30
1 Kapitel 1 - Mobbing Müde öffnete Sarah die Augen und sah sich verschlafen um. Die Kette an ihrem Fußgelenk schepperte, als sie sich bewegte, was sie daran erinnerte, dass sie noch bei ihrem Herrn war. Ein Blick auf die Uhr weckte sie völlig und sie stöhnte entsetzt auf, es war bereits kurz nach acht. So schnell sie konnte, streifte sie die Decke ab und sprang auf. Ihr Herr bestand darauf, dass sie auf dem Boden vor dem Bett schlief, wenn sie bei ihm war. Außerdem kettete er sie immer mit einer langen Kette an. „Peter, bitte wach auf, ich bin schon wieder zu spät“, rief sie und rüttelte an dem schlafenden Mann. „Spinnst du? Es ist gerade mal acht“, zischte er sie an und schlug mit der Hand nach ihr. „Schließ die Kette auf, ich müsste bereits seit zwanzig Minuten in der Schule sein“, befahl sie ihm ärgerlich und wich ihm aus, als er erneut nach ihr schlug. Endlich setzte er sich auf und sah sie giftig an. „Über deinen Ton mir gegenüber müssen wir noch mal reden. Mach dich auf eine saftige Strafe am Wochenende gefasst“, knurrte er, dann rollte er sich aus dem Bett und öffnete das Schloss an ihrer Kette. Ohne ein weiteres Wort streifte Sarah die Fessel ab, schnappte sich ihre Sachen und verschwand im Bad. Sie würde so oder so zu spät kommen und beim Schwimmen durfte sie wegen der Striemen, die Peter ihr letzte Nacht verpasst hatte, auch nicht mitmachen. Während sie unter der Dusche stand, überlegte sie, was sie ihrem Lehrer auftischen sollte. Eine Magen-Darm-Grippe hatte sie letzte Woche erst gehabt

Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

1

Kapitel 1 - Mobbing

Müde öffnete Sarah die Augen und sah sich verschlafen

um. Die Kette an ihrem Fußgelenk schepperte, als sie sich bewegte, was sie daran erinnerte, dass sie noch bei ihrem Herrn war.

Ein Blick auf die Uhr weckte sie völlig und sie stöhnte entsetzt auf, es war bereits kurz nach acht.

So schnell sie konnte, streifte sie die Decke ab und sprang auf. Ihr Herr bestand darauf, dass sie auf dem Boden vor dem Bett schlief, wenn sie bei ihm war. Außerdem kettete er sie immer mit einer langen Kette an.

„Peter, bitte wach auf, ich bin schon wieder zu spät“, rief sie und rüttelte an dem schlafenden Mann.

„Spinnst du? Es ist gerade mal acht“, zischte er sie an und schlug mit der Hand nach ihr.

„Schließ die Kette auf, ich müsste bereits seit zwanzig Minuten in der Schule sein“, befahl sie ihm ärgerlich und wich ihm aus, als er erneut nach ihr schlug.

Endlich setzte er sich auf und sah sie giftig an. „Über deinen Ton mir gegenüber müssen wir noch mal

reden. Mach dich auf eine saftige Strafe am Wochenende gefasst“, knurrte er, dann rollte er sich aus dem Bett und öffnete das Schloss an ihrer Kette.

Ohne ein weiteres Wort streifte Sarah die Fessel ab, schnappte sich ihre Sachen und verschwand im Bad. Sie würde so oder so zu spät kommen und beim Schwimmen durfte sie wegen der Striemen, die Peter ihr letzte Nacht verpasst hatte, auch nicht mitmachen.

Während sie unter der Dusche stand, überlegte sie, was sie ihrem Lehrer auftischen sollte. Eine Magen-Darm-Grippe hatte sie letzte Woche erst gehabt

Page 2: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

2

und ihre Periode konnte sie nicht zwei Mal in einem Monat vorschieben. So langsam gingen ihr die Ausreden aus.

Dabei war sie es selbst schuld, sie wusste genau, dass ihr Herr sich nicht an Absprachen hielt und trotzdem ließ sie sich immer wieder überreden ihn zu treffen. Mit einem leisen Seufzer stellte sie das Wasser ab und hüllte sich in ein Badetuch.

Peter war ein brutaler Arsch, aber sie hasste die Einsamkeit mehr als die Schmerzen, die er ihr zufügte. Ab und zu gab es auch die Momente, in denen er sie in die Arme nahm, ihr Halt gab und ganz selten bekam sie das Gefühl wertvoll zu sein.

Missmutig rieb sie über ihren unförmigen Körper. Sie war nie wirklich schlank gewesen, doch seit dem tödlichen Unfall ihrer Eltern im letzten Jahr, stopfte sie Süßigkeiten in sich hinein und es gab niemanden, der sie aufgehalten hätte.

Ihre Eltern hinterließen ihr genug Geld, um ohne große Sorgen zu überleben. Ebenso besaß sie einen Führerschein und ein Auto, aber das alles war nichts gegen die Einsamkeit, die sie in sich fühlte.

Schnell föhnte sie ihre halblangen, braunen Haare, damit sie zum Gymnasium fahren konnte. Normalerweise hätte sie letztes Jahr die Schule abgeschlossen, doch wegen der tragischen Geschehnisse fiel sie durch die Prüfungen. Es lag nicht daran, dass sie dumm oder faul gewesen wäre, ihr wurde zu dem Zeitpunkt einfach alles egal.

Auf dem Schülerparkplatz bekam sie natürlich keinen Parkplatz mehr und so vergeudete sie wertvolle Zeit, um ihr Auto irgendwo abzustellen. Allerdings gab ihr das die Gelegenheit ihre arroganteste Miene aufzusetzen und ihre Schilde hochzufahren.

Ihr Sportlehrer Herr Olsen war gleichzeitig ihr Stammkursleiter und Englischlehrer. Sie konnte sich sein

Page 3: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

3

Gesicht bereits vorstellen, weil sie wieder mal zu spät kam und eine Entschuldigung vorlegte, die sie auch noch selbst geschrieben hatte.

Sie atmete tief aus und machte sich dann auf zur Schwimmhalle. Es nutzte nichts, mehr Zeit zu schinden, wenn alles gut ging, würde sie in knapp sechs Monaten hier fertig sein.

Patrick Olsen sah die Liste seiner Schüler erneut durch und runzelte die Stirn. Sarah Amberg fehlte schon zum achten Mal, was ihn sehr nachdenklich stimmte. Die junge Frau musste im letzten Jahr viel verkraften, aber falls sie so weitermachte, fiel sie ein zweites Mal durch das Abitur.

Die Tür schlug zu und er blickte auf, eine Zornesfalte im Gesicht, irgendwie hatte er damit gerechnet, dass Sarah zu spät kam, wieder mal.

„Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil ich meine Periode habe“, murmelte sie und drückte ihm einen Zettel in die Hand, den sie im Wagen schnell geschrieben hatte.

Sie hoffte, dass es ihm nicht auffiel, dass sie diese Ausrede diesen Monat schon einmal benutzt hatte.

„Na Gott sei Dank bleibt uns der Anblick von dir im Badeanzug erspart“, schrie Martin rüber, der gerade vorbei schwamm.

Sarah zuckte zusammen, dann tat sie so, als ob sie ihn nicht gehört hätte, doch in ihren Augen blitzte es verletzt auf.

„Pass auf, was du sagst, Martin“, wies Patrick ihn zurecht.

„Was denn, Herr Olsen? Keiner will sie fast unbekleidet sehen“, antwortete der Schüler mit einem abschätzigen Grinsen.

„Hier in meinem Unterricht wird niemand gemobbt! Ist das klar?“, rief der Sportlehrer ihm zu.

Page 4: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

4

„Wir sprechen uns nach der Stunde Sarah“, damit deutete er auf einen Platz, an dem sie die Doppelstunde verbringen sollte.

Ohne eine Antwort warf sie ihre Tasche in eine Ecke und ließ sich auf diese Bank fallen. Viel schlechter konnte dieser Morgen doch gar nicht anfangen.

Patrick sah Martin erneut warnend an, dann beschloss er die Klasse so zu beschäftigen, dass sie nicht mehr an diese Aussage dachte. Sie waren eben noch dumme Kinder, die nicht wussten, was sie mit solchen Hänseleien anrichteten.

Sarah streifte ihren schwarzen Mantel ab und lehnte sich zurück, müde schloss sie die Augen, während ihre Klassenkameraden ihre Bahnen zogen. Gerne hätte sie sich ihnen angeschlossen, aber mit den frischen Striemen, die sie Peter verdankte, kam es natürlich nicht in Frage.

„Wie wäre es, wenn du eine kurze Abhandlung darüber schreibst, warum man pünktlich zum Unterricht erscheinen sollte? In Englisch“, forderte Patrick sie auf.

Es war klar, dass er ihr keinen Vorschlag unterbreitete, sondern dass es sich um eine ziemlich genaue Anweisung handelte. Am liebsten hätte sie die Augen einfach geschlossen gehalten, nur traute sie sich das nicht.

„Ich habe ihnen doch erklärt, dass mein Auto nicht angesprungen ist. Außerdem gibt es niemanden, der mich morgens liebevoll weckt und zur Schule bringt“, stieß sie bitter hervor, dabei sah sie den Lehrer an.

Patrick hielt ihrem Blick stand und schüttelte ganz leicht den Kopf.

„Das weiß ich. Trotzdem ist es kein Freifahrtschein jeden Mittwoch zu spät zu kommen“, damit drehte er sich wieder zu seiner Klasse um.

Mitleid war das Letzte, was Sarah im Augenblick half und er würde ihr keinen Gefallen tun, wenn er zuließ, dass

Page 5: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

5

sie weiterhin so nachlässig war. Außerdem konnte er spüren, dass sie ihn anlog.

Seufzend holte sie einen Block und einen Stift aus der Tasche und begann mit der Abhandlung, dabei sah sie ihn einen Moment bitterböse an. Natürlich gab es für jemanden wie sie kein Mitgefühl. Dicke, ungeschminkte, junge Frauen, wie sie brauchten eben nicht auf Verständnis von Männern wie Herrn Olsen zu hoffen.

Immer noch mit ihrem Selbstmitleid beschäftigt musterte sie den Sportlehrer, der eine Jogginghose und ein T-Shirt trug. Er war schlank, mit den Muskeln an der richtigen Stelle, schwarze Haare, eine flotte Kurzhaarfrisur und eindringliche blaue Augen. Man konnte wirklich ehrlich behaupten, dass er sehr gut aussah.

Energisch verdrängte sie diese Überlegungen, es war kindisch von ihrem Lehrer zu schwärmen, außerdem brauchte sie jemanden, der es verstand sie zu führen. Peter kam ihr in den Sinn und sie seufzte leise, zu gerne hätte sie sich von ihm getrennt, aber dann wäre sie ganz alleine gewesen.

Ihr Herr war fast fünfzig, ziemlich beleibt und mit einer großen Portion Arroganz ausgestattet. Über Gefühle musste sie sich bei ihm keine Gedanken machen, sie lebten beide nur ihre Neigung aus, dabei kam er meistens mehr auf seine Kosten, als sie.

Als ein schriller Pfiff vom Becken her ertönte, riss Sarah sich zusammen und fing mit ihrer Abhandlung an. Englisch stellte für sie kein Problem dar, auch wenn sie das Thema gewaltig nervte. Es war nicht ihre Schuld, aber sie konnte ihrem Lehrer unmöglich sagen, was genau hinter ihrer Verspätung steckte.

Während sie missmutig einige Gründe aufschrieb, warum man besser pünktlich zum Unterricht kam, nahm sie sich wieder einmal vor, sich nicht mehr mit Peter zu

Page 6: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

6

treffen. Obwohl sie nicht wusste, wie lange er dieses Mal brauchte, bis er sie zu einer weiteren Session überredete.

Endlich kletterten ihre Klassenkameraden aus dem Becken, Sarah riss den Zettel aus dem Block und klemmte ihren Stift zwischen die Seiten. Schnell schob sie den Schreibblock in ihre Tasche, zerrte den Reißverschluss zu und wollte Herrn Olsen wortlos stehen lassen, doch der schüttelte nur leicht mit dem Kopf.

„Du weißt genau, dass ich mit dir sprechen muss“, bemerkte er ruhig.

Genervt verdrehte sie die Augen, dann sah sie ihn trotzig an.

„Ich habe die Abhandlung geschrieben, und da Sie nur mit mir reden, weil Sie dazu gezwungen sind, sollten wir es uns gleich sparen“, damit hielt sie ihm den Zettel hin.

„Setz dich“, befahl der Lehrer leise und deutete auf einen Platz hinter dem Lehrerpult, an dem er die Eintragungen ins Kursbuch vornahm.

Mit einem hörbaren Seufzer ließ sie sich auf die Bank fallen, das Blatt immer noch in der Hand und sah ihn auffordernd an.

Endlich nahm er ihre Abhandlung und zerknüllte sie in der Faust.

„Ich weiß, dass du gut in Englisch bist, aber kannst du mir mal sagen, wie ich dich in Sport benoten soll? Von zehn Stunden warst du acht Mal krank oder unpässlich. Außerdem gibt es Tampons, schon mal gehört?“, wies er sie ärgerlich zurecht.

Beschämt zuckte sie zusammen, sie wollte jetzt bestimmt nicht mit ihrem Lehrer über Tampons reden oder über die Gründe, warum sie selten am Sportunterricht teilnahm.

Patrick stand direkt vor ihr und sah sie eindringlich an. Auf keinen Fall würde er sie mit dieser billigen Ausrede

Page 7: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

7

davon kommen lassen, denn hier stimmte irgendetwas nicht.

„Die Dinger vertrage ich aber nicht“, brachte sie leise hervor, was sollte sie auch sonst sagen.

Müde fuhr er sich durch die strubbeligen, schwarzen Haare, dann setzte er sich neben sie.

„Willst du das Abitur nicht bestehen?“, erkundigte er sich besorgt.

Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern, im Moment war es ihr wirklich egal, ob sie bestand oder nicht. Was machte es denn für einen Unterschied? Irgendeinen Job würde sie schon bekommen, selbst wenn sie es jetzt versiebte.

Ungeduldig packte er sie an den Oberarmen und drehte sie so, dass sie ihn ansehen musste. Er konnte nicht zulassen, dass sie ihren Abschluss so wegwarf.

„Verdammt Sarah, du bist doch nicht dumm. Willst du wirklich alles wegwerfen, weil du dich nicht bemühst, aus diesem Loch herauszukommen?“, wollte er eindringlich wissen.

„Da für Sie bereits feststeht, dass ich mich nicht anstrenge, brauchen wir nicht weiter zu reden“, zischte sie ihm zu.

Es war nicht fair, dass er sie so einschätzte, denn sie kämpfte jeden Tag gegen diese Einsamkeit an. Jeden Morgen zwang sie sich, aufzustehen und sich ihren Mitschülern zu stellen. Sie ließ die gehässigen Bemerkungen über ihre Figur, das hämische Flüstern hinter ihrem Rücken und auch die kleinen Attacken über sich ergehen. Oft genug flog ihre Tasche durch den Gang oder jemand versteckte ihren Autoschlüssel.

In ihren Augen sah er die Enttäuschung über seine Fehleinschätzung, aber er wollte sie aus der Reserve locken.

Page 8: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

8

„Wehr dich, wenn ich dich unfair behandele“, verlangte er leise.

Sarah drehte nur den Kopf weg. Wieso sollte sie gegen ihn gehen? Er war doch eh stärker, außerdem war es nicht von Belang, wie er sie einschätzte.

Langsam ließ er ihre Arme los und packte sanft ihr Kinn, um sie zu zwingen ihn anzusehen.

„Ich werde keine weiteren Entschuldigungen von dir akzeptieren, klar? Und falls du jemanden zum Reden brauchst, weißt du, wo du mich findest“, teilte er ihr ruhig mit.

Spöttisch sah sie ihn an, unterdrückte allerdings einen Kommentar, es brachte nichts, zu diskutieren. Natürlich war er als Lehrer verpflichtet seine Hilfe anzubieten, aber sie verzichtete lieber auf etwas, was man ihr nur unter Zwang gab.

„Ich meine es ernst, wenn du ein Problem hast, helfe ich dir gerne“, betonte Patrick noch einmal, damit ließ er sie los.

Ohne ein weiteres Wort packte Sarah ihre Tasche und verließ die Schwimmhalle. Schnell drängte sie sich an ihren Klassenkameraden vorbei, ohne auf irgendeine Bemerkung einzugehen und sah erst auf, als sie auf dem Schulhof stand.

Es war verdammt kalt und die frische Luft tat ihr gut. Einen Moment lang atmete sie einfach nur tief durch, dann schüttelte sie die Hoffnung ab, dass Herr Olsen es wirklich ehrlich gemeint hatte.

Martin und seine Kumpel rempelten sie an, während sie sich den Weg ins Hauptgebäude bahnten.

„Wenn so dicke Figuren hier rumstehen, muss man regelrecht Slalom laufen“, rief er hämisch.

Sie gönnte ihm nicht mal einen Blick, er war ein Idiot und würde es bleiben. Das Gelächter seiner Freunde ließ

Page 9: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

9

sie ebenso ohne einen Kommentar über sich ergehen, dabei dachte sie erleichtert daran, dass sie diese Mistkerle in der nächsten Stunde nicht ertragen musste.

Die Klingel ermahnte sie, sich zu beeilen, damit sie zur Deutschstunde nicht auch noch zu spät kam. Im Deutschleistungskurs waren sie nur mit fünfzehn Leuten, die Sarah meistens kaum beachteten.

Diesen Kurs liebte sie, zumal alle Schüler sich wirklich für Literatur interessierten. In dem Raum saß sie am Rand, genau wie überall und ließ niemanden an sich heran, aber sie fühlte sich hier nicht ständig bedroht.

Im Moment nahmen sie Goethes Faust durch und sie hoffte, dass die Interpretation dieses Buches eine der Abituraufgaben werden würde.

Die Stunde verging sehr schnell und zu ihrem Leidwesen mussten sie zur Pause raus, wo Martin mit seinen Freunden bereits auf sie wartete.

Kaum hatte sie das Gebäude verlassen, standen die vier Jungs auch schon vor ihr.

„Ein Wunder, dass sie dir nicht die Rechnung für die kaputten Stühle geben“, bemerkte Martin gehässig.

Sarah sah ihn nur gelangweilt an, sie kannte diese Attacken zur Genüge und nahm sich fest vor, keine Miene zu verziehen.

„Bist du stumm geworden? Oder redest du nicht mehr mit uns?“, wollte jetzt Joachim wissen.

Die anderen grinsten bösartig und warteten ab, ob ihr Anführer sie aufforderte mitzumachen.

Patrick sah die kleine Gruppe, als er über den Pausenhof auf das Hauptgebäude zulief, und runzelte die Stirn. Er konnte sich schon denken, was dort vor sich ging. Die Jungs aus dieser Clique waren selbst im Unterricht schwer unter Kontrolle zu bekommen und einige seiner Kolleginnen fürchteten sich regelrecht vor ihnen.

Page 10: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

10

Einen Augenblick überlegte er, ob er Sarah helfen sollte, doch dann betrat er das Gebäude und beobachtete die Szene aus der Aula. Solange es nicht eskalierte, brachte es nichts sie in Schutz zu nehmen, diese Früchtchen würden sich anschließend an ihr rächen.

Er sah, wie die vier Jungs auf die junge Frau einredeten, die verzweifelt versuchte, eine teilnahmslose Miene aufrecht zu halten. Er bemerkte allerdings ebenso, dass sie die Bemerkungen trafen. Ein Gefühl, dass er gerne als Mitleid eingestuft hätte, keimte in ihm auf, aber er wusste, dass es sich nicht um Mitleid handelte.

Martin stieß hart gegen Sarahs Schulter, als sie immer noch nicht antwortete.

„Du fettes Schwein glaubst wohl, dass du was Besseres bist oder?“, fauchte er zornig.

Einen ganz kurzen Augenblick schloss sie die Augen, um ihre Fassung nicht zu verlieren, denn vor diesen Mistkerlen zu heulen, kam für sie nicht in Frage.

„Wenn ich die Vermutung hätte, dass du intelligent genug bist, um zu verstehen, was ich sage, würde ich antworten“, bemerkte Sarah hochmütig.

Schnell gab sie ihm einen Stoß und drängte sich an ihm vorbei.

Martin sah ihr verdutzt hinterher, bisher ertrug sie alles, was er von sich gab. Zum ersten Mal hatte sie sich gewehrt.

„Sollen wir sie zurückholen?“, wollte Jörg wissen. In dem Moment klingelte es und Martin schüttelte leicht

den Kopf. Er bekam sie schon noch in die Finger, früher oder später.

Sarah hörte die Klingel erleichtert und ging zum Musiksaal, wo sie zusammen mit einigen anderen auf die Lehrerin wartete. Musik spielte in ihrem Leben eine große Rolle, daher war es auch nicht verwunderlich, dass sie in diesem Fach keine Probleme hatte.

Page 11: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

11

Die Stunde verging für sie viel zu schnell und die letzte Schulstunde für diesen Tag wurde eingeläutet. Mittwochs hatten sie, genau wie freitags nur sechs Stunden, was ihr genug Zeit gab für die Abschlussprüfungen zu lernen. In den vergangenen Wochen verlangte Peter allerdings immer öfter, dass sie ihm zur Verfügung stand. Ihm war es natürlich egal, wann oder ob sie für ihr Abitur lernte.

Der kommende Unterricht bedeutete für Sarah wieder Spießrutenlaufen, nicht nur, dass sie die Gegenwart von Martin und seinen Freunden ertragen musste, ebenso lag ihr Mathe überhaupt nicht. Wie gerne hätte sie dieses Fach abgewählt, nur ging das leider nicht.

Traurig dachte sie daran, dass ihr Vater ihr geholfen hatte, aber jetzt war niemand mehr da, der ihr diese unverständlichen Formeln übersetzte.

Mit undurchdringlicher Miene warf sie ihre Tasche auf die letzte Bank und ließ sich auf ihren Platz fallen.

„Hey Fetti pass auf, sonst bricht der Stuhl unter dir zusammen“, rief Martin ihr zu.

Genau in diesem Moment kam der Lehrer herein, doch dieser grinste nur und machte keine Anstalten, dem jungen Kerl Einhalt zu gebieten. Eine Tatsache, die sie ohne mit der Wimper zu zucken hinnahm. Natürlich wäre es ihr lieber gewesen, der Mann hätte Martin zurechtgewiesen, so wie es Herr Olsen ständig tat.

Der Unterricht begann und Sarah bemühte sich redlich irgendwas zu verstehen, aber sie kam einfach nicht mit, was auch daran lag, dass es den Lehrer überhaupt nicht interessiert, ob sie etwas verstand.

Nach der Stunde Mathe fühlte sie sich wie gerädert und gleichzeitig, als ob sie die dümmste Person der ganzen Welt sei.

„Na Fetti, wieder mal nichts geschnallt?“, wollte Joachim wissen, als sie den Raum verließen.

Page 12: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

12

Ohne eine Antwort drückte sie sich an ihm vorbei, doch er hielt sie schnell am Arm fest.

„Ich mag es nicht, dass man mich so stehen lässt“, zischte er ihr zu.

Sarah sah nur bezeichnend auf ihren Arm, dann blickte sie ihm kalt in die Augen, was ihn unsicher werden ließ.

„Lass mich sofort los, Idiot“, fauchte sie. Erschrocken über ihren Ton gehorchte der Junge und

Sarah sah zu, dass sie zu ihrem Auto kam. Sie unterdrückte mit viel Mühe die Tränen, auch wenn ihr klar war, dass ihre vier Widersacher ebenso wenig vom Unterricht verstanden hatten. Nur bei diesen Großmäulern gab es Eltern, die ihnen halfen.

Erst als sie in ihrem VW saß und die Tür verschloss, atmete sie auf, gleichzeitig schossen ihr die Tränen in die Augen. Wieso war das Schicksal nur so ungerecht?

Wehr dich, hatte Herr Olsen gesagt, aber der wusste nicht mal ansatzweise, was in ihrem Leben vor sich ging. Für ihn war es einfach, ihr so eine Floskel hinzuwerfen.

Schnell fuhr sie nach Hause, nicht ohne an der nächsten Imbissbude anzuhalten. Nach so einem Schultag hatte sie keine Lust mehr auf ihre Figur zu achten, es machte doch sowie so keinen Sinn.

Sie bestellte sich eine Currywurst mit Pommes und Mayo, die sie gleich vor Ort aß, dann kehrte sie langsam zu ihrem Appartement zurück.

Sarah stieß die Tür auf und eisige Stille schlug ihr entgegen, wie gerne wäre sie liebevoll begrüßt worden. Wenn sie ehrlich war, würde es ihr schon reichen, nicht alleine zu sein.

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss und der Krach hallte durch die leeren Zimmer. Die Wohnung besaß nur eine spartanische Einrichtung, weil sie nicht wusste, ob sie nach dem Abitur in dieser Stadt blieb.

Page 13: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

13

Das Haus, in dem sie mit ihren Eltern gelebt hatte, war mittlerweile verkauft, sie konnte es nicht ertragen, weiter dort zu wohnen. Obwohl sie sich verzweifelt nach ihrem gemütlichen Heim sehnte.

Ihre Tasche warf sie achtlos in den Flur, anschließend ging sie in die Küche, holte sich eine Flasche Cola und trank einen großen Schluck. Ihr war bewusst, dass sie lernen musste, aber sie fragte sich immer wieder, wofür sie das tun sollte.

Lohnte es sich überhaupt für sie, sich anzustrengen, wenn niemand sie ehrlich lieben konnte? War es da nicht besser direkt aufzugeben?

Das Telefon riss sie aus ihren trüben Gedanken und sie stieß genervt die Luft aus. Trotzdem ging sie ins Wohnzimmer, wo der Apparat lag und meldete sich.

„Du brauchst dir von Freitag Nachmittag bis Sonntag nichts vornehmen“, ertönte Peters Stimme.

Nicht mal die Höflichkeit sie zu begrüßen, besaß er. „Vergiss es Peter. Ich werde mich nicht länger mit dir

treffen“, antwortete Sarah müde. „Das ist nicht dein Ernst und das weißt du“, hielt er

dagegen. Sie führten diese Gespräche mindestens einmal die

Woche und am Ende gab sie doch wieder nach. „Ich kann es mir nicht erlauben noch mehr

Sportstunden zu verpassen, nur weil du dich nicht an Absprachen hältst. Dazu kommt, dass ich am Wochenende lernen muss“, erklärte sie, dabei setzte sie sich auf die Couch.

„Dir hat es genauso Spaß gemacht, wie mir, also beschwer dich nicht. Außerdem wusstest du, was es heißt, wenn du meine Sklavin wirst. Und ich werde dich nicht einfach so gehen lassen, immerhin gibt es einen Vertrag“, erinnerte er sie.

Page 14: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

14

Ihr hatte die letzte Session überhaupt nicht gefallen, die Schmerzen verhinderten, dass sie sich fallen ließ und von Gefühlen konnte keine Rede sein. Bei diesem Treffen ging es lediglich darum, seinen Sadismus zu befriedigen.

„Vergiss es Peter, ich habe keine Lust mehr deine schlechte Laune auszubaden. Ich bin nicht so maso, wie du es gerne willst. Such dir jemanden, der an deinen Spielen wirklich Spaß hat. Ich wünsche dir alles Gute“, damit legte sie auf.

Dieses Mal nahm sie sich fest vor, sich nicht wieder auf ihn einzulassen, wobei sie sich das schon sehr oft vorgenommen hatte.

Sie müsste ihre Nase jetzt dringend in die Bücher stecken, aber es fehlte die echte Motivation. Irgendwie entglitt ihr alles.

Ihre Gedanken schweiften zu diesem Morgen, als ihr Sportlehrer sie gezwungen hatte, ihm in die Augen zu sehen. Sein Blick war ihr durch und durch gegangen, zu gerne würde sie sein Angebot annehmen. Selbst wenn es nur darum ging, einfach mal mit einem Menschen zu sprechen, den es interessierte, wie sie sich fühlte.

Schnell schob sie diese Überlegungen zur Seite, es waren sinnlose Träumereien, gerade bei jemandem, wie Herrn Olsen.

Missmutig stand sie auf und holte ihre Tasche, es brachte nichts dem nachzujammern, was sie nicht hatte.

Zuerst sah sie sich ihre Mathehausaufgaben an, wie erwartet verstand sie kein Wort. Mathematik war für sie ein Buch mit sieben Siegeln und ihr Lehrer hatte kein Interesse daran, es ihr beizubringen.

Vielleicht sollte sie sich einen Nachhilfelehrer suchen, damit sie wenigstens auf eine Vier kam, doch wahrscheinlich war es mittlerweile längst zu spät. Also

Page 15: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

15

packte sie das Mathebuch und die Hefte wieder ein und holte stattdessen ihre Deutschunterlagen heraus.

Hier befand sie sich in ihrem Element und versank sofort in dem Text. Die Interpretationen waren für sie kein Problem, zumal sie den „Faust“ genau analysieren konnte. Dazu kam, dass es ihr auch noch richtig Spaß machte, sollte sie ihr Abitur bestehen, würde sie Germanistik studieren, damit sie später eine Stelle als Verlagslektor bekam. Dummerweise handelte es sich nur um Zukunftsmusik, die im Moment in weite Ferne rückte.

Nach fast anderthalb Stunden legte sie das Buch und ihre Aufzeichnungen zur Seite und lehnte sich zurück.

Nachdenklich blickte sie zum Fenster und stellte fest, dass ihr die Vorstellung, in einem Verlag als Lektor zu arbeiten, wirklich gefiel. Vielleicht konnte sie sich damit motivieren, zumal die Aussicht als Hilfsarbeiter irgendwo zu schuften nicht gerade toll war.

Doch sobald die Einsamkeit hochkam oder ihre idiotischen Klassenkameraden ihre hämischen Bemerkungen losließen, wurde ihr alles egal, dann wollte sie nur noch weglaufen.

Gott sei Dank siegte ihr Verstand jedes Mal und sie zwang sich erneut, die Schule zu besuchen. Auch wenn es ihr schwerfiel, was nicht zuletzt an ihren Schwierigkeiten in Mathematik lag. Chemie und Physik hatte sie bereits abgewählt, was ihr ein paar Probleme weniger einbrachte.

Ein Blick auf den Stundenplan zeigte ihr, dass sie morgen gleich zwei ihrer Hauptfächer hatte. Ihr Abitur würde sie in Englisch und Deutsch machen, Sozialkunde ihr drittes Leistungsfach hatte sie abgestuft, somit zählte es nicht so viel, wie die beiden anderen Fächer.

Die mündliche Prüfung sollte sie in Biologie ablegen, da Mathe nicht in Frage kam und ein naturwissenschaftliches Fach musste dabei sein.

Page 16: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

16

Am nächsten Tag standen zehn Stunden an und sie wollte zumindest Englisch und Sozialkunde vernünftig vorbereiten. Energisch verbot sie sich darüber nachzudenken, dass sie Herrn Olsen wiedersah.

Konzentriert ging sie die Unterlagen noch einmal durch, machte sich ein paar Notizen zu Macbeth, den sie gerade durchnahmen. Ebenso sah sie sich ihre Sozialkundemappe an, hier gab es keine Probleme.

In ihren Hauptfächern war sie gut, genau wie in Bio, aber die Nebenfächer wuchsen sich zu einem Problem aus. Mathe war sie die absolute Niete, Französisch brachte ihr auch nicht genügend Punkte, um sicher für die Abiturprüfungen zugelassen zu werden und von Geschichte, Sport oder Erdkunde redete sie besser nicht. Jede Note, die schlechter als vier war, musste ausgeglichen werden. Sie würde in den kommenden Wochen ziemlich viel lernen müssen, sonst sah sie selbst schwarz.

Den Abend verbrachte sie mit dem ersten Teil von „Herr der Ringe“, mit einer großen Tüte Chips, Cola und einer Tafel Schokolade. Natürlich wusste Sarah, dass sie sich mit den Süßigkeiten keinen Gefallen tat, ganz im Gegenteil, aber sie brauchte diese Seelentröster einfach. Im Hintergrund lief Tschaikowski, der für sie die perfekte Musik komponiert hatte, um nach so einem Tag abzuschalten.

Am nächsten Tag kam sie genau mit dem Klingelzeichen in den Unterrichtsraum und Herr Olsen sah sie nur nachdenklich an.

„Ich bin pünktlich oder nicht?“, fragte sie zickig. Sofort zogen sich seine Augenbrauen zusammen und

allein sein Blick wies sie in die Schranken. „Es tut mir leid, ich wollte mich nicht im Ton

vergreifen“, murmelte sie.

Page 17: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

17

Mit gesenktem Kopf ging sie zu ihrem Pult, dadurch entging ihr aber das breite Grinsen in seinem Gesicht.

Sarah saß allein in der letzten Reihe und dieses Mal wagte sich keiner, ihr gehässige Bemerkungen zuzuflüstern. Allerdings vermied sie es ihrem Lehrer in die Augen zu sehen, dabei fragte sie sich, wie er das schaffte, sie nur mit einem Blick so zu stoppen.

„Wie wäre es, wenn du dich ein wenig am Unterricht beteiligst, Sarah?“, forderte Patrick sie auf und holte sie damit aus ihren Gedanken.

Schuldbewusst sah sie ihn an und nickte ganz leicht, sie wollte ihn auf keinen Fall verärgern, dummerweise wusste sie nicht, was er gefragt hatte.

„Könnten Sie die Frage noch einmal wiederholen?“, bat sie kleinlaut.

Ein tadelnder Blick traf sie, als er sie erneut bat, das dritte Kapitel von Macbeth kurz zusammenzufassen.

Einen Moment überlegte sie, dann erledigte sie die Aufgabe ohne ihre Aufzeichnungen nutzen zu müssen. Ein anerkennendes Lächeln belohnte sie und hob ihre Stimmung beachtlich, allerdings verkniff sie es sich im letzten Augenblick, zurück zu grinsen.

Die Stunden vergingen viel zu schnell und sie bedauerte es, als Patrick den Raum verließ, denn sofort fielen Martin und seine Freunde wieder über sie her. So gut es ging, ignorierte sie die Mistkerle und hoffte, dass der nächste Lehrer endlich käme, auch wenn es der ungeliebte Erdkundelehrer war.

Der Tag zog sich in die Länge und Sarah hatte ziemliche Probleme, sich die Jungs vom Hals zu halten. Besonders in der Mittagspause wurde sie von den vier Quälgeistern drangsaliert.

Verzweifelt versuchte sie an der Gruppe vorbeizugehen, doch Martin packte sie unsanft am Arm.

Page 18: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

18

„Du denkst wohl, du bist was Besseres mit deinen ständig schwarzen Klamotten“, fauchte er sie an.

„Es ist egal, was ich glaube oder nicht. Lass mich einfach in Ruhe“, warnte sie ihn, dabei sah sie ihm direkt in die Augen.

Martin drehte seinen Kopf zu seinen Kumpels, er schaffte es nicht, ihrem Blick standzuhalten. Trotzdem ließ er sie nicht los. Er gab seinen Freunden ein Zeichen und schubste Sarah zu Joachim. Sofort bildeten die vier jungen Kerle einen Kreis und stießen sie von einem zum anderen.

Jörg trat gegen ihre Tasche, sodass sie ihr von der Schulter rutschte und Timo kickte sie weit in den Schulhof hinein.

„Lasst mich“, rief Sarah verzweifelt, als sie wieder einen Stoß bekam.

Martin packte sie hart am Arm und grinste breit. „Erst wenn du vor mir niederkniest und mir die Schuhe

küsst“, verlangte er bösartig. Fassungslos starrte sie ihn an, so etwas hatte nicht mal

Peter von ihr gefordert, dabei kannten ihre Klassenkameraden ihre Neigung nicht mal.

In dem Moment, als er sie im Nacken packen wollte, wurde er herumgerissen.

„Es reicht Martin“, sagte Patrick leise. Er war gerade aus der Sporthalle gekommen, und als er

die kleine Gruppe sah, wusste er sofort, wer da in Schwierigkeiten steckte.

Mit einem schnellen Griff zog der Lehrer Sarah aus dem Kreis und schob sie hinter sich.

„Dass ihr euch nicht schämt, zu viert gegen ein Mädchen zu gehen“, warf er den Jungen vor.

„Aber sie geht für vier Personen durch und wir haben doch nur Spaß gemacht“, verteidigte Martin sich lachend.

Page 19: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

19

Sarah hätte den Schulhof jetzt gerne einfach verlassen, dummerweise hielt ihr Lehrer immer noch ihr Handgelenk fest.

„Eine Entschuldigung ist fällig und holt gefälligst ihre Tasche“, befahl Patrick hart, während er jeden Einzelnen mit einem verachtenden Blick bedachte.

„Wofür? Dafür, dass Martin die Wahrheit gesagt hat? Oder, weil wir uns um die Dicke gekümmert haben? Sie soll froh sein, dass überhaupt jemand mit ihr redet“, rief Joachim großspurig.

Patrick spürte deutlich, wie Sarah verletzt zusammenzuckte und wie sie versuchte ihr Handgelenk zu befreien, doch er wollte sie so nicht gehen lassen.

„Es reicht. Bis morgen bekomme ich von jedem von euch eine fünfseitige Abhandlung darüber, wie man sich gegenüber anderen Menschen benehmen sollte. Alternativ informiere ich eure Eltern und spreche eine Suspension von vier Tagen aus“, herrschte er die Jungs an.

Martin hob beschwichtigend die Hände, einen Schulverweis so kurz vor dem Abitur konnte wirklich niemand brauchen.

„Kein Problem Herr Olsen, sie erhalten ihren Aufsatz“, versprach er, dann gab er seinen Kameraden ein Zeichen und Jörg holte Sarahs Tasche.

Er warf sie ihr vor die Füße und sein Blick sprach Bände. Patrick seufzte auf, mit seinem Eingreifen hatte er die Situation leider nicht entschärft.

Langsam drehte er sich zu Sarah um, als die Jungs im Gebäude verschwanden.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich besorgt. Blass und zitternd stand sie vor ihm, doch dann nickte

sie. „Danke Herr Olsen, ich komme schon klar“, brachte sie

leise heraus.

Page 20: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

20

So weit waren diese Mistkerle bisher nie gegangen und sie befürchtete, dass das erst der Anfang gewesen war.

„Es tut mir leid, dass ich nicht früher eingegriffen habe“, entschuldigte der Lehrer sich, dabei dachte er nicht daran, ihr Handgelenk loszulassen.

„Kein Problem, es ist ja nicht ihre Schuld. Wahrscheinlich ziehe ich solche Typen einfach an“, blockte sie seine Entschuldigung ab, dann sah sie bezeichnend auf seine Hand.

„Würden Sie mich denn jetzt loslassen? Ich möchte die Pause ungern mitten auf dem Schulhof verbringen“, bemerkte sie.

Bedauernd ließ er sie los, doch sein Blick hielt sie genau an der gleichen Stelle fest. Wie hypnotisiert sah sie ihn an, tauchte völlig in seine blauen Pupillen ein.

Während er in ihren grünen Augen Schmerz, Unsicherheit und die Sehnsucht nach etwas Geborgenheit sah, spürte sie, wie ihre Mauern immer mehr bröckelten. Zu gerne hätte sie sich an ihn gelehnt, ihn um Hilfe gebeten und Kraft in seiner Umarmung getankt.

Schnell schob sie diese Gedanken von sich, dabei war sie gar nicht mal sicher, woher diese Vorstellung kam.

„Hallo Herr Olsen, kann ich sie kurz sprechen?“, rief in diesem Augenblick die Sekretärin über den Hof und zerstörte damit den magischen Moment.

„Danke“, murmelte Sarah, schnappte ihre Tasche und rannte in die entgegengesetzte Richtung davon.

Patrick sah ihr noch einmal nachdenklich nach, das, was er in den letzten Minuten gefühlt hatte, wollte er lieber nicht analysieren, ebenso wenig warum sein Beschützerinstinkt bei ihr so anschlug.

Während der Lehrer ins Sekretariat ging, lief Sarah so schnell wie möglich zu ihrem Auto, wo sie in Ruhe den Rest der Pause verbringen konnte. Das, was da gerade eben

Page 21: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

21

mit ihrem Stammkursleiter passiert war, warf sie völlig aus der Bahn, dabei redete sie sich gekonnt ein, dass sie sein Verhalten falsch interpretierte.

In ihrem Kopf entstanden Szenen, wie Herr Olsen sie zärtlich behandelte und ihr trotzdem ihren Platz zeigte. Lächelnd schloss sie die Augen und gab sich diesen Träumereien hin. Die Hoffnung ließ sich nicht mehr unterdrücken, dass es vielleicht doch jemanden gab, der sie lieben konnte.

Ein Schlag gegen ihre Motorhaube ließ sie hochfahren und eine Sekunde später wurde die Tür aufgerissen.

Erschrocken starrte sie in Martins Gesicht. „Du glaubst wohl, dass wir dich in Ruhe lassen, nur weil

dein geliebter Olsen dich beschützt“, zischte er bösartig. „Du spinnst völlig, er ist dazwischen gegangen, weil er

es musste und jetzt weg von meinem Auto“, gab sie kühl zur Antwort und versuchte die Tür wieder zu schließen.

„Diese Aktion wirst du bitter bereuen, und dass wir diesen doofen Aufsatz schreiben müssen, wird dir genauso leidtun“, drohte Martin ihr, während seine Kumpels hämisch grinsten.

Ohne eine Vorwarnung warf er die Tür zu und Sarah klemmte sich die Finger. Ein leiser Aufschrei entkam ihr, doch die Jungs lachten nur und traten ein paar Mal wuchtig gegen ihr Auto, ehe sie zurück zur Schule gingen.

Tränen rannen ihr über die Wange, als sie versuchte ihre Finger zu bewegen. Es tat scheußlich weh, aber es schien nichts gebrochen zu sein, so kurz vor dem Abitur hätte ihr das gerade gefehlt.

Dummerweise war die Mittagspause auch fast vorbei und sie musste zum Unterricht, ob sie wollte oder nicht. Immer noch weinend zog sie die Sonnenblende auf der Beifahrerseite runter und schob die Abdeckung des Spiegels zur Seite. Mit einem Taschentuch wischte sie sich

Page 22: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

22

über das Gesicht und versuchte so die Tränenspuren zu beseitigen, was ihr nicht ganz gelang. Zu mehr reichte die Zeit nicht und so klappte sie die Blende wieder zurück, dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem Unterrichtsraum.

Mit gesenktem Blick rannte sie durch die Aula und rempelte prompt jemanden an. Seufzend blickte sie hoch und schloss beschämt die Augen.

Ausgerechnet in Patrick Olsen musste sie hineinrennen, dem einzigen Lehrer, dem sie im Moment nicht begegnen wollte.

„Es tut mir leid, ich habe Sie nicht gesehen“, murmelte sie und versuchte weiter zu gehen, doch er war schneller.

Er erwischte sie an den verletzten Fingern und sie stieß einen schmerzerfüllten Laut aus. Sofort griff er nach ihrem Handgelenk und hob ihre Hand, sodass er sich die Verletzung ansehen konnte.

„Das sieht nicht gut aus, was ist passiert?“, erkundigte er sich besorgt.

Sarah schüttelte leicht den Kopf, es tat nichts zur Sache und sollte ihn nicht kümmern, was mit ihr war.

„Es ist nichts, ich habe mir die Finger geklemmt“, brachte sie hervor.

„Ich fange gleich mit dem Unterricht an, Sarah, du beeilst dich besser“, rief ihr Geschichtslehrer ihr zu, der gerade durch die Aula ging.

„Sie kommt später, wir müssen wegen der Facharbeit in Englisch etwas besprechen. Meine Schuld, Heiner“, antwortete Patrick dem Mann, ehe sie reagieren konnte.

Herr Kessler nickte gutmütig, ihm lag nichts daran der Schülerin zu schaden, allerdings musste sie unbedingt ihre Lücken aufarbeiten, sonst sah er schwarz.

„Was soll das? Ich kann es nicht brauchen, dass ich noch mehr versäume“, herrschte Sarah Patrick an, doch der

Page 23: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

23

schüttelte nur leicht den Kopf, was sie sofort verstummen ließ.

Er legte ihr fürsorglich eine Hand in den Rücken und brachte sie so zum Krankenzimmer, in dem sich um diese Uhrzeit niemand aufhielt. Schnell schloss er den Raum auf, schaltete das Licht ein und deutete auf die Liege.

„Setz dich, ich werde erstmal deine Verletzungen verarzten und dann erwarte ich die Wahrheit zu hören“, ordnete er an.

Seufzend setzte Sarah sich und wich seinem fragenden Blick aus, dabei überlegte sie, warum er das tat, bestimmt nicht, weil er sich ehrlich für ihre Probleme interessierte. Vielleicht hatte er sich für den Posten des Vertrauenslehrers beworben oder irgendetwas in der Art.

„Kannst du die Finger bewegen?“, wollte er wissen. Schüchtern nickte sie, sah ihn aber immer noch nicht

an. Sie hatte viel zu viel Angst, dass er wieder in ihren Augen lesen konnte. Die Demütigung, wenn er erkannte, was für absurde Ideen sie in seine Richtung entwickelte, würde sie nicht ertragen.

Sanft legte er eine Hand unter ihr Kinn und zwang sie so ihn anzusehen, genauso, wie er es in der Schwimmhalle schon einmal getan hatte.

„Was ist los? Willst du mir nicht wenigstens etwas vertrauen?“, fragte er vorsichtig.

„Ich denke nicht, dass ich Ihnen vertrauen sollte. Ich kann Sie nicht einschätzen und weiß nicht, warum Sie das tun“, flüsterte sie verlegen.

So ganz genau wusste er es selbst nicht, aber diese Antwort fand er ziemlich unbefriedigend.

„Es geht doch nicht darum, aus welchem Grund ich was tue. Ich möchte dir gerne helfen“, antwortete er.

Einen Augenblick schien sie nachzudenken, dann lächelte sie traurig.

Page 24: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

24

„Ich mag es nicht, wenn sich jemand aus Pflichtgefühl oder Mitleid mit mir beschäftigt“, blockte sie ihn wieder ab.

Patrick verstand sie zu gut, aber in seiner Situation gab es keinen anderen Weg, als sie glauben zu lassen, dass es eben Pflichtgefühl war. Sie war seine Schülerin und da verbot sich jeder private Kontakt von selbst.

Mit leichtem Bedauern ließ er sie los und ging zu einem Schrank rüber, schnell hatte er Verbandszeug, eine Wundsalbe und Desinfektionsmittel gefunden.

„Es wird brennen“, warnte er sie vor, als er das Mittel in der Hand hielt.

Verstehend nickte sie, dabei musste sie ein Schmunzeln unterdrücken, die Schmerzen, die Peter ihr zufügte, waren bei weitem schlimmer.

Vorsichtig nahm Patrick ihre verletzten Finger und desinfizierte die Wunden, anschließend wartete er einen Moment, ehe er die Salbe großzügig verteilte und einen Verband drum wickelte.

„Du solltest aufpassen, dass es sich nicht entzündet. Und halt dich von Martin und seinen Freunden besser fern“, riet er ihr, während er in die Rolle des distanzierten Lehrers zurückfiel.

Sie nickte gehorsam, ließ sich von der Liege rutschen und verzichtete darauf, ihm zu erklären, dass die Jungs zu ihr gekommen waren.

„Danke“, murmelte sie und verschwand, ehe er etwas erwidern konnte.

Nachdenklich räumte Patrick die Reste des Verbandszeugs weg und hoffte, dass Sarah einen Weg fand, sich zu wehren. Ihm war bewusst, dass ihm mehr an der Schülerin lag, als seine Verantwortung als Lehrer rechtfertigte und das machte ihm ziemlich Kopfschmerzen.

Page 25: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

25

Sie lief, so schnell es ging, zu ihrem Klassenzimmer, entschuldigte sich noch einmal leise und setzte sich auf ihren Platz.

Erfreut bemerkte sie, dass Herr Kessler genau über das Thema sprach, welches sie sich gestern angesehen hatte. Es handelte von den Nationalsozialisten und dem Ende des Rechtsstaats Deutschland ab 1933.

Mit einem guten Gefühl beteiligte Sarah sich am Unterricht und ihr Lehrer lächelte ihr zufrieden zu. Es war ein erster Schritt in die richtige Richtung, was ihr einen enormen Motivationsschub gab.

Ein weiterer Vorteil an diesem Kurs war, dass sie ihn nicht mit Martin und seinen Freunden teilen musste. Gott sei Dank, begegnete sie ihm nicht in jedem Fach und so konnte sie ihr demoliertes Selbstbewusstsein ein wenig aufpolieren.

Die letzten Stunden des Tages hielten ebenso positive Überraschungen für Sarah und ihren Lehrer bereit. Obwohl sie in Biologie keine Probleme hatte, war ihre Mitarbeit leider sehr spärlich, aber an diesem Nachmittag brachte sie sich hier engagiert ein.

Lächelnd sammelte sie ihre Sachen ein, verstaute sie in ihrer Tasche und ging durch die Nachmittagssonne zu ihrem Auto. Auch wenn ihre Finger ihr verdammt wehtaten, war sie gut gelaunt und freute sich, dass der Tag doch so gut gelaufen war.

Jeden Gedanken an Patrick Olsen schob sie schnell zur Seite, auf keinen Fall wollte sie sich verrennen. Dumme Hoffnungen, die sich nie erfüllten, brauchte sie bestimmt nicht.

Sie beschloss, dass sie heute nicht an der Imbissbude essen, sondern sich wirklich mal etwas Fettarmes und Gesundes kochen würde. Immer noch lächelnd schloss sie ihr Auto auf und warf ihre Tasche auf den Rücksitz.

Page 26: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

26

Vorsichtig sah sie sich um, ob Martin und seine Freunde in der Nähe wären, doch auch jetzt hatte sie Glück.

Schnell ließ sie den Motor an, schob die CD von Ellie Goulding in den Player und fuhr nach Hause.

Leider hielt ihre positive Stimmung nicht so lange an, wie sie gehofft hatte, denn schon, als sie die Tür zu ihrem Appartement öffnete, kamen ihr die ersten Bedenken.

Ehrlich gestand sie sich ein, dass ihre Hochstimmung Patrick Olsen geschuldet war. Es tat gut, dass er sich um sie kümmerte und ihr Herz schlug schneller, sobald er in ihrer Nähe erschien, egal wie sehr sie sich gegen diese kindischen Schwärmereien wehrte.

Ernüchtert redete sie sich ein, dass dieser Mann Mitleid mit ihr hatte und lediglich seine Pflicht tat. Es brachte nichts, mehr hineinzuinterpretieren, auch wenn seine Augen etwas in ihr auslösten, dass Peter nie schaffte.

Ihr ehemaliger Herr war nicht in der Lage, sie mit einem einzigen Blick zu fixieren und ihr Halt zu geben.

Seufzend ging sie in die Küche, um zu sehen, was sie an Essbarem fand, anschließend wollte sie französische Vokabeln lernen und sich Mathe noch einmal ansehen. Wobei sie Mathematik aussparen konnte, sie verstand es ja doch nicht.

Ein Blick in ihren Kühlschrank zeigte, dass sie nichts im Haus hatte, um ein gesundes Essen zu kochen. Missmutig wühlte sie sich durch die Fertiggerichte und wählte eine Packung Lasagne, da sie keine Lust mehr hatte einkaufen zu fahren. Ihre Stimmung sank mit jedem Gedanken, an das, was sie sich von ihrem Lehrer wünschte und nicht bekam, weiter.

Während sie ihre Unterlagen durchsah, aß sie die Lasagne. Konzentriert arbeitete sie daran ihre Lücken aufzuarbeiten, dabei schob sie alles andere zur Seite.

Page 27: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

27

An diesem Abend fühlte sie sich wieder einsam und das Wochenende schien auch nichts Erfreulicheres für sie bereitzuhalten. Die Vorstellung zwei Tage völlig alleine in der Bude zu hocken, ließ ihre Laune nicht gerade besser werden. Natürlich konnte sie sich mit ihren Büchern und der Abiturvorbereitung ablenken, zumindest zum Teil.

Es dämmerte bereits, als sie müde die Hausaufgaben wegräumte und sich über das Gesicht strich. Eventuell sollte sie wenigstens wegen Martin und seinen Freunden mit jemandem reden. So wie es aussah, würden sie keine Ruhe geben und immer weiter gehen. Auf der anderen Seite waren die Probleme vorprogrammiert, wenn sie mit einem Lehrer sprach. Sie hatte ja gesehen, was passierte.

In sechs Monaten war alles überstanden, egal ob sie bestand oder durchfiel, dann gab es die Möglichkeit wegzuziehen und vielleicht sogar zu vergessen. Mit diesem Gedanken schaltete sie die Musik aus und ging ins Bett.

Der Freitag konnte nicht schlimmer anfangen und Sarah musste sich regelrecht zwingen, zur Schule zu fahren. Die ersten beiden Stunden hatte sie Mathe und es blieb ihr keine andere Wahl, als sich mit Martin und seinen Freunden auseinanderzusetzen.

Trotz ihrer Bedenken war sie pünktlich im Klassenraum, legte ihre Sachen bereit und versuchte die hämischen Bemerkungen der vier Jungs zu ignorieren.

Als der Lehrer den Raum betrat, atmete sie auf, auch wenn sie sich immer wieder vornahm, sich die Beleidigungen nicht zu Herzen zu nehmen, schaffte sie es nicht wirklich. Allein die Blicke, die diese Clique ihr zu warfen, ließen sie zittern, denn sie versprachen ihr, dass sie noch mehr leiden würde.

Endlich klingelte es zum Ende der Doppelstunde und sie sah zu, dass sie aus dem Klassenraum kam, ehe sie jemand aufhalten konnte. Ihr Mathelehrer Herr Donath

Page 28: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

28

sah ihr kopfschüttelnd hinterher, doch dieses Mal hielt er sie nicht auf.

Martin fluchte halblaut, als er sah, dass sie ihm durch die Lappen gegangen war. An dem Tag sah er sie voraussichtlich nicht mehr, aber am Montag sollte sie büßen, dass Olsen sich eingemischt hatte.

Erleichtert ließ Sarah sich auf ihren Platz im Kursraum des Französischkurses sinken. Jetzt musste sie nur noch die zwei großen Pausen überstehen, danach war Wochenende, wo sie diesen Mistkerl nicht sah.

Im Französisch Unterricht überraschte sie ihre Lehrerin Frau Petri mit einigen richtigen Antworten und diese lächelte ihr aufmunternd zu. Sie unterrichtete ebenso Sozialkunde und wusste genau, was die junge Frau konnte, dass ihre Schülerin sich anstrengte, freute sie aufrichtig.

Der Rest des Kurses ließ sie links liegen, so wie alle anderen auch, ausgenommen Martin und seine Freunde.

Diese Doppelstunde verflog genauso, wie die Deutschstunde, die sie mit einem Lächeln hinter sich brachte.

„Ihr solltet euch besonders mit dem Faust, Galileo Galilei und den Interpretationen von Gedichten befassen“, teilte Herr Ewald ihnen mit, als er seine Schüler ins Wochenende entließ.

Einen klareren Hinweis, was in der Abiturprüfung kommen könnte, durfte er nicht geben, aber die Klasse grinsten ihn verstehend an. Sogar Sarah lächelte ihn an und nickte ihm zu.

Sie freute sich über diese Information, da sie neben Goethe, Brecht und Hesse über alles liebte. In Deutsch würde sie keine Probleme haben, falls sie es schaffte, ihre Noten gerade in den Nebenfächern, auf mindestens vier zu steigern. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie sich so hatte gehen lassen. Sie wollte ihren Abschluss, obwohl sie genau

Page 29: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

29

wusste, dass ihre Stimmung in ein paar Stunden schon wieder umschlagen konnte.

Schnell, damit Martin sie nicht doch noch in die Finger bekam, lief sie zu ihrem Auto und steuerte den nächstgelegenen Supermarkt an. Hier kaufte sie gesunde und fettarme Lebensmittel ein, denn auch diesen Punkt in ihrem Leben, musste sie endlich ändern.

Anschließend fuhr sie nach Hause, packte alles aus und kochte sich etwas. Gerade als sie die Spülmaschine angestellt hatte, klingelte das Telefon.

Es gab nicht viele Menschen, die ihre Nummer kannten und so dachte sie sich bereits, wer am anderen Ende war.

„Hallo Peter, was kann ich für dich tun?“, fragte sie und traf mit ihrer Vermutung ins Schwarze.

„Hey Sarah, können wir uns nicht sehen und aussprechen? Es scheint ja doch einiges im Argen zu liegen“, bat ihr Ex-Herr sie.

Einen Moment überlegte sie, dabei wusste sie genau, worauf dieses Treffen hinauslief. Aber wollte sie, dass er seine sadistischen Gelüste an ihr stillte, ohne auf ihre Bedürfnisse zu achten?

„Bitte Liebes, ich weiß, dass ich in der letzten Zeit ziemlich über das Ziel hinausgeschossen bin. Lass uns einfach neu anfangen“, schlug er ihr vor.

„Ich glaube nicht, Peter. Du hast mir schon so oft versprochen, dass es anders wird und du Rücksicht nimmst. Ich kann es mir nicht leisten, noch mehr Sportstunden zu versäumen“, brachte sie hervor, dabei war ihr bewusst, dass dieser Punkt nicht die Hauptursache darstellte.

„Bitte gib mir nur diese eine Chance, ich hole dich heute Abend ab und wir verbringen das Wochenende zusammen. Samstag ist Party im Orange, danach entscheidest du dich

Page 30: Kapitel 1 - Mobbing - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · zu spät kam, wieder mal. „Entschuldigung, mein Auto ist nicht angesprungen. Außerdem kann ich nicht teilnehmen, weil

30

endgültig und ich werde es akzeptieren“, versuchte er sie erneut zu überreden.

Zögernd gab Sarah nach, doch wohl fühlte sie sich mit dieser Lösung nicht.

„Gut, aber ich bekomme genug Zeit vormittags meine Nase in die Bücher zu stecken. Außerdem feiern wir am Sonntag meinen Geburtstag, ganz normal“, verlangte sie.

„Natürlich, gar kein Problem. Ich bin dann um achtzehn Uhr bei dir“, teilte Peter ihr fröhlich mit.

„Sag mal, kennst du dich in Mathe aus? Ich bräuchte da Hilfe“, schob sie schüchtern hinterher.

Bisher hatte sie sich nicht gewagt ihn um Unterstützung zu bitten, doch im Moment klang er so ruhig und sie nutzte die Gunst der Stunde.

„Ein wenig Ahnung hab ich schon davon, ich kann es mir morgen ja mal ansehen“, bot er ihr an.

„Danke und bis heute Abend, ich muss noch was lernen“, damit verabschiedete sie sich.

„Ich sehe dich später, Sklavin und denk daran, dass du Regeln hast“, antwortete Peter ihr und legte auf.

Seufzend starrte sie auf den Hörer in ihrer Hand, er würde seine Versprechen schnell vergessen, davon war sie überzeugt. Trotzdem war es angenehmer das Wochenende mit ihm zu verbringen.