17
Rainer Maria R ilke Kennst du Der schwere Weg zum großen Dichter Texte von Rilke für junge Leser ausgewählt und vorgestellt von Horst Nalewski ? bertuchs weltliteratur für junge leser

Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

RainerMaria

RilkeKennst du

Der schwere Wegzum großen Dichter

Texte von Rilkefür junge Leser ausgewähltund vorgestellt von

Horst Nalewski ?

b e r t u c h s w e l t l i t e r a t u r f ü r j u n g e l e s e r

Page 2: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

Rainer Maria Rilke, um 1917,

Zeichnung von Emil Orlik

Page 3: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

Bertuchs Weltliteratur für junge Leser

herausgeber: Wolfgang Brekle

band 1 : Kennst du Rainer Maria Rilke?

Der schwere Weg zum großen Dichter

© bertuch-verlag gmbh weimar 2005

www.bertuch-verlag.com

umschlaggestaltung:

Corax Marketing, Weimar

(unter Verwendung einer

Fotografie Rilkes)

gesamtherstellung:

Corax Color, Weimar

isbn: 3-937601-25-2

Page 4: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

Inhalt

eine vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Prag. Der Ursprung … Keine Heimat . . . . . . . 10Russland. Die Lebens-Prägung . . . . . . . . . . . . . . . 21Geschichten vom lieben Gott und Anderes (Drei Geschichten) . . . . . . . . . . . . . 27Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47Die Turnstunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59Worpswede. Eine Maler-Kolonie ... Der Ehe-Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65Der Drachentöter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69Paris. Der Lebens-Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74Samskola (Ein schwedisches Schul-Experiment) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82Briefe an einen jungenDichter (Ein Brief) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91Brief an die kleine Tochter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95Paris. Der Arbeits-Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

eine notwendigenachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

chronik von leben und werk . . . . . . 101bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103über den verfasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Page 5: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon
Page 6: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

b e r t u c h s w e l t l i t e r a t u r f ü r j u n g e l e s e r | r a i n e r m a r i a r i l k e

Eine Vorbemerkung

Nur keine Angst! Allein ein Moment sei demSchwierigen gewidmet, das ein aufmerksa-mes Lesen gewiss begreifen wird.

Rilkes Leben umfasst eine relativ kurzeZeitspanne: Er wurde nur 51 Jahre alt. Gebo-ren am 4. Dezember 1875 in Prag, gestorbenam 29. Dezember 1926 in Val-Mont, in derSchweiz. In seine Lebenszeit fielen das unge-heuere Ereignis eines vier Jahre währendenersten Weltkriegs, europäische Revolutio-nen, Konterrevolutionen, Putsche, Inflation,soziale Verelendung und die Anfänge desFaschismus.

Die Summe seines Nachdenkens überdas Wesen des Dichters, das freilich nur dasNachdenken über sein eigenes sein konnte,seinen Dichterauftrag, erscheint in der fol-genden Strophe aus dem Jahr 1921.

Allerdings ist es die Strophe eines derbedeutendsten Dichter deutscher Sprache

Der Dichter einzig hat die Welt geeinigt,die weit in jedem auseinanderfällt.Das Schöne hat er unerhört bescheinigt,doch da er selbst noch feiert, was ihn peinigt,hat er unendlich den Ruin gereinigt:

und auch noch das Vernichtende wird Welt.

Hier wird etwas ausgesprochen, was unsallen nahezu unmöglich ist: Die Ganzheitunseres Lebens zu bejahen: unser Glück undunser Unglück, unsre Freude und unsernSchmerz, unsre Lust und unsre Pein. Wollenwir nur das Eine und verdrängen das Andere,geraten wir aus dem Gleichgewicht, geratenwir möglicherweise mit einem Teil unsresDenkens und Fühlens in einen anhaltendenWiderspruch zum Leben überhaupt.

Nicht, dass man jetzt vorschnell meint:Dieser Dichter ist ja ein Fürsprecher derWelt, »wie sie nun einmal ist«. So paradox es klingen mag: Das Gegenteil ist der Fall.Seine beschwörenden Worte reichen vondem Du mußt dein Leben ändern (1908), überdas Wolle die Wandlung (1922) bis zu derStrophe:

Deine ausgeübten Kräfte spanne,bis sie reichen, zwischen zweinWidersprüchen … Denn im Mannewill der Gott beraten sein.

Widersprüche aushalten, mit ihnen leben;dahin alle seine Kräfte spannen. Wenn wirdas vermögen, sind wir vielleicht in derLage, nun diesem einleitend-abschließendenBrief-Wort Rilkes, über den ersten Schreckhinaus, beizupflichten. Von uns aus hättenwir es so nicht sagen wollen oder können:

Das Leben selbst – und wir kennen nichts au-ßer ihm – ist es nicht furchtbar? Aber sowiewir seine Furchtbarkeit zugeben … irgendwiein einem Vertrauen, daß eben diese Furchtbar-keit ein ganz Unsriges sei … erschließt sich unseine Ahnung des Seligsten, das um diesen Preisunser ist. Wer nicht der Fürchterlichkeit des Le-bens irgendwann … zustimmt, ja ihr zujubelt,der nimmt die unsäglichen Vollmächte unseresDaseins nie in Besitz.

12. april 1923, an margot sizzo

9

Page 7: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

r a i n e r ma r i a r i l k e | b e r t u c h s w e l t l i t e r a t u r f ü r j u n g e l e s e r

P rag ist die Geburtsstadt von Rilke(1875), Franz Kafka (1883), Egon ErwinKisch (1885) und Franz Werfel (1890),

also von vier berühmten Schriftstellerndeutscher Sprache in der ersten Hälfte des20. Jahrhunderts.

Und Prag ist die Hauptstadt der erst 1918zur staatlichen Eigenständigkeit gelangtenTschechoslowakischen Republik. Über Hun-derte von Jahren war Prag und waren dieLänder Böhmen, Mähren, Slowakei fremd-beherrscht. Rund 300 Jahre, bis zum Zusam-menbruch der Habsburger K.u.K.-Monarchieam Ende des Ersten Weltkriegs, vom Öster-reichischen Kaiserhaus.

Über einen sehr langen Zeitraum warPrag eine deutschgeprägte Stadt; auchsprachlich.

»Die Deutschen besaßen zwei prunkvolleTheater, ein riesiges Konzertgebäude, zwei Hochschulen, fünf Gymnasien und vierOberrealschulen, zwei Tageszeitungen, diemorgens und abends erschienen, großeVereinsgebäude und ein reges Gesell-schaftsleben.« egon erwin kisch

Doch eben in der Jahrhunderthälfte, da jeneDichter in Prag geboren wurden, begann sichihr Charakter entscheidend zu verändern.Die industrielle Entwicklung verschmolz dieStadt mit zahlreichen Vororten, begünstigteden Zustrom tschechischer Bevölkerung undmachte die Deutschen zu einer Minderheit.

Die Silhouette des »Goldenen Prag«, wieman es einst genannt hatte, die Architekturvon Gotik, Renaissance und Barock, war ge-blieben: mit dem Veitsdom und dem Burg-berg Hradschin, der Kleinseite, Karlsbrücke

10

Prag, Ende des 19. Jahrhunderts

Page 8: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

b e r t u c h s w e l t l i t e r a t u r f ü r j u n g e l e s e r | r a i n e r m a r i a r i l k e

und der Altstadt, mit dem Rathaus, Markt-platz und der Teynkirche. Jedermann stehtauch heute noch mit Staunen vor dieser inEuropa fast einmaligen Kulisse.

Für das tschechische Nationalbewusst-sein wurde die Stadt Prag schon vor demJahr 1918 zur heimlichen Hauptstadt. Und sonahmen die politischen Spannungen fortlau-fend zu. Die Deutschen in Prag schauten aufdie »Rettung« nach Wien, während die der böhmischen Grenzgebiete »groß-deutsch« dachten.

Die Rilkesche Familie war betont »kaiser-treu«. Und nun das Erstaunliche: Nicht soder Sohn, Rainer Maria Rilke. Wie der Groß-teil der jungen Leute deutscher Herkunftstand auch er früh schon in Opposition zuden Eltern. Die hatten gewollt – ihre finan-ziellen Möglichkeiten ließen nichts andereszu –, dass er eine Offizierslaufbahn, wie einstauch der Vater, einschlug. Das misslang.

Ein vermögender Onkel gewährte ihmdas private Abitur; dem sollte sich ein Jura-studium anschließen. Doch auch das wurdefrühzeitig abgebrochen.

Rilke fühlte sich zum Dichter berufen.Als er 1895 das Abitur machte, »Mit Aus-

zeichnung«, hatte er schon zwei Gedicht-bände veröffentlicht, ein Drama verfasst undzahlreiche kleine Erzählungen geschrieben.Wollte er als deutschsprachiger Dichter aufdieser Minderheiten-Insel Prag sich und denanderen beweisen, so musste er die böh-misch-tschechische Welt aufnehmen: Ge-schichte, Landschaft, Brauchtum, historischeGestalten, Märchen, Sagen, das Volkslied,das Volk; und das war böhmisch-tschechisch.

In einer seiner Erzählungen (1898) – dalebte er schon in München, sodann in Berlin– hieß es aus dem Munde eines Tschechen,den man König Bohusch nannte, vielleichtbestürzend, so doch gerecht:

Die Deutschen sind überall, und man muß dieDeutschen hassen. Ich bitte Sie, wozu das? DerHaß macht so traurig. Sollen die Deutschen tun,was sie wollen. Sie verstehen unser Land dochnicht, und deshalb können sie uns es niemalsfortnehmen … die vielen Felder und Wiesen undFlüsse, das ist unsere Heimat, das gehört uns,wie wir dazu gehören mit allem in uns.

Und so ist Rilkes zweiter Gedichtband (1895) den Haus- und Schutzgöttern vonStadt und Land, den Laren (lat.), gewidmet:larenopfer .

11

Titelblatt des Gedichtbandes »Larenopfer«

Page 9: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

r a i n e r ma r i a r i l k e | b e r t u c h s w e l t l i t e r a t u r f ü r j u n g e l e s e r

land und volk

Gott war guter Laune. Geizenist doch wohl nicht seine Art;und er lächelte: da wardBöhmen, reich an tausend Reizen.

Wie erstarrtes Licht liegt Weizenzwischen Bergen, waldbehaart,und der Baum, den dichtgeschartFrüchte drücken, fordert Spreizen.

Gott gab Hütten, voll von SchafenStälle; und der Dirne klafftvor Gesundheit fast das Mieder.

Gab den Burschen all, den braven,in die rauhe Faust die Kraft,in das Herz – die Heimatlieder.

volksweise

Mich rührt so sehrböhmischen Volkes Weise,schleicht sie ins Herz sich leise,macht sie es schwer.

Wenn ein Kind sacht singt beim Kartoffeljäten,klingt dir sein Lied im späten Traum noch der Nacht.

Magst du auch seinweit über Land gefahren,fällt es dir doch nach Jahrenstets wieder ein.

aus dem gedichtband larenopfer

Man merkt den beiden Gedichten die Be-wunderung an, die der junge Poet dem böh-mischen Land entgegenbringt. Mit Humorund Leichtigkeit kommen die Verse daher,deren Kunstfertigkeit auf den ersten Blickgar nicht aufscheint. Doch auf den zweitenerkennt man wohl die Begabung, selbst desReimens und der Strophenbildung, desAnfangenden.

Zugleich hört man beiden Gedichteneinen leisen Unterton von Traurigkeit an: istder Dichter doch nur Zuschauer, nicht zu-gehörig diesem Land. Denn diese Heimat istja die Heimat der Anderen, nicht die seine.Damit schlägt Rilke schon sehr früh einenGrundakkord seines ganzen Lebens an.Davon wird noch die Rede sein müssen.

in der vorstadt, und sei es im zufälligenVorbeigehen des im besten Viertel Aufge-wachsenen, der Heinrichsgasse, könnte der

12

in der vorstadt

Die Alte oben mit dem heisern Husten,ja, die ist tot. – Wer war sie? – Du mein Gott,sie gab uns nichts, – ihr gab man Hohn und Spott …Kaum, daß die Leute ihren Namen wußten.

Und unten stand der schwarze Kastenwagen.Die letzte Klasse; als der Totenschreinsich spreizte, stieß man fluchend ihn hinein,und dann ward rauh die Türe zugeschlagen.

Der Kutscher hieb in seine magern Mährenund fuhr im Trab so leicht zum Friedhof hin,als wenn da nicht ein ganzes Leben drinvoll Weh und Glück – und tote Träume wären.

aus dem gedichtband larenopfer

Page 10: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

b e r t u c h s w e l t l i t e r a t u r f ü r j u n g e l e s e r | r a i n e r m a r i a r i l k e

Zwanzigjährige solch einen Dialog mitgehörthaben, der die erste Strophe des Gedichtesaufbaut. Stellen wir uns vor: Ein Journalistsucht eine kleine Notiz für sein Blättchen undbefragt einen Mitbewohner jenes Hauses.Sodann sieht er dem Verladen des Sarges un-gerührt zu: ward rauh die Türe zugeschlagen.

Allein das Schmerzliche des Gedichts, das es insgesamt erst rechtfertigt, sind diebeiden letzten Zeilen: Das ErgriKensein desVorbeigehenden im Angesicht des Todes. Er wird hier, bei einer Ärmsten, entwürdigt.Denn auch ihr, gerade ihr, wäre zuzugeste-hen, ein Leben gehabt oder sich gewünschtzu haben, in dem Weh und Glück und Träumeihren Ort hatten.

Die Komponente des Mitleids mit denBenachteiligten des Lebens, bis in den Ernstdes Todes hinein, wird sich in Rilkes kom-mendem Werk nicht verlieren.

Rilkes Eltern sahen etwas ratlos auf dasumtriebige Wesen ihres Sohnes in den Künst-lerkreisen der Stadt. Hatten sie für ihn dochdie Vorstellung einer dem Bürgerlichen zu-gewandten Karriere: nach dem Jura-Studiumder Eintritt in eine Anwaltskanzlei mit derPerspektive von Selbständigkeit. Besondersdachte der Vater an solche Art von »ernstem«Beruf. Die Mutter war etwas eitel-stolz aufdie lokalen Erfolge ihres Sohnes in dieserganz anderen Sphäre und ließ ihn gewähren.Allein die zahlreiche Verwandtschaft imnahen Umkreis mokierte sich sehr deutlichüber das Poeten-Gebaren des jungen Man-nes, der so gänzlich aus ihrer Normalitätherausfiel.

Und so suchte der Außenseiter der Fami-lie Halt und Zustimmung bei anerkanntenSchriftstellern außerhalb von Prag. Er schick-te die Larenopfer an Theodor Fontanenach Berlin, erhielt eine freundliche Antwort;rührte vor Ort die Trommel für den nord-

deutschen Dichter Detlev von Liliencron;der muss ihm, sogar bewundernd, geantwor-tet haben, und er stellte sich dem in Mün-chen lebenden Heimatschriftsteller LudwigGanghofer dar:

Mit jedem Tag wird mir klarer, daß ich rechthatte, mit aller Kraft von vornherein michgegen die Phrase zu stemmen, die meine Ver-wandten lieben: Kunst ist, was man so neben-bei in den Freistunden betreibt, wenn man aus der Kanzlei kommt etc. – Das ist mir einfurchtbarer Satz. Ich fühle, das ist mein Glau-be: Wer sich der Kunst nicht ganz mit allenWünschen und Werten weiht, kann niemalsdas höchste Ziel erreichen. Er ist überhauptnicht Künstler. 16. april 1897

Darüberhinaus machte er sich auf satirischeWeise Luft. Er verschwieg solche Ausfällefreilich den Angehörigen, die da selbstre-dend gemeint waren, vielmehr anvertrauteer sie seinem Tagebuch:

Diese falsche Erziehung zur Kunst hat alle Be-griffe verschoben: Der Künstler soll mit einemMale so eine Art Onkel sein, der seinen NeKenund Nichten (dem geneigten Publikum) einenSonntagsspaß vormachen soll: das ist das Kunst-werk. Er malt ein Bild oder meißelt eine Statue,und der Zweck: mein Gott: Hinz und Kunz, dieihn gar nichts angehen, zu erfreuen, durch den guten Gedanken ihre faule Verdauung zu fördern und mit dem willigen Werk ihre Stubezu schmücken … So möchte das Publikum denKünstler; deshalb diese philisterhafte Furchtvor dem Unerfreulichen in der Kunst, vor demTraurigen oder Tragischen, dem Sehnsüchtigenund Grenzenlosen, dem Furchtbaren und Dro-henden, – dessen man im Leben hinreichendhat. Darum die Zuneigung zu dem harmlosHeiteren, dem Spielerischen, Ungefährlichen,

13

Page 11: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

r a i n e r ma r i a r i l k e | b e r t u c h s w e l t l i t e r a t u r f ü r j u n g e l e s e r

Nichtssagenden, Pikanten, – zu jener Kunstvon Philistern für Philister, die man genießenkann, wie einen Nachmittagsschlaf oder wieeine Prise Schnupftabak.

aus dem florenzer tagebuch

Dieses Tagebuch hatte Rilke in Florenz fürLou Andreas-Salomé geschrieben.

Sie, die damals schon berühmte Schrift-stellerin, 14 Jahre älter, lernte er im Mai 1897in München kennen. Keine andere Frau inRilkes Leben hat seine Anfänge so beein-flusst und sodann lebenslang ihm geistigePartnerschaft geleistet wie Lou Andreas-Salomé. Sie schenkte ihm das erste ihn tiefergreifende Liebeserleben, und sie, die be-deutende und emanzipierte Frau, muss an-gerührt gewesen sein vom Wesen diesesjungen Menschen, der sein Innerstes mitsolchen Versen auszusprechen vermochte.(Vielleicht ist dieser Überschwang uns fremd; doch versuchen sollte man schon, den Bildern eines Gefühls, das eben Wortwerden will, anschauend zu folgen.)

Dem Prager jungen Dichter musste einProblem immer bewusster werden; war seinAusdrucksmittel eben doch die Sprache. Eswar die Sprache einer Insel. Das Tschechischedrang im Umfeld vor, das Jiddische seit derAufhebung der Ghettogesetze desgleichen.Und beide Laute beeinflussten das Deutsche.Zu seinem Nachteil.

Der Sprachphilosoph Fritz Mauthner, inPrag aufgewachsen, schrieb:

»Der Deutsche im Innern von Böhmen,umgeben von einer tschechischen Landbe-völkerung, spricht ein papiernes Deutsch …

14

Blick auf Florenz

Lou Andreas Salomé

Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,und ohne Füße kann ich zu dir gehn,und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.Brich mir die Arme ab, ich fasse dichmit meinem Herzen wie mit einer Hand,halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,und wirfst du in mein Hirn den Brand,so werd ich dich auf meinem Blute tragen.

aus dem stunden-buch

Page 12: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

es mangelt an der Fülle des erdgewachsenenAusdrucks, es mangelt an Fülle mundartli-cher Formen. Die Sprache ist arm …«

Das Problem wird Rilke bis in die Jahre seinerMeisterschaft verfolgen. An einen schwedi-schen Freund, Ernst Norlind, schreibt ernoch 1907:

Du glaubst nicht, wie sehr ich mich im Deut-schen immer noch als ein Anfänger fühle, der noch weit entfernt ist, sicher und ent-schlossen nach den Worten zu greifen, die jedesmal die einzig richtigen sind.

Nicht verwunderlich, dass er diese »Not«schon früh in einem Gedicht bedachte. Alser seine Mutter, die schon seit 12 Jahren ge-schieden von ihrem Mann, von Rilkes Vater,

lebte, im oberitalienischen Arco besuchte,entstehen die nachfolgenden Verse:

Die ganze Sprache ist verbraucht.Ich möchte jedes Wort vertiefen,zu schildern, wie voll Sonnetriefenaus silbermatten Hang-Olivender fromme Campanile taucht.

Zu malen dieser Gassen Kluftmit braunen Bettelkindern drinnen,kann ich nicht echten Ton gewinnen, –und kann kein kleines Lied ersinnen,das schweben darf in dieser Luft.

märz 1897

Auch das muss man – wie übrigens jedesGedicht – aufmerksam, langsam, laut undwiederholend lesen. Dann erst wird einemüber den Klang, den Reim, den Rhythmus,über die uns vorgestellte Bild-Welt einGesamteindruck deutlich. Hier wohl dasschmerzlich eingestandene Ungenügen,angemessen in dem Erschauten das echte …Wort … zu gewinnen.

Der Dichter ringt mit sich: mit seinemSprach-Vermögen, oder genauer: mit seinemSprach-Unvermögen. Und er sieht mit Ver-wunderung, ja mit Bestürzung auf seine Mit-Menschen, die da anscheinend kein Problemhaben! Benutzen wir doch die Sprache alsetwas uns Gegebenens, Ausreichendes, imschnell vorhandenen Wort, in der gebräuch-lichen Wendung, in der bequemen undfertigen Formulierung.

Nicht so der wirkliche Dichter!

b e r t u c h s w e l t l i t e r a t u r f ü r j u n g e l e s e r | r a i n e r m a r i a r i l k e

15

Wolfratshausen, am Rande Münchens. Zweiter von

links Rilke, zweite von rechts Lou Andreas Salomé

Page 13: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

r a i n e r ma r i a r i l k e | b e r t u c h s w e l t l i t e r a t u r f ü r j u n g e l e s e r

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.Sie sprechen alles so deutlich aus:Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn,ihr Spiel mit dem Spott,sie wissen alles, was wird und war;kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.Die Dinge singen hör ich so gern.Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Der Dichter gibt seine Unsicherheit zu, dieDinge dieser Welt zulänglich benennen zukönnen. Dieses Wort: das »Ding«, wird fürRilke zu einem zentralen BegriK werden.Dinge der Natur, Dinge, vom MenschengeschaKen, wir könnten auch »Objekte«sagen und damit die ganze Wirklichkeitumfassen. Wieviel schwieriger erst für ihn,die Dinge im Bezug auf den Menschen zubenennen, ja den Bezug des Menschen zumMenschen mit Worten wiederzugeben. Unddabei, dem Wunderbaren Raum zu lassen …

Nun muss freilich zugegeben werden –deshalb auch der Titel des Buches: Der schwe-re Weg zum großen Dichter –, dass der jun-ge Rilke bis etwa zum Jahr 1903 unendlichviel geschrieben und leider auch veröKent-licht hat, viel zu viel: Sechs Gedichtbände,dazu eine Unmasse einzelner Gedichte undGedichtgruppen, etwa 35 Erzählungen undSkizzen, mehrere Dramen, Kritiken undRezensionen, was er alles später gar nichtwahrhaben wollte und am liebsten aus demgültigen Werk herausgelassen hätte.

Er wurde später allerdings zum strengs-ten Kritiker seiner selbst.

Was wir hier ausgewählt haben, diesen»schweren« Weg zu dokumentieren, sindvielleicht doch die haltbaren Bausteine desKünftigen: Motive, Themen, Problem-An-sätze, Haltungen, Gesten, Sprachmelodien,kurz: Ohne dieses Suchen, Ausprobieren,Experimentieren, Sammeln, und ohne dieihn prägenden menschlichen und künstle-rischen Begegnungen – wir nannten schonLou Andreas-Salomé – wäre Rilke letztend-lich nicht zu dem großen, unverwechsel-baren Dichter geworden, als der er nun vorder Welt steht.

Ein Berufungsglaube, ohne dass da schonwirkliche Leistung erkennbar wird, ist etwasErstaunliches; vielleicht aber auch Berühren-des. Zumal wenn er später gerechtfertigterscheint.

Doch am Anfang, und zumal bei demjungen Rilke, der manche seiner frühenBriefe mit René Maria Caesar Rilke. Schrift-steller unterschrieb, nimmt solcher Glaubefast bizarre Züge an.

Da gab es Momente wie diesen, den derPrager Maler und Grafiker Hugo Steiner-Prag, fünf Jahre jünger als Rilke und mit ihmbekannt, 1896 so beschrieb:

»Durch das Gewühl der Menschen auf dem Graben schreitet gelassen ein jungerMensch, gekleidet in einen schwarzen, alt-väterischen Gehrock, eine schwarze Bindeumschlingt seinen unmodischen Kragen, erträgt einen breiten schwarzen Hut. In derHand aber hält dieser Seltsame eine farbigeBlüte, eine langstielige Iris. Fast feierlichschreitet er mit ihr einher, wie mit einer hei-ligen Opferkerze. Man sieht diesen jungenMann, der die Zwanzig kaum überschritten

16

Page 14: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

b e r t u c h s w e l t l i t e r a t u r f ü r j u n g e l e s e r | r a i n e r m a r i a r i l k e

haben dürfte, ab und zu auf den Straßen derStadt, aber immer allein und immer miteinem verlorenen Lächeln in die Ferne undeinem Blick, der an den ihm Begegnendenvorbeigleitet. Er geht, als suche er etwas, dasvor ihm noch niemand in den Straßen dieserStadt gesehen. So scheint er auch jetzt dieMenschen, die sich um ihn herumschieben,nicht zu bemerken, er sieht auch nicht dieaufgeregte Gruppe dieser ganz Jungen, diesich an einer Straßenecke drängen und denBlumenträger begeistert anstarren. ›Das warRené Maria Rilke‹, flüstert der eine und alleanderen sehen sich glücklich lächelnd an.«

Diese feierliche Geste war die eine Wesens-Seite des jungen Poeten; doch nicht einmaldie entscheidende. Denn der andere Rilkewar viel vorhandener:

Der Vielschreiber in allen Gattungen, derin hektischer Aktivität die Redaktionen vonVerlagen, Zeitschriften und Zeitungen inPrag, in Deutschland und in Österreich mitden Angeboten seiner raschen Produktionnahezu bombardierte, der Kontakte suchtezu gleich rührigen Zeitgenossen, der ständi-ger Gast in den Prager Theatern, Literaten-Cafés und diversen Salons war etc.pp.

Wie er in diesem Augenblick aussah, daszeigt uns die Karikatur von Emil Orlik, aucheinem Freund aus dem Prager Kreis, fünfJahre älter, aus dem Jahr 1896. Rilke – einHans Dampf in allen Gassen!

Rilke spürte instinktiv, dass er in Prag, der provinziellen Enge, nicht bleiben durfte,wollte er seinen vorgedachten Weg gehen:den Weg zum Dichter. (Wie übrigens auchFranz Werfel und Egon Erwin Kisch.) Sokonnte er seinen Angehörigen plausibelmachen, dass sein Studium, 1895 in Pragbegonnen, in München und Berlin besserfortgesetzt würde: Literaturgeschichte, Phi-losophie, Kunstgeschichte und Jura. Alleinall das verlor sich sehr bald oder wurde nurpro forma gehalten, dem Schein nach, auchum des Stipendiums willen – immerhin 200Gulden monatlich –, das seine Verwandtenihm gewährten.

Der junge Mann lebte bedürfnislos, docheben unbeirrt.

Später wusste er, auf welchem ungesi-cherten Fundament er sein Dasein aufgebauthatte. Er sprach von sich als einem, dem dieHeimat- und Heimlosigkeit so dicht zu[ge]setzthabe. (19. Januar 1920, an Lisa Heise) Und sonehmen wir zur Kenntnis, dass Rilkes nunbegonnenes Leben eine fast ununterbroche-ne Folge von Reisen und eine Inanspruch-nahme von Gastfreundschaft wohlhabenderund großzügiger Freunde wurde. Man hatrund einhundert Orte in etwa zwölf Ländern

17

Rilke, 1896, Karikatur von Emil Orlik

Page 15: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

r a i n e r ma r i a r i l k e | b e r t u c h s w e l t l i t e r a t u r f ü r j u n g e l e s e r

gezählt, in denen Rilke eine kürzere oderlängere Zeit verbrachte.

Lediglich Paris, München während desKrieges und das selbstgewählte SchweizerExil stellten Fixpunkte seines Lebens dar.

Wovon lebt ein junger Mensch, der aufdie Fünfundzwanzig zugeht?

In den großen Städten München, Berlin,auf dem flachen Lande bei Bremen: Worps-wede; auf Reisen in Italien, in Russland?Vor den Verwandten in Prag, die testamen-tarisch veranlasst, dem NeKen ein monatli-ches Stipendium zukommen lassen müssen,lebt er ja als »Student«.

Vor sich und für sich lebt er jedoch als»Dichter«.

Der Vater gewährt ihm – wenn er denSohn auch nicht so recht versteht – von

seiner kleinen Pension einen monatlichenZuschuss; und dann und wann gibt es einschmales Honorar: für einen Gedichtband,eine Sammlung von Erzählungen oder fürAufsätze, Kritiken, Rezensionen.

Als er im April 1901 die Bildhauerin ClaraWesthoK heiratet und im Dezember ihneneine Tochter, Ruth, geboren wird, kündigendie Prager Verwandten die Beihilfe; dennnun sei er ja kein Student mehr! Für dasjunge Paar eine Katastrophe.

Im Herbst 1902 lösen sie ihren Haushaltin Westerwede, nahe Worpswede, auf undgehen als Künstler getrennte Wege: Rilkegeht nach Paris, um einer Auftragsarbeitwillen, Clara Rilke bemüht sich um Schülerzum Unterrichten in plastischer Anleitung,auch um ein Stipendium und kommt zeit-weilig nach Paris. Die kleine Tochter verbleibtbei den Großeltern in Bremen.

Erst 1905, da ist Rilke 30 Jahre alt, findeter eine »Heimat« im Leipziger Insel-Verlag,dessen Leiter, Anton Kippenberg, ein Ge-spür für den Dichter Rainer Maria Rilke hat.Er erwirbt sein bisheriges Werk, betreut daskünftige, glaubt an den Dichter – über allegroßen Durststrecken hinweg – und sichertihm seine Existenz.

Doch wir haben vorgegriKen. Allein wirhaben vielleicht den Lebens-Rahmen dieserfrühen Jahre etwas umspannt. Jahre desSich-Bescheidens, des Verzichts, Jahre imAngesicht der Armut. Das war freilich nurdurchzustehen, insofern man an sich fest-hielt, Zuspruch von Gleichgesinnten erfuhrund, seine innerste Wesensart suchend, sichdie Welt erklärte.

Ein schwerer Weg.So erstaunt es immer wieder, früh schon

die Sprösslinge des künftigen Dichter-Bau-mes zu entdecken. Eine Tagebuch-Eintra-gung vom 10. März 1899 überrascht:

18

Rainer Maria Rilke, 1897

Page 16: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

b e r t u c h s w e l t l i t e r a t u r f ü r j u n g e l e s e r | r a i n e r m a r i a r i l k e

… denn in unserem Schauen liegt unser wahr-stes Erwerben. Wollte Gott, daß unsere Händewären, wie unsere Augen sind: so bereit imErfassen, so hell im Halten, so sorglos im Los-lassen aller Dinge; dann könnten wir wahrhaftreich werden. Reich aber werden wir nichtdadurch, daß etwas in unseren Händen wohntund welkt … Denn Besitz ist Armut und Angst;Besessenhaben allein ist unbesorgtes Besitzen.

Da wird mit BegriKen umgegangen, die wirdoch gewohnt sind, anders zuzuordnen:Reichtum, Besitz, Armut. Soziale Koordina-ten. Zugleich spüren wir: Das meint dies undmeint zugleich und gewichtiger etwas an-deres. BegriKe, die übertragbar auf einenanderen Sinnbereich sind. In der Spracheder Dichtung heißt man dergleichen »Meta-phern«, Übertragungen.

Was den Dichter, den Künstler bei allerinneren Disposition wohl auch ausmacht, ist »das Schauen«, das aufmerksame An-schauen der »Dinge«. Weil die »Augen« dasAngeschaute aufnehmen, doch eben wiederlassen können, dort, wohin es gehört: in dieWelt , sind sie anders als die »Hände«. Nurdas Angeschaute macht innerlich reich,nicht das Festgehaltene.

Goethe hat sich einen »Augenmenschen«genannt.

Mit all dem rührt Rilke an das Eingangs-tor eines dichterischen Daseins; künftighin.

Ein Jahr später, abermals im Tagebuch,3. April 1900, findet man ein kurioses undsatirisches Zwiegespräch zwischen einemganz selbstgewissen Herrn, schon »Schrift-steller«, und einem Unsicheren, Suchenden.Rilke porträtiert sich selbst, in Bescheiden-heit, Glaubhaftigkeit. Was uns nun abermalsüberrascht; hatte man doch auch anderesüber ihn feststellen müssen …

begegnung

»Was für ein Zufall; ich bin froh,dich wieder mal zu sehn.«»Zu sehen?«»Ja, es triKt sich so.Man suchte dich schon.« – »Wen?«»Nun komm, erzähl mir, was du treibst;warst du auf Reisen? oder schreibstdu gar einen Roman?Du bist zerstreut. Man meint es fast.Und wie du dich verändert hast,seit wir zuletzt uns sahn.

Weißt du noch, im Theater?« – »Nein.«»Ich weiß noch ganz genau.Du plaudertest von Rubinsteinmit mir und meiner Frau.

19

Rilke mit seiner Frau in Westerwede

Page 17: Kennst du RainerMaria Rilke - bertuch-verlag.com · rainer maria rilke| bertuchs weltliteratur für junge leser P rag ist die Geburtsstadt von Rilke (1875), Franz Kafka (1883), Egon

r a i n e r ma r i a r i l k e | b e r t u c h s w e l t l i t e r a t u r f ü r j u n g e l e s e r

Sie wird sich freuen, dich zu sehn,du kommst doch heut zum Tee?«»Bei euch ist also nichts geschehn?«»Was soll geschehn sein, geh.Du bist ein trefflicher Prophet,machst einem wahrhaft bang.Gottlob, in unsern Kreisen gehtalles den alten Gang …Wir sind gesund, – aber wohin? …Darf ich mit dir gehn?« – »Nein.«»Was hat denn das für einen Sinn?Laß doch die Spielerein …«»Du bist?« – »Mein Gott, wie du, ich binSchriftsteller.«

»Ich bin Wanderer.«»Und nennst dich?«»Das war einst.«»Wer bist du denn?«»Ein andererals jeder, den du meinst.«

Am Ende steht das Bekenntnis: Ich weiß esnicht (ich weiß es noch nicht), wer ich bin.Ich bin auf jeden Fall Ein anderer/als jeder,den du meinst.

Das wird alles erfunden sein, ein mit sichselbst geführtes Zwiegespräch; aber: eineMoment-Aufnahme ist es schon: Man darf,der Kunst zugewandt, um nichts auf der Weltglauben, angekommen zu sein, sich gefun-den zu haben. Das wäre das Ende. Nicht einimmerwährender Anfang. Unvergleichlichhat Rilke dies 1906 in dem Gedicht derauszug des verlorenen sohnes, nachdem biblischen Gleichnis vom verlorenenSohn, bekennen können. Davon wird nochdie Rede sein.

20