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KANT UND MARX ALS KRITIKER DER VERNUNFT von Jindrich Zeleny, Prag I Marx war bekanntlich kein Vernunftkritiker im spezifisch Kantschen Sinn. Die Unhaltbarkeit der Versuche einiger neukantianisierender Austromarxisten zur Zeit der II. Internationale, die Marxsche Methode kantianisch umzudeuten oder den Marxismus mit der Kantschen Erkenntniskritik von außen her zu ergän- zen, gilt bereits seit langem als erwiesen, insbesondere nach der Veröffentlichung der Pariser Manuskripte Marxens aus dem Jahre 1844 und des Rohentwurfs des Kapitalaus den Jahren 1857—58. In einem anderen Sinn, nämlich als Kritiker aller spekulativen Philosophie und insbesondere der Hegeischen Vernunftphilosophie, war allerdings Marx ganz zweifellos ein „Kritiker der Vernunft". In der Kritik der Hegeischen Vernunft gab Marx seiner Auffassung der Aufhebung aller traditionellen Metaphysik und Ontologie Ausdruck, und zwar nicht nur der vorkantischen Ontologie, sondern auch der von Kant ausgehenden spekulativen Transzendentalphilosophie. Ich möchte weder die neukantianische Reduktion der Marxschen Methode auf Kant beleben noch mit Homonymen spielen. Folgende Fragen scheinen mir in diesem Zusammenhang vor allem wichtig: Ist Marxens Bruch mit der philosophischen Tradition — was den Typus des wissenschaftlichen Denkens anlangt eine Rückkehr zum vorkritizistischen Denken, zur Ontologie des vorkantischen Typs —, oder ist er ein purer Neube- ginn im theoretischen Denken ohne Kontinuität zu Kant oder schließlich, handelt es sich unter anderem um einen Versuch einer neuen Lösung von Fragen der Kritik der vorkantischen Metaphysik, einer Kritik, die Kant einleitete ? Wenn das letztere zutreffen sollte, dann: in welchem Sinn ist die vorwiegend als Kritik der Hegeischen Vernunftphilosophie ausgedrückte und untrennbar mit der Kritik der bürgerlichen Ökonomie verbundene Marxsche Kritik der Vernunft bei aller Diskontinuität und bei allem Radikalismus des Neubeginns doch eine Fortsetzung und Weiterführung des von Kant eingeschlagenen Weges ? Welche problemgeschichtlichen Zusammenhänge gibt es in diesem Sinne zwi- schen Kant und Marx, die beide ihrem Selbstverständnis nach eine Revolu- tion in der wissenschaftlichen Denkart bewirkt haben ? Ich möchte einige Aspekte dieser Fragen behandeln, und zwar vorwiegend auf Grund einer Interpretation der Marxschen Entwicklung in den Jahren 1844—45, von den Pariser Manuskripten zur Deutschen Ideologie, a. h. jener Denkphase, die 329 Brought to you by | Brown University Rockefeller Library Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 9/26/13 2:14 AM

KANT UND MARX ALS KRITIKER DER VERNUNFT

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KANT UND MARX ALS KRITIKER DER VERNUNFT

von Jindrich Zeleny, Prag

IMarx war bekanntlich kein Vernunftkritiker im spezifisch Kantschen Sinn.

Die Unhaltbarkeit der Versuche einiger neukantianisierender Austromarxistenzur Zeit der II. Internationale, die Marxsche Methode kantianisch umzudeutenoder den Marxismus mit der Kantschen Erkenntniskritik von außen her zu ergän-zen, gilt bereits seit langem als erwiesen, insbesondere nach der Veröffentlichungder Pariser Manuskripte Marxens aus dem Jahre 1844 und des Rohentwurfs desKapitalaus den Jahren 1857—58.

In einem anderen Sinn, nämlich als Kritiker aller spekulativen Philosophieund insbesondere der Hegeischen Vernunftphilosophie, war allerdings Marx ganzzweifellos ein „Kritiker der Vernunft". In der Kritik der Hegeischen Vernunftgab Marx seiner Auffassung der Aufhebung aller traditionellen Metaphysik undOntologie Ausdruck, und zwar nicht nur der vorkantischen Ontologie, sondernauch der von Kant ausgehenden spekulativen Transzendentalphilosophie.

Ich möchte weder die neukantianische Reduktion der Marxschen Methode aufKant beleben noch mit Homonymen spielen. Folgende Fragen scheinen mir indiesem Zusammenhang vor allem wichtig:

Ist Marxens Bruch mit der philosophischen Tradition — was den Typus deswissenschaftlichen Denkens anlangt — eine Rückkehr zum vorkritizistischenDenken, zur Ontologie des vorkantischen Typs —, oder ist er ein purer Neube-ginn im theoretischen Denken ohne Kontinuität zu Kant — oder schließlich,handelt es sich unter anderem um einen Versuch einer neuen Lösung von Fragender Kritik der vorkantischen Metaphysik, einer Kritik, die Kant einleitete ?

Wenn das letztere zutreffen sollte, dann: in welchem Sinn ist die vorwiegendals Kritik der Hegeischen Vernunftphilosophie ausgedrückte und untrennbar mitder Kritik der bürgerlichen Ökonomie verbundene Marxsche Kritik der Vernunftbei aller Diskontinuität und bei allem Radikalismus des Neubeginns doch eineFortsetzung und Weiterführung des von Kant eingeschlagenen Weges ?

Welche problemgeschichtlichen Zusammenhänge gibt es in diesem Sinne zwi-schen Kant und Marx, die beide — ihrem Selbstverständnis nach — eine Revolu-tion in der wissenschaftlichen Denkart bewirkt haben ?

Ich möchte einige Aspekte dieser Fragen behandeln, und zwar vorwiegend aufGrund einer Interpretation der Marxschen Entwicklung in den Jahren 1844—45,von den Pariser Manuskripten zur Deutschen Ideologie, a. h. jener Denkphase, die

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für das Verständnis der philosophischen Seite der ganzen Marxschen theoretischenLeistung entscheidend zu sein scheint.

Marx geht es allerdings um mehr als bloß um ein neues Wort in der Philoso-phie. Es geht ihm um eine neue menschliche, revolutionär-praktische Einstellung.Er erblickt die Grundlage der Lösung der menschlich-gesellschaftlichen — undals Moment dessen: theoretischen — Probleme seiner Zeit in einer praktischenrevolutionären Bewegung, die auf die Auswechslung der vorgefundenen bürger-lichen Betätigungsweisen der Menschen durch neue, kommunistische Formen desmenschlichen Lebcnsprozesses abzielt. Ein untrennbares und unabdingbaresMoment dieses Prozesses ist für ihn die wissenschaftliche gedankliche Tätigkeit,vor allem das „Begreifen der Praxis"1), eine „positive Wissenschaft" als „Darstel-lung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses derMenschen"2). Die Kritik der bürgerlichen poütischen Ökonomie und der bürger-lichen Gesellschaft überhaupt, die Marx in seinen späteren Werken übte, warzweifelsohne als Ausgangsbearbeitung dieser positiv-kritischen Wissenschaft fürdie gegebenen Verhältnisse gemeint, einer prinzipiell offenen und nie abgeschlos-senen Wissenschaft, ebenso wie sich für Marx vom Standpunkt des „neuenMaterialismus" die menschliche Praxis notwendigerweise als offen und neueForminhalte hervorbringend darstellen mußte.

Wie ist ein solches „Begreifen der Praxis" möglich?Bei Marx findet man keine im Sinne der Kantschen Erkenntniskritik gestellte

Frage nach der Möglichkeit und Grundlegung einer solchen Wissenschaft, weiler die ursprüngliche kritizistische Fragestellung als „unkritisch", als einen Rück-fall ins spekulative Philosophieren angesehen haben würde.

Obwohl eine diesbezügliche ausdrückliche Auseinandersetzung mit KantsKritik der reinen Vernunft bei Marx — soweit ich sehe — ausbleibt, treten die Marx-schen Gründe für eine solche grundsätzliche Ablehnung der Kantschen Frage-stellung z. B. in der Deutschen Ideologie ziemlich klar hervor.

Menschliche Wissenschaft — und es gibt keine andere — ist nach Marx einespezifische und arbeitsteilig abgesonderte Tätigkeitsform der wirklichen Menschen,d. h. der Menschen, wie sie materiell und geistig produzieren, also „wie sie unterbestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraus-setzungen und Bedingungen tätig sind"3).

Das Denken, und auch das in wissenschaftlichen Formen sich bewegendeDenken, ist ein Moment des praktischen gesellschaftlich-individuellen Lebens-prozesses der Menschen.

Soll eine Untersuchung der Denkfonnen, einschließlich des Begründungspro-blems der Wissenschaft, nicht abstrakt (im Marxschen Sinn), spekulativ, „ideolo-

*) K. Marx — F. Engels: Historisch-kritische Gesamtausgabe·, Frankfurt a. M. 1927 ff(MEGA), Bd. 5, S. 535.

2) Ibid., S. 16.3) Ibid., S. 15.

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gisch" sein, muß sie von vornherein dieses Momentsein des menschlichen Bewußt-seins und Denkens im praktischen gesellschaftlichen Lebensprozeß in Betrachtziehen. Da die Kantsche Fragestellung dies nicht tut, ist sie als eine spekulativeund „ideologische" abzulehnen.

Die Analyse und gedankliche Reproduktion des wirklichen praktischen Le-bensprozesses der Menschen in der Epoche der bürgerlichen Gesellschaft ist fürMarx gleichzeitig die Grundlage der Analyse und Kritik der Formen des zur kapi-talistischen Ära gehörenden wissenschaftlichen Denkens, Grundlage des ratio-nellen Verständnisses des betreffenden Typs der Rationalität.

In diesem Sinn ist Marxens Auffassung des Grundlegungsproblems eine Nega-tion und prinzipielle Aufgabe der Kantschen Fragestellung.

Versuchen wir nun darzulegen, worin sie trotzdem eine Anknüpfung undWeiterentwicklung einiger Grundmotive der Kantschen Vernunftkritik ist.

Meines Erachtens kann insbesondere Marxens ausdrückliche Auseinanderset-zung mit zwei Denkern, die ebenso wie Marx in der Kritik der philosophischenTradition die Gründung eines Mo genere neuen Philosophierens anstrebten, zurKlärung sowohl des tieferen Radikalismus der theoretischen Initiative Marxens,als auch seiner bewußten tieferen Verwurzelung in der von Kant ausgehendenphilosophischen Revolution beitragen. Ich denke hierbei an Feuerbach undStirner. Was Stirner anlangt, wurde die philosophische Relevanz der MarxschenPolemik gegen Stirner oft — meines Erachtens — zu Unrecht unterschätzt.

Sollte unsere Interpretation richtig sein, dann ergäbe sich aus ihr, worin dasDiktum Kroners zu präzisieren wäre, wonach die philosophische Entwicklungvon Kant bis Hegel ein geschlossenes Ganzes, „einen in sich zusammenhängen-den, aus sich heraus verständlichen, nicht über sich hinausweisenden (kursiviert vonJ.Z.) Abschnitt des Denkens" bildet4). „In der eingeschlagenen Richtung"— sagt Kroner — „konnte das durch Kant in Bewegung gesetzte Denken nichtmehr weiter schreiten ... Sollte es noch ein Nach-Hegel geben, so mußte einneuer Anfang gemacht werden". Es handelt sich um den Charakter des Neube-ginns Marxens, um seine Beziehung zu dem durch Kant in Bewegung gesetztenDenken.

II

Indem Marx in seiner ersten These über Feuerbach seine Auffassung der Wirk-lichkeit von der Feuerbachschen abhebt, formuliert er sein Abgehen von derTranszendentalphilosophie und gleichzeitig seine Würdigung ihres theoretischenBeitrags. Der Hauptmangel des bisherigen Materialismus beruht nach Marx darin,„daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form desObjekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschlicheTätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz

4) R. Kroner: Von Kant bis Hegel, 2. Aufl. Tübingen 1961, S. 6.

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zu dem Materialismus von dem Idealismus — der natürlich die wirkliche, sinnlicheTätigkeit als solche nicht kennt — entwickelt"6).

Bevor wir zur eingehenderen Differenzierung des Verhältnisses des Feuer-bachschcn und Marxschcn nachhegelschen Anfangs zur neuzeitlichen durch Kantinitiierten Transzcndcntalphilosophie übergehen, ist zur Klärung der Marxschenpraktischen Auffassung der Wirklichkeit folgendes zu bemerken:

Der fragmentarische Ausdruck der ersten These über Feuerbach ist derartunbestimmt, daß er zumindest zweierlei Deutung ermöglicht. Will Marx sagen,der Gegenstand, die Wirklichkeit müsse nicht nur unter der Form des Objekts undder Anschauung, sondern auch als menschliche Tätigkeit, Praxis aufgefaßt werden(wobei dann allerdings weitere Fragen entstehen, wie dieses „nicht nur — sondernauch" aufzufassen wäre) ? Oder soll Marxens Kritik Feuerbachs und des bisheri-gen Materialismus bedeuten, die Wirklichkeit sei ausschließlich nur als mensch-liche Tätigkeit aufzufassen, und es existiere also keine Wirklichkeit, die unter derForm des Objekts aufgefaßt werden könnte?

Ich halte die erste Interpretation als Ausgangspunkt der authentischen Inter-pretation für richtig und möchte zunächst zur Klärung der Interpretationsschwie-rigkeiten auf einige Momente der Marxschen Polemiken gegen die Junghegeli-aner verweisen, die annähernd aus der gleichen Zeit wie die Thesen über Feuerbachstammen.

Wenn wir nämlich sagen, für Marx werde das Problem der Wirklichkeit zueinem Problem der Praxis, bringen wir dadurch zwar etwas für Marx Wesentlichesund Fundamentales zum Ausdruck, erfassen aber noch nicht das Spezifische desphilosophischen Standpunkts Marxens. Hierzu muß zunächst in Betracht gezogenwerden, wie Marx seine Auffassung der in der ersten These über Feuerbach be-rührten Probleme kritisch nicht nur gegenüber dem „unpraktischen" Materialis-mus Feuerbachs, sondern auch und zugleich gegenüber der junghegelianischen„praktischen" Auffassung der Wirklichkeit, d. h. vor allem gegenüber der „Phi-losophie des kritischen Selbstbewußtseins" B. Bauers, gegenüber der „Philosophieder Tat" von Moses Hess und gegenüber der Stirnerschen Dialektik des Men-schen als Einheit von Schöpfer und Geschöpf unterscheidet.

Für unsere Probleme wird es nicht bedeutungslos sein, aufzuzeigen, wie in derHeiligen Familie Bauers „Kampf gegen die Substanz", d. h. Bauers subjektiveAuffassung der Wirklichkeit als menschlicher Tätigkeit, kritisiert wird. Bauersublimiert alles, was außerhalb des menschlichen Selbstbewußtseins materielleExistenz hat, zu einem bloßen Schein und zu einem Moment kritischer mensch-licher Denktätigkeit. „Er bekämpft" — schreibt Marx von Bauer — „in der Sub-stanz nicht die metaphysische Illusion, sondern den weltlichen Kern — die Natur,die Natur sowohl wie sie außer dem Menschen existiert, als wie sie seine eigeneNatur ist. Auf keinem Gebiet die Substanz voraussetzen — er spricht noch .in

5) MEGA L, Bd. 5, S. 533.

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dieser Sprache — heißt ihm also: kein vom Denken unterschiedenes Sein, ...kein vom Subjekt unterschiedenes Objekt ... anerkennen"6).

Dazu muß aber bemerkt werden, daß diese Kritik Marxens an Bauer für dieÜberwindung der erwähnten Interpretationsschwierigkeiten nicht maßgebendsein kann, da sie von einem Standpunkt aus gesprochen wird, der, wenngleichnicht orthodox feuerbachianisch, so doch den Feuerbachschen Konzeptionentributpflichtig war. Die entscheidende kritische Wendung Marxens gegenüberFeuerbach fällt erst in das Jahr 1845, also in die Zeit nach Abfassung der HeiligenFamilie.

Spricht noch die Heilige Familie von Feuerbach als genialem Kritiker Hegelsund Vollender der Religionskritik, der den metaphysischen absoluten Geist aufden „wirklichen Menschen auf der Grundlage der Natur" überführte und gleich-zeitig „zur Kritik der Hegeischen Spekulation und daher aller Metaphysik diegroßen und meisterhaften Grundzüge entwarf"7), beurteilen die Manuskripteaus dem Jahre 1845 Feuerbach wesentlich kritischer: Feuerbach sei nicht imstandegewesen, sich mit der Aufgabe der Kritik der Hegeischen Dialektik auseinander-zusetzen8); es sei ein offenbarer Schnitzer der „wahren" Sozialisten, man braucheFeuerbach nur praktisch zu machen und ihn aufs soziale Leben anzuwenden, umeine vollständige Kritik der bestehenden Gesellschaft zu geben9).

Wir müssen also die Klärung der Interpretationsschwierigkeiten erst in denArbeiten aus dem Jahre 1845, bzw. aus dem Jahre 1845 und den späteren Jahrensuchen.

Ich möchte zunächst kurz darlegen, daß auch in der Deutschen Ideologie Marx inder Polemik gegen Bauer und Stirner ausdrücklich die subjektive Auffassung derWirklichkeit im Sinne einer Subsumption der „Substanz" unter das „Subjekt"ablehnt10). Zu den Versuchen der „wahren" Sozialisten, die Wirklichkeit auf eine„freie menschliche Tätigkeit" zu reduzieren und so die Wirklichkeit bloß subjek-tiv zu fassen, bemerken Marx und Engels in der Deutschen Ideologie kritisch Folgen-des: „Wir sehen hier übrigens, was die wahren Sozialisten unter der ,freien Tätig-keit* verstehen. Unser Autor verrät uns unvorsichtigerweise, daß sie die Tätigkeitist, die ,nicht durch die Dinge außer uns bestimmt wird', d. h. der actus purus, diereine, absolute Tätigkeit, die nichts als Tätigkeit ist und in letzter Instanz wiederauf die Illusion vom reinen Denken hinausläuft. Diese reine Tätigkeit wirdnatürlich sehr verunreinigt, wenn sie ein materielles Substrat und ein materiellesResultat hat ... Das Subjekt, das dieser reinen Tätigkeit zu Grunde liegt, kanndaher auch kein wirklicher sinnlicher Mensch, sondern nur der denkende Geistsein"11).

e) MEGA L, Bd. 3, S. 318—319.7) Ibid., S. 316.*) MEGA L, Bd. 5, S. 515.») MEGA L, Bd. 5, S. 477.

10) MEGA L, Bd. 5, S. 373—374.n) MEGA L, Bd. 5, S. 449.

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Aus dem Angeführten ergibt sich, daß die erste These über Feuerbach nichtim Sinne einer Reduktion aller Wirklichkeit auf die praktische menschliche Tätig-keit zu interpretieren ist, wie z. B. der junge Lukdcs in seinem einflußreichen WerkGeschichte und Klassenbewußtsein anzunehmen geneigt scheint12).

Nach Marx beruht Fcuerbachs Fehler nicht darin, daß die Existenz von sinn-lichen Gegenständen, die von den Gedankcnopjekten und der Gedankentätigkeitunterschiedlich sind, anerkannt wird, sondern in der „höchst bornierten", i. e. un-geschichtlichcn Weise13) dieser Anerkennung.

Wenn Feucrbach überhaupt auf den Zusammenhang des Menschen mit dengesellschaftlichen Verhältnissen und der Geschichte eingeht, erklärt er alles alsRealisierung „des menschlichen Wesens'*, die ungeschichtlich als bloße natürlicheGattungsallgemeinheit aufgefaßt wird.

Demgegenüber betont Marx, das „menschliche Wesen" sei in allen Zeiten einhistorisches Produkt. Die Geschichte wird weder vom Weltgeist, noch von „demMenschen" gemacht, sondern von den Menschen, wie sie wirklich sind, das heißtnach Marx: wie sie wirken, materiell und geistig produzieren. In der Geschichtefinden wir auf jeder Stufe ein historisch geschaffenes Verhältnis zur Natur undeine Wechselbeziehung der Individuen zueinander vor; diese Beziehungen werdenin jeweils bestimmten Produktionskräften und Produktionsverhältnissen ausge-drückt und jede Generation erbt sie von ihren Vorgängern. Die ererbten Produk-tionskräfte und Umstände werden einerseits von der neuen Generation modifi-ziert, andererseits schreiben sie der neuen Generation ihre eigenen Lebensbedin-gungen vor. Man kann also sagen, daß „die Umstände ebensosehr die Menschen,wie die Menschen die Umstände machen"14). In diesem Zusammenhang gelangtMarx zu seinem fundamentalen Philosophen!: Das Ändern der Umstände und dermenschlichen Tätigkeit (oder die Selbstveränderung) fällt zusammen und „kannnur als umwälzende Praxis gefaßt und rationell verstanden werden"16).

Für Marx ist das „Wesen des Menschen" die wirkliche menschliche Tätigkeitin je bestimmten und wandelbaren historischen Formen der Selbstveränderung,in der individuell-gesellschaftlichen Einheit des „Umstände-Machens" und „Von-den-Umständen-gemacht-Werdens" und hat seinen realen Grund in der von denvorhergehenden Generationen erzeugten sozialen Objektivität16). Der Unterschiedzwischen der bürgerlichen und postbürgerlichen Gesellschaft besteht nach Marxin dieser Hinsicht darin, daß in der ersten die Vergangenheit über die Gegenwart,in der zweiten die Gegenwart über die Vergangenheit herrscht17).

Vom Standpunkt des praktischen Materialismus erscheint Marx die traditio-nelle Kontraposition von Bewußtsein und Gegenstand, von Denken und Sein

12) Vgl. G. Lukdcs: Geschichte und Klassenbewußtsein* Berlin 1923, S. 28, 160 u. a.13) MEGA L, Bd. 5, S. 81.14) Ibid., S. 28.1 ) Ibid., S. 543, vgl. ibid., S. 193.1 ) Ibid., S. 28.17) MEGA L, Bd. 6, S. 540.

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vereinfachend und abstrakt. („Abstrakt" in der Bedeutung nach Marx, der in derRegel an den Feuerbachschen Begriff des Abstrakten, d. h. „losgelöst vom wirk-lichen Menschen", anknüpft. Marx setzt allerdings anstelle der Feuerbachschen„ideologischen" Auffassung des Menschen seine unterschiedliche Auffassung;dann hat „abstrakt-konkret" einen anderen Sinn als bei Feuerbach. Auch Feuer-bach ist für Marx abstrakt in allen seinen philosophischen Konzeptionen, sofernihm die geschichtliche, praktische Auffassung des Menschen und der Wirklich-keit fehlt.)

Feuerbach begriff die Einheit von Bewußtsein und Gegenstand, von Denkenund Sein entweder kontemplativ dualistisch oder gelangte höchstens zu einerunhistorischen wechselseitigen Einwirkung zwischen Bewußtsein und Gegen-stand, zwischen Denken und Sein, und zu ihrer naturalistisch aufgefaßten Einheit.„Das wahre Verhältnis vom Denken zum Sein ist nur dieses: das Sein ist Subjekt,das Denken Prädikat. Das Denken ist aus dem Sein, aber das Sein ist nicht ausdem Denken"18).

Für Marx ist das Denken ein Moment des Seins19), wobei unter dem Sein dieMarxsche praktische Auffassung der Wirklichkeit gemeint wird. Auf Grund einerderart aufgefaßten Seins unterscheidet Marx bei der Analyse der gesellschaftlichenWirklichkeit, die er vor sich hatte, verschiedene Formen der Gegenständlichkeit:1. die Gegenständlichkeit, die von Menschen geschaffen wird und durch dasZusammenwirken vieler Individuen entsteht und je nach den verschiedenen sozia-len Bedingungen a) entweder gegen die tätigen Individuen als fremde Macht inForm einer äußeren Notwendigkeit auftritt, oder b) nicht diesen Charakter einerentfremdeten Gegenständlichkeit hat, ein Moment bewußter Selbstverwirklichungder Menschen ist; 2. die Gegenständlichkeit, deren Existenz nicht durch dieTätigkeit der Menschen vermittelt wird, die also etwas „ohne Zutun des MenschenVorhandenes"20) ist und je nach den historischen Bedingungen früher oder späterals materielles Substrat in den menschlichen Arbeits- und Lebensprozeß einbe-zogen oder nicht einbezogen wird; 3. die Gegenständlichkeit der menschlichenSubjektivität als Moment der gesamten Praxis; u. a. Marx genügt also für denAusdruck der Beziehung von Denken und Sein, bzw. von Denken und den ver-schiedenen Formen der Gegenständlichkeit bereits nicht mehr die von Feuerbachangewandte Beziehung „Subjekt-Prädikat". Diese setzt eigentlich eine substan-ziell attributive Struktur dessen voraus, was wir durch die Beziehung „Subjekt-Prädikat" charakterisieren wollen. Für Marx hat aber die Beziehung „Denken— praktisch gefaßte Wirklichkeit" eine andere Struktur, und daher ist ihm dieFeuerbachsche Charakteristik unannehmbar.

Die wissenschaftliche Aufgabe des „Begreifens der Praxis" wird allerdings fürMarx nicht dadurch erfüllt, daß in den Thesen Über Feuerbach und in der Deutschen

18) L. Feuerbach: Vorläufige Thesen (in: Zur Kritik der Hegehchen Philosophie, Berlin1955, S. 84).

1J0 MEGA L, Bd. 5, S. 242—243.20) Das Kapital L, S. 186 (Berlin 1947).

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Ideologie im Sinne eines praktischen Materialismus allgemeine Bestimmungen einerneuen, keineswegs objektivistischen, aber auch nicht subjektivistischen Auffas-sung der Wirklichkeit ausgearbeitet werden. Auch die Beziehung des Allgemeinenund Besonderen, als alle traditionellen protophilosophischen Fragen, werden impraktischen Materialismus Marxens neu gefaßt.

Würden wir diese allgemeinen Bestimmungen (Subjektivität-Objektivität, „We-sen" des Menschen usw.) als überhistorische Abstraktionen, als formelle Sub-sumptionsallgcmcinhcitcn auffassen, wären wir uns nicht dessen bewußt, daß siein ihrer Abstraktheit zum Verständnis der Praxis in ihrer jeweils bestimmtenhistorischen, konkreten Form nicht ausreichen, würden wir — laut Marx — denhistorischen Boden verlassen und uns wiederum im Bann der Ideologie befin-den21). „An sich, losgelöst von der wirklichen Geschichte, haben diese Abstrak-tionen überhaupt keinen Wert"22). Wenn sie aber als geschichtliche Abstraktionenaufgefaßt werden, haben sie — was Marx insbesondere in der Polemik gegenStirner zu beweisen versucht — große philosophische und methodologische Be-deutung. Sie sind ein Moment des wirklichen Wissens und sind unerläßlich für„das Begreifen der Praxis" und somit für die wirkliche revolutionäre Praxis.

Zwecks einer eingehenderen Klärung der Marxschen Auffassung der in denThesen über Feuerbach skizzierten Problematik müßte man untersuchen, wie die„Wirklichkeit" in den Marxschen Analysen der historisch konkreten Formenmenschlicher Tätigkeit, die Marx vor sich hatte, und insbesondere in der Analyseihrer damaligen Grundform, der materiellen Produktion der bürgerlichen Epoche, \aufgefaßt wird. Dies ist hier nicht unsere unmittelbare Aufgabe. Die ökonomi- |sehen Analysen Marxens mit ihrer explicite ausgedrückten oder implizierten Auf-fassung der verschiedenen Seinsarten, der Beziehung von Subjektivität und Objek-tivität, Spontaneität und Rezeptivität, Autonomie und Heteronomie, Natürlich-keit und Geschichtlichkeit usw., sind m. E. protophilosophisch relevant nicht alsbloße Konkretisierung überhistorischer Allgemeinheiten, sondern als unabding-bares, die neue protophilosophische Konzeption charakterisierendes und tragen-des theoretisches Moment.

IIIFeuerbachs anthropologischer nachhegelischer Neuanfang erblickt in der Ent-

wicklung von Kant bis Hegel nur eine Rationalisierung der Theologie und damiteine gewisse Annäherung des Absoluten an den Menschen und demnach eineÜbergangsstufe zwischen dem gemeinen Theismus als grober Form der Entfrem-dung des menschlichen Wesens und der anthropologischen Philosophie als Wie-dergewinnung des menschlichen Gattungswesens. In diesem Sinne hat für ihn diedeutsche spekulative Philosophie hohe geschichtliche Bedeutung23).

21) „Ideologie" in der Bedeutung, wie sie Marx in der Deutschen Ideologie anwendet.Vgl. MEGA L, Bd. 5, S. 15, 565, 568 u. a.

22) Ibid.* S. 16.23) L. Feuerbach: Grundsätze 5 6.

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Marx enthüllt einerseits vom Standpunkt des praktischen Materialismus denscheinbaren Radikalismus Feuerbachs und Stirners und zeigt auf, worin beide imBann der Tradition verbleiben, betont andererseits die von Feuerbach vernach-lässigte positive Bedeutung der deutschen Transzendentalphilosophie bei derVorbereitung einer zum „Begreifen der Praxis" fähigen Wissenschaft.

Eine ausführlichere Interpretation des problemgeschichtlichen Zusammen-hangs des neuen Materialismus Marxens mit der Bearbeitung „der tätigen Seite"im deutschen Idealismus könnte von der „transzendentalen Deduktion der reinenVerstandesbegriffe" Kants ausgehen, wo die Erfahrung und die Erfahrungsreali-tät im wesentlichen als Verstandeshandlung und Produkt der Verstandeshandlung,also als eine gewisse Form der Handlung aufgefaßt wird. Man müßte verfolgen,wie Fichte den Ansatz des Kantschen Transzendentalismus durch die Ablehnung„des Dinges an sich" radikalisiert und den Weg zur Auffassung der Subjekt-Objekt-Beziehung, und demnach des Seins überhaupt als Produzierens, freimacht;wie Schelling die Kantsche Idee eines „intellectus archetypus" ausbaut und denTranszendentalismus durch die gesellschaftlich-historische Dimension bereichert;wie Hegel bemüht ist, mit der Theorie der Selbstproduktion des Geistes auf derBasis des Transzendentalismus eine konsequentere Theorie der Gesamterfahrungund zugleich eine konsequentere Theorie der Freiheit zu geben, als es Kant,Fichte und Schelling vermochten. An die Hegeische Philosophie der Selbsterzeu-gung des Geistes knüpft Marx kritisch in den ökonomisch-philosophischen Manu-skripten an bei der Klarstellung der philosophischen Voraussetzungen seiner Kritikder bürgerlichen politischen Ökonomie und seiner damaligen Marx-Feuerbach-schen Theorie des Kommunismus aus dem Jahre 1844. Die Selbstproduktion desphilosophischen Selbstbewußtseins wird, wie sie in der Phänomenologie Hegelsgeschildert ist, als spekulativer Ausdruck des geschichtlichen Prozesses der Selbst-erzeugung des Menschen erklärt; diese Konzeption wird dann in der DeutschenIdeologie nach Ausschaltung der eschatologischen und „ideologischen" ElementeFeuerbach-Hegelscher Provenienz weiter kritisch in eine praktische Auffassungder Wirklichkeit im Sinne des neuen Materialismus umgebildet.

Dem Ausgangspunkt der deutschen Transzendentalphilosophie, d. h. Kant,scheint Marx insbesondere in drei Hinsichten näher zu sein als der idealistischenVollendung der Transzendentalphilosophie in Hegels Vernunftdialektik.

a) Es war in Hegels Augen ein Mangel des Kantschen Kritizismus, daß sein„absoluter Standpunkt" letzten Endes nur „der Mensch und die Menschheit"gewesen war. „So ist das, worauf solche Philosophie ausgehen kann, nicht, Gottzu erkennen, sondern, was man heißt, den Menschen" — sagt Hegel24). Marxkehrt auf einer neuen Ebene in diesem Punkte zu Kant in dem Sinne zurück, daßer in den endlichen Menschen, wie sie in je bestimmten und historisch wandelbarengesellschaftlich-natürlichen Verhältnissen tätig sind, das Alpha und Omega allerTheorie sieht.

24) Werke (Glockner), Bd. L, S. 291.

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b) Zweitens kann man Marxens Verhältnis zur Idee des Mathemarismus als Ab-lehnung der diesbezüglichen Hegeischen Leibniz- und Kantkritik auffassen unddarin eine gewisse Wiederannäherung an Kant feststellen. Wenn auch Marx dieIdee des Mathcmatismus in ihren verabsolutierten Ansprüchen ablehnt, begreifter nicht wie Hegel die mathematische Erkenntnis als eine untergeordnete undzwcitrangigc, die keinen Anspruch darauf, eine „wahrhaft wissenschaftliche"Erkenntnis zu sein, erheben sollte. Er setzt sich für eine maximale und potenziellwachsende Anwendung der Mathematik in der Erkenntnis ein, und zwar auch inbezug auf die Prozesse dialektischen Charakters, wie z. B. sein Brief an Engels(vom Mai 1873)25) über die künftig zu erwartende Möglichkeit einer mathemati-schen Bestimmung der Hauptgesetze der ökonomischen Krisen beweist. Schonin der Deutschen Ideologie lehnt Marx die „belletristischen, mit Hegeischen Tradi-tionen verquickten Philippiken gegen die Zahl" von Seiten der sog. „wahren"Sozialisten schroff ab25).

c) Drittens scheint uns Marx in seiner prinzipiellen Anerkennung der Schrankenund Grenzen der menschlichen Vernunft näher an Kant als an Hegel zu sein;wenn auch diese Nicht-Absolutheit des menschlichen Erkenntnisvermögens durchbeide Denker wesentlich anders gefaßt wird — bei Kant im Zusammenhang mitseiner übergeschichtlichen Unterscheidung von Erfahrungswissenschaft und„Ding an sich", bei Marx als Folge seiner praktisch-historischen Auffassung derWirklichkeit.

Ich möchte den problemgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Kant undMarx noch unter einem weiteren Aspekt, der mir bemerkenswert zu sein scheint,betrachten.

Den praktischen gesellschaftlichen Hintergrund für die wichtigsten philoso-phischen Konzeptionen der deutschen klassischen Philosophie einschließlichHegels bilden wohl diejenigen Formen des geschichtlichen Prozesses (mit einerspezifisch historischen Beziehung zwischen dem Individuum und dem Gesell-schaftsganzen) und diejenigen Formen der Abhängigkeit des Menschen von derNatur und der Beherrschung der Natur durch den Menschen, wie sie die bürger-liche Ära insbesondere in der Epoche der französischen Revolution mit sichbringt; protophilosophisch, hinsichtlich der theoretischen Form, bekamen jenepraktischen Probleme ihren Ausdruck vor allem in einer neuen Formulierung derProbleme der Bestimmung und Selbstbestimmung.

Kants Hauptproblem, neben dem die bekannte Ausgangsfrage der Kritik derreinen Vernunft nach der Möglichkeit von synthetischen Urteilen a priori ein abge-leitetes Problem darstellt, läßt sich wohl folgendermaßen formulieren:

Wenn autonomes Sein mit der Newtonschen Rationalität, die ihren unerschüt-terlichen Platz in der Naturwissenschaft hat, unvereinbar und unbegreifbar ist,und wenn kein Zweifel darüber herrscht, daß autonomes Sein (insbesondere und

2 ) Marx — Engels Briefwechsel IV, S. 478, Berlin 1950.2e) MEGA L, Bd. 5, S. 498.

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primär der bewußt moralisch handelnde Mensch als Persönlichkeit) existiert,welche philosophia prima ist dann fähig diesen Tatbestand aufzunehmen und ihreKoexistenz, ihre Einheit begreiflich zu machen ?

Es handelt sich um die Beziehung des Natürlichen und Menschlichen, um ihreEinheit, wobei Kant das „Natürliche" und „Menschliche" allerdings in spezifi-schem Sinn auffaßt. Das Natürliche ist „Erscheinung", ist nur in den Grenzen dermöglichen Erfahrung wissenschaftlich zugänglich, wobei Wissenschaft ihremTypus nach die Newtonsche Naturwissenschaft bedeutet.

Das Menschliche im ureigensten Sinn ist dasjenige, dessen Existenz sich nicht inder Zeit und im Raum bestimmen läßt, ist nicht „erscheinungsbedingt", also auchkein Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnisse, weil sie sich dem natürlichenMechanismus entzieht: es ist die moralisch handelnde menschliche Persönlichkeit,die ihren eigenen Willen selbst durch das moralische Gesetz vom Menschen alsSelbstzweck bestimmt (in der Kantschen Terminologie: die „frei" handelt). Aufdiese sich selbstbestimmende Realität, auf die Erfassung ihrer Seinsart lassen sichdie für Erscheinungen gültigen Bestimmungen nicht anwenden. Das durch „Kau-salität aus Freiheit" handelnde Subjekt ist in besonderer Weise „wirklich", andersals die Naturerscheinungen, und diese seine Wirklichkeit sui generis eröffnetgewisse neue Erkenntnismöglichkeiten, zwar nicht in Form theoretischer wissen-schaftlicher Erkenntnisse, dennoch aber solche, die wenigstens teilweise, wenig-stens auf einem bestimmten beschränkten Gebiet das „Sein an sich" enthüllen.

Es erhebt sich das Problem der Beziehung und Einheit des derart aufgefaßtenNatürlichen und Menschlichen, der Natur und des Menschen. Bekanntlich lösteKant dieses Problem im Sinne einer dualistischen Koexistenz: der natürlicheMechanismus gilt im Gebiet der „Erscheinungen", die „Freiheit" existiert imintelligiblen Gebiet. Ein Streit würde entstehen, wenn die Erscheinungen und dieDinge an sich nicht unterschieden würden, dann wäre der Spinozismus die unent-rinnbare Alternative, d. h. jenes philosophische System, das — nach Kant — keineSelbstbestimmung im eigentlichen Sinn kennt und die Freiheit in einer fatalenallgemeinen Notwendigkeit untergehen läßt.

Für Kant ist der Begriff der Freiheit der Schlußstein im ganzen Gebäude derreinen Vernunft27): damit beginnt die erste Philosophie, in der die, dem autono-men Ich analogen, selbstbestimmenden Strukturen den Primat haben, wobeiandere als die selbstbestimmenden Strukturen eine abgeleitete, auf der Grundlageder fundamentalen Rolle der Selbstbestimmung aufgefaßte Rolle einnehmen.

Dadurch, daß Kant dem Problem der Selbstbestimmung, wie es sich in dermenschlichen Handlungsweise (der Wahl unter dem moralischen Gesetz) zeigt,einen Vorzugsplatz in der gesamten Philosophie einräumt, ist er Initiator einerbedeutsamen Tat in der Entwicklung der ersten Philosophie: er vermenschlichtdas Problem des Schaffens, worüber vorher die traditionelle christliche Metaphy-sik in entfremdeter Form gesprochen hatte, indem sie den ersten Platz der Frage

27) Werke Bd. 5, S. 3 (Akademieausgabe).

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einräumte, was die göttliche creatio ist und welche Beziehung der Mensch dazuhat.

Wenn wir nun ins Auge fassen, wie Marx in der Deutschen Ideologie seine kriti-sche Beziehung zu Hegel formuliert, stellen wir fest, daß das Problem der Einheitder selbstbewußt tätigen Individuen und der Natur (man muß allerdings hinzu-fügen: der Natur einschließlich der „zweiten" Natur) das Zentralproblem dar-stellt. In der Vcrnunftphilosophie Hegels, die den Versuch unternimmt, denStandpunkt der Substanz (Spinoza) mit dem Standpunkt des Selbstbewußtseins(Fichte) zur Einheit zu bringen, sieht er einen mystifizierten Ausdruck des Ver-suchs, das Problem der Beziehung und Einheit von Mensch und Natur zu lösen,wobei in den reicheren praktisch-historischen Dimensionen der Fragestellungdieses Problems als Beziehung und Einheit der in historisch konkreten Formenselbstbewußt tätigen Menschen und der gesellschaftlichen und natürlichen Objek-tivität umrissen wird. Anscheinend existiert auch in diesem Sinn ein wesentlicherproblemgeschichtlicher Zusammenhang zwischen Kant und Marx, wenngleichoffenkundig ist, daß Marx Kants Lösung nicht akzeptiert und eine durch die theo-retische Arbeit der von Kant ausgehenden deutschen kkssischen Philosophievorbereitete, abweichende Problemstellung ausarbeitet.

IVEine fundamentale und zentrale Rolle im philosophischen Standpunkt, zu dem

Marx in den Thesen über Feuerbach und in der Deutschen Ideologie gelangt, hat alsoweder die Frage der Beziehung von „Substanz" und „Subjekt", noch der Begriff„Mensch überhaupt", noch der Begriff „Materie überhaupt"28), noch sonst ein„Prinzip" im Sinne der alten Ontologie, sondern die praktische Auffassung derWirklichkeit und der Wahrheit. Den Platz der alten vorkritizistischen Ontologienimmt die niemals abgeschlossene, mit der Entwicklung der menschlichen mate-riell-geistigen Praxis immer von neuem notwendigerweise sich erneuernde Unter-suchung und Klärung der onto-praxeo-logischen Problematik ein, d. h. jenerProblematik, die fragmentär und in embryonaler Form in den Thesen über Feuer-bach skizziert ist.

In diesem Sinne kann man in Marxens praktischer Auffassung der Wirklichkeiteine neue Antwort, bzw. den Keim neuer Antworten auf jene Fragen sehen, diedie traditionelle Ontologie und auch die deutsche Transzendentalphilosophie ge-stellt hatte. Es ist dies eine Antwort, die die Destruktion der vorkantischen „dog-matischen" Ontologie in wesentlichen Punkten voraussetzt und akzeptiert undauf einem durch die neuzeitliche Transzendentalphilosophie vorbereiteten Bodenemporwächst.

Der ontopraxeologisch-philosophische Standpunkt Marxens knüpft an dasGedankenmotiv des Transzendentalismus in der Auffassung Kants dadurch an,daß Marx, ebenso wie vor ihm Kant, die Gegenständlichkeit, die Wirklichkeit

28) MEGA L, Bd. 5, S. 83.

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nicht als etwas einfach Gegebenes auffaßt, was vom Menschen bloß rezeptivgedanklich sich angeeignet und wahrhaftig erkannt werden kann. Beide Denkerfragen nach der menschlichen Vermittlung der Wirklichkeit und Wahrheit. Esbesteht selbstverständlich ein großer Unterschied darin, wie Kant und Marx dieseFrage beantworten. Der praktische und geschichtliche „Kritizismus" Marxenshat neue Dimensionen: der problemgeschichtliche Zusammenhang mit der Kant-schen Vernunftkritik scheint aber wesentlich zu sein.

Den das Ding an sich ausschließenden, fichteanisch radikalisierten Transzen-dentalismus kritisiert Marx keineswegs vom Standpunkt der vorkantischen dog-matischen Ontologie, sondern knüpft an seine zentrale philosophische Idee derTätigkeit und der menschlichen Selbstbestimmung an und arbeitet materialistischseinen Begriff der Praxis um. Der radikalisierte Transzendentalismus nach Fichtewar für Marx als theoretische Grundlage der Selbstbetätigung der Menschendeshalb nicht genug radikal, weil er die Rolle der menschlichen Selbstverwirk-lichung vorwiegend nur als Aufgabe der menschlichen Gedankentätigkeit ansahund die existierende „sinnlich praktische" Wirklichkeit unberührt ließ.

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