämmerliches bäuerliches Anwesen, aber eindeutig der heutigen Gegenwart zugeordnet („Kaffee zum Abendessen wird gekocht"). Im Gegensatz zum biblischen Gleichnis wird eine Reihe von Details eingeführt, die sich einer durchgängigen allegorischen Deutung entziehen (Pfütze, Katze, Bodentreppe usw.). Damit

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wird die Realität der Situation unterstrichen. Offenbar will Kafka den Text nicht als bloße Allegorie verstanden wissen. Die Dinge, denen sich das Ich bei seiner Rückkehr gegenübersieht, bieten in ihrer Gesamtheit ein deprimierendes Bild von Verfall, Öde und Sinnlosigkeit. Kein Laut ist zu hören, kein Mensch zu sehen. Man erfährt nicht einmal, welche Personen außer dem Vater hier wohnen sollten. Sich selbst definiert das Ich lediglich als „meines Vaters, des alten Landwirts Sohn", als ob sich seine Identität darin erschöpfte. Das Alter der Dinge verweist zurück auf eine längst vergangene Kindheit am väterlichen Hof. Letztes Signal dieser Kindheit bildet möglicherweise „ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden". Es erinnert an die „Fahne des Robinson" in dem Brief an Bord vom 12.7.1922: „Ich bin von zuhause fort und muss immerfort nachhause schreiben, auch wenn alles Zuhause längst fortgeschwommen sein sollte in die Ewigkeit. Dieses ganze Schreiben ist nichts als die Fahne des Robinson ..." (a. a. O. 392). Die Dinge präsentieren sich in der Gegenwart als unnütz, hinderlich, abweisend-feindselig und isoliert voneinander („unbrauchbares Gerät, ineinander verfahren, verstellt den Weg ... kalt steht Stück neben Stück"). Die lauernde Katze erinnert an die Katze der „Kleinen Fabel". Ihr Lauern verspricht nichts Gutes. Die Gegenstände werden vermenschlicht („jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt") und mit den Bewohnern des Hauses in eine Reihe gestellt. Das verbindende Element bildet die Unzugänglichkeit gegenüber dem Heimkehrer. Das „ihnen" des folgenden Satzes bezieht sich nominell auf die Dinge, kann aber eigentlich nur auflebende Personen bezogen sein: „Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen ..."

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Nur zwei, allerdings undeutliche Zeichen wirken wie mögliche Signale aus dem Innern des Hauses: das „Rauchzeichen" signalisiert Leben und Wärme in der Küche (allerdings nur für die unbekannten „andern" bestimmt). Das Uhrenschlagen, das aber vielleicht nur eine täuschende Erinnerung ist, stellt eine subjektive Verbindung zu den „Kindertagen" her, die das Ich ja im Hause verbracht hat. Dieses Zeit- und Existenzsymbol hat Entsprechungen in verschiedenen Kafka-Texten, so z.B. in „Gib’s auf" oder auch in „Prozess", „Verwandlung" und „Urteil". Man denke an die Uhrkette, die Georg Bendemanns Kind-Vater-Bindung symbolisiert. Offenbar hat der Uhrenschlag in der „Heimkehr" eine vergleichbare Funktion. Gerade an der Ausprägung diese Zeitsymbols wird der stilistische und atmosphärische Unterschied zwischen dem 1912 entstandenen „Urteil" und der späten „Heimkehr" (1920) greifbar. Die Dramatik des Kampfes ist einer eher lyriknahen Resignation gewichen. Die Bewegung erstarrt. Kein Wort fällt. Keine Bewegung findet statt, weil der Sohn im Gegensatz zu dem jungen Bendemann den Schritt über die Schwelle zum Zimmer des Vaters nicht mehr wagt. Das Zögern vor dem Eintritt - als Dauerzustand - entspricht exakt der Existenzsituation Kafkas, wie er sie in seiner Spätzeit sieht: „Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt" (...). Zur Zeit der Entstehung der „Heimkehr" hatte Kafka offenbar das Gefühl, er werde nie mehr einen Versuch zur Beziehungsaufnahme machen. Die letzten Ansätze dazu lagen ein Jahr zurück (Verlobung mit Julie Wohryzek 1919 - Entlobung 1920, Brief an den Vater, 1919, nie übermittelt). Den selbstverständlichen Ich-Bezug des Heimkehr - Motivs bestätigt eine Tagebuchstelle: „Es war ihm unmöglich gewesen, in das Haus einzutreten, denn er hatte eine Stimme gehört, welche ihm sagte: ‘Warte, bis ich dich führen werde!’ Und so lag er noch immer im Staub vor dem Haus..." (...).

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(aus: Reinhard Meurer: Franz Kafka: Erzählungen. München 1984 (Oldenbourg-Interpretationen) s. * Parabeltext * Weitere Interpretationen dazu ° Werkimmanente Interpretation ° Die biografische Interpretation ° Historische Interpretation ° Die soziologische Interpretation ° Die psychologische Interpretatioin ° Die religionsphilosophische Interpretation * Biblischer Vergleichstext -------------------------------------------------------------------------------- © Helmut Kerber, Koordinator bei der ZUM - Internet Inhaltsverzeichnis Klasse 5/6 | Inhaltsverzeichnis Klasse 7/8 | Inhaltsverzeichnis Klasse 9/10 | Leitseite | Zentralseite | ZUM | Stichwortsuche | Autorensuche | ZUM/Weltweit-Suche

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Kafka: Parabeln

Fremdheitserfahrungen 1: ein personaler Zugang � Demonstrationsfolie zum Clustering

1. Einführung in Theorie und Praxis des Clustering-Verfahrens (wenn nötig)

2. Cluster zum Begriff „fremd“

3. Aufgabe: Schreibe den Anfang einer Geschichte zum Thema „fremd“.

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Fremdheitserfahrungen 2: Heimkehr � Kafka: Heimkehr (A5)

� Der verlorene Sohn (Lukas 15, 11-32) (A5)

1. empathisch-kreativer Zugang:

� a) Verfasse einen inneren Monolog des Ich-Erzählers! Oder:

b) Erzähle das Geschehen aus der Sicht der Tür, die den heimkehrenden Sohn

von den Eltern trennt!

� Interpretation des Kernsatzes: „Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder

wird man.“

2. analytischer Zugang:

Vergleich mit dem „Gleichnis vom verlorenen Sohn“

a) Berührungspunkte

b) Unterschiede � Aussageabsicht

(Suche nach den heimatlichen Wurzeln – Erkenntnis ihres Verlustes)

c) Der „verlorene Sohn“ als Gleichnis

� Was ist eine Parabel?

d) Konsequenzen für die Kafka-Interpretation?

Fremdheitserfahrungen 3: Der Aufbruch � Kafka, Der Aufbruch (A5)

1. Analytischer Zugang: Vergleich mit „Heimkehr“

komplementäre Sehnsüchte: Suche nach Heimat/Befreiung aus 5 heimatlicher Enge

2. kreative Aufgabe:

Verfasse einen inneren Monolog des Ich-Erzählers!

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Kafka Vor dem Gesetz 10

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. »Es ist möglich«, sagt der Türhüter, »jetzt aber nicht.« Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, 15 bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: »Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kam nicht einmal ich mehr ertragen.« Solche 20 Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von 25 der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der 30 Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: »Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.« Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das 35 einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht 40 schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da 45 er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. »Was willst du denn jetzt noch wissen?« fragt der Türhüter, »du bist unersättlich. « »Alle streben doch nach dem Gesetz«, sagt der Mann, »wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?« Der 50 Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: »Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«

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Franz Kafka:

Der Prozess

Vergleich der Figuren: Josef K. („Der Prozess")

Der Mann vom Lande („Vor dem Gesetz")

Josef K Der Mann vom Lande

· Vergeblicher Kampf nach der Verhaftung · K.s Wunsch nach wirklicher Freisprechung (Titorelli - Szene) · Anrennen gegen niedrige Instanz, die selbst keinen echten Zugang zur oberen Hierarchie des „Gerichtes" hat · Roman: K. trägt teilweise selbst die Verantwortung für sein Scheitern. ° Mangelnde Entschlossenheit, sich gegen die Verhaftung zu wehren (1. Kap.) ° Vor Gericht verlassen ihn die Kräfte ° Auf die Hilfe des Geistlichen angewiesen, den er in seiner Autoritätsgläubigkeit durchschaut hat (Dom - Szene) · Im Verlauf des Kampfes immer kindischer, hilfloser und korrumpierter · Kampf aus freier Entscheidung: K. würde vom Gericht entlassen, wenn er wollte (Aussage des Geistlichen)· Am Ende des Prozesses: sinnloser Tod

· Vergeblicher Kampf, ins Gesetz vorzudringen · „Gesetz" = Ort der Erfüllung einer menschlichen Existenz · Anrennen gegen Türhüter, der selbst keinen Zugang zum „Gesetz" hat · Parabel: Mann vom Lande trägt teilweise selbst Verantwortung für die Erfolglosigkeit seines Suchens: ° Mangelnde Entschlossenheit, ins „Gesetz" hineinzugehen ° versteht zweideutige Reden des Türhüters als Trost · Im Verlauf des Kampfes immer kindischer, hilfloser und korrumpierter · Kampf aus freier Entscheidung. Mann vom Lande könnte weggehen· Am Ende des beharrlichen Wartens: sinnloser Tod

Kampf des Menschen, dahin zu gelangen, wo er seine menschliche Existenz in wahrer, idealer Form vollziehen kann

Beide ( K. / Mann vom Lande) scheitern, teils aus U nentschlossenheit und teils aus Schuld der ihnen gegenüberstehenden „Instanz", die geheimnisvoll und

verschlossen bleibt

Kafkas eigene Auseinandersetzung um die ihm gemäße Existenzfo rm

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Vergleich zweier motivähnlicher Parabeln: Franz Kafka: " Auf der Galerie" Günther Kunert: Zirkuswesen Vergleich zweier motivgleicher Parabeln und eines G edichtes Franz Kafka " Vor dem Gesetz " Günther Kunert: " Türen " Günther Kunert: " Im weiteren Fortgang "

Günter Kunert: Türen Als nach dem Anklopfen, es gab keine Klingel, niemand öffnete, drückte ich die Bronzeklinke nieder, ein vollbrüstiges Weib, das mit dem Unterkörper in einem Drachenrachen steckte, aus welchem sie gespien wurde: ob als Feuer 5 oder als unverdaulich, verheimlichte das Symbol. Die Angeln waren hörbar lange Zeit nicht geölt worden, ich mußte stark zerren, dann wurde der Spalt weiter und weiter. Die kassettierte schwere Eichenplatte schwang auf, 10 um eine weitere, von der ersten vielleicht fünfzig Zentimeter entfernte Tür freizugeben. Diese war weiß lackiert und mit Voluten und Rauten versehen, von denen die Vergoldung sacht abblätterte; winzige schimmernde 15 Flecken lagen auf dem Boden. Ich nahm auch diese Klinke in die Hand, sie ließ sich leicht bewegen, ich zog, die Tür kam mir sofort entgegen und zeigte hinter ihrem Rücken eine neue Tür, schwere Beschläge aus 20 Schmiedeeisen, Holzwurmlöcher, ein ehrbares Alter, schwer zu schätzen, aus welchem Jahrhundert sie stammen mochte, für ihre Greisenhaftigkeit jedenfalls klappte sie überraschend schnell auf, damit eine neue Tür, 25 die sich hinter dieser Antiquität verborgen hatte, den Eintrittswilligen mit einer lackschwarzen Fläche erschreckte. Sollte ich erneut anklopfen, da ich jetzt wohl zum ersten bewohnten Raum des Hauses vorstieß? Ich war herbestellt, 30 beinahe herbeordert worden, „in meinem eigenen Interesse", wie es verheißungsvoll und drohend zugleich geheißen hatte, und da ich gewohnt war, auf Drohung wie auf Verheißung zu reagieren, nicht mitzuzweifeln, 35 mitzureagieren bin ich da, stand ich nun vor der schwarzen Pforte und klopfte bang und neugierig. Nachdem kein Ruf erscholl, öffnete ich vorsichtig auch diese Tür, hinter der mich eine weiße Tür mit Milchglasscheiben begrüßte, 40 medizinisch steril, mit einem weißen Klingelknopf im Rahmen zwischen der eben durchschrittenen schwarzen und der mich kühl, doch nicht unfreundlich empfangenden Fläche. Der Klingelknopf erfüllte mich mit Gewißheit, 45 endlich am Ziel angelangt zu sein. Den Daumen draufgedrückt; ein Summen ertönte: Die weiße Tür kam mir so überraschend und

plötzlich entgegen, daß ich hastig zurücksprang. Sie stand weit offen, ich ging 50 hindurch, einen kleinen Schritt weit, um vor einer rohhölzernen Tür zu stehen, in der sich in Augenhöhe ein ausgesägtes Herz befand: Wollten die mich verhöhnen? Durch das ausgesägte Herz ließ sich nichts erkennen, ein 55 Lappen oder dergleichen hing innen davor. Hier war auch keine Klinke, nur ein primitiver Griff, an dem ich zog, und indem ich sie aufzog, schlug mir ein unangenehmer Geruch entgegen, vor dem ich durch die nächste und 60 übernächste Tür floh, die ich rasch hinter mir zuzog, so daß ich quer in dem flachen Raum stand, dessen schwenkbare Wände, die Türen, ich mit den Schultern berührte. Die nächsten fünf oder sechs ähnelten in ihrer steifen 65 Großartigkeit denen in der Hofburg zu Wien, dann aber kam unvermutet eine aus Blech mit der Aufschrift LUFTSCHUTZRAUM und oben wie unten einem großen Hebel, die ich nur mit Mühe lockern und lösen konnte. Dahinter 70 gingen die kaiserlich-königlichen Stücke Stück für Stück weiter, hörten wieder auf, um etwa zehn bis fünfzehn, die genaue Anzahl weiß ich nicht mehr, Kellertüren Platz zu machen, die auch tatsächlich eine abwärtsführende Stufe 75 auf der Gegenseite besaßen, so daß ich deutlich abwärts gelangte: wenigstens eine Veränderung! Leider kamen dann Bodentüren mit einer Stufe vor sich, ebenfalls zehn oder fünfzehn, und es ging wieder aufwärts und 80 wahrscheinlich auf derselben alten gleichen Ebene voran. Viel zu spät fing ich an die Türen zu zählen, erreichte die Zahl vierhundertachtzehn, als das erste Schild an einer Tür erschien: BITTE EINTRETEN! Noch 85 einmal stutzte ich erwartungsvoll, blickte zurück in einen langen, sich perspektivisch verjüngenden Gang, den die Türen, die ich offengelassen hatte, einrahmten, und der sich so weit hinstreckte, daß der Abschluß in 90 Richtung meines Eintretens gar nicht auszumachen war. Der sofortigen Enttäuschung nach BITTE EINTRETEN folgte: HIER KLOPFEN, doch auch das bewirkte nichts und hatte nichts zu bedeuten. 95 Mahnungen wie EINTRITT NUR NACH

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VORHERIGER ANMELDUNG oder EINTRIIT NUR NACH AUFRUF ignorierte ich einfach, ich wußte schon, es besagte nichts. Ich schritt voran, griff zu Klinken, klinkte, zog auf, ging, 100 griff, setzte die immer gleiche Geste fort und nahm auch das Wort NOTAUSGANG nur halb wahr, als ich ihn schon automatisch öffnete und auf der Straße stand, Passanten an mir vorübereilten, Autos fuhren, Straßenbahnen, 105 Lastwagen und der Wind in ein paar übriggebliebenen Straßenbäumen rauschte. Da ich die Tür mit dem gleichen Automatismus hinter mir ins Schloß geworfen hatte, lohnte kein Rückblick: Da war nur eine braune 110

Haustür, schmutzig und verwittert. Wo bei diesem Spaziergang durch die Türen mein „eigenes Interesse" gewesen sein soll, wurde mir nicht klar; ich hatte niemand gesehen, niemand gesprochen, nichts erlebt außer einem 115 kilometerlangen Fußmarsch, der ganz ohne Sinn war und zu dem sich auch nachträglich kein Sinn einstellte. Es blieb: vertrödelte Zeit, sagte ich mir: einfach vertrödelte Zeit. 120 in: Günter Kunert, Der Mittelpunkt der Erde, Berlin 1975

Günter Kunert, Im weiteren Fortgang Durch Türen doch hinter keiner das erbangte Daheim endlich Geborgenheit dauerhaftes Ausruhen Freunde nichts dahinter als die alten Versprechen: neue Türen.

in: Günter Kunert, Im weiteren Fortgang, München 1974

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Günter Kunert: Zirkuswesen Kaum hatte die Vorstellung begonnen, ertönte ein einstimmiger Entsetzensschrei des Publikums: Der Dompteur war über seinen schönsten Königstiger hergefallen und hatte sich in dessen Nacken verbissen. Als sich die Besucher hastig aus dem Zelt drängten, gab das Tier schon kein Lebenszeichen mehr von sich. Die anderen Gefleckten, Gestreiften und Geringelten pressten sich mit eingezogenen Schwänzen ans Gitter und heulten auf, als sich der Dompteur erhob, um sich auf die Tür de Käfigs zu stürzen, in dem er seine Attraktion vorführte. Die metallenen Stäbe flogen auseinander, und er stürmte ins Freie. Unaufhaltsam stampfte er in seinen hohen, schwarzen Stiefeln sporenklirrend auf die Straße und durch sie. „Der Dompteur ist los! Der Dompteur ist los!" ächzte es von Haus zu Haus; er selber aber schrie und dröhnte und donnerte durch die Gassen, knallte mit der Peitsche und schnalzte mit den Fingern, daß niemand davon verschont ward. Seinen Weg säumten auf Händen stehende Straßenbahnschaffnerinnen, auf Wäscheleinen balancierende Hauswarte, oder in strammer Haltung gelähmte Feuerwehrleute, die erst seinetwegen und dann vor ihm ausgerückt waren. Bei jedem Peitschenknall sprangen Großväter in ihren Stuben keuchend auf den Tisch oder auf den Ofen, wo sie mit angewinkelten Armen hocken blieben. Der Dompteur ist los! Der Dompteur ist los! Angst und Schrecken und erstaunliche, eilfertig ausgeführte Dressurleistungen griffen immer weiter um sich. Auf ihren Stühlen in ihren Wohnungen kauerten die Bewohner der Stadt, auf den Peitschenknall lauernd, der ihnen erlaubte, zu Boden zu springen und knurrend und murrend in die Küche oder ins Bett zu schleichen. Endlich, drei Abende später, gelang es, den Dompteur einzufangen und zum Bürgermeister zu machen; seitdem herrscht in der Stadt wieder Ruhe und Ordnung. Und ein ganz unglaublicher Aufschwung des Zirkuswesens läßt sich nicht länger leugnen.

Idee des Vergleichs mit den Kunert-Texten entnommen aus: ZUM-Kafka

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Der verlorene Sohn (Lukas 15, 11-32) Ein Mensch hatte zwei Söhne. Und der jüngere unter ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Teil der Güter, das mir gehört. Und er teilte ihnen das Gut. Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog ferne über Land; und daselbst brachte er sein Gut um mit Prassen. Als er nun all das Seine verzehrt hatte, ward eine große Teuerung durch dasselbe ganze Land, und er fing an zu darben und ging hin und hängte sich an einen Bürger desselben Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit Trebern, die die Säue aßen; und niemand gab sie ihm. Da schlug er in sich und sprach: Wieviel Tagelöhner hat mein Vater, die Brot die Fülle haben, und ich verderbe im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner! Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Da er aber noch ferne von dannen war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn, lief und fiel ihm um seinen Hals und küsste ihn. Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße. Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Kleid hervor und tut es ihm an und gebet ihm einen Fingerreif an seine Hand und Schuhe an seine Füße und bringt das Kalb, das wir gemästet haben, und schlachtet's; lasset uns essen und fröhlich sein! Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein. Aber der ältere Sohn war auf dem Felde. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er das Singen und den Reigen und rief zu sich der Knechte einen und fragte, was das wäre. Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wieder hat. Da ward er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn. Er aber antwortete und sprach zum Vater: Siehe, so viel Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten; und du hast mir nie einen Bock gegeben, daß ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Gut mit Dirnen verpraßt hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.