30
Kant-W Bd. 5 267 Was heißt: sich im Denken orientieren? Immanuel Kant Was heißt: sich im Denken orientieren? Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

  • Upload
    ecrcau

  • View
    36

  • Download
    1

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Citation preview

Page 1: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 267Was heißt: sich im Denken orientieren?

ImmanuelKant

Washeißt:sichim Denkenorientieren?

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 2: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 267Was heißt: sich im Denken orientieren?

Wir mögenunsreBegriffe noch so hoch anlegen,unddabeinochsosehrvonderSinnlichkeitabstrahie-ren,sohängenihnendochnochimmerbildliche Vor-stellungenan, dereneigentlicheBestimmunges ist,sie,die sonstnicht von derErfahrungabgeleitetsind,zumErfahrungsgebrauchetauglichzu machen.Dennwie wollten wir auchunserenBegriffenSinnundBe-deutungverschaffen,wenn ihnen nicht irgend eineAnschauung(welchezuletzt immer ein Beispiel ausirgendeinermöglichenErfahrungseinmuß)unterge-legt würde?Wennwir hernachvon dieserkonkretenVerstandeshandlungdie BeimischungdesBildes,zu-erstder zufälligen Wahrnehmungdurch Sinne,dannso gar die reine sinnliche Anschauungüberhaupt,weglassen:so bleibt jener reine Verstandesbegriffübrig, dessenUmfang nun erweitert ist, und eineRegel des Denkensüberhauptenthält. Auf solcheWeiseist selbstdie allgemeineLogik zu Standege-kommen;und mancheheuristischeMethodezu den-ken liegt in dem ErfahrungsgebraucheunseresVer-standesund der Vernunft vielleicht noch verborgen,welche,wenn wir sie behutsamausjener Erfahrungherauszuziehenverständen,die Philosophiewohl mitmancher nützlichen Maxime, selbst im abstraktenDenken,bereichernkönnte.

Von dieserArt ist der Grundsatz,zu demder sel.

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 3: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 267Was heißt: sich im Denken orientieren?

Mendelssohn, so viel ich weiß, nur in seinenletztenSchriften (den MorgenstundenS. 165-66, und demBriefe an LessingsFreundeS. 33 und 67) sich aus-drücklichbekannte;nämlichdieMaximederNotwen-digkeit, im spekulativen Gebraucheder Vernunft(welchemer sonstin Ansehungder Erkenntnisüber-sinnlicherGegenständesehrviel, so gar bis zur Evi-denzderDemonstration,zutraute)durchein gewissesLeitungsmittel, welches er bald den Gemeinsinn(Morgenstunden),bald die gesundeVernunft, baldden schlichten Menschenverstand(an LessingsFreunde)nannte,sich zu orientieren. Wer hätteden-ken sollen,daßdiesesGeständnisnicht allein seinervorteilhaftenMeinung von der Macht desspekulati-ven Vernunftgebrauchsin Sachender Theologiesoverderblichwerdensollte (welchesin der Tat unver-meidlichwar); sonderndaßselbstdie gemeinegesun-deVernunftbeiderZweideutigkeit,worin erdieAus-übungdiesesVermögensim Gegensatzemit derSpe-kulation ließ, in Gefahrgeratenwürde, zum Grund-satzeder Schwärmereiund der gänzlichenEntthro-nungderVernunftzu dienen?Und dochgeschahdie-ses in der Mendelssohn– und JacobischenStreitig-keit, vornehmlich durch die nicht unbedeutendenSchlüssedesscharfsinnigenVerfassersder Resulta-te;1 wiewohl ich keinemvon beidendie Absicht,einesoverderblicheDenkungsartin Gangzu bringen,bei-

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 4: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 268Was heißt: sich im Denken orientieren?

legenwill, sonderndesletzterenUnternehmunglieberalsargumentumadhominemansehe,dessenmansichzur bloßenGegenwehrzu bedienenwohl berechtigtist, um die Blöße, die der Gegnergibt, zu dessenNachteilzu benutzen.Andererseitswerdeich zeigen:daßesin derTat bloßdie Vernunft,nicht ein vorgeb-licher geheimerWahrheitssinn,keineüberschwengli-che Anschauungunter dem Namen des Glaubens,worauf Tradition oder Offenbarung,ohne Einstim-mungder Vernunft,gepfropftwerdenkann,sondern,wie Mendelssohnstandhaftund mit gerechtemEiferbehauptete,bloß die eigentlichereine Menschenver-nunft sei, wodurcher esnötig fand und anpriessichzu orientieren;ob zwar freilich hiebei der hoheAn-spruchdes spekulativenVermögensderselben,vor-nehmlichihr allein gebietendesAnsehen(durch De-monstration),wegfallen,und ihr, so fern sie spekula-tiv ist, nichtsweiter, als dasGeschäftder Reinigungdes gemeinenVernunftbegriffsvon Widersprüchen,und die Verteidigung gegen ihre eigenensophisti-schenAngriffe auf die MaximeneinergesundenVer-nunft, übrig gelassenwerdenmuß.– Der erweiterteundgenauerbestimmteBegriff desSich-Orientierenskann uns behülflich sein, die Maxime der gesundenVernunft,in ihrenBearbeitungenzurErkenntnisüber-sinnlicherGegenstände,deutlichdarzustellen.

Sich orientierenheißt, in der eigentlichenBedeu-

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 5: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 269Was heißt: sich im Denken orientieren?

tung desWorts: auseinergegebenenWeltgegend(inderenvier wir denHorizonteinteilen)dieübrigen,na-mentlich den Aufgangzu finden. Seheich nun dieSonneamHimmel,undweiß,daßesnundie Mittags-zeit ist, so weiß ich Süden, Westen,Norden undOstenzu finden. Zu diesemBehuf bedarf ich aberdurchausdasGefühl einesUnterschiedesan meinemeigenen Subjekt, nämlich der rechten und linkenHand.Ich nenneeseinGefühl; weil diesezweiSeitenäußerlichin der AnschauungkeinenmerklichenUn-terschiedzeigen.OhnediesesVermögen:in der Be-schreibungeines Zirkels, ohne an ihm irgend eineVerschiedenheitder Gegenständezu bedürfen,dochdie Bewegungvon derLinken zur Rechtenvon derinentgegengesetzterRichtungzuunterscheiden,undda-durch eine Verschiedenheitin der Lage der Gegen-ständea priori zu bestimmen,würdeich nicht wissen,ob ich Westen dem Südpunktedes Horizonts zurRechtenoder zur Linken setzen,und so den KreisdurchNordenundOstenbis wiederzu Südenvollen-densollte.Also orientiereich mich geographischbeiallen objektiven Datis am Himmel doch nur durcheinensubjektivenUnterscheidungsgrund;und, wennin einemTagedurcheinWunderalleSternbilderzwarübrigensdieselbeGestaltund ebendieselbeStellunggegen einander behielten, nur daß die Richtungderselben,die sonstöstlichwar, jetzt westlichgewor-

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 6: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 269Was heißt: sich im Denken orientieren?

denwäre,sowürdein dernächstensternhellenNachtzwarkein menschlichesAugedie geringsteVerände-rung bemerken,und selbstder Astronom, wenn erbloß auf daswas er sieht und nicht zugleichwas erfühlt Acht gäbe,würdesich unvermeidlichdesorien-tieren. So aberkömmt ihm ganznatürlich daszwardurch die Natur angelegte,aber durch öftere Aus-übung gewohnte UnterscheidungsvermögendurchsGefühlder rechtenund linken Handzu Hülfe; underwird, wenn er nur den Polarsternins Auge nimmt,nichtalleindievorgegangeneVeränderungbemerken,sondernsich auch ungeachtetderselbenorientierenkönnen.

DiesengeographischenBegriff desVerfahrenssichzu orientierenkann ich nun erweitern,und darunterverstehen:sich in einemgegebenenRaumüberhaupt,mithin bloß mathematisch, orientieren.Im Finsternorientiereich mich in einemmir bekanntenZimmer,wennich nur eineneinzigenGegenstand,dessenStel-le ich im Gedächtnishabe,anfassenkann.Aber hierhilft mir offenbarnichtsals dasBestimmungsvermö-gen der Lagen nach einem subjektivenUnterschei-dungsgrunde:denndie Objekte,derenStelle ich fin-den soll, seheich gar nicht; und, hätte jemandmirzum Spaßealle Gegenständezwar in derselbenOrd-nung unter einander,aber links gesetzt,was vorherrechtswar, so würde ich mich in einemZimmer,wo

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 7: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 270Was heißt: sich im Denken orientieren?

sonstalle Wändeganzgleichwären,garnicht findenkönnen.So aberorientiereich mich bald durch dasbloßeGefühleinesUnterschiedesmeinerzweiSeiten,der rechtenundder linken. Ebendasgeschieht,wennich zur Nachtzeitauf mir sonstbekanntenStraßen,indenenich jetzt kein Haus unterscheide,gehenundmichgehörigwendensoll.

Endlich kann ich diesenBegriff nochmehrerwei-tern,daerdennin demVermögenbestände,sichnichtbloß im Räume,d. i. mathematisch,sondernüber-haupt im Denken, d. i. logisch zu orientieren.Mankannnachder Analogieleicht erraten,daßdieseseinGeschäftder reinenVernunft sein werde,ihren Ge-brauchzulenken,wennsievonbekanntenGegenstän-den(derErfahrung)ausgehendsichüberalleGrenzender Erfahrungerweiternwill, und ganzund gar keinObjekt der Anschauung,sondernbloß Raumfür die-selbefindet; dasiealsdanngarnicht mehrim Standeist, nachobjektivenGründenderErkenntnis,sondernlediglich nach einem subjektiven Unterscheidungs-grunde,in der Bestimmungihres eigenenUrteilver-mögens,ihre Urteile untereinebestimmteMaximezubringen.2 Dies subjektive Mittel, das alsdannnochübrig bleibt, ist kein anderes,als dasGefühl desderVernunft eigenenBedürfnisses. Man kannvor allemIrrtum gesichertbleiben,wennmansichdanicht un-terfängtzu urteilen,wo mannicht soviel weiß,alszu

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 8: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 271Was heißt: sich im Denken orientieren?

einembestimmendenUrteile erforderlichist. Also istUnwissenheitan sich die Ursachezwar der Schran-ken, aber nicht der Irrtümer in unsererErkenntnis.Aber, wo es nicht so willkürlich ist, ob man überetwas bestimmt urteilen wolle oder nicht, wo einwirkliches Bedürfnisund wohl gar ein solches,wel-chesderVernunftansichselbstanhängt,dasUrteilennotwendigmacht;und gleichwohl Mangel desWis-sensin AnsehungderzumUrteil erforderlichenStük-ke uns einschränkt:da ist eine Maxime nötig, wor-nachwir unserUrteil fällen; denndie Vernunft willeinmalbefriedigtsein.Wenndennvorherschonaus-gemachtist, daßeshier keineAnschauungvom Ob-jekte, nicht einmal etwas mit diesemGleichartigesgebenkönne,wodurchwir unserenerweitertenBegrif-fen den ihnen angemessenenGegenstanddarstellen,unddiesealsoihrer realenMöglichkeit wegensichernkönnten:so wird für uns nichts weiter zu tun übrigsein, als: zuerstden Begriff, mit welchemwir unsüber alle möglicheErfahrunghinauswagenwollen,wohl zu prüfen, ob er auchvon Widersprüchenfreisei; und dannwenigstensdasVerhältnisdesGegen-standeszu den Gegenständender Erfahrung unterreineVerstandesbegriffezu bringen,wodurchwir ihnnochgar nicht versinnlichen,aberdochetwasÜber-sinnliches, wenigstenstauglich zum Erfahrungsge-braucheunsererVernunft, denken;denn ohne diese

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 9: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 271Was heißt: sich im Denken orientieren?

Vorsicht würdenwir von einemsolchenBegriffe garkeinenGebrauchmachenkönnen,sondernschwärmenanstattzudenken.

Allein hiedurch,nämlichdurchdenbloßenBegriff,ist dochnochnichtsin AnsehungderExistenzdiesesGegenstandesund der wirklichen Verknüpfungdes-selbenmit derWelt (demInbegriffeallerGegenständemöglicherErfahrung)ausgerichtet.Nun abertritt dasRechtdes Bedürfnissesder Vernunft ein, als einessubjektivenGrundes,etwasvorauszusetzenundanzu-nehmen,was sie durch objektive Gründezu wissensichnichtanmaßendarf;undfolglich sichim Denken,im unermeßlichenundfür unsmit dickerNachterfül-leten RaumedesÜbersinnlichen,lediglich durch ihreigenesBedürfniszuorientieren.

Es läßt sich manchesÜbersinnlichedenken(dennGegenständeder Sinne füllen doch nicht dasganzeFeld aller Möglichkeit aus),wo die Vernunft gleich-wohl kein Bedürfnisfühlt, sich bis zu demselbenzuerweitern,viel weniger,dessenDaseinanzunehmen.Die Vernunft findet an denenUrsachenin der Welt,welchesich denSinnenoffenbaren(oderwenigstensvon derselbenArt sind,alsdie,sosichihnenoffenba-ren),Beschäftigunggenug,um nochdenEinfluß rei-ner geistiger Naturwesenzu deren Behuf nötig zuhaben;derenAnnehmungvielmehrihremGebrauchenachteiligsein würde.Denn,da wir von den Geset-

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 10: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 272Was heißt: sich im Denken orientieren?

zen, nach welchen solche Wesen würken mögen,nichts,von jenenaber,nämlichdenGegenständenderSinne, vieles wissen, wenigstensnoch zu erfahrenhoffenkönnen:sowürdedurchsolcheVoraussetzungdem Gebraucheder Vernunft vielmehr Abbruch ge-schehen.Es ist also gar kein Bedürfnis,es ist viel-mehr bloßer Vorwitz, der auf nichts als Träumereiausläuft,darnachzu forschen,oder mit Hirngespin-stender Art zu spielen.Ganzandersist es mit demBegriffevoneinemerstenUrwesen, alsobersterIntel-ligenzundzugleichalsdemhöchstenGute,bewandt.Dennnicht allein, daßunsereVernunftschonein Be-dürfnis fühlt, denBegriff desUneingeschränktendemBegriffe alles Eingeschränkten,mithin aller anderenDinge3, zumGrundezu legen:sogehtdiesesBedürf-nis auchauf die VoraussetzungdesDaseinsdessel-ben, ohne welche sie sich von der Zufälligkeit derExistenzder Dinge in der Welt, am wenigstenabervon derZweckmäßigkeitundOrdnung,die manin sobewunderungswürdigemGrade(im Kleinen, weil esunsnaheist, nochmehr,wie im Großen)allenthalbenantrifft, gar keinen befriedigendenGrund angebenkann.OhneeinenverständigenUrheberanzunehmen,läßtsich,ohnein lauterUngereimtheitenzu verfallen,wenigstenskein verständlicherGrund davon ange-ben;und, ob wir gleich die Unmöglichkeiteinersol-chenZweckmäßigkeitohneeineersteverständigeUr-

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 11: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 273Was heißt: sich im Denken orientieren?

sachenicht beweisenkönnen (denn alsdannhättenwir hinreichendeobjektive Gründe dieser Behaup-tung,und bedürftenesnicht, unsauf densubjektivenzu berufen):sobleibt bei diesemMangelderEinsichtdoch ein genügsamersubjektiverGrund der Anneh-mung derselbendarin, daß die Vernunft es bedarf:etwas,wasihr verständlichist, vorauszu setzen,umdiesegegebeneErscheinungdarauszu erklären,daalles, womit sie sonst nur einen Begriff verbindenkann,diesemBedürfnissenichtabhilft.

Man kann aber das Bedürfnis der Vernunft alszwiefach ansehen:erstlich in ihrem theoretischen,zweitensin ihrem praktischenGebrauch.Das ersteBedürfnis habe ich ebenangeführt;aber man siehtwohl, daßesnur bedingtsei,d. i. wir müssendie Exi-stenzGottesannehmen,wennwir überdie erstenUr-sachenallesZufälligen, vornehmlichin der Ordnungder wirklich in der Welt gelegtenZwecke,urteilenwollen. Weit wichtiger ist dasBedürfnisderVernunftin ihrem praktischenGebrauche,weil es unbedingtist, undwir dieExistenzGottesvorauszusetzennichtbloßalsdanngenötigtwerden,wennwir urteilenwol-len, sondernweil wir urteilenmüssen. DennderreinepraktischeGebrauchderVernunftbestehtin derVor-schrift der moralischenGesetze.Sie führenaberalleauf die Idee des höchstenGutes, was in der Weltmöglich ist, so fern esallein durchFreiheit möglich

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 12: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 274Was heißt: sich im Denken orientieren?

ist: die Sittlichkeit; von der anderenSeite auch aufdas,wasnicht bloßauf menschlicheFreiheit,sondernauchauf die Natur ankommt,nämlichauf die größteGlückseligkeit, sofern sie in Proportion der erstenausgeteiltist. Nun bedarf die Vernunft, ein solchesabhängigeshöchstesGut, und zum Behuf desselbeneine obersteIntelligenz als höchstesunabhängigesGut, anzunehmen:zwar nicht, um davondasverbin-dende Ansehender moralischenGesetze,oder dieTriebfederzu ihrer Beobachtung,abzuleiten(dennsiewürdenkeinenmoralischenWerthaben,wennihr Be-wegungsgrundvon etwasanderem,als von demGe-setzallein,dasfür sichapodiktischgewißist, abgelei-tet würde),sondernnur, um demBegriffe vom höch-stenGut objektiveRealitätzu geben,d. i. zu verhin-dern,daßeszusamtderganzenSittlichkeit nicht bloßfür ein bloßesIdeal gehaltenwerde,wenn dasjenigenirgend existierte,dessenIdee die Moralität unzer-trennlichbegleitet.

Es ist also nicht Erkenntnis, sonderngefühltes4Bedürfnisder Vernunft, wodurch sich Mendelssohn(ohneseinWissen)im spekulativenDenkenorientier-te. Und, dadiesesLeitungsmittelnicht ein objektivesPrinzip der Vernunft, ein Grundsatzder Einsichten,sondernein bloß subjektives(d. i. eineMaxime) desihr durch ihre Schrankenallein erlaubtenGebrauchs,ein FolgesatzdesBedürfnissesist, und für sichallein

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 13: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 275Was heißt: sich im Denken orientieren?

den ganzenBestimmungsgrundunsersUrteils überdasDaseindeshöchstenWesensausmacht,von demesnur ein zufälliger Gebrauchist, sich in denspeku-lativenVersuchenüberdenselbenGegenstandzu ori-entieren:so fehlte er hierin allerdings,daßer dieserSpekulationdennochso viel Vermögenzutraute,fürsich allein auf dem Wege der Demonstrationallesauszurichten.Die NotwendigkeitdesersterenMittelskonnte nur Statt finden, wenn die Unzulänglichkeitdesletzterenvöllig zugestandenwar: ein Geständnis,zu welchemihn seineScharfsinnigkeitdoch zuletztwürde gebrachthaben,wenn mit einer längerenLe-bensdauerihmauchdiedenJugendjahrenmehreigeneGewandtheitdesGeistes,altegewohnteDenkungsartnachVeränderungdesZustandesder Wissenschaftenleichtumzuändern,wärevergönnetgewesen.Indessenbleibt ihm dochdasVerdienst,daßer daraufbestand:denletztenProbiersteinderZulässigkeiteinesUrteilshier, wie allerwärts,nirgend, als allein in der Ver-nunft zu suchen,sie mochtenun durchEinsichtoderbloßesBedürfnisund die Maxime ihrer eigenenZu-träglichkeit in der Wahl ihrer Sätzegeleitetwerden.Er nanntedie Vernunft in ihrem letzterenGebrauchedie gemeineMenschenvernunft;denndieserist ihr ei-genesInteressejederzeitzuerstvor Augen,indesmanausdemnatürlichenGeleiseschonmußgetretensein,um jeneszu vergessen,und müßigunterBegriffen in

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 14: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 275Was heißt: sich im Denken orientieren?

objektiver Rücksichtzu spähen,um bloß sein Wis-sen,esmagnötigseinodernicht,zuerweitern.

Da aber der Ausdruck: Ausspruchder gesundenVernunft, in vorliegenderFrageimmernochzweideu-tig ist, und entweder,wie ihn selbst Mendelssohnmißverstand,für ein Urteil aus Vernunfteinsicht,oder,wie ihn der Verfasserder Resultatezu nehmenscheint,ein Urteil ausVernunfteingebunggenommenwerdenkann: so wird nötig sein, dieserQuelle derBeurteilung eine andereBenennungzu geben,undkeine ist ihr angemessener,als die einesVernunft-glaubens. Ein jeder Glaube, selbst der historische,muß zwar vernünftig sein (denn der letzte Probier-steinderWahrheitist immerdie Vernunft);allein einVernunftglaubeist der,welchersichauf keineandereDatagründet,als die, so in der reinenVernunft ent-haltensind.Aller Glaubeist nun ein subjektivzurei-chendes,objektiv abermit Bewußtseinunzureichen-desFürwahrhalten;also wird er dem Wissenentge-gengesetzt.Andrerseits,wennausobjektiven,obzwarmit Bewußtseinunzureichenden,Gründenetwasfürwahr gehalten,mithin bloß gemeinetwird: so kanndiesesMeinendochdurchallmählicheErgänzunginderselbenArt von Gründenendlich ein Wissenwer-den. Dagegenwenn die GründedesFürwahrhaltensihrer Art nachgar nicht objektiv gültig sind,so kannder Glaubedurch keinenGebrauchder Vernunft je-

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 15: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 276Was heißt: sich im Denken orientieren?

malsein Wissenwerden.Der historischeGlaubez.B.von demTodeeinesgroßenMannes,deneinigeBrie-fe berichten,kannein Wissenwerden, wenndie Ob-rigkeit desOrtsdenselben,seinBegräbnis,Testamentu.s.w. meldet.Daß daheretwashistorischbloß aufZeugnissefür wahrgehalten,d. i. geglaubtwird, z.B.daßeineStadtRomin derWelt sei;unddochderjeni-ge, der niemalsda gewesen,sagenkann: ich weiß,und nicht bloß: ich glaube, esexistiereein Rom:dasstehtganzwohl beisammen.Dagegenkannder reineVernunftglaubedurch alle natürlicheData der Ver-nunft und Erfahrungniemalsin ein Wissenverwan-delt werden,weil der GrunddesFürwahrhaltenshierbloß subjektiv, nämlich ein notwendigesBedürfnisder Vernunft ist (und, so langewir Menschensind,immerbleibenwird), dasDaseineineshöchstenWe-sensnur vorauszusetzen, nicht zudemonstrieren.Die-sesBedürfnisder Vernunft zu ihremsie befriedigen-dentheoretischenGebrauchewürdenichtsandersalsreineVernunfthypothesesein,d. i. eineMeinung,dieaus subjektivenGründenzum Fürwahrhaltenzurei-chendwäre;darum,weil mangegebeneWirkungenzuerklären niemalseinenandernals diesenGrund er-wartenkann,unddieVernunftdocheinenErklärungs-grund bedarf.Dagegender Vernunftglaube, der aufdem Bedürfnis ihres Gebrauchsin praktischerAb-sichtberuht,einPostulatderVernunftheißenkönnte:

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 16: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 277Was heißt: sich im Denken orientieren?

nicht, als ob eseineEinsichtwäre,welchealler logi-schenForderungzur GewißheitGenügetäte,sondernweil diesesFürwahrhalten(wenn in dem Menschenalles nur moralischgut bestellt ist) demGradenachkeinemWissennachsteht,5 ob esgleich der Art nachdavonvöllig unterschiedenist.

Ein reiner Vernunftglaubeist also der Wegweiseroder Kompaß,wodurchder spekulativeDenkersichauf seinenVernunftstreifereienim Feldeübersinnli-cherGegenständeorientieren,derMenschvongemei-ner doch (moralisch)gesunderVernunft aberseinenWeg,sowohl in theoretischeralspraktischerAbsicht,demganzenZweckeseinerBestimmungvöllig ange-messenvorzeichnenkann;unddieserVernunftglaubeist esauch,der jedemanderenGlauben,ja jederOf-fenbarung,zumGrundegelegtwerdenmuß.

Der Begriff von Gott, und selbstdie Überzeugungvon seinemDasein, kann nur allein in der Vernunftangetroffenwerden, von ihr allein ausgehen,undweder durch Eingebung, noch durch eine erteilteNachricht,von noch so großerAuktorität, zuerstinuns kommen.Widerfährt mir eine unmittelbareAn-schauungvon einersolchenArt, alssiemir die Natur,so weit ich sie kenne,gar nicht liefern kann:so mußdochein Begriff von Gott zur Richtschnurdienen,obdieseErscheinungauchmit allendemübereinstimme,was zu dem Charakteristischeneiner Gottheit erfor-

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 17: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 278Was heißt: sich im Denken orientieren?

derlichist. Ob ich gleichnungarnichteinsehe,wie esmöglich sei, daß irgend eine Erscheinungdasjenigeauchnur der Qualitätnachdarstelle,wassich immernur denken,niemalsaberanschauenläßt: so ist dochwenigstensso viel klar, daß:um nur zu urteilen,obdasGott sei,wasmir erscheint,wasauf meinGefühlinnerlichoderäußerlichwirkt, ich ihn anmeinenVer-nunftbegriff von Gott halten und darnach prüfenmüsse,nicht ob er diesemadäquatsei, sondernbloßober ihm nichtwiderspreche.Ebenso:wennauchbeiallem, wodurch er sich mir unmittelbar entdeckte,nichtsangetroffenwürde,wasjenemBegriffe wider-spräche:so würde dennochdieseErscheinung,An-schauung,unmittelbareOffenbarung,oder wie mansonsteinesolcheDarstellungnennenwill, dasDaseineinesWesensniemalsbeweisen,dessenBegriff (wenner nicht unsicher bestimmt, und daher der Beimi-schungallesmöglichenWahnesunterworfenwerdensoll), Unendlichkeitder Größenachzur Unterschei-dungvon allem Geschöpfefodert, welchemBegriffeabergar keine Erfahrungoder Anschauungadäquatsein, mithin auch niemalsdas DaseineinessolchenWesensunzweideutigbeweisen,kann. Vom DaseindeshöchstenWesenskannalsoniemanddurchirgendeine Anschauungzuerstüberzeugtwerden;der Ver-nunftglaubemuß vorhergehen,und alsdannkönntenallenfalls gewisseErscheinungenoder Eröffnungen

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 18: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 278Was heißt: sich im Denken orientieren?

Anlaß zur Untersuchunggeben,ob wir das,was zuunsspricht,odersich unsdarstellt,wohl befugtsindfür eineGottheitzu halten,und,nachBefinden,jenenGlaubenbestätigen.

Wenn also der Vernunft in Sachen,welcheüber-sinnlicheGegenständebetreffen,als dasDaseinGot-tesund die künftige Welt, dasihr zustehendeRecht,zuerst zu sprechen,bestritten wird: so ist allerSchwärmerei,Aberglauben,ja selbstder Atheistereieine weite Pforte geöffnet.Und doch scheintin derJacobischenundMendelssohnischenStreitigkeitallesauf diesenUmsturz,ich weißnicht recht,ob bloßderVernunfteinsichtund des Wissens(durch vermeinteStärkein derSpekulation),oderauchsogardesVer-nunftglaubens, und dagegenauf die ErrichtungeinesandernGlaubens,densichein jedernachseinemBe-liebenmachenkann,angelegt.Man solltebeinaheaufdasletztereschließen,wennmandenSpinozistischenBegriff von Gott, als deneinzigen,mit allen Grund-sätzender Vernunft stimmigen,6 und dennochver-werflichenBegriff aufgestelltsieht.Dennob essichgleich mit demVernunftglaubenganzwohl verträgt,einzuräumen:daß spekulativeVernunft selbstnichteinmal die Möglichkeit einesWesens,wie wir unsGott denkenmüssen,einzusehenim Standesei: sokannesdochmit garkeinemGlaubenundüberallmitkeinemFürwahrhalteneinesDaseinszusammenbe-

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 19: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 280Was heißt: sich im Denken orientieren?

stehen,daßVernunftgardieUnmöglichkeiteinesGe-genstandeseinsehen,unddennoch,ausanderenQuel-len,dieWirklichkeit desselbenerkennenkönnte.

MännervonGeistesfähigkeitenundvonerweitertenGesinnungen!Ich verehreeureTalenteundliebeeuerMenschengefühl.Aber habt ihr auchwohl überlegt,was ihr tut, und wo es mit eurenAngriffen auf dieVernunft hinauswill? Ohne Zweifel wollt ihr, daßFreiheit zu denkenungekränkterhaltenwerde;dennohnediesewürdeesselbstmit eurenfreien Schwün-gen des Geniesbald ein Ende haben.Wir wollensehen,wasausdieserDenkfreiheitnatürlicherWeisewerdenmüsse,wenn ein solchesVerfahren,als ihrbeginnt,überhandnimmt.

Der Freiheitzu denkenist erstlich der bürgerlicheZwangentgegengesetzt.Zwar sagtman:die Freiheitzu sprechen, oder zu schreiben, könne uns zwardurch obere Gewalt, aber die Freiheit zu denkendurch sie gar nicht genommenwerden.Allein, wieviel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohldenken, wenn wir nicht gleichsamin Gemeinschaftmit andern,denenwir unsereunddie unsihre Gedan-ken mitteilen, dächten!Also kann man wohl sagen,daß diejenige äußereGewalt, welche die Freiheit,seineGedankenöffentlich mitzuteilen, denMenschenentreißt, ihnen auch die Freiheit zu denkennehme:das einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 20: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 280Was heißt: sich im Denken orientieren?

Lastennoch übrig bleibt, und wodurchallein wideralle Übel diesesZustandesnochRatgeschafftwerdenkann.

Zweitenswird die Freiheit zu denkenauchin derBedeutunggenommen,daßihr der Gewissenszwangentgegengesetztist; wo ohne alle äußereGewalt inSachenderReligionsichBürgerüberanderezu Vor-mündernaufwerfen,und, stattArgument,durchvor-geschriebenemit ängstlicherFurcht vor der Gefahreiner eigenenUntersuchungbegleiteteGlaubensfor-meln, alle Prüfung der Vernunft durch frühen Ein-druckaufdieGemüterzuverbannenwissen.

DrittensbedeutetauchFreiheitim Denkendie Un-terwerfungder Vernunft unterkeineandereGesetze,als: die sie sich selbstgibt; und ihr Gegenteilist dieMaxime einesgesetzlosenGebrauchsder Vernunft(um dadurch,wie dasGeniewähnt,weiter zu sehen,als unter der Einschränkungdurch Gesetze).DieFolge davon ist natürlicherWeisediese:daß,wenndieVernunftdemGesetzenichtunterworfenseinwill,dassiesichselbstgibt, siesichunterdasJochderGe-setzebeugenmuß,die ihr ein anderergibt; dennohneirgend ein Gesetzkann gar nichts, selbstnicht dergrößteUnsinn, sein Spiel langetreiben.Also ist dieunvermeidlicheFolge der erklärten Gesetzlosigkeitim Denken(einerBefreiungvondenEinschränkungendurchdie Vernunft)diese:daßFreiheitzu denkenzu-

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 21: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 281Was heißt: sich im Denken orientieren?

letzt dadurcheingebüßt,und, weil nicht etwa Un-glück, sondernwahrerÜbermutdaranschuldist, imeigentlichenSinnedesWortsverscherztwird.

Der GangderDinge ist ungefährdieser.Zuerstge-fällt sichdasGeniesehrin seinemkühnenSchwünge,daesdenFaden,woranessonstdie Vernunft lenkte,abgestreifthat. Es bezaubertbald auchanderedurchMachtsprücheund große Erwartungen,und scheintsichselbstnunmehraufeinenThrongesetztzuhaben,denlangsameschwerfälligeVernunft soschlechtzie-rete;wobei esgleichwohl immerdie Sprachedersel-ben führet. Die alsdannangenommeneMaxime derUngültigkeiteinerzuoberstgesetzgebendenVernunftnennenwir gemeineMenschenSchwärmerei; jeneGünstlingedergütigenNaturaberErleuchtung. Weilindessenbald eine Sprachverwirrungunter diesenselbstentspringenmuß,indem,daVernunftallein fürjedermanngültig gebietenkann,jetzt jederseinerEin-gebungfolgt: so müssenzuletzt aus innerenEinge-bungendurch ZeugnisseäußerebewährteFacta,ausTraditionen,die anfänglichselbstgewähltwaren,mitder Zeit aufgedrungeneUrkunden,mit einemWortedie gänzlicheUnterwerfungderVernunftunterFacta,d. i. der Aberglaubeentspringen,weil dieser sichdoch wenigstensin eine gesetzlicheForm und da-durchin einenRuhestandbringenläßt.

Weil gleichwohl die menschlicheVernunft immer

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 22: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 282Was heißt: sich im Denken orientieren?

noch nachFreiheit strebt: so muß, wenn sie einmaldie Fesselnzerbricht,ihr ersterGebraucheinerlangeentwöhntenFreiheit in Mißbrauchund vermessenesZutrauenauf Unabhängigkeitihres Vermögensvonaller Einschränkungausarten,in eineÜberredungvonder Alleinherrschaftder spekulativenVernunft, dienichtsannimmt,als wassich durchobjektiveGründeund dogmatischeÜberzeugungrechtfertigenkann,alles übrige aberkühn wegleugnet.Die Maxime derUnabhängigkeitder Vernunft von ihremeigenenBe-dürfnis (Verzichttuung auf Vernunftglauben)heißtnunUnglaube: nicht ein historischer;denn,denkannmansich gar nicht als vorsätzlich,mithin auchnichtals zurechnungsfähigdenken(weil jeder einemFak-tum,welchesnur hinreichendbewährtist, ebensogutals einer mathematischenDemonstration glaubenmuß, er mag wollen oder nicht); sondernein Ver-nunftunglaube, ein mißlicher Zustanddesmenschli-chen Gemüts,der den moralischenGesetzenzuerstalle Kraft der Triebfedernauf dasHerz, mit der Zeitso gar ihnen selbstalle Autorität benimmt,und dieDenkungsartveranlaßt,die manFreigeistereinennt,d. i. denGrundsatz,gar keinePflicht mehrzu erken-nen. Hier mengt sich nun die Obrigkeit ins Spiel,damitnicht selbstbürgerlicheAngelegenheitenin diegrößteUnordnungkommen;und, da dasbehendesteunddochnachdrücklichsteMittel ihr geradedasbeste

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 23: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Kant-W Bd. 5 282Was heißt: sich im Denken orientieren?

ist, sohebtsiedie Freiheitzu denkengarauf,undun-terwirft dieses,gleichanderenGewerben,denLandes-verordnungen.Und so zerstörtFreiheit im Denken,wenn sie so gar unabhängigvon Gesetzender Ver-nunft verfahrenwill, endlichsichselbst.

FreundedesMenschengeschlechtsunddessen,wasihm amheiligstenist! Nehmtan,waseuchnachsorg-fältiger undaufrichtigerPrüfungamglaubwürdigstenscheint, es mögen nun Facta,es mögen Vernunft-gründesein;nur streitetder Vernunft nicht das,wassie zum höchstenGut auf Erdenmacht,nämlichdasVorrechtab,der letzteProbiersteinder Wahrheit7 zusein.Widrigenfallswerdetihr, dieserFreiheitunwür-dig, sieauchsicherlicheinbüßen,unddiesesUnglücknoch dazu dem übrigen schuldlosenTeile über denHals ziehen,der sonstwohl gesinntgewesenwäre,sich seiner Freiheit gesetzmäßigund dadurchauchzweckmäßigzumWeltbestenzubedienen!

Königsberg. I. Kant.

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 24: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Was heißt: sich im Denken orientieren?

Fußnoten

1 Jacobi,Briefe überdie LehredesSpinoza.Breslau1785.– Jacobi,Wider MendelssohnsBeschuldigung,betreffenddie Briefe über die Lehre des Spinoza.Leipzig 1786. – Die Resultateder JacobischenundMendelssohnschenPhilosophie, kritisch untersuchtvoneinemFreiwilligen.Ebendas.

2 Sich im Denkenüberhauptorientieren heißt also:sich, bei der Unzulänglichkeitder objektivenPrinzi-pienderVernunft,im Fürwahrhaltennacheinemsub-jektivenPrinzipderselbenbestimmen.

3 Da die Vernunft zur Möglichkeit aller DingeReali-tät als gegebenvorauszusetzenbedarf,und die Ver-schiedenheitder Dinge durch ihnenanhängendeNe-gationennur als Schrankenbetrachtet:so sieht siesich genötigt,eine einzigeMöglichkeit, nämlich diedesuneingeschränktenWesensals ursprünglichzumGrundezu legen,alle anderenaberals abgeleitetzubetrachten.Da auch die durchgängigeMöglichkeiteinesjedenDingesdurchausim GanzenallerExistenzangetroffenwerdenmuß, wenigstensder Grundsatzder durchgängigenBestimmungdie UnterscheidungdesMöglichenvom Wirklichen unsererVernunftnur

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 25: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Was heißt: sich im Denken orientieren?

auf solcheArt möglich macht: so finden wir einensubjektivenGrund der Notwendigkeit,d. i. ein Be-dürfnisunsererVernunftselbst,aller Möglichkeit dasDasein eines allerrealesten(höchsten)WesenszumGrundezu legen.So entspringtnun der Cartesiani-scheBeweis vom DaseinGottes; indem subjektiveGründe,etwasfür denGebrauchderVernunft(derimGrunde immer nur ein Erfahrungsgebrauchbleibt)vorauszu setzen,für objektiv – mithin BedürfnisfürEinsicht – gehaltenwerden.So ist esmit diesem,soist esmit allen BeweisendeswürdigenMendelssohnin seinenMorgenstundenbewandt.Sie leistennichtszumBehufeinerDemonstration.Darumsindsieaberkeineswegesunnütz.Denn nicht zu erwähnen,wel-chen schönenAnlaß diese überausscharfsinnigenEntwickelungendersubjektivenBedingungendesGe-brauchsunsererVernunft zu der vollständigenEr-kenntnisdiesesunsersVermögensgeben,alszu wel-chemBehuf sie bleibendeBeispielesind: so ist dasFürwahrhalten aus subjektiven Gründen des Ge-brauchsder Vernunft, wenn uns objektive mangelnund wir dennochzu urteilen genötigt sind, immernoch von großer Wichtigkeit; nur müssenwir das,wasnur abgenötigteVoraussetzungist, nicht für freieEinsichtausgeben,um demGegner,mit demwir unsaufs Dogmatisiereneingelassenhaben,nicht ohneNot Schwächendarzubieten,derenersichzuunserem

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 26: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Was heißt: sich im Denken orientieren?

Nachteil bedienenkann. Mendelssohndachtewohlnicht daran,daß das Dogmatisierenmit der reinenVernunft im Felde des Übersinnlichender geradeWeg zur philosophischenSchwärmereisei, und daßnur Kritik ebendesselbenVernunftvermögensdiesemÜbel gründlichabhelfenkönne.Zwar kanndie Diszi-plin der scholastischenMethode (der Wolffischenz.B.,die er darumauchanriet),daalle Begriffe durchDefinitionenbestimmtundalle SchrittedurchGründ-sätze gerechtfertigt werden müssen,diesen Unfugwirklich eine Zeit lang hemmen;aber keineswegesgänzlich abhalten.Denn mit welchem Rechtewillmander Vernunft,der eseinmalin jenemFelde,sei-nemeigenenGeständnissenach,sowohl gelungenist,verwehren,in ebendemselbennochweiterzu gehen?und wo ist dann die Grenze,wo sie stehenbleibenmuß?

4 Die Vernunft fühlt nicht; siesiehtihrenMangelein,und wirkt durch denErkenntnistriebdasGefühl desBedürfnisses.Es ist hiemit, wie mit demmoralischenGefühl bewandt, welches kein moralischesGesetzverursacht;denn diesesentspringtgänzlich aus derVernunft; sonderndurch moralischeGesetze,mithindurch die Vernunft, verursachtoder gewirkt wird,indem der rege und doch freie Wille bestimmterGründebedarf.

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 27: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Was heißt: sich im Denken orientieren?

5 Zur FestigkeitdesGlaubensgehörtdasBewußtseinseiner Unveränderlichkeit. Nun kann ich völliggewiß sein, daß mir niemandden Satz: Es ist einGott, werdewiderlegenkönnen;dennwo will erdieseEinsicht hernehmen?Also ist es mit dem Vernunft-glaubennicht so, wie mit demhistorischenbewandt,bei demesimmernochmöglichist, daßBeweisezumGegenteil aufgefundenwürden, und wo man sichimmer nochvorbehaltenmuß,seineMeinungzu än-dern,wennsichunsereKenntnisderSachenerweiternsollte.

6 Es ist kaumzu begreifen,wie gedachteGelehrteinder Kritik der reinenVernunftVorschubzumSpino-zism finden konnten. Die Kritik beschneidetdemDogmatismgänzlichdie Flügel in Ansehungder Er-kenntnisübersinnlicherGegenstände,und der Spino-zism ist hierin so dogmatisch,daßer sogarmit demMathematikerin AnsehungderStrengedesBeweiseswetteifert.Die Kritik beweiset:daßdie Tafel der rei-nen Verstandesbegriffealle Materialien des reinenDenkensenthaltenmüsse;der SpinozismsprichtvonGedanken,die doch selbst denken, und also voneinemAkzidens,dasdochzugleichfür sich als Sub-jekt existiert: ein Begriff, der sich im menschlichenVerstandegar nicht findet und sich auchin ihn nicht

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 28: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Was heißt: sich im Denken orientieren?

bringen läßt. Die Kritik zeigt: es reichenoch langenicht zur BehauptungderMöglichkeit einesselbstge-dachtenWesenszu,daßin seinemBegriffenichtsWi-dersprechendessei (wiewohl es alsdannnötigenfallsallerdingserlaubtbleibt, dieseMöglichkeit anzuneh-men);derSpinozismgibt abervor, dieUnmöglichkeiteinesWesenseinzusehen,dessenIdeeauslauter rei-nenVerstandesbegriffenbesteht,wovonmannur alleBedingungenderSinnlichkeitabgesonderthat,worinalso niemals ein Widerspruch angetroffenwerdenkann,und vermagdoch dieseüber alle Grenzenge-hendeAnmaßungdurch gar nichts zu unterstützen.Ebenumdieserwillen führt derSpinozismgeradezurSchwärmerei.Dagegengibt eskein einzigessicheresMittel, alle Schwärmereimit derWurzelauszurotten,alsjeneGrenzbestimmungdesreinenVernunftvermö-gens.– Ebenso findet ein andererGelehrterin derKritik d. r. VernunfteineSkepsis; obgleichdie Kritikeben darauf hinausgeht,etwas Gewissesund Be-stimmtesin AnsehungdesUmfangesunsererErkennt-nis a priori fest zu setzen.ImgleicheneineDialektikin denkritischenUntersuchungen;welchedochdaraufangelegtsind, die unvermeidlicheDialektik, womitdieallerwärtsdogmatischgeführtereineVernunftsichselbst verfängt und verwickelt, aufzulösenund aufimmer zu vertilgen.Die Neuplatoniker,die sich Ek-lektiker nannten,weil sie Ihre eigenenGrillen allent-

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 29: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Was heißt: sich im Denken orientieren?

halbenin älterenAutorenzu findenwußten,wennsiesolchevorherhineingetragenhatten,verfuhrengeradeebenso; es geschiehtalso in so fern nichts NeuesunterderSonne.

7 Selbstdenkenheißt den oberstenProbiersteinderWahrheit in sich selbst(d. i. in seinereigenenVer-nunft) suchen;und die Maxime, jederzeitselbstzudenken,ist die Aufklärung. Dazugehörtnun ebensoviel nicht, als sich diejenigeneinbilden,welchedieAufklärung in Kenntnissesetzen;da sievielmehreinnegativerGrundsatzim GebraucheseinesErkenntnis-vermögensist, undöfter der,soanKenntnissenüber-ausreich ist, im Gebrauchederselbenam wenigstenaufgeklärtist. SichseinereigenenVernunft bedienenwill nichtsweiter sagen,als bei allemdem,wasmanannehmensoll, sich selbst fragen: ob man es wohltunlich finde,denGrund,warummanetwasannimmt,oderauchdie Regel,die ausdem,wasmanannimmt,folgt, zum allgemeinenGrundsatzeseinesVernunft-gebrauchszumachen?DieseProbekannein jedermitsich selbstanstellen;und er wird AberglaubenundSchwärmereibeidieserPrüfungalsbaldverschwindensehen,wennergleichbeiweitemdieKenntnissenichthat, beide aus objektiven Gründen zu widerlegen.Denner bedientsich bloß der Maxime der Selbster-haltung der Vernunft. Aufklärung in einzelnenSub-

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

Page 30: Kant Was-heißt-sich-im-Denken-orientieren

Was heißt: sich im Denken orientieren?

jektendurchErziehungzugründen,ist alsogarleicht;manmußnur früh anfangen,die jungenKöpfezudie-serReflexionzu gewöhnen.Ein Zeitalteraberaufzu-klären, ist sehr langwierig; dennes finden sich vieläußereHindernisse,welche jene Erziehungsartteilsverbieten,teilserschweren.

Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke