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Keller Kleider machen Leute

Keller Kleider machen Leute · 2018-07-04 · 3 A n einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes Schneiderlein auf der Landstraße nach Goldach, einer kleinen reichen Stadt,

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Keller Kleider machen Leute

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Reclam XL Text und Kontext

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Gottfried KellerKleider machen Leute �

Novelle

Herausgegeben von Wolfgang Pütz

Reclam

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Der Text dieser Ausgabe ist seiten- und zeilengleich mit derAusgabe der Universal-Bibliothek Nr. 7470. Er wurde aufGrundlage der gültigen amtlichen Rechtschreibregeln or-thographisch behutsam modernisiert.

Zu Kellers Kleider machen Leute gibt es bei Reclam:– einen Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler

(Nr. 15313)– Erläuterungen und Dokumente (Nr. 8165)– eine Interpretation in: Erzählungen und Novellen des

19. Jahrhunderts in der Reihe »Interpretationen«(Nr. 8414)

E-Book-Ausgaben finden Sie auf unserer Websiteunter www.reclam.de/e-book

Reclam XL Text und Kontext Nr. 193782017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,Siemensstraße 32, 71254 DitzingenGestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich ForssmanDruck und Bindung: Canon Deutschland Business ServicesGmbH, Siemensstraße 32, 71254 DitzingenPrinted in Germany 2018reclam ist eine eingetragene Markeder Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgartisbn 978-3-15-019378-5

Auch als E-Book erhältlich

www.reclam.de

Die Texte von Reclam XL sind seiten- und zeilengleichmit den Texten der Universal-Bibliothek.Die Reihe bietet neben dem Text Worterläuterungenin Form von Fußnoten und Sacherläuterungen in Formvon Anmerkungen im Anhang, auf die am Randmit Pfeilen (�) verwiesen wird.

Die Texte von Reclam XL sind seiten- und zeilengleichmit den Texten der Universal-Bibliothek.Die Reihe bietet neben dem Text Worterläuterungenin Form von Fußnoten und Sacherläuterungen in Formvon Anmerkungen im Anhang, auf die am Randmit Pfeilen (�) verwiesen wird.

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An einem unfreundlichen Novembertage wanderteein armes Schneiderlein auf der Landstraße nach

Goldach, einer kleinen reichen Stadt, die nur wenige �Stunden von Seldwyla entfernt ist. Der Schneider �trug in seiner Tasche nichts als einen Fingerhut, wel-5

chen er, in Ermangelung irgendeiner Münze, unab-lässig zwischen den Fingern drehte, wenn er derKälte wegen die Hände in die Hosen steckte, und dieFinger schmerzten ihn ordentlich von diesem Drehenund Reiben. Denn er hatte wegen des Falliments10

irgendeines Seldwyler Schneidermeisters seinen Ar-beitslohn mit der Arbeit zugleich verlieren und aus-wandern müssen. Er hatte noch nichts gefrühstücktals einige Schneeflocken, die ihm in den Mund geflo-gen, und er sah noch weniger ab, wo das geringste15

Mittagbrot herwachsen sollte. Das Fechten fiel ihmäußerst schwer, ja schien ihm gänzlich unmöglich,weil er über seinem schwarzen Sonntagskleide, wel-ches sein einziges war, einen weiten dunkelgrauenRadmantel trug, mit schwarzem Samt ausgeschlagen,20

der seinem Träger ein edles und romantisches Ausse-hen verlieh, zumal dessen lange schwarze Haare undSchnurrbärtchen sorgfältig gepflegt waren und er sichblasser, aber regelmäßiger Gesichtszüge erfreute.

Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis gewor-25

den, ohne dass er etwas Schlimmes oder Betrügeri-sches dabei im Schilde führte; vielmehr war er zufrie-den, wenn man ihn nur gewähren und im Stillenseine Arbeit verrichten ließ; aber lieber wäre er ver-hungert als dass er sich von seinem Radmantel und30

von seiner polnischen Pelzmütze getrennt hätte, dieer ebenfalls mit großem Anstand zu tragen wusste.

10 wegen des Falliments: wegen des Bankrotts 16 Fechten:(ugs., veraltet) Betteln 20 Radmantel: (früher) weiter, ärmel-loser Mantel von radförmig-rundem Schnitt 25 Habitus: Er-scheinungsbild einer Person

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4 Er konnte deshalb nur in größeren Städten arbei-ten, wo solches nicht zu sehr auffiel; wenn er wan-derte und keine Ersparnisse mitführte, geriet er indie größte Not. Näherte er sich einem Hause, sobetrachteten ihn die Leute mit Verwunderung und 5

Neugierde und erwarteten eher alles andere als dasser betteln würde; so erstarben ihm, da er überdiesnicht beredt war, die Worte im Munde, also dass erder Märtyrer seines Mantels war und Hunger litt, soschwarz wie des letztern Sammetfutter. 10

Als er bekümmert und geschwächt eine Anhöhehinaufging, stieß er auf einen neuen und bequemenReisewagen, welchen ein herrschaftlicher Kutscher inBasel abgeholt hatte und seinem Herren überbrachte,einem fremden Grafen, der irgendwo in der Ost- 15

schweiz auf einem gemieteten oder angekauften altenSchlosse saß. Der Wagen war mit allerlei Vorrich-tungen zur Aufnahme des Gepäckes versehen undschien deswegen schwer bepackt zu sein, obgleich al-les leer war. Der Kutscher ging wegen des steilen We- 20

ges neben den Pferden, und als er, oben angekom-men, den Bock wieder bestieg, fragte er den Schnei-der, ob er sich nicht in den leeren Wagen setzenwolle. Denn es fing eben an zu regnen und er hattemit einem Blicke gesehen, dass der Fußgänger sich 25

matt und kümmerlich durch die Welt schlug.Derselbe nahm das Anerbieten dankbar und be-

scheiden an, worauf der Wagen rasch mit ihm vondannen rollte und in einer kleinen Stunde stattlichund donnernd durch den Torbogen von Goldach 30

fuhr. Vor dem ersten Gasthofe, zur Waage genannt,hielt das vornehme Fuhrwerk plötzlich, und also-gleich zog der Hausknecht so heftig an der Glocke,dass der Draht beinahe entzweiging. Da stürztenWirt und Leute herunter und rissen den Schlag auf; 35

8 beredt: redegewandt 9 der Märtyrer seines Mantels: bild-hafter Ausdruck für eine leidvolle Abhängigkeit 14 Basel:schweizerische Stadt am Hochrhein 22 Bock: Platz des Kut-schers auf dem Pferdewagen 35 den Schlag: die Wagentür

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5Kinder und Nachbaren umringten schon den prächti-gen Wagen, neugierig, welch ein Kern sich aus so un-erhörter Schale enthülsen werde, und als der ver-dutzte Schneider endlich hervorsprang in seinemMantel, blass und schön und schwermütig zur Erde5

blickend, schien er ihnen wenigstens ein geheimnis-voller Prinz oder Grafensohn zu sein. Der Raumzwischen dem Reisewagen und der Pforte des Gast-hauses war schmal und im Übrigen der Weg durchdie Zuschauer ziemlich gesperrt. Mochte es nun der10

Mangel an Geistesgegenwart oder an Mut sein, denHaufen zu durchbrechen und einfach seines Wegeszu gehen, – er tat dieses nicht, sondern ließ sich wil-lenlos in das Haus und die Treppe hinangeleiten undbemerkte seine neue seltsame Lage erst recht, als er15

sich in einen wohnlichen Speisesaal versetzt sah undihm sein ehrwürdiger Mantel dienstfertig abgenom-men wurde.

»Der Herr wünscht zu speisen?«, hieß es, »gleichwird serviert werden, es ist eben gekocht !«20

Ohne eine Antwort abzuwarten, lief der Waagwirtin die Küche und rief: »Ins drei Teufels Namen! Nunhaben wir nichts als Rindfleisch und die Hammels-keule! Die Rebhuhnpastete darf ich nicht anschnei-den, da sie für die Abendherren bestimmt und ver-25

sprochen ist. So geht es! Den einzigen Tag, wo wirkeinen Gast erwarten und nichts da ist, muss ein sol-cher Herr kommen! Und der Kutscher hat ein Wap-pen auf den Knöpfen und der Wagen ist wie der einesHerzogs! Und der junge Mann mag kaum den Mund30

öffnen vor Vornehmheit!«Doch die ruhige Köchin sagte: »Nun, was ist denn

da zu lamentieren, Herr? Die Pastete tragen Sienur kühn auf, die wird er doch nicht aufessen!Die Abendherren bekommen sie dann portionen-35

24 Rebhuhnpastete: Teiggebäck, gefüllt mit Rebhuhnfleisch33 lamentieren: laut jammern, klagen

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6 weise, sechs Portionen wollen wir schon noch her-auskriegen!«

»Sechs Portionen? Ihr vergesst wohl, dass die Her-ren sich satt zu essen gewohnt sind!«, meinte derWirt, allein die Köchin fuhr unerschüttert fort: »Das 5

sollen sie auch! Man lässt noch schnell ein halbesDutzend Kotelettes holen, die brauchen wir sowiesofür den Fremden, und was er übrig lässt, schneide ichin kleine Stückchen und menge sie unter die Pastete,da lassen Sie nur mich machen!« 10

Doch der wackere Wirt sagte ernsthaft: »Köchin,ich habe Euch schon einmal gesagt, dass dergleichenin dieser Stadt und in diesem Hause nicht angeht!Wir leben hier solid und ehrenfest und vermögenes!« 15

»Ei der Tausend, ja, ja!«, rief die Köchin endlichetwas aufgeregt, »wenn man sich denn nicht zu hel-fen weiß, so opfere man die Sache! Hier sind zweiSchnepfen, die ich den Augenblick vom Jäger gekaufthabe, die kann man am Ende der Pastete zusetzen! 20

Eine mit Schnepfen gefälschte Rebhuhnpastete wer-den die Leckermäuler nicht beanstanden! Sodannsind auch die Forellen da, die größte habe ich in dassiedende Wasser geworfen, wie der merkwürdigeWagen kam, und da kocht auch schon die Brühe im 25

Pfännchen; so haben wir also einen Fisch, das Rind-fleisch, das Gemüse mit den Kotelettes, den Ham-melsbraten und die Pastete; geben Sie nur denSchlüssel, dass man das Eingemachte und den Des-sert herausnehmen kann! Und den Schlüssel könnten 30

Sie, Herr! mir mit Ehren und Zutrauen übergeben,damit man Ihnen nicht allerorten nachspringen mussund oft in die größte Verlegenheit gerät!«

»Liebe Köchin! das braucht Ihr nicht übel zu neh-men, ich habe meiner seligen Frau am Todbette ver- 35

11 wackere: tüchtige 14 solid: ordentlich, anständig19 Schnepfen: Watvögel, die an Gewässern und in Feucht-gebieten leben

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7sprechen müssen, die Schlüssel immer in Händen zubehalten; sonach geschieht es grundsätzlich und nichtaus Misstrauen. Hier sind die Gurken und hier dieKirschen, hier die Birnen und hier die Aprikosen;aber das alte Konfekt darf man nicht mehr aufstellen;5

geschwind soll die Lise zum Zuckerbeck laufen undfrisches Backwerk holen, drei Teller, und wenn ereine gute Torte hat, soll er sie auch gleich mitgeben!«

»Aber Herr! Sie können ja dem einzigen Gaste dasnicht alles aufrechnen, das schlägt’s beim besten Wil-10

len nicht heraus!«»Tut nichts, es ist um die Ehre! Das bringt mich

nicht um; dafür soll ein großer Herr, wenn er durchunsere Stadt reist, sagen können, er habe ein ordent-liches Essen gefunden, obgleich er ganz unerwartet15

und im Winter gekommen sei! Es soll nicht heißenwie von den Wirten zu Seldwyl, die alles Gute selberfressen und den Fremden die Knochen vorsetzen!Also frisch, munter, sputet Euch allerseits!«

Während dieser umständlichen Zubereitungen be-20

fand sich der Schneider in der peinlichsten Angst,da der Tisch mit glänzendem Zeuge gedeckt wurde,und so heiß sich der ausgehungerte Mann vor kur-zem noch nach einiger Nahrung gesehnt hatte, soängstlich wünschte er jetzt der drohenden Mahlzeit25

zu entfliehen. Endlich fasste er sich einen Mut, nahmseinen Mantel um, setzte die Mütze auf und begabsich hinaus, um den Ausweg zu gewinnen. Da eraber in seiner Verwirrung und in dem weitläufi-gen Hause die Treppe nicht gleich fand, so glaubte30

der Kellner, den der Teufel beständig umhertrieb, je-ner suche eine gewisse Bequemlichkeit, rief: »Erlau-ben Sie gefälligst, mein Herr, ich werde Ihnen denWeg weisen!«, und führte ihn durch einen langenGang, der nirgend anders endigte als vor einer schön35

2 sonach: demnach 5 Konfekt: feine Süßigkeiten 6 Zucker-beck: Zuckerbäcker, Konditor 19 sputet Euch: beeilt euch22 Zeuge: Tischdecke 32 eine gewisse Bequemlichkeit: Um-schreibung für Toilette

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8 lackierten Türe, auf welcher eine zierliche Inschriftangebracht war.

Also ging der Mantelträger ohne Widerspruch,sanft wie ein Lämmlein, dort hinein und schloss or-dentlich hinter sich zu. Dort lehnte er sich bitterlich 5

seufzend an die Wand und wünschte der goldenenFreiheit der Landstraße wieder teilhaftig zu sein,welche ihm jetzt, so schlecht das Wetter war, als dashöchste Glück erschien.

Doch verwickelte er sich jetzt in die erste selbsttä- 10

tige Lüge, weil er in dem verschlossenen Raume einwenig verweilte, und er betrat hiemit den abschüssi-gen Weg des Bösen.

Unterdessen schrie der Wirt, der ihn gesehen hatteim Mantel dahin gehen: »Der Herr friert! Heizet 15

mehr ein im Saal! Wo ist die Lise, wo ist die Anne?Rasch einen Korb Holz in den Ofen und einigeHände voll Späne, dass es brennt! Zum Teufel, sollendie Leute in der Waage im Mantel zu Tisch sitzen?«

Und als der Schneider wieder aus dem langen 20

Gange hervorgewandelt kam, melancholisch wie derumgehende Ahnherr eines Stammschlosses, beglei-tete er ihn mit hundert Komplimenten und Handrei-bungen wiederum in den verwünschten Saal hinein.Dort wurde er ohne ferneres Verweilen an den Tisch 25

gebeten, der Stuhl zurechtgerückt, und da der Duftder kräftigen Suppe, dergleichen er lange nicht ge-rochen, ihn vollends seines Willens beraubte, so ließer sich in Gottes Namen nieder und tauchte sofortden schweren Löffel in die braungoldene Brühe. In 30

tiefem Schweigen erfrischte er seine matten Lebens-geister und wurde mit achtungsvoller Stille und Ruhebedient.

Als er den Teller geleert hatte und der Wirt sah,dass es ihm so wohl schmeckte, munterte er ihn höf- 35

21 melancholisch: schwermütig, trübsinnig 25 ferneres: wei-teres

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9lich auf, noch einen Löffel voll zu nehmen, das seigut bei dem rauhen Wetter.

Nun wurde die Forelle aufgetragen, mit Grünembekränzt, und der Wirt legte ein schönes Stück vor.Doch der Schneider, von Sorgen gequält, wagte in5

seiner Blödigkeit nicht, das blanke Messer zu brau-chen, sondern hantierte schüchtern und zimperlichmit der silbernen Gabel daran herum. Das bemerktedie Köchin, welche zur Türe hereinguckte, den gro-ßen Herren zu sehen, und sie sagte zu den Umste-10

henden: »Gelobt sei Jesus Christ! Der weiß noch ei-nen feinen Fisch zu essen, wie es sich gehört, der sägtnicht mit dem Messer in dem zarten Wesen herum,wie wenn er ein Kalb schlachten wollte. Das ist einHerr von großem Hause, darauf wollt’ ich schwören,15

wenn es nicht verboten wäre! Und wie schön undtraurig er ist! Gewiss ist er in ein armes Fräulein ver-liebt, das man ihm nicht lassen will! Ja ja, die vorneh-men Leute haben auch ihre Leiden!«

Inzwischen sah der Wirt, dass der Gast nicht trank,20

und sagte ehrerbietig: »Der Herr mögen den Tisch-wein nicht; befehlen Sie vielleicht ein Glas gutenBordeaux, den ich bestens empfehlen kann?«

Da beging der Schneider den zweiten selbsttätigenFehler, indem er aus Gehorsam ja statt nein sagte,25

und alsobald verfügte sich der Waagwirt persönlichin den Keller, um eine ausgesuchte Flasche zu holen;denn es lag ihm alles daran, dass man sagen könne, essei etwas Rechtes im Ort zu haben. Als der Gast vondem eingeschenkten Weine wiederum aus bösem Ge-30

wissen ganz kleine Schlücklein nahm, lief der Wirtvoll Freuden in die Küche, schnalzte mit der Zungeund rief: »Hol’ mich der Teufel, der versteht’s, derschlürft meinen guten Wein auf die Zunge, wie maneinen Dukaten auf die Goldwaage legt!«35

3 mit Grünem: mit grünem Gemüse 6 Blödigkeit: Zaghaftig-keit, Schwäche 23 Bordeaux: Rotwein von hoher Qualität35 Dukaten: Goldmünzen

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10 »Gelobt sei Jesus Christ!«, sagte die Köchin, »ichhab’s ja behauptet, dass er’s versteht!«

So nahm die Mahlzeit denn ihren Verlauf, undzwar sehr langsam, weil der arme Schneider immerzimperlich und unentschlossen aß und trank und der 5

Wirt, um ihm Zeit zu lassen, die Speisen genugsamstehen ließ. Trotzdem war es nicht der Rede wert,was der Gast bis jetzt zu sich genommen; vielmehrbegann der Hunger, der immerfort so gefährlich ge-reizt wurde, nun den Schrecken zu überwinden, und 10

als die Pastete von Rebhühnern erschien, schlug dieStimmung des Schneiders gleichzeitig um und einfester Gedanke begann sich in ihm zu bilden. »Es istjetzt einmal, wie es ist!«, sagte er sich, von einemneuen Tröpflein Weines erwärmt und aufgestachelt; 15

»nun wäre ich ein Tor, wenn ich die kommendeSchande und Verfolgung ertragen wollte, ohne michdafür satt gegessen zu haben! Also vorgesehen, weiles noch Zeit ist! Das Türmchen, was sie da aufgestellthaben, dürfte leichtlich die letzte Speise sein, daran 20

will ich mich halten, komme was da wolle! Was icheinmal im Leibe habe, kann mir kein König wiederrauben!«

Gesagt, getan; mit dem Mute der Verzweiflunghieb er in die leckere Pastete, ohne an ein Aufhören 25

zu denken, sodass sie in weniger als fünf Minutenzur Hälfte geschwunden war und die Sache für dieAbendherren sehr bedenklich zu werden begann.Fleisch, Trüffeln, Klößchen, Boden, Deckel, allesschlang er ohne Ansehen der Person hinunter, nur 30

besorgt, sein Ränzchen vollzupacken, ehe das Ver-hängnis hereinbräche; dazu trank er den Wein intüchtigen Zügen und steckte große Brotbissen in denMund; kurz, es war eine so hastig belebte Einfuhr,wie wenn bei aufsteigendem Gewitter das Heu von 35

6 genugsam: genügend lange Zeit 20 leichtlich: wohl, wahr-scheinlich 29 Trüffeln: besonders teure und schmackhaftePilze 31 sein Ränzchen vollzupacken: bildhafter Ausdruckfür ›sehr viel essen‹

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11der nahen Wiese gleich auf der Gabel in die Scheunegeflüchtet wird. Abermals lief der Wirt in die Kücheund rief: »Köchin! Er isst die Pastete auf, während erden Braten kaum berührt hat! Und den Bordeauxtrinkt er in halben Gläsern!«5

»Wohl bekomm’ es ihm«, sagte die Köchin, »las-sen Sie ihn nur machen, der weiß, was Rebhühnersind! Wär er ein gemeiner Kerl, so hätte er sich anden Braten gehalten!«

»Ich sag’s auch«, meinte der Wirt; »es sieht sich10

zwar nicht ganz elegant an, aber so hab ich, als ich zumeiner Ausbildung reiste, nur Generäle und Kapi-telsherren essen sehen!«

Unterdessen hatte der Kutscher die Pferde fütternlassen und selbst ein handfestes Essen eingenommen15

in der Stube für das untere Volk, und da er Eile hatte,ließ er bald wieder anspannen. Die Angehörigen desGasthofes zur Waage konnten sich nun nicht längerenthalten und fragten, eh es zu spät wurde, den herr-schaftlichen Kutscher geradezu, wer sein Herr da20

oben sei und wie er heiße? Der Kutscher, ein schalk-hafter und durchtriebener Kerl, versetzte: »Hat er esnoch nicht selbst gesagt?«

»Nein«, hieß es, und er erwiderte: »Das glaub ichwohl, der spricht nicht viel in einem Tage; nun, es ist25

der Graf Strapinski! Er wird aber heut und vielleichteinige Tage hier bleiben, denn er hat mir befohlen,mit dem Wagen vorauszufahren.«

Er machte diesen schlechten Spaß, um sich an demSchneiderlein zu rächen, das, wie er glaubte, statt ihm30

für seine Gefälligkeit ein Wort des Dankes und desAbschiedes zu sagen, sich ohne Umsehen in dasHaus begeben hatte und den Herren spielte. SeineEulenspiegelei aufs Äußerste treibend, bestieg erauch den Wagen, ohne nach der Zeche für sich und35

12 f. Kapitelsherren: Weltgeistliche einer Domkirche34 Eulenspiegelei: Schelmenstreich 35 Zeche: Rechnungfür Speisen und Getränke

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12 die Pferde zu fragen, schwang die Peitsche und fuhraus der Stadt, und alles ward so in der Ordnung be-funden und dem guten Schneider aufs Kerbholz ge-bracht.

Nun musste es sich aber fügen, dass dieser, ein ge- 5

borener Schlesier, wirklich Strapinski hieß, WenzelStrapinski, mochte es nun ein Zufall sein odermochte der Schneider sein Wanderbuch im Wagenhervorgezogen, es dort vergessen und der Kutscheres zu sich genommen haben. Genug, als der Wirt 10

freudestrahlend und händereibend vor ihn hin tratund fragte, ob der Herr Graf Strapinski zum Nach-tisch ein Glas alten Tokaier oder ein Glas Cham-pagner nehme, und ihm meldete, dass die Zimmersoeben zubereitet würden, da erblasste der arme 15

Strapinski, verwirrte sich von neuem und erwidertegar nichts.

»Höchst interessant!«, brummte der Wirt für sich,indem er abermals in den Keller eilte und aus beson-derm Verschlage nicht nur ein Fläschchen Tokaier, 20

sondern auch ein Krügelchen Bocksbeutel holte und�

eine Champagnerflasche schlechthin unter den Armnahm. Bald sah Strapinski einen kleinen Wald vonGläsern vor sich, aus welchem der Champagnerkelchwie eine Pappel emporragte. Das glänzte, klingelte 25

und duftete gar seltsam vor ihm, und was noch selt-samer war, der arme, aber zierliche Mann griff nichtungeschickt in das Wäldchen hinein und goss, als ersah, dass der Wirt etwas Rotwein in seinen Cham-pagner tat, einige Tropfen Tokaier in den seinigen. 30

Inzwischen war der Stadtschreiber und der Notar ge-kommen, um den Kaffee zu trinken und das täglicheSpielchen um denselben zu machen; bald kam auchder ältere Sohn des Hauses Häberlin und Cie., derjüngere des Hauses Pütschli-Nievergelt, der Buch- 35

3 f. aufs Kerbholz gebracht: hier: wurde (ihm) als Schuld an-geschrieben 6 Schlesier: Person aus der Region Schlesien imheutigen Polen 8 Wanderbuch: Buch mit Arbeitsnachweisenreisender Handwerker 13 Tokaier: kostbarer Wein aus Un-garn 24 Champagnerkelch: spezielles Glas für Champagner31 Notar: beglaubigt und beurkundet rechtliche Vereinbarungenund Verträge 34 Cie.: Abkürzung für »Compagnie« (›Handels-gesellschaft‹)

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13halter einer großen Spinnerei, Herr Melcher Böhni;allein statt ihre Partie zu spielen, gingen sämtlicheHerren in weitem Bogen hinter dem polnischen Gra-fen herum, die Hände in den hintern Rocktaschen,mit den Augen blinzelnd und auf den Stockzähnen5

lächelnd. Denn es waren diejenigen Mitglieder guterHäuser, welche ihr Leben lang zu Hause blieben,deren Verwandte und Genossen aber in aller Weltsaßen, weswegen sie selbst die Welt sattsam zu ken-nen glaubten.10

Also das sollte ein polnischer Graf sein? Den Wa-gen hatten sie freilich von ihrem Comptoirstuhl ausgesehen; auch wusste man nicht, ob der Wirt denGrafen oder dieser jenen bewirte; doch hatte derWirt bis jetzt noch keine dummen Streiche gemacht;15

er war vielmehr als ein ziemlich schlauer Kopf be-kannt, und so wurden denn die Kreise, welche dieneugierigen Herren um den Fremden zogen, immerkleiner, bis sie sich zuletzt vertraulich an den gleichenTisch setzten und sich auf gewandte Weise zu dem20

Gelage aus dem Stegreif einluden, indem sie ohneweiteres um eine Flasche zu würfeln begannen.

Doch tranken sie nicht zu viel, da es noch frühwar; dagegen galt es einen Schluck trefflichen Kaffeezu nehmen und dem Polacken, wie sie den Schneider25

bereits heimlich nannten, mit gutem Rauchzeug auf-zuwarten, damit er immer mehr röche, wo er eigent-lich wäre.

»Darf ich dem Herren Grafen eine ordentliche Zi-garre anbieten? Ich habe sie von meinem Bruder auf30

Kuba direkt bekommen !«, sagte der eine.»Die Herren Polen lieben auch eine gute Zigarette,

hier ist echter Tabak aus Smyrna, mein Kompagnonhat ihn gesendet«, rief der andere, indem er ein rot-seidenes Beutelchen hinschob.35

1 Spinnerei: Unternehmen, in dem Baumwollfasern zu Garnenverarbeitet werden 5 f. auf den Stockzähnen lächelnd: bild-haft für ›heimlich lächelnd‹ 9 sattsam: genug 12 Comptoir-stuhl: Bürostuhl 21 aus dem Stegreif: sofort, ohne längeresÜberlegen 25 dem Polacken: dem Polen 33 Smyrna: in derAntike gegründete Stadt in Kleinasien (heute Izmir) 33 Kom-pagnon: Geschäftspartner

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14 »Dieser aus Damaskus ist feiner, Herr Graf«, rief�

der dritte, »unser dortige Prokurist selbst hat ihn fürmich besorgt!«

Der vierte streckte einen ungefügen Zigarrenben-gel dar, indem er schrie: »Wenn Sie etwas ganz Aus- 5

gezeichnetes wollen, so versuchen Sie diese Pflanzer-zigarre aus Virginien, selbstgezogen, selbstgemacht�

und durchaus nicht käuflich!«Strapinski lächelte sauersüß, sagte nichts und war

bald in feine Duftwolken gehüllt, welche von der 10

hervorbrechenden Sonne lieblich versilbert wurden.Der Himmel entwölkte sich in weniger als einerViertelstunde, der schönste Herbstnachmittag tratein; es hieß, der Genuss der günstigen Stunde sei sichzu gönnen, da das Jahr vielleicht nicht viele solcher 15

Tage mehr brächte; und es wurde beschlossen auszu-fahren, den fröhlichen Amtsrat auf seinem Gute zubesuchen, der erst vor wenigen Tagen gekeltert hatte,und seinen neuen Wein, den roten Sauser, zu kosten.Pütschli-Nievergelt, Sohn, sandte nach seinem Jagd- 20

wagen, und bald schlugen seine jungen Eisenschim-mel das Pflaster vor der Waage. Der Wirt selbst ließebenfalls anspannen, man lud den Grafen zuvorkom-mend ein, sich anzuschließen und die Gegend etwaskennenzulernen. 25

Der Wein hatte seinen Witz erwärmt; er über-dachte schnell, dass er bei dieser Gelegenheit am bes-ten sich unbemerkt entfernen und seine Wanderungfortsetzen könne; den Schaden sollten die törichtenund zudringlichen Herren an sich selbst behalten. Er 30

nahm daher die Einladung mit einigen höflichenWorten an und bestieg mit dem jungen Pütschli denJagdwagen.

Nun war es eine weitere Fügung, dass der Schnei-der, nachdem er auf seinem Dorfe schon als junger 35

2 Prokurist: Bevollmächtigter 4 f. ungefügen Zigarrenben-gel: ironisch für: übergroße und dicke Zigarre 17 Amtsrat: Ver-waltungsbeamter im gehobenen Dienst 18 der … gekelterthatte: der Weintrauben in einer Kelter ausgepresst hatte19 roten Sauser: jungen Rotwein 21 f. Eisenschimmel: eisen-graues Pferd 26 Witz: hier: Geist, Verstand

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15Bursch dem Gutsherren zuweilen Dienste geleistet,seine Militärzeit bei den Husaren abgedient hatteund demnach genugsam mit Pferden umzugehen ver-stand. Wie daher sein Gefährte höflich fragte, ob ervielleicht fahren möge, ergriff er sofort Zügel und5

Peitsche und fuhr in schulgerechter Haltung, in ra-schem Trabe durch das Tor und auf der Landstraßedahin, sodass die Herren einander ansahen und flüs-terten: »Es ist richtig, es ist jedenfalls ein Herr!«

In einer halben Stunde war das Gut des Amtsrates10

erreicht, Strapinski fuhr in einem prächtigen Halbbo-gen auf und ließ die feurigen Pferde aufs Beste an-prallen; man sprang von den Wagen, der Amtsratkam herbei und führte die Gesellschaft ins Haus, undalsobald war auch der Tisch mit einem halben Dut-15

zend Karaffen voll karneolfarbigen Sausers besetzt.Das heiße gärende Getränk wurde vorerst geprüft,belobt und sodann fröhlich in Angriff genommen,während der Hausherr im Hause die Kunde herum-trug, es sei ein vornehmer Graf da, ein Polacke, und20

eine feinere Bewirtung vorbereitete.Mittlerweile teilte sich die Gesellschaft in zwei

Partieen, um das versäumte Spiel nachzuholen, da indiesem Lande keine Männer zusammen sein konn-ten, ohne zu spielen, wahrscheinlich aus angebore-25

nem Tätigkeitstriebe. Strapinski, welcher die Teil-nahme aus verschiedenen Gründen ablehnen musste,wurde eingeladen zuzusehen, denn das schien ihnenimmerhin der Mühe wert, da sie so viel Klugheit undGeistesgegenwart bei den Karten zu entwickeln30

pflegten. Er musste sich zwischen beide Partieen set-zen, und sie legten es nun darauf an, geistreich undgewandt zu spielen und den Gast zu gleicher Zeit zuunterhalten. So saß er denn wie ein kränkelnderFürst, vor welchem die Hofleute ein angenehmes35

2 Husaren: Reitersoldaten 12 f. ließ … anprallen: ließ die Pfer-de schnell heranreiten und plötzlich stoppen 16 karneolfar-bigen: Karneol: ein Schmuckstein von hell- bis blutroter Farbe

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16 Schauspiel aufführen und den Lauf der Welt darstel-len. Sie erklärten ihm die bedeutendsten Wendungen,Handstreiche und Ereignisse, und wenn die eine Par-tei für einen Augenblick ihre Aufmerksamkeit aus-schließlich dem Spiele zuwenden musste, so führte 5

die andere dafür umso angelegentlicher die Unter-haltung mit dem Schneider. Der beste Gegenstanddünkte sie hiefür Pferde, Jagd und dergleichen; Stra-pinski wusste hier auch am besten Bescheid; denn erbrauchte nur die Redensarten hervorzuholen, welche 10

er einst in der Nähe von Offizieren und Gutsherrengehört und die ihm schon dazumal ausnehmendwohl gefallen hatten. Wenn er diese Redensartenauch nur sparsam, mit einer gewissen Bescheidenheitund stets mit einem schwermütigen Lächeln vor- 15

brachte, so erreichte er damit nur eine größere Wir-kung; wenn zwei oder drei von den Herren aufstan-den und etwa zur Seite traten, so sagten sie: »Es istein vollkommener Junker!«

Nur Melcher Böhni, der Buchhalter, als ein gebo- 20

rener Zweifler, rieb sich vergnügt die Hände undsagte zu sich selbst: Ich sehe es kommen, dass es wie-der einen Goldacher Putsch gibt, ja, er ist gewisser-maßen schon da! Es war aber auch Zeit, denn schonsind’s zwei Jahre seit dem letzten! Der Mann dort hat 25

mir so wunderlich zerstochene Finger, vielleicht vonPraga oder Ostrolenka her! Nun, ich werde mich hü-ten den Verlauf zu stören!

Die beiden Partieen waren nun zu Ende, auch dasSausergelüste der Herren gebüßt, und sie zogen nun 30

vor, sich an den alten Weinen des Amtsrates ein we-nig abzukühlen, die jetzt gebracht wurden; doch wardie Abkühlung etwas leidenschaftlicher Natur, indemsofort, um nicht in schnöden Müßiggang zu verfal-len, ein allgemeines Hasardspiel vorgeschlagen wur- 35

8 dünkte sie: schien ihnen 19 Junker: junger Adliger, auch:Großgrundbesitzer 23 Putsch: heftiger Stoß, Knall; hier: Skan-dal 27 Praga … Ostrolenka: polnische Orte, an denen 1794und 1831 Polenaufstände von russischen Truppen niederge-schlagen wurden 35 Hasardspiel: Glücksspiel

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17de. Man mischte die Karten, jeder warf einen Bra-bantertaler hin, und als die Reihe an Strapinski war,konnte er nicht wohl seinen Fingerhut auf den Tischsetzen. »Ich habe nicht ein solches Geldstück«, sagteer errötend; aber schon hatte Melcher Böhni, der ihn5

beobachtet, für ihn eingesetzt, ohne dass jemand dar-auf achtgab; denn alle waren viel zu behaglich alsdass sie auf den Argwohn geraten wären, jemand inder Welt könne kein Geld haben. Im nächsten Au-genblicke wurde dem Schneider, der gewonnen hatte,10

der ganze Einsatz zugeschoben; verwirrt ließ er dasGeld liegen und Böhni besorgte für ihn das zweiteSpiel, welches ein anderer gewann, sowie das dritte.Doch das vierte und fünfte gewann wiederum derPolacke, der allmählig aufwachte und sich in die15

Sache fand. Indem er sich still und ruhig verhielt,spielte er mit abwechselndem Glücke; einmal kam erbis auf einen Taler herunter, den er setzen musste, ge-wann wieder, und zuletzt, als man das Spiel satt be-kam, besaß er einige Louisdors, mehr als er jemals in20

seinem Leben besessen, welche er, als er sah, dassjedermann sein Geld einsteckte, ebenfalls zu sichnahm, nicht ohne Furcht, dass alles ein Traum sei.Böhni, welcher ihn fortwährend scharf betrachtete,war jetzt fast im Klaren über ihn und dachte: den25

Teufel fährt der in einem vierspännigen Wagen!Weil er aber zugleich bemerkte, dass der rätselhafte

Fremde keine Gier nach dem Gelde gezeigt, sichüberhaupt bescheiden und nüchtern verhalten hatte,so war er nicht übel gegen ihn gesinnt, sondern be-30

schloss, die Sache durchaus gehen zu lassen.Aber der Graf Strapinski, als man sich vor dem

Abendessen im Freien erging, nahm jetzo seine Ge-danken zusammen und hielt den rechten Zeitpunkteiner geräuschlosen Beurlaubung für gekommen. Er35

1 f. Brabantertaler: belgische Silbermünze 15 allmählig: all-mählich 20 Louisdors: frz. Goldmünzen 33 jetzo: jetzt

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18 hatte ein artiges Reisegeld und nahm sich vor, demWirt zur Waage von der nächsten Stadt aus sein auf-gedrungenes Mittagsmahl zu bezahlen. Also schluger seinen Radmantel malerisch um, drückte die Pelz-mütze tiefer in die Augen und schritt unter einer 5

Reihe von hohen Akazien in der Abendsonne lang-sam auf und nieder, das schöne Gelände betrachtendoder vielmehr den Weg erspähend, den er einschla-gen wollte. Er nahm sich mit seiner bewölktenStirne, seinem lieblichen, aber schwermütigen Mund- 10

bärtchen, seinen glänzenden schwarzen Locken, sei-nen dunklen Augen, im Wehen seines faltigen Man-tels vortrefflich aus; der Abendschein und das Säu-seln der Bäume über ihm erhöhte den Eindruck,sodass die Gesellschaft ihn von ferne mit Aufmerk- 15

samkeit und Wohlwollen betrachtete. Allmählig ginger immer etwas weiter vom Hause hinweg, schrittdurch ein Gebüsch, hinter welchem ein Feldweg vor-überging, und als er sich vor den Blicken der Gesell-schaft gedeckt sah, wollte er eben mit festem Schritt 20

ins Feld rücken, als um eine Ecke herum plötzlichder Amtsrat mit seiner Tochter Nettchen ihm entge-gentrat. Nettchen war ein hübsches Fräulein, äu-ßerst prächtig, etwas stutzerhaft gekleidet und mitSchmuck reichlich verziert. 25

»Wir suchen Sie, Herr Graf!«, rief der Amtsrat,»damit ich Sie erstens hier meinem Kinde vorstelleund zweitens, um Sie zu bitten, dass Sie uns die Ehreerweisen möchten, einen Bissen Abendbrot mit uns zunehmen; die anderen Herren sind bereits im Hause.« 30

Der Wanderer nahm schnell seine Mütze vomKopfe und machte ehrfurchtsvolle, ja furchtsameVerbeugungen, von Rot übergossen. Denn eine neueWendung war eingetreten, ein Fräulein beschritt denSchauplatz der Ereignisse. Doch schadete ihm seine 35

1 artiges: ordentliches, ansehnliches 2 f. aufgedrungenes: auf-gezwungenes 24 stutzerhaft: eitel

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19Blödigkeit und übergroße Ehrerbietung nichts beider Dame; im Gegenteil, die Schüchternheit, Demutund Ehrerbietung eines so vornehmen und interes-santen jungen Edelmanns erschien ihr wahrhaft rüh-rend, ja hinreißend. Da sieht man, fuhr es ihr durch5

den Sinn, je nobler, desto bescheidener und unver-dorbener; merkt es euch, ihr Herren Wildfänge vonGoldach, die ihr vor jungen Mädchen kaum mehrden Hut berührt!

Sie grüßte den Ritter daher auf das holdseligste,10

indem sie auch lieblich errötete, und sprach sogleichhastig und schnell und vieles mit ihm, wie es die Artbehaglicher Kleinstädterinnen ist, die sich den Frem-den zeigen wollen. Strapinski hingegen wandelte sichin kurzer Zeit um; während er bisher nichts getan15

hatte, um im Geringsten in die Rolle einzugehen, dieman ihm aufbürdete, begann er nun unwillkürlichetwas gesuchter zu sprechen und mischte allerhandpolnische Brocken in die Rede, kurz, das Schneider-blütchen fing in der Nähe des Frauenzimmers an,20

seine Sprünge zu machen und seinen Reiter davonzu-tragen.

Am Tisch erhielt er den Ehrenplatz neben derTochter des Hauses; denn die Mutter war gestorben.Er wurde zwar bald wieder melancholisch, da er be-25

dachte, nun müsse er mit den andern wieder in dieStadt zurückkehren oder gewaltsam in die Nachthinaus entrinnen, und da er ferner überlegte, wie ver-gänglich das Glück sei, welches er jetzt genoss. Aberdennoch empfand er dies Glück und sagte sich zum30

Voraus: Ach, einmal wirst du doch in deinem Lebenetwas vorgestellt und neben einem solchen höhernWesen gesessen haben.

Es war in der Tat keine Kleinigkeit, eine Hand ne-ben sich glänzen zu sehen, die von drei oder vier35

6 nobler: vornehmer, edler 7 Wildfänge: lebhafte, wilde Kin-der; junge Menschen 10 auf das holdseligste: mit höchsterAnmut 19 Brocken: Bruchstücke (der polnischen Sprache)21 f. seinen Reiter davonzutragen: bildhaft: durchzugehen,außer Kontrolle zu geraten

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20 Armbändern klirrte, und bei einem flüchtigen Sei-tenblick jedes Mal einen abenteuerlich und reizendfrisierten Kopf, ein holdes Erröten, einen vollen Au-genaufschlag zu sehen. Denn er mochte tun oderlassen, was er wollte, alles wurde als ungewöhnlich 5

und nobel ausgelegt und die Ungeschicklichkeitselbst als merkwürdige Unbefangenheit liebenswür-dig befunden von der jungen Dame, welche sonststundenlang über gesellschaftliche Verstöße zu plau-dern wusste. Da man guter Dinge war, sangen ein 10

paar Gäste Lieder, die in den dreißiger Jahren Modewaren. Der Graf wurde gebeten, ein polnisches Liedzu singen. Der Wein überwand seine Schüchternheitendlich, obschon nicht seine Sorgen; er hatte einsteinige Wochen im Polnischen gearbeitet und wusste 15

einige polnische Worte, sogar ein Volksliedchen aus-wendig, ohne ihres Inhaltes bewusst zu sein, gleicheinem Papagei. Also sang er mit edlem Wesen, mehrzaghaft als laut und mit einer Stimme, welche wievon einem geheimen Kummer leise zitterte, auf Pol- 20

nisch:

Hunderttausend Schweine pferchenVon der Desna bis zur Weichsel,Und Kathinka, dieses Saumensch,Geht im Schmutz bis an die Knöchel! 25

Hunderttausend Ochsen brüllenAuf Wolhyniens grünen Weiden,Und Kathinka, ja Kathinka,Glaubt, ich sei in sie verliebt !

»Bravo! Bravo!«, riefen alle Herren, mit den Hän- 30

den klatschend, und Nettchen sagte gerührt: »Ach,das Nationale ist immer so schön!« Glücklicherweiseverlangte niemand die Übersetzung dieses Gesanges.

3 holdes: anmutiges, liebliches 22 pferchen: sind in eine Ein-friedung aus Brettern gesperrt 23 Desna … Weichsel: polni-sche Flüsse 27 Wolhyniens: Wolhynien: Landschaft im Nord-westen der heutigen Ukraine

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21Mit dem Überschreiten solchen Höhepunktes derUnterhaltung brach die Gesellschaft auf; der Schnei-der wurde wieder eingepackt und sorgfältig nachGoldach zurückgebracht; vorher hatte er versprechenmüssen, nicht ohne Abschied davonzureisen. Im5

Gasthof zur Waage wurde noch ein Glas Punsch ge-nommen; jedoch Strapinski war erschöpft und ver-langte nach dem Bette. Der Wirt selbst führte ihn aufseine Zimmer, deren Stattlichkeit er kaum mehr be-achtete, obgleich er nur gewohnt war in dürftigen10

Herbergskammern zu schlafen. Er stand ohne alleund jede Habseligkeit mitten auf einem schönen Tep-pich, als der Wirt plötzlich den Mangel an Gepäckentdeckte und sich vor die Stirne schlug. Dann lief erschnell hinaus, schellte, rief Kellner und Hausknechte15

herbei, wortwechselte mit ihnen, kam wieder undbeteuerte: Es ist richtig, Herr Graf, man hat verges-sen Ihr Gepäck abzuladen! Auch das Notwendigstefehlt!

»Auch das kleine Paketchen, das im Wagen lag?«,20

fragte Strapinski ängstlich, weil er an ein handgroßesBündelein dachte, welches er auf dem Sitze hatte lie-gen lassen und das ein Schnupftuch, eine Haarbürste,einen Kamm, ein Büchschen Pomade und einen Sten-gel Bartwichse enthielt.25

»Auch dieses fehlt, es ist gar nichts da«, sagte dergute Wirt erschrocken, weil er darunter etwas sehrWichtiges vermutete. »Man muss dem Kutscher so-gleich einen Expressen nachschicken«, rief er eifrig,»ich werde das besorgen!«30

Doch der Herr Graf fiel ihm ebenso erschrockenin den Arm und sagte bewegt: »Lassen Sie, es darfnicht sein! Man muss meine Spur verlieren für einigeZeit«, setzte er hinzu, selbst betreten über diese Er-findung.35

24 Pomade: fetthaltige Substanz zur Haarpflege 25 Bartwich-se: Pomade zum Glätten der Barthaare 29 Expressen: Eilboten

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22 Der Wirt ging erstaunt zu den Punsch trinken-den Gästen, erzählte ihnen den Fall und schlossmit dem Ausspruche, dass der Graf unzweifelhaftein Opfer politischer oder der Familienverfolgungsein müsse; denn um eben diese Zeit wurden viele 5�

Polen und andere Flüchtlinge wegen gewaltsamerUnternehmungen des Landes verwiesen; anderewurden von fremden Agenten beobachtet und um-garnt.

Strapinski aber tat einen guten Schlaf, und als er 10

spät erwachte, sah er zunächst den prächtigen Sonn-tagsschlafrock des Waagwirtes über einen Stuhl ge-hängt, ferner ein Tischchen mit allem möglichen Toi-lettenwerkzeug bedeckt. Sodann harrten eine AnzahlDienstboten, um Körbe und Koffer, angefüllt mit 15

feiner Wäsche, mit Kleidern, mit Zigarren, mit Bü-chern, mit Stiefeln, mit Schuhen, mit Sporen, mitReitpeitschen, mit Pelzen, mit Mützen, mit Hüten,mit Socken, mit Strümpfen, mit Pfeifen, mit Flötenund Geigen, abzugeben von Seiten der gestrigen 20

Freunde, mit der angelegentlichen Bitte, sich dieserBequemlichkeiten einstweilen bedienen zu wollen.Da sie die Vormittagsstunden unabänderlich in ihrenGeschäften verbrachten, ließen sie ihre Besuche aufdie Zeit nach Tisch ansagen. 25

Diese Leute waren nichts weniger als lächerlichoder einfältig, sondern umsichtige Geschäftsmänner,mehr schlau als vernagelt; allein da ihre wohlbesorgteStadt klein war und es ihnen manchmal langweiligdarin vorkam, waren sie stets begierig auf eine Ab- 30

wechslung, ein Ereignis, einen Vorgang, dem sie sichohne Rückhalt hingaben. Der vierspännige Wagen,das Aussteigen des Fremden, sein Mittagessen, dieAussage des Kutschers waren so einfache und natür-liche Dinge, dass die Goldacher, welche keinem mü- 35

13 f. Toilettenwerkzeug: Artikel für die Körperpflege 21 ange-legentlichen: nachdrücklichen 28 vernagelt: borniert, (geistig)beschränkt

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23ßigen Argwohn nachzuhängen pflegten, ein Ereignisdarauf aufbauten wie auf einen Felsen.

Als Strapinski das Warenlager sah, das sich vorihm ausbreitete, war seine erste Bewegung, dass er inseine Tasche griff, um zu erfahren, ob er träume oder5

wache. Wenn sein Fingerhut dort noch in seiner Ein-samkeit weilte, so träumte er. Aber nein, der Fin-gerhut wohnte traulich zwischen dem gewonnenenSpielgelde und scheuerte sich freundschaftlich an denTalern; so ergab sich auch sein Gebieter wiederum in10

das Ding und stieg von seinen Zimmern herunter aufdie Straße, um sich die Stadt zu besehen, in welcheres ihm so wohl erging. Unter der Küchentüre standdie Köchin, welche ihm einen tiefen Knicks machteund ihm mit neuem Wohlgefallen nachsah; auf dem15

Flur und an der Haustüre standen andere Hausgeis-ter, alle mit der Mütze in der Hand, und Strapinskischritt mit gutem Anstand und doch bescheiden hin-aus, seinen Mantel sittsam zusammennehmend. DasSchicksal machte ihn mit jeder Minute größer.20

Mit ganz anderer Miene besah er sich die Stadt alswenn er um Arbeit darin ausgegangen wäre. Die-selbe bestand größtenteils aus schönen, festgebautenHäusern, welche alle mit steinernen oder gemaltenSinnbildern geziert und mit einem Namen versehen25

waren. In diesen Benennungen war die Sitte der Jahr-hunderte deutlich zu erkennen. Das Mittelalter spie-gelte sich ab in den ältesten Häusern oder in denNeubauten, welche an deren Stelle getreten, aber denalten Namen behalten aus der Zeit der kriegerischen30

Schultheiße und der Märchen. Da hieß es: zumSchwert, zum Eisenhut, zum Harnisch, zur Arm-brust, zum blauen Schild, zum Schweizerdegen, zumRitter, zum Büchsenstein, zum Türken, zum Meer-wunder, zum goldnen Drachen, zur Linde, zum Pil-35

8 traulich: den Eindruck von Gemütlichkeit und Geborgenheiterweckend 31 Schultheiße: Gemeindevorsteher, Bürgermeis-ter 32 Eisenhut: Giftpflanze mit helmartiger Blütenform32 Harnisch: Ritterrüstung 33 Schweizerdegen: besondereSchwertform, Hieb- und Stichwaffe 34 Büchsenstein: Feuer-stein, Zündstein einer Feuerwaffe