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KARL JASPERS ·PHILOSOPHIE· DRITTE AUFLAGE I. PHILOSOPHISCHE WELTORIENTIERUNG

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KARL JASPERS ·PHILOSOPHIE· DRITTE AUFLAGE

I. PHILOSOPHISCHE WELTORIENTIERUNG

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KARL JASPERS

PHILOSOPHIE

I

PHILOSOPHISCHE WELTORIENTIERUNG

Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH 1956

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DOI

ISBN 978-3-662-42791-0 ISBN 978-3-662-43069-9 (eBook)

DOI 10.1007/978-3-662-43069-9

ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER OBERSETZUNG IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN

OHNE AUSDROCKLICHE GENEHMIGUNG DES VERLAGES IST ES AUCH NICHT GESTATTET, DIESES BUCH ODER TEILE DARAUS

AUF PHOTOMECHANISCHEM WEGE (PHOTOKOPIE, MIKROKOPIE) ZU VERVIELFĂLTIGEN

@BY SPRINGER-VERLAG BERLIN HEIDELBERG 1956

ORIGINALLY PUBLISHED BY SPRINGER-VERLAG OHG. BERLIN, GdTTINGEN, HEIDELBERG IN 1956

SOFTCOVER REPRINT OF THE HARDCOVER 3RD EDITION 1956

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GERTRUD JASPERS

GEWIDMET

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Vorwort Philosophie, das Wagnis, in den unbetretbaren Grund menschlicher

Selbstgewißheit zu dringen, müßte als Lehre der für jedermann ein­sichtigen Wahrheit in die Irre geraten. Zwar kommt es ihr selbst darauf an, zu begreifen, was zwingend wißbar ist; aber sie wiederholt weder, was in den Wissenschaften erkennbar wurde, noch tritt sie mit eigenem Gegenstand und gleichem Anspruch in deren Bereich. Im Philosophieren ist nicht noch einmal die Befriedigung zu erwarten, welche die Sachkunde von Dingen in der Welt gewährt. In ihm wird mehr gesucht und gefordert: Das Denken, das mein Seinsbewußtsein verwandelt, weil es erweckend mich zu mir bringt in den ursprüng­lichen Antrieben, aus denen im Dasein handelnd ich werde, was ich bin. Das vermag kein objektives Wissen. Wie dieses gemeint ist, ist es vielmehr eines der Momente des Seinsbewußtseins, das im Philoso­phieren sich erzeugt.

Philosophie, in der Idee die vollendete Helligkeit des Seins am Ursprung und Ende aller Dinge, begriff sich, obgleich in der Zeit stehend, als zeitlose Kristallisation des Zeitlosen. Jedoch ist Philoso­phieren der Weg des Menschen, der, geschichtlich in seiner Zeit, das Sein ergreift. Nur in dieser Erscheinung, nicht an sich selbst ist es ihm zugänglich. Im Philosophieren spricht sich ein Glaube ohne jede Offenbarung aus, appellierend an den, der auf demselben Wege ist; es ist nicht ein objektiver Wegweiser im Wirrsal; ein jeder faßt nur, was er als Möglichkeit durch sich selbst ist. Aber es wagt die Dimension, welche Sein im Dasein für den BlickaufTranszendenz zumLeuchten bringt. In einer Welt, die in allem fragwürdig geworden ist, suchen wir philosophierend Richtung zu halten, ohne das Ziel zu kennen.

Zwar führt auf den Weg zum philosophischen Selbstbewußtsein die eigene Lebensführung erst im Hören der wenigen großen Philo­sophen, welche aus der Vergangenheit zu uns sprechen. Weil aber Philo­sophie nicht schon wirklich ist als Wissen von früherer Philosophie, muß jederzeit aus gegenwärtigem Ursprung philosophiert werden. Das Philosophieren der Zeitgenossen macht sichtbar, wie der Mitlebende

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im Dasein sich hilft. Die in denselben Möglichkeiten einer Seins­erfüllung sind, können einander sagen, was nirgends sonst gehört wer­den mag. Erst ein gegenwärtiges Philosophieren vermag vergangene philosophische Größe verwandelnd zu neuer Gegenwart zu bringen.

Philosophie, das Ziel wahrer Gemeinschaft selbstseiender Men­schen, war das Werk von Einzelnen, welche in unerhörtem Über­schwang ihres Schmerzes und ihrer Gewißheit aus einsamer Ferne uns Kunde gaben, ohne uns aufzufordern, ihnen zu folgen. Aus der un­wiederholbaren Einmaligkeit zeigten sie uns, was sie erfuhren. Sie selbst waren gleichsam Opfer, durch deren ins Gedachte übertragene Gesichte vermittelt uns gegeben wurde, was in ungefährlicherem Schicksal nie sichtbar geworden wäre. In unserem Philosophieren ver­ehren wir, was so Menschen möglich war. Wir möchten jedes Wort hören, das uns von dort her kommt; eine wißbare Ordnung für die einzig wahre zu halten, ist uns durch sie unmöglich geworden. Aber wir selbst philosophieren nicht aus der Einsamkeit, sondern aus der Kommunikation. Uns wird der Ausgangspunkt: wie der Mensch zum Menschen, als Einzelner zum Einzelnen, steht und handelt. Gefährten in ihrer Verbundenheit scheinen wie eigentliche Wirklichkeit in unserer Welt. Aus Kommunikation entspringen die lichtesten Augenblicke, in ihrer Folge das Gewicht des Lebens. Mein Philosophieren verdankt allen Gehalt denen, die mir nahe traten. Es hält sich für wahr in dem Maße, als es Kommunikation fördert. Der Mensch kann sich nicht über den Menschen stellen; an ihn kommt nur, wer ihm auf gleichem Niveau begegnet; er kann ihn nicht lehren, was er soll, aber mit ihm finden, was er will und ist; er vermag mit dem Anderen solidarisch zu sein in dem, wovon Dasein beseelt sein muß, wenn es sich uns zum Sein wandelt.

Unser Philosophieren wurzelt in der Tradition freien Denkens der vergangeneu Jahrtausende. Als Klarheit des griechischen Philosophen, als Haltung des nördlichen heroischen Gemüts und als die Tiefe der jüdischen Seele war längst, was wieder durchbricht, unserem Dasein seine Richtung zu weisen. Von daher geführt, verdankt mein Philo­sophieren, wie natürlich, die Grundgedanken den Philosophen, in deren aneignendem Verständnis es erwachsen ist. Zwar nimmt es selten auf sie ausdrücklich Bezug. Aber ich nenne die erlauchten Namen: Kant, den Philosophen schlechthin, keinem anderen vergleich­bar in dem Adel seiner besonnenen Menschlichkeit, die sich offenbart als die Reinheit und Schärfe seines unendlich bewegten Denkens, durch das auf keinen Grund zu stoßen ist; Plotin, Bruno, Spinoza, Schelling,

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die großen Metaphysiker als Schöpfer zu Wahrheit werdender Träume; Hege/ in seinem Reichtum an erblickten Gehalten, die er mit einziger sprachlicher Kraft in konstruktivem Denken zum Ausdruck bringt; Kierkegaard, den in der Wurzel Erschütterten, dessen Redlichkeit vor dem Nichts aus der Liebe zum Sein als dem anderen Möglichen philo­sophiert; W. v. Humboldt, die Verkörperung deutscher Humanitas in der Weite einer großen Welt; Nietzsche, den Psychologen und unerbitt­lichen Enthüller aller Täuschungen, der inmitten seiner glaubens­losen Welt der Seher geschichtlicher Substanzen wurde; Max Weber, der der Not unserer Zeit ins Auge blickte, und sie mit umfassendem Wissen erkannte, in einer zerfallenden Welt sich auf sich selbst stellend.

Im gegenwärtigen Philosophieren handelt es sich wie von jeher um das Sein. Es kreist um einen Pol, den es nie gradezu betritt. Es ist der immer wieder ansetzende V ersuch, im Kreisen dennoch den Pol zu treffen. Daher ist es stets ganz oder gar nicht. Es bemüht sich um ein Maximum an Direktheit; was schlechthin nicht eingeht in Wissen und Form, bleibt indirekt wider Willen.

Der Sinn des Philosophierens ist ein einziger als solcher unaus­sagbarer Gedanke: das Seinsbewußtsein selbst; es müßte in diesem Werke von jedem Kapitel her zugänglich sein; jedes soll im Kleinen das Ganze sein, aber läßt jeweils im Dunkel, was erst durch die übrigen sich erhellt.

Philosophieren hat seine eigentliche Konsequenz in einem nicht ursprünglich logischen Fortschreiten, doch müßte es sich ohne Be­wußtheit der Weisen des Denkens und des gültigen Wissens ver­stricken. Die philosophische Logik, welche dem hier vorgelegten V er­such zugehört, wird an wesentlichen Stellen angedeutet; sie ist aber in methodischer Entwicklung einem anderen Buche vorbehalten. Logik kann das spezifisch philosophische Denken bestimmen, aber nicht rechtfertigen; denn es muß sich selbst tragen.

Meinem Freunde, dem Arzte Ernst Mqyer, danke ich seit unserer Studentenzeit eine Gemeinsamkeit des Philosophierens. Bei der Aus­arbeitung dieses Werkes war er durch schöpferische Kritik wirksam. Er brachte mir im zweifelnden Augenblick, der immer von neuem die unerläßliche Artikulation im Gang des Denkens ist, kommunikative Gewißheit.

Heidelberg, September 1931 Karl Jaspers

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Inhaltsübersicht des Gesamtwerkes Erster Band

Einleitung in die Philosophie

Kapitel Erstes Buch: Philosophische Weltorientierung 1. Welt 2. Greru;en der Weltorientierung 3· Systematik der Wissenschaften 4· Sich schließende Weltorientierung (Positivismus und Idealismus) ~. Ursprung der Philosophie 6. Daseinsform der Philosophie 7. Philosophie im Sichunterscheiden

Zweiter Band

Zweites Buch: Existenzerhellung I. Existenz

Erster Hauptteil: Ich selbst in Kommunikation und Geschichtlichkeit

z. Ich selbst 3. Kommunikation 4· Geschichtlichkeit

Zweiter Hauptteil: Selbstsein als Freiheit ~· Wille 6. Freiheit

Dritter Hauptteil: Existenz als Unbedingtheit in Situation Bewußtsein und Handlung

7. Grenzsituationen 8. Absolutes Bewußtsein 9· Unbedingte Handlungen

Vierter Hauptteil: Existenz in Subjektivität und Objektivität

Io. Die Polarität von Subjektivität und Objektivität I I. Gestalten der Objektivität' 12. Existenz unter Existenzen

Dritter Band

Drittes Buch: Metaphysik I. Transzendenz 2. Das formale Transzendieren 3. Existentielle Bezüge zur Transzendenz 4· Lesen der Chiffreschrift

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Inhaltsübersicht des ersten Bandes

Vorwort ................. .

Nachwort (19S5) zu meiner "Philosophie" (1931)

Einleitung in die Philosophie

Ausgang des Philosophierens von unserer Situation

Seite

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Erster Teil: Das Suchen des Seins . . . . . . . . 4

Allgemeine, formale Seinsbegriffe (Objektsein, Ichsein, Ansichsein) 4

Die Aufgabe der Daseinsanalyse als Bewußtseinsanalyse . . . . . 6 I. Bewußtsein als Gegenstandsbewußtsein, Selbstbewußtsein, daseiendcs Bewußt-sein. S. 7 - 2. Möglichkeiten der Bewußtseinsanalyse. S. 9 - ~· Bewußtsein als Grenze. S. 12

Abheben der Existenz I. Ich als empirisches Dasein, als Bewußtsein überhaupt, als mögliche Existenz. S. I 3 2. Existenz. S. Ij - 3. Welt und Existenz. S. I7

Das Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Erscheinung und Sein. S. I9 - 2. Die vielfachen Seinsweisen und das Sein. S. u

Zweiter Teil: Das Philosophieren aus möglicher Existenz . 24

Zugehen auf Existenz . . . . . . . . . . . . . . 2~

Gliederung des Philosophierens. . . . . . . . . . 2 7 I. Weltorientierendes Denken. S. 28 - 2. Existenzerhellendes Denken. S. 3I -

~·Metaphysisches Denken. S. ~3

Dritter Teil: Die Weisen des Transzendierens als Prinzip der Gliederung 36

Transzendieren überhaupt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 x. Überschreiten der Gegenständlichkeit. S. 37 - 2. Dasein und Transzendieren. S. ~8 3· Erscheinungshaftigkeit des Daseins. S. 40 - 4· Weisen des TranS2endierens. S. 44

Transzendieren in Weltorientierung, Existenzerhellung und Metaphysik . . . 44 I. Transzendieren in der Weltorientierung. S. 44 - 2. Transzendieren in der Existenz­erhellung. S. 46 - 3· Transzendieren in der Metaphysik. S. 48 - 4· Die drei Weisen des Transzendierens gehören zueinander. S. j 2

Vierter Teil: Übersicht über die Gebiete des Philosophierens

Welt

I. Wege der philosophischen Weltorientierung. S. 53 - 2. Wege der Existenzerhel­lung. S. 55 - 3· Wege der Metaphysik. S. n

Erstes Buch: Philosophische Weltorientierung

I. Ich und Nichtich. S. 6I -2. Untrcnnbarkeit von Ich und Nichtich. S. 6I - ~· Sub­jektives Dasein und objektive Wirklichkeit. S. 62 - 4· Weder subjektives Dasein noch objektive Wirklichkeit werden zur Einheit einer Welt. S. 63 - j. Daseinsverwirk­lichung und Weltorientierung sind Wege der Existenz zu sich selbst und zur Trans­zendenz. S. 6j

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Seite Welt als subjektives Dasein und als objektive Wirklichkeit . . . . . . . . . 65

1. Das unmittelbare Daseinsganze. S. 66 - 2, Die eine allgemeine Welt. S. 67 -3· Rückkehr zum Dasein als meiner Welt. S. 69 - 4· Dasein als Existenzobjektivität. S. 70 -. 5· Zusammenfassung. S. 70-6. Welt als objektive Wirklichkeit. S. 71 7· Daseinswirklichkeit und objektive Welt sind nur eine durch die andere. S. 74

Welt als gegeben und als hervorgebracht 76

Weltall und Weltbild . 78

Welt und Transzendenz Sr

Grenzen der Weltorientierung 85

Die Relativität des Zwingenden 89 r. Die Grenzen der drei Arten des Zwingenden. S. 89 - 2. Zwingendes Wissen und Existenz. S. 93

Die unüberwundene Endlosigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 1. Überwindung der Endlosigkeit in der Methode. S. 95 - 2, Überwindung der End­losigkeit in der Wirklichkeit. S. 99 - 3· Idee und Antinomien. S. 101 - 4· End­losigkeit und Transzendenz. S. 102

Die Unerreichbarkeit der Einheit des Weltbildes . . . . . . . . . . . . . 104 r. Die vier Wirklichkeitssphären in der Welt. S. 104 - z. Das Zugrundeliegende ist ohne Einheit. S. toS - 3· Die Einheit als Idee. S. 110 4· Einheit der Welt und Transzendenz. S. 115

Grenzen zweckhaften Handeins in der Welt .... 1. Die Grenzen im technischen Machen, im Pflegen und Erziehen, im politischen Han­deln. S. 116 - z. Die Utopie einer vollendeten Welteinrichtung und die Transzendenz. S. 120- 3· Ein Beispiel: ärztliche Therapie. S. 121

rr6

Der Sinn der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . r 29 r. Daß Wissenschaften zusammengehören zur Einheit des Wissens. S. 129 - 2. Wis­senschaft und Metaphysik. S. 132 - 3· Der Sinn der Wissenschaft in der spezifischen Befriedigung des forschenden Menschen. S. 136 - 4· Der Wert der Wahrheit. S. '4'

Transzendieren über die Welt . . . . . 145

Systematik der Wissenschaften 149

Die ursprünglichsten Teilungen der Wissenschaften . . . I 53 1, Die Aufgabe. S. 153 - 2. Wissenschaft und Dogmatik. S. 155 - 3· Einzelwissen­schaft und Universalwissenschaft. S. IS 9 - 4· Wirklichkeitswissenschaften und konstruierende Wissenschaften. S. 163 - 5· Teilungen und Verflechtungen der Wis­senschaften. S. 165

Prinzipien einer Gliederung der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 165 1. Natur und Geist. S. 165 - 2. Grenzen zum Unzugänglichen. S. 166- 3· Vierfache Wirklichkeit. S. 167 - 4.Diedrei Sprünge. S. 168 - 5· Sprungund Übergang. S. 171 6. Leugnung, Verabsolutierung und Vereinfachung dieser Wirklichkeiten. S. 173

Sphären des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 I. Mögliche Sphäreneinteilungen. S. 176- 2, Kampf der Sphären. S. tSo - 3· Auf­hebung der Sphären. S. 18 3

Gliederung der Wirklichkeitswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . 185 1. Allgemeine Einteilung der Wirklichkeitswissenschaften. S. 18 5 - 2. Naturwissen­schaften. S. 186 - 3· Geisteswissenschaften: a) Verstehen und Existenz; b) Verstehen und Wirklichkeit. S. 188 - 4· Einteilung der Natur- und Geisteswissenschaften. S. 195 5. Empirische Universalwissenschaften: Psychologie und Soziologie. S. 200

Rangordnung der Wissenschaften . . . . . . 206

Das Wissen versteht sich in seiner Geschichte 209

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Seite

Sich schließende Weltorientierung (Positivismus und Idealismus) 2IZ

Positivismus . . 213

Gegen den Positivismus . 216 I. Verabsolutierung des mechanistisch denkenden Verstandes. S. 2I6 -2. Der-metho-disch falsche Schritt vom Besonderen auf Alles. S. 217 - 3· Unmöglichkeit, an der Einheit empirischer Wirklichkeit festzuhalten. S. 2 I 8 - 4· Der Wahrheitsbegriff zwin­genden Wissens wird fälschlich verabsolutiert. S. 2 I 9 - 5. Der Positivismus kann sich selbst nicht begreifen. S. 220 - 6. Sinnwidrigkeit der Selbstrechtfertigung positivisti-schen Lebens. S. 22 I

Idealismus . . . . . . . .

Positivismus und Idealismus gegeneinander

Das Gemeinsame .

Ihre Grenzen. . . I. Positivismus und Idealismus meinen im Prinzip alles zu wissen. S. 23 I -2. Entschei­dung hat ihren Ursprung verloren. S. 232 - 3· Die bemerkte Grenze wird faktisch zum Vergessen gebracht. S. 233 - 4· Aufschwung der Existenz als Grenze. S. 235

Ihr philosophischer Wert . . . . . . . . . . I. Im Dienst existentiellen Philosophierens. S. 236 - 2. Bildung als Wert und Ver­sagen. S. 237 - 3· Es bleiben zwei Wege. S. 239

222

226

228

Ursprung der Philosophie . . . 240

Weltanschauung . . . . . . . . 241

I. Sinn von Weltanschauung. S. 24I - 2. Betrachten und Sein der Weltanschauung. S. 242 - 3· Relativismus, Fanatismus, Bodenlosigkeit. S. 243 - 4· Standpunkt und Selbstsein. S. 244

Glaube und Unglaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 I. Beispiele formulierten Unglaubens. S. 247 - 2. Der unvermeidliche Rest im formu­lierten Unglauben. S. 250 - 3· Argumente gegen den formulierten Unglauben. S. 250 4. Fruchtbarkeit des Unglaubens. S. zp - 5· Der Glaube im Unglauben und der Unglaube im Glauben. S. 252 -6. Die eigentliche Glaubenslosigkeit. S. 254

Das Eine und die Vielheit der geistigen Daseinssphären . . . . . . 2 55

Daseinsform der Philosophie

Der für Existenz im Dasein situationsnotwendige Charakter der Philosophie 264

I. Daseinsenge und Ganzheit. S. 264 - 2. Einfachheit. S. 266 - 3· Philosophie als Zwischensein. S. 268- 4· Philosophie als Kümmern um sich selbst. S. 270

Philosophie und System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

I. System in der Wissenschaft und im Philosophieren. S. 272 - 2. Der mehrfache Sinn des Systems im Philosophieren. S. 274 - 3· Das System in der Situation des Zeitda-seins. S. 275 - 4· Frage nach der Wahrheit in der Systematik des eigenen Philoso­phierens. S. 277

Philosophie und ihre Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

I. Die Gegenwärtigkeit des V ergangenen. S. 28I - 2. Aneignen. S. 285 - 3· Lehre und Schule. S. 287

Philosophie im Sichunterscheiden

Philosophie und Religion . . . . .

I. .Äußere Charakteristik der Religion. S. 295 - 2. Philosophie im Sichunterscheiden von Religion. S. 297 - 3· Die realen Konflikte: a) Konflikt im Verhalten zum Wissen; b) Konflikt im Verhalten zur Autorität. S. 303 - 4. Zusammenfassung über die Rich­tungen des Kampfes. S. 3 I I - 5. Philosophie und Theologie. 3 I 2 - 6. Unbedingtheit von Religion und Philosophie gegen die Vielfachheit eigengesetzlicher Sphären. S. 3 I 5

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Seite Philosophie und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

I. Die Selbstunterscheidung der Philosophie von Wissenschaft. S. 3 I 8 - 2. Polari-täten des Philosophierens in der Bewegung des Wissenwollens. S. 3 2 I - 3. Der Kampf der Philosophie um Wissenschaft. S. 328

Philosophie und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . .

XN

I. In welchem Sinn Kunst eigenständig ist. S. 3 30 - 2. Philosophie und Kunst im An­eignen. S. 33I - 3· Philosophie und Kunst im Hervorbringen. S. 333-4. Philosophie und Kunst im Werke. S. 334 - l· Ästhetische Unverbindlichkeit. S. 336-6. Philo­sophie in Kampf und Bündnis mit Kunst. S. 3 38

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Nachwort (195 5) zu meiner "Philosophie" (193 1)

Die "Philosophie", die hier in dritter Auflage erscheint, ist mir das liebste meiner Bücher. Da Jahrzehnte seit seinem Abschluß vergangen sind, darf ich mich besinnen, an die Entstehung des Buches denken und an seine Absicht.

Erfahrung lehrt den Autor, wie sein Buch verstanden und miß­verstanden wurde. Werde ich mir der gegnerischen Mächte bewußt, so frage ich mich nach dem Sinn der Gegnerschaft in der Philosophie und nach der Möglichkeit einer philosophischen Polemik überhaupt.

Erfahrung lehrt den Autor weiter, wie das, wofür er denkt, in der Welt wirkt. Es zeigt sich ihm, wie sein Denken zusammentrifft mit anderem Denken der Zeit und dadurch teilnimmt an dem Gang des Philosophierens, aber auch, wie geringfügig oder verschwindend es in der Breite öffentlichen, auf Handeln und Geschehen wirksamen Denkens erscheint. Es ist die große Frage nach der Schwäche der V emunft, das heißt der Philosophie, in der Welt.

Von diesen Punkten - dem Sinn des Buches, der Möglichkeit phi­losophischer Polemik, der Schwäche der V emunft soll kurz die Rede sein. Wo es mir nicht unangemessen scheint, wage ich gelegentlich den Gedanken durch biographische Erinnerung zu veranschaulichen.

I. Der Sinn dieses Buches

Diesen Sinn versuche ich deutlicher zu machen durch einen Bericht über die Entstehung des Buches. Im Rückblick vermag ein Autor den Gang seiner Arbeiten, der keineswegs am Anfang geplant war, am Ende zu verstehen, als ob er geplant sei. Er meint zu sehen, wie die Sache aus ihrer eigenen Natur heraus sich zum Bewußtsein gebracht hat. Daraus ergibt sich die Absicht des Buches, insbesondere das V er­hältnis von Philosophie und Wissenschaft, das in ihm sich zeigt, und schließlich die Antwort auf die Frage, wie es gelesen werden möchte.

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Die Entstehung dieses Buches

Die Philosophie, die ich 1901 an Universitäten suchte, enttäuschte mich. Sie zeigte, trotz glänzender Vorlesungstechnik und Bildungs­gehalte, nichts von dem, was ich, ahnend aber noch nicht wissend, erwartete. Was als Philosophie vorgetragen wurde, wirkte auf mich als Scheinwissenschaft. Mochte sie noch so gründlich mit verwickelten Gedankengängen operieren, mochte sie geeignet sein, unser Denken zu schulen und genau lesen zu lehren, sie ruhte doch auf fragwür­digen oder ganz unerhellten Selbstverständlichkeiten. Der Boden war sumpfig, der Bau selber zwar exakt, aber noch nicht Philosophie. Ich teilte nicht die offenbare Befriedigung dieser Professoren an einem an entscheidenden Punkten unverständlichen Behaupten (so daß ich mir zuweilen wie dupiert vorkam); und die menschliche Grund­stimmung, die mir darin begegnete, war mir fremd.

Mein Impuls war, mich geistig zu retten. Ich wollte Wissenschaft, reine Luft und Wirklichkeit. Für mich verwarf ich es, Philosophie zu studieren und bald auch, aus philosophischen Vorlesungen von ihr Kunde zu erhalten. Ich wandte mich zu den Naturwissenschaften und der Medizin. Unvermindert blieb die Liebe zu einer Philosophie, die ich nicht kannte, jener Philosophie, die nicht in rationaler Erörterung wunderlicher Probleme aufging, sondern die alles, was wir tun, erst zu bewußtem Sinn bringen kann. Mein Philosophieren beschränkte sich auf die Besinnung in Augenblicken, auf die Stimmung, in der mir der Weltstoff begegnete, auf methodische Erwägungen über den Grund der in den Wissenschaften erforschten Wahrheit. Ich dachte nicht daran, die Philosophie als Beruf zu ergreifen. Was Philosophie sei, darüber dachte ich nicht nach, während ich mich praktisch in ihr übte, mich vergewisserte, was ich liebte, was ich als niedrig mied, was beschwingend im Denken auftauchte als etwas, das mehr ist als "Natur" und "Vernunft".

Ich sah, daß die Philosophie, die doch in den Denkern der Jahr­tausende so offenbar ansprach, wenn man nur in ihre Texte sah (aber in so fremden Kleidem und schwer zu verstehen), in den Schriften meiner Zeit nicht bezeugt wurde. Es gab nur die kritischen Berichte und es gab den merkwürdigen wissenschaftlichen Anspruch einer Weltanschauung.

Den vergleichsweise stärksten Eindruck machte Husserl. Seine phänomenologische Methode hielt ich zwar für kein philosophisches

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V erfahren, sondern, wie er selbst zunächst, für beschreibende Psycho­logie. Als solche nutzte ich sie, machte in der Psychopathologie solche Beschreibungen und formulierte die Methode grundsätzlich für den psychepathologischen Zweck. Ich fand den lebhaften Beifall Husser/s. Als ich ihm sagte, ich habe noch nicht begriffen, was Phänomenologie eigentlich sei, und ihn fragte, was diese Methode gar philosophisch bedeute, antwortete er (1913): "Sie üben die Methode ausgezeichnet aus. Machen Sie nur weiter. Sie brauchen gar nicht zu wissen, was sie ist. Das ist in der Tat eine schwierige Sache." Längst hatte ich Husserls Aufsatz über Philosophie als strenge Wissenschaft im ersten Jahrgang des Logos gelesen, mit Widerwillen. Denn darin schien mir noch einmal, in der Schärfe des Denkens und der Konsequenzen, die Philosophie, die mir wesentlich war, verleugnet. Er wurde mir zur Erleuchtung. Denn ich meinte zu begreifen, daß hier nun aufs deut­lichste der Punkt erreicht sei, wo durch den Anspruch strenger Wis­senschaft alles aufhöre, was Philosophie im hohen Sinne dieses Wortes heißen dürfe. Sofern Husserl Philosophieprofessor war, schien mir aufs naivste und anspruchsvollste der V errat an der Philosophie voll­zogen.

Noch dachte ich nicht daran, selber jemals von Berufswegen zu philosophieren. Ich war Psychiater. Als der Philosoph Lask, dessen Seminar ich besuchte, und mit dem ich offen diskutierte, in persön­lich freundlicher, sachlich feindseliger Haltung eines Tages (19n) mißtrauisch meinte, er wisse ja nicht, was ich noch vorhabe - er meinte Habilitation für Philosophie -, da wunderte ich mich, weil mir das ganz fern lag. Aber ständig griff ich, nicht unberührt von der Penetranz seines ernstgemeinten Denkens, seine Wissenschaft­lichkeit an.

Wenn ich auch nicht daran dachte, die Philosophie zum Beruf einer Lehrtätigkeit zu machen, blieb sie mir doch das Wichtigste und Gegenwärtigste sogar in aller wissenschaftlichen Arbeit. Weil meine Kräfte von den Realitäten in Anspruch genommen waren, konnte ich die Philosophen nur hier und da lesen, nicht studieren. Was das Denken dieser eigentlichen Philosophie sei, wenn diese nicht Wissen­schaft ist, das war mir kein theoretisches Problem, sondern praktische Wirklichkeit.

Erst als der Gang meiner Studien mich über die Klinik und die Psychiatrie zur Psychologie führte und zur Habilitation für dieses Fach in der philosophischen Fakultät (1913), wurde das Problem als

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solches für mich dringlicher. Ich wollte jedenfalls in der Psychologie keine Pseudowissenschaft. Ich lehrte Psychologie nach den strengen Maßstäben und mit dem Willen zur methodischen Klarheit und zwingenden Allgemeingültigkeit der Wissenschaft. Ich sah den wis­senschaftlichen Unfug in dem Betrieb der Psychologie als etwas, das auf geistig tieferem Niveau dieselbe Verwirrung war, die in der über­lieferten Professorenphilosophie den jungen Studenten enttäuscht hatte. Als nun die Möglichkeit einer philosophischen Lehrtätigkeit an mich herantrat, war ich in einer wunderlichen Lage. Unverändert gegenwärtig war mir die Empörung angesichts der Philosophie, die als Wissenschaft auftrat und allgemeingültig zu beweisen unternahm. Das brachte mir das Bewußtsein des Wagnisses -weil der Gefahr für die Redlichkeit - in dem, was zwar nur durch Denken klar, aber nie als Wissenschaft beweisbar ist.

Als ich mich für Psychologie habilitiert hatte (unter ausdrücklichem Ausschluß der Philosophie seitens der Fakultät), war ich selber noch frei von dem Druck der philosophischen Aufgabe, die mir angesichts der Großen durch keine neue Erfüllung wiederholbar schien. Ich lehrte als Dozent Psychologie. Wie ich dabei in die Philosophie geriet, ohne es zu wissen, habe ich im Vorwort zur letzten Ausgabe meiner "Psychologie der Weltanschauungen" geschildert. Als ich 1920 einen Lehrstuhl für Philosophie erhielt, hätte ich mich nach den Gepflogenheiten jener Zeit trotz des Namens des Lehrstuhls aus­schließlich an die Psychologie halten können. Mein Interesse für sie war unverändert groß. Lieber hätte ich damals statt eines philosophi­schen Lehrstuhls die Leitung einer psychiatrischen Klinik und die Lehre in der Psychiatrie übernommen (was ich aus Gründen un­zureichender körperlicher Gesundheit, als es mir angeboten wurde, nicht durfte). Aber ich konnte auch den Namen des Lehrstuhls als die mir nun gestellte Aufgabe auffassen, die Philosophie, welche mir von früher Jugend an als die praktisch wichtigste Sache denkenden Lebens gegolten hatte, durch das Amt zu bezeugen. Ich glaubte zu wissen, daß die Philosophie so, wie ich sie mir als junger Student gewünscht hatte und unverändert noch jetzt für sinnvoll hielt, an der Hochschule nicht wirksam gezeigt wurde. Auch ich war dazu nicht imstande. Wenn ich die eigentliche Aufgabe auch nicht erfüllen kann, dachte ich, so habe ich doch das Recht, beimAusbleiben anderer, der Jugend zu sagen, was Philosophie sein könne, und sie aufmerksam zu machen auf die Größe der eigentlichen Philosophen.

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Als mir (zwingend erst nach 19zo, nach dem Tode Max Webers) die Möglichkeiten vor Augen standen, entweder gegen die eigenen bisherigen Tendenzen selber philosophierend die Philosophie im Lehr­beruf als Professor zu vertreten oder mich weiter auf Psychologie zu beschränken, und als ich mich zur Philosophie entschloß, da war grundsätzlich entschieden erstens: ich habe den Geist der Wissen­schaftlichkeit zu vertreten, habe auch mit wissenschaftlichen Mitteln die Geschichte der Philosophie zu lehren; zweitens: ich habe für die Philosophie zu wirken, die immer war, die sich nicht wissenschaftlich allgemeingültig machen läßt, aber die die Wahrheit trifft, mit der wir leben.

Die Geschichte der Philosophie vorzutragen war die immer zur Verfügung stehende und solide Aufgabe des Lehrberufs. Aber diese Überlieferung verliert ihren Sinn, je mehr sie die großen Philosophien als Doktrinen auffaßt, die rational richtig oder falsch, und die lernbar sind. Es kommt auf den Umgang mit den Philosophen an, um in ihren Doktrinen zu spüren, was durch sie als existentieller Wille zum Aus­druck kommt. Daher war die Aufgabe, Denkmittel zu entwickeln, um die große Philosophie zu verstehen und anzueignen. Zwar gehört dazu in erster Linie Lernen der Begriffe und Studieren der Zusammenhänge des Gedachten, aber all dies Lernen und Studieren ist ein nutzloses Tun, wenn es nicht aufgenommen wird von den eigentlichen Interes­sen des Menschen. Ich suchte als Lehrer das Gewissen anzusprechen, nicht nur das intellektuelle Gewissen, richtig zu denken, sondern das existentielle, das es für verderblich hält, sich in intellektueller Un­verbindlichkeit mit sogenannten philosophischen Problemen abzu­geben. Meine "Philosophie" sucht die innere Haltung zu erzeugen, aus der ein sinnvoller Umgang mit den Lehren gelingt, die in so großartigen Gestalten historisch vorliegen. Dabei fällt ein großer Teil der philosophischen Literatur als wesenlos fort, weil in ihr nur intellektuell ins Endlose und Beliebige gearbeitet wird, während der andere Teil, aus dem Wirklichkeit und Wahrheit spricht, um so mehr aufleuchtet.

Für diese Aufgabe war mir von größter Bedeutung Kierkegaard geworden. Schon vor 1914 und intensiv im ersten Weltkrieg las ich ihn. Durch ihn war mir klar geworden, in Betroffenheit und Wider­stand, wohin ich in meinem eigenen Dasein gedrängt hatte, aber zu­gleich, was Philosophie heute sein könne. In meiner "Psychologie der Weltanschauungen" (1919) bezog ich mich auf ihn (zugleich mit

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Nietzsche). In meinen Vorlesungen war er eine der großen Gestalten der Vergangenheit (ich war erstaunt, daß er im Bereich der Universi­tätsphilosophie nicht existierte, und daß in den Lehrbüchern der Philo­sophiegeschichte nicht einmal sein Name vorkam). Ich trug vor, was ich seit 192.2. "Existenzanalyse", mit Jacobi und Schelling auch "Ent­hüllung des Daseins", dann nach der Unterscheidung von Existenz und Dasein "Existenzerhellung" nannte.

Beim Referieren Kierkegaards merkte ich, daß er nicht referierbar ist. Ich glaubte durch ihn zu begreifen, was "indirekte Mitteilung" sei, die er wollte, und machte mir seinen "Begriff" der Existenz zu eigen. Aber ich wurde kein Anhänger Kierkegaards. Denn ich blieb nicht nur unberührt von seinem Christentum, sondern spürte in seinen nega­tiven Entschlüssen (keine Ehe, kein Amt, keine Verwirklichung in der Welt, sondern Märtyrerdasein als wesenszugehörig zur Wahrheit des Christentums) das Gegenteil von allem, was ich liebte und wollte, zu tun bereit und nicht bereit war. Seine Auffassung des christlichen Glaubens durch seine Religiosität B (als absurd) schien mir ebenso wie jene praktische Negativität das Ende des geschichtlichen Christen­tums und auch das Ende jeden philosophischen Lebens. Um so er­staunlicher war es, was Kierkegaard in seiner Redlichkeit auf seinem Wege zu sehen und zu sagen vermochte, fast unerschöpflich an er­weckenden Momenten. Eine Philosophie ohne Kierkegaard schien mir heute unmöglich. Seine Größe hielt, das sah ich, den weltgeschicht­lichen Rang neben Nietzsche.

Keineswegs meinte ich eine neue Philosophie bringen zu können oder zu sollen. Die Reihe der Denker, die seit Descartes der Meinung waren, bis zu ihnen sei die Philosophie auf falschem Wege, sie selber brächten nun den rechten, die sich vorstellten, das Gewesene zu durchschauen und zu wissen, was nun durch sie an der Zeit sei, schien mir abgeschlossen. Für die Aufgabe hielt ich vielmehr, die Größe und das Wesen der Philosophie wieder zum Leben zu bringen, aber nicht nur durch historischen Bericht, sondern durch Vergegenwärtigung der philosophischen Antriebe.

Eine Schule durch die Universitätsphilosophie hatte ich nicht ge­nossen - außer einer gastweisen Teilnahme an philosophischen Seminaren von Windelband undLaskund F. A. Schmid zu einer Zeit, als ich an der psychiatrischen Klinik Volontärassistent war. Dieser Mangel war zugleich ein Vorteil. Statt vorzeitiger ausschließlicher Beschäftigung mit Büchern, mit Interpretieren und intellektuellen

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Diskussionen hatte ich die Substanz von Erfahrungen erworben, und hatte eine neue Unbefangenheit, als ich in schon vorgerückten Jahren an das eigentliche Studium der großen Philosophen ging. Im Sinne der ressortmäßigen akademischen Beurteilungen begann ich mein Philosophiestudium, als ich Professor der Philosophie geworden war. Das erforderte eine Unterbrechung meiner Veröffentlichungen und eine neue Konzentration. Fast ein Jahrzehnt habe ich gearbeitet, um mit den Voraussetzungen, die ich mitbrachte, und die mir als wesent­liche stets gegenwärtig blieben, in den Raum zu gelangen, wo philo­sophiert wird.

Das Ergebnis war dieses Buch. Ich nannte es "Philosophie" in dem Sinne, daß es von der Philosophie zeugen solle, dem praktischen Philosophieren, der Verwirklichung der Existenz, daß es den Denk­raum zeigen solle, in dem diese geschehen kann. Es teilt die Voraus­setzungen mit und die innere Verfassung, die mir bewußt wurden in meinen philosophiegeschichtlichen Vorlesungen und Seminaren. Sie wurden daneben in systematischen Vorlesungen im Laufe der Jahre ausdrücklich entwickelt.

Die Aufgabe war, nie das Wissenschaftliche gering zu achten, es in seiner granitnen Wirklichkeit zu bewahren, und nur den eigenen unabhängigen Ursprung des Philosophierens, der selber nicht in der Wissenschaft liegt, aber Wissenschaft fordert und ihr Sinn gibt, zur Geltung zu bringen, das heißt von der eigentlichen Philosophie vor den Studenten zu zeugen.

Das vorliegende Buch ist zwar Element meiner Lehrtätigkeit ge­wesen, aber so, daß in den Vorlesungen zugleich von großen histori­schen Philosophen die Rede war und ihre Werke in Seminaren studiert wurden. Alles, was in meinen Manuskripten sich auf geschichtliche Interpretationen bezog, wurde jedoch bei der Redaktion dieses Buches ausgeschieden.

Die Absicht dieses Buches

Der Titel sagt, daß es in der Mitte meiner Bemühungen als Lehrer der Philosophie steht. Diesen Beruf habe ich anders aufgefaßt und verwirklicht als es meine Kollegen in jenen Jahrzehnten taten.

Es handelt sich um Philosophie als das Denken, das das Leben trägt, das das Handeln im persönlichen Dasein und im Politischen erhellt· und führt. Philosophie, die als wissenschaftliche Forschung

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auftritt, die, unter Voraussetzung eines Fortschritts, vorträgt, was als Besitz des überall gleichen V erstarrdes identisch übertragbar wäre, gilt mir nur, soweit sie, entgegen odertrotzihrem vermeinten Sinn, faktisch jener eigentlichen Philosophie dient. Es handelt sich in diesem Buche nicht um ein System, wenn auch um systematisches Denken, nicht um zu lösende Probleme, wenn auch um Denken, das fragt und antwortet. Und es handelt sich auch nicht um Philosophie als Literatur zum Zwecke ästhetischen Genusses.

Die Absicht, in der ich diese "Philosophie" schrieb, entsprang dem Bewußtsein, zu dem ich einst als Knabe erwachte: daß ich nur leben kann mit dem philosophischen Denken. Die kirchliche Religion hatte (im Unterschied von der Bibel) mich nie angesprochen. Was ich da­mals an Impulsen erfuhr und dachte, ist dasselbe, was mir heute allein Gewicht hat, obgleich natürlich Klarheit und Sprechweise erst sehr spät, erst nach Aneignung von Erfahrung und W eltstoff, und nach Umgang mit den großen Philosophen die gegenwärtige Gestalt an­nahmen. Was ich nach der "Philosophie" veröffentlicht habe, ist aus der gleichen Grundlage, unter anderen Gesichtspunkten, in Hinsicht auf bestimmte Gegenstände erwachsen.

Heute lebe ich in derselben Denkungsart, die in diesem Buche entwickelt ist, als ob keine Zeit mit ihren furchtbaren Erfahrungen zwischen damals und jetzt läge. Das ist gehörig. Denn es handelt sich nicht um Positionen, die korrigierbar wären, sondern um das, was, wenn es überhaupt ist, der Natur der Sache nach unveränderlich bleibt. Es handelt sich um Denkoperationen, die zu vollziehen dies Unveränderliche vergewissern und zu wirksamer Helligkeit bringen läßt. In Positionen, Sätzen und Begriffen mögen beträchtliche Wand­lungen erfolgen, aber ohne die früheren aufzuheben; Fortschritt kann es in der Klarheit geben und im Reichtum der Begrifflichkeit. Das Wesen bleibt.

Daher war bei der Abfassung des Buches meine Absicht, un­abhängig auf das in aller Zeit Zeitlose den Sinn zu richten. Wohl hatte ich von früh an mich auf unser Zeitalter besonnen. Auch während der Arbeit an dieser Philosophie wurden überall auf die Zeit sich bezie­hende Erörterungen eingeflochten. Diese habe ich sämtlich als hier nicht hingehörig ausgeschieden, in dem kleinen Bändchen "Die geistige Situation der Zeit" zusammengebracht und damit gleichzeitig veröffentlicht. Nie aber habe ich das Bewußtsein des Zeitalters zum Ausgang des Philosophierens selbst genommen, etwa gar diesem so

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aufgefaßten Zeitalter genüge tun wollen. Die Philosophie galt mir, obgleich ich nicht wußte, was sie war, und weiß, daß sie niemand hat oder alle auf ihre Weise an ihr teilhaben mögen, als die ewige Philo­sophie.

Wenn der Mensch Thema ist, so glaubte ich damals wie heute an den Menschen als Menschen in seiner Möglichkeit, wie er unter den verschiedenen Bedingungen der Zeitalter und innerhalb dieser Zeit­alter unter den besonderen Bedingungen seiner Lage zur Erscheinung und Verwirklichung gelangen kann.

Die Absicht meines Buches war umfassend unter der Führung der uralten Idee der Philosophie. Welt, Seele, Gott wurden als Welt­orientierung, Existenzerhellung und Metaphysik zu den Themen der drei Teile. Keinen Augenblick habe ich die Existenzerhellung zum all­einigen Thema der Philosophie machen wollen. Die Existenzerhellung war ein unerläßliches Moment des Ganzen, aber nicht das Ganze selber. Als ich in den letzten Jahren vor dem Kriege und im Kriege mein Buch "Von der Wahrheit" schrieb, das aus Gründen der politischen Gewalt erst nach dem Kriege erscheinen konnte, glaubte ich bei der Erörterung von V erabsolutierungen ein Wort zu erfinden, "Existen­tialismus" (S. I 6 5 ), für eine mögliche Entartung der Existenzerhellung. Nach dem Kriege war ich überrascht, die Verwirklichung dessen in Frankreich zu sehen. Den Weg dieses späteren Existentialismus habe ich nicht beschritten oder vorweggenommen. Wenn dieser zeitgemäß war, dann war meine Philosophie unzeitgemäß, und zwar weil sie es von Anfang an und grundsätzlich war. Dieser Existentialismus wurde durch eine literarische öffentliche Meinung zum Phantom einer gemeinsamen modernen Philosophie, die diesen Namen erhielt. Wer heute mit seinem Philosophieren beachtet wurde, gehörte dazu, und mußte sich die Subsumtion gefallen lassen. Denn diese Philosophie galt als die Philosophie der Zeit, als die der Zeit gemäße, und wurde als solche gepriesen oder verdammt.

Meine Absicht war, nach meinen Kräften zu erspüren, was ist, das zu vergegenwärtigen, was seinem letzten Sinn nach zeitlos ist. Die Vergewisserungen in der Folge der Erörterungen dieses Buches, die Denkoperationen sollten dem einen Ziel dienen, den Raum be­treten zu lassen, in dem durch die Unbedingtheit existentiellen Le­bens die Ruhe sich bestätigt, die schon der Ausgang dieses Denkens war, wenn es auf seinem Wege alle nur mögliche Unruhe ergriff und erlitt.

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Verhältnis zu den Wissenschaften

Eine entscheidende, im Bisherigen immer schon berührte Position möchte ich ausdrücklich herausheben. In der abendländischen geisti­gen Situation ist es zur dringenden, im allgemeinen Bewußtsein noch gar nicht klaren Frage geworden, wie sich Philosophie und Wissen­schaften zu einander verhalten. Beide sind aneinander gebunden, aber im Ursprung ihrer Gewißheit geschieden. Nur in der Helligkeit ihrer Scheidung und ihres Bündnisses können sie zu ihrem Wesen gelangen.

Ich hatte als Knabe Spinoza gelesen, noch ohne ihn zu verstehen, aber wundersam berührt und glücklich, ihn gefunden zu haben. Ich hatte Paulsens "Einleitung in die Philosophie" gelesen, war aber bald steckengeblieben; ich respektierte das, wurde aber nicht angezogen. Ich wußte nicht, was Philosophie sei, als das Wort schon den ehr­furchtgebietenden Eindruck machte. Mit allem aber, was ich las und hörte, erwartete ich Philosophie als Wissenschaft. In diesem Punkte noch fraglos, verlangte ich die zwingende, für jedermann gültige Ein­sicht und die Beantwortung der eigentlichen Daseinsfragen zugleich, ohne beides zu trennen. Als dann auf der Universität die dort gebotene Philosophie mich enttäuschte, war ich in der praktischen geistigen Arbeit zunächst zufrieden mit dem Erwerb dessen, was Wissen­schaften in bezug auf Natur und den physischen Menschen erreicht hatten, immer wieder erstaunt bei anatomischen wie bei astronomi­schen und anderen Studien, begierig ins Detail zu gelangen, wenn darin auch beschränkt durch die Studienmöglichkeitendes Mediziners. Aber ich wurde unruhig, daß das alles nicht genügte, sondern immer nur vorantrieb.

Einen entscheidenden Schritt zur Klarheit fand ich 1909 durch die Schriften Max Webers. Ich begann durch ihn den Wissenschafts­charakter in den Geisteswissenschaften zu begreifen, in denen mit den Mitteln des "Verstehens" gearbeitet wird. Daß und wie hier echte Wissenschaft am Werk sein könne, hinübergreifend über die nie bezweifelte Wissenschaftlichkeit in Herbeischaffung, Wiederherstel­lung, Kritik von Texten und Dokumenten und Monumenten, wurde mir durch Max Weber deutlich. Die Philosophie ließ er abseits, nahm sie wesentlich als Logik und hielt ihren Wissenschaftscharakter in diesem Sinne für selbstverständlich. Ohne mir dessen recht bewußt zu sein, folgte ich ihm nicht auf diesem Wege der philosophischen Askese. Mein Begehren nach eigentlicher Philosophie hörte nicht auf.

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Die Wissenschaften ließen die Herrlichkeit des Wissenkönnens erfahren, das Fortschreiten der Erkenntnis, eine Weise der Gewißheit, die sonst nirgend zu haben ist. Wer Philosophie begehrt - das blieb mir bis heute selbstverständlich - der begehrt auch Wissenschaft. Nachdem die Wissenschaften sich entwickelt haben und wissenschaft­liche Denkungsart in der Bewußtheit methodischen Wissens zu­gänglich ist, ist eine Philosophie, die sie umgeht und ignoriert, ebenso unwahr, wie eine Denkungsart unwahrhaftig ist, die in Ge­stalt von Wissenschaft das haben will, woran dem Menschen alles gelegen ist.

Denn als die Grenzen der Wissenschaft methodisch bewußt wurden, wiederholte sich die alte Erfahrung, daß wissenschaftliche Erkenntnis nicht das Leben zu führen vermag, daß sie nicht einmal ihren eigenen Sinn, nämlich daß sie da sein soll, begründen kann, daß sie vom Standpunkt der Philosophie her gesehen Zerstreutheit ist.

Die geistige Situation, in der mein Philosophieren entstand, war also der Enthusiasmus für wissenschaftliche Gewißheit, die Erfahrung der Grenzen der Wissenschaft und der Wille zur lebentragenden Philosophie, deren Wesen und Möglichkeiten dem akademischen Be­wußtsein und mir selbst verschleiert waren.

Die große Aufgabe der Philosophie wurde diese: ohne Preisgabe der Wissenschaften, prüfend an deren Maßstab zwingender Gewißheit sich in dem zu vergewissern, woraus wir leben. Es handelt sich um Philosophieren als Funktion unserer Wirklichkeit selber, um Denk­gebilde, die, entsprungen aus dem persönlichen Leben, als Mitteilung sich wenden an den Einzelnen. Die unpersönliche Gestalt des objek­tivierten philosophischen Denkgebildes findet Bewährung nur wieder in persönlicher Existenz. Es hat Sinn nicht als ein Wissen von Formeln, Sätzen und Worten, nicht als ein Anschauen ergreifender Figuren, sondern im inneren Handeln, das es erweckt oder das sich darin wiedererkennen kann.

Dieses Philosophieren ist Denken. Dadurch steht es gegen die Tendenzen des Sichgenügens im Gefühl, gegen die gedankenlose Schwärmerei, und gegen die Selbstvernichtung der Vernunft im so­genannten Irrationalismus. Das Glück des denkenden Lebens, im Unheil und in hinreißender Liebe, ist dies, daß philosophisches Denken jede Erfahrung, jede Handlung, jeden Entschluß nicht nur zu hellerem Bewußtsein bringt, sondern sie in einer Tiefe gründet, die sie selber wieder steigert.

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Das Studium solchen Denkens bedeutet einen Umgang mit sich selbst. Dieses Denken bringt nicht nur die Verbindlichkeit von vorder­gründigen Gesetzen, nach denen ich mich errechenbar richten könnte, sondern darüber hinaus die Verbindlichkeit der in die Existenz ein­gehenden Verantwortung, die durch die Gedanken erhellt und ver­gewissert wird.

Das philosophische Denken vollendet sich in Bewegungen, die das Ethos erwirken und bestätigen, so daß der philosophische Gedanke bis in das Private und das Politische wirkt und dadurch zeigt, was er ist. Er bewährt seine Wahrheit, sofern das Tun des Alltags und der hohen Augenblicke, aus denen er erwuchs, umgriffen ist durch ihn.

Obgleich die Wissenschaften nicht die Philosophie begründen, oder als ihr Ergebnis zeitigen, vielmehr Philosophie allen Wissen­schaften vorhergeht und in großartigen Gestalten der Frühzeit auch ohne sie bestehen konnte, sind, seitdem die Wissenschaften da sind, diese das unumgängliche Feld der Orientierung für jede Philosophie, die wahrhaftig denken will. Wer heute philosophiert, muß die tiefe Befriedigung durch wissenschaftliche Einsicht kennen und zugleich das methodologische Bewußtsein, ohne das ihre Gewißheit nicht be­steht, und damit das Wissen um die Grenzen der Wissenschaften. Er muß die Erfahrungen machen von der unermeßlichen Schwierig­keit des Sichverständigens mit wissenschaftsfremden Menschen, vor allem in den konkreten Fragen des Alltags, mag diese Wissenschafts­fremdheit im Gewande von Pseudowissenschaft auftreten oder als "Philosophie". Wissenschaftlichkeit ist die Bedingung aller Ver­nünftigkeit. Man spürt sie in den Keimen, die verborgen sind schon in früheren Philosophien, bei Anaximander, bei Me-ti, im Samkhya­system. Sie ist nicht Begründung der Wahrheit der Philosophie, wohl aber heute Bedingung der Wahrhaftigkeit im Philosophieren. Wissen­schaftlichkeit ist die unumgängliche Haltung des Auffassens, Er­wägens, Urteilensan jedem Tage.

Wenn ich Geschichte der Philosophie vortrug oder in Seminaren gemeinschaftlich studierte, dann war die Voraussetzung der wissen­schaftlichen Mittel zur Erforschung der Geschichte des Geistes selbst­verständlich, insbesondere die Aufgabe, den vom Autor gemeinten Sinn zu verstehen. Darin aber entstand die wesentliche Frage: wenn das Verständnis des gemeinten Sinns das Verständnis der Sache selbst erfordert, setzt dann nicht unumgänglich der eigene philosophische Mangel dem Verstehen Grenzen? und dann: erfordert die Natur der

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Sache in jenem Verstehen des gemeinten Sinns nicht die Entwicklung von Sinnmöglichkeiten, die vom Autor nicht geradezu ausgesprochen sind? Diese Fragen aber hoben den Maßstab nicht auf, durch das Studium der Gesamtheit der Texte so nah wie möglich an das Erfassen des gemeinten Sinnes als solchen auf beweisbare Weise zu gelangen.

Wissenschaft spielt weiter in der philosophiegeschichtlichen Lehre dadurch eine Rolle, daß die meisten Philosophen wissenschaftliche Gedanken vorbringen. Dadurch ergab sich die Unterscheidung von Philosophie und Wissenschaft innerhalb der historisch vorliegenden Philosophie selber. Dies wird deutlich am Sinn des "Fortschritts" in der Philosophie.

Man findet in der Geschichte der Philosophie keinen Fortschritt ihrer Substanz, sondern eine zeitliche Erscheinungsfolge, in der das Größte - heute, wie es scheint, auch nur als Niveau unerreichbar, doch für unser heutiges Verständnis noch in der Vergangenheit sicht­bar - je einmal, nicht identisch wiederholbar, unersetzlich an Kraft bewegender Einsicht ist. Es kann heute auf neue Weise gegenwärtig werden, als ob wir alle Zeitgenossen im Menschsein dieses Augen­blicks einiger Jahrtausende wären. Aber es ist darin kein Fortschritt.

Fortschritt gibt es in der Philosophie dadurch, daß es einen Fort­schritt in den Wissenschaften gibt (in denen der Fortschrittsgedanke zu Hause und der Fortschritt wirklich ist), und daß dadurch Philo­sophie selber, im Material ihrer Sprache stets vor neue Aufgaben gestellt, grundsätzlich heller zu werden vermag. Fortschritt in der Philosophie gibt es weiter durch die Entfaltung der Mittel ihrer rationalen Strukturen, der Kategorien, der Bewußtheit ihrer Methoden, vielleicht in der möglichen Reinheit ihrer.Verwirklichung.

Beide Weisen des Fortschritts betreffen nicht die Substanz der Philosophie. Der Fortschritt ist aufzufassen und zu eigen zu machen durch uns, die wir die Philosophie beruflich als Lehre vertreten. Er ist aber nur ein Moment unter den geschichtlichen Bedingungen, unter denen der philosophische Gedanke seine je eigentümliche, zeitlich besondere Gestalt gewinnt.

Erstaunlicherweise bin ich nicht selten ein Gegner oder gar ein Verächter der Wissenschaft genannt worden. Das gerade Gegenteil ist meine nie verleugnete Gesinnung und Denkungsart. Persönlich habe ich mich zuerst den Wissenschaften zugewandt, habe als Psychiater durch eigene Arbeit und Veröffentlichungen an ihr teilgenommen, habe mein Leben lang durch Studium wissenschaftlicher Schriften

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mich zu orientieren und in der wissenschaftlichen Denkungsart zu befestigen gesucht. Sachlich ist dem philosophischen Denken, für das ich wirke, wesentlich, daß der Sinn für Wissenschaftlichkeit und das eigene wissenschaftliche V erlangen und das Bewußtsein von der mächtigen Realität der Wissenschaften stets im Hintergrund stehen.

Es ist offenbar schwierig für die, die in der Selbstverständlichkeit der "wissenschaftlichen Philosophie" leben, einzusehen, daß ihr Denken nicht den Charakter zwingender Einsicht für alle hat, ja daß es, sofern es mit dem Verstande erfolgt ohne Einsatz des Wesens des Denkenden selber, nur intellektuelle Spielerei ist. DieseVertreter einer wissenschaft­lichen Philosophie fachlichen Charakters halten es für einen Angriff auf die Wissenschaften, wenn man den Wissenschaftscharakter ihres Den­kens in Frage stellt. Sie kommen mir vor wie die Theologen, die die Ab­solutheit des Christentums lehren, nur mit dem Unterschied, daß die Theologen sich auf Gottes Offenbarung berufen, diese Denker aber auf sich selbst, wenn auch in der Form der Berufung auf eine in diesem Be­reich imaginäre allgemeingültige wissenschaftliche Wahrheit. Sie sehen Verachtung der Wissenschaft dort, wo gerade Wissenschaft in ihrer Reinheit- im Unterschied von Pseudowissenschaften und Wissen­schaftsaberglauben- Lebenselement wurde, weil Wissenschaftlichkeit aus der philosophischen Denkungsart selber gefordert ist und folgt. Sie unterscheiden nicht die Denkarbeit, die das unerläßliche Mittel ist zur Mitteilung der philosophischen Impulse und der erfahrenen Grund­wahrheit, von der Denkarbeit der wissenschaftlichen Erkenntnis. So­wohl in WissenschaftwieinPhilosophie findet intellektuelle Arbeit statt. Aber das Verstehen wissenschaftlicher Arbeit ist, weil für jeden Ver­stand identisch, leichterals dasVerständnisphilosophischer Denkarbeit, sofern diese das Dabeisein des eigenen Wesens erfordert (nicht etwa weil die intellektuelle Anstrengung größerwäre als z. B. in der Mathematik).

Wer eine Philosophie begehrt, deren Gedanken ihn in die Ver­fassung bringen können, dieihm aus dem Ursprung seines Sichselbst­geschenktseins die verbindliche und verläßliche ist, dem möchte ich mit diesem Buch nützlich sein.

Wie das Buch gelesen werden möchte

Das Buch zeigt nicht "die Sache selbst", die es als willbaren Bestand nicht gibt, sondern nur das, mit dessen Ergänzung durch die Wirk­lichkeit des Denkenden die Philosophie erst da ist.

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Für den Leser kommt es darauf an, durch Mitvollziehen der Ge­dankenfolge sich wieder zu erkennen in einer Denkhaltung, nicht aber darauf, ein lehrhaft zusammenfaßbares Resultat des Wissens sich zu erwerben. So ist bei der" Weltorientierung" dieses Buches der Raum der Wissenschaften und eine gewisse Erfahrung im wissenschaftlichen Denken vorausgesetzt, durch die der Sinn der transzendierenden Weltvergewisserung erst erfüllbar wird. So bedarf in der "Existenz­erhellung" der vorgetragene Gedanke des Mitschwingens der mög­lichen Existenz des Lesers. So ist in der "Metaphysik" die Rede von Denkoperationen und Chiffem und Bezügen zur Transzendenz, wäh­rend erfüllte Metaphysik immer nur in der Wirklichkeit existentiellen Ergriffenseins von der Transzendenz stattfindet.

Daher muß ein Leser, der im Sinne wissenschaftlicher Philosophie eine Sache als Lehre (Doktrin) sucht, von diesem Buch enttäuscht sein. Denn alle "Sachen", mit deren Hilfe gesprochen wird und die deutlich aufzufassen unerläßlich ist, verflüchtigen sich doch als solche (soweit mir mein Philosophieren gelungen ist). Und ein Leser, der innerlich selbst nichts tun will, muß sich leer fühlen, wo ein Denken ihn selbst, sein inneres Handeln, mit einzubeziehen verlangt.

Diese Leser müssen sagen, daß ich eigentlich nichts sage. Bei ihnen fällt aus, was ich das Schlagen des andern Flügels nannte, mit dem gemeinsam erst das im Text Gesagte (als das Schlagen des einen Flügels) zum erfüllten Sinn und Aufschwung gelangt. Denn erst durch das Zusammenwirken beider kann, mit der Mitteilung des Versuchs vernünftigen Erhellens, im Leser der wirkliche philosophische Flug möglich werden. Wo der andere Flügel ausbleibt, wo der Leser, als bloßer V erstand, im Gelesenen als solchem schon das Ganze zu haben oder zu hören begehrt, da hat er nur Inhalte, die sich referieren lassen, aber nicht die darin lebende Philosophie. Und wo der Flügel des sach­lichen Auffassens der Texte, nämlich die Bereitschaft zum Denken ausbleibt, weil der Leser begehrt, vom Ungeheuren ergriffen zu werden und sein Umgeworfensein durch das Geheimnis zu genießen, aber nicht denkend den Flug anzutreten bereit ist, da wird das hier Gesagte in seiner Wörtlichkeit auf ihn ohne Eindruck bleiben (weil er ohne Empfindlichkeit für das Indirekte in der Bewegung der Gedanken liest); er wird es unverstanden zur Kenntnis nehmen und bald liegen lassen. Beide Leser bezeugen, daß sie den zweiten Flügel in Bewegung zu setzen nicht bereit sind. Ich kann ihrem meine Arbeit verwerfenden Urteil nur widersprechen mit dem allgemeinen Satz, daß man ein Buch

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nicht dadurch kritisiere, daß man in ihm nicht finde, was man in falscher Erwartung voraussetzt und was in ihm vom Autor gar nicht gewollt ist.

Auf die Frage aber, was zu tun sei, wenn man mit diesem Philo­sophieren eine Strecke seines Weges gehe, ist die Antwort: eine Er­gänzung zu gewinnen durch die je einmalige, unvertretbare Praxis, und zwar in der Weise, wie der Alltag erfüllt, Tätigkeiten vollzogen, die Wissenschaften getrieben, Dichtung und Kunst verstanden, politisch gedacht und gehandelt wird, die Urteilskraft im Konkreten gegenwärtig ist; dann aber: die großen Philosophen besser zu ver­stehen, ihr Philosophieren in einem gemeinsamen Raum sich an­zueignen, durch sie an der Quelle zu schöpfen.

ll. Polemik

Meine Philosophie ist im Ursprung unpolemisch. In diesem Buch ist der polemische Ton, wenn er überhaupt vorkommt, unwesentlich. In der Folge aber habe ich- unter dem Eindruck der gegen meine Arbeit erhobenen Einwände - das Problem der philosophischen Polemik bedacht.

Aber das Interesse für Polemik hat noch einen anderen, selber ursprünglich philosophischen Grund. Philosophie sucht nicht nur Kommunikation in Einstimmung, nicht nur Diskussion auf dem Boden einer umgreifenden Solidarität, sondern die Infragestellung in der Wurzel ihres Wesens durch grundsätzlich andere Philosophie oder durch Unphilosophie. Ich habe von früh an den Drang gehabt, dem geistigen Feinde zu begegnen, wenn er sich nur rückhaltlos äußert.

Meiner Philosophie gegenüber gab es neben den freundlichen Be­jahungen und mir kostbaren Zuschriften vielfache Angriffe. Manch­mal meinte ich eine Ratlosigkeit dessen zu bemerken, der mit gutem Willen kritisch über mein Philosophieren schrieb. Andere äußerten sich nach oberflächlichem Einblick in meine Schriften mit Unwillen. Nicht selten wurde etwas herausgegriffen und dies nicht im Zusam­menhang des Buches, sondern als absolute Behauptung genommen und so verstanden, wie ein Leser sich grade etwas dabei denkt. Jedoch vermag ich eine Reihe, wie mir scheint, typischer Einwände heraus­zugreifen (die ich aus meiner Erinnerung nehme, aus öffentlichen Urteilen und aus privaten Gesprächen, und die ich zuweilen zuspitze).

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Einige Einwände gegen mein Philosophieren

1. Ein Einwand lautet: Ich trüge Lehren vor, entwerfe An­schauungen und behaupte doch, es sei nichts gegenständlich gemeint. Ich täte also, was zu tun ich leugne. Was ich beabsichtige, werde durch die Ausführung zunichte gemacht. Denn, was ich wolle, sei unmög­lich. Daher sei das Ergebnis entweder doch eine philosophische Unter­suchung und Doktrin oder sei gegenstandsloses Gerede. Kurz: dieser Philosophie fehle alles Feste oder der bestimmte Gedanke. Das Faß­liche, woran man sich halten könne, gehe Terloren. Man wisse nicht, was ich eigentlich meine. In der Schwebe verschwinde alles. Diese Philosophie gebe nichts. Ich antworte:

a) In der Tat läßt sich kein Gedanke vollziehen, kein sinnvolles Wort sprechen, ohne einen Gegenstand vor Augen zu haben. Darum ist jederzeit ein Satzverständnis gebunden an solche gegenständliche Leitfäden. Das Gegenstandslose, soweit es zugänglich ist, ist dies nur auf dem Wege über Gegenständlichkeiten.

Aller wesentliche Gehalt des Philosophierens aber liegt in dem, was auf dem Wege über Gegenständlichkeiten in uns an Impulsen, innerer Verfassung, Weise des Sehens und Urteilens, Bereitschaft zu wäh­lendem Reagieren, Einsenkung in die geschichtliche Gegenwärtigkeit erwächst, sich wiedererkennt und bestätigt fühlt.

An den Leitfäden gegenständlicher Ordnung (den Doktrinen oder Lehren) hat man Knochengerüste, nicht das Leben der Philosophie. Das Verständnis, das zwar nicht ohne diese Lehrinhalte möglich ist, ist doch eigentlich erst durch die Teilnahme an dem wirklich geworden, was durch die Denkfiguren gegenwärtig werden soll, ohne doch selber Gegenstand zu sein. Das ist ebenso einfach für den unbefangenen, philosophierenden Leser, wie schwierig und fast unmöglich für den Leser, der, ob ungebildet oder Fachmann der Philosophie, als das Wesentliche Doktrinen will und erwartet. Denn er will Philosophie lernen, wie man Chemie oder Grammatik lernt.

Wohl gelingt auch das Philosophieren nicht ohne Lernen, man muß die Sprache, die Denkfiguren kennen und bedarf dazu der Mühe des Verstandes. Aber das Philosophieren beginnt mit der Herrschaft über diese Figuren, Gerippe, Doktrinen durch die Bewegung, die an ihre Leitfäden gebunden bleibt, doch erst in der Selbstgegenwärtigkeit des eigenen Wesens stattfindet.

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Es sind beim selben Philosophieren viele Doktrinen möglich, die miteinander sich kaum berühren oder sich widersprechen. Die philo­sophische Souveränität fordert jene Herrschaft über jede mögliche Doktrin (eine unendliche, für den einzelnen Kopf nie erfüllbare Auf­gabe). Der Bezugspunkt ihres Sinns liegt nicht in der Doktrin selbst, sondern in dem, wozu die Bewegung in ihr zu führen vermag.

Was vorgeworfen wurde, das ist also gerade gehörig für die eigent­liche Philosophie. Die Kraft der Philosophie liegt nicht im verfestigten Gedanken, nicht in Bild, Gestalt und Denkfigur, nicht in Leibhaftig­kelt der Anschauung -dies alles ist bloß Mittel-, sondern in der Ermöglichung der Erfüllung durch Existenz in ihrer Geschichtlich­kelt. Denn diese Philosophie ist Philosophie der Freiheit und ineins damit des grenzenlosen Kommunikationswillens. Darum verwehrt sie das Halten am Objekt, die Zufriedenheit im Gedankenwerk, das Genügen an irgendeinem Gewußtsein.

b) Wenn Einwände gegen die doktrinalen Leitfäden erfolgen, so sind sie relevant, um diese Leitfäden logisch sauberer zu machen (wozu z. B. auch Sauberkeit in der geformten Widersprüchlichkelt einer Dialektik gehört), nicht aber schon um den Sinn dieses Philo­sophierens zu fassen und anzugreifen.

Der wesentliche Angriff erfolgt erst, wenn durch die Leitfäden der Doktrin hindurch - wieder zwar immer im Medium von Doktrinen - der Ursprung des existentiellen Willens getroffen wird, der sich in den Doktrinen mitteilt: oder wo der "Kampf der Mächte" beginnt, die sich treffen, in Kommunikation gelangen, und in tieferer Kommu­nikation sich abstoßen können, aber in solchem Abstoß als das ein­ander Fremde auf eine Weise verbunden bleiben, die sie von allen Daseinskämpfen unterscheidet.

c) Durch die Ungegenständlichkeit des Sinns in der Klarheit des gegenständlich Gedachten findet, sagte ich, die Selbstgegenwart des eigentlichen Wesens der Existenz statt. Denn das Philosophieren, ob es nun ursprünglich als rein philosophisch oder ob als theologische Glaubenserkenntnis sich vollzieht, geschieht, wo es Gehalt hat, nicht aus dem Nichts, etwa aus Axiomen des Verstandes. Die Frage: woraus geschieht denn das Philosophieren? wird von der Glaubenserkenntnis beantwortet durch den Hinweis auf Offenbarung, die für die Glaubens­erkenntnis der ihr gewisse Boden ist. Solchen gleicherweise festen und greifbaren Boden hat die Philosophie nicht. Sie ist angewiesen, im Raum der weltgeschichtlichen philosophischen Überlieferung zu

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hören, was je von Einzelnen entgegenkommt. Damit erwächst eine institutionsfreie geistige Gemeinschaft der Glieder eines nun schon Jahrtausende währenden geistigen Reichs, in dem jeder er selbst sein muß und doch gar keine Willkür verstattet ist, wo verbindende und entfremdende Wahrheit gilt, die in keiner allgemeinen Dogmatik für alle je endgültig werden kann. Es ist das Reich des lebendigen philosophischen Glaubens, der wirklich ist allein im einzelnen Men­schen selber, seinem Erfahren und seiner Einsicht, seiner Vernunft, die ihren Boden in seiner möglichen Existenz hat. Der ganze Mensch in seinem Grunde, nicht allein der bloße V erstand seines Bewußtseins überhaupt hört und erfaßt philosophische Gedanken.

Von der Theologie her (wenn ihr Philosophie nicht einfach als überflüssig und belanglos gilt) wird fälschlich die Philosophie als eine reine Verstandesangelegenheit und Forschung behandelt, als eine Wissenschaft unter anderen. Die Theologie traf in dieser Auffassung zusammen mit der Auffassung akademischer Philosophie des vorigen Jahrhunderts, die ihrerseits in Verachtung der Theologie (die wir gar nicht mehr teilen) eine "wissenschaftliche Weltanschauung" zu sein beanspruchte, die der "wissenschaftlichen Erkenntnis" und den "Be­dürfnissen des Gemütes" zugleich genüge tun wollte.

z. Ein anderer Einwand sagt: diese Philosophie sei eine Fortsetzung des Irrationalismus, denn sie verleugne die Vernunft, treibe einen Kult des Absurden. Dies Mißverständnis hat wohl folgenden Grund: Wenn Philosophieren, das sich so nennen darf, ein Tun der Vernunft ist, so drängt diese Vernunft zu ihren Grenzen und an ihnen über sie hinaus, um alles, was ist, in die eigene Helligkeit zu bringen. Sie wen­det den Blick nicht ab von der Tatsächlichkeit des Unvernünftigen, Vernunftwidrigen, des Unverstehbaren, des Sichverschließenden. Ich meine, in allen meinen Schriften, und vor allem in dieser Philosophie, für die Vernünftigkeit zu wirken, die auch das Widervernünftige sieht und es denkend zu erhellen sucht.

Aber der Einwand trifft in der Tat eine Gefahr dieser Philosophie. Da sie hinausdenkt in das, was vor dem Denken liegt, in ein dem Erscheinen Zugrundeliegendes, in ein über Sein und Nichtsein Hin­ausliegendes, kann diese methodische Operation mißbraucht werden. Dann wird von dem, das in irgendeiner Form des Vorhergehenden oder Hinausliegenden gedacht wurde, so gesprochen, als ob man dies zugänglich mache, als Erkanntes zum Besitz bringe, fast im Griffe hätte. Dann erzeugt der so irrende Gedanke einen Augenblick die

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größte Erwartung auf die Enthüllung des Geheimnisses, und alsbald für den Vernünftigen eine Enttäuschung, als ob eine Seifenblase platze. So lange jene Enttäuschung besteht, nährt sie die Neigung zur V erneinung der Realitäten, gibt sie den Gefühlen des Hasses Raum, und läßt versäumen, was allein uns Menschen möglich ist. Daß mein ganzes Philosophieren gegen diese Verkehrung steht, daß es die Er­scheinungen dieser Verkehrung, wo immer sie sie antrifft, zu ent­schleiern sucht, ist offenbar.

3. Scheinbar einander entgegengesetzte, doch auf das Gleiche tref­fende Vorwürfe sind erhoben worden, entweder: diese Philosophie sei verkappte Theologie, oder: sie sei das alte Aufklärertum.

Der erste Vorwurf, ich sei unautorisierter Theologe, meint: Was ich als Metaphysik vortrüge, nenne man sonst Theologie. Das Ver­derben meines Denkens sei meine grundsätzliche Haltung: ein falscher Sinn von Philosophie.

Dagegen sage ich: Dieser Sinn der Philosophie ist nicht der meinige als ein neuer, sondern der uralte. Die Ursprünglichkeit der Philosophie soll sich nicht nehmen lassen, was ihr zugehört, die Transzendenz. Ihr selbst ist einst Wort wie Sache der Theologie entsprungen, die in der christlichen Glaubenserkenntnis erst angewendet und dort genährt wurde von den Motiven, die zum Teil Element des Philosophierens sind oder werden können, soweit sie sich ohne Offenbarung der V er­nunft selbst zeigen.

Darum ist für meine Philosophie die Unterscheidung von der Religion wesentlich. Aber die Unterscheidung ist nicht als Verneinung oder Bekämpfung oder Verachtung gemeint, sondern bedeutet das ständige Betroffensein der Philosophie von der Religion. Denn Reli­gion ist die Wirklichkeit von Ursprüngen, die dem Philosophieren nicht gleichgültig sein können. Die Philosophie selber eine Religion zu nennen, ist mißverständlich. Das gilt nur in dem weiten Sinne, daß es beiden um den Ernst der Ewigkeit geht. Von religiöser Philosophie zu reden, das verschleiert den Tatbestand, daß Religion kirchliche Religion, gemeinschaftsstiftend in Kultus, Gebet, priesterlichem Handeln sich zeigt, während Philosophie als solche Sache des Einzel­nen, hier und da zwar "schulbildend" ist, aber als Sektenstiftung oder als jüngerbildend aufhört, Philosophie zu sein.

In der modernen christlichen Philosophie ist eine Macht führend, die nicht Philosophie ist, sondern kirchliche Religion. Diese spricht sich wesentlich in der Theologie aus. Unter dem Namen der Philosophie

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aber tut sie etwas von Grund aus anderes als die ursprüngliche Phi­losophie. Die trotz ihrer Gedankenarbeit doch des eigenen philo­sophischen Grundes beraubte christliche Philosophie kann daher von eigentlicher Philosophie her gesehen marklos erscheinen. Da sie, statt vom vernünftigen Denken der Existenz, von dem anderen Ernst der kirchlichen Religion getragen ist, hat sie außer sich gleichsam eine Reserve, hat sich anderswo schon gesichert, kennt nicht das bleibende Wagnis im Philosophieren. Daher spricht Ton und Stimme ihres Denkens den eigentlich Philosophierenden nicht an. Sie scheint in rationaler, ästhetischer, geistreicher Abneigung das jeweils zeitgenös­sisch wirksame Philosophieren zu übernehmen, indem sie dessen Gedanken das Herzblut nimmt und damit auch der Kraft beraubt. Anders liegt es bei den großen Philosophen, die Christen waren, ohne in die Polarität Philosophie und Offenbarungsglauben entschieden einzutreten, wie Augustin, Anselm, Cusanus, von denen hier nicht die Rede ist.

In der heutigen geistigen Situation ist unumgänglich dieses Ein­fache: Philosophie ist Philosophie, Religion ist Religion; und Philo­sophie vermag nie den Gehalt der Religion zu ersetzen, wie Religion nie den Ursprung der eigenständigen Philosophie sich zu eigen machen kann.

Philosophie ist das Denken, in dem wir uns dessen vergewissern, woraus wir leben, - was eigentlich ist, - wodurch wir sind, - was uns unbedingt ist, -in welchem Entschluß wir gründen, -ist damit das Denken, durch das wir dieses Denken denken, seine Gewißheit prüfen, seinen Sinn und seine Kriterien erhellen. Aber wahre Philo­sophie bleibt offen als die systematische Klärung unseres Grund­wissens, das gleichsam der Rahmen ist dessen, was wir sind und was für uns ist. Philosophie klärt die Grenzen und Ursprünge alles dessen, worin und wodurch wir das je Bestimmte wissen und verwirklichen.

Der zweite Vorwurf (im Grunde der gleiche, nur von seiten sich als "modern" wissender Atheisten), ich sei Aufklärer, sagt etwa: Mir sei die mangelnde Radikalität der Aufklärer eigen. Wer wirklich philosophiere, käme ohne Transzendenz aus, ihm werde die Immanenz im philosophischen Wissen gesteigert zur reinen Gegenwärtigkeit. Bei mir sei ein falscher Rest, weil ich auswiche vor der letzten Kon­sequenz. Daher fehle mir der Sinn für die Tiefe des Daseins und da­mit für die Realität der gegenwärtigen Situation der Welt. So werde bei mir alles flach, denn ich bliebe in ausgleichenden harmonischen

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Vorstellungen stecken. Auch der überflüssige Deismus der Auf­klärung werde von mir wirkungslos übernommen.

Ich antworte: Zur Aufklärung bekenne ich mich, sofern Plato und Kant die Gipfel der beiden größten Aufklärungszeiten des Abend­landes sind, dieser Zeiten, die nach Kants Worten nicht aufgeklärte Zeitalter (die hat es nie gegeben), sondern Zeitalter der Aufklärung waren, das heißt der kräftigsten und bewußtesten Anstrengungen, aus dem Stand der "selbstverschuldeten Unmündigkeit" heraus­zutreten, aus dem Dunkel ins Helle zu kommen. Philosophierend sind wir, die wir zur Aufklärung uns bekennen, enthusiastisch bei unserer Aufgabe. In einem Zeitalter, das geistig in die Dunkelheiten falscher Geheimnisse, in ein Chaos von Aberglauben, insbesondere in die Gestalt des technizistischen Wissenschaftsaberglaubens und der als Wissenschaft auftretenden Ideologien zurückzusinken scheint (wenig­stens in breitem Umfang der literarischen Öffentlichkeit), haben wir den Weg der Aufklärung, soweit es an uns liegt, frei zu halten.

Da mein gesamtes Denken, in dankbarer Zugehörigkeit zur Auf­klärung, die schlechte Aufklärung, das Aufkläricht, überall bewußt verwirft, werden, meine ich, die einzelnen oben formulierten Vorwürfe hinfällig:

Die Radikalität der Aufklärung gibt sich kund in der so schwer zu verwirklichenden Unterscheidung von Wissenschaft und Philosophie, die in den letzten Jahrhunderten faktisch erworben ist, und ständig in Gefahr ist, verloren zu werden. Diese Unterscheidung muß den Erfolg haben, die Kraft beider als Verbündeter reiner zur Geltung kommen zu lassen. Diese so schwer durchführbare Unterscheidung ist selbst ein Schritt im Prozeß der Aufklärung, des freien, die Natur der Sache und sich selbst ergreifenden und vertiefenden Denkens.

Wer auskommt ohne den Bezug von Existenz und Transzendenz und auf eine reine Immanenz pocht, steigert nicht die Wirklichkeit des Gegenwärtigen. Weil er die Tiefe des Daseins nicht in jenem Bezug auf Transzendenz findet, sondern im bloßen Hier und Jetzt, läßt er vielmehr das Dasein sich verflachen und allenfalls durch Dämonen ergänzen, die doch vor der Transzendenz als nichtige Ein­bildungen verschwinden. Die gegenwärtige Situation der Welt, scheint mir, wird heller verstanden, wenn Maßstäbe und Horizonte aus dem Umgreifenden der Transzendenz sprechen, als wenn sie kurzatmig mit Trotz oder Verzweiflung als die bloße Realität des für den V erstand Begreiflichen vermeintlich erkannt wird. Der Vorwurf

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schließlich einer idealistischen Harmonisierung - und dieses an­gesichts einer Philosophie, die die Grenzsituationen und das Schei­tern als das letzte der Immanenz ausspricht! - verleugnet die Mög­lichkeit der Ruhe aus dem Grunde, zu der die Philosophie geht, und aus der sie entspringt. Obgleich ich gegen alle Harmonisierung mich gewendet habe, spürt dieser Vorwurf in meinem Denken etwas, das er unwillig wahrnimmt und falsch benennt. Wie meine Philosophie nicht aufgeklärte Philosophie, sondern Philosophie der Aufklärung ist, so ist sie nicht beruhigte Philosophie, sondern ein Philosophieren auf die Ruhe hin, aus der als Unvordenklichem es kommt.

4· Ein merkwürdiger Einwand wurde laut: In diesem Philoso­phieren sei ein Anspruch fühlbar, der nicht formulierbar sei in be­stimmten Forderungen und darum um so unerträglicher werde. Es sei ein Ethos, das nicht Moral werde und sich der Prüfung entziehe, während es sich unbedingt gebe. Es sei ein Ernst, der kein Kriterium in der Welt habe, und doch bis in die intimsten Entscheidungen des Lebens dringen wolle (was sich beispielsweise zeige in den alt­modischen und Irrealistischen Auffassungen von Liebe, Erotik und Sexualität). In dem Ganzen liege eine verborgene Intoleranz.

Mit diesem Einwand wird die Offenheit meiner Darlegungen, in denen keine formulierten Normen und Gesetze greifbar sind, richtig gesehen als Träger einer Unbedingtheit. Aber verwechselt wird die verdrängte unerbittliche Forderung aus dem eigenen Inneren des Lesers, die in solchem Philosophieren erregt, doch nicht direkt aus­sprechbar wird, mit einer vermeintlichen Intoleranz, die von außen durch einen Denker, in diesem Falle durch mich ausgeübt würde. Meine Philosophie möchte in der Tat jene innere Stimme erwecken, die so mächtig, erschreckend und beglückend ist, aber es kann nicht vorwegnehmen, was jene Stimme in konkreter geschichtlicher Lage sagt. Mein Philosophieren als solches ist vielmehr das toleranteste, die Freiheit der möglichen Existenz in der Tat frei lasssend, aber im Kampf gegen Ansprüche der Scheinfreiheit, der Willkür, des Gewalt­samen.

Der Einwand kann folgende Gestalt annehmen: Da diese Philo­sophie keine allgemeingültige Objektivität, also keinen Inhalt und keine Festigkeit habe, nichts, woran man sich halten könne, so werde sie in ihrer Negativität eine Dogmatik des Undogmatischen.

Dagegen sage ich: Wohl ist in meinem Philosophieren ständig die Tendenz, die Grundunwahrheit unseres denkenden Daseins zu

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überwinden, die in Folgendem liegt: wir möchten in der festen Objek­tivität eines absoluten Seins, in der Handgreiflichkeit des Wahrgenom­menen und der Bestimmtheit des Gedachten uns als Subjekte von uns selbst auf existentiell ruinöse Weise befreien zu einem bloß allgemei­nen Denken der Wahrheit als Objektivität. Die Überwindung dieser Grundunwahrheit geschieht aber nicht, um in die Bodenlosigkeit zu sinken, nicht, um an die willkürliche und haltlose Subjektivität zu ver­fallen, · sondern um durch philosophische Grundoperationen in das Umgreifende zu gelangen, das sich nur zugleich in Objektivität und Subjektivität hell werden kann, um in der Spaltung von Subjekt und Objekt unter ständiger Bezogenheit beider aufeinander, nie eines ohne das andere, die Gehalte des Seins zur Gegenwärtigkeit zu bringen.

Der Einwand scheint zu einem entgegengesetzten zu werden aus dem gleichen Mißverständnis, das die philosophische Form des Be­hauptens im Nichtbehaupten nicht zu fassen vermag. Der Einwand sagt: Diese Philosophie des Scheiteros führe entweder zu einer tole­ranten Bodenlosigkeit, durch die alles gezwungen werde, in der Neu­tralität des Gleichgültigen zu verflachen, oder zu einem intoleranten Nihilismus, der sich aggressiv gegen Objektivität, Bestand und Ord­nung wende. Daß beides nicht die Folge dieses Denkens sein muß, zeigt mein gesamtes Philosophieren, mit dem - im Gegensatz zu jener flachen Neutralisierung -die Erregtheit der Unruhe des stän­digen Betroffenseins und Bewertens gezügelt und übersetzt, nicht auf­gehoben ist. Aus ihm spricht Wille zur Ordnung, Ehrfurcht vor Tradition und Autorität. Aber beides mißfällt jenen Anklägern, die Unruhe mißfällt als Spielverderberei, die Ehrfurcht in jener Unruhe als Anklage gegen die bestehende Ordnung von Konvention, Schein und Alsob, mit der man doch leben möchte.

Schließlich wird jedoch dieser Einwand der verborgenen Intoleranz, mit dem man sich gegen eine vermeintliche Vergewaltigung sträubt, die von meinem Philosophieren ausgehe, in folgende wunderlich para­doxe Fragen gefaßt: Wird nicht eine Philosophie, die alle Ver­absolutierungen meidet, durch Verabsolutierung des Nichtverabsolu­tierens wieder nur eine Position unter anderen? Ist nicht der An­spruch der Vernunft ebenso diktatorisch, wie alles von ihr verworfene Diktatorische? Ist nicht die alloffene Toleranz absolut intolerant gegen Intoleranz? Ist der Anspruch der Freiheit nicht erbarmungslose Ge­walt gegen den, der keine Freiheit will? Ist nicht der fordernde Wille zur Kommunikation zugleich Kommunikationsabbruch gegenüber

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den Abbrechenden? Ist nicht die völlige Isolierung die Folge für den, der Allverbindung sucht? Ist nicht mein Philosophieren der Kommunikation von allen modernen Bemühungen in der Tat das einsamste?

In diesen Fragen liegt überall der gleiche dialektische Trick. Aber, wenn sie als solche nur eine rationale Spielerei sind, weisen sie doch auf die Möglichkeit des Abfalls dieser Philosophie von sich selbst, nämlich dort, wo diese ihre bloßen Sätze verabsolutiert, wo sie Aus­gesagtheiten, Hinweise zu unbewegbaren Richtigkeitsbehauptungen werden läßt. Dann wird die Freiheit und die Notwendigkeit des den Gedanken ergänzenden Tuns durch die sie denkende geschichtliche Existenz aufgehoben. Die Entfaltung des Mediums der Mitteilung wird fälschlich zur an sich gültigen Lehre.

Die Frage nach der Möglichkeit philosophischer Polemik

Die Antworten auf Einwände und Vorwürfe in der Philosophie lassen unzufrieden. Denn die allgemein formulierten Sätze werden so nicht faßlich in den Motiven, durch die sie im Kampf der Mächte erst durch persönliche Gestalt Gewicht erhalten. Gegen einen philosophi­schen Denker sich polemisch zu wenden oder seinem Angriff zu be­gegnen, fordert, ihm angemessen, das heißt zugleich total im Wesen und bestimmt in den besonderen Sätzen, zu begegnen. Heute, wo die ewige Wahrheit des Philosophierens eine neue Weise ihres Er­scheinens sucht - durch die Unterscheidung von Philosophie und Wissenschaft zu neuer Klarheit getrieben -, wird diese Schwierig­keit zu einer Frage ersten Ranges.

Wenn Philosophie in ihrer Eigenständigkeit begriffen ist, im Unter­schied von den Wissenschaften, mit denen sie zugleich im Bunde steht, dann ist die Frage nach den Methoden der philosophischen Polemik dringend, weil sich die Wege der wissenschaftlichen Dis­kussion und die der philosophischen Auseinandersetzung scheiden. Auf jenen wird vom gemeinsamen "Bewußtsein überhaupt" der Diskutierenden, deren Persönlichkeit gleichgültig bleibt, das objektiv Richtige zwingend gefunden; die Diskussion hat ein Resultat. Auf den Wegen der philosophischen Auseinandersetzung dagegen spricht aus der möglichen Existenz der Denkenden eine Sache nie ohne persön­lichen Charakter und dieser nur als Repräsentant geistiger Mächte, die selber nicht objektiv allgemeingültig zu fassen sind, sondern in

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solchem Kampf hell werden, zu sich kommen, sich verbinden und sich abstoßen.

Es ist eine merkwürdige Erfahrung: Während in einer Wissen­schaft die meisten Veröffentlichungen interessieren, die unergiebigen schnell erkannt werden, im Ganzen sich eine gemeinsame Arbeit dar­stellt, in der auch der Kleinste seinen nützlichen Beitrag leistet, ist es in der Philosophie umgekehrt. Zwar scheint man von derselben Sache, der Philosophie, zu sprechen, hat stofflich scheinbar gleiche Themata, gehört demselben Ressort unter den akademischen Fächern an und vermag sich doch nur in geringem Umfang gegenseitig zu interes­sieren. Ich vermute, daß die "Philosophen" der Gegenwart einander sehr viel weniger lesen, als es die Fachvertreter der Wissenschaften je in ihren Gebieten tun. Zwar gibt es die Konvention einer gemein­samen Forschung, von Kongressen und Zeitschriften. Man hat sich gewöhnt zu reden von "Fortschritten", die gemacht werden, neuen Entdeckungen, neuen Ansätzen. Man hat sich gewöhnt zu reden, als ob ein großartiger gemeinsamer Arbeitsweg gegangen werde, wie in den Wissenschaften. Aber es scheint, daß, je selbstverständlicher so gesprochen wird, desto weniger die entsprechende Realität da ist. Wir sehen einen Betrieb von Monologen und von konventionellen Diskussionen in Form aneinandergereihter Monologe, und eine Ge­meinsamkeit kleinerer Gruppen, die, wenn sie sichtbar werden, einen Augenblick auffallen, aber bald wieder sich auflösen. Woran liegt das?

Befragen wir die Geschichte der Philosophie, so mag, angesichts der zufällig und chaotisch anmutenden Polemik unserer Tage, die in geschichtlichen Zeiten erfolgte Polemik zwischen Philosophen nach ihrem Sinn in Größe und V erderben um so heller leuchten. Sie zu studieren, ist für das Verständnis der Philosophie selber unerläßlich. Die großen Polemiken der Vergangenheit sind wohl zum Teil ein Vorbild durch ihren Ernst und ihren Tiefgang, selten aber durch ihre bewußte Methode, und nicht durch ihre zumeist selbstverständliche Voraussetzung der bestehenden einen gemeinsamen Wahrheit (die es doch nur als wissenschaftliche für alle gibt). Zum Teil sind diese Polemiken Gegenbilder, an denen man sich orientieren kann, um in eigener Polemik die verfehlten, weil philosophisch nicht erhellenden, polemischen Grundhaltungen nicht zu wiederholen. Zum bewußten Studium solcher Polemiken gibt es nur wenig Ansätze (in meinem Schelling, München 195 5, S. 283-313, habe ich versucht, die Polemik

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zwischen Schelling und Fichte, zwischen Schel/ing und Hege/ in einigen Zügen darzustellen).

Nun ist aber der Umgang mit den vergangeneo Philosophen selbst eine Auseinandersetzung. Denn der Hingabe an ihre Texte folgt Kritik und Polemik, und diese selber führen wieder zu besserem V er­ständnis. Diese Kritik ist einseitig, scheinbar gefahrlos, weil der Tote nicht antworten kann. Aber sie ist ein wesentliches Element unseres Umgangs mit ihnen. Wir wollen wissen, was sie gemeint haben, um darin ihre tieferen Motive, damit den eigentlichen Gehalt zu spüren. Und diesen können wir nicht betrachten mit der Unverbindlichkeit historischer Wissenschaft (die allein dazu dient, den gemeinten Sinn möglichst treffend im Sinne des Autors selbst zu verstehen), sondern müssen in Abwehr und Aneigung durch sie zu unserem gegen­wärtigen Bewußtsein unserer selbst und unseres Wollens kommen. Im Umgang mit den Großen der Vergangenheit erfahren und üben wir den Sinn philosophischer Polemik, aber auf eine einseitige, kom­munikationslose, zuletzt in der Frage stehenbleibenden Weise. Denn so reich ihre Texte sein mögen, über sie hinaus bleiben die von uns Befragten stumm.

Nachdem diese "Philosophie" von mir veröffentlicht war, habe ich in Büchern über Nietzsche, Descartes, Schelling Versuche solcher Aus­einandersetzung mitgeteilt. Ich hoffe, demnächst diese V ersuche in einem weiteren Umfang als aneignende und kritische Darstellung der großen Philosophen der Vergangenheit vorzulegen. Wie auf Grund solcher Erfahrung die Polemik mit Zeitgenossen sich gestalten könnte, das sehe ich noch nicht verwirklicht.

Da ich bisher nur in einem Falle den V ersuch einer Polemik mit einem Zeitgenossen auf Grund philosophischer Einsicht gewagt habe (mit Bultmann), so möchte ich wenigstens einige Prinzipien solcher Polemik formulieren. Das ist leicht, während die Ausführung un­gemein schwer erscheint.

1. Wissenschaftliche Gegner - so wurde schon gesagt - disku­tieren im gleichen Raum des Bewußtseins überhaupt über die gleich gemeinte Sache, philosophische Gegner sind Träger von Mächten, die sich als Widersacher begegnen, wenn sie einander angehen, oder die, gleichsam in verschiedenen Räumen lebend, unbetroffen an ein­ander vorbeigehen, weil sie voneinander nicht angesprochen werden.

Wenn aber philosophische Diskussion etwas radikal anderes ist als wissenschaftliche Diskussion, so ist diese letztere auch ihr wesentlich

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als ein Mittel. Die wissenschaftliche Diskussion dessen, was den Kri­terien allgemeiner Gültigkeit untersteht, bleibt im Philosophieren sinnvoll, weil in ihm auch mit solchen Richtigkeiten als einem Material der Mitteilung gearbeitet wird. Dieses Material als brüchig zu er­kennen oder als richtig zu bestätigen, ist der Weg solcher Diskussion.

Weil diese aber doch nur Mittel für eine tiefere Auseinandersetzung ist, so führt die sachliche Diskussion an Grenzen, wo sie erst philo­sophisch relevant wird. Sie führt zunächst an den Punkt, wo eine Scheidung der Geister dadurch erfolgt, daß der eine solche Geltung in ihrer zwingenden Richtigkeit doch ignorieren will, während der andere, was richtig ist, als unumgänglich behandelt, auch wenn die Richtigkeit ihm unbequem ist. Wenn aber beide die rationale Richtig­keit für unumgänglich halten, und wenn beide auch um die Be­schränktheit des Sinns aller solcher Richtigkeiten wissen und um deren Abhängigkeit von Methoden und Gesichtspunkten, so treten neue Differenzen auf: Tiefe Gegnerschaften geben sich kund durch die andere Bewertung von Gewicht und Konsequenzen solcher Richtig­keiten.

So ist es schon ein Ausdruck von Differenzen, die über alle Wissen­schaften hinaus liegen: was zu erforschen, zu erörtern für wesentlich gehalten wird, und was nicht, was zu erkennen sich lohnt, und was nicht. Die Wissenschaften bürgen nur für die Richtigkeit, aber nicht für die Wichtigkeit ihres Erkennens. Die gemeinhin selbstverständ­liche Voraussetzung des Wesentlichen wird philosophisch bewußt und damit als nicht eindeutig und nicht für alle gemeinsam gültig be­griffen. Wovon ich angesprochen werde, wodurch ich auf weitere Kunde gedrängt werde, was fördert und was nicht, das kann ich nicht begründen durch gültigen Beweis, sondern nur hell werden lassen im Philosophieren. Im Philosophieren aber gilt nicht die sture Be­hauptung eines Eigenwillens, sondern der V ersuch, die führende Idee mitteilbar zu machen, Hinweise zu finden, warum dem Anderen, war­um mir etwas wesentlich ist oder nicht, zu finden, was mit solchem Vorzeichen verbunden ist und was daraus folgt.

Das kann nur durch die Tat eines polemischen Philosophierens selbst gezeigt werden. Aber es ist möglich, Hinweise auf das Versagen philosophischer Polemik in intellektuellen Diskussionen zu geben:

Die Aufnahme der intellektuellen Diskussion in den eigentlichen Kampf der Mächte ist auch in anscheinend schärfsten Auseinander­setzungen keineswegs immer vollzogen. In dieser Hinsicht ist das Bild

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der öffentlichen philosophischen Diskussion merkwürdig. Nicht selten ist ein Kritiker offenbar an seinen Gegner gebunden - um so mehr, wenn dieser ein schaffender Philosoph ist - dadurch, daß er un­bemerkt sich in die Denkgeleise des Angegriffenen hat einspannen lassen. So ist es häufig bei der Regelkritik von Hegelianern und Anti­hegelianern gewesen. Solche Kritik ist, so interessant sie geistes­geschichtlich sein kann, selber unwesentlich, weil sie keinen eigent­lichen Gegner hat, sondern mit dem Scheingegner dieselbe Straße zieht, von ihm gleichsam in Fesseln gelegt, eingefangen in seine Denk­weise, widerwillig und unbewußt in Banden. Dann hat bei vielleicht heftigsten Verwerfungen die wesentliche Diskussion doch noch gar nicht begonnen. Der Gefangene will sich von den Fesseln, aber ver­geblich, befreien. Oder anders: er ist nicht Repräsentant einer philo­sophischen Glaubensmacht, sondern vollführt nur intellektuelle Operationen.

Die Diskussion in den Vordergründen wird von machtvollen philosophischen Bewegungen mit dem Schein wissenschaftlicher Ge­hörigkeit erzwungen. So kann sie zur unbemerkten Übertölpelung werden. Man läßt sich auf die Ebene wissenschaftlicher Diskussion ziehen mit der Voraussetzung einer gemeinsamen wissenschaftlichen Philosophie. Dann gelangt man zu lauter Beiläufigkeiten. Abgelenkt von dem, worauf es ankommt, hat man unwissentlich die Substanz des Gegners schon als wahr anerkannt.

Im Alltag akademischen Philosophierens, in dem keine Substanz sich zur Geltung bringt, sieht das so aus: Wir machen im Miteinander­sprechen die stillschweigende Voraussetzung eines gemeinsamen The­mas, sozusagen der Sache des Philosophierens und einer objektiven philosophischen Welt der Wahrheit, an der jeder von uns, wer er auch sei, und was er auch denke, mitarbeite. Da die rationale Objektivität das unumgängliche Medium alles Sprechens ist, so ist solche Kritik, wenn auch vordergründig, doch richtig inbezug auf das Mittel, durch das die tieferen Mächte sich kundgeben können. Aber oft gerät solche Diskussion in eine bloße Beschäftigung mit Materien der Philosophie­geschichte und mit beliebig varüerbaren, endlosen intellektuellen Ope­rationen. Dann fällt sie als wesenlos dahin, wird eine an Operationen sich belustigende, substantiell ungebundene, daher leere Beschäfti­gung. Es findet mit den Mitteln überkommener Sprechweisen eine nur individuell interessierte, daher affektive Schaumschlägerei statt, die nichts besagt, weil die Unbedingtheit der darin sich mitteilenden

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Existenzen fehlt (solche abwertende Auffassung ist jedoch der einzel­nen Diskussion gegenüber mit Vorsicht zu vollziehen; allzu leicht sind wir geneigt, durch sie uns vom Unerwünschten und Unverstan­denen zu befreien und die eigene Beschränktheit zu rechtfertigen). Nur Konventionen des akademischen Ressorts halten eine äußere Ordnung, wenn keine wirkenden Mächte ansprechen und wesentliches Interesse erregen.

Wenn die Diskussion in den Vordergründen unumgänglich ist, so wird sie also philosophisch eindrucksvoll doch nur, wenn sie in jene tiefere Diskussion der Mächte selber aufgenommen ist als deren Sprache. Wie aber ist es möglich, nicht bloß argumentierend, nicht bloß in Übereinstimmung mit den Formen wissenschaftlicher Dis­kussion jene Mächte wirksam werden zu lassen und zu befragen? Wie ist es möglich, die Konsequenzen zu zeigen nicht nur des Gedankens, sondern der inneren Verfassung, und die Folgen dieser Verfassung für die, die bejahend mitgehen auf diesem Weg? Wie ist es offenbar zu machen, aufwelche Weise die Gedanken die Vorbereitung sind zu etwas anderem?

2. Wenn philosophische Diskussion nicht wesentlich rationale Dis­kussion, wie in den Wissenschaften sein kann, dann ist die Frage, ob in der eigentlichen Philosophie überhaupt Kritik und Polemik oder nur stumme Hinnahme möglich ist. Das kritische V erhalten wäre wie das gegenüber einer Dichtung, die wohl ästhetisch analysiert, an ästhetischen Normen gemessen, auslegend näher gebracht werden kann, aber keine Auseinandersetzung ermöglicht, es sei denn unter dem Maßstab der Frage, ob sie wahr sei, sofern ich mich durch sie im Aufschwung gefördert spüre, oder ob falsch, sofern sie durch Teil­nahme an ihr mich sinken läßt. Dann würden objektiv unbeantwort­bare Fragen an eine Philosophie gelten wie: erweckt sie mögliche Existenz zum Eintritt in die Wirklichkeit? oder ist sie Verführung zum Ausweichen vor der Wirklichkeit? zeigt sie Wahrheit, die bin­dend wirkt? oder ist sie ein Denken, das existentiell nichtig bleibt?

3· Wenn in dem Wesensdenken als innerem Handeln, dem Ur­sprung der Mitteilung des Philosophierens, Mächte wirksam sind, die in der Philosophie Sprache gewinnen, sich darin wiedererkennen, sich anziehen und abstoßen, sich mißkennen lassen und verführen, so möchten wir solche Mächte wohl geradezu sehen. Das aber ist nicht möglich (außer in mythischer Objektivierung). Denn wir stehen mit jedem Schritt unseres Denkens in ihnen, nie außerhalb. Wir sind

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selber im Dienst solcher Mächte, ohne eine Welt der Mächte über­blicken zu können. Die "Welt der Mächte", das ist nur ein Gleichnis als Zeiger auf das, worum es sich in der eigentlichen Kritik philo­sophischer Wirklichkeit im Werk handeltl.

Wenn wir den Blick auf die Mächte selber lenken, so blicken wir nicht mehr auf einen möglichen Gegenstand. Die Aufforderung zu solchem Blick bedeutet vielmehr nur, über die Gegenstände hinaus den Weg zu dem Ursprung ihres Gedachtseins, d. h. zu dem Wirk­lichsein in den Mächten zu suchen. Dann ist es ein zu kurz greifendes V erfahren, wenn man in Gestalt mitgeteilter Einsichten schon die Mächte selber zu fassen meint. Die Einsichten bleiben doch immer nur Vordergründe. Nehme ich diese Einsichten, die als direkt Aus­sprechbares das Letzte sind, schon als das wirklich Letzte, so ver­schleiere ich mir das Wesentliche. Es kommt darauf an, in den aus­gesprochenen Einsichten dessen ansichtig zu werden, was doch nicht geradezu sichtbar ist. Wie aber ist Kritik und wie ist Zustimmung zu vollziehen, wenn es sich nicht um gegenständlich faßliche Sachen und Sachverhalte handelt, sondern um die Philosophie selber als Sprache der Mächte?

Das Tiefere, die eigentlich philosophische Macht, dieses Etwas, das man spürt oder nicht spürt, und das sich keinem Verstandeserkennen aufzwingen läßt, dieses, was in der geistigen Begabung das eigentlich Wirksame ist und als solches anspricht, ihm gegenüber ist zunächst die Frage: ist es im begegnenden Denken überhaupt da oder nicht da? Das heißt: ist dieses Denken von existentiellem Gehalt oder ist es eine Zauberei? Dann ist die zweite Frage: was für eine Macht oder was für Mächte drängen dort zur Geltung? Das zu beantworten, wird nie endgültig gelingen. Man wird vielleicht eine Macht charakteri­sieren, abwehrend oder aneignend berühren. An sie heranzukommen gleichsam von Angesicht zu Angesicht, nicht sie unter einen Gattungs­oder Typusbegriff zu subsumieren, das ist die Aufgabe.

Eine Auseinandersetzung dieser Art hat nur Sinn, wenn sie bis in die Wurzeln fragt und für die von dort her kommenden ursprüng­lichen Motive die zutreffenden Gedanken sucht. Dann wird der Auf­weis der vom Gegner gedachten Sachverhalte etwas sehen lehren, was

1 Die Ausdrücke "Mächte", "Mächte der Welt", "Träger von Mächten" sind, weil mythischen Charakters, mißverständlich. Keineswegs meine ich eine gnostische Hypo­stasierung. Ich hoffe über das, was hier unumgänglich als wirklich erfahren wird, in einer philosophiegeschichtlichen Arbeit deutlicher zu schreiben.

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nicht an sich, sondern als Zeichen, Symptom, Symbol eines philo­sophischen Wesenswillens Bedeutung hat.

Das ist als allgemeingültige Erkenntnis zu vollziehen unmöglich. Wie man das Gesuchte auch immer umkreist und es ausspricht, es ist, was kritisch so gedacht wird, selber wiederum eine aus dem eigenen Ursprung kommende Tendenz. Diese gibt sich in ihren kritischen Denkungsarten kund, unterliegt aber ihrerseits wiederum der Reflexion und Frage.

Im philosophisch denkenden Leben zeigt sich ein Kampf der Mächte. Aber es darf nicht vergessen werden, daß niemand diese Welt, gleichsam den Organismus der sich bekämpfenden ursprüng­lichen Wahrheitsmächte, übersieht. Und niemand erkennt in einem endgültigen allgemeinen Wissen ihrer aller Unterschied von den das Dasein, die mögliche Existenz, die Vernunft, die Wirklichkeit selbst zerstörenden Mächten der Unwahrheit oder des Bösen. Das Ganze ist ein Bild für das, worin wir stehen, und aus dem wir auf keine Weise, es von außen wirklich überblickend, hinaustreten können.

4· Wenn der Blick auf die ursprünglichen Mächte geht, dann han­delt es sich um etwas, das sowohl im Tun des Denkenden wie in den Inhalten seines Gedachten gleichsam inkarniert ist. Was man, so fra­gend, sucht, ist im Persönlichsten ein Allgemeines.

Daher wird im Philosophieren der lebendige Mensch selber in seiner Faktizität mit hineingenommen, wenn es sich um eine Kritik handelt. Das ist das Unumgängliche, seit der Inhalt der Philosophie nicht mehr wie ein wissenschaftlich erforschbares, durch Entdeckungen und Be­weise im Fortschritt durch die Zeiten wachsendes Erkanntsein be­handelt werden kann. Aber damit ist zugleich Grenze und Maß der Kritik einzuprägen und entschieden festzuhalten. So wenig wie irgend­ein Mensch im Ganzen übersehbar und gekannt werden kann, eben­sowenig der philosophische Denker mit seinem Werk. Man kann eindringen, aber nicht überblicken. Man kann in Frage stellen, aber nicht so etwas wie eine Bilanz ziehen.

Bei dem Versuch der in die Ursprünge dringenden philosophischen Kritik wird, wo solche Kritik an die Grenze des fast zwingend Über­zeugenden (die sie doch nie erreichen kann) zu gelangen scheint, ein Einwand möglich, der mit einem Schlage den gesamten kritischen V ersuch zu annullieren scheint. Er gilt eigentlich nur den Zeitgenossen gegenüber, nur potentiell gegenüber den Toten. Er lautet: es sei unmöglich, vom Gegner zu verlangen, er solle sein eigenes Wesen

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verleugnen, ihm eine Einsicht zuzumuten, die die ihm eigentümliche Produktivität lähmen müßte. Goethe hat gesagt, was gegen die Be­dingungen des eigenen Daseins sei, dürfe man nicht einlassen. Gegen solchen Einwand aber gilt: es ist das Herrliche des Philosophierens, daß hier und nur hier solcher Einwand nicht trifft. Denn der Philo­sophierende begehrt jede mögliche Einsicht, sonst würde er gar nicht philosophieren. Ihm ist Geist und dessen Produktivität nur ein Werk­zeug, nicht Selbstzweck. Er erfährt, daß dieses Werkzeug um so besser arbeitet, je entschiedener er vom Schwung des Wahren ergriffen ist. Darum sucht der Philosophierende die äußerste Kritik. Er will nichts verborgen lassen, will nichts verschließen, will sichtbar werden in rückhaltloser Offenheit, möchte im Feuer der Kritik gleichsam einschmelzen, um Wiederzuerstehen als er selbst. Oder ist das zuviel gesagt? Für einen philosophischen Kritiker gilt jedenfalls, daß er, wenn er überhaupt Kritik übt, eine geistige Person nicht ver­nichten, sondern sie mit dem eigenen Ursprung an ihren Ursprung erinnern will. Wahre Kritik bleibt Kommunikation, und Kommuni­kation ist nicht tötend. An die Wurzeln zu greifen ist möglich in Kommunikationsbereitschaft, in der die eigene Infragestellung nicht vergessen wird. Es geschieht in der Betroffenheit von dem im Grunde verborgenen Wahren. Wo diese fehlt, da gilt das Nietzschewort: Wo du nicht lieben kannst, sollst du vorübergehen.

Daher bedeutet philosophische Polemik, die einer Persönlichkeit gilt, Neigung, Achtung und Ehrung für sie, wenn sie auch noch so scharf ausfallt. Dagegen ist eine Polemik, die sich gegen einen Autor wendet, ohne seinen Namen zu nennen, entweder gehörig, sofern es sich um eine unpersönliche und verbreitete Sache handelt, oder sie ist der Ausdruck von Mißachtung, die dem Angegriffenen das Gewicht abspricht.

III. Der Vorwurf der Schwäche der Vernunft

Dieser Vorwurf meint die Wirkungslosigkeit der Philosophie in der Breite der Welt, oder den besonderen Mangel meiner Denkungsart. Er meint die Vernunft, oder er meint nur die für unvernünftig gehaltene Vernunft, die das Unmögliche wolle und darum ins Nichts versinke.

I. Ein Vorwurf gegen meine Philosophie lautet: Sie sei der Aus­druck einer Grundhaltung des Hinnehmens, der Passivität. Es sei kein

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Wille darin, darum kein Behaupten. Sie sei eine Rechtfertigung der Ohnmacht. Durch sie werde nichts gegeben. Auf Fragen: was ist eigentlich? was soll ich tun? bleibe die Antwort aus. Es sei ein vom Boden oder von dem großen Gang der Geschichte oder vom Glauben losgelöstes, daher leeres Denken. Es wirke zersetzend.

Derselbe Vorwurf lautet in persönlich zugespitzter Gestalt: Du hast keinen Standpunkt, es scheint alles möglich. Du willst keine Macht, also kannst du auch nichts bewirken. Du bleibst in deiner betrachtenden, in Möglichkeiten verharrenden Haltung wie ein Zu­schauer in seiner Loge. Du willst nichts, aber du weißt nicht, daß du nichts willst.

Gegen solche Angriffe ist zu fragen: was erwarten sie von der Philosophie? begehren sie ein Dogma, ein überwältigendes Symbol, einen Führer, einen Diktator? Ist in solcher Kritik unter dem aktiven Freiheitswillen verborgen der Drang, die Freiheit loszuwerden zu­gunsten des Gehorsams in einem Raum machtvoller Geltungen, in denen die eigene Macht als verliehene sich fühlt, als ob sie Selbst­behauptung sei? Endigt diese Erwartung nicht in dem V erlangen, Gott in Gestalt menschlicher Instanzen, in einer bedingungslosen Gehorsam fordernden Autorität dieser Welt zu sehen, blind glauben zu dürfen? Soll ihnen Philosophie Ersatz sein, bis sie sie abschütteln können in der begehrten Situation?

Oder anders: will man von der Philosophie, was sie gerade ver­wehren muß, wenn sie für Wahrheit des Menschen in seiner Ge­schichtlichkeit wirkt? Möchte man fälschlich aus etwas leben, auf das man sich berufen kann, auf etwas Objektives oder Subjektives, woraus sich durch Gedankengänge zwingend ergibt, was jetzt zu tun sei? Will man, was Wissenschaften für die technischen Mittel (nicht für das Ziel) eines Tuns leisten, auch von der Philosophie haben?

Mit dem Gehorsamswillen könnte Philosophie sich erst in dem Augenblick vertragen, in dem sie sich selbst verneint, das heißt "aus Freiheit auf Freiheit verzichtet". Wer in der Philosophie nicht das findet, dem er sich unterwerfen kann, hat in ihr gesucht, was dort nicht zu finden ist. In der Philosophie handelt es sich um die Freiheit, die als Vernunft erkennt, was unbedingt für sie in geschichtlicher Konkretion gilt. Es handelt sich um das Selbstsein, das im Philoso­phieren zu sich kommt aus der Willkür, der Triebhaftigkeit, der Dunkelheit des bloßen Daseins. Die Philosophie erhebt an den ihr Folgenden den harten Anspruch, sich selbst zu finden mit gutem

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Willen, und mit heller Vernunft in der Bereitschaft zu sein, sich von der Transzendenz in der eigenen Freiheit geschenkt zu werden. Die Philosophie als mitgeteilte Gedankenwelt kann das, worauf es an­kommt, durch keinen Gedanken erzwingen, wohl aber durch ihn bestätigen. Sie kann erinnern und fördern, was im denkenden Exi­stieren des je Einzelnen werden kann.

Was nun jene Vorwürfe betrifft, die ich an den Anfang stellte, so sind sie durch meine Frage nach den Voraussetzungen solcher Vor­würfe nicht widerlegbar, sondern vielleicht durch das Ganze eines in einem philosophischen Werk sich mitteilenden Menschen. Aber man kann philosophisch einsehen, daß jede Philosophie der Freiheit mög­licher Existenz für den, der eigentlich nicht frei sein will, solche Aspekte darbieten muß, wie sie in jenen Vorwürfen behauptet werden.

2. Schwäche und Stärke der Vernunft sind begreifbar aus der unum­gänglichen Weise ihrer Mitteilung, nämlich einerseits auf der Be­stimmtheit des Denkens zu bestehen, das grenzenlos, nichts unan­getastet lassend, ins Unendliche zur Erhellung voranschreitet, und andrerseits jeden bestimmten Gedanken in die Schwebe bringen und in gewisser Weise zurücknehmen zu müssen.

Es ist die Freiheit der Philosophie, die sich kundgibt im Denken aus dem Umgreifenden, das weder Gegenstand (Objekt) noch Ich (Subjekt) ist, sondern in beiden zugleich, sie aneinander bindend und beide übergreifend, sich in sie spaltend und in der Spaltung erfüllend, erscheint. Daraus erwächst der Philosophie ihre Stärke, aber nur im einzelnen Menschen, der durch sie seinen Grund erspürt, der ihn trägt; und es erwächst ihre Schwäche, aber nur für den V erstand als die Funktion des zum Selbstsein in der Freiheit unbereiten Menschen. Oder anders: daraus erwächst in der Mitteilung die Stärke, daß keinem Hörer und Leser vorweggenommen wird, was er ist und soll, aber die Schwäche, daß im Verschwinden der greifbaren und festhaltbaren Objektivität die Wirkung auf die Unbereiten ausbleibt. Die Philo­sophie überschreitet alles Objektivierbare, das sie doch im Maße ihrer konkreten Fülle sich aneignet und kritisch beherrscht. In der Mit­teilung muß sie die maximale Klarheit für den Bereiten erstreben, kann sie aber nicht für den bloßen V erstand erzwingen. Das versuche ich deutlicher zu machen.

Die Philosophie zeigt jederzeit ihre Wahrheit auch in der Prägnanz des Denkens. Sofern diese die verstandesmäßige Klarheit ist, ist sie

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eine Selbstverständlichkeit, die sie nichtvon den Wissenschaften unter­scheidet, aber ist nicht das Philosophische in der Philosophie.

Dies Philosophische geht uns erst in dem Augenblick auf, wo wir merken, daß eine Präzision de~ Denkens stattfindet auch in dem, was den gegenständlich denkenden Verstand überschreitet. Erfährt man dies etwa bei Anselm, bei Kant und, wenn man es einmal gewahr geworden ist, in der großen Philosophie durchweg, so sucht man philosophierend etwas anderes und mehr als verstandesmäßige Klar­heit. Man sieht, wie in den Referaten rationaler Durchsichtigkeit die referierte Philosophie verloren geht (Kuno Fischer ist hervorragend sowohl durch solche rational klare Reproduktion, die nützlich bleibt, wie durch die Ahnungslosigkeit in bezug auf die Philosophie selbst, die so nicht reproduziert werden kann).

Nun wissen wir: Das Philosophieren, das seine Eigenständigkeit hat mit Gedanken, die das Verstandesdenken, in dem alle Wissen­schaften der Natur der Sache nach sich vollenden, überschreiten, erreicht sein Ziel nicht in Gefühlen, ekstatischen Reden, bilderreichen Anschauungen, überraschenden Machtsprüchen. Vielmehr erreicht Philosophie als Mitteilung erst dann ihren Sinn, wenn auch sie sich bindet an Verstandesdenken, aber ihren eigentümlichen Gehalt in der Durchsichtigkeit einer Form zur Erscheinung bringt, die doch des Verstandes sich nur bedient.

3. Diese Form ist in allen Höhepunkten der Philosophie einmalig. Sie ist in ihrem Ursprung und ihrer Vollendung bei den großen Philo­sophen zu finden. Hat man das Bewußtsein von ihr und die Aufmerk­samkeit und die Hellhörigkeit für sie, so ist auch eine bewußte Mühe möglich, um Teil an ihr zu gewinnen. Diese wurde mir, als ich die Eigenständigkeit philosophischen Denkens eingesehen hatte, eine neue Aufgabe in meinen Vorlesungen und dann in meinen Schriften. Ich lebte in den Jahren nach dem Abschluß meiner "Psychologie der Weltanschauungen", seit der Übernahme meiner philosophischen Lehrtätigkeit, in gesteigerter Unzufriedenheit mit meinen Vorlesungen. Ich wußte mich ungeordnet und zügellos im Enthusiasmus für die Philosophie. Ich fühlte die billige und falsche Erleichterung, wenn ich mit klaren V erstandesschematismen wie üblich in Referaten eine vor­zeitige Ordnung brachte. Die Beschäftigung mit den großen Philo­sophen stellte die höhere Aufgabe, in Seminaren auf das Entscheidende, Unreferierbare das Augenmerk dadurch zu lenken, daß das Referier­bare beherrscht und zugleich in die Schwebe gebracht wurde.

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Die Bemühung um die Form der Mitteilung, die ich bei Abfassung meiner "Psychologie der Weltanschauungen" noch nicht kannte, wurde zunächst auch eine äußere der Darstellung. Ich fühlte den modernen, seit dem I 7. Jahrhundert nicht erloschenen Anspruch an Knappheit, methodische Klarheit, Kontinuität und Gefülltheit der Sätze, ohne Löcher und Lücken, an denen der Leser stolpert, und ohne den schwellenden Stil der vielen Worte, der überflüssigen Bei­läufigkeiten und Endlosigkeiten. Ich merkte, wie ich immer wieder mit mir selber ungeduldig wurde, weil ich das Gegenteil tat von dem, was ich als das Rechte kannte. So setzte ich meine Mühe an den Satz und die Satzfolge, die Absätze, die Architektur im Ganzen und bis in die kleinen Satzgruppen. Ich schrieb unter der ständigen Kritik meines Freundes um und schrieb die Abschnitte noch einmal neu, was ich früher nie getan hatte. Das Ergebnis war dieses Buch, dessen Stil­unterschied gegenüber meiner zehn Jahre vorhergehenden "Psycho­logie der Weltanschauungen" offensichtlich ist. Aber das ist zunächst nur äußerlich.

Wie mir in meinen Vorlesungen damals einen Augenblick die philosophische Präzision wie in einem schnellen Griff zu gelingen schien, dann aber wieder verloren ging, als ob ich baute und ständig die Einstürze kämen, als ob schief gehauene Steine und ungeformter Schutt dazwischen kämen, mußte ich ständig unzufrieden bleiben. In dieser Anstrengung, bei der das, was man kann, nur gelingt, indem man unausgesetzt daran leidet, daß es nicht gelingt, wurde mir klar: ich hatte mich ebenso zu hüten vor einer gewaltsamen Straffheit rationaler Maschinerien wie vor dem unmittelbar ergriffenen Reden. Diese zwei entgegengesetzten Verführungen waren die Abgleitungen dort in die Willensabsicht bloßer Arbeitsmühe, hier in die Zügellosig­keit des Gefühls. Gegen beide, in die ich ständig verfiel, hielt ich mich an die kleineren Teile eines mir glücklich scheinenden Gelirrgens in meinen Vorlesungen.

Auf zwei Wegen kam ich weiter: Einmal begriff ich nun erst die mir in ihrer Wunderbarkeit und Unerreichbarkeit auftauchenden Werke der wenigen großen Philosophen. Ich spürte die ganze persön­liche Schwäche des Könnens, wenn ich mit wachsender Liebe jenen mich zuwandte. Es schien mir etwas nicht Geringes, sie besser zu ver­stehen, ihr "offenbares Geheimnis" gegenwärtig werden zu lassen. Wie trügerisch nivellierend hatte ich früher diese Texte angesehen, so wie eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten, die auf derselben Ebene

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zueinander gehören! Dann aber trat bei mir von neuem in Kraft eine Haltung, deren Fruchtbarkeit ich in der "Psychopathologie" erprobt hatte: die methodologische Besinnung. Wenn die Strukturen, die rationalen Formen, die denkmäßig nachzuvollziehenden Wege jenes großen Philosophierens, wenn das tatsächlich von den Philo­sophen Getane so ins Bewußtsein gehoben wurde, wie sie es selbst vielleicht gar nicht getan haben, dann erzeugen wir in uns eine Ver­fassung des Wissens, die unsere Bereitschaft zur Aufnahme und Kritik eigentlich philosophischen Denkens steigert, und die dem eigenen kargen Gelingen und häufigen Mißlingen gegenüber die säubernde Kritik zur Hand hat.

Unter diesen methodologischen Einsichten wurde eine von beson­derer Bedeutung, weil sie die Kraft und Schwäche der Philosophie nach einer wesentlichen, schon oben erörterten Seite begreiflich machte. Es gehört zur Natur des Philosophierens und ist unüber­windlich: wir müssen stets gegenständlich sprechen, können klar nur an gegenständlichen Leitfäden denken, und müssen, um das Philoso­phische darin zur Gegenwärtigkeit zu bringen, das Gegenständliche wieder einschmelzen und zum Verschwinden bringen. Die Prägnanz der Form philosophisch gehaltvoller Mitteilung ist die Klarheit eines Gegenständlichen, das sich wieder auflöst. Wir bauen in der Tat, in­dem wir das Gebaute zerstören. Aber dies ist philosophisch hell und sprechend, wenn es selber nicht zufällig geschieht und nicht durch andere Momente gestört wird, sondern rein in methodischem Gange ge­lingt. Diesen Gang zu gewinnen, war das Ziel dieses Werkes, das Werk selbst das äußere Ergebnis jener Bemühungen der zwanziger Jahre.

Soweit in dieser "Philosophie" etwas gelungen ist, liegt es nicht in einer referierbaren Lehre, sondern in der Bewegung, die je in einzelnen Kapiteln mit vollzogen werden muß, wenn der Sinn verstanden wer­den soll. Ziel ist die Wiedererkennung, Einübung, Befestigung einer inneren philosophischen Haltung, aus der unsere Urteilskraft in den konkreten Situationen sich ergibt, nicht als errechenbare Folge, son­dern als die Bewährung möglicher Existenz, die sich vergewissert hat.

Schwach muß die Philosophie sein dort, wo der Mensch die Festig­keit des Gegenständlichen als eines Absoluten begehrt. Die größten Philosophen der Vergangenheit sind auch für dieses Begehren noch stark, weil von ihnen- vor allem von Plato- als Mittel des Philo­sophierens solche Gestalten und Denkfiguren geschaffen wurden, die losgelöst von ihrem Sinn den Späteren noch jenen Halt geben, den sie

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nicht entbehren können, wenn auch um den Preis des Verlustes der platonischen, der philosophischen Antriebe.

4· Der Vorwurf der Schwäche betont, wie wirkungslos und darum gleichgültig das Dasein der Philosophie in der Welt sei. Die "Ohn­macht der Vernunft" wird auch meiner Philosophie vorgehalten. Sogar wer mit Neigung, ja Einverständnis dabei ist, beklagt die Wir­kungslosigkeit.

Die Aspekte des öffentlichen Geistes können heute etwa so gesehen werden:

Einst war die Vernunft geborgen im Glauben selbst, den sie zur Helligkeit brachte. Dann wandten sich die institutionellen Glaubens­formen gegen die Vernunft. Schließlich schienen Glaube und Vernunft gemeinsam zu versinken zugunsten des bloßen Verstandes in der modernen Welt, soweit diese sich zeigt im technischen Können und im Lärm der Propaganda für alles und nichts.

Wer öffentlich das Wort ergreift, der scheint entweder im Strom propagandistischer Kräfte einen Augenblick mitgerissen und ver­dorben zu werden, oder lautlos zu versinken in dem Sumpfe ernst­losen Geredes. Beides geschieht in der Masse des täglichen Schreibens und Redens und Druckens, das immer nur verschwindet.

Die Umwelt scheint dem Einzelnen den Atem zu nehmen, wenn er er selbst sein möchte in der Hingabe an Wahrheit.

Die Denkweise der Masse derer, die lesen und schreiben können, wird durch die erfolgreichen Literaten und durch die Zeitungen be­stimmt. Das ist eine keineswegs verächtliche, in ihren Gipfeln be­wundernswürdige Geistigkeit, aber nicht Philosophie. Man darf auch nicht verwechseln die Berühmtheit von Namen mit der Wirkung ihrer Denkungsart. Kant war berühmt in dem Maße, daß die deutschen Briefmarken 1924 sein Bild trugen, aber seine Werke, obgleich sie in der Auflagenhöhe die meisten anderen Philosophen übertreffen, sind in winzigem Umfang verbreitet, verglichen mit großen Schriftstellern, und seine Denkungsart ist so wenig gekannt, daß selbst zwischen den wenigen Kundigen eine große Differenz der Auffassung bis heute besteht. Man darf auch nicht die Tatsache, daß kleinere Gruppen von ihrer Tätigkeit öffentlich Kunde geben, sie Philosophie nennen (wie etwa die Logistik), und durch Zeitungen in ihrem Dasein bekannt sind, für ein Zeugnis dafür halten, daß ihr Denken irgendeine Aus­breitung gewinne oder auch nur verstanden werde. Sie haben auch nicht indirekt die großen Wirkungen etwa der Mathematik, sind

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vielmehr eine akademische Angelegenheit als Beschäftigung für Lieb­haber. Eher ließe sich eine Wirkung in die Breite behaupten von einem Ersatzgebilde der Philosophie, der Psychoanalyse. Durch sie wird in der Tat eine Rede- und Auffassungsweise in größere Kreise getragen.

In dieser Welt soll die Wirklichkeit des Philosophierens sich be­haupten gegen das durchschnittliche Fehlen von Menschen, die sie selbst sind, gegen die Wucht der egoistischen Leidenschaften, den Drang zur Gewalt, den Willen zur Macht, und gegen das positiv Böse, das nicht zuhören will, Gründe verwirft, Kommunikation abbricht, ständig verschleiert, Wahrheit nicht anerkennt, das Reden selber be­nutzt als Medium der suggestiven Magie und der Überlistung, und das im entscheidenden Augenblick zu jedem Verbrechen fähig macht, es selber zu erfinden oder gehorsam auszuführen. - Und der Ernst der Philosophie hat sich zu behaupten gegen die in allseitiger literarischer Klugkeit sich verbergende Bodenlosigkeit, wie sie im Raum der "Bildung" erscheint.

Das sind eine Reihe von Aspekten. Man wird sie nicht leugnen. Aber jene Aspekte sind nicht die einzigen. Nimmt man sie im Ganzen und absolut, so sind sie nicht mehr wahr. Unsere Neigung, sie ver­zweiflungsvoll für absolut zu nehmen, entspringt selber einer Ent­mutigung, die nur so zu sehen vermag. Aber so wenig wie über Realitäten soll man sich über Chancen in allen Situationen täuschen.

Kann Philosophie sich behaupten? Müssen wir es aufgeben, an den Weg der Vernunft, damit an die Verwirklichung eines Ideals des Menschseins zu glauben, weil das Ziel nie, auch für den besten Einzel­nen nicht, außer in Augenblicken, erreicht wird? Müssen wir die Keime der anderen Möglichkeit übersehen und damit verraten, wenn wir den Vordergrund jenes Lärms, jener Maschinisierungen und Ent­menschlichungen wahrnehmen ?

Schon das Minimum des trotzdem Möglichen ist groß: wenn die Umwelt allem Selbstsein den Atem nimmt, so widersteht doch das glückliche Sichtreffen Einzelner, die unpathetisch und ohne Schwur faktisch in einen Bund treten. "Die Wahrheit beginnt zu zweien."

Wo der Totalitarismus noch nicht die Verwandlung in Masken und Funktionen erzwingt, da ist überall die Möglichkeit des Einzelnen, schleierlos sich zu zeigen, und der Ernst, zu dem Wissen zu streben, in dem man weiß, was man sagt.

Die schlimmen Aspekte steigern das Glück, zu finden, was ihnen widerspricht und standhält, und erregen um so kräftiger den Willen,

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in jenem Vordergrund innerlich nicht mitzugehen, auch wenn wir im äußeren Dasein in ihn hineingezwungen sind. Sie steigern den Willen, in dem einem jeden verbleibenden Machtbereich, und sei er noch so gering, sein inneres Tun auch nach außen treten zu lassen.

Wohl muß man die anonymen Gegner kennen, nicht schwärmerisch die Realitäten verleugnen, vielmehr sie beobachten, um die Grenzen ihrer Macht und den Raum der eigenen Freiheit zu entdecken.

Wer philosophiert, wirdKants Wort anerkennen, es sei pöbelhaft, sich auf Erfahrung zu berufen, wo das eigene Tun durch seine Folgen den Gegenstand der Erfahrung selbst hervorbringen oder verändern kann.

Was in der Welt zu universaler Wirksamkeit gekommen ist, das ist nicht der einzige Maßstab der Wahrheit. Noch nie ist eine Philosophie "weltbeherrschend" geworden ohne völlige Umgestaltung, ja ohne Verlust ihres ursprünglichen Sinns. Die Arbeit der Philosophie voll­zieht sich im inneren Handeln des Einzelnen mit sich selbst. An ihn wendet sich der Denker durch seinen Willen zur Teilnahme und Mit­teilung im Hören und Weitergeben. Dabei ist untilgbar der Glaube, daß wahres Philosophieren wirkt und wirken wird; es ist nicht vor­auszusagen und nicht zu planen, auf welche Weise, wo und durch wen. Dieser Glaube wird bestätigt durch die Gewißheit, daß es Menschen gab, gibt und geben wird, die in der Vernunft ihre Würde und Wahr­heit finden und diese in ihrer Welt ständig zur Geltung bringen.

Gegenüber dem Kleinmut und gegenüber den Aspekten in der Breite der Öffentlichkeit gibt es die Kraft des Bewußtseins von der Wahrheit, die, obwohl man sie nicht hat, im Suchen nach ihr schon gegenwärtig ist.

Wer die Vernunft in sich wach werden fühlt, findet ihre große Überlieferung, die ohne Autorität zu ihm spricht. Er mag ihre Schwäche in der Welt sehen. Er wird doch an sich selbst ihre Macht wie ein Wunder der Helligkeit und dessen, was hell wird, erfahren. Er wird den Menschen, zumal den gewichtigen, weil vertrauens­würdigen und verläßlichen, in dieser Vernunft begegnen und sie lieben. Für ihn ist es nicht eine Frage, ob er für oder gegen Ver­nunft sein könne, ob sie die Welt verwandle oder nicht; sie istwie die Wahrheit selber, weil sie Bedingung aller Wahrheit ist, die mir in geschichtlicher Wirklichkeit unbegreiflich zufällt, so daß es nur an mir liegt, ob ich sie ergreife oder versäume, ob ich mich verliere oder in das Sein gelange, das als Geschichtlichkeit für mich ist, die als solche nur durch Vernunft wahr wird.

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