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Bauwelt 33 | 2010 28 Thema Von Tokyo nach Venedig Bauwelt 33 | 2010 29 Mutsuro Sasaki ist heute welt- weit einer der wichtigsten Tragwerksplaner. 2003 er- hielt er zusammen mit Toyo Ito den Preis des Japanischen Architekturinstituts für die Sendai Mediathek. Foto: Sebastian Mayer Das Interview führten Henrike Rabe und Darryl Jingwen Wee. Kapitel 9: Wie hält Minimales zusammen? | Der Tragwerks- planer Mutsuro Sasaki Herr Sasaki, warum haben Sie sich entschieden, Tragwerksplaner zu werden? Ich ging noch zur Oberschule, es war während der Tokyoter Olympiade von 1964, als ich mich für Architektur zu interessieren begann. Damals wurde in einem Interview mit Kenzo Tange das Yoyogi National Gymnasium mit seiner großarti- gen Dachkonstruktion vorgestellt. Ich war so begeistert, dass ich mich am Fachbereich für Konstruktion der Universität Nagoya einschrieb. Welche weiteren Gebäude waren wichtig? Félix Candelas hyperbolisch-parabolische Scha- lenkonstruktionen wie beispielsweise die Ka- pelle San Vicente de Paul oder das Bacardi-Ab- füllwerk und Eero Saarinens TWA Terminal am Flughafen John F. Kennedy in New York. Wie waren Ihre Erfahrungen in der Zusammen- arbeit mit Toyo Ito an der Sendai Mediathek? Es war eine Woche nach dem Erdbeben von Kobe im Jahr 1995. Ito war ins Ausland gereist, um an einem Projekt zu arbeiten. Da erhielt ich von ihm eine Skizze mit der Bemerkung: „Das sind Ihre Hausaufgaben.“ Das Baugelände war riesig, und die Skizze war klein, von Hand ge- zeichnet, ein Gekritzel mit vielen Linien und Notizen. Beim Blick auf die Skizze war mir aber klar, dass diese winzige Zeichnung viele Ideen und Konzepte enthielt, die für ein Modell der Architektur des 21. Jahrhunderts relevant sind. Wie kamen Sie zu Ihrem Verfahren der Sensi- tivitätsanalyse? Als ich 1998 mit Arata Isozaki an der Fertig- stellung des Entwurfs für das Große National- theater in Beijing arbeitete, konnte man noch keine Computer einsetzen, um Belastungen und Verformungen frei gekrümmter Oberflächen zu messen und zu berechnen. Um herauszufin- den, wie sich Druck- und Zugspannung an je- dem Punkt verhielten, war ich im Wesentlichen auf das Trial-and-Error-Verfahren angewiesen, veränderte also die Koordinaten der frei ge- krümmten Oberflächen von Punkt zu Punkt ein wenig. Das war sehr zeitaufwendig und nicht sehr systematisch. Ich wurde diese zeitraubende Methode bald leid und suchte deshalb für den Entwurf nach einem theoretischeren, auf den Prinzipien kon- struktiver Logik beruhenden Verfahren. Meine Entwicklung war von den einfachen, aber bril- lanten Experimenten Gaudís inspiriert, der Mo- delle einfach umgedreht hatte, so dass bei- spielsweise aus Zug Druck wurde, um heraus- zufinden, wie sich die ideale Konstruktion ent- werfen ließ. Statt Berechnungen anzustellen, um die erstrebte Form zu verwirklichen, drehte er die Richtung des Prozesses um. Genauso arbeitet auch die Sensitivitäts- analyse: Man geht nicht von der erstrebten Form aus und misst und berechnet dann, um diese zu erhalten, sondern verfährt umgekehrt – die angemessene Konstruktion wird gefunden, indem die Form als ein variabler, erst zu entde- ckender Parameter angesetzt wird. Erzählen Sie über den Entwurfsprozess für SANAAs Learning Center in Lausanne. Ausgangspunkt war die einfache Idee, den Fuß- boden über den Grund zu erhöhen, so dass eine Lücke entsteht und Menschen sich frei darun- ter bewegen können. Danach musste das Dach entworfen werden, das parallel zum Fußboden verlaufen sollte. Die Form ergab sich so auf ganz natürliche Weise. Anders als das Dach wird der Fußboden für diverse Aktivitäten genutzt, also gab es viele zusätzliche statische Überlegun- gen, die zu berücksichtigen waren. So mussten wir zum Beispiel den Neigungswinkel begren- zen. Wenn der zu steil ist, fallen Menschen und Dinge einfach um. Verglichen mit meinen frühe- ren Versuchen mit der Sensitivitätsanalyse wa- ren bei diesem Projekt verbesserte theoretische Analysen erforderlich, die eine große Zahl zu- sätzlicher Kontrollen berücksichtigen mussten. Im Ergebnis entstand beim Learning Center eine viel sanftere, ruhigere, frei gekrümmte Oberfläche. Wie steht es mit SANAAs 21st Century Museum of Contemporary Art in Kanazawa? Für mich sind Mies van der Rohe und Gaudí, wenngleich an unterschiedlichen Enden des Spektrums, die allgegenwärtigen „Ahnen“ und ständigen Bezugspunkte. Bei jedem Projekt frage ich mich, ob es mehr in Richtung Gaudí oder Mies tendieren wird. Sejimas Architek- tur tendiert zu Mies. Gerade beim 21st Century Museum verwirklicht sie eine Neuinterpreta- tion seines Erbes. Blickt man auf die letzten Ge- bäude, dann scheint es, dass gekrümmte Dä- cher und Geschossplatten verstärkt auftreten und die Konstruktionen noch dünner werden. Wie verläuft Ihre Zusammenarbeit mit SANAA? Alle legen eine Menge Ideen auf den Tisch, machen Vorschläge. Sie sind von Anfang an beteiligt? Ja, man lässt die Dinge voneinander abprallen und spielt sie zurück. Deswegen bin ich eigent- lich kein wirklicher Tragwerksplaner! (lacht) Kapitel 10: Ausgedünntes Material | Junya Ishigami und sein 9,6 Meter langer Tisch Der japanische Architekturkritiker Taro Igarashi beschrieb die Projekte von Junya Ishigami als „extrem und natürlich“. Der Architekt selbst meint, ihm gehe es lediglich um eine Verände- rung in der Wahrnehmung von Alltagsobjekten. Das Projekt „Table“ von 2005 ist eines seiner ersten Projekte nach dem Ausscheiden bei SANAA. Ishigamis Tischplatte ist 9,50 Meter lang, 2,60 Meter breit und 1,1 Millimeter dick. Der Tisch ist aus Eisen – und dennoch fügt er sich übergangslos in die Umgebung ein, wirkt fragil und beinahe unsichtbar. „Die Fragilität dieses Tisches liegt in der Art der Konstruktion. Doch das Spiel mit den Dimensionen bei diesem zugegeben langen Tisch kann beim Betrachter die Wahrnehmung des Dings an sich verändern.“ In seinen Vorarbeiten zum Entwurf dieser extrem dünnen Platte dachte Ishigami weniger an ein Möbelstück als an Architektur: „Ein Tisch ist in vieler Hinsicht eine Konstruktion en mi- niature, eigentlich fast ein Gebäude. Die Tisch- fläche ist das Dach, die Beine die Stützen – gerade weil er so einfach ist, ist ein Tisch ein guter Archetypus für Architektur.“ Konventionelles Alltagswissen und mathe- matische Grundkenntnisse würden davon aus- gehen, dass eine derart große Fläche auf so dün- nen Stützen durchhängen oder sich unter dem Einfluss von darauf abgestelltem Gewicht ver- ziehen müsse. Eine erste Versuchsreihe galt ei- ner Tischplatte, die stark genug sein sollte, um sich selbst als plane Fläche zu tragen. Weitere Experimente bezüglich Wölben und Vorspannen des Eisens erbrachten schließlich das geeignete technische Verfahren. Obwohl die Stabilität an sich eine zentrale Fragestellung blieb, bezogen sich die konstruktiven Analysen nicht nur auf das jeweilige Eigengewicht der Platte, sondern auch darauf, wie und wo Objekte auf der extrem sensiblen Oberfläche positioniert werden soll- ten. Aus zahllosen Kurven wurde eine Art „ob- ject-map“ errechnet, eine Landkarte der Objekte: eine künftige Topologie für die auf den Tisch gestellten Dinge mit einer – dann – vollkommen planen Oberfläche als Resultat. Das Spiel mit den Größenverhältnissen wird so zu einer mys- teriösen Konstruktion, die die Funktionsprinzi- pien, auf denen sie basiert, verschleiert. Vicente Gutiérrez Der „magische Tisch“ von Junya Ishigami Foto: Sebastian Mayer Tragwerksstruktur von Sasaki: 21st Century Museum Kana- zawa und EPFL Lausanne; Skizze von Toyo Ito: Sendai Mediathek (von links). Abbidungen: „Flux Structure“ 0 6000 [kN/m] 0 200 [kN-m/m] -10 4 [cm] 0

Kapitel 9: Wie hält Minimales Kapitel 10: Ausgedünntes ... · PDF file32 Thema Von Tokyo nach Venedig Bauwelt 33 | 2010 Bauwelt 33 | 2010 33 Moriyama House, Tokyo Walter Niedermayr,

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Bauwelt 33 | 201028 Thema Von Tokyo nach Venedig Bauwelt 33 | 2010 29

Mutsuro Sasaki ist heute welt-weit einer der wichtigsten Tragwerksplaner. 2003 er-hielt er zusammen mit Toyo Ito den Preis des Japani schen Architekturinstituts für die Sendai Mediathek.

Foto: Sebastian Mayer

Das Interview führten Henrike Rabe und Darryl Jingwen Wee.

Kapitel 9: Wie hält Minimales zusammen? | Der Tragwerks-planer Mutsuro Sasaki

Herr Sasaki, warum haben Sie sich entschieden, Tragwerksplaner zu werden? Ich ging noch zur Oberschule, es war während der Tokyoter Olympiade von 1964, als ich mich für Architektur zu interessieren begann. Damals wurde in einem Interview mit Kenzo Tange das Yoyogi National Gymnasium mit seiner großarti-gen Dachkonstruktion vorgestellt. Ich war so begeistert, dass ich mich am Fachbereich für Konstruktion der Universität Nagoya einschrieb.

Welche weiteren Gebäude waren wichtig?Félix Candelas hyperbolisch-parabolische Scha-lenkonstruktionen wie beispielsweise die Ka-pelle San Vicente de Paul oder das Bacardi-Ab-füllwerk und Eero Saarinens TWA Terminal am Flughafen John F. Kennedy in New York.

Wie waren Ihre Erfahrungen in der Zusammen-arbeit mit Toyo Ito an der Sendai Mediathek?Es war eine Woche nach dem Erdbeben von Kobe im Jahr 1995. Ito war ins Ausland gereist, um an einem Projekt zu arbeiten. Da erhielt ich von ihm eine Skizze mit der Bemerkung: „Das sind Ihre Hausaufgaben.“ Das Baugelände war

riesig, und die Skizze war klein, von Hand ge-zeichnet, ein Gekritzel mit vielen Linien und Notizen. Beim Blick auf die Skizze war mir aber klar, dass diese winzige Zeichnung viele Ideen und Konzepte enthielt, die für ein Modell der Architektur des 21. Jahrhunderts relevant sind.

Wie kamen Sie zu Ihrem Verfahren der Sensi-tivitätsanalyse?Als ich 1998 mit Arata Isozaki an der Fertig-stellung des Entwurfs für das Große National-theater in Beijing arbeitete, konnte man noch keine Computer einsetzen, um Belastungen und Verformungen frei gekrümmter Oberflächen zu mes sen und zu berechnen. Um herauszufin-den, wie sich Druck- und Zugspannung an je-dem Punkt verhielten, war ich im Wesentlichen auf das Trial-and-Error-Verfahren angewiesen, veränderte also die Koordinaten der frei ge-krümm ten Oberflächen von Punkt zu Punkt ein wenig. Das war sehr zeitaufwendig und nicht sehr systematisch.

Ich wurde diese zeitraubende Methode bald leid und suchte deshalb für den Entwurf nach einem theoretischeren, auf den Prinzipien kon-struktiver Logik beruhenden Verfahren. Meine Entwicklung war von den einfachen, aber bril-lanten Experimenten Gaudís inspiriert, der Mo-delle einfach umgedreht hatte, so dass bei-spielsweise aus Zug Druck wurde, um heraus-

zufinden, wie sich die ideale Konstruktion ent-werfen ließ. Statt Berechnungen anzustellen, um die erstrebte Form zu verwirklichen, drehte er die Richtung des Prozesses um.

Genauso arbeitet auch die Sensitivitäts-analyse: Man geht nicht von der erstrebten Form aus und misst und berechnet dann, um diese zu erhalten, sondern verfährt umgekehrt – die an gemessene Konstruktion wird gefunden, indem die Form als ein variabler, erst zu entde-ckender Parameter angesetzt wird.

Erzählen Sie über den Entwurfsprozess für SANAAs Learning Center in Lausanne.Ausgangspunkt war die einfache Idee, den Fuß-boden über den Grund zu erhöhen, so dass eine Lücke entsteht und Menschen sich frei darun-ter bewegen können. Danach musste das Dach entworfen werden, das parallel zum Fußboden verlaufen sollte. Die Form ergab sich so auf ganz natürliche Weise. Anders als das Dach wird der Fußboden für diverse Aktivitäten genutzt, also gab es viele zusätzliche statische Überlegun-gen, die zu berücksichtigen waren. So mussten wir zum Beispiel den Neigungswinkel begren-zen. Wenn der zu steil ist, fallen Menschen und Dinge einfach um. Verglichen mit meinen frühe-ren Versuchen mit der Sensitivitätsanalyse wa-ren bei diesem Projekt verbesserte theoretische Analysen erforderlich, die eine große Zahl zu-

sätzlicher Kontrollen berücksichtigen mussten. Im Ergebnis entstand beim Learning Center eine viel sanftere, ruhigere, frei gekrümmte Oberfläche.

Wie steht es mit SANAAs 21st Century Museum of Contemporary Art in Kanazawa?Für mich sind Mies van der Rohe und Gaudí, wenngleich an unterschiedlichen Enden des Spektrums, die allgegenwärtigen „Ahnen“ und ständigen Bezugspunkte. Bei jedem Projekt frage ich mich, ob es mehr in Richtung Gaudí oder Mies tendieren wird. Sejimas Architek-tur tendiert zu Mies. Gerade beim 21st Century Museum verwirklicht sie eine Neuinterpreta-tion seines Erbes. Blickt man auf die letzten Ge-bäude, dann scheint es, dass gekrümmte Dä-cher und Geschossplatten verstärkt auftreten und die Konstruktionen noch dünner werden.

Wie verläuft Ihre Zusammenarbeit mit SANAA? Alle legen eine Menge Ideen auf den Tisch, machen Vorschläge.

Sie sind von Anfang an beteiligt? Ja, man lässt die Dinge voneinander abprallen und spielt sie zurück. Deswegen bin ich eigent-lich kein wirklicher Tragwerksplaner! (lacht)

Kapitel 10: Ausgedünntes Material | Junya Ishigami und sein 9,6 Meter langer Tisch

Der japanische Architekturkritiker Taro Igarashi beschrieb die Projekte von Junya Ishigami als „extrem und natürlich“. Der Architekt selbst meint, ihm gehe es lediglich um eine Verände-rung in der Wahrnehmung von Alltagsobjekten.

Das Projekt „Table“ von 2005 ist eines seiner ersten Projekte nach dem Ausscheiden bei SANAA. Ishigamis Tischplatte ist 9,50 Meter lang, 2,60 Meter breit und 1,1 Millimeter dick. Der Tisch ist aus Eisen – und dennoch fügt er sich übergangslos in die Umgebung ein, wirkt fragil und beinahe unsichtbar. „Die Fragilität dieses Tisches liegt in der Art der Konstruktion. Doch das Spiel mit den Dimensionen bei diesem zugegeben langen Tisch kann beim Betrachter die Wahrnehmung des Dings an sich verändern.“

In seinen Vorarbeiten zum Entwurf dieser extrem dünnen Platte dachte Ishigami weniger an ein Möbelstück als an Architektur: „Ein Tisch ist in vieler Hinsicht eine Konstruktion en mi-niature, eigentlich fast ein Gebäude. Die Tisch-fläche ist das Dach, die Beine die Stützen – gerade weil er so einfach ist, ist ein Tisch ein guter Archetypus für Architektur.“

Konventionelles Alltagswissen und mathe-matische Grundkenntnisse würden davon aus-gehen, dass eine derart große Fläche auf so dün-nen Stützen durchhängen oder sich unter dem Einfluss von darauf abgestelltem Gewicht ver-ziehen müsse. Eine erste Versuchsreihe galt ei-ner Tischplatte, die stark genug sein sollte, um sich selbst als plane Fläche zu tragen. Weitere Experimente bezüglich Wölben und Vorspannen des Eisens erbrachten schließlich das geeignete technische Verfahren. Obwohl die Stabilität an sich eine zentrale Fragestellung blieb, bezogen sich die konstruktiven Analysen nicht nur auf das jeweilige Eigengewicht der Platte, sondern auch darauf, wie und wo Objekte auf der extrem sensiblen Oberfläche positioniert werden soll-ten. Aus zahllosen Kurven wurde eine Art „ob-ject-map“ errechnet, eine Landkarte der Objekte: eine künftige Topologie für die auf den Tisch gestellten Dinge mit einer – dann – vollkommen planen Oberfläche als Resultat. Das Spiel mit den Größenverhältnissen wird so zu einer mys-teriösen Konstruktion, die die Funktionsprinzi-pien, auf denen sie basiert, verschleiert. Vicente Gutiérrez

Der „magische Tisch“ von Junya Ishigami

Foto: Sebastian Mayer

Tragwerksstruktur von Sasaki: 21st Century Museum Kana-zawa und EPFL Lausanne; Skizze von Toyo Ito: Sendai Mediathek (von links).

Abbidungen: „Flux Structure“

0 6000 [kN/m]

0 200 [kN-m/m]

-10 4 [cm]0

Bauwelt 33 | 201030 Thema Von Tokyo nach Venedig Bauwelt 33 | 2010 31

Kapitel 11: Weiß und leer | Fotografien von Walter Nieder-mayr und Sebastian Mayer

SANAAs Bauten wirken oft zweideutig. Sie ma-chen Unspektakuläres, Leichtes, Lichtes und – in Bezug auf die Umgebung – Ambivalentes sichtbar. Die Fotografie ist gerade in solchen Fällen gefordert, neben der Bestandsaufnahme dessen, was „da ist“, eine Interpretation der räumlichen Topologie abzuliefern. Walter Nie-dermayr und Sebastian Mayer sind beide ei-gentlich keine Architekturfotografen. Um eine Dokumentation der Bauten von SANAA geht es ihnen nicht. Sie nehmen den Raum als Gan-zes in den Blick: als eine Art Landschaft und als Summe von Interaktionen, die mit der Land-schaft möglich sind. Eine Beobachtung drängt sich auf. Weil die Bauten von Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa reduziert sind bis zum Äu-ßersten, eignen sie sich als Leinwand für die fotografische Er kun dung und deren Ästhetik.

Walter Niedermayr kam 1980, bei einem Japanbesuch für eine eigene Ausstellung, in Kontakt mit Sejima und Nishizawa. Für Nieder-mayr ist der „natürliche Blick“, wenn man über-haupt von ihm sprechen mag, in ständigem Wi-derspruch mit einer fragmentierten Realität, die er durch geringfügig verschobene Blickwinkel sichtbar macht. Von einem erhöhten Standpunkt

aufgenommen, leuchtet sein Diptychon des Naoshima Ferry Terminal die weitläufige Fläche des Daches aus. Nur eine einzige Horizontale scheint in der Lage, die Teile zu verbinden. Bei anderer Gelegenheit fokussiert Niedermayr die Ambivalenz von etwas und nichts, von ephe-mer und solide. Die nahtlosen Öffnungen in den dünnen Wänden des Moriyama House (Seite 32–33) eliminieren jede Tiefe und Textur in eine Leere aus Weiß. Einzig ein „unsichtbares Fenster“ rettet den Eindruck von Tiefe.

Sebastian Mayer kam 2006, während ei-nes Besuchs am Goethe-Institut in Tokyo, in Kontakt mit den japanischen Architekten. Kurz darauf porträtierte er Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa im Auftrag einer spanischen Architek-turzeitschrift. Mayer interessiert sich auch bei den Porträts dafür, die Umgebung und die mög-lichen Interaktionen zum Raum einzubeziehen. Was aber, wenn der Raum leer ist? Muss sich der Fotograf mit der Leere abfinden? Bei seinen Architekturfotos machte Mayer diese Nichtexis-tenz auf eigene Weise deutlich. „Als ich das Day Care Centre in Yokohama fotografierte, hatte ich Mühe, das Gebäude als Einheit abzubilden. Es sah weder aus wie ein Gebäude, noch fühlte es sich so an. Meine Bilder beschäftigen sich folglich nur mit der Wirkung, mit der Auswirkung eines Gebäudekorpus und mit der Reflexion, also: mit dem Widerspiel mit seiner Umgebung.“ Vicente Gutiérrez

Mutsukawa Day Care Center, Yokuhama

Foto: Sebastian Mayer

Bauwelt 33 | 201032 Thema Von Tokyo nach Venedig Bauwelt 33 | 2010 33

Moriyama House, Tokyo

Walter Niedermayr, Bildraum 144/2006, Courtesy Galerie Nordenhake Berlin/Stockholm

Bauwelt 33 | 201034 Thema Von Tokyo nach Venedig Bauwelt 33 | 2010 35

Das Interview führte Marika Schmidt.

Kapitel 12: Nachkriegsent-wicklung Tokyos | Interview mit Yoshiharu Tsukamoto

Das Buch „The Architectures of Atelier Bow-Wow: Behaviorology“ von Yoshiharu Tsukamoto gibt einen Überblick, wie sich in den vergan-ge nen 60 Jahren das kleine frei stehende Wohn-haus mit Garten im Stadtgebiet Tokyos zu einer introvertierten Schlafbehausung entwickelt hat, deren Bezug zur Nachbarschaft verlorengegan-gen ist. Drei Generationen von Häusern werden ausgemacht. Das Buch stellt kleine Wohnhäu-ser vor, die durch programmatische Verlagerung und räumliche Organisation versuchen, den verbliebenen undefinierten Außenraum wieder als Lebensraum zu artikulieren.

In Ihrem Buch „Behaviorology“ schreiben Sie: Tokyo gelangt heute in einen urbanen Zustand von „Kindheit“, in der das Kind seine eigene In telligenz entdeckt – was meinen Sie damit?Für lange Zeit dachte ich, meine Architektenge-neration sei zu spät gekommen, um die Stadt zu bauen. Als wir unsere Karriere begannen, war die Stadt schon gebaut, alt und erwachsen. Spä-ter begriff ich, Tokyo ist gebaut, aber ohne Intel-ligenz, also nur gebaut. Wie haben Bautechni-ken und die Präzisierung des Bauens entwickelt,

aber die Beziehung zwischen den Gebäuden, dem Haus und der Straße ist komplett verges-sen worden. Und dann dachte ich, ok, vielleicht beginnt Tokyo gerade das Laufen zu erlernen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Stadt kom-plett zerstört, der Wiederaufbau begann. Jetzt ist Tokyo wie ein Kind, es kann auf eigenen Fü- ßen stehen. Was meine Generation tun kann, ist, nicht nur die Grundfläche der Stadt mit Ge-bäuden zu füllen, sondern die Beziehung zwi-schen den Gebäuden, Haus und Straße und öf-fentlichem Raum neu zu definieren. Deshalb bezeichne ich den Zustand Tokyos als Kindheit.

Die zeitgenössische Architektur in Japan ist an-spruchsvoll. Es gibt viele herausragende Archi-tekten, die mit unterschiedlichen Raumkonstel-lationen experimentieren. Gleichzeitig besteht keine analoge Tradition in der Stadtplanung.Die Kriegszerstörung wiegt schwer und ist we-sentlich für den fehlenden Umgang mit öffent-li chem Raum. Durch die Zerstörungen haben die Menschen eine gefühlsmäßige Beziehung zur Stadt verloren. Die Verbindung zur Vergangen-heit war zerschnitten, das gilt vor allem für die bürgerliche Bevölkerung Tokyos. In Kyoto bei-spielsweise spürt man noch immer eine gewisse Souveränität im Umgang mit öffentlichem Raum und der Beziehung von Haus und Straße, auch wenn sie vielleicht nicht mehr zeitgemäß ist. In

Tokyo hat man versucht, den Verlust zu kom-pensieren, indem man Gebäude sammelte, die wie Stadt aussehen. Es gibt aber auch eine an-dere Seite. In Tokyo gibt es inzwischen viele in-teressante Quartiere wie Nakameguro, Yanaka, Shimo-Kitazawa, Kichijoji, Daikanyma. Der Charakter dieser Viertel ist nicht auf Grundlage von Stadtplanungen entstanden, vielmehr hat er sich spontan herausgebildet, ohne den domi-nierenden Regeln des Marktes zu gehorchen.

Paradoxerweise ist Tokyo für viele gerade wegen der ungeordneten Struktur interessant.... weil die Stadt immer in Veränderung ist. Diese Tendenz einer Großstadt mit einer Art of-fenem Ausgang ist relativ neu. Tokyo kann sich nicht vollenden. Mir scheint eine solche Entwick-lung allerdings passender für die heutige glo-balisierte Welt. Das fasziniert mich und treibt mich auch an bei der Entwicklung kleiner Häu-ser. Das Haus ist ein sehr kleines Element der Stadt, das auf das große Ganze wenig Auswir-kung hat. Wir brauchen eine Idee, wie wir die-ses kleine Element besser in einen übergeord-neten Zusammenhang integrieren können. Zum Beispiel durch das Schaffen von Raumzusam-menhängen oder durch das Definieren von Räu-men zwischen verschiedenen Gebäuden.

Yoshiharu TsukamotoLuftbild: Metropole Tokyo

Foto oben: Marika Schmidt; rechts: Iwan Baan

Das Interview führten Vicente Gutiérrez und Henrike Rabe.

Kapitel 13: Japanische Super-flatness und der Abbau von Hierarchien | Interview mit Taro Igarashi

Wir warten am schicken, belebten Omotesando-Boulevard auf Taro Igarashi, dem Kommissar des Japanischen Pavillons auf der letzten Bien-nale in Venedig 2008. Er ist Architekturkritiker und Professor an der Tohoku-Universität Sen-dai. In Japan ist Igarashi omnipräsent, mit über 30 Publikationen ist seine Stimme unüberhör-bar. Als Igarashi auf uns zukommt, sieht er jün-ger und weniger förmlich aus als erwartet. So-bald aber die Rede auf „superflat architecture“ kommt, hängt eine andere Atmosphäre im Raum: etwas von Seminar.

Der Künstler Takeshi Murakami verwendete den Begriff „superflat“ erstmals 2000 im Zusam-menhang mit seiner „Superflat“-Ausstellung über Manga-Kultur. Wie kam es dazu, dass Sie diesen Begriff auch auf Architektur anwenden?1999, als die Idee von Superflat gerade aufkam, beauftragte mich die Zeitschrift Kohkoku da-mit, dieses Konzept explizit in Hinsicht auf Archi- tektur zu untersuchen. Das Heft geriet zu einer Sonderausgabe über die möglichen Anwendun-gen des Begriffes. Zu gleicher Zeit hatten meh-rere neue interessante Entwicklungen, etwa der

Bau von Toyo Itos Sendai Mediathek und das QFRONT-Gebäude in Shibuya, einen Zeitenwech-sel bereits angekündigt.

Superflatness – was ist die eigentliche Essenz von „superflat“-Comics, -Kunst, -Fotografie, -Mode, Architektur und urbaner Lebenskultur?Zwei Punkte sind zentral für diese „Flachheit“. Zum einen die Auflösung von Hierarchie in eine Richtung, die sich eher an horizontalen Model-len und Strategien orientiert. Der zweite Punkt liegt im Vergleich zwischen der Perspektive und der Tiefenwirkung in der westlichen Malerei und dem historischen Fehlen von Tiefe und Drei-dimensionalität in der traditionellen japani-schen Malerei.

Wie genau wird die Frage der Hierarchie durch die japanischen Architekten neu betrachtet?In erster Linie betraf das die organisatorische Hierarchie im praktischen Alltag der Büros. In den 90er Jahren gab es ein Anwachsen der klei-neren Architekturbüros – auf Japanisch nennt man sie „unitpa“ –, etwa Mikan Gumi und Ate-lier Bow-Wow. Junge Architekten bildeten lose Gruppen, die sich nicht nach vertikalen, hierar-chischen Mustern organisierten.

Ein zweiter Punkt ist das Bauprogramm selbst. Das horizontale Arrangement der Räume in SANAAs 21st Century Museum of Modern Art ist das Ergebnis aus einer neuen Lektüre des

Raumprogramms „gegen den Strich“ und dem Überdenken konventioneller Layouts und Raum-strukturen. Ein typisches Museum hat eine sehr klar definierte Aufteilung, also Vorderfassade und Abseite – dieses Museum hat eine 360°-Fas-sade, an jeder beliebigen Stelle ist „die“ Front. Dieser Bau mit einem Grundriss von ei ner Kreis-fläche von mehr als 100 Metern Durchmesser ist ein Non-Monument mit einem sehr heutigen Raumgefühl, fast wie bei einem Supermarkt.

Können Sie ein Beispiel nennen, wie die „Unter-schiede zwischen tragender Konstruktion, Innenausbau und Dekor“ verwischt werden?Nehmen wir Toyo Itos „K House“. Aluminium wird normalerweise nur für Fensterrahmen oder als Oberflächenfinish verwendet. In diesem Fall ex-perimentierte Ito damit, das Material Alumi-nium für das gesamte Tragwerk des Baus ein-zusetzen. Die Beschränkung auf ein einziges Material hat einen „flattening“ Effekt: Das Haus wirkt dann eher wie ein Architekturmodell.

Wie kommt es, dass Architekten, die eine „su-perflache Architektur“ exportieren, derzeit zu Japans erfolgreichsten Architekten zählen?Diese Frage können Ihnen die Ausländer sicher-lich viel besser beantworten (lacht).

Taro Igarashi Foto: Sebastian Mayer

Bauwelt 33 | 201036 Thema Von Tokyo nach Venedig Bauwelt 33 | 2010 37

Tetsuo Kondo Architects und Transsolar Klimaengineering | Installation „Cloudscape“ Internationale Architekturbien-nale Venedig, Italien 2010

Elding Oscarson | Townhouse, Landskrona, Schweden

Hiroshi Kikuchi Architects | Oizumi House, Tokyo

Solid Objectives – Idenburg Liu | Athens Student Housing

nkbak | Messestand Schneider Electric, Merten, Ritto und Elso, light+building, Frankfurt

Shoko Fukuya Architects & Associates | Tomarigi Long Bench, Osaka

Fotos: Åke E:son Lindman (für Elding Oscarson), Constantin Meyer (für nkbak);alle anderen: Architekten

Kapitel 14: Blick auf SANAAs „Schüler“ | Eine Auswahl

Der inzwischen auch in Europa bekannteste „SANAA Schüler“ ist sicher Junya Ishigami (Kana-gawa Institut, Bauwelt 42.09), doch nimmt die Zahl der von ehemaligen Mitarbeitern gegründe-ten Büros stetig zu. Die folgende Auswahl stellt einige dieser Neugründungen vor:

Tetsuo Kondo ArchitectsAuf der diesjährigen Biennale in Venedig ist Tetsuo Kondos Zusammenarbeit mit dem Stutt-garter Ingenieur Matthias Schuler zu sehen: die Installation „Cloudscape“ für den japani-schen Pavillon. Laut Kondo „ein Ort, an dem Menschen eine neue Art Landschaft erfahren“.

Der 35-jährige Tetsuo Kondo war sieben Jahre bei SANAA, zu den Projekten, an denen er maßgeblich beteiligt war, gehören das 21st Century Museum of Contemporary Art in Kana-zawa und das EPFL Rolex Learning Center in Lausanne. Nachdem Kondo im Jahr 2006 SANAA verlassen hatte, gründete er in Tokyo sein ei-ge nes Büro: Tetsuo Kondo Architects. Derzeit ar-beitet er an zwei Privathäusern und an der Ent-wicklung eines aus Kunststofffasern gestrickten Tisches. Kondo: „Ich bin von SANAA in vieler-lei Hinsicht beeinflusst. Das Wichtigste, das ich gelernt habe, ist: Nie etwas aufgeben“.

Elding OscarsonDirekt nach dem Diplom fing Jonas Elding bei SANAA an und blieb acht Jahre, seine Hauptpro-jekte dort waren das New Museum of Contem-porary Art in New York, das Theater in Almere und mehrere Wettbewerbe, unter anderem für die Zollverein School of Management and Design in Essen.

Im Jahr 2007 machte sich Elding mit sei-nem Diplompartner Johan Oscarson in Stock-holm selbständig; das nur zwei Jahre später fer-tiggestellte Projekt „Townhouse“ erregte in-ternationale Aufmerksamkeit. Gegenwärtig ar- beiten Elding Oscarson an weiteren Wohn-häusern und Dachausbauten. Elding bezeichnet SANAA nicht als seinen „Einfluss“, sondern als seinen „Background“.

Hiroshi Kikuchi ArchitectsBevor Hiroshi Kikuchi zu Herzog & de Meuron wechselte, arbeitete er jahrelang im Büro von Kazuyo Sejima. Er begann zunächst als einfache studentische Hilfskraft, später war er als fri-scher Absolvent an den Wettbewerbsphasen des Almere Theaters und des 21st Century Muse-um of Contemporary Art in Kanazawa beteiligt.

Im Moment plant das in Tokyo angesie-delte Büro Hiroshi Kikuchi Architects unter an-derem das „ksj Projekt“, ein Einfamilienhaus in Tokyo, das Anfang nächsten Jahres fertigge-stellt wird. Kikuchi: „Ich bin nach wie vor ein

großer Verehrer von SANAA, versuche aber, mit meinen eigenen Bauten Abstand zum SANAA-Stil zu halten.“

Solid Objectives – Idenburg LiuBevor Florian Idenburg (siehe „Debut“ in Bau-welt 30.10) zusammen mit der ehemaligen Kohn-Pedersen-Fox-Mitarbeiterin Jing Liu Solid Objectives –Idenburg Liu in New York grün-dete, arbeitete er acht Jahre bei SANAA. Seine Schwerpunkte waren das Almere Theater, das Toledo Museum of Art und das New Museum of Contemporary Art New York.

Nächstes Jahr wird das erste große Pro-jekt von Idenburg Liu, das Kukje Art Center in Seoul, fertiggestellt. Idenburg: „SANAAs Ein-fluss wird an meinem Interesse für das Raum-programm deutlich, aber auch an der Bedeu-tung, die ich den Prinzipien Offenheit, Fluidi-tät, Klarheit und Komplexität beimesse.“

nkbak Nicht als frische Absolventen, sondern als be-reits approbierte Architekten der Büros Sauer-bruch Hutton in Berlin bzw. des Büros von Heinrich Böll in Essen haben Nicole Kerstin Ber-ganski und Andreas Krawczyk bei SANAA be-gonnen. Als Projektarchitekten für die Zollver-ein School of Management and Design Essen (Bauwelt 32.06) und das Novartis Bürogebäude Basel waren sie vier bzw. zwei Jahre bei SANAA

tätig. Derzeit plant das 2007 von Berganski und Krawczyk in Frankfurt am Main gegründete Büro nkbak un ter anderem den Umbau und die Sanierung der Hochschule für Musik und Darstel lende Kunst in Frankfurt. Berganski: „Wir sind Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa insofern dankbar, weil sie uns eine unglaub-liche Präzision gelehrt haben, sowohl den Ent-wurf als auch die Umsetzung betreffend, die wir damals als Projektverantwortliche erarbei-ten und weiterentwickeln konnten.“

Shoko Fukuya Architects & AssociatesFünf Jahre hat Shoko Fukuya bei SANAA gear-beitet; die wichtigsten Projekte, an denen sie beteiligt war, waren das 21st Century Museum of Contemporary Art in Kanazawa und das Small House in Tokyo. Heute lebt und arbeitet die Architektin in Tokyo und Sendai, wo sie an der Tokohu Universität lehrt.

Nächstes Jahr wird Shoko Fukuya ihr ers-tes eigenes, größeres Projekt fertigstellen kön-nen: das „Gebäude W“, den Umbau eines ehe-mali gen Wohngebäudes in Tokyo in ein „Büro mit Garten“. Fukuya: „Meine Projekte sind auf mehreren Ebenen von der zurückliegenden Ar-beit bei SANAA beeinflusst. Spontan nennen würde ich die Sorgfalt beim Anordnen von Volu-men im Verhältnis zu ihrer Umgebung.“

Kapitel 15: Das 24-Stunden Büro | Alltag, Hierarchie, und Harmonie in japanischen Architekturbüros

Kurz vor 9 Uhr morgens, die Eingangstür glei-tet zur Seite, junge Mitarbeiter liegen, aufge-reiht und angezogen, auf blankem Teppich oder dünnen Futons. Die Schuhe – wie in der Woh-nung auch im Büro oft am Eingang ausgezogen – stehen akkurat gereiht, Paar an Paar. In der folgen den Viertelstunde vollzieht sich, täglich aufs Neue und wie von unsichtbaren Fäden gelenkt, die Verwandlung eines eingespielten Teams. Die jüngsten Mitarbeiter beseitigen, in kontemplativer Schweigsamkeit und vom Kater der kurzen und wenig komfortabel verbrachten Nachtstunden gezeichnet, die einfachen Schlaf-utensilien. Die Arbeitsplätze – Tischreihen wie bei uns, allerdings bei vergleichsweise halber Tischfläche pro Mitarbeiter – werden aufge-räumt, Materialreste des nächtlichen Modell-baus entsorgt, frischer Tee zubereitet. Japaner empfinden und denken holistisch und gruppen-bezogen, jeder sieht und versteht sich als Teil des Ganzen, als Teil einer „Familie“. Jedes „Mit-glied“ kennt seine Pflichten. Die älteren Mit-arbeiter, bereits mit bestimmten Privilegien be-dacht und vom morgendlichen Aufräumritual entbunden, erscheinen nach und nach. Zuletzt, und wie alles in diesem Ablauf zeitlich perfekt choreografiert, Keiei-sha, der Chef des Büros. Ein Arbeitstag – davon hat die Woche mindes-tens sechs – nimmt seinen Anfang. Es gibt nam-hafte japanische Architekten, deren biologische Uhr asynchron zu funktionieren scheint. Hier wird die Nacht zum Tag, man arbeitet gewöhn-lich bis neun Uhr morgens, erst dann wird das Büro bis zum frühen Nachmittag in eine Art Ruhezustand versetzt. Beste Voraussetzung je-denfalls, für Bauherren und Klienten in Europa trotz Zeitverschiebung erreichbar zu sein. Japa-ner scheinen mit der schönen Gabe versehen, jederzeit und überall für ein paar Atemzüge, ein paar Minuten oder Stunden schlummern zu kön-nen, um über den Tag verteilt das notwendige Maß an Schlaf zu sichern. Der Autor dieser Zei-len, selbst mehrjährig in Japan tätig, kennt nicht wenige ausländische Architekten, die selbst nach drei, vier Jahren Arbeit in Tokyo kaum mehr gesehen haben als die Strecke zwischen Büro, Schlafstätte und nächstgelegenem Konbini. Jan Geipel

Schlafplatz Büro Fotos: Jan Geipel

nkbak

Elding Oscarson Solid Objectives – Idenburg Liu Shoko Fukuya Architects & Associates

Tetsuo Kondo Architects und Transsolar Klimaengineering Hiroshi Kikuchi Architects

Bauwelt 33 | 201038 Thema Von Tokyo nach Venedig Bauwelt 33 | 2010 39

Kapitel 16: SANAA-Ausstel-lung im DAC Danish Architec-ture Center in Kopenhagen | Auszug aus dem Logbuch

September 2009 | Reise nach Japan und erste Kontaktaufnahme. Mit dabei einige Sponsoren des DAC. Es gelingt, einen Termin mit dem Büro SANAA zu vereinbaren. Allerdings, weder Se-jima noch Nishizawa sind präsent. Sam Cher-mayeff, hochgewachsener Amerikaner, Architekt im Büro und Assistent von Sejima, empfängt uns nonchalant. Ein den ganzen Besprechungs-raum füllendes Arbeitsmodell weckt unser In-teresse. Die Idee zu einer Ausstellung am DAC in Kopenhagen wird entwickelt. 9. November | Kazuyo Sejima wird zur Direkto-rin der 12. Internationalen Architekturbiennale 2010 in Venedig ernannt. Wir gratulieren – und überlegen einen Atemzug später, ob dies wo-möglich unsere geplante Ausstellung am DAC ge fährdet. Eine Absichtserklärung besteht bis-her nicht. 25. Januar | Sam Chermayeff besucht für ein paar Stunden und eine kurze Nacht Kopenha-gen. Gewählter Ort: das Restaurant in der Turm-spitze des Arne Jacobsens Hotel mit Blick über die Stadt. Erste Ideen für das Ausstellungskon-zept werden skizziert. Man entschließt sich für

eine eindeutige Haltung. Keine erläuternden Pläne, einfach bloß Modelle.30. Januar | Flug nach Tokyo. Wir treffen uns mit Sam Chermayeff und Kazuyo Sejima im neuen SANAA-Office. Ein langgezogenes Lager-haus, ab gelegen im Hafenbereich. Vor der Tür ein gut erhaltener Alfa Romeo Spider aus den Achtzigern, der Nishizawa gehört. Im Büro eine schmale Schlucht aus Regalen, die das Ge-bäude längs durchzieht und die Fläche in Teil-bereiche seziert. Sejimas Garderobe steht frei im Raum. Ein mikroskopischer Bereich fasst Nishizawas eigenes Office. 7. Februar | Wir konzentrieren uns darauf, ein präzises Budget zu erstellen und beim Sponsor Realdania die notwendigen Fördergelder für die Ausstellung zu beantragen. In Japan werden Verträge gerne mündlich abgeschlossen. Nach einigem Hin und Her gelingt es uns dennoch, die Zusammenarbeit zu Papier zu bringen und so zu fixieren. 18. März | Ortsbesichtigung des eben der Öffent-lichkeit zugänglich gemachten Rolex Learning Centers in Lausanne. 18. Mai | Aufregung am DAC, unschlüssige Ge-sichter. Auf Teilen der bereits gedruckten Marke-tingunterlagen ist Ryue Nishizawas Name nicht korrekt geschrieben. Eine zu Rate gezogene Ja-panerin klärt die Lage. Die Übersetzung der japa-nischen Kanji ermöglicht beide Schreibweisen.

Wir entschließen uns dennoch für Korrektur und Neudruck. 10. Juni | Ein Frachtlaster hält vor dem DAC und entlädt eine 2,5 mal 3,5 Meter große Holzkiste. Im Ganzen lässt sich die Kiste nicht durch Tü-ren oder Fenster transportieren. Darin enthalten 20.000 Quadratmeter Wellenlandschaft, redu-ziert auf den Maßstab 1:50. Gewicht des Rolex Learning Center: 300 kg. 17. Mai | Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa be-kommen den Pritzker-Preis. Wir senden Glück-wünsche. 16. Juni | Am Vormittag Ausstellungspreview für die dänische Presse. 17. Juni | Früher Abend. Ryue Nishizawa landet in Kopenhagen. Er ist verspätet. 18. Juni | Tag der Ausstellungseröffnung. Ryue Nishizawa hält in der Stunde vor der offiziellen Einweihung eine Vorlesung. Das Haus ist bis zum letzten Platz gefüllt. Einen Moment lang wirkt Nishizawa, als ob ihn die Müdigkeit über-kommt. Er fängt sich, die Vorlesung ist span-nend. 500 Gäste feiern bei Sushi und Cremant. Nishizawa gibt Anekdoten aus dem japanischen Architektenalltag zum Besten, zum Beispiel den „Kniefall vor Ando“. Beim jüngsten Projekt auf einem Eiland vor Osaka musste er eigens aus Tokyo anreisen und artig beim Meister an-fragen, ob der dessen jahrzehntelangen Beton-spezialisten beauftragen darf. Jan Geipel

Ausstellungsmodell des Rolex Learning Centers im DAC in Kopenhagen.

Foto: Jan Geipel

Kapitel 17: Der Sponsor und die Präzision | Rolex und das Learning Center

Vielleicht sollte sich heute jede Universität pas-sende Sponsoren suchen, um sich ein vergleich-bares Kommunikations- und Empfangsgebäude zu leisten – als Großraum der Repräsentation, der konzentrierten oder freien Lektüre, der Gas-tronomie und des offenen Gedankenaustauschs. In Lausanne war neben Nestlé, Novartis und der Crédit Suisse vor allem Rolex am Werk. Die weltberühmte Uhrenmanufaktur hat entschei-dend mitgewirkt, damit das Projekt des Learn-ing Centers für rund 110 Millionen Schweizer Franken realisiert werden konnte. Rolex symbo-lisiert par excellence die Präzision Schweizer Uhrwerke, die in kostbaren Gehäusen verborgen liegen. Dem Sponsor war es wichtig, dass im Center hier und dort große Standuhren mit et-was sprödem klassischem Zifferblatt und silbern funkelnder Umrandung aufgestellt wurden.

Das Rolex Learning Center (Heft 13.10) be-steht aus zwei Wellen, einer geschwungenen Boden- und einer Dachscheibe. Dazwischen be-finden sich 3,30 Meter Luft. Die untere Scheibe löst sich an vielen Stellen mit einer Höhe von bis zu sieben Metern völlig vom Boden ab. Die Betonkonstruktion bildet weite, sehr flache Bö gen. Ich unterquere einen großen Bogen. Die

Frage nach den Details drängt sich auf, ich will wissen, was für eine Konstruktion diese elegante Form der statisch zu flachen Bögen möglich machte. Bei dem mir zur Verfügung gestellten Gebäudeschnitt der Ausführungsplanung fällt eine extrem konzentrierte Bewehrung ins Auge. Die Betonierung der Scheibe musste innerhalb von 48 Stunden in einem Vorgang abgeschlossen sein. Dafür waren rund um die Uhr alle ver-fügbaren Betonmischfahrzeuge der Region er-forderlich. Die logistische Leistung gelang.

Die Form des Dachs folgt dem doppelt ge-krümmten Boden in allen Bereichen. Das Dach besteht jedoch nicht aus Beton, sondern aus einer Mischkonstruktion, um den gewünschten Eindruck von Eleganz und Feinheit des Gebäu-des zu erreichen. Mit Blick auf den hohen gestal-terischen Anspruch des Projekts läge es nahe, auch die Dachkonstruktion mit dem Gehäuse ei-ner Rolex-Uhr vergleichen. Es offenbaren sich aber eklatante Unterschiede des Handwerks, die man nennen muss: hier ein Gehäuse äußers-ter Präzision, dort eine Mischkonstruktion aus Stahl, Brettschichtholz, Trapezblech und einer Kunststoffmembran. Diese Konstruktion ist ohne Reiz, sie wurde – die Baustellenfotos zeigen es – einfach nur entsprechend der Vorgaben zu-sammengeschustert und anschließend den Wün-schen der Architekten folgend komplett nach allen Seiten hin kaschiert, damit sie sich der Bo-denscheibe angleicht.

Die Wirkung der Räume ist erhebend. Schon beim Eintritt lässt man sich es nicht nehmen, den ersten leichten Gebäudehügel zu erklim-men. Wie in der Natur gibt jede Hügelkuppe neue Blicke frei, hier in andere, noch zu entde-ckende Bereiche, in die vielen großen und klei-nen Innenhöfe und immer wieder nach draußen, denn die Zwischenzone der beiden Scheiben ist komplett verglast. Die faszinierende Erkun-dung des durchlöcherten Gebäudes scheint kein Ende zu finden; immerhin misst das Recht-eck 166 x 121 Meter.

Die Reize der Hügellandschaft wurden von den Besuchern sofort angenommen. Dass der buckelige Raum mit teilweise erheblichen Stei-gungen auch Zwänge ausübt, ist nicht zu über-sehen. Es zeigt sich an den schlängelnden Ram-pen und vor allem an den beiden Lastenaufzü-gen mit Loren, die ältere oder unsicher laufende Gäste, Bücher und den Nachschub für die Kü-chen nach oben transportieren. Kazuyo Sejima wollte keine zusätzlichen Stützen zwischen den Scheiben. Sie war an diesem Punkt sehr strikt. Einige musste sie dann doch akzeptieren (Ab-grenzung Bibliothek etwa). Der Eindruck von Leere suggeriert Ruhe und Meditation. Der Raum wirkt streng reduziert und schlicht – japanisch karg nach allen Regeln der Kunst. Zugrunde liegt dieser Kargheit allerdings ein hochkomple-xes, nicht sichtbares Bausystem. Ehrlich ist das nicht. Sebastian Redecke

Weltuhr im Learning Center in Lausanne, daneben moto-risierte Besucherschlitten für die Überwindung der Hügel.

Fotos: Kaye Geipel

Bauwelt 33 | 201040 Thema Von Tokyo nach Venedig Bauwelt 33 | 2010 41

Tadao Ando

Punta della Dogana

Venedig , Italien

2009

Arata Isozaki

New Bologna Station

Bologna , Italien

2014

Riken Yamamoto

The Circle at Zürich Airport

Zürich , Schweiz

2010-

Junya Ishigami

Yohji Yamamoto street store

New York , USA

2008

Kengo Kuma

Sun li tun SOHO

Peking , China

2010

SANAA

Louvre-Lens

Lens , Frankreich

2005-

CAt

Ho Chi Minh City University of Architecture

Ho Chi Minh , Vietnam

2013

Shigeru Ban

Paper Tea House

London , Großbritannien

2008

Yoshio Taniguchi

MoMA

New York , USA

2006

Toyo Ito

The Main Stadium for the World Games

Kaohsiung , Taiwan

2009

Fumihiko Maki

World Trade Center Tower 4

New York , USA

2012

Atelier Bow-Wow

Droog Town House

Amsterdam , Niederlande

2009-

JAPAN

New York

Mexiko

Sao Paolo

Shanghai

Taipei

Singapur

Paris

Berlin

MadridBeijing

Seoul

London

Moskau

Kiew

Dubai

Los Angeles

Projektstatus

1

5

fertigestellt in Planung Ausstellung

Fertigstellung 2005 - 2010

Fertigstellung 2010- 2015

134 Projekte = 100%

Fertigstellung 2005 - 2015187 Projekte = 100%

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Kulturbauten

Projekte

Bürobauten

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Bildungsbauten

Masterpläne

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Geschosswohnungsbau

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Shops & Geschäftsbauten

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Japanische Architektur und die Globalisierung – welt-weit umgesetzte Projekte.Die Kartierung wurde auf Grundlage von Veröffentli-chungen in Fachzeitschrif-ten, Monografien und im In-ternet sowie nach Angaben der Büros erstellt. Sie erhebt keinen Anspruch auf Voll-ständigkeit.

Verfasser: Diana Bico, Moritz Caesar Kühl, Anika Neubauer, Dirk Terefer

Bauwelt 33 | 201042 Thema Von Tokyo nach Venedig Bauwelt 33 | 2010 43

Kapitel 18: Revolte gegen die Tradition | Die Anfänge der Architektin Kazuyo Sejima

Etwas schockieren könnte es schon, dass Kazuyo Sejima nie eine „architektonische“ Ausbildung im eigentlichen Sinn absolviert hat. Ganz kor-rekt ist diese Angabe allerdings auch nicht, es kommt ganz auf den Standpunkt an. Während ihres Studiums beschäftigte sich Sejima mit den Themen Wohnen, Innenausstattung und Möbel-design – nicht aber damit, was man klassischer-weise Architektur nennt.

Während ihres Studiums von 1979 bis 1981 an der privaten Frauenuniversität Nihon Joshi Daigaku konzentrierte sich Sejima auf die Ge-staltung von Wohnungen und Innenräumen. In diese Zeit fielen aber auch schon weitere Ak-tivitäten: Mitarbeit im Büro von Toyo Ito und ein Besuch an der Fakultät für Innenarchitektur der Tokyo Zokei University, Hochschule für Kunst und Design in einem der Außenbezirke der Hauptstadt nach Bauhaus-Vorbild.

Der Akademiker Koji Taki (*1928), heraus-ragender Theoretiker und profunder Kenner der Angewandten Kunst von Fotografie bis Archi-tektur, las damals über die Geschichte des west-lichen Möbeldesigns, und Sejima versäumte trotz der langen Anfahrt von zwei Stunden keine seiner Vorlesungen. Auf Takis Anraten hin nahm

sie außerdem an einem Entwurfsseminar für In-terior Design teil, beugte sich zweimal in der Wo che zusammen mit den jüngeren Semestern der Fakultät über Entwürfe und Gestaltungs-aufgaben. Selbst in Japan ist die eher überra-schende Tatsache, dass sich Sejima während ihres Studiums auch mit Möbeldesign befasste, wenig bekannt.

Sejimas Interesse an Taki gründete auf der Tatsache, dass er die Wohnhausentwürfe von Kazuo Shinohara (1925–2006) fotografisch do-kumentiert hatte, eines Architekten, den sie von Anfang an sehr bewundert hat. Auch wenn der Begriff „Architektur“ immer noch in erster Linie auf öffentliche Gebäude angewandt wurde, meldeten sich Architekten wie Shinohara und eine Gruppe von Gleichgesinnten, zu denen un-ter anderen Taki und Ito gehörten, mit vernich-tenden Kritiken an Zeit genossen in Bezug auf in- dividuellen Wohnungsbau, Kunst und Eigen-ständigkeit zu Wort. In den 70er Jahren wurde der Begriff des „Öffentli chen“, so wie er bis da-hin verstanden wurde, in Frage gestellt. Shino-hara und seine Gruppe waren es, die als Erste die Revolte ge gen eine Architekturtradition an-zettelten, die hinter der Zeit zurückgeblieben war – dass Sejima sich ih nen anschloss, war nur eine Frage der Zeit.

1956 geboren und in einer „Company Town“ in der Provinz aufgewachsen, erschien Sejima eine soziale Bezugnahme auf Struktu-

ren, die sich über die lokale Herkunft oder über einen nationalen Kontext definieren, als schlicht widersinnig. Für Sejima erschließt sich gültige Realität ausschließlich aus ihrer eigenen Per-son – und aus dem, was in ihrer unmittelbaren Reichweite greifbar ist. Der Ausgangspunkt ih rer Arbeit liegt im Nachdenken, wie Architek-tur aus diesen beiden Voraussetzungen her-leitbar ist.

Bereits während ihrer Studienjahre hat Sejima also das etabliert, was später den Fokus ihrer architektonischen Denkens bilden sollte. Die Basis sind ihre Studien zu Wohnen, Interi-eurs, Möbeln – und in der Folge dann auch zum eigenen Körper.

Sejima entwickelte Architektur, indem sie Möbel als Ausgangspunkt nahm. Ein prägnan-tes Beispiel dafür findet sich in ihrem frühen Wohnungsbauentwurf Plattform II (1990), der ausschließlich aus einem losen Arrangement von Einheiten besteht, die Möbel und tragende Struktur zugleich sind. Plattform II steht für Sejimas Versuch, einen Raum aus kleinstmögli-chen Elementen heraus zu konstituieren. Der so vermittelte Eindruck fassbarer Realität be-ruht auf der präzise beobachteten, in Frage ge-stellten und dann neu gedachten Beziehung zu sich selbst und dem umgebenden Mobiliar. Ge-nau hier liegt die Essenz von Sejimas minima-listischem Ansatz, aus dem sich all ihre späte-ren Projekte herleiten lassen. Kazuaki Hattori

Kapitel 19: Denkmal für Sejima | Die Architektin im Park von Versailles

Kazuyo Sejima und die Architektur des Schlos-ses von Versailles? Ein Gedanke, der sich ei-gentlich verbietet. Von der Westfassade des Palastes abgewandt, richtet Kazuyo Sejima ihren Blick auf den Park von Le Nôtre; den An-blick barocker Opulenz hat ihr offenbar doch niemand zumuten wollen. Zusammen mit zehn weiteren Skulpturen renommierter Baumeis-ter war die Plastik der japanischen Architektin im Herbst 2009 Teil einer Ausstellung von Xavier Veilhan, dem französischen Bildhauer, Fotografen und Installationskünstler. Neben weiteren im Park und Schloss verteilten Kunst-objekten hat sich Veilhan an die zeitgenös-sischen Baumeister herangewagt. Die von ihm ausgewählten Architekten mussten dafür wie in früheren Zeiten Modell stehen. Die Zeit war im Verhältnis zu den Sitzungen bei den Bild-hauern der vergangenen Jahrhunderte aller-dings verkürzt. Die Architek ten posierten auf einem sich drehenden Tablett und wurden dann von Scannern allseits erfasst. Den eben-falls angefragten Architekten Rem Koolhaas und Herzog & de Meuron war dies zu kompli-ziert. Sie haben abgelehnt.

Die Plastiken goss Xavier Veilhan dann in Aluminium. Überraschend ist die unterschied-liche Ausführung, die Veilhan den Architekten zukommen ließ. Manche sind detailgetreu ab-gebildet, wie etwa Claude Parent, der Meister der plastischen Gestaltung des Stahlbetons in den 60er Jahren, manche wurden auf bloße geo-metrische Formen reduziert, wie etwa Richard Rogers. Wie viel Analogie steckt in der Archi-tekturauffassung der Dargestellten und ihrer skulptural bearbeiteten Form? Dass gerade Ka-zuyo Sejima mit ihrem Faible für präzise, hoch-schlanke Elemente auf einem grob geformten offenen Sockel ins Rutschen gekommen scheint, muss verblüffen. Immerhin: Die mönchhafte Gestalt ist insgesamt gut getroffen. Nach ihrer Präsenz in Versailles ging die Skulptur – zusam-men mit einer Reihe anderer Architekten – in das Eigentum eines koreanischen Kunstsamm-lers über. Wir hätten uns das Kunstwerk von Sejima eher vor dem japanischen Pavillon in den venezianischen Giardini gewünscht. Eine Gele-genheit böte die nächste Architekturbiennale im August 2012. Lydia Kotzan

Kartierungen über das Büro SANAA als Gruppenmodell: links „Spannungsfelder“, Mitte „Versuch einer objekti-vierten Erfüllungsskala“, rechts Raumdisposition Mit-

Kazuyo Sejima in der Umge-bung von Le Nôtre. Demnächst in Venedig?

Foto: Alice Bénusiglio © VG Bild-Kunst, Bonn 2010

arbeiter und Architektur-modelle.

Zeichnung links und Mitte: Marie Tzschentke, rechts: Nico Schlapps