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K ANON Marek, Schulz Hg. IV

KANON - fink.de · Kristin Marek Martin Schulz Hg. Wilhelm Fink KANON Kunstgeschichte Einführung in Werke, Methoden und Epochen Ge G e N wA rt IV

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K A N O NMarek, Schulz Hg.

IV

Kristin Marek Martin Schulz Hg.

Wilhelm Fink

K A N O NK u n s t g e s c h i c h t e

Einführung in Werke, Methoden und Epochen

G e G e N w A r t

IV

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2015 Wilhelm Fink, PaderbornWilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn

Internet: www.fink.de

Gestaltung: Sahar Aharoni, Karlsruhe

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co KG, Paderborn

ISBN: 978-3-7705-5465-2

INHALTsvErzEIcHNIs

Kristin Marek/Martin Schulz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Vorab

1962 Barbar a Filser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Chris Markers »La Jetée« und die Frage

naCh der FotograFie iM FiLM

1965 Maja Naef . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

ZeiChnung, PerForManCe, interPretation:

»Wie Man eineM toten hasen die biLder erkLärt«

Von JosePh beuys

1965 –1983 Martina Dobbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

bernd und hiLLa beCher – »anonyMe skuLPturen«.

biLdLiChes Zeigen in der FotograFie

1968 Samantha Schr amm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

site, non-site und die FotograFie:

robert sMithsons »six stoPs on a seCtion«

1968 Friederike Wappler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Post-MiniMaLisM. Über bruCe nauMans

»ConCrete taPe reCorder PieCe«

1968 Martin Schulz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

iMi knoebeL, »sChWarZes kreuZ«.

gegenstandsLose kunst ZWisChen MaLerei

und instaLLation

1970 Ger ald Schröder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

die »ZerreissProbe« Von gÜnter brus.

Zur sChoCkästhetik iM Wiener aktionisMus

1971 Sabine Flach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Vito aCConCi, »Centers«

kunst aLs PhänoMenoLogisChes ereignis

1971–1986 Carsten Ruhl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

die arChitektur des biLdes. aLdo rossis

FriedhoF san CataLdo in Modena

1974 R ainer Metzger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

dan grahaM, »Present – Continuous – Past(s)«.

kunst naCh deM ModernisMus

1987 Birgit Mersmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

»a book FroM the sky«. xu bings hiMMLisChe

›kunst der sChriFt‹ iM sPiegeL ChinesisCher kuLtur-

gesChiChte und gLobaLer gegenWartskunst

1988 Garbriele Genge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

kunstgesChiChte iM »bLaCk atLantiC«.

gLenn Ligon’s textMaLerei

1991, 1996, 20 01 Lars Stamm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

MarC Quinn »seLF«. das biogenetisChe

seLbst Porträt und die krise der körPerLiChen

rePräsentation aM ende des 20. Jahrhunderts

u N d 20 06

1997 Sabine K ampmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

WiederVorLage: »eVer is oVer aLL« Von PiPiLotti rist

1999 Susanne Witzgall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Mark dions »tate thaMes dig« aLs Laborstudie

20 05 Thomas Hensel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

»resident eViL 4«. Über ästhetisChe grenZen

20 07 Regina Höfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

gonkar gyatsos »angeL«: ZeitgenössisChe

tibetisChe kunst ZWisChen gLobaL art und

kuLtureLLer tradition

2011 Michael Diers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

»PubLiC VieWing« oder das eLLiPtisChe biLd

aus deM »situation rooM« in Washington

K r i s t i n M a r e K / M a r t i n s c h u l z

Vorab

So sehr ›Kanon‹ im Titel dieser Reihe für den Wert von Wissen und

für die Bildung disziplinär begründeter Perspektiven steht, so we-

nig meint er eine starr normierende Richtschnur, die überzeitliche

Gültigkeit beansprucht. Vielmehr geht es um Veränderung, Flexi-

bilität und Partialität innerhalb eines relativen Rahmens, der im-

mer auch ein Nicht-Wissen einschließt und dessen Zentren und

Ränder stetig verschoben, überschritten, vermischt, neu ausge-

lotet und verhandelt werden. Dies betrifft die gesamte Geschich-

te der europäischen Kunst wie auch die Weise, wie sie geordnet,

dargestellt, begriffen, institutionalisiert und schließlich im wis-

senschaftlichen Fach theoretisch und methodisch reflektiert wird.

Die eine und richtige Kunstgeschichte: Sie gibt es nicht. Des-

halb besteht das Konzept für diese Einführung gerade darin, kei-

ne feste Ordnung an unhinterfragbaren Meisterwerken und Deu-

tungen vorzugeben. So bieten die etwa zwanzig Beiträge in jedem

der vier Bände Fallstudien, die für das breite Spektrum an Epo-

chen, Gattungen und Methoden der Kunstgeschichte stehen: von

der Spätantike bis zur Gegenwart, von den Bildkünsten in allen

Medien bis zur Architektur, von der Stilanalyse bis zur Bildwis-

senschaft. KanonKunstgeschichte richtet sich an Studierende

ebenso wie an alle Kunstinteressierte und folgt der im akademi-

schen Curriculum üblichen Einteilung in Mittelalter, Neuzeit,

Moderne und zeitgenössische Kunst. Die ausgesuchten Beispiele,

10 Vor ab

stellvertretend für eine bestimmte Zeit und künstlerische Positi-

on, werden jeweils von namhaften Vertreter*innen der deutsch-

sprachigen Kunstwissenschaft vorgestellt und diskutiert, die wie-

derum die Auswahl der Werke wesentlich mitbestimmten: Werke,

die nicht immer zum klassischen Bestand der gängigen Meister-

erzählungen gehören, doch dafür deren Peripherien umso stärker

ins Zentrum rücken. Dies betrifft sowohl solche Artefakte, die in

der europäischen Kunstgeschichte eine randständige Rolle spiel-

ten, als auch außereuropäische Werke, für die sich das Fach – bei

zugleich universellem Anspruch – nicht kompetent fühlte. Über

den historischen Stellenwert der Einzelbeispiele hinaus behan-

deln alle Beiträge zudem die grundlegend theoretischen Prob-

leme, die ihre zu analysierenden Gegenstände aufwerfen, und

entsprechend die möglichen methodischen wie sprachlichen

Zugänge zur Kunst der Geschichte und Gegenwart. In der Viel-

falt der vorliegenden Ansätze, in denen ikonologische und form-

geschichtliche, politische und rezeptionsästhetische, bild- und

medienwissenschaftliche, phänomenologische und semiotische,

diskurs- und genderanalytische, interkulturelle und sozialhisto-

rische einander ergänzen, spiegelt sich das Spektrum dessen wi-

der, was den historischen, ästhetischen und intellektuellen Reiz

heutiger Kunstwissenschaft ausmacht.

Um den Fokus auf die westliche Kunstgeschichte zu erwei-

tern, die es – nicht erst seit der globalen Gegenwartskunst  – als

geschlossenes System nie gegeben hat, werden in jedem Band

auch horizontale Achsen aufgezeigt und Seitenblicke auf andere

Bildkulturen (und von ihnen zurück) gerichtet, die sich zeitlich

parallel und doch unter ganz anderen Umständen entwickelt ha-

ben. Dies verdeutlicht zum einen die lokalen Besonderheiten der

europäischen Kunstgeschichte und lenkt zum anderen die Auf-

merksamkeit auf wechselseitige Transfers, Übersetzungen und

Vermischungen zwischen Bildern unterschiedlicher Kulturen;

nicht zuletzt einem postkolonialen Theorem folgend, dass, in

diesem Falle, die Kultur der westlichen Kunst nicht etwas Stati-

sches, Homogenes und Geschlossenes repräsentiert, sondern dy-

namisch, heterogen und offen ist, mit allen Möglichkeiten – und

allen Konflikten.

K AN O N Kuns tge schich t e Marek /Schulz 11

Und schließlich: Es versteht sich von selbst, dass in der zeit-

genössischen Kunst unüberschaubar viele Werke hinzukommen,

die neue Fragen und Kriterien notwendig machen sowie andere

Horizonte eröffnen. Zugleich kann auch die Erschließung histo-

rischer Kunst nicht an ein Ende kommen und bedarf sorgfältiger

Pflege. Denn gerade die alte Kunst, bei aller Ferne und Andersheit

gegenüber dem Hier und Jetzt, bleibt in dem Maße lebendig und

aktuell für die Gegenwart, als sie ständig neu befragt und rekon-

struiert, neu gesehen und erzählt wird. Es gibt keine Gegenwart

ohne eine lange Geschichte, wie umgekehrt eine Geschichte ohne

Bezüge zur Gegenwart Gefahr läuft, ein verstaubtes und totes Ar-

chiv zu werden.

In diesem Sinne wünschen wir allen Leser*innen: viel Freu-

de, Neugier, Interesse, Diskussion und Anregung zum eigenen

Weiterdenken!

Sehr herzlich danken wir allen Autor*innen, ohne deren enga-

gierte Beiträge diese Reihe selbstredend nicht zu Stande gekom-

men wäre. Beim Lektorat war uns die Umsicht von Ferial Karrasch

eine unentbehrliche Hilfe, bei der Gestaltung der Ideenreichtum

von Sahar Aharoni. Ein herzliches Dankeschön ganz besonders

an Raimar Zons und Andreas Knop, die uns mit diesem Projekt

einen großen Vorschuss an Vertrauen gaben.

Kristin Marek/Martin Schulz

Karlsruhe, im März 2015

12

Barbara Filser, gastprofessorin für kunsttheorie und kunstge-

schichte an der kunstuniversität Linz (seit 2014); studium der

kunstgeschichte bzw. kunstwissenschaft und Medientheorie an

der Ludwig-Maximilians-universität München und der staatlichen

hochschule für gestaltung karlsruhe, Promotion ebenda (2007) mit

einer arbeit zu den Filmen Chris Markers. stipendiatin der dFg-

graduiertenkollegs »Bild, körper, Medium. eine anthropologische

Perspektive« der hfg karlsruhe (doktorandin, 2001–2004) und »Me-

diale historiographien« der universitäten erfurt, Jena und Weimar

(Post-doc, 2008–2010), Wissenschaftliche Mitarbeit am Medienmu-

seum und in der ausstellungsabteilung des ZkM (1998–2000), dem

edith-ruß-haus für Medienkunst in oldenburg (2007–2008) sowie

der hfg karlsruhe (2012–2014), Lehrtätigkeit an verschiedenen uni-

versitäten und kunsthochschulen; Vorträge und Veröff entlichungen

zu Medienkunst, Film und Fotografi e.

1 Chris Marker, La Jetée. Ciné-roman, New York 1992 (ohne Seitenangabe): »Dies ist die Geschichte eines Mannes, der durch ein Bild aus seiner Kindheit geprägt wurde.« Sämtliche der nach-folgenden Zitate aus der französischen Off-Erzählung sind dem angeführten Titel entnommen, die Übersetzungen aus einer deutschsprachigen Fassung des Films. Die folgenden Ausführungen basieren auf meiner Arbeit: Chris Marker und die Ungewissheit der Bilder, München 2010, 147–214. Grundlage der Analyse ist die DVD-Edition Deux films de Chris Marker: La Je-tée, Sans Soleil, Arte Vidéo 2003. Vollständige Angaben zum Film finden sich in Birgit Kämper, Thomas Tode (Hrsg.), Chris Marker. Filmes-sayist, München 1997, 363.2 Philippe Dubois, La Jetée

de Chris Marker ou le cinématogramme de la conscience, in: ders. (Hrsg.), Théorème 6: Recherches sur Chris Marker, Paris 2002, 9–45, 16 f.

B a r B a r a F i l s e r

Chris Markers »La Jetée« und die Frage naCh der FotograFie iM FiLM

»Ceci est l’histoire d’un homme marqué par une image d’en-

fance«,1 ist kurz nach Beginn von Chris Markers etwa 29–minü-

tigem Film La Jetée aus dem Jahr 1962 weiß auf schwarz auf der

Leinwand zu lesen und gleichzeitig von einer Männerstimme zu

vernehmen. Dieser unmittelbar dem Vorspann folgende Satz be-

inhaltet in verdichteter Form bereits, wovon La Jetée neben dieser

Geschichte auch handelt: Es geht um Bilder, mentale und media-

le, bildhafte Erinnerungen sowie die Bilder des Films und der Fo-

tografie. Die Ankündigung der Geschichte des Mannes, die eben-

falls eine über sein Bild aus der Kindheit ist, weist zugleich auf den

Akt des Erzählens hin und erklärt das, was sich vor den Zuschau-

ern abspielt, zu eben jener Geschichte:2 »Ceci«, »dies hier« ist der

Film selbst, sind die schwarzweißen Bilder, die Stimme des Er-

zählers, die Geräusche und die Musik, die zu sehen und zu hören

sind, es bereits gewesen sind und noch sein werden.

Von einer Ausnahme von wenigen Augenblicken abgesehen,

reproduzieren diese Bilder keine Bewegung ihrer Motive. Lan-

ge herrschte Ungewissheit über die technische Genese der Ein-

1 9 6 2

1962 14 CHR iS MAR K ER S »L A JE T éE«

3 Als »Einstellung« wird eine Filmaufnahme bezeich-net, die vom Einschalten der Kamera bis zum Abschalten ohne Unterbrechung auf-gezeichnet worden ist, bzw. dasjenige, was im fertigen Film von dieser ununterbro-chenen Aufnahme zwischen zwei Schnitten erscheint und oft auch »Bild« genannt wird.4 Deux films de Chris Marker: Sans soleil, La Jetée, Arte Vidéo, 2003, Begleitheft DVD (ohne Seitenangabe).5 Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/M. 1989; Ders., Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1991.6 Roger Odin, Le film de fiction menacé par la photographie et sauvé par la bande-son (à propos de La Jetée de Chris Marker), in: Dominique Chateau, André Gardies, François Jost (Hrsg.), Cinémas de la Modernité: Films, Théories (Colloque de Cerisy), Paris 1981, 147–171; Dubois (wie Anm. 2).7 Dieser Aussichtsplatt-form, »la grande jetée d’Orly«, verdankt der Film seinen Titel. Zur Wiederkehr von Ableitungen aus dessen Wortstamm (»jet«: der Wurf, der Strahl) im Text der Er-zählung und in Motiven der Geschichte siehe Joachim Paech, Anmerkungen zu La Jetée, in: Natalie Binczek, Martin Rass (Hrsg.), »… sie wollen eben sein, was sie sind, nämlich Bilder …«, Anschlüsse an Chris Marker, Würzburg 1999, 63–72, 66.

stellungen3 des Films, darüber, ob es sich um Freeze Frames han-

delt, die jeweils durch mehrfache Duplikation eines Einzelbildes

erzeugt werden, oder mittels eines Tricktisches erstellte Film-

aufnahmen von Fotografien. Erst vor wenigen Jahren hat Chris

Marker preisgegeben, dass er tatsächlich Fotografien abgefilmt

hat.4 Dementsprechend präsentiert sich La Jetée im Vorspann als

»photo-roman«.

Der Fotoroman in Filmform wirft die Frage danach auf, was ge-

schieht, wenn sich die Fotografie im Film manifestiert. Diese Fra-

ge hat wiederholt die Auseinandersetzung mit La Jetée von Seiten

der Filmtheorie motiviert, ist ihr doch zudem die grundsätzliche

Frage danach implizit, was Film ist beziehungsweise was Film ver-

mag. In einigen Analysen des Films lässt sich eine Verlagerung des

Fokus ablesen, die im Rückgriff auf Gilles Deleuze als eine von der

Bewegung zur Zeit beschreibbar ist, womit sich allerdings ein Per-

spektivwechsel verbindet: Deleuze konstatiert, dass das klassische

Kino im Bewegungs-Bild Zeit indirekt über die Bewegung reprä-

sentiert, während das moderne europäische Kino der Nachkriegs-

zeit mit dem Zeit-Bild zu einer direkten Präsentation von Zeit ge-

langt.5 Nicht ein filmgeschichtlicher Wandel soll hier jedoch im

Zentrum stehen, sondern eine maßgeblich von Deleuze inspirier-

te Akzentverschiebung im theoretischen Blick auf den Film. Diese

soll anhand zweier Texte über La Jetée aufgezeigt werden – den aus-

führlichen Betrachtungen des Films durch Roger Odin und Philip-

pe Dubois,6 in denen zudem jeweils das, wovon erzählt wird, als

Modell erscheint, um das Funktionieren des Films zu ergründen.

I.

Die Geschichte des Mannes und seines Bildes aus der

Kindheit

Die Geschichte des Mannes und seines Bildes aus der Kindheit

beginnt mit einer traumatischen Szene, die dieser als Kind auf der

Besucherterrasse des Pariser Flughafens Orly miterleben musste.7

Das verstörende Ereignis, der Tod eines Mannes, bleibt im Film

allerdings weitestgehend vorenthalten, deutet sich unscharf am

Rand eines Bildes allenfalls an. Man sieht das Geschehen gleich-

sam mit den Augen des Kindes, dessen Blick lange Zeit auf dem

8 Marker (wie Anm. 1): »Dies war das Ziel der Experimen-te: Boten entsenden in die Zeit, Vergangenheit und Zukunft der Gegenwart zu Hilfe rufen.«

Gesicht einer jungen blonden Frau verharrt (Abb.  1). Dieses Ge-

sicht ist jenes Bild aus der Kindheit, das sich dem Protagonisten

eingebrannt und als einziges den Dritten Weltkrieg überdauert

hat.

In diesem Krieg wird Paris zerstört und die Erde radioaktiv ver-

seucht. In den unterirdischen Gängen der Stadt führen die Sieger

an den Unterlegenen Experimente durch, die den Fortbestand der

Menschheit sichern sollen:

»Tel était le but des expériences: projeter dans le Temps des émis-

saires, appeler le Passé et l’Avenir au secours du Présent.«8

Nach einigen Misserfolgen fällt die Wahl der Experimentatoren

auf den namenlosen und bis dahin noch nicht in Erscheinung ge-

tretenen Mann, dessen prägnantes Bild aus der Kindheit ihn zu

einem geeigneten Versuchsobjekt macht. Nachdem er von zwei

Bewachern zum improvisierten Labor gebracht wurde, wird ihm

eine Injektion verabreicht und eine verdrahtete Augenmaske

aufgesetzt. Erst nach Tagen stellen sich erste Bilder aus der Ver-

Abb. 1–6: CHRiS MARKER, LA JETéE (FRANKREiCH 1962), 28 MiN., S/W

9 Vgl. die interpretation des Vorgangs der Zeitreise in La Jetée bei Dubois (wie Anm. 2), 39 f. Auf die Analogie zwischen der Situation des Protagonisten, der immobilisiert in einer Art Trance die Zeitreisen wie einen Film sieht, und derje-nigen des Filmzuschauers im Kino haben verschiedene Autoren hingewiesen, darunter Eli Friedlander, La Jetée: Regarding the Gaze, in: Boundary 2, Vol. 28, No. 1, 2001, 75–90, 80.

gangenheit ein, und es dauert noch eine geraume Weile, bis der

Mann endlich in die Zeit seiner Kindheit einzutauchen vermag,

um Kontakt mit der Frau seines Bildes aufzunehmen. Die Ver-

suchsanordnung impliziert, dass er im Labor verbleibt, während

er zugleich in der anderen Zeit agiert: Während er mit verdeckten

Augen in seiner Hängematte liegt, spielt sich also gleichsam ein

Film, in dem er als Doppelgänger seiner selbst auftritt, vor seinem

inneren Auge ab (Abb.  2).9 Diesen können aber die Experimen-

tatoren mitverfolgen, wie dem geflüsterten, fragmentarischen

Austausch in Deutsch zu entnehmen ist, der vor allem zu Beginn

der Versuche zu hören ist. Dem ersten Spaziergang folgen weitere

Begegnungen des Mannes mit der Frau. Die Nähe zwischen dem

Zeitreisenden und der Frau aus dem Bild seiner Kindheit wird of-

fensichtlich, als er sie einmal dabei beobachtet, wie sie in ihrem

Bett aus dem Schlaf erwacht und die Augen aufschlägt. Nach dem

gemeinsamen Besuch eines Museums mit ausgestopften Tieren

folgt jedoch die nächste Phase des Experiments, die Projektion

in die Zukunft. Es gelingt dem Protagonisten, dorthin vorzudrin-

gen und die ersehnte Hilfe zurückzubringen. Als er nach erfüllter

Mission auf seine Liquidierung wartet, erscheinen ihm die Men-

i . D iE GE SCHiCH T E DE S M ANNE S UND SEiNE S B iLDE S AUS DER K iNDHEi T Filser 17

10 Neben den bereits erwähnten Geräuschen – dem deutschsprachigen Flüstern und der Durchsage – sind im Film außerdem Flugzeuglärm, das Schlagen eines Herzens zu den Szenen im Labor und Vogelstimmen zu den Auf-nahmen der Schlafenden zu hören. Musik begleitet die Szenen der Zeitreisen. Ausführlicher zum Ton, der hier nicht weiter berück-sichtigt werden kann: Janet Harbord, Chris Marker, La Jetée, London 2009, 86–93. Als Einführung zum Thema Ton im Film generell und seinem Verhältnis zu den Bildern ist auf folgenden Titel zu verweisen: Michel Chion, Audio-Vision. Sound on Screen, New York 1994.11 Marker (wie Anm. 1): »[…] begriff er, dass man der Zeit nicht entfliehen konnte und dass jener Augenblick, den er als Kind hatte erleben dürfen und der ihn bestän-dig verfolgt hatte, der seines eigenen Todes war.«12 La Jetée wurde 1963 auf dem Festival internazionale del Film di Fantascienza in Triest mit dem Goldenen Raumschiff ausgezeichnet. Siehe dazu Kämper, Tode (wie Anm. 1), 363. Auch in entsprechenden Handbü-chern und Lexika findet sich La Jetée angeführt. 13 Lee Hilliker, The His-tory of the Future in Paris: Chris Marker and Jean-Luc Godard in the 1960s, in: Film Criticism 25, 3, 2000, 1–22, 1 f.14 Ein oft angeführter Ver-weis auf die nationalsozialis-tischen Konzentrationslager und die dort durchgeführ-ten medizinischen Versuche ist das deutschsprachige

Flüstern während der Laborszenen. Zum Bezug zum Algerienkrieg siehe Hilliker (wie Anm. 13), 2 f., 11 f.

schen aus der Zukunft. Er äußert den Wunsch, in die Zeit seiner

Kindheit und zu der Frau zurückzukehren, und findet sich plötz-

lich auf der Besucherterrasse des Flughafens Orly wieder. Genau

wie an jenem Sonntag, an dem er Zeuge des Geschehens wur-

de, dem er sein Bild aus der Kindheit verdankt, ertönt ein Gong-

schlag, gefolgt von dem Aufruf des Flugs 333 nach Rom.10 Der

Mann entdeckt die Frau am anderen Ende der Aussichtsplattform

und läuft ihr entgegen. Seinem Ziel schon ganz nahe bemerkt er,

dass ihm eine der Lagerwachen aus der Zukunft gefolgt ist und

eine Waffe auf ihn richtet. Während er tödlich getroffen zusam-

menbricht, realisiert der Mann die volle Bedeutung dessen, was

er als Kind beobachtet hat:

»[…] il comprit qu’on ne s’évadait pas du Temps et que cet instant

qu’il lui avait été donné de voir enfant, et qui n’avait pas cessé de

l’obséder, c’était celui de sa propre mort.«11

Das Bild aus der Kindheit, das friedliche, verträumte Gesicht der

Frau, hat seine Kehrseite offenbart, die verdrängte, verstörende

Szene des Todes eines Mannes, der der Protagonist selbst ist.

Aufgrund seiner Geschichte, die in einer kommenden Zeit

nach einem Dritten Weltkrieg angesiedelt ist und von Zeitreisen

handelt, wird der Kurzfilm La Jetée dem Genre der Science-Fiction

zugerechnet,12 und hebt sich als Spielfilm vom überwiegend do-

kumentarischen und essayistischen Filmschaffen Chris Markers

ab. Das postapokalyptische Szenario einer durch den Einsatz von

Atomwaffen zerstörten Erde reflektiert ein Gefühl der Bedrohung

angesichts der nuklearen Aufrüstung des Kalten Krieges, das ins-

besondere im amerikanischen Science-Fiction-Film und im Film

Noir der 1950er und 1960er Jahre aufgenommen wurde.13 Mit der

dystopischen Vision einer Zukunft, in der die Machthaber die

restlichen Überlebenden in einem Lager interniert haben und an

diesen Versuche mit ungewissem Ausgang durchführen, werden

zudem der Zweite Weltkrieg und Frankreichs Kolonialkrieg in Al-

gerien aufgerufen.14 Als fiktionaler Kurzfilm, der eine Science-Fic-

1962 18 CHR iS MAR K ER S »L A JE T éE«

15 Parker Tyler, Under-ground Film. A Critical History, New York 1995, 187 f.; Amos Vogel, Film als subversive Kunst, St. Andrä-Wördern 1997, 23.16 Raymond Bellour, Six films (en passant) (1989), in: ders., L’Entre-images. Photo. Cinéma. Vidéo, Paris 1990, 135–148, 147. Ausführlicher dazu Christa Blümlinger, La Jetée: Nachhall eines Symptom-Films, in: Kämper, Tode (wie Anm. 1), 65–72, 66 f. U. a. wird darauf hingewiesen, dass der damalige Leiter der Cinéma thèque Royale de Belgique, Jacques Ledoux, im Film als Versuchsleiter auftritt. Auch viele der anderen Darsteller, die aus dem Freundeskreis Markers stammen, haben mit Film zu tun, darunter Hélène Chatelain als die Frau und William Klein als Zukunftsmensch, die beide auch als Filmemacher tätig waren, sowie Philippe Lifchitz ebenfalls als Zukunftsmensch, der Mitbetreiber der Pro duktionsfirma von La Jetée, Argos Films, gewesen ist. Der Mann wird von dem Bildhauer Davos Hanich gespielt.17 Chris Marker, A free replay: Notizen zu Vertigo, in: Kämper, Tode (wie Anm. 1), 182–192, 191 (Herv. im Orig.).18 Z. B. im Clip zu Dance-rama (1989) der britischen Band Sigue Sigue Sputnik oder Mark Romaneks Video für David Bowies Jump They Say (1993).19 Dubois (wie Anm. 2), 10: »ein theoretischer Akt, eine Art Film-Denken«. 20 Siehe u. a. Raymond Bellour, L’interruption, l’instant (1987), in: ders. (wie

Anm. 16), 109–133, 111 und Bellour (wie Anm. 16), 147; Peter Wollen, Fire and ice (1984), in: David Campany (Hrsg.), The Cinematic, London/ Cambridge, Massachusetts 2007, 108–113, 112. Bellour weist darauf hin, dass dieser Wandel von Deleuze erfasst wird, der allerdings die Unterbrechung der Bewegung im Film nicht berücksichtigt.

tion-Geschichte inszeniert, ist La Jetée aber noch nicht adäquat

charakterisiert, ist er doch zudem ein Fotoroman in Filmform, ein

Fotofilm, der auch in Publikationen zum Avantgarde- und Under-

groundfilm angeführt wird.15

Darüber hinaus wurde angemerkt, dass La Jetée auch eine

Hommage an das Kino ist,16 vor allem wegen zahlreicher Anspie-

lungen auf Alfred Hitchcocks Vertigo (USA 1958) in seiner Ge-

schichte und in seinen Bildern. Markers Film, den sein Macher

später einmal beiläufig als »remake« des Hitchcock-Klassikers be-

zeichnet hat,17 zitiert Vertigo sogar, indem er den Zeitreisenden

seiner Begleiterin anhand der Scheibe eines Mammutbaums zei-

gen lässt, dass er aus einer anderen Zeit kommt. La Jetée wiede-

rum hat selbst Spuren in Produktionen anderer hinterlassen, in

Musikvideos unter anderem18 und Terry Gilliams Twelve Monkeys

(USA 1995), für dessen Drehbuch er als Vorlage diente.

Besondere Resonanz aber fand La Jetée in der Filmtheorie. Der

Film selbst, so formuliert es Philippe Dubois, erscheint als ein

»acte théorique, une sorte de film-pensée«.19 Als ein solcher theo-

retischer Akt ist La Jetée Gegenstand einer vielfältigen Auseinan-

dersetzung geworden, in der aus unterschiedlichen theoretischen

Perspektiven auch Bestimmungen dessen verhandelt worden sind,

was Film zu leisten vermag. Raymond Bellour führt La Jetée wie-

derholt sogar im Zusammenhang mit einem Wandel im Denken

über Film an, den er in einer Neudefinition des Mediums durch

Peter Wollen verdichtet findet: Wollen zufolge demonstriert Mar-

kers Film, dass die Bewegung keine notwendige Eigenschaft des

Kinos ist, stattdessen aber, so erläutert Bellour, die Zeit.20 Diese Be-

merkungen fallen im Rahmen von Bellours Beschäftigung mit der

Fotografie im Film beziehungsweise mit Momenten des Stillstands

im bewegten Bild. Die Überlegungen Bellours bilden hier den Aus-

gangspunkt, um zunächst der Frage nachzugehen, was geschieht,

wenn sich der Film die Fotografie einverleibt – mithin also ein in

seiner chemisch-physikalischen Genese zwar verwandtes, aber in

i i . NACHDENK EN ÜBER DEN S T iLL S TAND iM BE W EG T EN B iLD Filser 19

21 Der Begriff der »Phä-nomenologie« schließt hier zum einen an Roland Barthes’ Bezeichnung seines Zugangs zur Fotografie aus der Perspektive des Betrachters an und zum anderen an Christian Metz, der seine frühen Texte zur Wirkungsweise des Films »[p]hänomenologische Un-tersuchungen« betitelt hat. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/M. 1989, 29 f.; Christian Metz, Semiologie des Films, Mün-chen 1972.22 Raymond Bellour, Le spectateur pensif (1984), in: ders. (wie Anm. 16), 75–83: »gedrängter Zuschauer«, »nachdenklicher Zuschauer« (Übers.: Bellour, Der nachdenkliche Zuschauer, in: Eikon 7, 8, 1993, 62–66. im Folgenden wird in den Anmerkungen auf die Über-setzung mit Seitenzahlen in Klammern verwiesen); Barthes’ (wie Anm. 21), 65. Barthes kontrastive Gegenüberstellungen von Fotografie und Film bilden den Ausgangspunkt für Bellours Argumentation. Auf Barthes lässt sich auch die Charakterisierung des gewandelten Zuschauers als nachdenklich zurückfüh-ren. Bellour bezieht sich in einem anderen Text in L’Entre-images zudem auf Victor Hugos »lecteur pen-sif«: Quand s’écrit la photo du cinéma (1982), 67–72, 71.

23 Bellour (wie Anm. 22), 77 (63). 24 Ebd., 78 (64).25 Ebd., 75 f.: »in einer Situation […], in der sie nicht wirklich sie selbst ist« (62).26 Ebd., 76: »Jedoch stößt bei dieser Bewegung dem Kino etwas zu« (62). 27 Eine dem Erscheinen einer Fotografie im Film ähnliche Wirkung kann Bellour zufolge auch durch andere Mittel erzielt werden, etwa durch einen Freeze Frame, das Erstarren einer Bewegung oder das innehalten einer Geste: Bellour (wie Anm. 22), 79 f. (66) und ausführli-cher Bellour (wie Anm. 20), 109–133.

seiner Phänomenologie, seinem Wahrgenommenwerden, als radi-

kal different bestimmtes Bild.21 Im Anschluss daran werden zwei

unterschiedliche Bewertungen der Verschränkung der differenten

Phänomenologien in La Jetée vorgestellt.

II.

Nachdenken über den Stillstand im bewegten Bild

Das Erscheinen einer Fotografie im (Spiel-)Film lässt nach Ray-

mond Bellour unter bestimmten Umständen den »spectateur

pressé« des Films, den Roland Barthes als »zu ständiger Gefräßig-

keit gezwungen« beschreibt, zu einem »spectateur pensif« wer-

den:22 Die Fotografie ermöglicht es dem Zuschauer, Abstand von

der Fiktion des Kinos zu nehmen und Raum und Zeit zu gewin-

nen, um das Kino zu denken.23 Dies gelingt jedoch nicht, wenn

die Fotografie innerhalb des Filmnarrativs so sehr »fiktionali-

siert«, also so sehr Akteur in der erzählten Geschichte ist, dass sie

die Zeit nicht suspendiert, sondern beschleunigt, indem sie die

Handlung vorantreibt.24 Wird sie hingegen nicht so vollständig

absorbiert und macht sich, ungeachtet ihrer diegetischen oder

narrativen Funktionalisierung, als Unterbrechung, als Störung

bemerkbar, trägt die Fotografie – »dans une situation ou elle n’est

pas vraiment elle-même« – die Macht, die sie auf ihren Betrachter

ausübt, in den Film.25 »Mais dans ce mouvement quelque chose

arrive au cinéma.«26

Der Stillstand im bewegten Bild lässt nach Bellour das Foto-

grafische an die Oberfläche drängen,27 das in der Foto- und Film-

theorie in vergleichenden Gegenüberstellungen der beiden Me-

dien vielfach als dem Filmischen antithetisch gefasst erscheint.

Aufgerufen werden dabei Aspekte, deren gegensätzliche Bestim-

mungen die Kategorien der Materialität, der Bewegung und der

1962 20 CHR iS MAR K ER S »L A JE T éE«

28 Zu einer zugänglichen Bestimmung des Films über den Vergleich mit der Fotografie siehe Christine N. Brinckmann, Dynamik des Bildes im Film, in: unimagazin (Die Zeitschrift der Universität Zürich), 2, 1997: URL: http://www.kom-munikation.uzh.ch/static/unimagazin/archiv/2–97/dy-namik.html [letzter Zugriff am 6.8.2011]. Basis für die folgende Aufzählung ist ein Text, in dem Christian Metz die Differenz von Film und Fotografie systematisch und unter Rückgriff auf grund-legende fototheoretische Texte mit dem Anliegen herausarbeitet, die Qualität der Fotografie als Fetisch im Sinne Freuds zu begründen: Christian Metz, Foto, Fetisch (1985/1988), in: Herta Wolf (Hrsg.), Diskurse der Foto-grafie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeit-alters, Bd. 2., Frankfurt/M. 2003, 215–225.29 Vgl. Barthes (wie Anm. 21), 87.30 Philippe Dubois, Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Dresden 1998 [1983], 159.31 Christian Metz, Zum Rea-litätseindruck im Kino (1965), in: ders., Semiologie des Films, München 1972, 20–35, 22; Barthes (wie Anm. 21), 87 (Herv. im Orig.).32 Zur Verbindung der

Fotografie mit dem Tod: Martin Schulz, Spur des Lebens und Anblick des Todes. Die Photo-graphie als Medium des abwesenden Körpers, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 64, 3, 2001, 381–396.33 Siehe z. B. Harbord (wie Anm. 10), 3.34 Letzteres ist in zwei weiteren Fotofilmen Chris Markers der Fall, Si j’avais quatre droma-daires (Frankreich 1966) und Le souvenir d’un avenir (zus. mit Yannik Bellon, Frankreich 2001), in denen im Kommentar immer wieder bestätigt wird, dass es sich bei dem, was auf der Leinwand erscheint, um Fotografien handelt. Diese sind zudem bereits durch den the-matischen Rahmen als solche ausgewiesen: eine Diskussion über die Bilder eines fiktiven Fotografen in ersterem und die Präsentation des Werks der Fotografin Denise Bellon in letzterem Film.

Zeit involvieren:28 Der Flüchtigkeit des Films findet sich die Dau-

erhaftigkeit der Fotografie entgegengesetzt, seiner stetigen Trans-

formation ihr Unveränderliches,29 seinem In-der-Zeit-Sein ihre

»Außerzeitlichkeit«.30 Dem Gegenwärtigen des Films steht die

Vergangenheit der Fotografie gegenüber, dem »Es ist so« das »Es-

ist-so-gewesen«,31 dem Fiktionalen das Dokumentarische, der Le-

bensnähe die Assoziation mit dem Tod.32 All das kommt ins Spiel,

wenn die Fotografie im Film erscheint, wenn ein Stillstand im be-

wegten Bild auftritt.

Als Fotofilm aber bringt La Jetée die Fotografie auf besonde-

re Weise ins Spiel: Das Fotografische drängt nicht nur vereinzelt

für einen Moment an die Oberfläche, sondern immer wieder, so

dass die einzige originäre Filmaufnahme – der Moment, in dem

die Frau die Augen aufschlägt und direkt in die Kamera blickt –

oft als dasjenige beschrieben wurde, was den Zuschauer plötzlich

trifft.33 Zudem präsentieren sich die Bilder in La Jetée weder iko-

nisch als Fotografien – sie erscheinen nicht in einem Rahmen oder

als Abzüge –, noch werden sie verbal als solche ausgewiesen.34

Aber selbst wenn der Film die Fotografie als solche zeigt, bleibt

diese nicht wirklich sie selbst: Sie wird zu einem flüchtigen Bild,

das nicht länger die Möglichkeit eines ununterbrochenen Verhar-

rens des Blicks bietet, sondern diesem wieder entzogen und durch

ein anderes Bild ersetzt wird, nach einer vorherbestimmten Dau-

er und zu einer festgelegten Zeit. Auch der Fotografie stößt also

etwas zu, vor allem wenn sie dem Film derart einverleibt wird,

dass sie, wie in La Jetée, zum Filmbild, zur Einstellung wird: Die

Fotografie wird von den Bewegungen des Films erfasst, der Auf-

einanderfolge der Bilder in der Montage, dem Fortschreiten der

Erzählung, dem Entfalten der Fiktion. Hin und wieder wird sie in

i i i . DER S T iLL S TAND iM BE W EG T EN B iLD AL S BEDROHUNG FÜR DEN FiL M Filser 21

35 Odin (wie Anm. 6)36 Zu dieser Erläuterung des Fiktionseffekts siehe Odin (wie Anm. 6), 169. Nach Christian Metz hat die Filmerfahrung etwas von der Wahrnehmung der realen Welt, dem Träumen und dem Tagträumen an sich, die sich zum Fiktions-effekt verbinden: Christian Metz, Der fiktionale Film und sein Zuschauer. Eine metapsychologische Un-tersuchung (1975), in: ders., Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, Münster 2000, 79–111. Odin verlagert in dem zitierten Text die Betrachtung von einer Beschreibung der Effekte zu derjenigen ihrer Produktion.37 Zum Realitätseindruck und dessen Abhängigkeit von der reproduzierten Bewegung siehe Metz (wie Anm. 31).38 Odin (wie Anm. 6), 161.39 Ebd., 154 f.

La Jetée auch mit einer Bewegung überzogen, einer Kamerabewe-

gung über das Bild oder einem Zoom in das Bild hinein, die das

Film-Sein dessen hervortreten lässt, was sich auf der Leinwand

zeigt.

Dennoch bleibt in La Jetée das Fotografische der Bilder evident.

Was dem Film damit zustößt, wird von Roger Odin als eine Be-

drohung gewertet – eine Bedrohung für den fiktionalen Film, als

der sich La Jetée, so betont er, mit seinem ersten Satz schließlich

selbst erklärt.35

III.

Der Stillstand im bewegten Bild als Bedrohung für

den Film

Der Einsatz der Fotografie in La Jetée, argumentiert Odin in sei-

ner semiologischen Analyse, wirkt dem Fiktionseffekt entgegen,

der das Funktionieren des klassischen Erzählfilms garantiert:

Das Fotografie-Sein der Bilder hindert den Zuschauer daran, sich

auf die Fiktion einzulassen, seine konkrete Situation auszublen-

den und in die Welt auf der Leinwand einzutauchen.36 Anstatt

dass sich vor dem Zuschauer etwas abspielt, das dieser ähnlich

der alltäglichen Welt wahrnimmt, sieht er nur mehr eine Abfol-

ge von einzelnen Bildern, die eine eingefrorene Bewegung zeigen

und keine Räumlichkeit aufweisen. Das Fehlen einer Bewegung,

überhaupt einer Veränderung der Bildmotive blockiert den für

den Fiktionseffekt grundlegenden Realitätseindruck.37 Das Me-

dium kann nicht zugunsten dessen, was auf der Leinwand dar-

geboten wird, ausgeblendet werden. Stattdessen wird in La Jetée

das Operieren des Films vor Augen geführt, als Abfolge von Ein-

stellungen in der Montage sowie als Abfolge von einzelnen foto-

grafischen Bildern, die zwar für den realistischen Erzählfilm un-

verzichtbar sind, aber als solche nicht sichtbar werden dürfen.38

An einigen Stellen wird sogar die kinematografische Reproduk-

tion von Bewegung demonstriert: Bewegungsabläufe, die wie in

der Serienfotografie Eadweard Muybridges in einzelne Moment-

aufnahmen zerlegt sind, werden rekonstruiert, ohne dass dabei

das Diskontinuierliche gänzlich aufgehoben wird.39 So wird in

La Jetée im déroulement – dem Ablaufen des projizierten Films –

40 Zu Letzterem siehe Thierry Kuntzel, Le défil-ment, in: Revue d’esthétique 26, 2, 1973, 97–110, bes. 106.41 Odin (wie Anm. 6), 150 f.42 Ebd., 156 f.

das normalerweise dem Blick entzogene défilement sichtbar – die

ruckartige Aufeinanderfolge der Einzelbilder, die beim Durchlauf

des Filmstreifens durch den Projektor jeweils kurz vor dem Bild-

fenster verharren.40

Jenseits solcher Momente aber erlauben nach Odin Anhäu-

fungen sowohl unterschiedlicher Motive als auch gleichförmiger

Bilder keine narrative Verknüpfung: Ohne die Erzählung lassen

sich in solchen Fällen keine räumlichen und zeitlichen Relatio-

nen zwischen den Bildern herstellen; sie scheinen eher nebenei-

nander zu stehen als aufeinander zu folgen. Zusammenhängende

Bildfolgen und die zeitlichen Bezüge zwischen ihnen lassen sich

so kaum mehr identifizieren.41 Odin räumt zwar ein, dass einige

Passagen im Film auch ohne Unterstützung der verbalen Erzäh-

lung eine narrative Dimension aufweisen. Doch lässt sich seiner

Ansicht nach aus den Bildern alleine die eingangs des Films ange-

kündigte Geschichte nicht ablesen. Indem sie dem Zuschauer die

Erzählung vorenthalten, wecken sie jedoch das Verlangen nach

der Fiktion.42

Dieses Verlangen wird, Odin zufolge, durch den Ton gestillt,

vor allem die Erzählung aus dem Off, die das Funktionieren des

i i i . DER S T iLL S TAND iM BE W EG T EN B iLD AL S BEDROHUNG FÜR DEN FiL M Filser 23

43 Ebd., 159 (Herv. im Orig.): »Tatsächlich schafft allein der Kommentar die Erzählung.« 44 Ebd., 159 f.45 Ebd., 160: »[D]ie logische, dramatische und psycho-logische Verknüpfung orientiert sich am Text und nicht am Bild.«46 Der Erzähler hatte weder Anteil an den von ihm be-richteten Ereignissen, noch gehört er der Welt an, von der er erzählt.47 Odin (wie Anm. 6), 162 f.48 Ebd., 161 f.49 Ebd., 164: »Wieder-eingliederung in die Zeitlichkeit«.

Films sicherstellt: »En fait, seul le commentaire crée le récit.«43 Die

verbale Erzählung vermittelt die Geschichte und legt durch ent-

sprechende Hinweise die zeitliche Abfolge des Geschehens und

dessen Dauer offen. Zudem macht sie Bilder verständlich, de-

ren eingefrorene Bewegungen uneindeutig sind, und überbrückt

mit ihren Erläuterungen die Brüche, die durch den häufigen Ein-

satz langer Überblendungen und Schwarzblenden entstehen.44

»[L]’enchaînement logique, dramatique et psychologique est axé

sur le texte et non pas sur l’image«,45 lautet das Fazit Odins zur

Rolle der Erzählung aus dem Off. Sie wird zudem aufgrund ihrer

Distanz zu dem, was sie erzählt, als die Instanz kenntlich, die die

Erzählung hervorbringt.46

Die filmtheoretische Relevanz von La Jetée liegt aber für Odin

nicht darin, dass das Operieren des Films aufgedeckt wird: Mit

dem Aufzeigen der Prozesse, die Bewegung, Realitätseindruck

und Erzählung hervorbringen, wird, Odin zufolge, der Fiktions-

effekt letztlich nicht ausgeschalten. Vielmehr stellt er sich über

den Umweg der Off-Erzählung mit vermehrter Kraft wieder ein,

da sich das Vorführen dieser Prozesse in den Vorgängen der Ge-

schichte spiegelt.47 Unter anderem macht Odin Übereinstimmun-

gen zwischen handlungsrelevanten Faktoren in der Geschichte

und den konstitutiven Komponenten ihrer Erzählung aus: Auf

der Ebene des Films ereignet sich die Umwandlung einer Anein-

anderreihung von fotografischen Bildern in eine Geschichte, die

Rücküberführung der sichtbar gewordenen Fotografie in den fik-

tionalen Film. Die damit angestrebte Wiedereingliederung des

Zuschauers in die Fiktion erfolgt gegen den Widerstand der Fo-

tografie und gelingt mithilfe des Tons, insbesondere der Erzäh-

lung, die von außen interveniert.48 Erzählt wird von einer »ré-

insertion dans la témporalité« sowohl der in einer ausweglosen

Situation gefangenen Menschheit nach dem Dritten Weltkrieg

als auch des Protagonisten.49 Diese Wiedereingliederung erfolgt

mittels der Zeitreisen des Mannes, seiner Projektion in der Zeit.

Sie gelingt gegen den Widerstand der menschlichen Natur, an der

die vorausgehenden Probanden gescheitert waren, mithilfe der

Spritzen, die dem Mann während des Experiments verabreicht

werden. Der Zuschauer, so Odin, wird damit dazu gebracht, sich

1962 24 CHR iS MAR K ER S »L A JE T éE«

50 Ebd., 165 f.51 Ebd., 167.52 Ebd., 166: »[…] die Abwehr des Zuschauers zunichtemachend, ihn schließlich dazu bringt, sich vom Fiktionseffekt in Besitz nehmen zu lassen«.53 Siehe dazu den einleitenden Paragraphen ebd., 148.54 Ebd., 169.55 Ebd., 152, 167.56 Dubois (wie Anm. 2), 38. »Cinématogramme« ist eine Wortneubildung aus »ciné-ma« und »photogramme«, die anzeigt, dass es sich dabei um eine Art inversion eines Fotogramms handelt: nicht ein Filmbild, das Foto geworden ist, sondern ein Foto, das Filmbild geworden ist.57 Ebd., 39: »die objektivier-te fotografische Zeit« und »die erlebte kinematogra-fische Zeit als Erfahrung der Dauer«. Diese »Dauer« bezeichnet nicht einen messbaren Zeitabschnitt, sondern Henri Bergsons Konzept der »durée« als kontinuierliche, andauernde Gegenwart, die je nach der Aufmerksamkeit, die man ihr schenkt, als gedehnt oder gestaucht erfahren wird.

mit dem Protagonisten zu identifizieren:50 Das, was sich für ihn

während der Projektion des Films ereignet, entspricht dem, wie

der Mann im Film seine Projektion in der Zeit erfährt. Die Be-

schreibungen dieses Vorgangs durch den Erzähler treffen auf

Zuschauer und Protagonist gleichermaßen zu.51 Und es ist die

Off-Erzählung, die wie jene Droge wirkt, die den Mann bei sei-

nen Zeitreisen unterstützt, »[…] annihilant les défenses du spec-

tateur, le conduit finalement à se laisser posséder par l’effet fic-

tion«.52 Mit der Erzählung der forcierten Zeitreisen des Mannes,

seines Eintauchens in eine Welt, die sich in der Art eines menta-

len Films aus den Bildern vor seinem inneren Auge konstituiert,

schildert La Jetée also der Interpretation Odins nach seine eigene

Produktion des Fiktionseffekts.

In seinem Bestehen auf dem Wiedereinsetzen des Fiktionsef-

fekts argumentiert Roger Odin auf der Basis einer vor allem an-

hand des klassisch narrativen Kinos entwickelten Auffassung vom

Wirken von Film.53 Diese scheint zudem zu einem wesentlichen

Charakteristikum erhoben, wenn Odin sich fragt, ob der Film an

sich den Fiktionseffekt jemals umgehen kann.54 Aus einer ande-

ren Perspektive erscheint jedoch die Fotografie in La Jetée nicht

als Bedrohung, vor der die Off-Erzählung den Film retten muss.

In den Fokus rücken dabei Aspekte, die Odin anmerkt, deren Po-

tential er aber über der Privilegierung der Erzählung kaum aner-

kennt: das Ungewisse der Bilder, die auch Traum-, Erinnerungs-

oder Vorstellungsbilder sein könnten, sowie das Unbestimmbare

der zeitlichen Ordnung im Nebeneinander der Bilder.55

IV.

»Cinématogramme«: Ein neues Bild als Resultat des

Stillstands im bewegten Bild

Der Stillstand im bewegten Bild ergibt in La Jetée ein zwischen

Fotografischem und Filmischem schwankendes Bild, dessen hy-

briden Charakter Philippe Dubois mit der Bezeichnung »cinéma-

togramme« erfasst.56 In diesem realisiert sich nach Dubois eine

neue Konzeption von Zeit, indem es »le temps photographique

objectivé« und »le temps cinématographique vécu comme expé-

rience de la durée« in sich vereint57  – einen bestimmten, fixier-

i V. » CiNéMATO GR A MME« Filser 25

58 Zitate: Ebd., passim.59 Dazu und zum Folgen-den ebd., 39 ff.60 Ebd., 40: »[…] und ma-chen so aus La Jetée einen Kristall-Film von absoluter Brillanz«.

ten Zeitpunkt also und eine unbestimmte Zeiterfahrung. Damit

verbinden sich zwei Perspektiven, »du dehors« und »du dedans«,58

ein Blick von Außen, der eines Betrachtenden, und eine Sicht von

Innen, die eines Erlebenden. Diese Verschränkung zweier Zei-

ten ist zugleich auch Thema des Films, wie Dubois ausgehend

von dem Vorgang der Projektion des Protagonisten in der Zeit er-

läutert.59 Dubois betont, dass sich der Protagonist nicht an seine

Kindheit zurückerinnert. Vielmehr hat er an dieser Vergangen-

heit wie im Kino teil, wie an einer inneren Projektion eines von

ihm selbst hervorgebrachten Films, dessen Projektionsfläche und

Zuschauer er zugleich ist. Die Zeiten, in die er jeweils eintaucht,

erfährt er als Gegenwart, während er zugleich außerhalb dieser

Zeit ist, sie wahrnimmt. Er verliert dabei die zeitliche Orientie-

rung, wie wiederholt in der Erzählung angemerkt wird. Im Be-

wusstsein des Zeitreisenden, so Dubois, stehen Vergangenheit,

Gegenwart und Zukunft nicht in einer chronologischen Relation

zueinander, sondern als einzelne, autonome gegenwärtige Au-

genblicke nebeneinander. Die Konzeption von Zeit, die La Jetée in

seiner Zeitreisegeschichte entwirft, charakterisiert Dubois dem-

entsprechend als »chronos sans logos«, eine Art Simultanzeit, die

sich dem Zuschauer im cinématogramme zeigt. Die Geschichte

und das zwischen Fotografie und Film schwankende Bild stim-

men perfekt überein, »[…] faisant de La Jetée un film cristal d’une

absolue brillance«.60

Wie sich diese Zeit und die mit ihr einhergehende Verschrän-

kung der Perspektiven im cinématogramme ausbilden, lässt sich

am Deutlichsten am Lauf des Mannes über die Besucherterrasse

gegen Ende des Films aufzeigen. In der Montage dieser Passage

wirken die Momentaufnahmen seiner Bewegung, die jeweiligen

Kamerastandpunkte und der Rhythmus des Schnitts zusammen,

um die Bewegung zu repräsentieren, die in den Bildern nur in Ge-

stalt eingefrorener Momente zu sehen ist. Der Lauf entwickelt da-

bei jedoch eine ganz eigene Dynamik, für die das Fotografie-Sein

der Bilder grundlegend ist: Indem die einzelnen Filmaufnahmen

keine Bewegung in ihrem Verlauf reproduzieren, entledigen sie

sich der linearen Temporalität, die damit einhergehen würde, und

können so in der Montage in eine neue Zeitlichkeit überführt wer-

1962 26 CHR iS MAR K ER S »L A JE T éE«

61 Ebd., 29.62 Zu diesem Perspektiv-wechsel ausführlich ebd., 27 f.

den. Die in den Bildern und ihrer Aufeinanderfolge angedeutete

Bewegung wird von einer Dauer durchzogen, die nicht diejeni-

ge des Geschehens ist, so wie es sich eigentlich vollziehen würde.

Der Mann ist immer in vollem Laufschritt zu sehen, doch stellen

sich Eindrücke des Zögerns, der Beschleunigung oder des Inne-

haltens ein.61 Diese ergeben sich aus den unterschiedlichen Ka-

merastandpunkten entlang der Wegstrecke und den jeweils wie-

dergegeben Phasen und Etappen des Laufs in Verbindung mit der

Zeit, die die Bilder auf der Leinwand verbleiben. Diese Zeitspanne

verkürzt sich zum Beispiel zunächst fortschreitend bis ein Bild der

Frau erscheint. Dadurch, dass die darauffolgende Fotografie des

Mannes wieder etwas länger zu sehen ist, erscheint es, als habe

der Anblick der Frau seinen Lauf verlangsamt, zumal ihn die Ka-

mera, an der er vorher vorbeigezogen ist, nun ihrerseits wieder

überholt hat. Damit entfaltet sich eben jene durée, die Dauer des

Laufs, wie ihn der Mann erlebt. In den Bildern scheint eine Sicht

von Innen, die Perspektive des Erlebenden, auf, die gleichsam

nach außen gekehrt erscheint. Der Eindruck wird erweckt, der

Mann würde – ähnlich wie während seiner Zeitreisen im Rahmen

des Experiments  – die Szene, deren Akteur er ist, selbst vor sei-

nem inneren Auge sehen und sich dabei der gesamten Tragweite

des Geschehens, in das er involviert ist, bewusst werden. Beson-

ders evident wird dies in dem auf drei Bilder aufgeteilten, verlang-

samten Zusammenbruch des Mannes, dem gedehnten Moment,

in dem er realisiert, dass er als Kind Zeuge seines eigenen Todes

geworden ist (Abb. 3–6).

Die Situation auf der Besucherterrasse ist jedoch eine andere

als die des Experiments: Der Mann ist genau zu dem Moment in

seiner Vergangenheit zurückgekehrt, dem sein Bild aus der Kind-

heit entstammt. Als er sich an jenem Sonntag auf der Besucher-

terrasse von Orly wiederfindet, denkt er sogar kurz daran, dass

das Kind, das er gewesen ist, ebenfalls anwesend sein müsste. Mit

seinem Lauf über die Aussichtsplattform wiederholt sich das ein-

gangs des Films eher angedeutete als gezeigte Geschehen, aller-

dings präsentiert sich dieses nicht mehr aus der Sicht des Kindes,

sondern aus derjenigen des Mannes, jenem eben beschriebenen

Blick auf sich selbst.62 In der Repräsentation des Laufs scheint ein

Zurückkehren der Erinnerung auf, die sich in Schüben rekonsti-

tuiert, bis dem Mann schließlich die volle Bedeutung des Gesche-

hens als ein bereits gesehenes und bereits erlebtes aufgeht. Die

Bilder, die sowohl filmisch als auch fotografisch sind, präsentie-

ren sich somit als zugleich aktuelle Wahrnehmungen und erin-

nerte Momente. Gewissermaßen vorbereitet findet sich dieser

doppelte, schwankende Status in dem ersten Durchlauf durch die

Szene zu Beginn des Films: Die Eindrücke des Jungen werden als

etwas aufgezählt, an das er sich noch lange erinnern sollte. Dar-

unter befindet sich auch das Gesicht der Frau, von dem es zudem

heißt, dass der Protagonist sich nicht sicher ist, ob er es wirklich

so gesehen oder nur erfunden habe, um das schreckliche Gesche-

hen auszublenden. Mit der Rückkehr des Mannes in seine Kind-

heit, die letztlich von dem Wunsch getrieben ist, die Anziehungs-

kraft des erinnerten Bildes zu erkunden, und der Wiederholung

eben jener Szene, an deren Ende sich herausstellt, dass er als Kind

Zeuge seines eigenen Todes wurde, ergibt sich jedoch eine grund-

legende Verschränkung von Zeiten, die das cinématogramme

sichtbar werden lässt: Diese Szene ist, während sie sich abspielt,

zugleich auch bereits geschehen, was ist, ist bereits gewesen. Dies

63 Deleuze, Zeit-Bild (wie Anm. 5), 350.64 Ebd., 95 ff., 350. Als deleuzianisches Zeit-Bild ist La Jetée u. a. von folgenden Autoren bezeichnet worden: Blümlinger (wie Anm. 16); Uriel Orlow, Photography as Cinema: La Jetée and the Redemptive Powers of the image (1999/2006), in: David Campany (Hrsg.), The Cine-matic, London/ Cambridge, Massachusetts 2007, 177–184; David Norman Rodowick, Gilles Deleuze’s Time Machine, Durham/ London 1997, 4 f.

gilt letztlich für jede Szene von La Jetée, da sich mit dieser finalen

Enthüllung das Ende der Geschichte zugleich als ihr Anfang er-

weist: Alles, was geschieht, ist zugleich immer bereits passiert und

wird immer auch noch passieren.

Was sich in den letzten Minuten des Films damit auftut, dass

die Gegenwart des Mannes, zu dem das Kind geworden ist, exakt

die Vergangenheit des Kindes ist, das er gewesen ist, lässt sich mit

Gilles Deleuze als

»[…] strikte Gleichzeitigkeit der Gegenwart mit der Vergangenheit,

die sie sein wird, der Vergangenheit mit der Gegenwart, die sie ge-

wesen ist«,63

beschreiben. Diese Gleichzeitigkeit lässt nach Deleuze das »Kris-

tall-Bild« wahrnehmen – ein doppelseitiges Zeit-Bild, das das Ge-

genwärtige und Vergangene, das Reale und das Imaginäre und

das Aktuelle und Virtuelle ununterscheidbar werden lässt, das

heißt nicht verwechselbar, sondern in ihrer Relation zueinan-

der umkehrbar.64 Die Zeit, die sich in La Jetée ausbildet, im ciné-

matogramme sichtbar wird, lässt sich somit auch angesichts der

Wiederholung der Szene vom Beginn des Films an seinem Ende

als »chronos sans logos« charakterisieren, als eine Zeit, die nicht

chronologisch zu denken und zu verstehen ist, eine Zeit, die sich

kaum in Worte fassen lässt.65 Verbunden sind damit ebenfalls Un-

unterscheidbarkeiten: diejenige zwischen Vorher und Nachher,

da die Geschichte zirkulär ist, die zwischen Bild aus der Kindheit

und Szene des Todes, da Letztere die Kehrseite des Ersteren ist

und sich beide wechselseitig bedingen, die zwischen Wahrneh-

mung und Erinnerung, zwischen Realität und Imaginärem und

zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die in der Ununter-

scheidbarkeit zwischen Fotografie und Film im cinématogramme

ihr Bild finden.

Die Fotografie erscheint somit in La Jetée nicht als Bedrohung,

der die verbale Erzählung entgegentreten muss. Vielmehr ergän-

zen die Bilder die Off-Erzählung, indem sie das zum Ausdruck

bringen, was diese nicht zu erfassen vermag – eine Zeit, die sich

sprachlich nicht artikulieren lässt. Der Film, der sich in La Jetée

im Vorgang der Zeitreise als Modell ausmachen lässt, zeigt sich

damit in besonderer Weise als Medium, das von der Zeit her zu

denken ist und Zeit zu denken gibt.

65 Vgl. folgende allgemeine Charakterisierung des deleuzianischen Zeit-Bildes durch Miriam Schaub, Gilles Deleuze im Kino. Das Sichtbare und das Sagbare, München 2003, 231: »Ver-schiedene Zeitlichkeiten im Medium des Bildes löschen sich nicht gegenseitig aus, so wie sie in der Sprache unsinnig würden; sondern variieren, überlagern sich, konkurrieren miteinander.«

1962 30

GrundleGende literatur zum thema:

lambert arnaud, Also Known as Chris Marker, Paris 2008

raymond Bellour, L’Entre-images. Photo. Cinéma. Vidéo, Paris 1990

natalie Binczek, Martin Rass (Hrsg.), »… sie wollen eben sein, was sie sind, nämlich Bilder …« Anschlüsse an Chris Marker, Würzburg 1999

Sarah Cooper, Chris Marker, Manchester 2008

Gilles deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/M. 1989

Gilles deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1991

Philippe dubois (hrsg.), Théorème 6: Recherches sur Chris Marker, Paris 2002

Barbara Filser, Chris Marker und die Ungewissheit der Bilder, München 2010, 147–214

Janet harbord, Chris Marker: La Jetée, London 2009

Birgit Kämper, Thomas Tode (Hrsg.), Chris Marker. Filmes-sayist, München 1997

Catherine lupton, Chris Marker. Memories of the Future, London 2005

Chris marker, La Jetée. Ciné-roman, New York 1992

Christian metz, Foto, Fetisch (1985/1988), in: Herta Wolf (Hrsg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 2. Frankfurt/M. 2003, 215–225

roger Odin, Le film de fiction menacé par la photographie et sauvé par la bande-son (à propos de La Jetée de Chris Marker), in: Dominique Chateau, André Gardies, François Jost (Hrsg.), Cinémas de la Modernité: Films, Théories (Colloque de Cerisy), Paris 1981, 147–171

BildnaChweiS:

aBB. 1–6: BiLDSCHiRMAUFNAHMEN VON DVD

Maja Naef, kunsthistorikerin, wissenschaftliche mitarbeiterin am

lehrstuhl für medienästhetik der universität Basel (seit 2014); assis-

tentin am lehrstuhl für neuere kunstgeschichte an der universität

Basel (2004–2007), snf-forschungsaufenthalt und gastdozentur

an der university of chicago (2007–2010) sowie freie autorin, 2012

lehrtätigkeit an den kunsthochschulen Basel und Bern; forschung

und lehre zum amerikanischen avantgarde-film; Publikationen

(auswahl): Joseph Beuys. Zeichnung und stimme (2011); What is an

image?, hrsg. mit James elkins (2011). Zahlreiche aufsätze, u.a. zu

eva hesse, raymond Pettibon, terry Winters, Bethan huws, silvia

Bächli, hannes schüpbach, hollis frampton, gregory J. markopoulos.

1 Die Ausstellung, an-lässlich der Beuys die Hasen-performance aufführte, war: Joseph Beuys … irgend ein Strang …, 26.11.–31.12.1965, vgl. ausführlich zur Perfor-mance Martin Müller, Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt. Schamanis-mus und Erkenntnis im Werk von Joseph Beuys, Köln 1993; Uwe M. Schneede, Joseph Beuys. Die Aktionen: kommentiertes Werkver-zeichnis mit fotografischen Dokumenten, Ostfildern-Ruit 1994, 102–111; Sven Lindholm, Inszenierte Metamorphosen. Beuys’ Ak-tionen vor dem Hintergrund von Goethes Gestalttheorie, Freiburg 2008, 254–263; die

Videoaufnahme »Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt«, 1965, Joseph Beuys Medien-Archiv im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwartskunst, Staatliche Museen zu Berlin sowie Joseph Beuys, Die Eröffnung 1965 … irgend ein Strang … Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt, Göttingen 2011.2 Die Fotografien von Ute Klophaus haben zur Ikonenbildung entscheidend beigetragen. Ihre Aufnahmen machen selbst einen künstlerischen Anspruch geltend, z. B. indem man den fotografischen Entwicklungsprozess sieht. Aufgrund von Copyright-Rechten muss hier auf Aufnahmen von Klophaus verzichtet werden.

M a j a N a e f

Zeichnung, Performance, interPretation: »Wie man einem toten hasen die Bilder erklärt« von JosePh Beuys

Joseph Beuys eröffnete seine erste Galerie-Ausstellung bei Schme-

la in Düsseldorf im November 1965 mit der Performance Wie man

einem toten Hasen die Bilder erklärt.1 Das dort entstandene Bild

von Beuys, der mit Honig verschmiertem und Blattgold bedeck-

tem Gesicht einen toten Hasen auf dem Arm hält, ist zu einer Iko-

ne geworden (Abb. 1)2. Derart wanderte der Künstler im Galerie-

raum umher und erklärte dem leblosen Wesen die ausgestellten

Zeichnungen der Jahre 1951 bis 1965 und Objekte wie z. B. Schnee-

fall von 1965. Diese Aktion, eine seiner ersten überhaupt, fand al-

lerdings unter Ausschluss des anwesenden Publikums statt; die-

ses konnte den Vorgängen lediglich durch ein straßenseitiges

Fenster und den Blick via Türeingang beiwohnen (Abb.  2). Der

Galerist Alfred Schmela zog dafür eigens von innen die Fenster-

vorhänge zurück, um den Blick auf den kleinen Ausstellungsraum

1 9 6 5

1965

3 Vgl. Schneede, 102–111,. 102. Daraufhin verließ Schmela die Galerie und schloss die Tür. 4 Vgl. Schneede, 103.5 Dieser Schemel befindet sich heute im Block Beuys in Darmstadt unter dem Titel warmer Stuhl, 1965 (Raum 2); ebenso Filzsohle und Eisensohle (1965). Das Objekt Radio (1961), welches sich unter dem Schemel befunden hatte, ist in der Vitrine 1, Raum 5.

freizugeben und die Performance zu eröffnen.3 Zu Beginn saß

Beuys mit dem Rücken zu Fenster und Publikum in einer Ecke,

erhöht auf einem Schemel sitzend, welcher auf einem »metalle-

nen Grafikschrank«4 platziert war.5 Eines seiner Beine war mit Filz

umwickelt, unter dem Schemel lagen ein Mikrofon und ein Radio.

Den Hasen konnte man zunächst nicht sehen. Beuys hielt diesen

auf dem Schoß und schaute ihn unverwandt an. Schließlich stand

er auf, an seinem rechten Fuß eine Eisensohle, an seinem linken

eine aus Filz. Sein Rundgang verlief von Zeichnung zu Zeichnung

und erweiterte sich später auf die im Raum präsentierten Objekte.

Er hielt den Hasen dicht an die aufgehängten Bilder und berührte

diese indirekt mit den leblosen Pfoten des Tieres. Beuys adressier-

te das tote Tier, er soll während dreier Stunden unhörbar referiert

haben, doch blieb unklar, ob er sich dabei artikuliert ausdrückte

oder nur in sich hinein murmelte.

Noch ehe Beuys mit der Hasenaktion die Ausstellung mit einem

Überblick über frühe Zeichnungen sowie Objekte der fünfziger und

frühen sechziger Jahre bei Schmela eröffnete, war seine künstleri-

sche Arbeit über vier Jahrzehnte entscheidend vom Zeichnen be-

Abb. 1: JOSEPH BEUyS, WIE

MAn EInEM TOTEn HASEn DIE

BILDER ERKLäRT, 1965, An-

SICHT DER AKTIOn, DüSSEL-

DORF, GALERIE SCHMELA,

AUFnAHME WALTER VOGEL

6 1967 initiierte Beuys die Gründung der Deutschen Studentenpartei, aus der 1970 die »Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung« hervorging. Ende April 1973 wurde der »Verein Freie Internationale Hoch-schule für Kreativität und Interdisziplinäre Forschung e.V.« gegründet, was auf die Reformbemühungen um die kontroversen Diskussio-nen über die Regelung von Zulassungsbeschränkungen an der Kunstakademie Düsseldorf zurückzuführen war. Schliesslich wurde aus diesem Verein »FIU, Free International University«. Beuys engagierte sich 1979 bei der Gründung der Partei der Grünen und wurde als

deren Kandidat für die Direktwahlen zum Europaparlament vorgeschlagen, für die er auch ein Plakat gestaltet hatte (Joseph Beuys, Wahlplakat für die Grünen, 1979–1980).

stimmt. 1961 als Professor an die Kunstakademie Düsseldorf beru-

fen, begann er wenig später mit Installationen, Performances und

Aktionen, auf die schließlich zahlreiche Vorträge und nicht zuletzt

seine politische Arbeit in den 1970er und frühen 1980er Jahren fol-

gen sollten.6 Das Zeichnen, in den Siebzigern dann auf Wandta-

feln, ist für Beuys’ gesamtes Œuvre nicht nur darum wesentlich,

weil er in großem Umfang Zeichnungen angefertigt hat, nämlich

weit über 10.000 Blätter, sondern weil seine zeichnerischen Ver-

fahren sein gesamtes künstlerisches Projekt prägten. Wir werden

aber sehen, dass vom zeichnerischen Frühwerk zu den Aktionen

keine kontinuierliche Entwicklung verlief, sondern dass das Ver-

hältnis zwischen Zeichnung und Performance vielmehr von Vor-

wegnahmen und Rückgriffen durchwoben ist. Um Beuys’ Konzept

des Zeichnens zu verstehen, darf man sich nicht auf den Korpus

seiner Zeichnungen beschränken. Archive, Sendungen, Perfor-

mances und Installationen gehören ebenfalls zur Beuys’schen

Abb. 2: JOSEPH BEUyS, WIE MAn EInEM TOTEn HASEn DIE BILDER ERKLäRT, 1965, AnSICHT DER

AKTIOn VOn AUSSEn, DüSSELDORF, GALERIE SCHMELA, AUFnAHME WALTER VOGEL

1965

7 Dieser Begriff ist nach dem Vorbild Rüdiger Campes Theorie der »Schreibszene« gebildet, vgl. Rüdiger Campe, Die Schreibszene, Schreiben, in: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situa-tionen offener Epistemo-logie, hrsg. v. Hans Ulrich Gumbrecht, K.  Ludwig Pfeiffer, Frankfurt/M. 1991, 759–772. 8 Vgl. Wolf Kittler, Bomben Genauigkeit. Joseph Beuys, die Erweiterung der Kunst und der totale Krieg, in: Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, hrsg. v. S. Schade, G. Ch. Tholen, München 1999, 358–376, 367.

»Szene des Zeichnens«7. Vor diesem Hintergrund wird zu erörtern

sein, wie das im konventionellen Verständnis intime Medium der

Zeichnung mit den öffentlichen Performances, von der Beuys’ spä-

teres Werk bestimmt wird, zusammenhängt.

I.

Fremddeutungen der Hasenperformance:

Vergangenheitsbezug, Zukunftsoffenheit und

Publikumsentzug

Die Hasenperformance provoziert bis heute unterschiedlichs-

te theoretische wie künstlerische Deutungen, von denen ich nur

zwei besonders markante hervorheben möchte. Von Wolf Kittler

beispielsweise wird sie als eine Aktion verstanden, die ganz auf

die Vergangenheit ausgerichtet ist. Er interpretiert die Hasenper-

formance als einen »Akt der Trauer im Namen derer, denen kei-

ner mehr die sogenannten Kunstschätze erklären wird, weil sie im

Krieg zu früh umgekommen sind«8. Kittler beschreibt nicht nur

die Hasenperformance, sondern Beuys’ gesamtes Werk als be-

stimmt durch eine »Kombination von extremer Flüchtigkeit und

zwanghafter Wiederholung«, in der er einen Nachhall der Ver-

Abb. 3: MARInA ABRAMOVIć

InSZEnIERT JOSEPH BEUyS’

WiE man EinEm totEn HaSEn

diE BildER ERkläRt, nEW

yORK, SOLOMOn R. GUGGEn-

HEIM MUSEUM, 2005, AUF-

nAHME AT TILIO MARAnZAnO

I . FR EMDDEU T UnGEn DER HA SEnPER FORMAnCE Naef 37

9 Ebd., 363.10 Marina Abramović, 7 Easy Pieces, Ausst.Kat., The Solomon R. Guggen-heim Museum, new york, Milan 2007, 176–191. neben Beuys’ Hasenperformance führte Abramović Body Pressure von Bruce nauman, Seedbed von Vito Acconci, Valie Exports action Pants: Genital Panic, Gina Panes the Conditioning, first action of Self-portrait(s) auf, sowie zwei eigene Performances (lips of thomas« und »Enter-ing the other Side). 11 Abramović im Gespräch mit Marion Ackermann, in: Joseph Beuys. Parallelpro-zesse, Ausst.Kat., Kunst-sammlung nordrhein-West-falen, Düsseldorf, München 2010, 388–401, 391.12 Vgl. dazu »Letter of Agreement«, in: 7 Easy Pieces, 230.

gangenheit des Künstlers als Weltkriegspilot erkennen möchte.9

Mit jedem Werk, so Kittler, habe Beuys die Erfahrung des Sturzes

und damit der Auslöschung von Bewusstsein evozieren wollen.

Übertragen auf die Hasenperformance würde dies bedeuten, dass

Beuys durch die Abwendung vom Publikum und das Gespräch

mit dem Hasen versucht habe, Kontakt mit einer traumatisch ab-

gespaltenen Vergangenheit herzustellen.

Eine künstlerische Interpretation von Beuys’ Hasenperfor-

mance unternahm die serbische Performance-Künstlerin Ma-

rina Abramovic im Jahre 2005, als sie im Guggenheim Museum

in New York im Rahmen ihres Projekts 7 Easy Pieces sieben Re-

Enactments historischer Performances der sechziger und sieb-

ziger Jahren durchgeführte, darunter auch Wie man einem toten

Hasen die Bilder erklärt.10 Abramovic hat die legendäre Hasenak-

tion 1965 allerdings nicht gesehen, wie im übrigen auch die ande-

ren Performances nicht, die sie reinszenierte. Doch gerade deswe-

gen interessierte sie sich dafür,

»was hinter dem Foto steckt, auf dem er [Beuys] den toten Hasen im

Arm hält (…) Aber es gab kein Videomaterial oder irgendeine Erklä-

rung der Performance. Deshalb dachte ich, es wäre interessant,

dieses Werk zu neuem Leben zu erwecken. Ich habe mir die vorhan-

denen Dokumente und Materialien angeschaut, um zu rekonstruie-

ren, was das für ein Werk war, und wie Joseph Beuys es aufführt.«11

Der Hintergrund für 7 Easy Pieces bildete die Annahme, dass we-

nig oder gar keine Dokumentation von den meisten Performan-

ces dieser Zeit existierte. Für Abramovic die Möglichkeit und auch

künstlerische Herausforderung, die ersten Performances für eine

nächste Generation durch Neuaufführung wieder zugänglich zu

machen. Die Aufführungen der sieben Performances fanden eine

Woche lang jeden Abend statt. Sie waren begleitet von einer Aus-

stellung, in der Materialien zu den ursprünglichen Performan-

ces gezeigt wurden, wie schriftliche Erläuterungen, Zeichnun-

gen, Partituren, Fotografien oder Videoaufnahmen.12 Der zwei

Jahre später erschienene Katalog beinhaltet neben Fotografien

von Abramovic’s Reinzenierungen auch das Transkript von Besu-

1965 38 ZEICHnUnG, PER FORMAn CE, In T ER PR E TAT IOn

13 Vgl. zu Richtkräfte Joseph Beuys, Richtkräfte, hg. v. Christos M. Joachimedes, Ausst.-Kat., nationalga-lerie, Staatliche Museen Preussischer Kulturbesitz, Berlin 1977, Barbara Lange, Joseph Beuys. Richtkräfte einer neuen Gesellschaft. Der Mythos vom Künstler als Gesellschaftsreformer, Berlin 1999, sowie auch d. Vf., Joseph Beuys. Zeichnung und Stimme, München 2011, S. 112–148.14 Es mag erstaunlich erscheinen, dass Abramović in Beuys’ Ausschluss des Publikums, den ich als programmatisch begreife, einzig eine pragmatische Lösung erkennen will, zu welcher Beuys sich aufgrund der engen räum-lichen Bedingungen des Galerieraums gezwungen sah. So meint sie: »Ich halte es für sehr zweifelhaft, dass er die Sicht des Publikums einschränken wollte. Ich glaube, es war anders ein-fach nicht möglich, es gab buchstäblich keinen Raum für das Publikum (…) Es scheint ein technisches Pro-blem gewesen zu sein, denn immer da, wo der Raum gross genug ist, befindet er sich vor dem Publikum. Ich glaube, es war eher eine pragmatische Lösung als ein Konzept.« (ebd., 394). Abramović reduziert Beuys’ eigene Abschliessung und die Ausschliessung des Publikums, die der Künstler in der Hasenperformance inszeniert, auf einen gegebenen Umstand und verkennt, dass Beuys – der perfekte Inszenator – die räumlichen Bedingungen produktiv zu seinen Diens-ten zu nutzen versteht.

cherkommentaren; es wurden Mikorophone im Raum verteilt, um

die spontan geäußerten Meinungen des Publikums einzufangen.

Am fünften Abend betritt Abramovic mit geschwürartig mit Gold

verunstaltetem Gesicht, gekleidet in eine beigefarbene Hose und

Beuys’scher Weste die Rotunde (Abb.  3). Sie hält einen toten Ha-

sen im Arm und sitzt mit erhobenem Zeigefinger auf einer Holz-

kiste; später streichelt sie den Hasen, wendet sich ihm (sprechend)

zu oder steht mit den Hasenohren im Mund auf, so dass das Tier

schlaff herunterhängt. Auf der Bühne finden sich neben einem Be-

sen, mit dem die Künstlerin den Boden wischt, je eine Filz- und

Stahlsohle (wie damals bei Beuys), eine Replik des Eurasienstabs,

aber auch drei auf ein Holzgestell montierte und vier am Boden

liegende Wandtafeln. Letztere erinnern an eine viel spätere Arbeit

des Künstlers, Richtkräfte von 1974–77, auch eine Aktion, bei wel-

cher Beuys an mehreren Tagen in einem Ausstellungsraum zum

Publikum sprach und dabei auf Wandtafeln zeichnete. Die in der

Aktion Richtkräfte verwendeten Tafeln, zeigte er an zwei weiteren

Orten als Installation, ehe sie schließlich in der Nationalgalerie in

Berlin permanent installiert wurden.13

Abramovic’s Vorgehen folgt einer Logik der Reduktion und Er-

weiterung: Reduziert wird unser Wissen über die Hasenperfor-

mance, die eigentlich in verschiedenen Medien dokumentiert wur-

de, von der Abramovic aber nur das Foto mit Beuys und dem Hasen

als Ausgangspunkt ihres Re-Enactments wählt; erweitert wird die

Hasenperformance hingegen auf die Zukunft durch Hinzunahme

der Wandtafeln, die Beuys erst in einer späteren Phase seiner Per-

formancekunst verwenden wird, dann aber als höchst charakteris-

tisches Merkmal seiner öffentlichen Auftritte. Abramovic versteht

die Hasenperformance  – und vielleicht auch jede Performance  –

unter dem Aspekt ihrer einprägsamen und reproduzierbaren Bild-

haftigkeit, die aber über sich hinaus weist, zu weiteren Performan-

ces hindrängt und letztlich auch die verwandelnde Wiederholung

des einmaligen Akts der Performance erlaubt. Abramovic benutzt

das Foto als ikonisches Bild, als Bild, das die Vergangenheit ein-

schloss und zugleich auf die Zukunft verwies, auf die Kette immer

neuer Aktionen, von Beuys und allen weiteren Künstlerinnen und

Künstlern, die sich mit seiner Kunst auseinandersetzten.14