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7/27/2019 Kerygma Und Mythos, Bd. 6,1. Entmythologisierung und existentiale Interpretation (ThF 30, 1963, 250pp)
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THEOLOGISCHE FORSCHUNG
WfSSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE ZUR KIRCHLICH-EVANGELISCHEN LEHRE '
- - - - - - - - - - - 3 0 - - - - - ~ - - - - -
KERYGMA
UND MYTHOS VI
BAND I
ENTMYTHOLOGISIERUNG
UND EXISTENTIALE INTERPRETATION
19 6 3
HERBERT REICH • E V ~ N G E L I S C H E R V E R L ~ G GmbH
H ~ M B U R G = B E R G S T E D T
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THEOLOGISCHE FORSCHUNG
WISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGEZUR KIRCHLICH-EVANGELISCHEN LEHRE
HERAUSGEBER: HANS-WERNER BARTSCH, HERBERT BRAUN,FRITZ BURI, DIETER GEORGI, GöTZ HARBSMEIERJAMES M. ROBINSON, KLAUS WEGENAST
XXX. VERöFFENTLICHUNG
KERYGMA UND MYTHOS VI-1
Entmythologisierung und existentiale Interpretation
I 9 6 3
H € R ß € RT R € I CH · € V ~ N G € LI S C H € R V € R L G G. m. b. H.H ~ M B U R G • ß € R G S f € D T
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KERYGMA UND MYTHOS VI-1
Entmythologisierung und existentiale Interpretation
W. Anz I H. W. Bartsch I F. Bianco I H, Bouillard I R. Bultmann
A. Caracciolo I E. Castelli I J. Danielou I V. Fagone
H. Fahrenbach I H. G. Gadamer I K. Kerenyi I R. Lazzarini
H, Lotz I R. Marle I R. Panikkar
P. Ricoeur / F. Theunis
I 9 6 3
H € R B € R T R € I C H • € V ~ N G € LI S C H E R V € R L G G. m. b, H.
H ~ M B U R G • B € R G S T € D T
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Akten eines Colloquiums des Centro Internazionale di Studi
Umanistici und des lstituto di Studi Filosofici
gehalten in Rom vom 16. bis 21. Jauuar 1961
Unter dem Vorsitz vonENRICO CASTELLI
Alle deutseben Rechte vorbehalten bei Herbart Reich • Evangelischer Verlag GmbH.
Hamburg-Bergstedt
Satz und Druck Robert Noske, Borna-Leipzig (III-5-3) - 0000/00/63
Buchbinderei : Bumdruckerel Frankenstein, Leipzig
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur deutschen Ausgabe von Hans-Werner Bartsch 7
Vorwort der italienischen Ausgabe von Enrico Castelli . . 8
E. Cas t e 11 i: Die Problematik der Entmythologisierung 16
R. B u I t m a n n: Zum Problem der Entmythologisierung 20
K. Kereny i : Theos und Mythos . . . . . . . . . . 28J. Dan i e I o u: Die Entmythologisierung in der alexandrinischen Schule 39
P. R i c o e u r: Hermeneutik der Symbole und philosophisches Denken . 45
H. G. G a da m er: Verstehen und Spielen . . . . . . . . . . . . . 69
H. W. Ba r t s c h: Die Bedeutung des Anwendungsbereiches der existentialen
Interpretation innerhalb der Theologie . . . . . . . . . . . . . . • • 77
H. F a h r e n b a c h: Selbstverständnis als hermeneutisches Prinzip der "existen-
tialen Interpretation" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
W. A n z: Die hermeneutische Voraussetzung der Entmythologisierung . . . . 98
H. L o t z: Mythos - Logos - Mysterion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
H. B o u i 11 a r d: Die Stellung einer reformierten Theologie gegenüber derexistentialen Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . .
R. M a r I e: Gibt es ein katholisches Problem der Entmythologisierung?
F. T h e un i s: Prolegomena zum Problem der Entmythologisierung .
V. Fa g o n e: Geschichte und Geheimnis . . . . . . . . . .
R. L a z z a r in i: Menschliche Situation und Vor-Eschatologie (zumder Entmythologisierung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
A. C a r a c c i o I o: Entmythologisierung und zeitgenössisches Denken
Problem
R. P a n i k k a r: Die Ummythologisierung in der Begegnung des Christentums
122
133
143
151
174
201
mit dem Hinduismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
F. Bi an c o: Die Entmythologisierung als ein Versuch der radikalen Verge
schichtlichung des christlichen Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . 236
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VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
Das Colloquium, das vom 16. bis 21. Januar 1961 an dem Istituto die StudiFilosofici in Rom auf Anregung von Enrico Castelli und unter seiner Lei
tung stattfand, wurde in italienischer, französischer und deutscher Sprachegeführt, wobei die französische Sprache die Funktion der Brücke zwischen den
beiden anderen Sprachen ausübte. Es wurde von vornherein vereinbart, dieBeiträge in allen drei Sprachen gesammelt herauszugeben, wobei die jeweiligeÜbersetzung in den meisten Fällen von Teilnehmern des Colloquiums undunter Mitwirkung der einzelnen Verfasser gefertigt wurde. Die Reihenfolgeder Beiträge ist durch die italienische Ausgabe festgelegt und auch in der deutschen Ausgabe beibehalten. Es mußte lediglich aus technischen Gründen verzichtet werden auf die Beiträge von Lieven Schuwer 0. F. M.: Intorno anpresupposti della demitizzazione: "Wie kommt der Gott in die Philosophie?"und von Henri Birault vom Centre National de la Recherche Scientlfique,Paris: Demystification de la Pensee et Demythisation de la Foi: La Critique
de la Theologie chez Nietzsche. Ebenfalls wurde auf die Wiedergabe der sichan die einzelnen Beiträge anschließenden Diskussion verzichtet. Diese ist nacheiner Tonbandaufnahme in Auszügen in der italienischen Ausgabe enthalten,wie auch die beiden genannten Beiträge dort zu finden sind.
Das Colloquium bezeichnet ein neues Stadium des innerhalb der evangelischen Theologie begonnenen Gesprächs über die Entmythologisierung, in
sofern schon der Kreis der Teilnehmer das philosophische Interesse stärkerin den Mittelpunkt rückt. Die ursprüngliche Frage nach dem Recht und derNotwendigkeit der Entmythologisierung für die christliche Verkündigungtrat zurück gegenüber der Frage nach der Legitimität des Unternehmens unter
dem Urteil der Hermeneutik Heideggers. Für den evangelischen Theologenmag dies eine mehr formal erscheinende Fragestellung sein. Aber sie zeigteinerseits, wie sehr auch diese Vorfrage innerhalb der philosophischen Diskussion eine unterschiedliche Antwort findet (man vergleiche dazu den Beitrag K. Kerenyis!). Und andrerseits mag der Beitrag des indischen katholischen Theologen Raymond Panikkar zeigen, - gerade wenn er den evan
gelischen Theologen schockiert!- wo die Möglichkeiten und wo die Grenzeneiner Interpretation der neutestamentlichen Botschaft liegen.
Obwohl manche Argumente der früheren Bände unserer Sammlung in denBeiträgen wiederholt werden, erscheint es dennoch notwendig, die Fortsetzung
und Ausweitung der Diskussion über die Entmythologisierung, die sich indiesem Colloquium darbietet, der evangelischen Theologie durch die Aufnahme des Bandes in die Sammlung "Kerygma und Mythos" als in ihren Bereich gehörig zu empfehlen. Auch die Diskussion innerhalb der evangelischen
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8 VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
Theologie ist keineswegs als abgeschlossen anzusehen. Die Stimmen aus der
Philosophie und aus der katholischen Theologie, die in Rom im direkten Ge-spräch miteinander und mit der evangelischen Theologie standen, könnenAnlaß zur Wiederaufnahme des liegen gelass.enen Gesprächs geben.
Den vornehmsten Dank schulden wir dem Initiator des Colloquiums EnricoCastelli wie dem Istituto, dem er vorsteht. Darüber hinaus sei den einzelnenAutoren sowie den Obersetzern für ihre mühevolle Arbeit Dank gesagt.
Frankfurt/Main, im Dezember 1961.
Hans-Werner Bartsch
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VORWORT
Das Jstituto di Studi Filosofici und das Centro internazianale di Studi
umanistici haben ein interationales Treffen veranstaltet zu dem Thema: Das
Problem der Entmythologisierung. Die vorliegende Sammlung von Veröffentlichungen und Diskussionen enthält Schriften von protestantischen und katho
lischen Theologen (von Rudolf Bultmann und Hans-Werner Bartsch; PaterBouillard und Pater Lotz, S. J.), vo!]. Religionshistorikern (von Karl Kerenyi
und Pater Danielou), von Philosophen und Orientwissenschaftlern (von Paul
Ricoeur, Hans Georg Gadamer und Raymondo Panikkar), und vielen anderen.Die Sammlung umfaßt das erste in Rom veranstaltete Gespräch zu einem hochbedeutsamen Problem der religiös-philosophischen Analyse unserer Zeit.
Der Veranstalter des Gespräches hat es für angebracht gehalten, dem Tref
fen eine Einführung in die Problemstellung vorauszuschicken, die die Reiheder vorliegenden Beiträge eröffnet und in einem gewissen Sinne die verschiedenen Anschauungen in Einklang zu bringen versucht. Eine Notwendigkeit,
die durch die Weite des Problems gegeben ist.
Zwei unterschiedliche Stellungen des Problems lassen sich unterscheiden:Die erste hat Rudolf Bultmann umrissen: Das Kerygma, die Botschaft, besteht, aber die historischen Ereignisse, von denen das Evangelium spricht,sind nicht mehr aktuell. Auf Grund· dieser Feststellung erkennt Bultmann,
daß die Mentalität des heutigen Menschen radikal von der Wissenschaft verändert worden ist. Der moderne Mensch h a t - so meint der Marburger Theo
l oge - nicht mehr die Möglichkeit, an die Auferstehung und die Aufnahme inden Himmel als historische Ereignisse zu glauben, denn für beide Aussagenfindet er keine Bestätigung in seinem von den Erfolgen der Wissenschaft verwirrten Bewußtsein.
Die zweite Stellung des Problems der Entmythologisierung wird bestimmtdurch den unleugbaren Gegensatz zwischen dem Kerygma - der Botschaft,dem Wor t - und den Ohren derer, an die sich die Botschaft wendet. Wieder
ist es die Wissenschaft, die eine tragische Rolle spielt, indem sie eine Situation
des unvorhergesehenen und unvorhersehbaren Schweigens schafft; denn esfehlt die Zeit zum Hinhören. Der moderne Mensch ist in eine Zeitenge eingespannt, die ihm kein Aufatmen mehr gestattet, sondern nur noch die Pause
der notwendigen biologischen Erholung einräumt für einen neuen Start zur
Superproduktion. Hier stellt sich noch einmal das Problem der verbrauchtenZeit als einer Zeit des Ungehörten und des. Unhörbaren. Es gibt eben andere
Dinge, und man wird von anderen Dingen getrieben. Das einst Unerreichbare ist plötzlich in den Bereich unserer Existenz getreten und hat eine eigen-
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10 VORWORT
törnliehe Befriedigung gebracht: das Paradies auf Erden, das in Wahrheit
nichts anderes ist, als was die Wissenschaft uns als Minimum des Notwen-
digen bietet oder bieten will, in einer technisch geregelten Welt.
Das sind die Worte zur Eröffnung der Debatte. Mit der erstgenannten Stellung des Problems bin ich nicht einverstanden, wohl aber mit der zweiten.Angesichts der tragischen Verhältnisse des Zeitmangels, der Zeit des Ungehörten, fragen wir uns: welches sind die Mittel, um den bösen Geist der Taub-
heit - ein Ausdruck der traditionellen Theologie - bei denen auszutreiben,
die keine Ohren mehr haben, die Botschaft zu vernehmen? Und noch einmal:
seien wir uns ganz im Klaren darüber, daß in der Zuflucht zu einer gewissenMetaphysik durchaus nicht das Mittel der Heilung gefunden ist für jene,die taub sind. Das ist ein Ausweg, der nur zu folgender Feststellung führt:
Wären die Verhältnisse andere, würde die Botschaft gehört werden. Mit anderen Worten: das Heil in der Metaphysik suchen bedeutet, aus der gegebenen Lage die traurige Situation gerade derjenigen auszuklammern, diekeine Zeit haben, weder die Heilsbotschaft noch die Botschaft der Metaphysik
zu vernehmen.
Ein gemeinsames Bemühen um das Verständnis der Entmythologisierung
als aktuelles Problem hat ein ganz präzises Ziel, nämlich aus unserem Bewußtsein den Komplex des Trostbedürfnisses zu entfernen, den viele Religionsphilosophen - und nicht nur sie - unbeabsichtigt zugedeckt haben mit
der Suche nach einer Metaphysik, die, so meinen sie, jene überzeugen könnte,
die nicht die Zeit zum Hören haben. Es ist der Versudt, eine in die Krise geratene Apologetik neu zu stärken.
Karl Kerenyi hat die Debatte begonnen mit einer scharfen Analyse desVerhältnisses zwfschen Mythos und Gott in der griechischen Welt. Die folgende Diskussion war eine Einführung zur Klärung der beiden Begriffe, eine
Klärung, die wohl für die Vertiefung des gestellten Problems unerläßlich ist,nicht aber für die Aufhebung der unzähligen Mißverständnisse zwischen einer
Geschichte der Tatsachen - historia rerum gestarum - - und einer Geschichteder Absichten, der Intentionen; zwischen der scheinbaren Beredsamkeit
des Geschehens und der Undurchdringlichkeit der Absichten, zwischen der
Bedeutung des Gegebenen und der Bedeutungslosigkeit eben des Gegebenen,
unter dem Gesichtspunkt seiner inneren Ziele gesehen. Und weiter: da istdas Gegebene im Zusammenhang mit seinem Ursprung und das Gegebene,gelöst von seinem Ursprung, so daß es auf eigenartige Weise selbst zum Ori
ginal, zum Mythos wird, eben weil es sich von seiner Wurzel, und dieseWurzel ist Gott, getrennt hat. Mythos, weil es sich, geschichtlich gesehen,nicht fassen läßt im Bild einer historia rerum gestarum - Geschichte desVergangeneo - wohl aber im Bild einer Geschichte der Möglichkeiten -Geschichte des Zukünftigen - auf Grund der Suggestivkraft seiner Anspie•
Iungen, - die von den Mythen beherrscht werden - und die sich unvorher-
gesehen in Versprechungen verwandeln. Ein Ereignis ist nichts weiter als ein
Ereignis, aber wenn es sich als etwas anderes darstellt, entsteht das Problemseiner Eventualität, stellt sich die Frage nach der Transzendenz, nach dem
Jenseitigen - und das Jenseitige hat keine Geschichte.
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VORWORT 11Man muß zweierlei unterscheiden: die G e s c h i c h ~ e der zwischenmensch
lichen Beziehungen - historia inter homines - und eine Geschichte der
innermenschlichen Bezüge - historia in interiore homine -.
Doch man muß der geschichtlichen Frage auf den Grund gehen; denn das
Problem der Entmythologisierung ist das Problem der Geschichte: das Pro-
blem der Geschichte ist die Geschichte des Problems. Die Geschichte des Bemühens selbst in der Welt, und des Opfers um des Guten willen, ist, wenn
sie sich klar und präzise darstellt, nicht weniger tragisch und von Zweifeln
belastet.
Als Beispiel umreiße ich kurz zwei Situationen aus dem Drama von Sartre:
"Le diable e le bon Dieu."
1) Götz, der personifizierte Teufel, verlangt von dem aus Weimar geflüchteten Mönch, ihm den geheimen unterirdischen Gang zu zeigen, damit er in
dievon ihm belagerte Stadt eindringen kann: "Wenn du mir den Weg
zeigst,werden heute Nacht 25 000 Menschen sterben; aber sie werden in den Himmel
kommen. Wenn du mir den Weg nicht zeigst, werden dieselben 25 000 Men-
schen innerhalb von zehn Tagen sterben, denn ein Widerstand is t unmöglich,aber die Hälfte von ihnen wird zur Hölle gehen, weil sie die andere Hälfte
erschlagen hat. Um des Guten willen rate ich dir, mir heute Nacht den Weg
zu zeigen . . ."
2) "Warum tust du das Böse, und nur das Böse?" schreit die Geliebte des
blutdürstigen Götz. "Das Böse? . . . Nun, das Gute ist schon getan. Ich schaffeNeues."
Diese beiden Situationen sind Situationen der menschlichen Geschichte,prägnante Symbole gewohnter Situationen. Götz überläßt sein Leben dem
Zufall, er spielt es wie ein Würfelspiel; doch alle überlassen· das Schicksal der
eigenen Existenz dem Würfel. Es is t Le Pari von Pascal. Und das Spiel von
gestern ist das Spiel von heute. Doch es handelt sich nicht um die praktischeErfahrung. Sie lehrt lediglich, wie der Würfel gespielt werden muß, lehrt die
Regel. Aber das Spiel erschöpft sich nicht in der Spielregel. Diese Geschichte
des Würfelspieles in der Welt läßt sie nicht auf die Geschichte der Spielregeln reduzieren 1• Es ist dfe Geschichte des Wahnsinns, die für viele iden-
1
Unter diesem Gesichtspunkt ist das Problem der Geschichte nicht gleich der Ge-schichte des Problems. Es besteht der Wahnsinn, der Schlaf, die Anrufung und die
Verwünschung, zentrale Probleme einer Existenzanalyse. Aber gerade weil: "cuiuölibet rei tarn materialis quam immaterialis ad rem aliam or.dinem habere" (Thomas
v. Aquin, De Veritate, XXIII) beinhaltet die "Bedeutung" ein Suchen, d. h. einen
Bezug auf etwas anderes, ein Problem. Und die Geschichte kann weder von einerPhänomenologie der Willkür absehen - Willkür als Risiko, Wagnis oder als Ver-
antwortungslosigkeit - noch vom Paradox Nietzsches: "Die Erde hat eine Haut und
diese Haut hat Krankheiten: eine dieser Krankheiten heißt z. B. Mensch" (Also sprach
Zarathustra). Sie kann auch nicht absehen von der Tatsache, daß "bis heute mitjedem Wissen gleichzeitig das schlechte Gewissen gewachsen sei" (Nietzsche), und
daß "die Geschichte der Sprache der Menschen eine Gescl-.ichte der Abkürzungen
is t . . . " und "die Worte sind musikalische Zeichen der Begriffe . . . aber die Begriffesind mehr ·oder weniger Symbole". (Jenseits von Gut und Böse, p. 268) Im Bereichder Sprache is t es die symbolische Funktion, die die materiellen Zeichen belebt und
"sie sprechen läßt" sagt Cassirer, und er fügt hinzu, "Ein wahres menschliches Symbol
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12 VORWORT
tisch ist mit Interesse und für viele mit Interesselosigkeit. Diese Interesselosigkeit bedeutet, wenn sie nicht identisch ist mit dem entgegengesetztenInteresse, Gleichgültigkeit, bedeutet unerfüllte Existenz. Man hüte sich vor
der scheinbaren Interesselosigkeit, die die menschliche Geschichte entwürdigt,um so mehr, als sie im Namen eines versteckten Interesses die Ideale unserer
Existenz profanisiert.Diese Gedankengänge habe ich einer Versammlung vorgetragen, die sich
als Thema das Problem der Geschichte gestellt hatte; sie müssen meiner Ansicht nach im Vordergrund stehen bei einer Diskussion zum Problem der
Entmythologisierung. Ich wiederhole: das Problem der Geschichte ist die Ge
schichte des Problems, und die Geschichte des Problems ist auch die Geschichte des Wortes Gottes in der Welt des Menschen.
Das "Wort Gottes": da ist ein Wort Gottes, das s.ich an die Gefallenen wendet, an die Söhne Kains, und zwar in einer bestimmten Zeit - zum Beispielin der Zeit der evangelischen Botschaft. Und da ist ein Wort Gottes, - dergöttliche Gedankengang - der von einigen Menschen: entdeckt wird (Pythagoras, Archimedes, Buklid . . . und zwar in einer unbestimmbaren, beliebigenZeit (während die Zeit der göttlichen Offenbarung niemals eine beliebige ist).
Die Propheten des "Wortes Gottes" als reine Vernunft und die Propheten
des "Wortes Gottes" durch die Mittlerschaft Christi. Zwei Glaubensrichtungen: jene, die die Gnade miteinbezieht-die Offenbarung des Wortes Gottes
in der Erscheinung Chris.ti - und jene, die die Gng,de ausschließt und nur
die Worte der Propheten der reinen Vernunft hören will.Das
Problem der Geschichteenthält
also das Problem der unbestimmbareilZeit. Ist die Zeit der Verkündigung der Offenbarung bestimmbar oder nicht?Das ist das Problem der T h e o l o ~ i e in der Geschichte. Darüber hinaus: Die
Universalität und Überzeitlichkeit einer mathematischen Entdeckung- eines"reinen" Gedankens - besteht unabhängig vom Menschen; es ist der Gedanke an sich. Das Wort Gottes dagegen wendet sich an Augen und Ohren,die sehen und hören können. Ich frage: welche Augen, welche Ohren? Die
Augen und Ohren der Apostel? Sicherlich. Und dann"? Die Augen und Ohren
aller. Die Betonung liegt auf aller. Sind es zum Beispiel alle, die den Lehr
satz des Pythagoras aufnehmen oder das Postulat -1es Euklid? Oder sind es
einige von allen?Hier ist die Geschichte der vergangenen und zukünftigen Geschehnisseeingeschlossen.
wird nicht charakterisiert durch die Gleichartigket sondern durch die Verschieden
artigkeit." Krankheit, schlechtes Gewissen, Vertrauen, Symbole: vier Aspekte dermenschlichen Geschichte. Es is t unmöglich, von ihnen abzusehen, sie auszuschließen.
Auch wenn zur Zeit heftige Polemiken im Gange sind auf den Gebieten der Moral,der Bedeutungslehre und der Pathologie, !!O bleibt doch die Bemerkung Montaignes:
Myson, einer der sieben Weisen wurde gefragt, worüber er so allein lache." "Genau
darüber, daß ich allein lache" antwortet er . - "Sind Myson und die unzähligen
seinesgleichen in der Gnade Gottes oder außerhalb?" das is t eine der dramatischen
Fragen der Geschichte und der Bedeutung ihres Problems. Es gibt die Spielregeln,
aber viele lachen über sie und, was noch erstaunlicher ist, sie lachen einsam und für
sich; ohne es zu wissen, entmythologisieren sie den "Mythos de r Regel".
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VORWORT 13
Besteht die Möglichkeit, die m"athematischen Wahrheiten in der gleichen
Weise vorherzusagen wie jene, die durch das Wort Gottes zu einer bestimm
ten Zeit ausgedrückt worden sind? Diese Frage schließt in sich eine Unter
scheidung zwischen "Heilsgeschichte" und "Profangaschichte"; jene beinhaltet die Gnade des Glaubens (und der Inhalt des Glaubens enthält seinerseitswieder den Glauben an den Inhalt), diese beinhaltet den Glauben (das Vertrauen) an das Gehörte.
In diesem Gespräch hat man über Mythos und Geschichte diskutiert. Die
Aktualität des Themas is t offensichtlich.
Theologen und Philosophen haben zusammengearbeitet, und das bedeutet
nicht wenig in einer Zeit der gegensätzlichen Richtungen. Aber die Geschichtedes "günstigen Augenblicks" für die Verkündigung der Botschaft- besonders
heute, wo der "günstige Augenblick" in eine Krise geraten ist - ist nichtanalysiert worden. Es scheint, als habe eine verborgene Sorge ein unüber
windliches Hindernis geschaffen. Lähmt der Mythos der unbestimmbaren Zeit
als günstige Zeit, als "günstiger Augenblick"- und dieser Mythos bes teh t -
die Anstrengungen zu einer gründlichen Untersuchung des Schweigens, das
charakteristisch is t für unsere Zeit? Es scheint so zu sein. Man kann nicht ant
worten: "Der günstige Augenblick für die Verkündigung der Botschaft ist
immer gegeben", denn die Situation von heute dokumentiert das Gegenteil.
Wenn der Lärm oder die Taubheit die heutige Lage bestimmen, so muß der
Mythos der Gleichsetzung von "günstigem Augenblick" und "unbestimmbarer
Zeit" kritisch untersucht werden, um eine Komunikation, eine Verständi
gung einzuleiten.
Die Botschaft erreicht die im Mythos befangenen Hörer nicht. Es ist daher
sinnlos zu sagen: "Jeder Augenblick ist günstig, Gott anzurufen", denn der
Mythos des "immer günstigen Augenblicks" ist von denen geschaffen worden,
die die Zeit haben, über die Zeit zu reden. Wir drehen uns im Kreise. Denn
für jene, die im Lärm oder im Schweigen untergegangen sind, ist der Augen
blick nicht "immer günstig". Es scheint, als habe der Glaube an die Tat
sachen den Glauben an die Eventualität, an die Möglichkeiten zerstört.
Einige werden sagen, daß die Beschwörung der von Tatsachen, vom Berechenbarem besessenen Zeit, die sich als Zerstöreein des Unberechenbaren,
des Möglichen zeigt, der Verkündigung des "Wortes Gottes" vorausgehenmuß. Beschwörung - ist sie gleichzusetzen mit dem Wort Wunder? Vielleicht. Hier liegt das brennende Problem der Kirche von heute. Unter diesem
Gesichtspunkt muß die wichtigste Entmythologisierung noch verwirklicht
werden 1• ·
Enrico Castelli Universität Roma
t In einer Studie zu dem Thema: Profane Philosophie und Heilsgeschichte(Archivio di Filosofie, 1956), habe ich eine Bemerkung von Franz v. Baader zitiert,
die wert ist, wiederholt zu werden: "Die Zeit beginnt mit dem Ende der Gegenwartund endet mit dem Ende dieses Endes. Die Zeit, besser gesagt, die Geschichte, ist
eine Erfindung der barmherzigen Liebe, die Geduld hat mit ihren weit verstreutenSöhnen." Ich habe in meiner Studie gesagt - und wiederhole es hier, daß es leicht
ist, zu sagen, diese Definition habe keinen Sinn. Man könnte dagegen sagen, sie habe
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14 VORWORT
zuviel Sinn. Sie läßt den Verlauf einer Heilsgeschichte ahnen. Gegen diese Geschichtelehnen sich die "verstreuten Söhne" auf, oder der Schrei des Macbeth: "Die Dingeaus dem Bösen geboren schaffen das Böse, . . . Es existiert nichts anderes, als wasnicht existiert, . . . Das Leben bedeutet nichts, ". . . oder die Gleichgültigkeit der-jenigen, die nicht die Zeit haben, die Betrachtung über die Zeit anzuhören, denn
ihre Geschichte is t von der Art derjenigen, die damit beschäftigt sind, das eigeneDasein zu verlängern, es verteidigend gegen die Überfälle der Menschen und derDinge.
"Das Dasein beginnt in jedem Augenblick. Um jedes "Hier" kreist die Sphäre des"Dort". Der Mittelpunkt is t irgendwo. Qualvoll is t der Weg zur Ewigkeit." (Nietzsche,"Also sprach Zarathustra".) Eine der Satzungen der profanen Geschichte. "Der Ortund das Wort sind eins, und wäre nicht das Wort, - (bei ewiger Ewigkeit!) - eswäre nicht der Ort." (Der cherubinische Wandersmann, I. 205.) Der Schrei einesMystiker, Angelus Silesius, fast der Kommentar zu dem Vers I, 10 des Johannes-Evangeliums; is t er eine der Satzungen der Heilsgeschichte? Offenbar ja , für jenedie zu unterscheiden wissen, zwischen der kosmischen und der existenziellen Zeit,sie aber auch miteinander verbinden können; fü r die anderen sind es zwei Bedeu-
tungen, bedeutungslose Verse eines Dichters des 17. Jahrhun_derts.
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DIE PROBLEMATIK DER ENTMYTHOLOGISIERUNG
Enrico Castelli, Universität Rom
I. Der Charakter der technischen und historischen Information
in Bezug auf das "Argument"
Was versteht man unter technischer Information? Um diese Frage zu be-antworten, bedarf es einer Untersuchung dessen, was man gewöhnlich tech-nische Information nennt.
Die Information und die Kybernetik: Hat die astronomische Angabe(X Lichtjahre, usw.) einen allgemeinverständlichen Sinn? Eine schnell voneinem Elektronengehirn durchgeführte Rechnung gibt uns nützliche Informationen über die Konstruktion einer Rakete, aber sie is t nicht verwendbarüber den Bereich A oder B hinaus, d. h. nicht außerhalb ihres speziellen Anwendungsgebiets. Man kann sagen, daß eine derartige Information keinenSinn habe. Inwiefern hat sie keine Bedeutung? Insofern, als die Bedeutungnicht trennbar is t von einer existenziellen Verbindung, die alle Bezüge einerbestimmten Existenz umschließt. "Guido vorrei ehe tu e Lapo ed io fossimo
presi per incantamento . . ." (Dante) ist eine Information, die etwas bedeutet."Die Entfernung des Sirius beträgt X-Lichtjahre" hat keine Bedeutung in demSinne, wie sie die Verse von Dante haben. Dennoch hat eine astronomischeAngabe eine Bedeutung, und die Formulierung X-Lichtjahre nützt der astronomischen Information.
Ich frage nun, kann eine historische Information gleich einer technischenInformation sein, z. B. die Angabe: "Karl der Gr. wurde in der Weihnachts-nacht i. J. 800 gekrönt", ist eine Information, die eine Prüfung fordert inBezug auf ihre historische Zuverlässigkeit. Aber die Art dieser Prüfung unterscheidet sich von der, die uns eine mathematis.che Aufgabe gibt in Bezug auf
die Lichtjahre. Um zum Beispiel die Entfernung zwischen Erde und Siriusanzugeben, führt man die Geschwindigkeit eines Lichtstrahls des Sirius einund drückt sie durch Lichtjahre aus. Man gebraucht das Element Zeit, um dieIdee einer Entfernung, d. h. einer Räumlichkeit zu geben. Aber wenn wirsagen, daß Karl d. Gr. in der Weihnachtsnacht 800 gekrönt wurde, so er-setzen wir nicht den Raum durch die Zeit. Wir formulieren ein Urteil andererArt. Wenn die angebrachten Mittel zum Beweis eines Geschehens von einerbestimmten Art sind, können wir der Genauigkeit der historischen Information sicher sein. Aber wenn die Beweismittel technischer Art sind, analogderer in Bezug auf die astronomische Information, kann man nicht zu der
gleichen Überzeugung kommen. Wenn die Angabe eines historischen Geschehens die Gesetze des Wahrscheinlichen nicht respektiert, sind wir ge-zwungen, diese Information nicht anzunehmen und >ie als bedeutungslos an-
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zusehen. Mit anderen Worten, diese Information kann nicht als ein Argument
benutzt werden.
In diesem Zusammenhang werden die Wunder von jenen als Aussagen ohneSinn betrachtet, die die Unwahrscheinlichkeit des Geschehens als Beweis
für die Unwahrheit der Information nehmen. Das bedeutet wiederum: DieInformation ist nicht historisch.
Alles bisher Gesagte bezieht sich auf das Argument des Wunders, das aberganz klar zu unterscheiden is t vom Wunder als Argument. Das Wunder alsArgument steht außerhalb jeder Diskussion, denn von ihm kann nur spre
chen, wer es wirklich erfahren hat; für ihn wird das Wunder zum Argument,ein Argument, gegen das wir natürlich die bereits besprochenen Einwändeerheben können. Mit anderen Worten: Das Wunder als Argument be
inhaltet den Glauben, und vom Standpunkt der katholischen Theologie aus
gesehen, beinhaltet der Glaube, in seinemWerden -
initiumf ide i -
seinerseits die Gnade: "Si quis dixerit assensum fidei non esse liberum sed argumentis humane rationis necessario produci . . . anthema sit" 1• Das ist dieGnade, auf Grund derer der Begnadete, von der empfangenen Gnade sprechen kann. Aber der Bericht des Begnadeten - die Geschichte der empfangenen Gnade - hat die Bedeutung eines Zeugnisses in Bezug auf seinen Gnadenstand, bleibt aber ohne historische Bedeutung in Bezug auf ein Geschehnisaußerhalb des Gnadenstandes. Ist der Gnadenstand mitteilbar, erwählbar?Nein, denn es is t der Bericht einer Existenzbedingung, der Bericht des Daseins des Erzählers . Der Erzähler kann analoge Existenzbedingungen beim
Hörer nicht ausschließen, auch wenn er über sie im Ungewissen bleibt. Mitanderen Worten: der Bericht des Wunders is t in sich wegen der angeführtenGründe kein Argument, aber er kann dem Hörer dienen, sich in günstigere Be'dingungen, sich in einen Gnadenstand zu versetzen, in dem in gewisser Weiseder Bericht das Wunder ersetzen kann, das vom Erzähler erfahren wurde.Ein Motiv, nicht ein Argument der Glaubwürdigkeit.
ll. Das historische und das heilsgeschichtliche Ereignis. (Die außer-historischen Bedingungen des heilsgeschichtlichen Ereignisses.)
Der Autor hat in einem vorhergegangenen Aufsatz die folgenden Überlegungen angestellt:
a) Es gibt eine Heilsgeschichte und eine Geschichte des Heiligen. DieserUnterschied ist aufgehoben in einem einzigen Punkt. Die Heilsgeschichte istauch die Geschichte des Heiligen, aber die Geschichte des Heiligen kannnicht die Heilsgeschichte sein, wie sie sich im Christentum darstellt.
b) Dieses Nichtzusammentreffen von Heilsgeschichte und Geschichte desHeiligen manifestiert sich in einer Geschichte· des Anti-Heiligen, vom Standpunkt des Christentums aus gesehen. Könnte diese Letztere eine Geschichte
des Profanen sein? Zu dieser Frage muß man unterscheiden: 1) das Weltliche
in Bezug auf das Heilige unter dem Gesichtspunkt des Profanen; 2) das Pro-
1 Vatikanisches Konzil, sessio III, Canones, De Fide catholica.
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DIE PROBLEMATIK DER ENTMYTHOLOGISIERUNG 17
fane in Bezug auf das Heilige unter dem Gesichtspunkt des Heiligen. Diebeiden Gesichts.punkte fallen nicht zusammen. Unter dem Gesichtspunkt desHeiligen gehören das Heilige .und das Profane demselben Bereich an, unddas Weltliche ist ein Aspekt des Heiligen.
Unter dem Gesichtspunkt des Profanen stehen das Heilige und das Weltliche im Gegensatz zueinander. Man kann also sagen, daß es zwei Geschich
ten des Weltlichen gibt. Der Übergang von einer zur anderen bedeutet Verwirrung, bedeutet Selbstverlust.
c) Selbstverlust ist einer der Aspekte der menschlichen Existenz. Die Historiker des Profanen wie des Heiligen s.timmen hierin überein, aber sie stimmenin zwei verschiedenen Bedeutungen überein: jene des Heiligen erkennen einenstatus naturae lapsae an, jene des Profanen die Tatsache: letztere sprechenvon Versuchung, aber nicht von einer Urversuchung.
d) Von Versuchung sprechen, bedeutet von Attraktionen sprechen, d. h. abernicht von einem Ursprung reden, von einem "primum". Die Menschheit wirdangezogen, von- . . . oder besser sie tendiert zu . . . Es ist eine Tatsache, daßdie menschliche Natur krank ist (das is t die Feststellung der Historiker desProfanen im Hinblick auf das Profane), aber man kann nicht von einer "verlorengegangenen Gesundheit" sprechen. Es fehlen die Beweis.e (einer derAspekte des Selbstverlustes).
Eine Gestalt Shakespeares definiert das Leben als: "ein Märchen, voneinem Sadisten erzählt". Zu einer solchen Definition kann der Historiker desProfanen nicht Stellung nehmen, denn er weiß nicht, - so sagt er- ob die
Definition wahr oder falsch ist. So zeigt s.ich das Problem der Bedeutung oderBedeutungslosigkeit des Märchens wie des Idioten. '
Aus all dem kann man Folgendes ableiten:
a) Untrennbarkeit des Mythos -in seiner vollen Ausdehnung- von demhistorischen Ereignis - von dem Bericht des historischen Ereignisses.
b) Untrennbarkeit des eschatologischen Charakters von einem histori
schen Ereignis, von der sakralen Bedeutung einer Offenbarung.
Folglich meint der, der sagt, "Ich bin die Wahrheit und das Leben", daßdie Welt dunkel und das historische Geschehen in sich und für sich genom
men bedeutungslos ist. D. h., daß das Sein für den Tod bestimmt ist, und dieGeschichte is t die Geschichte der Sterblichkeit.
Die Auferstehung wird mit den Augen des Glaubens gesehen. Das, was dieanderen Augen sehen (Profangeschichte) kann interpretiert werden als"Doketismus" oder als Kollektivpsychose, was sagen will, daß es unmöglichist, sich im historischen Bereich von der Auferstehung zu überzeugen. Sie
is t nur dem Glauben sichtbar - soweit die historische Information zurückführbar ist auf eine Information kybernetischen Charakters, d. h. die Information, die uns das Resultat A gibt zum Zweck der Konstruktion, z. B. die
Konstruktion einer Rakete; oder das Resultat Z, z. B. ein soziales Verhalten.
Eine s.olche Information ist wegen ihres kybernetischen Charakters (Elektronengehirn) zwar äußerst nützlich, aber doch nicht historisch, sonde·rn lediglich technisch.
2 Castelli
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III. Der günstige Augenblick.
Noch einmal muß in Bezug auf die Heilsgeschichte hervorgehoben werden:
a) der historische Bericht ist "du temps perdu", wenn er sich darauf be
schränkt, ein Verzeichnis von vergangeneo Ereignissen zu sein (histoirenaturelle).
b) der historische Bericht ist "du temps recupere", wenn er der Bericht desÜbernatürlichen ist, z. B. ein Leben Christi als solches hat keinen Sinn, dennes wäre der Bericht eines natürlichen Geschehens, während es einen anderenSinn bekommt, wenn es der Bericht des Geheimnisses ist 2, des übernatürlichen Ereignisses. Darüber hinaus ist der einfache Tatsachenbericht in ge
wissem Sinne ein Skandal. Auf diese Weise würde detjenige, der das LebenChristi im Alter von 14 oder 15 Jahren auf Grund historischer Untersuchungen beleuchten wollte, die Heilsgeschichte profanisieren. Herauszufinden, daß
die Straße X von Christus im Alter von 20 Jahren begangen worden i s t ,
nehmen wir an, die Entdeckung sei gemacht auf Grund eines 1960 gefundenen Dokumentes, - will sagen, daß man die Tatsache X und Y für wichtig
hält, während doch nur die Botschaft bedeutungsvoll ist. Jene Tatsachensind nicht historisch, und es bleibt zu beweisen, daß sie auch nicht technischsind, - sie haben nicht mehr Sinn als ein Bericht über den Gesundheitszustand Christi.
Folglich muß das Thema der Entmythologisierung zu der negativen Analyse einer Tatsachengeschichte (histoire naturelle) des Obernatürlichen, einerTatsachengeschichte des Wunders, führen; zu einer negativen Analyse des
halb, weil eine Tatsachengeschichte profanisiert. Dier:.e Nachricht: "ER is.t
auferstanden am dritten Tag", ist tatsächlich eine Nachricht von allgemeinerVerständlichkeit, in Bezug auf die Botschaft, die eben durch diese Aussageverkündet wird, vorausgesetzt, daß der historische Charakter des Ereignissesuntrennbar bleibt von seinem Charakter als Offenbarung. Die Realität einesübernatürlichen Ereignisses is t nicht gleichzusetzen mit der Realität einesnatürlichen. In einem gewissen Sinn liegt der Fehler der entmythologisierenden Theologie Bultmanns darin, nicht verstanden zu haben, daß das Kerygma
das Sein des Ereignisses beinhaltet- soweit es Geheimnis i s t - und die mög
liche historischeAnalyse
des Ereignisseswiderspricht
nichtder
Offenbarung,denn sie is t die Offenbarung de.r Botschaft und des Ereignisses zur gleichenZeit, d. h. Offenbarung der Geschichte. Die Offenbarung, nicht die Geschichtehat eine eigene Augenfälligkeit, eine evidence sui generis.
Es gibt Historiker, die anscheinend vergess.enhaben, daß das Ereignis derErscheinung Christi einmalig ist, mit anderen Worten, daß die Offenbarungin der Geschichte nicht ihresgleichen hat. Auch wenn die Geschichte kritischanalysiert wird, bekommt sie einen Sinn durch die Offenbarung. Wenn manbeweisen könnte, Christus habe historisch nie existiert, so wäre damit noch
nicht die "Gewißheit, er hat gelebt" geleugnet. Diese Gewißheit ist nicht irra
tional (es ist eine typische Gewißheit). Die These gehört nicht m den Bereichder doppelten Wahrheit, denn die geschichtliche Beweisführung kann einProzeß von unwiderlegbaren Tatsachen sein, und folglich kann sie sich manch-
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mal als technische Information zeigen, je nach den Umständen von Bedeutung oder nicht. Die Augenfälligkeit sui generis der Offenbarung hindert uns,
ins Irrationale zu verfallen, weil die Offenbarung eine typische Gewißheit ist.
Die Leichtigkeit, mit der man den Vorwurf des Irrationalismus vorbringt,beruht auf einer positivistischen Konzeption der Existenz. Es handelt sichweder um eine Skepsis noch um Irrationalismus. Der Autor dieses Aufsatzeshat an anderer Stelle Gelegenheit gehabt, denen zu antworten, die ihm vor-
werfen, nicht an die Vernunft zu glauben.
Die Vernunft kann zwischen gesunder und schädlicher Nahrung unterscheiden, sie kann eine Raumtheorie entwickeln, sie kann die Existenz Gottes beweisen. Aber sie kann uns nicht zwingen, an den Wert der Bakteriologie, derGeometrie und der Theologie zu glauben, wenn wir nicht bereit sind, daranzu glauben. Das ist die Frage. Es ist der Glaube, der uns überzeugt, Glauben
in die Vernunft zu haben. Es gibt einen philosophischen Gedanken, der sichüber die Freiheit der Existenz nicht Rechenschaft geben kann. Ich sageRechenschaft, und nicht: vernünftig erklären. Die Vernunft kann sich dieAblehnung der Vernunft nicht vernünftig erklären. Diese Unmöglichkeit, zuerkennen, bedeutet durchaus nicht, in Skepsis oder hrationalismus zu ver-fallen.
Weder Rationalismus noch Irrationalismus gehören in den Bereich dessens commun; das kann bewiesen werden durch eine vernünftige Begrün
dung, denn es heißt zu unterscheiden zwischen vernunftig und rational.
Das Wort, das Hören, die Botschaft sind Begriffe, die die philosophische
Untersuchung erhellen kann. Die philosophische Analyse beschränkt sich aufdie Aussage: "Jemand spricht", "jemand hat gesprochen", und fährt fort, zu
diskutieren, ob die Behauptung: "semel iussit semper paret" eine Bedeutunghabe und ob ein ,hapax legomenon" annehmbar sei. Es ist wahr, daß es nichtdie philosophische Analyse ist, die uns lehrt, eine wahre Botschaft zu verstehen. Sie kann höchstens sagen: "Vielleicht ist das eine Botschaft" - eine
absolute Aussage ist möglich, und meint damit, "die Möglichkeit ist absolut".Alles das führt zu der Bestätigung: die Möglichkeit der Botschaft beweist(oder rechtfertigt?) die Freiheit des assensum fidei. Das ist einer der Aspektedes günstigen Augenblicks.
(Übersetzung E. M. Jaeger)
2 Genauer gesagt: Heilsgeschichte des Geheimnisses, nicht profane Geschichte desGeheimnisses, denn die Profangeschichte ist immer noch die Geschichte der p s y c h o ~logischen Möglichkeiten falscher Anwendungen: is t in einem gewissen Sinne dieUntersuchung der Mißverständnisse.
Es gibt zwei hermeneutische Denkweisen: die eine hat ihre Wurzeln in derTiefenpsychologie. Die andere is t begründet in de r spontanen Bezugaufnahme mitjenen andern, die Z\W:ifeln (die neuen Wege der Apologetik); eine Spontaneität, dienicht von de r Tatsache absehen kann, daß die Caritas eine Kardinaltugend ist.
2•
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ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG
Rudolf Bultmann
Unter Entmythologisierung verstehe ich ein hermeneutisches Verfahren,das mythologische Aussagen bzw. Texte nach ihrem Wirklichkeitsgehalt be
fragt.
Vorausgesetzt ist dabei, daß der Mythos zwar von einer Wirklichkeit r(fdet,
aber in einer nicht adäquaten Weise.Vorausges.etzt is t ebenso ein bestimmtes Verständnis von Wirklichkeit.Nun kann Wirklichkeit in einem doppelten Sinne ve.rstanden werden. Ge-
meinhin versteht man unter Wirklichkeit die im objektivierenden Sehen vor-gestellte Wirklichkeit der Welt, innerhalb deren sich der Mensch vorfindet, in
der er sich orientiert, indem er sich ih r gegenüberstellt, mit deren Zusammen-
hang er rechnet und den er berechnet, um sie zu beherrschen und dadurch seinLeben zu sichern. Diese Weis.e, die Wirklichkeit zu sehen, ist in der Natur-
wissenschaft und in der durch sie ermöglichten Technik ausgebildet.
Diese Weise, die Wirklichkeit zu sehen, is t als solche entmythologisierend,
indem sie das Wirken übernatürlicher Mächte, von denen der Mythos erzählt,
ausschaltet, - sei es das Wirken von Mächten, die das Naturgeschehen in
Gang bringen und halten, sei es das Wirken von Mächten, die das Naturge-
schehen unterbrechen. Die konsequente Naturwissenschaft hat die "Hypo-
these Gott" nicht nötig (Laplace); die das Naturgeschehen leitenden Kräfte
sind diesem immanent. Ebenso eliminiert sie den Gedanken des Wunders
als eines den Kausalzusammenhang des Weltgeschehens unterbrechenden
Mirakels.
Wie alle Phänomene der ihn umgebenden Welt kann der Mensch auch sichselbst, sofern er in der Welt vorkommt, dem objektivierenden Sehen unter-
werfen. Er stellt sich dann sich selbst gegenüber, macht sich selbst zum Ob
jekt. Damit reduziert er seine eigentliche, spezifische Wirklichkeit auf dieWeltwirklichkeit. So in einer "erklärenden" Psychologie (im Unterschied von
einer "verstehenden" Psychologie, vgl. Dilthey) und in einer Soziologie.
Diese Sehweise kann auch in der Geschichtswissenschaft zur Herrschaft
kommen, und das ist auch der Fall in einem positivistischen Historismus. Hier
tritt der Historiker als beobachtendes Subjekt der Geschichte als dem Objekt
gegenüber und stellt sich so als Spektator außerhalb des in der Zeit ver-
laufenden historischen Prozesses.
Heute hat sich die Erkenntnis mehr und mehr durchgesetzt, daßes.
ein solches Gegenüber nicht gibt, weil das Wahrnehmen des geschichtlichen Pro-zesses selbst ein geschichtlicher Vorgang ist. Der Abstand eines neutralen
Sehens vom gesehrnen Objekt ist unmöglich. Das scheinbar objektive Bild
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ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG 21
geschichtlicher Vorgänge ist immer von der Individualität des Sehenden geprägt, die selbst ges.chichtlich ist und nie ein außerhalb der geschichtlichen
Zeit stehender Spektator sein kann.
Ich sehe nun hier davon ab, daß auch in der modernen Naturwissenschaft
ein analoges Verständnis des Subjekt-Objekt-Verhältnisses Platz gegriffenhat in der Erkenntnis, daß das Beobachtete schon durch den Beobachter mit
gestaltet oder irgendwie modifiziert wird. Wie weit die Analogie zwischen
moderner Geschichts- und Natur-Wiss.enschaft reicht, bedürfte besonderer
Untersuchung.
Worauf es hier ankommt, ist, daß im modernen Geschichts-Verständnis dieWirklichkeit in anderer Weise verstanden is t als in der Weise des objektivierenden Sehens, nämlich als die Wirklichkeit des geschichtlich existierendenMenschen.
Menschliches Sein ist von dem im objektivierenden Sehen wahrgenom-
menen Sein der Natur grundsätzlich unterschieden. Wir pflegen heute das
spezifisch menschliche Sein als Existenz zu bezeichnen. Dabei ist "Existenz"
nicht als bloßes Vorhandensein gemeint in dem Sinne, wie Pflanzen und
Tiere auch "existieren", sondern als die spezifisch menschliche Seinsweise.
Der Mensch ist nicht wie ein Naturwesen dem kausalen Zusammenhang
des Naturgeschehens eingeordnet, sondern er hat sein Sein selbst zu über-
nehmen, ist für sich selbst verantwortlich. Das bedeutet: Das menschlicheLeben is t Geschichte; es führt durch Entscheidungen jeweils in eine Zukunft,
in der der Menschs.ich
selbst wählt. Die Entscheidungen fallen danach, wiesich ein Mensch selbst versteht, worin er die Erfüllung seines Lebens sieht.
Die Geschichte ist das Feld der menschlichen Entscheidungen. Sie wird verständlich, wenn sie als solches gesehen wird, d. h. wenn gesehen wird, daß
in ihr die Möglichkeiten menschlichen Selbstverständnisses wirksam gewesensind, - Möglichkeiten, die auch Möglichkeiten des gegenwärtigen Selbstverständnisses sind, und die nur in eins. mit diesen überhaupt wahrgenommen
werden können. Ich nenne eine solche Interpretation der Geschichte existen-tiale Interpretation, da sie, bewegt von der Existenzfrage des Interpreten,
nach dem in der Geschichte jeweils wirksamen Existenzverständnis fragt.
Da faktisch alle Menschen aus einer Vergangenheit kommen, in der Möglichkeiten des Selbstverständnisses schon leitend sind, angeboten oder in
Frage gestellt werden, ist die Entscheidung immer auch eine Entscheidunggegenüber der Vergangenheit, ja, letztlich gegenüber der je eigenen Vergan-
genheit des Menschen und seiner Zukunft.
Nun braucht die Entscheidung nicht bewußt gefällt zu werden und ist in
den meisten Fällen unbewußt. Ja, sie kann als Unentschiedenheit erscheinen,was faktisch die unbewußte Ents.cheidung für die Vergangenheit ist, das Ver-
fallensein des Menschen an seine Vergangenheit. Das bedeutet aber: Der
Mensch kann eigentlich oder uneigentlich existieren. Eben dieses, die Mög-lichkeit, eigentlich oder uneigentlich zu sein, gehört zur Geschichtlichkeit und
d. h. zur menschlichen Wirklichkeit.
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22 R U D O L ~ BULTMANN
Ist das eigentlich menschliche Sein die Existenz, in der der Mensch sichselbst zu übernehmen hat, für sich verantwortlich ist, so gehört zur eigentlichen Existenz die Offenheit für die Zukunft, die jeweils Ereignis werdende
Freiheit. Die Wirklichkeit des geschichtlichen Menschen is t daher nie eine abgeschlossene wie die des Tieres, das immer ganz das ist, was es ist. Die Wirklichkeit des Menschen ist seine Geschichte, d. h. sie steht ständig vor ihm, sodaß man sagen kann: Zukünftigsein ist die Wirklichkeit, in der der Mensch
steht.
In der Geschichte der Menschheit wird das daran deutlich, daß der geschichtliche Sinn eines Ereignisses immer erst von seiner Zukunft her verständlich wird. Die Zukunft gehört wesenhaft zum Ereignis. Erst vom Ende
der Geschichte aus ist daher der Sinn geschichtlichen Geschehens endgültigzu verstehen. Da aber ein solcher Rückblick vom Ende aus für menschlichesAuge nicht möglich ist, ist auch eine Philosophie, die den Sinn der Geschichtezu verstehen trachtet, nicht möglich. Vom Sinn der Geschichte läßt sich nur
reden als vom Sinn des Augenblicks, der als Augenblick der Entscheidung
sinnvoll ist.
Nun werden alle Entscheidungen in konkreten Situationen gefällt, und
auch entscheidungsloses Verhalten- also uneigentliches menschliches Se in -
ereignet sich immer in konkreten Situationen. Wenn die Geschichtswissenschaft die in menschlichen Entscheidungen zutage tretenden Möglichkeitendes Selbstverständnisses deutlich machen will, so hat sie also auch die konkreten Situationen der vergangenen Geschichte darzustellen. Diese aber er
schließen sich nur dem objektivierenden Blick in die Vergangenheit. So wenigdieser den geschichtlichen Sinn einer Tat, eines Ereignisses erfaßt, so sehr
kann und muß er doch die einfachen Fakten der Taten und Ereignisse zu erkennen suchen und in diesem Sinne feststellen, "wie es gewesen ist". Und sowenig der Zusammenhang menschlichen Handeins durch kausale Notwendigkeit determiniert ist, so sehr ist er doch ein durch die Folge von Ursache und
Wirkung geknüpfter. Denn kein Ereignis, kein Willensakt, keine Entscheidungist ohne Ursache. Gerade die freie Entscheidung erfolgt aus Gründen, wenn
sie nicht blinde Willkür sein soll. Es ist daher möglich, den Gang der Geschichte jeweils rückblickend als einen geschlossenen Kausalzusammenhang
zu verstehen, und so muß ihn die objektivierende Geschichtsbetrachtung sehen.Es fragt sich nun, ob die existentiale Interpretation der Geschichte und die
objektivierende Darstellung der Geschichte in Widerspruch zueinander
stehen, bzw. ob die Wirklichkeit, die dort gesehen ist, mit der hier gesehenenin Widerspruch steht, so daß von zwei Wirklichkeitsbereichen, ja sogar von
einer doppelten Wahrheit geredet werden müßte. Das wäre offenbar einefalsche Folgerung: Denn faktis.ch gibt es nur eine Wirklichkeit und nur eine
Wahrheit der Aussage über das gleiche Phänomen.
Die eine Wirklichkeit aber kann unter doppeltem Aspekt gesehen werden,entsprechend der doppelten Möglichkeit des Menschen, eigentlich oder un
eigentlich zu existieren. In der uneigentlichen Existenz versteht sich derMensch aus der verfügbaren Welt, in der eigentlichen Existenz versteht er
sich aus der unverfügbaren Zukunft. Dem entsprechend kann er die Ge-
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ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG 23
schichte der Vergangenheit sowohl objektivierend betrachten, wie auch alsAnrede, sofern aus ihr die Möglichkeit menschlichen Selbstverständnisses
vernehmbar wird und zur verantwortlichen Wahl herausfordert.
Man wird das Verhältnis der beiden Weisen des Selbstvelständnisses als
ein dialektisches bezeichnen müssen, insofern es das eine ohne das andere
faktisch nicht gibt. Denn der Mensch, dessen eigentliches Leben sich in Ent
scheidungen vollzieht, is t auch ein leibliches Wesen. Verantwortliche Ent
scheidungen gibt es nur in konkreten Situationen, in denen auch das leiblicheLeben auf dem Spiele steht. Die Entscheidung, in der der Mensch sich selbst,seine eigentliche Existenz, wählt, ist immer zugleich die Entscheidung für
eine Möglichkeit des leiblichen Lebens. Die Verantwortung für sich selbst ist
immer zugleich dieVerantwortung für dieWeit und ihre Geschichte. Um seiner
Verantwortung willen bedarf der Mensch des objektivierenden Blicks in dieWelt, in die er gestellt ist, als in seine verfügbare "Arbeitswelt". Daher auchimmer wieder die Versuchung oder Verführung, die "Arbeitswelt" als dieeigentliche Wirklichkeit anzusehen und die Eigentlichkeit des Existierens zu
verfehlen und durch Verfügen über das Verfügbare das Leben zu sichern.
Es is t also vollends klar, daß die existentiale Interpretation der Geschichteder objektivierenden Betrachtung der historischen Vergangenheit bedarf. So
wenig diese den geschichtlichen Sinn einer Tat, eines Ereignisses erfassen
kann, so wenig kann jene eine (möglichst zuverlässige) Feststellung von Tat
sachen entbehren. Nietzsches gegen den Positivismus gerichteter Satz, daß es
keine Tatsachen gebe, sondern nur Interpretationen, ist mißverständlich. Er
ist richtig, wenn man "Tatsache" in dem Vollsinn einer geschichtlichen Tat
sache versteht, also einschließlich ihres Sinnes und ihrer Bedeutung im Zu
sammenhang des geschichtlichen Geschehens. Eine Tatsache in diesem Sinn
liegt immer nur vor als "Interpretation", als das Bild, das von dem mit seiner
Person beteiligten Historiker gezeichnet ist. Aber eine Interpretation ist doch
offenbar kein Phantasie-Gebilde, sondern durch sie wird etwas interpretiert,
und dieses zu Interpretierende sind doch die "Tatsachen", die dem objektivierenden Blick des Historikers (in welcher Annäherung immer) zugänglichsind.
Darf das als gültig angenommen werden, so kann auch das Problem der
Entmythologisierung im Hinblick auf die Geschichtswissenschaft einer Lösungentgegengeführt werden. Ist die Geschichtswissenschaft wie die Naturwissen
schaft als solche entmythologisierend? Ja und Nein!
Die Geschichtswissenschaft entmythologisiert als solche, insofern oder insoweit sie im objektivierenden Sehen den historischen Prozeß als. einen geschlossenen Wirkungszusammenhang versteht. Der Historiker kann gar nichtanders verfahren, wenn er eine gesicherte Erkenntnis irgend einer Tatsache
gewinnen will, wenn er z. B. prüfen will, ob. jeweils eine überlieferte Ge
schichte wirklich ein gültiges Zeugnis für eine Tatsache der Vergangenheit ist.Er kannalso nicht anerkennen, daß der Zusammenhang des Geschehens durch
das Eingreifen überirdischer Mächte zerrissen wird; er kann kein Wunder anerkennen als ein Ereignis, dessen Ursache nicht innerhalb der Geschichte
liegt. Die historische Wissenschaft kann nicht wie die biblischen Schrif-
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24 RUDOLF BULTMANN
ten von einem in den Gang der Geschichte eingreifenden Handeln
Gottes reden. Sie kann alSi historisches Phänomen nur den Glauben
an Gottes Handeln wahrnehmen, aber nicht Gott selbst. Ob diesem
Glauben eine Wirklichkeit entspricht, kann sie nicht wissen, da eine Wirk
lichkeit, die jenseits der dem objektivierenden Blick sichtbaren Wirklichkeitliegt, für sie nicht sichtbar ist. Für sie muß jede Rede als Mythologie gelten,
die beansprucht, vom Handeln jenseitiger Mächte zu reden als von einem
Handeln, das in der dem objektivierenden Blick vorliegenden Welt beobacht
bar, konstatierbar is t und etwa auch als Argument für den Beweis irgend-
welcher Wahrheiten dienen kann. Als· mythologisch gilt ih r aber ebenso jede
Rede von jenseitigen Sphären, die an die sichtbare Welt räumlich angestückt
sind, wie der Himmel und die Hölle.
Nun besteht aber ein grundsätzlicher Unterschied von der Naturwissen-
schaft hinsichtlich der Stellung zum Mythos: Die Naturwissenschaft elimi
niert ihn, die Geschichtswissenschaft hat ihn zu interpretieren. Sie hat dieFrage nach dem Sinn des mythologischen Redens, das ja ein historisches
Phänomen ist, zu stellen.
Die Frage, welches der Sinn der mythologischen Rede überhaupt ist, dürfte
einfach zu beantworten sein. Der Mythos will von einer Wirklichkeit reden,
die jens.eits der objektivierbaren, der beobacht- und beherrschbaren Wirklichkeit liegt, und zwar von einer Wirklichkeit, die für den Menschen von ent-
scheidender Bedeutung ist, die für ihn Heil oder Unheil, Gnade oder Zorn
bedeutet, die Respekt und Gehorsam fordert.
Ich kann hier von den ätiologischen Mythen absehen, die auffällige Natur-gebilde oder Naturerscheinungen erklären wollen. Sie sind in unserem Zu-
sammenhang nur insofern von Bedeutung, als sie das mythologische Denken
als ein solches erkennen lassen, das aus Staunen, aus Schrecken, aus Fragen
erwächst und mit dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung rechnet.
Es kann als ein primitives wissenschaftliches Denken bezeichnet werden, wiedenn manche Forscher das mythologische Denken auf ein primitives wissenschaftliches Denken überhaupt reduzieren wollen.
Dieses primitiv-wissenschaftliche und damit auch objektivierende Denken
ist in der Tat aller Mythologie eigen. Aber nun besteht ein grundsätzlicher
Unterschied. Es fragt sich nämlich, ob oder wieweit die Intention des Mythos
die ist, nur erklärend von der Welt zu reden, der der Mensch beobachtend
und berechnend gegenübersteht, oder ob er von der Wirklichkeit des Men-
schen s.elbst reden will, also von seiner Existenz. In unserem Zusammenhang
handelt es sich um den Mythos, soweit in ihm ein bestimmtes Verständnis der
menschlichen Existenz zum Ausdruck kommt.
Welches Existenz-Verständnis? Nun, dieses, daß sich der Mensch in einer
Welt vorfindet, die voll ist von Rätseln und Geheimnissen, und daß er ein
Schicksal erfährt, das ebenso rätselhaft und geheimnisvoll ist. Er wird zu der
Erfahrung gedrängt, daß er nicht Herr über die Welt und über sein Leben ist,
und er wird dessen inne, daß die Welt und' das menschliche Leben ihren
Grund und ihre Grenze in einer Macht (oder in Mächten) haben, die jenseits
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ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG 25
dessen liegt, was er berechnen, über das er verfügen kann, in einer tranzen-
denten Macht.
Das mythologische Denken objektiviert jedoch in naiver Weise das Jenseits
zum Diesseits, indem es, entgegen seiner eigentlichen Intention, das Trans-
zendente als das im Raum Entfernte und seine Macht als quantitativ gegenüber dem menschlichen Können gesteigerte vorstellt. Die Entmythologisie-
rung will demgegenüber die eigentliche Intention des Mythos zur Geltung
bringen, nämlich die Intention, von der eigentlichen Wirklichkeit des Men-
schen zu reden.
Gibt es nun eine Grenze der Entmythologisierung? Es wird oft gesagt, daß
die Religion und auch der christliche Glaube die mythologische Rede nicht
entbehren könnten. Warum nicht? Sie liefert gewiß der religiösen Dichtung,
der kultischen und liturgischen Sprache Bilder und Symbole, und die fromme
Andacht mag in ihnen einen Sinngehalt ahnend, empfindend wahrnehmen.Das Entscheidende ist jedoch, daß solche Bilder und Symbole wirklich einen
Sinngehalt bergen, und die philosophische und theologische Reflexion haben
doch die Aufgabe, diesen Sinngehalt deutlich zu machen. Dieser kann dann
aber doch nicht wiederum in mythologischer Sprache ausgedrückt werden;
denn sonst müßte ja deren Sinn wiederum gedeutet werden - und so in
infinitum.
Die Behauptung, daß der Mythos unentbehrlich ist, bedeutet doch, daß esMythen gibt, die sich nicht existential interpretieren lassen. Und das heißt,
daß es - wenigstens in gewissen Fällen - notwendig ist, vom Transzenden-
ten, von der Gottheit, objektivierend zu reden, da das mythologische Redennun einmal objektivierendes Reden ist.
Kann das gelten? Es spitzt sich wohl alles auf die Frage zu: Ist die Rede
von Gottes Handeln notwendig mythologische Rede, oder kann und muß
sie auch existential interpretiert werden?
Da Gott kein objektiv feststellbares Weltphänomen ist, läßt sich von seinem Handeln nur so reden, daß zugleich von unserer Existenz geredet wird,
die durch Gottes Handeln betroffen ist. Man mag solche Redeweise vom
Handeln Gottes "analogisch" nennen. Es wird durch sie zum Ausdruck gebracht, daß das Betroffensein durch Gott schlechterdings seinen Ursprung in
Gott selbst hat, und daß dabei der Mensch lediglich der Leidende, der Emp-
fangende ist.
Aber ebenso ist festzuhalten, daß vom Betroffensein durch Gottes Handeln
nur als von einem existentiellen Ereignis geredet werden kann, das objektiv
nicht feststellbar, nicht ausweisbar ist.Nun ereignet sich jedes existentielle Betroffensein je in einer konkreten
Situation, und so liegt es nahe, oder is t für den Betroffenen sozusagen selbstverständlich, diese Situation auch auf das Handeln Gottes zurückzuführen,
- was durchaus fegitim ist, wenn nur der Ursprung in Gottes Willen nicht
mit einer dem objektivierenden Blick zugänglichen Kausalität verwechseltwird. Hier hat die Rede von einem Wunder - nicht von einem Mirakel! -
ihr Recht.
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26 RUDOLF BULTMANN
Wie vom Wunder, so redet der Glaube auch von Gottes Handeln als von
seinem Schöpfer- und Herrscher-Walten in Natur und Geschichte, und er muß
es auch tun. Denn wenn s.ich der Mensch in seiner Existenz durch Gottes
Allmacht ins Leben gerufen und getragen weiß, so weiß er damit auch, daß
die Natur und die Geschichte, innerhalb deren sich sein Leben abspielt, von
Gottes Handeln durchwaltet sind. Aber dieses Wissen kann nur als Bekenntnis
ausgesprochen werden und nie als eine allgemeine Wahrheit wie eine natur
wissenschaftliche oder geschichtsphilosophische Theorie. Sonst würde Gottes
Handeln zu einem welthaften Vorgang objektiviert. Der Satz von Gottes
Schöpfer- und Herrscherturn hat seinen legitimen Grund nur im existentiellen
Selbstverständnis des Menschen.So aber enthält der Satz eine Paradoxie. Denn er behauptet die paradoxe
Identität des innerweltlichen Geschehens mit dem Handeln des jenseitigen
Gottes. Der Glaube behauptet ja, daß er ein Handeln Gottes in einem Ereig
nis, bzw. in Vorgängen sieht, die zugleich für den objektivierenden Blick feststellbare Vorgänge im Zusammenhang des natürlichen und historischen Ge
schehens sind. Für den Glauben ist also das Handeln Gottes ein Wunder, in
dem der natürliche Zusammenhang des Weltgeschehens gleichsam aufge
hoben ist.Für den christlichen Glauben is t nun aber das Besondere, daß er in einem
bestimmten historischen Ereignis, das als solches objektiv feststellbar ist,
das Handeln Gottes in einem ganz besonderen Sinne sieht, als die jedermann
zum Glauben rufende Offenbarung Gottes, nämlich in der Erscheinung Jesu
Christi. Die Paradoxie dieser Behauptung ist am schärfsten ausgedrückt in
dem johanneischen Satz: "Das. Wort ward Fleisch".
Diese Paradoxie ist offenbar noch anderer Art als diejenige, die behauptet,
daß Gottes Handeln allezeit und überall mit dem Weltgeschehen indirekt
identisch ist. Denn der Sinn des Christus-Geschehens ist das eschatologischeGeschehen, durch das Gott der Welt und ihrer Geschichte das Ende gesetzt
hat. Diese Paradoxie is t also die Behauptung, daß ein historisches Ereignis
zugleich das eschatologische Ereignis ist.Die Frage ist nun: Kann dieses Ereignis als ein je in der eigenen Existenz
sich vollziehendes Ereignis verstanden werden? Oder bleibt es dem zum
Glauben Aufgerufenen in der Weise gegenüber, wie in der welthaften Wirk
lichkeit das Objekt dem Subjekt gegenübersteht? Das würde heißen, daß esein Ereignis der Vergangenheit ist, wie es von dem objektivierenden Blick
des Historikers vergegenwärtigt, d. h. "erinnert" wird. Soll es aber ein, jemich in meiner Existenz treffendes Ereignis verstanden werden, so muß es
in einem anderen Sinne Gegenwart sein oder werden können.
Eben dieses liegt aber in seinem Sinn als eines eschatologischen Ereignisses.Denn als solches kann es nicht ein Ereignis der Vergangenheit sein oder wer
den, wenn anders historische Ereignisse nie die Bedeutung des ~ c p a n t J . ~ (ein
mal für allemal) haben können; und eben dieses gehört zum Wesen des
Christus-Ereignisses als eines eschatologischen Ereigniss.es.Es kann also nicht, wie andere historische Ereignisse, durch "Erinnerung"
zur Gegenwärtigkeit gebracht werden. Es wird gegenwärtig in der Verkündi-
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ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG 27
gung (dem Kerygma), die ihren Ursprung in ihm selbst hat, und ohne die esgar nicht ist, was es ist. Das bedeutet: Die Verkündigung ist selbst eschatolo
gisches Geschehen. In ihr, als Anrede, wird jeweils das Ereignis Jesus Christuspräsent, - präsent als das je mich in meiner Existenz treffende Ereignis.
Träger der Verkündigung is t die Kirche, und hier wiederholt sich jene Para-
doxie. Denn die Kirche ist unter einem Aspekt ein dem objektivierenden Blickverfügbares Phänomen, ihrem eigentlichen Wesen nach ist sie ein eschatologisches Phänomen - oder besser: ein je und je sich ereignendes eschatologisches Ereignis.
Ich stimme also Enrico Castelli zu, "que le ,Kerygma' comporte retre del'evenement (en tant que mystere); et !'eventuelle analyse historique del'evenement n'entame pas la Revelation parsqu'elle est la Revelation dumessage et de l'evenement (c'est a dire de l'histoire) en meme temps".
Marburg, 17. Januar 1961
Rudolf Bultmann
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THEOS UND MYTHOS
Karl Kerenyi
1
Als ich freundlicherweise aufgefordert wurde, an den Gesprächen dieser
Tage teilzunehmen, war es mir klar, daß ich als Religionshistoriker und Hel-
lenist, und spezieller noch: als einer, dessen wissenschaftliches Interesse
Mythologie und Mythos in einer besonderen Weise bildeten und immer nochbilden, eine kleine Aufgabe erfüllen könnte: die Aufgabe der Anbringung von
Randbemerkungen, welche die Theologen und die Philosophen an dies und
jenes erinnern sollten. Gestellt wurde das Problem der Entmythisierung
(demythisation, demitizzazione). Die Problemstellung hängt offenbar mit der
"Entmythologisierung der neutestament lichen Verkündigung", dem VorschlagRudolf Bultmanns, zusammen, doch bleibe ich auch meinerseits bei der
Fassung "Entmythisierung". Ich verstehe darunter die Frage: Ist Entmythi-
sierung möglich? Das Problem oder die Frage so einfach ohne Objekt gestellt (was sollte entmythisiert werden?), verrät die Zugehörigkeit zur Reli
gionsgeschichte. Es könnte an sich auch von der Entmythisierung der Natur-wissenschaften die Rede sein. Doch ein jeder denkt dabei nur an die Ent-
mythisierung der Religion, im besonderen der christlichen.Das wäre also das Objekt der Entmythisierung. Zur Frage gehört indessen
auch eine Alternative der persönlichen Bezüge. Die einen werden fragen müs-
sen: "Ist uns Entmythisierung möglich?" Und die anderen, zu denen auch ichgehöre: "Ist Entmythisierung zum Beispiel den Christen möglich?" Diejenigen, die fragen: "Ist uns Entmythisierung möglich?" - befinden sich in der
Geschichte des Christentums. Wo befindet sich derjenige, der auf die andere
Weise fragt? Es· gibt mehrere Orte außerhalb des Christentums. Ich bekenne
mich zur Anschauung, daß die europäische Menschheit, zu der ich auch dieAmerikaner rechne, ungeachtet der Spaltungen im Christentum und nach dem
Christentum, immer noch eine gemeinsame Religionsgeschichte hat: unsere
Religionsgeschichte, die außer der Geschichte der christlichen Bekenntnisse
auch die der israelitisch-jüdischen und zum Beispiel auch die der griechis.chen
Religion in sich faßt. Indem wir nach der Möglichkeii der Entmythisierung
fragen, müssen wir doch auch diese Fr_age vom Gesichtspunkt unserer gemeinsamen europäischen Sprachmöglichkeiten aus etwas bewußter machen:
Warum fragen wir nach der Möglichkeit der Entmythisierung? Warum nichtnach der Möglichkeit der Entfabulisierung? Fabula ist lateinisch dasselbe, wie
mythos griechisch. Oder doch nicht? Müßte man nicht darüber, was das Wortmythos auf Griechisch zum Inhalt hat, erst überhaupt im Klaren sein, ehe
man Fragen stellt, in denen eine Ableitung von mythos wie "Entmythisie-
rung" vorkommt?
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THEOS UND MYTHOS 29
Und da möchte ich die Theologen zuerst daran erinnern, daß theologia, dieSache nicht weniger als das Wort, ein Produkt entschieden vorgenommener
Entmythologisierung - hier ist die Bezeichnung präziser als Entmythisie
r ung - in Griechenland war. Das Wort theologia fällt in den bekannten Tex
ten zum ersten Mal im Gespräch zwischen Sokrates und Adeimantos in Platons "Staat" 1• Soviel steht wenigstens durch Werner Jägers Buch über die
Theologie der frühen griechischen Philosophen 2 fest: ein Buch, das sogleichversagt, wenn man auch nach dem spezifisch-griechischen Inhalt des Wortes
theos, dem ersten Bestandteil von theologia, fmgt. Ich möchte aber vorher
auch noch daran erinne·rn, in welchem Zusammenhang das Wort theologia
da "fällt". Ich betone dieses, daß es "fällt", da es nicht etwa vom Philosophen
programmatisch ausgesprochen, sondern vom Gesprächspartner wie selbstverständlich eingeführt wird. Es handelt sich um die musische Erziehung der
Jugend für den neuen Staat. Dabei müßte man, meint Sokrates, sehr auf diemythopoioi aufpassen. Mit dem Wort mythopoios, "Mythenmacher", anstatt
mythologos, "Mythensager", stellt er die von der Tradition abweichendeTätigkeit der Mythenerzähler in den Vordergrund. Er läßt aber auch die tra
ditionelle mythologia nicht restlos zu. Man sollte sich streng enthalten, etwa
von Gigantenkämpfen und Feindseligkeiten der Götter und Heroen Mythen
zu erzählen. Nur die Mythen, die so erzählt worden sind, daß sie der Tugend
dienen, dürfte die Jugend hören. Welche sind die derartigen Mythen?- fragt
Adeimantos. Worauf Sokrates: Wir sind doch keine Dichter, sondern Staats
gründer. Es genügt uns, wenn wir nur um die Muste r - die typoi - wissen,
welche die Dichter bei ihrem Mythenerzählen zu beachten haben. Welche sind
denn, fragt Adeimantos. weiter, die Muster, die sich auf die Theologie beziehen: ot n)not neel & e o J . o y t a ~ ?
Was geschah da? Von der Mythologie wurde nur das behalten, was sich auf
die Götter bezieht: Das is t theologia. Und auch dafür gibt es Muster, die be
achtet werden müssen. Sokrates gibt diese Muster an. Sie beziehen sich auf
die Götter insofern als sie angeben, wie der Gott ist: o l o ~ w r x a v n o e o ~ wv
Vor allem is t er gut ( a y a & o ~ ö ye & e 6 ~ ) , und so muß es auch gesagt werden.
Es wird der Ausführlichkeit der Mythologie gegenüber- Ausführlichkeit liegt
im legein, im Erzählen der Mythologie- eine Einschränkung vorgenommen.
Das tut Adeimantos, indem er das Wort theologia einführt. Ihm mögen dabeidie älteren Theogonien vorgeschwebt haben, wie die von Hesiodos und Phere
kydes. Diese bleiben sogar für Aristoteles noch theologoi, und ihre Auf
stellung von Göttergenealogien nennt er theologein, theologia 3, sicher, weil
archaische Göttergenealogien wortkarg sind und sich womöglich auf die Göt
ter beschränken. So betrachtet unterscheidet sich theologia von mythologia
1 376 ff. Die Interpretation dessen, was mythologein, mythologia auf Griechisch sei,
habe ich vor allem auf Grund dieses Platontextes vorgenommen, im Kap. I meines
Buches La religione antica nelle sue linee fondamentali, 1. Ausg. Bologna 1940,4. deutsche Ausg. Die Religion der Griechen und Römer, München 1963.
2
Die Theologie der frühen griechischen Denker, Stuttgart 1953; The Theology ofthe Early Greek Philosophers, 1. Ausg. Oxford 1947.
3 Metaph. B 4. 1000 a 9. 1\ 6. 1071 b 27; N 4. 1091 a 34; A 3. 983 b 28; Meteorol.
TI 1. 353 a 35; Jäger Anm.17 ;,.u Kap. I.
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30 K.KERENYI
nicht einfach dadurch, daß mythos durch theos ersetzt wurde, sondern auch
durch die Konzentrierung des legein auf theos. Es bedeutet in diesem Fall
nicht wie in der Verbindung mit mythos "Erzählen", sondern eher schon
"Lehre". An die Stelle der Mythologie tritt die "Götterlehre'', und diese ver
dankt ihren Ursprung einem Plan der Entmythologisierung der griechischenErziehung. "Entmythologisierung" dürften wir dafür nur mit einem Vorbehalt
sagen: So erscheint der Vorgang den GespräChspartnern selbst, so vor allem
Sokrates, der die "Götterlehre" noch weiter einschränkt und sie als "Gottes
lehre" faßt, so erschien es Platon und Aristoteles. Ob es auch uns so er
scheinen wird, wenn uns der spezifisch-griechische Inhalt des Wortes theosklar wird, muß noch eine offene Frage bleiben.
Ich möchte indessen bei dieser Stelle die Aufmerksamkeit auf noch etwas
lenken: auf die Leichtigkeit dessen, was im Gespräch des Sokrates und Adei
mantos vor sich ging. Wir hatten nicht den Eindruck der Schöpfung einesneuen Wortes auf eine so betonte Weise, wie es Jäger hinstellt. Theologiais t eine leichte Analogiebildung, die wahrscheinlich nicht an dieser Stellezum ersten Mal gemacht wurde: ein leichter Ersatz von mythos durch theos,ein natürlicherVorfalL Ebenso leicht wie dem Schüler Adeimantos den mythos
durch theos zu ersetzen, ist es dem Meister Sokrates iJn ersten Bestandteil
von theologia die theoi durch 6 ) e 6 ~ zu ersetzen und ihm als selbstverständ
liche Eigenschaft "gut" im Sinne des griechis.chen Wortes agathos zuzu
schreiben. Am weitesten in der Ausschaltung des mythos durch das Einsetzen
von theos ging wohl Aristoteles in einem Satz der Metaphysik 4• Nachdem
er die Art der Mythen, das rtvfhxäk, im Anthropomorphismus und Zoomorphismus angegeben hatte, sagt er : "Wer all dies abstreifen und nur das behalten wollte, daß die ersten Wesenheiten"- das sind die Ges t i rne- "für
Götter gehalten wurden ( 1 ' h o v ~ WtOVTO r d ~ 7 l ( ! W T a ~ o v a l a ~ dvat ), der könnte
schon glauben, daß dies göttlich - & d w ~ ) gesagt wurde!" Anstatt u v - & t x w ~ wäre
- & e l w ~ die sich auf das Wesen der Gestirngötter beschränkende würdige Aus
drucksweise. Ob Aristoteles dadurch den Mythos völlig hinter sich hatte, darf
man auf Grund eben dieser Stelle bezweifeln.
2
Das zweite, an das ich die Theologen und die Philosophen mit einer Rand
bemerkung erinnern möchte, wäre, daß die Sprache ein Mittel und ein Ort
nicht nur des Philosophierens, sondern auch des Kultes ist: Ort des Kultes
in einem übertragenen und dennoch sehr bestimmten Sinne. Der religiöse
Mensch vermag auch in eine Sphäre vorzudringen oder hinüberzuschreiten,
für welche die griechische Bezeichnung das arrheton, das Unaussprechliche
ist, und für welche innerhalb der griechischen Religion auch Institutionen
bestanden, die mit der Hilfe dieses Wortes historisch einwandfrei definierbar
sind. Institutionen für das Arrheton waren die Mysterien: Die für die grie-
4 Metaph. {\ 8. 1074 b.
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THEOS UND MYTHOS 31
chisehe Existenz wichtigsten und als solche auch ausdrücklich bezeichnetensind die Mysterien von Eleusis. Außerhalb der Mysterien bleibt der Kult in
dessen innerhalb der Sprache, er bedient sich der Sprache und bindet sich aufeine unvermeidliche Weise an sie. Ich kann den historischen Tatbestand auch
negativ umschreiben: Eine andere Sprache, als diejenige, der sich der griechische religiöse Mensch innerhalb seiner Muttersprache, der griechischen,
bedient hatte, wäre für die griechische Religion unmöglich gewesen, und ebendarum kann durch diese Sprache selbst Wesentliches. von spezifisch griechischen religiösen Inhalten erfahren werden, vielleicht mehr sogar· als durchdie Bruchstücke der Philosophen, die ab und zu über die gleichen Inhaltereden.
Zum Beispiel der Hinderung und der Förderung des religiösen Menschendurch die Sprache, - ein entferntes Beispiel, das ich vorausschicke, um das
Phänomen selbst, nicht etwa den historischen Zustand deutlich zu machen-
zu solchem Beispiel sollen Äußerungen von Martin Buher dienen. In seinemautobiographischen Büchlein "Begegnung" 5 gibt er einen Gedanken wieder,den er 1914 gehabt hat, die Antwort auf eine innere Frage: "Plötzlich erhobsie sich mir im Geist, da wo .sich je und je die Sprache bildet", - ich möchtediesen Hinweis auf den Ort der Sprache unterstreichen - "erhob sich, ohnevon mir zusammengesetzt worden zu sein, Wort für Wort ausgeprägt. Wennan Gott glauben, so hieß es, bedeutet, von ihm in der dritten Person redenzu können, glaube ich nicht an Gott. Wenn an ihn glauben bedeutet, zu ihmreden zu können, glaube ich an Gott." Und dann, aus einem späteren Ge-
spräch über das Wort "Gott": "Ja, sagte ich etwa, es ist das beladenste allerMenschenworte. Keines is t so besudelt, so zerfetzt worden. Gerade deshalbdarf ich darauf nicht verzichten. Die Geschlechter der Menschen haben dieLast ihres geängstigten Lebens auf diese Weise gewälzt und es zu Boden ge
drückt; es liegt im Staub und trägt ihrer aller Last. Die Geschlechter derMenschen mit ihren Religionsparteiungen haben das Wort zerrissen: Sie
haben dafür getötet und sind dafür gestorben; es trägt ihrer aller Fingerspurund ihrer aller Blut. Wo fände ich ein Wort, das ihm gliche, um das Höchstezu bezeichnen! Nähme ich den reinsten, funkelndsten Begriff aus der inner-sten Schatzkammer der Philosophen, ich könnte darin doch nur ein unver-
bindliches Gedankenbild einfangen, nicht aber die Gegenwart dessen. denich meine, dessen, den die Geschlechter der Menschen mit ihrem ungeheurenLeben und Sterben verehrt und erniedrigt haben. Ihn meine ich ja, ihn, dendie höllengepeinigten, himmelstürmenden Geschlechter der Menschen meinen. Gewiß, sie zeichnen Fratzen und schreiben ,Gott' darunter; sie mordeneinander und sagen ,in Gottes Namen': Aber wenn aller Wahn und Trug zerfällt, wenn sie ihm gegenüberstehen im einsamsten Dunkel und nicht mehr,Er, Er' sagen, sondern ,Du, Du' seufzen, ,Du' schreien, sie .alle das Eine,und wenn sie dann hinzufügen ,Gott', ist es nicht der wirkliche Gott, den siealle anrufen, der Eine Lebendige, der Gott der Menschenkinder? Ist nicht er
es, der sie hört? Der sie - erhört? Und ist nicht eben dadurch das Wort
5 Stuttgart 1960 S. 35 und 43.
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32 K.KERENYI
,Gott', das Wort des Anrufs, das zum Namen gewordene Wort, in allen
Menschensprachen geweiht für alle Zeiten?"
Wie nimmt sich jetzt, vor diesen Hintergrund gestellt, die einfache sprachlich Beobachtung auf, - gemacht von einem guten, aber im Hinblick aufreligiöse Gründe und Werte ahnungslosen Linguisten 6 - -wie nimmt es sich
aus, daß es vor dem jüdisch-christlichen Sprachgebrauch keinen Vokativ vontheos gibt, daß es - wie die Linguisten es sagen - "von Haus aus" kein"Wort des Anrufs" ist? Im Vokativ ruft man griechisch die göttlichen Eigennamen aus: Zev m:l.ug, 'A.nollo Yg'a:xlet,;. Ihnen sagt man: "Du". Mit diesemDu-Sagen bleibt man in der Sprache der Mythen und des Kultes, der aufdem Mythos beruht. Läßt derjenige, der o e6,; sagt, deswegen schon jedenMythos hinter sich? Und, wenn er das tut, schreitet er über den Mythos ein
deutig in der Richtung eines philosophisch gereinigten Gottesbegriffes. hin
aus oder in Richtung eines namenlosen Ereignisses?
3
Ich möchte nun drittens daran erinnern, daß der spezifisch-griechische ln
halt des Wortes theos nur aus spezifisch-griechischen Kontexten zu entnehmenist: sowohl aus grammatischen Kontexten, als auch aus historischen, in deneno 1Je6,; oder fJeoq nicht aus philosophischen, sondern aus religiösen Gründensteht. Rein vom Gesichtspunkte der griechischen Sprache aus is t theos, umdies nach Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff - und nicht zum erstenM a l- zu wiederholen 7, ein Prädikatsbegriff. Es ist griechisch möglich, abernicht spezifisch-griechisch, von theos etwas auszusagen, beispielshalber, daßer agathos ist. Es scheint aber keine besondere sprachliche Kühnheit imGriechischen darzustellen, wenn es zu einem Ereignis, und nicht etwa vonseinem unsichtbaren Agens, aus.gesproch.en wird: Es ist theos. Um auch zwei
Beispiele zu wiederholen - das erste gleichfalls nach Wilamowitz -: Helenaruft in der gleichnamigen Tragödie des Euripides aus 8 :
w eo[· #eoq rae xat 7:0 ytyvwaxey rpilovq;-
0 Götter! Denn auch das ist Gott, wenn die Lieben erkannt werden.
Das Ereignis, daß Freunde sich erkennen, ist theos. Ein anderes Beispiel istuns lateinisch vom Älteren Plinius überliefert 9, wie' kh glaube, aus einemSpruch des Meander übersetzt: deus est mortali iuvare mortalem. Das Ereignis, daß man einem Menschen hilft, is t dem Menschen Gott. Die Formulierung der angeführten Sätze könnte als eine besonders feine und späte Sublimierung; des Inhaltes von theos erscheinen, und nicht der ursprünglicheInhalt, wenn schon das Fehlen des Vokativs sich nicht eben dadurch erklärte:Ein göttliches Ereignis wird mit ecce deus· und nicht mit Du und Vokativ be
grüßt, doch diese Begrüßung, eine im Nominativ ausgerufene Feststellung,
6 W. Wackernagel: Vorlesungen über Syntax, 2. Ausg. I 293.7 Willamowitz: Der Glaube der Hellenen li 17; Kerenyi: Das Th.eta von Samothrake,
Festschrift D. Brody, Zürich 1958, 129; Paideuma 7, 1959, 9. s 560.
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THEOS UND MYTHOS 33
ist deswegen nicht weniger religiös. Daher können wir den spezifisch-griechi
schen Inhalt von theos am besten mit Ecce deus! oder mit "Göttliches Ereignis!" wiedergeben.
Der gleiche Inhalt ist in jenen historischen Kontexten anzunehmen, in
denen uns Theos und neuerdings auch o fe6,; für sich, wie ein feststellenderSatz, an der Stelle eines göttlichen Eigennamens begegnet. Solche historischen
Kontexte ergaben sich im Übergang von der Sphäre der offenen religiösen
Sprache, voller göttlicher Eigennamen, kultischer und mythologis.cher Anrufungen, in die Sphäre des Arrheton, des Unaussprechlichen, wo es "sichereignet", wo aber Namen, wenn überhaupt, so nur im Geheimen genanntwerden. Eine solche sprachliche Sphäre des Übergangs umgibt die Mysterienvon Eleusis. Man spricht da nach außen hin, in den öffentlichen Inschriftennur von den Zwei Göttinnen, noch genauer "Zwei Gottheiten"rw {)ew im Dativroiv {)eoi": Formen, die das Geschlecht der Gottheiten nicht angeben 10• Inden InschrifteB heißt der geheimnisvolle Mysteriengott, der als majestätische,bärtige Gestalt dargestellt wurde, Theos und seine Gattin Thea, als lautetenso ihre Eigen-namen. Theos, der entsprechende große Gott\ der Mysterienvon Samothrake ist in einer versteckten kalendarischen Angabe. und einerähnlichen Darstellung zu ermitteln 11• Man glaubte freilich in solcher Be
zeichnung nur einen negativen religiösen Impuls zu erkennen: den Impulszur Ve-rheimlichung des eigentlichen Namens. Der positive Impuls, vomGott, der an seinem Ort jmmer wieder ein Ereignis war, Zeugnis. abzulegen,tritt in einer kleinen Inschrift zutage, die im Kabirion, dem Mysterienheiligtum bei Theben, gefunden wurde.
Ich verdanke die Kenntnis der Inschrift der Ausgräberin, Frau GerdaBruns, die sie mir, gleich nachdem der Fund gemacht wurde, im Oktober 1959
als ich zufällig zu den Ausgrabungen kam, auf eine schöne gastfreundlicheWeise vorgelegt hatte. Es ist ein graffito, eingekritzelt in ein architektonischesTerrakottastück des Heiligtums, und lautet o fe6,;. Die Zeitbestimmurig is twegen der ungewöhnlichen Schrift schwer. Sie wird sicher nicht außer derBlüteperioden des Heiligtums fallen. Es kommt aber auch nicht auf die genaueZeit an, sondern auf den Umstand, daß in dies.em Heiligtum die Nennungdes Mysteriengottes mit einem kultischen und mythologischen Namen -
wenn auch nicht mit dem geheimen. sondern als Kabiros - erlaubt war.Zahlreiche Scherben und Votivgegenstände zeugen davon 11• Dessen ungeachtet hatte jemand den Impuls, den Gott nicht Kabiros, sondern o 1'Je6,;
zu nennen. Hätte er ohne Artikel bloß {)e6,; geschrieben, so wäre dies gleichecce deus gewesen, ein Zeugnis von der Erfahrung des göttlichen Ereignissesin den Myste·rien. Er s.chrieb o )e6,;, und verkündete damit, aus einem naiven,
unmittelbaren Impuls, die Nähe jenes bestimmten Gottes, der sich da ingöttlichen Ereignissen meldete: als hätte er lateinisch ille deus geschrieben.Die Inschrift is t die Bestätigung einer Deutung, die, nach meiner Ansicht,
Nat. hist. 2. 18. . _. 1°Kerenyi: Die Mysterien von Eleusis, Zürich 1962, 41.11 Kerenyi: Das Theta vo n Samothrake 131 f f12 Wolters-Bruns: Das Kabirenheiligtum von Theben, Berlin 1940, 36 ff .
3 Castelli
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34 K.KERENYI
von der Abkürzung f J - für f JEOZ- auf samothrakischen Scherben gefordert wurde. Im Mysterienheiligtum der großen Insel vor der Thrakischen
Küste, das mit dem Kabirion von Theben durch de Verwandtschaft der Kulte
verbunden war, fand man die Buchstaben fJ oder fJE in Trinkgefäße ein
geritzt, 8 oft in den Boden von Weinschalen. Ehe man das Gefäß hinwarf,
so daß es in Stücke zerbrach, trank man aus ihm den Wein und wurde durchdas Trinken eines göttlichen Ereignisses in diesen Mysterien teilhaftig.
4
So ist es nun an der Zeit, zur Frage zurückzukehren, die vorhin offen gelassen wurde. Der Inhalt des griechischen Wortes theos is t nun klar: es ist
wie ecce deus. Die gleiehe Aussage mit Artikel o#e6t; meint in einem kultischen Kontext illum deum, den man aus seinen Ereignissen kennt, Vollzieht
man, wenn man alles andere beiseite läßt, dadurch eine wahre und' vollstän-dige Entmythisierung? Und wird so die Möglichkeit einer Entmythisierung
überhaupt erwiesen? Ehe ich versuche auf diese letzte Frage gleichfalls eineAntwort zu geben, muß eine Folgerung aus der Feststellung gezogen werden,
der Inhalt des Wortes theos sei "göttliches Ereignis": eine Folgerung, diesich auf o#eot;, wie ihn Sokrates im Gespräch mit Adeimantos im Gedanken
hatte, d. h. auf den philosophischen Gottesbegriff, bezieht.
Wer theos sagt, entmythisiert nicht. Die Aussage, die Prädikation theos,selbst is t mythos, dem ursprünglichen Inhalt dieses Wortes entsprechend,
das in der Sprache Homers noch keineswegs mit pseudos, Lüge, gleich ist.
Vor dem prädikativen Gott ist kein anderer Mythos da, dessen weitere, aus-
führende Aussage - mythologia - er wäre. Auch keine Lehre oder kein
Begriff ist vor dem prädikativen Gott da, nur das sich zu erkennen geben.Mit theos, dessen Inhalt eben dieses Ereignis ist, beginnt der Mythos. Nicht
jeder mythos! Denn bei Homer beschränkt sich der Inhalt des Wortes nichtnur auf göttliche Ereignisse! Diese Beschränkung trat indessen nach Homer
in der griechischen Sprache ein, und so darf wohl gesagt werden, daß jener
Mythos, den wir meinen, wenn wir von Entmythisierung reden, mit theosbeginnt. Und ich erinnere jetzt auch daran, wie leicht die Ersetzung von
mythos durch theos im Gespräch des Sokrates mit Adeimantos ging! Ebenso
leicht ging da die erste Prädikation über o#e6t;: er sei agathos, "gut", dem
Inhalt des griechischen Wortes agathos entsprechend, mit dem immer ein
anerkannter, hoher Wert gemeint wurde, doch nicht immer ein Wert, der auf
das Sittliche beschränkt, oder gar durch die Sitte eingeschränkt, war.
Nach Jäger, der wohl die allgemeine Auffassung vertritt, entsprangen dieSchöpfung des Wortes theologia, und eben diese, sokratische Theologie, "dem
Konflikt der mythischen Tradition und der natürlichen. rationalen Behand-
lung des Gottesproblems". Dagegen ist zu sagen, dall die Klärung dessen,was agathon sei, wohl ein Ereignis der rationellen Behandlung dieses Pro-
blems, des Philosophierens über das Gute ist, nicht aber, daß die prädika-tive Verbindung von agathos und theos, die Aussage: das göttliche Ereignis
oder der Gott seien gut, eine Errungenschaft der griechischen Philosophie
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THEOS UND MYTHOS 35
war. Zwischen dem prädikativen Gott und dem Objekt der Prädikation -
und sei das Objekt Zeus selbst gewesen! - bestand neben der Möglichkeitder Übereinstimmung immer auch die Möglichkeit der Diskrepanz, die bis
zum Konflikt zwischen der mythologia und dem Inhalt des Wortes theos
führen konnte, wenn sich jemand auf diesen Inhalt konzentrierte. EineFrage, wie die folgende des Euripides, wird dem Dichter, ohne ·aufwühlende
Skepsis, durch die Sprache selbst, den prädikativen Inhalt des Wortes theos,
ermöglicht 13•
ö n Oeof: ~ p ~ Oeof: ~ ro piaov,
r[f: qJYJa• l e e v v ~ a a f ; ßeoui:Jv,
pa>ee6rawv :rreeaf; eveeiv • . .
So singt der Chor der Dienerinnen in der "Helena'', der Tragödie, die einschönes Beispiel für den prädikativen Gott uns schon gab. "Was Gott is t oder
nicht Gott oder das in der Mitte" - versuche ich die Frage zu übersetzen -"wer unter .den Menschen darf von sich behaupten, daß er diese äußersteGrenze der Unterscheidung durch Erforschung fand?" Euripides meint auch
mit ro peaov, "das in der Mitte", wofür er nicht gut einfach peaov sagenkönnte, etwas ebenso Bestimmtes, wie Oe6t; oder ö Ot:6f:: nämlich r6 lJatp6vta
deren viele Gestalten er in seinen Schlußgesängen oft erwähnt:
no.Ä.Ä.al poeq;a[ ui:Jv lJatpovlwv.
"Viele Formen bringt der daimon hervor . . ."
Daimon kann in der griechischen Sprache agathos sein, kann aber auch
mit kakos leicht zusammengesetzt werden - kakodaimon, "der Unglückliche", der einen schlechten oder bösen Daimon hat, is t ein klassisches, undsicher schon archaisches Compositum - während agathos theos, als völlig
überflüssiger Pleonasmus nicht gesagt wird (es. sei denn als Übersetzungeines fremden göttlichen Namens) 14 und kakotheos schwer zu sagen ist.Dystheos wird bei den Tragikern von Menschen gesagt, auf die die Götterböse sind, die sie hassen 15• Ein Scholiast des Sophokles 16 umschreibtdystheos, nach der Analogie von dysdaimon: kakodaimon, mit kakotheos,doch der Neoplatoniker Porphyrios, nach dem Aristoteles-Schüler Theo-phrastos, läßt das Wort auch da nicht zu, wo man glauben würde, daß man
es brauchen könnte: zur Bezeichnung von Barabara; die an böse Götterglauben 17• Es ist noch keine solche alte Schicht der griechischen Spracheeruiert worden, in der theos nicht selbstverständlich mit dem anerkanntenhöchsten Wert prädikativ verbunden werden müßte.
Daß der spezifisch-griechische Inhalt von theos gut, eher beglückend alserschreckend ist, könnte auch an anderen göttlichen Gestalten gezeigt wer-den; doch wo von theos und o }e6t; die Rede ist, liegt es am nächsten von
13 1137-9.u Der Bona Dea, Plut. Caes. 9.
15 Aesch. Ag. 1590; Ch. 46; Soph. EI. 289.16 In EI. 289.17 De abst. 2. 7.
a•
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36 K.KERENYI
Zeus ein \Vort noch zu sagen. Ich schicke die bekannte Tatsache voraus 18, daß
das deutsche Wort "Gott" und seine Entsprechungen im Gotischen und Alt
nordischen auf ein Neutrum zurückgehen. Zeus ist ein Masculinum, unter
seinen nächsten sprachlichen Verwandten aber befinden sich zwei Feminina:
dyau- "Himmel", im Altindischen als Mutter und Göttin angesprochen, und
dies, "Tag", Feminium und Masculinum im Lateinischen 10 • Der väterlich
männliche Aspekt des Zeus der griechischen Mythologie ist sprachlich nicht
besser begründet als das grammatische Geschlecht von theos, das sich aus der
Flexion ergibt, doch, wenn es die Mythologie fordrrt, für das Femininum
fJ {}s6q auch preisgegeben werden kann. Der ursprüngliche Inhalt des Namens
Zeus is t das Aufleuchten und erst nachher der Erleuchter: das Aufleuchten
nicht nur des Himmels und des Tages, sondern ein glückliches Aufleuchten
überhaupt, sogar im Meer. Im Satyrspiel Diktyulkoi des Aischylos, auf einem
Papyrusfetzen 20 , der etwa. seit dreißig Jahren bekanm ist, ruft der Fischer,
als er sein Glück ein Geschenk des Meeres erblickt, neben Poseidon einezweite Gottheit, den "Zeus im Meere" an: Zsv -r' E-va w.
5
Ich wäre damit zu meiner letzten Randbemerkung angekommen, die sich auf
die Hauptfrage dieses Gesprächs und auf das Christentum bezieht. Denn bisjetzt war nur von den Griechen die Rede. Wer "Gott auf Griechisch", das heißt
{}s6q sagt, bleibt innerhalb des Mythos - selbst der griechische Philosoph
bleibt darin, ob er den Inhalt von -lh6q mit -ro {}f-iop, das "Göttliche", oder mito {}s6q aus unberechbaren Ereignissen zu einem ständigen Gegenstand seinesNachdenkens macht. Zwischenmythos und theos besteht im Griechischen eine
unauflösbare Korrelation. Ein Beispiel dafür, was mythos noch in der Odysseegewesen sei, war für Andre Jolles und Walter F. Otto, die das Wort richtiginterpretiert haben 21, die Abfahrt des Telemachos, ein Tatbestand und
wahres Wort, das da,uv{}oqheißt 22 • Ich glaubte dazu noch hinzufügen zu dür
fen 23 , daß das stereotype Objekt von ,uv{}oq in verbaler Form, dem Zeitwort
,uv{}io,uat in der epischen Sprache dieWahrheit ist (aA.rr{}ia, 'PYJ ,useTia, ~ w , u a ) \während die Lüge das Objekt von legein bildet: VJEvdw no).).d Uyn'P 25• Das
Verhältnis zwischenmythosund Iogos beschrieb am richtigsten mein unlängstin Siebenbürgen verstorbener Freund, der protestantische Theologe und
Philosoph Titz Scheiner in seinen unveröffentlichten Schriften: "Beim Mythos
18. P. Kretschmer, Glotta 13, 1924, 79 ff .19 H. Zimmermann, Glotta 13, 1924, 79 ff .20 Bull. Soc. R. Arch. d' Alexandrie, N. S. 8, 1932, 119.21 Jolles: Einfache Formen, Halle/Saale 1930, 102; W. F. Otto: Die Gestalt und das
Sein, Darmstadt-Düsseldorf 1955, 66; Kerenyi: Griechische Miniaturen, Zürich 1957, 66.22 Od. 2. 112; 4. 744.
W. Szilasi, München 1960, 121 ff .23 Miii!oqin verbaler Form, Festschrift. W. Szilasi, München, 1960, 121 ff .24 Ilias 6. 382; Od. 14. 125; Od. 17. 15; Od. 18. 342; Ilias 6. 376,; Hes. Op. 10 und die
richtige Lesung in Theog. 28. ·· ·25 Od. 19. 203; Hes. Th- og. 27.
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THEOS UND MYTHOS 37
hat die Sache über das Wort, beim Logos hat das Wort über die Sache dasÜbergewicht". Theos is t mythos, insofern als durch diese Prädikation einTatbestand ausgesprochen wird, der, wenn er nicht zu Mythos gewordenwäre, im Bereich des Arrheton, des Unaussprechlichen, hätte bleiben müssen.
Der mythos ist aber religiös bedeutsam geworden, Mythos im besonderenSinne, durch die Aussprache eben dieses Tatbestandes. Eine Entmythisierungwäre da das Vorwärts- oder das Zurücktreten ins Arrheton: nur in diesemSinne könnte man überhaupt von einer Entmythisierung in bezug auf diegriechische Religion sprechen.
Wie verhält es sich mit dem Christentum? Das Wort theos steht auch in denheiligen Texten des Christentums, der Sprache nach griechisch, und es stehtin einem berühmten Satz sogar prädikativ. Der Satz lautet: lv aexrJ, rJVö A.6yoq, ual ö l6yoq nv neoq TOV 1h6v, ual ihoq nv ö l6yoq. Ich fühle michnicht befugt, diesen Satz anders zu interpretieren als dies ein Religions.historiker und Hellennist tun kann: aus der Religion, die da am nächstensteht, der alttestamentlichen, und aus der Sprache, die griechisch ist. Das"Wort am Anfang" kann kein anderes Wort sein, als das Schöpfungswort amAnfang: lv aexfJt heißt es in grie .chischer Übersetzung auch im ersten Satz derGenesis. Dieses Wort war bei Gott - neoq TOV 1Je6v -, der nicht erst nachseinen Ereignissen kam, sondern vor allen Ereignissen da war: es kann keinanderer da gemeint sein als der Gott des Alten Testamentes, der mit seinemWort die .Welt erschaffen hat. Die Erzählung, wie er sie erschaffen hat, gehtin den griechischen Begriff der methologia ein. Daß er sie erschaffen hat, istfür Juden und Christen etwas anderes: wenn es für sie den Mythos im gleichenSinne gäbe, wie für die Griechen, so wäre es dessen Voraussetzung. Imersten Vers des Johannesevangeliums folgt die prädikative Aussage: ual#eoq flv Ö l6yoq, und diese Aussage könnte nach dem griechischen Wortinhaltso übersetzt werden, wie es in diesem Zusammenhang paßte: "und ein göttliches Ereignis war das Wort".
Dennoch weiß ich nicht, ob der Christ diese, durch die Sprache angeboteneBerührung· mit dem theos der griechischen Religion annehmen kann. Denn esfolgt bald auch der Satz: ual ö l6yoq aaQ; fyevew, verbum caro factum est.Dieser Satz selbst wäre dann schon "Entmythisierung". Der mythos, die Aussage eines göttlichen Ereignisses, wird verlassen für das Geschehen im
Fleische. Die heilige Geschichte des Christentums kann nicht Mythos seinwollen, selbst wenn mythos diesen Inhalt hat: göttlicher, wahrer Tatbestand.Sie muß bei ihrer Historizität bleiben und könnte nicht zugeben, daß sie sichnicht im Fleische, sondern nur im Geiste ereignete, wie theos und mythos inGriechenland 26• Die Entmythisierung kann für ein solches Geschehen, dasaußerhalb des Mythos stattgefunden haben will, doch auf eine andere Weiseaußerhalb als das Unaussprechliche von Eleusis, nicht einmal in Frage kommen: die Frage wäre gegenstandslos. So'scheint es mir, wenn ich das historische Christentum phänomenologisch betrachte 27 •
26 Vgl. meinen Aufsatz Hercules Fatigatus. Festschrift. C. J. Burckhardt, München1961, 214 ff .
27 Eine erweiterte Fassung wird für meine Griechischen Grundbegriffe vorbereitet.
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DIE ENTMYTHOLOGISIERUNG IN DER ALEXANDRINISCHEN
SCHULE
Jean Danielou
Es ist immer gefährlich, ein aktuelles Problem in die Vergangenheit übertragen zu wollen. Und gleichzeitig ist es bemerkenswert, daß zu verschiedenenZeiten die gleichen Probleme auftauchen. Ebenso erscheint es berechtigt,Vergleiche anzustellen, und doch muß man sich vor Gleichmacherei hüten.
Das Problem der Entmythologisierung ist hierfüli typisch. Es hat im altchristlichen Gedankengut eine gewisse Parallele, aber es erscheint dort unter
Voraussetzungen, die nicht die unseren sind. Es geht also um eine Darstel
lung der Frage in dem ihr eigenen Zusammenhang. Vielleicht finden wir auf
diese Weise Grundstrukturen, die unsere aktuellen Probleme lösen helfen
•* *Die Frage der Entmythologisierung is t ursprünglich durchaus· nicht spezi
fisch christlich. Im Gegenteil, sie hat sich zuerst den Griechen gestellt. Sieist eine unvermeidliche Folge fortschreitenden wissenschaftlichen Denkens.
Dieses definiert sich in seiner ersten Emphase im Widerspruch zu denMythen. Das findet sich schon bei Heraklit und Xenophanes und in der Folgedurch die ganze griechische Tradition hindurch. Zu Beginn des. Christentums
ist diese Kritik besonders heftig. Man lese nur die Dialoge von Lucian oder
die Abhandlungen von Celsus nach. Die Christen machten in erheblichemMaße Gebrauch von dieser heidnischen Polemik, um damit die Immoralität
und die Unreife der griechischen Mythen aufzuzeigen, Es handelt sich hier
um ein Kapitel, das konstant in allen Apologien erscheint, sei es nun beiJus.tin oder Athenag.oras, bei Theophil oder bei Tatian. Schon Phiion hatte
sich der gleichen Technik bedient.
Aber es ist klar, daß diese Polemik sich. gegen die Bibel umwenden konnte.An Skeptikern fehlte es in dieser Beziehung nicht. Das zeigt sich schon im
alexandrinischen Judaismus. Die Juden mißachteten die heidnischen Mythen.Aber gerade diese stellten eine Analogie dar: "Wie könnt ihr noch die alten
Traditionen respektieren, als ob sie die Gesetze der Wahrheit enthielten. DieBücher, die ihr heilig nennt, enthalten die gleichen Mythen, über die ihr zu
lachen pflegt, wenn andere sie erzählen" (Philon, Confus. 2-3). Die Diskussion zwischen Celsus und Origenes ist in dieser Hinsicht charakteristisch.Celsus sucht die heidnischen Mythen zu verteidigen und sieht in den biblischenGleichnissen absurde Fabeln. Origenes verteidigt die Berichte der Bibel und
verspottet die griechische Mythologie.Dennoch hat diese Kritik ein gemeinsames Element: bestimmte Erzählun
gen können nicht wörtlich genommen werden, sie können der Kritik stand-
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ENTMYTHOLOGISIERUNG IN DER ALEXANDRINISCHEN SCHULE 39
halten. Es erscheint wichtig, zu zeigen, daß Juden und Christen das für dieBibel gleichermaßen anerkennen wie die Griechen für Homer. So wäre dieSchaffung des Paradieses, durch Gott für Phiion wörtlich verstanden einep,v#onota (Leg. All. III, 14, 43). Die Schöpfung der Eva aus der Rippe des
Adam is t mythisch (p,v#w6e.:jim wörtlichen Sinne (Leg. All. Il, 7, 19). Dasgleiche gilt für die Rolle der Schlange bei der Versuchung (Agr. 22, 97). Phiionweist auf das Ärgernis hin, das eine historische Interpretation dieser Gegebenheiten in den Augen der Heiden darstellen muß. Das Wort Gottes kämedamit in Verruf (Imm. II. 21, 22). Ähnliche Bemerkungen finden sich bei Origenes, Gregor von Nyssa wendet sich gegen die Autoren, die sich wie Theodorus von Mopsuesta fragen, ob der Baum der Erkenntnis. ein Feigenbaumvr-ar: "Wenn die Frucht doch vergiftet war, wie könnte sie dann plötzlich verdaulich werden?", denn gerade wenn man es wörtlich nimmt, müßte dasGleichnis der Bibel dem Unwissenden unwirklich und mythisch (p,v#wbe.:)
erscheinen (P. G. XLIV, 67, 2-c ) .
Griechen und Christen haben also das gleiche Problem. Es geht um dieWahrung überkommener religiöser Werte, die von der wissenschaftlicheilKritik als durchaus fabelhaft hingestellt werden. Die Lösung des Problemsbesteht in dem Hinweis auf die tatsächlich mythische Form, unter der sichdiese Werte präsentieren, und daß man sie also nicht wörtlich verstehenwollen dar( sie aber dennoch eine Wahrheit enthalten, die man hinter demBuchstaben zu suchen hat. Das genau is t Entmythologisierung. Es handeltsich hier um Hermeneutik, um die Interpretation heiliger Texte. Wir wissen,welche Bedeutung diese Hermeneutik in der Auslegung und der griechischenTradition einnimmt: Stoiker, Pythagoräer und Platoniker haben sich gegenseitig an Scharfsinnigkeit übertroffen, in den antiken Mythen Lehren überdas Universum und seine Struktur, über die Seele und ihre Tugenden, überGott und seine Kräfte zu entdecken. Die Antwort des antiken Griechenlandauf die Kritik der Vernunft war die Allegorie.
Juden und Christen ließen sich von der griechischen Hermeneutik inspirieren. Es ging darum, die Wahrheit wiederzuentdecken, die hinter dem Symbol der Mythen verborgen war. Die gleichen Termini finden sich für die einewie für die andere Entmytholgisierung. Clemens von Alexandrien sagt, "die
Dichter philosophieren häufig durch Insinuation(vn6vota)". Um die Wirklichkeit zu erkennen, müßte man bis zu dem Gedanken (bvow) vorstoßen, derin den Symbolen enthalten ist (Strom. V, 4, 24, 1-2) . Analog drückt er sichbei der Beschreibung Johannes des Täufers aus, wie dieser J esus die Sandalen aufbindet, das heißt, die in den Symbolen des Alten Testaments enthaltenen Gedanken (evvma) entschleiert li""dlmpa.:) (V, 8, 55, 3). Phiionschreibt mit Bezug auf die Schlange, daß "mit Interpretationen durch Allegorien (vn6vota) das' mythische Element (,uv#wbe.:) ausgeklammert und dieWahrheit entdeckt wird" (Agr. 22, 97).
Hier aber taucht das Problem der Methodik dieser allegorischen Auslegung
der Mythen auf. Man muß anerkennen, daß in dieser Beziehung die Kirchenväter und vor ihnen Phiion nicht nur von dem Prinzip der Entmythologisierung selbst beeinflußt waren, sondern auch von dem Inhalt, den die griechi-
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40 J.DANIELOU
sehen Philosophen ihren eigenen Mythen gegeben hatten. Sie waren versucht,
die Gleichnisse der Bibel auf die gleiche Weise zu interpretieren. Das wirdbesonders deutlich bei Philon. Wir haben ges.ehn, daß er davon überzeugtwar, die Schaffung der Eva entmythologisieren zu müssen. Aber diese Ent
mythologisierung führte schließlich dazu, daß Adam die Intelligenz wurdeund Eva die Empfindung. Der Schlummer des Adam ist die Intelligenz, diesich von dem Intelligiblen abwendet. Die Rippe ist eine der Kräfte der Intelligenz, die Fähigkeit zu fühlen. Die Schaffung der Frau ist die Empfindungals Akt (Leg. All. II, 8-11, 25-38). Clemens und vor allem Origenes inter
pretieren analog.
Die christliche Tradition sollte jedoch noch eine andere Möglichkeit aufzeigen. Scho·n bevor sich ihr die Frage nach dem Wert der Mythen durch dieKonfrontierung mit dem wissenschaftlichen Denken stellte, kannte sie eine
bestimmte Art von eigenständigem Symbolismus, der durch die Perspektiven
der Heilsgeschichte bedingt war. In seinem Römerbrief hatte Paulus bereitsin Adam ein Vor-Bild ( ' r v n o ~ ) des Kommenden g e s ~ h e n , also von Christus.Und der Petrushrief hatte die Taufe als Gegen-Bild ( a v - r h v n o ~ ) der Sintflut
hingestellt. Hier handelt es sich nicht um Exegese im eigentlichen Sinn. Unddie Frage, ob die erwähnten Episoden mythischen oder historischen Charakter haben, wird überhaupt nicht gestellt. Im Gegenteil unterstellen die angewandte Methode und der gezogene Vergleich den historischen Charakterbeider Termini, denn es handelt sich hier um die Aufzeigung der Beziehungzwischen zwei geschichtlichen Gegebenheiten.
Schließlich entsteht bei Clemens und Origenes eine Interferenz zwischenTypologie und Entmythologisierung. Wir zitierten vorhin, ohne weiter daraufeinzugchn, eine Passage, in der Clemens erklärt, Johannes der Täufer hätteden Gedanken-Gehalt (lvvotal der Symbole des Alten Testaments entschleiert.
Das Wort dient zur Bezeichnung der unter dem Schleier des Mythos verborgenen Wirklichkeit. Die vollzogene Transposition wird deutlich. Die Symbole, die Mythen sind hier die Wirklichkeit des Alten Testaments, die ev,,at adie Wirklichkeit is t die Person Jesu Christi. Das Alte Testament drückte alsoverschleiert aus, was das Neue deutlich offenbart. Man kann sich übrigensfragen, wie weit sich Clemens nicht teilweise von der Sicht des. Maximus VO'J.
Tyra hat beeinflussen lassen, für den die Mythen den Alten, also einer nochunvollkommenen Intelligenz, entsprachen, während der Logos. einer vollkommenen Gnosis gleichkam (Abhandl. X, 5).
Ein Text von Origenes bringt hier ein wichtiges Element. Im Anti-Celsusschreibt er über die Juden: "Wie großartig war es für sie, die Wahrheit seitihrer Kindheit zu kennen . . . Diese Wahrheiten waren noch in Form vonMythen (,uv#tx6v) ausgesprochen, weil sie noch Kinder waren und nur eiTI
kindliches Auffassungsvermögen hatten. Aber für die, die, nach dem wahrenGehalt ( l 6 y o ~ ) suchen und dabei fortschreiten wollen, hat sich das, was einstmals Mythos ( , u v # o ~ ) war, in die Wahrheit verwandelt, die bisher verborgen
war." (V, 42) Der Übergang vom Alten zum Neuen Testament ist also einÜbergang vom Mythos zum Logos, von der unter dem Symbol verborgenenWahrheit 7U der in ihrer Wirklichkeit manifesten Wahrheit. Der Irrtum der
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ENTMYTHOLOGISIERUNG IN DER ALEXANDRINISCHEN SCHULE 41
Juden ist, beim Mythos zu bleiben, während das Wort doch gegenwärtig ist.
Die echte Entmythologisierung ist der Übergang vom Alten zum Neuen
Testament.
Diese Perspektive ist besonders interessant in Hinsicht auf evYota, den lnhalt des Mythos. Dieser hört auf, eine philosophische Wahrheit zu sein wiebei den Griechen. Er is t der Logos selbst, die christliche Wahrheit. Gleichzeitig aber bringt er eine schwerwiegende Konsequenz in Bezug auf denMythos mit sich. Dieser erfährt eine besonders starke Ausdehnung. Er bezieht sich nicht mehr auf bestimmte Gleichnisse der Genesis, deren Ausdrucksweise als mythisch angesehen werden konnte. Das Alte Testament alsGanzes wird zu einem einzigen ungeheuren Symbol. Natürlich wird damitder historische Charakter der Gegebenheiten nicht hinfällig. Aber der wörtliche Sinn wird zur Hülle eines verborgenen Sinns, der der wahre Sinn is t
(eYYota). Dieser verborgene Sinn, der schon Logos war, wird vom NeuenTestament entschleiert. Von nun an mußte sich die Entmythologisierung durchdie Allegorie auf die Gesamtheit des Alten Testaments ausdehnen.
Der Sinn des Mythos hat sich hier vollkommen verändert. In seinem üblichen Verständnis stand er im Gegensatz zur Geschichte. Aber darum gehtes nicht mehr, denn auch die Geschichte kann zum Mythos werden. Es handelt sich jetzt um einen anderen Widerspruch. Der Mthos steht dem Logos.
gegenüber. Das findet sich schon bei Maximus von Tyra. Der Logos is t derGrund des Sein, die erste Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist für Origenes
das Wort Gottes und seine Mysterien. Sie ist zum größten Teil schwerfaßbar. Deswegen muß sie in den Schleier des Mythos gehüllt werden. Das istdas Konzept, das dem platonischen Mythos zugrunde liegt, zumindest in derInterpretation des Origenes: "Untersucht man philosophisch, was Platon inForm von Mythen ( p , f H J o ~ ) ausgedrückt hat, so stößt man auf seine eigentlichen Gedanken. Er hat die für ihn offenbaren tiefgründigen Lehren derMasse entzogen, indem er sie in Form von Mythen ausdrückte, um damitjenen,_ die dazu fähig waren, zu erlauben, die hinter diesen Mythen verborgene Wahrheit zu erkennen" (Anti-Celsus IV, 39). Origenes wendet dieses
platonische Verständnis des Mythos auf das ganze Alte Testament an undgibt ihm als Inhalt Christus .
Von nun an gibt es also zwei Interpretationen des Alten Testaments. Mankann es auslegen, indem man es wörtlich nimmt. Das wäre gleichbedeutendmit einem wörtlichen Verständnis der platonischen Geheimnisse, das heißtmit einem Verzicht auf ihre Entmythologisierung, al">o einem Verbleiben immythischen Stadium. Das ist der Fall bei den Juden, aber auch bei denChristen, die sich an den wörtlichen Sinn des Alten Testaments halten. Diewahren Christen aber entmythologisieren das Alte Testament durch Alle
gorien: "Sie zeigen die tiefgründigen und geheimnisvollen in der Schrift enthaltenen Lehren auf, während die Juden sie oberflächlich als Mythen ( , u v - D o ~ )lesen" (Anti-Celsus II, 4). Und an anderer Stelle heißt es: "Alle Gesetze derheutigen Juden sind Mythen und Sagen (lijeot). denn ihnen fehlt das wahreLicht der Erkenntnis" (Anti-Celsus II, 5). Die Christen dagegen sind der
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42 J.DANIELOU
judäischen Mythologie entgangen (Anti-Celsus II, 6), Christus hat sie vonden jüdischen Mythen befreit (Anti-Celsus II, 52).
In der Sicht von Origenes ist also das Alte Testament der Mythos und dasNeue Testament dessen Wirklichkeit. Aber man wird sich hüten müssen,diesen Gegensatz in einem zu historischen Sinn zu verstehen. Tatsächlich gabes für Origenes im Alten Testament schon Menschen, die den Logos durchden Schleier zu schauen vermochten, und im Neuen Testament kann mannoch Menschen antreffen, die sich auf der Ebene des Mythos befinden. DasProblem des Mythos kann also auch im Neuen Testament auftauchen. Damitwird der historische Charakter des Christus-Ereignisses im Neuen Testamentnicht ausgeschlossen, genauso wenig wie der mythische Charakter des AltenTestaments die Historizität der Ereigniss.e ausschließt. Aber das besagt, daßes seit dem Alten Testament eine Kenntnis der gegenwärtigen oder der kommenden Wahrheit gibt, und daß es innerhalb des Neuen Testamentes eineUnkenntnis der gegenwärtigen und vergangeneu Wahrheit geben kann. Mitanderen Worten gibt es für Origenes sehr wohl eine Entwicklung der historischen Wirklichkeit, aber keinen Fortschritt in der Erkenntnis. Oder bessergesagt ist Fortschritt in der Erkenntnis der Übergang vom Mythos zurGnosis, det immer möglich war.
Dieses Problem erhebt sich insbesondere auf dem Gebiet der Eschatologie.Origenes hat Christen gekannt, die die Versprechungen Christi über daskommende Reich Gottes als eine Versammlung der Auferstandenen in einemerneuerten Palästina interpretierten, in dem Milch und Honig fließen wür
den.Es l.st das
dieLehre vom Tausendjährigen
Reich. Sie warzur Zeit
desOrigenes allgemein verbreitet. Wir finden sie bei Irenäus wie bei Tertullian,bei Hippolitus wie bei Methodus. Origenes verwirft sie. "Das Land, woMilch und Honig fließen, ist nicht, wie einige meinen, ein irdisches Judäa"(Anti-Celsus VII, 28), sondern jenes, von dem Paulus, "dem die jüdischeMythologie fremd war" (Anti-Celsus VII, 29), im Hebräerbrief sp·richt. Derheilige Basilius drückt sich analog über Appolinarius aus: "Man findet beiihm auch Betrachtungen über die Auferstehung, die m y t h i s c h ( . u v ' l ? t " w ~ ) sind,sogar judäisch" (P. G. XXXII, 980). Der Vorwurf des Judaismus tauchtimmer im Zusammenhang mit einem wörtliChen Verständnis der Schrift auf.
Wir finden hier auf dem Gebiet der Eschatologie dieselbe ßaltung wiederwie bei der "Archäologie". Die Entmythologisierung erstreckt sich also aufzwei Gebiete. Sie bezieht sich zunächst auf den inythis.chen, das heißt denfantastischen Charakter der Vorstellung und spricht ihr jede historischeWahrheit ab. Und darüber hinaus schält sie, wie grundsätzlich bei Origene:>,die in dem wörtlichen Sinn enthaltene Wahrheit heraus, sei dieser nun historisch oder nicht. Die beiden Gesichtsp.unkte sind natürlich verschieden. DieSchwierigkeit besteht in der Abgrenzung beider gegeneinander. Es is t nichtimmer leicht, festzustellen, wie weit bei Origenes die Entmythologisierungals Vorstoß in die letzte hinter dem Buchstaben verborgene Wahrheit nicht
eine Unterbewertung der historischen Wirklichkeit und eine Verschiebungzur Gnosis mit sich. bringt.
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ENTMYTHOLOGISIERUNG IN DER ALEXANDRINISCHEN SCHULE 43
Zusammenfassend kann die Ähnlichkeit zwischen dem Problem, wie es sichden Alexandrinern stellte, und der gegenwärtigen "Entmythologisierung"nicht mehr erstaunen. In beiden Fällen ist der Ausgangspunkt der Schockder wissenschaftlichen Kritik, der den Glauben an das Wort Gottes zu er-schüttern scheint und zu einer Befreiung von kompromittierenden Vorstellun-gen davon verpflichtet. Aber im Grunde steht hier nicht weniger als die Auf-fassung der Zusammenhänge zwischen Geschichte und Erkenntnis auf demSpiel. Die Bemühung, den Glaubensgehalt aus seiner jeweiligen Hülle heraus-zuschälen, bringt die Gefahr eine·r Loslösung von der Geschichte mit sich.Die Geschichte aber droht, selbst bei Anerkennung ihrer tatsächlichen Ge-gebenheit, von der Erkenntnis ausgeschlossen zu werden. Entsprechen sichdie beiden Situationen als Gesamtkomplexe, so verbietet sich doch die Über-tragung irgendwelcher Details durch die Verschiedenheit ihrer Zusammen-hänge.
7/27/2019 Kerygma Und Mythos, Bd. 6,1. Entmythologisierung und existentiale Interpretation (ThF 30, 1963, 250pp)
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HERMENEUTIK DER SYMBOLE
UND PHILOSOPHISCHES DENKEN
Paul Ricoeur, Sorbonne
Der vorliegende Versuch hat die Absicht, eine allgemeine Theorie des Symbols zu skizzieren unter Bezugnahme auf ein bestimmtes Symbol oder eher
auf einen bestimmten Symbolkomplex: nl. die Symbolik des Bösen 1•
Das Anliegen, das die ganze Darstellung bestimmt, ist dieses: wie kann
ein Denken, das zu der umfassenden Problematik des Symbolismus und zu
der Offenbarungsmacht des Symbols vorgestoßen ist, sich weiter im Sinnejener Rationalität und jener Strenge entwickeln, welche die Philosophie von
ihrem Anfang an ausgezeichnet haben? Kurz, wie läßt sich das philosophischeDenken in die Hermeneutik der Symbole einfügen?
Ich werde zunächst einiges über die Frage selbst sagen.
Die Besinnung auf die Symbole stellt sich an einem gewissen Punkt desDenkens ein, indem sie einer bestimmten Situation der Philosophie - und
vielleicht gar der modernen Kultur - entspricht. Diese Zuflucht zum Archa
ischen, zum Nächtlichen und zum Traumhaften (Oniris.chen), die zugleichdas Betreten des Geburtsortes der Sprache bedeutet, ist ein Versuch, das
schwierige Problem des Ansatzpunktes der Philosophie zu umgehen.
Man kennt ja das ermattende Zurückweichen des Denkens, das auf der
Suche nach der Wahrheit ist, und dasjenige, radikaler noch, der Ergrundung
eines letzten Ansatzpunktes., der womöglich mit der ersten Wahrheit gar nicht
identisch sein könnte.
Um zu der Problematik, die uns jetzt beschäftigen wird, zu gelangen, muß
man vielleicht die Enttäuschung, die sich mit dem Gedanken einer voraus
setzungslosen Philosophie verbindet, gekannt haben. Eine Besinnung auf die
Symbole geht, im Gegensatz zu den Ansatzpunktphilosophien, von der Tat
sache des Wortes und vom immer schon gegebenen Sinne aus; sie geht aus
vom Worte, das schon gesprochen worden ist -und in dem alles schon in irgend
einer Weise gesagt ist; sie will ein Denken sein, das nicht ohne Voraus
setzungen, sondern gerade in und mit seinen Voraussetzungen is.t. Nicht der
Anfang, sondern das inmitten der Sprache und von der Mitte der Sprache
aus sich Erinnern ist für sie die erste Aufgabe.
Aber wenn wir die Problematik des Symbols dem kartesianischen und
busserlscheu Suchen eines Ansatzpunktes gegenüberstellen, so verknüpfen
1 Der erste Teil dieser Abhandlung legt die methodologischen Implikationen von
,_.Finitude et Culpabilite", Bd. II , "La Symbolique du Mal" (Aubier, 1960) frei. Aus
:tüge habe ich bereits in der Zeitschrift "Esprit" (.Juni-August, 1959) unter d ~ m Titel"Le symbole donne a penser" veröffentlicht. Der zweite und dritte Teil enthält imEntwurf einige von den Themen, die ich im dritten Band von "Finitude et Culpa
bilite" behandeln werde.
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wir diese Besinnung zu sehr mit einem ganz bestimmten Moment der philo-
sophischen Denkarbeit; vielleicht muß man hier weiterblicken: denn wenn
wir das Problem des Symbols jetzt, in dieser Periode der Geschichte, er-
örtern, so hängt das mit bestimmten Charakteristiken unserer "Modernität"
zusammen, ja geschieht das zur Erwiderung auf diese Modernität. Der histo-
rische Moment einer Philosophie des Symbols is t der der Vergessenheit und
zugleich der der Wiederherstellung: Vergessenheit der Hierophanien; Ver-
gessenheit der Zeichen des Heiligen; die Verlorenheit des Menschen selbst alszum Heiligen gehörend. Wir wissen, daß diese Vergessenheit die Schatten-seite der hohen Aufgabe darstellt, die Menschen zu ernähren und die Be-dürfnisse zu sättigen, indem die Natur durch eine planetarische Technik ge-meistert wird. Die dunkle Erkenntnis dieses Vergessens jedoch bewegt uns
und stachelt uns dazu an, die integrale Sprache wieder herzustellen. Alsoeben in dieser Zeit, in der unsere Sprache genauer, eindeutiger, kurzum tech-
nischer wird, mehr geeignet zu diesen Integralformalisierungen, welche man
gerade "symbolische Logik" nennt, (wir werden ferner auf diese überraschende
Zweideutigkeit des Wortes "Symbol" zurückkommen), gerade in diesem Zeit-
punkt des Redens wollen wir unsere Sprache wieder laden, wollen wir wieder
vom Kern der Sprache ausgehen. Nun ist auch das ein Geschenk der "Mo-
dernität". Denn wir sind ja, wir modernen Menschen, die Männer der Philo-logie, der Exegese, der Religionsphänomenologie, der Sprachpsychoanalyse.Es stellt sich also heraus, daß es dieselbe Zeit ist, welche die Möglichkeit
bietet die Sprache zu entleeren, und die Möglichkeit, sie wieder zu erfüllen.
Also nicht die Sehnsucht nach einem zusammengestützten Atlantis beseelt
uns, sondern die Hoffnung einer Neuschöpfung der Sprache; wir wollen jen-seits der Wüste der Kritik wieder angesprochen werden.
"bas Symbol gibt zu denken": dieser Sinnspruch, der mich fesselt, besagt
zweierlei: das Symbol gibt; ich setze ihm keinen Sinn, es selbst is t es, das den
Sinn hergibt; aber das, was es gibt, das gibt es "zum Denken", um darüber
zu denken. Von der Gabe her gibt es die Sinnnsetzung; der erwähnte Sinn-spruch deutet also auf ein Doppeltes hin: alles ist schon im Rätsel gesagt
worden, und dennoch soll man immer anfangen und wiederanfangen auf dem
Niveau des Denkens. Dieses Ineinandergreifen jenes Denkens, das im Reicheder Symbole sich selbst geschenkt wird, und des mühevollen und nachdenken-
den Denkens, möchte ich fassen und erfassen.
IDie Welt des Symbols
Was hat das einzelne Thema der Symbolik des Bösen für eine so umfas-
sende Untersuchung zu bedeuten? Es ist in verschiedenen Hinsichten ein aus-
gezeichneter Prüfstein.
1) Es ist sehr merkwürdig, daß man unterhalb der Ebene einer jeglichen
Theologie und einer: jeglichen Spekulation, ja sogar unterhalb der Ebeneeiner jeglichen mythischen Gestaltung noch Symbolen begegnet; diese elemen-taren Symbole sind die unersetzbare Sprache eines Erfahrungsgebietes, das
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wir, um kurz zu sein, die Erfahrung des "Geständnisses" nennen werden. Esgibt in der Tat keine direkte, nicht-symbolische Rede vom durchstandenen,erlittenen oder begangenen Bösen. Ob der Mensch gesteht, daß er venintwort-lich sei, oder ob er sich als einem ihm innewohnenden Bösen preisgegeben
anerkennt, er sagt es von vornherein in einer Symbolik, deren Gliederungenman dank den verschiedenen, durch die Religionsgeschichte für uns inter-pretierten "Beichtritualen" schildern kann.
Handelt es sich nun um das Bild eines Makels in der magischen Auffas-sung des Bösen als einer Befleckung, - oder um die Bilder der Abirrung,des krummen Weges, der Übertretung, des Umherirrens, in einer mehr ethi
schen Auffassung der Sünde, - oder um das Bild eines Druckes oder einerLast, in einer mehr verinnerlichten und personalisierten Erfahrung derSchuld: das Symbol des Bösen bildet sich immer auf Grund eines Bezeichnenden der ersten Stufe, welches der Erfahrung der Natur - der Berüh-rung etwa, der Orientierung des Menschen im Raum - entliehen ist. Dieseelementare Sprache des Geständnisses habe ich als Ursymbole bezeichnet,um sie so von den eigentlichen Mythen zu unterscheiden, welche viel mehr ge
gliedert sind, den Umfang einer Erzählung mit fabulösen Personen, Zeitenund Orten besitzen, und den Anfang und das Ende jener Erfahrung, vonder die Ursymbole das einfache Geständnis sind, erzählen.
Diese Ursymbole zeigen die intentionale Struktur des Symbols besondersdeutlich. Das Symbol ist ein Zeichen in dem Sinne, daß es wie jedes Zeichenüber sich hinweg auf etwas zielt und jenes Etwas vertritt. Aber nicht jedes
Zeichen ist Symbol; das Symbol birgt in s.einem Hinzielen eine doppelte In-tentionalität: Zunächst ist da die erste oder buchstäbliche Intentionalität;aber auf dieser ersten bildet sich eine zweite Intentionalität, welche durchden materiellen Makel, durch die Abirrung im Raum und durch die Erfah-rung einer Last hindurch eine bestimmte Situation des. Menschen meint;diese Situation, welche durch den Sinn der ersten Stufe hindurch gemeint ist,ist gerade das Befleckt-, Sündig-, Schuldigsein; der buchstäbliche und offenbare Sinn meint also über sich selbst hinweg etwas, was wie ein Makel, wie
eine Abirrung, wie eine Last ist. Im Gegensatz also zu den technischen, völlig
durchsichtigen Zeichen, welche nichts besagen, als was sie im Bezeichnen
sagen wollen, sind die symbolischen Zeichen deshalb undurchsichtig, weil ih rnächster, buchstäblicher, selbstverständlicher Sinn selbst wieder analogischeinen zweiten Sinn meint, der nicht anders als in ihm gegeben ist. Diese Un-durchsichtigkeit stellt die (wie wir noch sagen werden: unerschöpfliche) Tiefedes Symbols dar. Verstehen wir diesen analogischenZusammenhang des wört-lichen und des symbolischen Sinnes jedoch richtig, is t die Analogie eine nicht-sch:lüssige Beweisführung mit Hilfe einer vierten Proportionalen :(A ist
zu B das., was C zu D ist), im Symbol dagegen vermag ich die analogischeBeziehung, welche den zweiten Sinn mit dem ersten verbindet, nicht zu ob
jektivieren; im Erleben des ersten Sinnes werde ich durch diesen über ihn
hinausgeführt: Der symbolische Sinn ergibt sich in und durch den wörtlichenSinn, welcher die Analogie bewirkt, indem er das Analoge hergibt. Das Sym
bol ist, im Unterschied zu einem Vergleich, welchen wir von außen betrachten,
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die Bewegung des primären Sinnes selbst, die uns am verborgenen Sinne teil
nehmen läßt und uns so dem Symbolisierten angleicht, ohne daß wir diese
Ähnlichkeit intellektuell beherrschen könnten. Eben in diesem Sinne is t das
Symbol ein Schenkendes; es is t ein Schenkendes, insofern es eine primäre
[ntentionalität ist, welche den zweiten Sinn schenkt.
2) Diese Untersuchung der primären Geständnissymbole hat als zweitenVorzug, schon gleich eine Dynamik, eine Lebendigkeit der Symbole zum Vor-schein zu bringen. Die Semantik konfrontiert uns mit wirklichen, die Sprach
forschung betreffenden Revolutionen, welche eine bestimmte Sinnrichtungaufweisen. Mit Hilfe dieser verbalen Ausdrucksmittel cahnt sich eine gewisseErfahrung ihren Weg. So ist der Weg der Verschuldungserfahrung durch eine
Reihenfolge von Symbolentwürfen abgesteckt. Wir sind also keinesfalls aufeine zweifelhafte Introspektion des Verschuldungsgefühls angewiesen; derkurze und meines Erachtens. unzuverlässige Weg der introspektiven Psycho
logie soll ja durch den längeren, aber sichereren Weg der Besinnung auf dieDynamik der großen kulturellen Symbole ersetzt werden 1•
Diese durch die drei Kategorien des Makels, der Sünde und der Schuld ab-gesteckte Dynamik der Ursymbole hat eine zweifache Bedeutung; und diese
Zweideutigkeit selbst ist für die Dynamik der Symbole überhaupt sehr er
hellend: Einerseits ist sie ein Vorgang unanfechtbarer Interiorisierung, an-
dererseits aber ein Vorgang der Verarmung des Symbolreichtums; darum- dies sei am Rande bemerkt - soll man sjch durch eine "historizistische"
oder "progressistische" Erklärung der Gewissensentwicklung in diesen S y m ~holen nicht irreführen lassen. Was von einem Blickpunkt aus ein Gewinn ist,das ist vom anderen aus ein Verlust. Und jedes neue "Stadium" kann sich nurbehaupten, indem es den Symbolgehalt des vorangehenden wieder aufnimmt;wir werden also nicht darüber verwundert sein, daß der Makel, das archaischste Symbol, im dritten Stadium wesentlich weiterexistiert. Die Erfahrungdes Unreinen gelangt dort, wenngleich sie in der Angst vergeht, dank der un-gemein reichen Symbolik des Makels zur Helligkeit des Sagens. Denn die Be
fleckung is t von Anfang an mehr als ein Makel; sie zielt auf eine Art Be
schwerde der Person als ganzes und in ihrem Verhältnis zum Heiligen. DiesesEtwas, da3 dem Reuigen anhaftet, könnte durch keinerlei physisches Waschen
entfernt werden. Die Reinigungsriten selbst zielen durch allerlei ersetzbareGebärden (wie des Vergrabens, des Spuckens, des Hinwegwerfens usw.) hin-
durch auf eine Integrität, welche, wenn nicht in symbolischer Sprache, unsag-bar ist. Deshalb hat uns gerade die magische Auffassung der Befleckung, so
archaisch und überholt sie auch sei, die Symbolik des Reinen und Unreinen
1 Die Notwendigkeit des langen Weges scheint mir noch zwingender, wenn ichmeine Interpretation mit der der Psychoanalyse und der der Geisteswissen-schaften überhaupt vergleiche. Ein Psychologie der Introspektion kann sich derFreud'schen oder Jung'schen Hermeneutik gegenüber nicht behaupten; eine reflexiveAnnäherung über de n Umweg einer Hermeneutik der Kultursymbole kann sich ihrgegenüber im Gegenteil nicht nur behaupten, sondern sie eröffnet eine wirklicheDebatte: von Hermeneutik zu Hermeneutik. Der Vorgang des Zurückschreitens zumArchaischen, zum Kindheitlichen, zum Instinktmäßigen muß mit dem Vorgang deraufsteigenden Synthese der Geständnissymbolik konfrontiert werden.
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mit all ihrem harmonischen Reichtum überliefert. Den Kern dieser Symbolik
bildet das Schema der "Exteriorität", der Überrumpelung durch das Böse, worinman vielleicht den unerforschlichen Grund des "mysterium iniquitatis" erblicken kann. Das Böse is t nur ein Böses, insofern ich es vollziehe, aber gerade
innerhalb des Vollzuges des Bösen wird eine Verfühnmgskraft des schon-daseienden Bösen offenbar, von der die antike Befleckung schon immer in sym
bolischer Weise gesprochen hatte.
Ein archaisches Symbol existiert jedoch nur noch weiter als ein durch dieUmwälzungen der Erfahrung und der Sprache überschwemmtes. Die bilder
stürmerischeBewegung geht nicht zunächst aus der Reflexion, sonder aus demSymbolismus selbst hervor; ein Symbol ist zunächst Zerstörung eines früherenSymbols. So sehen wir, wie die Symbolik der Sünde sich um Bilder gestaltet,die denen der Befleckung entgegengesetzt sind; statt der äußeren Berührungdient hier
die Abschweifung(vom
Ziel,vom rechten
Wege,von der
nichtzu
übertretenden Grenze) als führendes Schema. Nun ist eine solche Ersetzungdes Themas der Ausdruck einer Umwälzung innerhalb der wesentlichen Mo-tive. Eine neue Kategorie religiöser Erfahrung, der Erfahrung des "VorGott", welche durch die jüdische berit - den Bund . ..,... bezeugt wird, is t ent-standen. Es zeigt sich eine unbeschränkte Vollkommenheitsnot, welche nie
aufhört, dte beschränkten und präzisen Gebote der alten Ges.etzesbücher neuzu gestalten. Diesem unbeschränkten Erfordernis gesellt sich auch eine un-endliche Bedrohung zu, die die alte Furcht vor den Tabus umwälzt, und dieBegegnung Gottes in seinem Zorn befürchten läßt. Was geschieht dann mit
dem ursprünglichen Symbol? Einerseits is t das Böse kein Etwas mehr, sondern ein zerbrochenes Verhältnis., also ein Nichts; dieses Nichts wird in denBildern des Hauches, des Leeren, des Brodems, der Eitelkeit des Götzen besagt. Gottes Zorn selbst is t wie das Nichts seiner Abwesenheit. Zu gleicher
Zeit aber geht eine Positivität des Bösen hervor, und zwar kein auswärtiges"Etwas", sondern eine wirkliche, unterjochende Macht. Das Symbol der Ge-fangenschaft, das ein historisches Ereignis - zunächst die Gefangenschaftin Ägypten, sodann die babylonis.che Gefangenschaft · - in eine Existenzkate-gorie umwandelt, stellt den höchsten Ausdruck dar, zu dem die BoßerfahrungIsraels gelangt ist. Von Gnaden dieser neuen Positivität des Bösen konnte
jetzt der erste Symbolismus, nl. der des Makels, wieder aufgenommen wer-den: Das Schema der Exteriorität fand sich wieder, aber auf einem ethischen,nicht mehr magischen Niveau.
Die gleiche Bewegung von Bruch und Wiederaufnahme kann beim Über-gang der Sündesymbole zum Schuldsymbol beobachtet werden. Einerseitsgeht die rein subjektive Schulderfahrung darauf hinaus, die realistische undsozusagen ontologische Behauptung der Sünde zu ersetzen; wenn schon die
Sünde, sogar wenn sie nicht gekannt ist, ein "Wirkliches" ist, so wird dieSchuld durch das Bewußtsein abgewogen, das de:r Mensch von ihr erhält, in-dem er der Verüber seines Fehlers ist. In dieser .Weise tritt das Bild der
Bürde und der Last an die Stelle des Bildes der Abschweifung, der Abweichung, der Abirrung; in der Tiefe des Gewissens räumt das "Vor Gott" allmählich dem "Vor mir" seinen Platz; der Mensch ist soschuldig, wie er sich
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schuldig weiß. Dieser neuen Umwälzung verdanken wir ohne Zweifel einfeineres und gerraueres Gefühl der Verantwortlichkeit, welche anstatt kollektiv jetzt indviduell, anstatt "total" jetzt stufenweise gegliedert wird. Damitsind wir in die Welt der vernünftigen Beschuldigung sowohl. durch den Rich
ter als durch das ängstliche Gewissen eingetreten. Aber das antike Symbolder Befleckung ist deshalb noch nicht verloren gegangen, denn die Hölle hatihren Sitz von außen nach innen verlegt; das Gewissen, das durch das Ge
setz, das es nie wird erfüllen können, erdrückt ist, weiß, daß es in seiner Ungerechtigkeit selbst und, schlimmer noch, in der Lüge seines Selbstgerechtig-keitsanspruchs gefangen ist. ·
Aus diesem extremen Punkte der Verwicklung is t der Symbolismus derBefleckung zu dem knechtische Freiheit =; servum arbitrium = des verknechteten Willens des servum arbitrium, geworden, von der, in einer zwar verschiedenen aber aus derselben Symbolik bezogenen Terminologie, Lother
und Spinoza reden.3) Ich habe die Exegese der Ursymbole des Frevels und die von ihr ab
hängige allgemeine Theorie vom Symbol soweit durchführen wollen, ohnejeden Bezug auf die mythische Struktur, welche die3e Symbole gewöhnlichüberwuchert. Diese Symbole zweiten Ranges mußten eingeklammert werden,sowohl um die Struktur der Ursymbole hervorzuheben, als um die Spezifität
des Mythos selbst hervortreten zu lassen.Diese umfassenden Erzählungen- die, wie wir bereits sagten, einen Raum,
eine Zeit und Personen als für die Erzählungsform notwendig implizieren -haben in der Tat eine unreduzierbare Funktion: und zwar eine dreifache
Funktion. Zunächst stellen sie die gesamte Menschheit und ihr Drama unterdas Zeichen eines musterhaften Menschen, eines Anthropos, eines Adams,der in symbolischer Weise das Konkret-Allgemeine uer menschlichen Erfahrung vergegenwärtigt. Andererseits verleihen sie dieser Geschichte, welche siezwischen einem Anfang und einem Ende sich ereignen lassen, einen gewissenSchwung, einen Rhythmus und eine Zielrichtung; sie legen dadurch in diemenschliche Erfahrung eine geschichtliche Spannung, welche von dem doppelten Horizont der Genesis und einer Apokalypse ausgeht. Und schließlich,und dies is t noch wesentlicher, erforschen sie den Spalt der menschlichenWirklichkeit, der als Übergang, als Sprung vom Zustande der Unschuld in
den Zustand der Schuld dargestellt wird; sie erzählen, wie der ursprünglichgute Mensch das geworden ist, was er in der jetzigen Lage ist; aus diesem
Grunde kann der Mythos seine symbolische Funktion nur durch das spezifische Mittel der Erzählung erfüllen: Was er besagen will, ist schon von vornherein ein Drama.
Aber aus demselben Grund kann der Mythos auch nur in einer Vielheit vonErzählungen wirksam werden und läßt uns gegenüber einer nie endendenVerschiedenhe.it von symbolischen Systemen, gleich den vielfältigen Spracheneines unsteten Numinosen.
Im besonderen Falle der Symbolik des Bösen ~ r g i b t sich die Schwierigkeit
einer Exegese von vornherein als doppelte: Erstens soll man die unendlicheVielheit der Mythen dadurch zu überwinden suchen, daß man ihnen eine
Typologie anlegt, welche es dem Denken ermöglicht, sich in ihrer unbe-4 Castelli
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schränkten Varietät zu orientieren, ohne dabei die Spezifität der mythischenGestalten, welche die verschiedenen Kulturen ins Tageslicht der Spracheerhoben haben, zu vergewaltigen; die zweite Schwierigkeit ist der Übergangvon einer einfachen Klassifikation, von einer Statik der Mythen zu einer Dy
namik. Denn in der Tat bereitet gerade das Verständnis für die verborgenenGegensätze und Verwandtschaften der verschiedenen Mythen die philosophische Wiederaufnahme des Mythos. Die Welt der Mythen noch mehr als
die der Ursymbole ist keineswegs eine ruhige und a.usges.öhnte Welt; dieeinen Mythen haben den Kampf mit den anderen nie eingestellt; jeder Mythosist bilderstürmerisch gegenüber dem anderen, genauso wie jedes sich selbstüberlassene Symbol dazu neigt, sich zu versteifen, sich in eine Idololatriezu verdichten. An diesem Kampf also, an dieser Dynamik, worin der Sym
bolismus selber seinem eigenen Fortschritt preisgegeben ist, gilt es, sich zu
beteiligen.
Ein tiefer Gegensatz beseelt jene Dynamik. An de.r einen Seite trifft mandie Mythen, die den Ursprung des Bösen in eine Katastrophe oder in einenvormenschliehen Urkonflikt verlegen; an der anderen Seite aber die Mythen,die den Ursprung des Bösen dem Menschen zuschreiben.
Zu der ersten Gruppe gehört das Schöpfungsdrama, das vorbildlich durchdas babylonische Schöpfungsgedicht - Emuna Elioh - illustriert wird, daseinen Urkampf erzählt, woraus sich die Geburt der späteren Götter ergebenhaben soll, die Grundlegung der Welt und die Schöpfung des Menschen. Dergleichen Hauptgruppe gehören die tragischen Mythen an, die uns den Heros
·als einer fatalen Bestimmung preisgegeben zeigen; nach dem tragischen
Schema fällt der Mensch dem Fehlgriff anheim, wie er der Existenz anheimfällt; und der Gott, der ihn verführt und· verwirrt, stellt de·n Unterschiedzwischen dem Guten und dem Bösen dar; mit dem Zeus des gefesselten
Prometheus erreicht dieser Gott seine furchtbare, für jedes Denken unhaltbare Gestalt. Hier dürfte wohl auch der orphische J\.fythos von der Seele,die in einen schlechten Leib verbannt worden ist, hingehören; diese Verbannung hat sich ja schon vor jeder möglichen Verübung des Bösen durch einenverantwortlichen und freien Menschen ereignet; der orphische Mythos ist einSituations.mythos, der offenbar erst später in einen Ursprungsmythos hin
einprojiziert worden ist, der seinerseits wieder in einer dem kosmogonischenund tragischen Mythos verwandten Theomachie verwurzelt ist.
Gegenüber diesem dreifachen Mythos steht der biblische Bericht des Sündenfalles Adams. Er is t der einzige im eigentlichen Sinne anthropologischeMythos; man kann ihn als den mythischen Ausdruck der ganzen BuBerfah
rung des alten Israels betrachten; der Mensch wird vom Propheten angeklagt;in seinem Sündenbekenntnis entdeckt sich der Mensch als der Urheber desBösen, und jenseits der bösen Taten, die er in der Zeit jeweils verübt, erkennt er eine böse Beschaffenheit, welche ursprünglicher ist als jede einzelneEntscheidung. Der Mythos erzählt, wie diese böse Beschaffenheit entstanden
ist, indem plötzlich in einer guten Schöpfung ein irrationales Ereignis geschah.Er führt den Ursprung des Bösen auf einen symbolischen Augenblick zurück, der über das Ende der Unschuld und über den Anfang der Schuld ent-
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scheidet. In dieser Weise wird an Hand der Chronik des ersten Menschen die'
Bedeutung der Geschichte eines jeden Menschen entschleiert.
Die Welt der Mythen ist also zwischen zwei Spannungen polarisiert: jener,
welche das Böse jenseits des Menschen verlegt, und jener, welche es in eine,die Strafe, Mensch zu sein, mit sich ziehende, böse Wahl konzentriert. Hierfinden wir also, auf höherem Gestaltungsniveau, die Polarität der Ursymbole
wieder, die zwischen zwei Polen schwankt: dem Exterioritätsschema, das in
der magischen Auffassung des Bösen als einer Befleckung vorherrscht, unddem Interioritätsschema, das erst in der schmerzlichen Erfahrung des schuldigen und ängstlichen Gewissens völlig siegen wird.
Das war aber noch nicht das Merkwürdigste: Der Gegensatz besteht nicht
nur zwischen zwei Gruppen von Mythen, er wiederholt sich ja sogar innerhalbdes adamischen Mythos selber. Dieser Mythos besitzt tatsächlich zwei Ge
sichter: Er ist, wie wir gesagt haben, der Bericht des Augenblicks des Sündenfalls; er ist aber zugleich auch der Bericht der Versuchung, welche sich
über eine gewisse Zeitspanne ausdehnt, und eine Vielheit von Personen aufführt: den verbietenden Gott, den Gegenstand der Versuchung, die Frau, dieverführt wird, und zum Schluß insbesondere die verführende Schlange. Derselbe Mythos, der das Ereignis des Sündenfalles auf einen einzigen Menschen,auf eine Tat, auf einen Augenblick konzentriert, rückt ihn auch auf mehrerePersonen und auf mehrere Momente hin auseinander; der qualitative Sprungvom Zustand der Unschuld zu dem der Schuld, is t unter diesem zweitenAspekt ein stufenweise gegliederter und unwahrnehmbarer Übergang; der
Mythos des Bruches is t also zu gleicher Zeit Mythosder.
Hinüberganges; derMythos der bösen Wahl is t Mythos. der Versuchung, des Schwindels, des unmerklichen Gleitens ins Böse. Dem Manne als Exponenten der bösen Entscheidung entspricht dialektisch die Frau als Exponent der Zerbrechlichkeit.Der Konflikt der Mythen is t also in einem einzigen Mythos enthalten. Ausdiesem Grunde führt der adamische Mythos, der vom ersten Blickpunkt ausals das Ergebnis einer energischen Entmythologisierung sämtlicher andererMythen über den Ursprung des Bösen betrachtet werden dürfte, in seine Erzä.hlung die höchst mythis.che Gestalt der Schlange ein. Die Schlange stelltim Herzen des Adammythos selbst das andere Gesicht des Bösen dar, das
die anderen Mythen zu erzählen versuchten: das schon-da-seiende Böse,das schon-zuvor-seiende Böse, das Böse, das den Menschen anzieht und ihnverführt. Die Schlange bedeutet, daß nicht der Mensch mit dem Bösen anfängt. Er findet es vor. Anfangen heißt für ihn: fortsetzen. So bedeutet dieSchlange, über die Projektion unserer eigenen Begehrlichkeit hinweg, dieWeitergabe eines Bösen, das älter ist als es selbst. Die Schlange, das heißt:das Andere im menschlichen Bösen.
Man begreift nun, warum es überhaupt eine Dynamik der Mythen gibt.Das Schema der Exteriorität, das in den orphischen Grab-Leib, in den bösenGott des Prometheus, in den Urkampf des Schöpfungsdramas projiziert ist,
dieses Schema ist wohl unüberwindlich. Und deshalb steht es, nachdem esdurch den anthropologischen Mythos verjagt wurde, in dessen Schoß wiederauf und flüchtet in die Gestalt der Schlange. Die Adamsgestalt selbst ü b e r ~
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steigt das Paradigma des gesamten gegenwärtigen Bösen nur, insofern er alserster jedem Menschen voraus ist, und dadurch in seiner Art nochmals denVorsprung des Bösen auf jedes aktuelle Böse verkörpert. Adam ist älter alsjeder Mensch, und die Schlange is t älter als Adam. In dieser Weise ist der
tragische Mythos durch den adamischen Mythos zugleich vernichtet undwieder behauptet. Das ist der Grund, weshalb die Tragödie ihre doppelteDestruktion, nl. durch die griechische Philosophie und durch das Christentum,überlebt. Wenngleich ihre Theologie nicht gedacht werden kann, wenngleich
diese sogar im eigentlichen Sinne des Wortes unbekennbar. ist: Das, was siesagen möchte - und nicht sagen kann -, wird nach wie vor gezeigt im erschütternden Bild des tragischen, zugleich unschuldigen und schuldigen
Helden.Diese Schlacht der Mythen lädt uns dazu ein, den Übergang von der ein
fachen Exegese der Mythen zu einer durch die Symbole unterrichteten Philo-
sophie zu versuchen.
I IVon der Symbolik zur nachdenkenden Vernunft
Auf Grund der Symbole und im Sinne der Symbolik zu denken, das ist.jetzt die Aufgabe; denn es geht darum zu denken. Ich jedenfalls gebe dieTradition des vernünftigen Denkens, welche seit den Griechen die Philosophieangeregt und beseelt hat, nicht auf. Es kommt überhaupt nicht in Betracht,einer imaginativen Intuition nachzugeben; es geht darum, zu denken, d. h.
Begriffezu gestalten,
diebegreifen und begreifen
lassen, Begriffe, diein
einer systematischen Ordnung, wenn nicht in einem geschloss.enen Zusammen-hang verkettet sind. Aber es handelt sich zugleich auch darum, mittels dieserVernunftgestaltung einen Sinnreichtum zu überliefern, der schon vorher dawar, und der schon immer jeder Herausarbeitung durch die Vernunft voran-gegangen ist. Denn so ist die Lage: Einerseits ist alles schon vor der Philo-sophie in Zeichen und Rätseln gesagt worden; das is t eine der Bedeutungendes Wortes von Heraklit: "Der Herr, dessen Orakel in Deiphi ist, redet nicht,verheimlicht nicht: er bedeutet (äA.A.d aru.talvu)." Andererseits haben wir dieAufgabe, deutlich zu reden, selbst auf die Gefahr hin, eben durch die Inter-
pretation des Orakels zu "verheimlichen". Die Philosophie beginnt mit sich,sie ist Anfang. Auf diese Weise ist das geschlossene Denken der Philosophienzugleich die hermeneutische Wiederaufnahme der Rätsel, die ihr vorangehen,die sie umfangen und nähren, und die Ergründung des Anfanges, die Suche
nach einer Ordnung, das Trachten nach einem System. Vielverheißend undselten wäre die Begegnung der Fülle überkommener Zeichen und Rätsel mitder Strenge des unerbittlichen Denkens im Rahmen einer einzigen Philosophie.
Der Schlüssel oder wenigstens der Kern der Schwierigkeit liegt im Ver-hältnis von Hermeneutik und Denken. Es gibt in der Tat kein Symbol, dasnicht durch die Interpretation ein Verstehen findet. Wie kann dieses Ver-
ständnis aber zugleich innerhalb des Symbols bleiben und über es hinaus-gehen?
Ich sehe drei Stadien des Verstehens, die die B ~ w e g u n g , welche von der
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Lebendigkeit der Symbole selber zu dem auf Grund derselben erwachsenenDenken ausgeht, abstecken.
Der erste, rein phänomenologische Schritt bleibt eiro. Verstehen des Symbols durch das Symbol, durch die Gesamtheit der Symbole; dies ist schon
eine Art des Begreifens, da es, durchquerend und verknüpfend, dem Sym
bolenreich die Festigkeit einer Welt verleiht. Aber es bleibt bei einerFestigkeit, die dem Symbol anheimgegeben, dem Symbol preisgegeben
ist. Nur selten übersteigt die Phänomenologie der Religion dieses
Niveau; ein Symbol verstehen, bedeutet für sie, es wieder in einhomogenes Ganzes setzen, das aber umfassender als das Symbolselbst ist, und das auf dem Niveau des Symbols selbst einen Zusammenhang bildet. Diese Phänomenologie entfaltet etwa die vielfache Sinnmöglichkeit eines Symbols., zum Zweck, dessen unerschöpflichen Charakter zu überprüfen; in diesem ersten Falle heißt verstehen: das. in-sich-selbst Wiederholenjener vielfachen Einheit, jener Verschiebung sämtlicher: Sinnmöglichkeiten
innerhalb des gleichen Themas. Die Phänomenologie kann auch danach streben, ein Symbol zu verstehen durch ein anderes Symbol; das Verstehen wirdhier dann - mittels einer fernen intentionalen Analogie - allmählich zu alljenen Symbolen greifen, welche irgendeine Verwandtschaft mit dem untersuchten Symbol aufweisen. Ein anderes Mal versteht die Phänomenologiedas Symbol durch den Ritus und den Mythos, das heißt: Durch die anderenBezeugungen des Heiligen. Es wird auch noch gezeigt werden - und damitwird die vierte Weise des Verstehens erreicht -, wie ein einziges Symbol
mehrere Erfahrungs- undVorstellungsbereiche
vereinigen kann: das Äußereund das Innere, das Vitale und das Besinnliche. Die Phänomenologie des
Symbols zeigt so in mannigfacher Weise einen ganz eigenen Zusammenhang,etwas wie ein symbolhaftes System auf; auf diesem Niveau heißt interpretieren: einen Zusammenhang freilegen.
Das ist das erste Stadium, die erste Stufe eines Denkens, das beim Symbolansetzt. Hier kann man aber nicht bleiben; denn die Wahrheitsfrage ist nochnicht gestellt. Wenn der Phänomenologe den eigenen Zusammenhang, dieSystemhaftigkeit der Symbolenwelt, Wahrheit nennt, so ist dies eine Wahrheit ohne- Glauben, eine entfernte, reduzierte Wahrheit, bei der die Frage,
ob ich es auch so glaube, oder was ich mit diesen symbolischen Bedeutungen anfangen soll, nicht in Betracht kommt. Es kann diese Frage abernicht gestellt werden, solange man sich auf dem Vergleichungsniveau aufhält, solange man von einem Symbol zum anderen geht, ohne daß man sichselbst irgendwo befände. Dies.es Stadium kann nur ein erstes Stadium sein,das eines Begreifens in der Ausdehnung, eines panoramischen Begreifens,das zwar wißbegierig ist, aber noch nicht betroffen. Jetzt soll man in eineleidenschaftliche und zugleich kritische Beziehung zu den Symbolen treten.Das is t aber nur möglich, wenn ich mich mit dem Exegeten, unter Verzicht aufden vergleichenden Standpunkt, in das Leben eines Symbols, eines Mythos,
hineinwage.Jenseits des Begreifens in der Ausdehnung, der vergleichenden Phänomeno
logie also, erschließt sich das Gebiet der eigentlichen Hermeneutik, das heißt,
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der sich auf je einen Text beziehenden Interp'retation. Es ist in der Tat diemoderne Hermeneutik, welche die Sinnschenkung des Symbols mit dem vernunftmäßigen Entchiffrungs.versuch verbindet. Sie läßt uns an dem Kampf,an der Dynamik, durch welche der Symbolismus seiner eigenen Überwindung
zum Opfer fällt, teilnehmen. Nur in der Teilnahme an dieser Dynamik kanndas Verstehen die wirklich kritische Seite der Exegese erreichen und zur Hermeneutik werden. Dazu muß ich aber die Stellung oder aber den Verbannungsort des fernabstehenden, uninteressierten Beobachters verlassen, um mir je
weils einen bestimmten Symbolismus zu eigen machen zu können. Nur danndeckt sich das auf, was man den Kreis der Hermeneutik nennen könnte,einen Kreis, den der einfache Dilettant immer wieder vermeidet. Man könntediesen Kreis schroff so formulieren: "Man muß ver:;tehen, um zu glauben,aber man muß glauben, um zu verstehen." Er is t kein Kreis falscher Schlüsse,
noch weniger ein tödlicher Kreis; er ist ein sehr lebendiger und anregender
Kreis. Zum Verstehen muß man glauben; tatsächlich wird sich der Interpretniemals dem in seinem Text Besagten annähern können, wenn er nicht inder "Aura" des herauszufragenden Sinnes lebt. Und dennoch können wirnur glauben, indem wir verstehen. Denn das zweite Unmittelbare, das wirsuchen, die zweite Naivität, auf die wir warten, sind tms nirgendwo mehr zugänglich, es sei denn innerhalb einer Hermeneutik; wir können nur glauben,
indem wir interpretieren. Das is t die "moderne" Art und Weise des Glaubens an die Symbole, Ausdruck der Not der Modernität und Heilmittel fürdiese Not. Darin besteht der Kreis: Die Hermeneutik geht hervor aus demVor-Verständnis dessen selbst, was sie durch ihre Interpretation zu verstehensucht. Dank diesem hermeneutischen Kreise vermag ich heute noch mit demHeiligen in Verbindung zu stehen, indem ich das Vorverständnis expliziere,das die Interpretation beseelt. Die Hermeneutik, diese Errungenschaft der"Modernität", ist also eine der Weisen, in denen diese "Modernität" im Sinneeiner Vergessenheit des Heiligen sich selbst überwindet. Ich glaube, daß das
Sein mich noch ansprechen kann, zwar ohne Zweifel nicht mehr in der Weisedes unmittelbaren Glaubens (croyance), wohl aber als das durch die Hermeneutik beabsichtigte zweite Unmittelbare. Diese zweite Naivität kann dasnachkritische Äquivalent der vor-kritischen Hierophanie sein.
Aber die Hermeneutik ist nochkeine
Besinnung: Sie is t noch mit den einzelnen Texten, deren Exegese sie bestimmt, solidarisch. Das dritte Stadiumdes Symbolverständnisses, das eigentliche philosophische Stadium, ist daseines Denkens auf Grund des Symbols.
Aber die hermeneutische Beziehung zwischen dem philosophischen Denken
und der Symbolik, die jenes belehnt, is t durch zwei Abarten bedroht: einerseits kann sie auf einen rein allegorischen Zusammenhang zurückgeführt werden; das taten die Stoiker mit den Fabeln des. Homer, des Hesiod; der philo
sophische Sinn kommt dann gleichsam siegreich aus seiner bildhaften Hüllezum Vorschein; er war schon dort, gleich der Minerva im Scheitel des Jupiter,
in kompletter Waffenrüstung; die Fabel war nur eine Bekleidung; einmalheruntergefallen, sind ihre abgelegten Kleider überflüssig geworden; imäußersten Falle enthält der Allegorismus sogar, daß der wahre, der philo-
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sophische, Sinn der Fabel vorangegangen sei, und diese nur eine zweite Verkleidung, ein Schleier gewesen sei, der, um die Ungebildeten zu täuschen, dieWahrheit absichtlich v ~ r d e c k t habe. Ich bin der Übeu:eugung, daß man nicht
hinter den Symbolen, sondern auf Grund der S y m b o l ~ , ganz nach den Sym
bolen denken soll, daß ihre Substanz unzerstörbar ist, daß sie den offenbarenden Hintergrund des Wortes bilden, welches unter den Menschen wohnt;kurz, das Symbol gibt zu denken. Von einer anderen Seite lauert eine andereGefahr auf uns: die Gefahr, das Symbol im Gewande der Rationalität zuwiederholen, die Gefahr, die Symbole selbst zu rationalisieren und sie dadurch auf dem imaginativen Plan, wo sie entstehen und sich entfalten, ge
rinnen zu lassen.
Diese Versuchung einer "dogmatischen Mythologie" is t die Versuchung derGnosis. Zwischen der Gnosis und dem Problem des Bösen besteht ein beunruhigendes und durchaus irreführendes Bündnis; es sind die Gnostiker, diedie Frage n61hv Ta xaxd, woher kommt das Böse, in all ihrer pathetischenSchärfe gestellt haben.
Worin besteht nun das Verführerische der Gnosis? Es besteht zunächstdarin, daß sie sich inhaltl ich ausschließlich auf das aus dem orphischenMythos hervorgegangene tragische Thema des Falles stützt, das durch sein
Schema der Exteriorität gekennzeichnet ist: Das Böse ist für die Gnosi-.
draußen, - wie Jonas, Puech, Quispel und andere gezeigt haben -; es istLeib, es ist Ding, es ist Welt; es is t eine fast physische Wirklichkeit, die denMenschen von außen her bekleidet. überdies besteht es aus einer Art Sub
stanz, die durch Ansteckung infiziert. Zugleich besteht dann die zweite Charakteristik, die ich festhalten möchte, darin, daß sämtliche durch das Schema
der Exteriorität irgendwie inspirie.rte Bilder des Bösen in Jener Materialität haften, in dem Sinne, in dem man von Gips oder von Leimsagt, daß sie haften; das Drama von Sünde und Heil haftet und klebt an einerTopographie: Die Seele kommt von sonstwoher, fällt hier nieder, muß dorthin zurückkehren; die existentielle Angst, die am Ursprung der Gnosis steht,ist schon gleich einem Raum und einer bestimmten Zeit angegliedert; zugleichwird all das, was Bild, Symbol, Parabel ist - ob man nun von Abirrung,Fall oder Sklaverei usw. spr icht - zu einem angeblichen Wissen, in welchem
der Buchstabe des Bildes erstarrt. So wird, wie Puech sagt, eine dogmatischeMythologie geboren, die nicht von ihrer räumlichen unc kosmischen Vorstel
lung getrennt werden kann: Das Böse is t die Verweltlichung selbst der Welt.
Mein Problem ist also das folgende: Wie kann man auf Grund des Sym
bols denken, ohne der alten allegorischen Interpretation zu verfallen oder indie Falle der Gnosis zu gehen? Wie kann man einen das Denken in Bewegung
setzenden Sinn des Symbols freilegen, ohne einen schon vorhandenen, ver
borgenen, verhehlten, bedeckten Sinn vorauszusetzen oder in die PseudoWissenschaft der Mythologie zu geraten? Ich möchte einen anderen Weg versuchen, den Weg einer schöpferischen Interpretation, d. h. einer Interpre
tation, die das ursprüngliche Rätsel der Symbole respektiert und sich vonihm unterrichten läßt, aber eben auf Grund dieses Ansatzes, und der Verantwortlichkeit des autonomen Denkens bewußt, den Sinn fördert und ihn ge-
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staltet. Aber wie kann das Denken zugleich gebunden und frei sein, Wie kannman die Unmittelbarkeit des Symbols und die Vermittlungsrolle vereinen?
Gerade diesen Kampf zwischen Denken und Symbolik möchte ich jetztanband des musterhaften Problems des Bösen erforschen. Denn das Denken
entfaltet sich je abwechselnd als ein besinnliches Denken und als ein spekula-tives Denken.
Das Denken als Besinnung is t wesentlich entmythologisierend. Es hat die
Neigung, den Mythos als Allegorie zu behandeln; seine Übersetzung desMythos bedeutet zugleich die Eliminierung nicht bloß seiner ätiologischen
Funktion, sondern seiner Eröffnungs- und seiner Entdeckungsmacht. Das besinnliche Denken ist wesentlich entmythologisierend; es erklärt den Mythosnur, indem es ihn auf eine Allegorie zurückführt. In dieser Hinsicht is t dasProblem des Bösen beispielhaft: Die Besinnung auf die Symbolik des Bösengipfelt in dem, was wir fortan die ethische Sicht des Bösen nennen werden.
Diese philosophierende Interpretation des Bösen ernährt sich mit dem Reichtum der Ursymbole und Mythen, aber sie setzt den bereits- skizzierten Entmythologisierungsvorgang fort. Sie setzt einerseits die zunehmende Zurück
führung der Befleckung und der Sünde auf die persönliche und innerlicheSchuld fort, aber andererseits kontinuiert sie das Bestreben einer Entmythologisierung von allen anderen Mythen als dem actamischen Mythos; diesenaber führt sie zurück auf eine einfache Allegorie des unfreien Willens."
Das besinnliche Denken führt seinerseits den Kampf mit dem spekulativenDenken; dieses Denken will das retten, was die ethische Sicht des Bös.en zu 'eliminieren sucht; es will ja nicht nur retten, sondern dessen Notwendigkeit
zeigen; s.eine spezifische Gefahr ist die Gnosis.
Wir werden uns zunächst der ethischen Sicht des Bösen zuwenden; dieseEbene muß man erreichen und bis zum Ende durchschreiten; zwar könnenwir nicht auf ihr verweilen, aber wir sollen sie von innen aus übersteigen,
und dazu muß man die rein ethische Interpretation des Bösen vollkommendurchdacht haben.
Unter ethischer Sicht des Bösen verstehe ich eine Interpretation, die dasBöse als eine Erfindung der Freiheit darstellt; und umgekehrt ist in einerethischen Sicht des Bösen die Freiheit in ihrem Grunde als Tun-können und
als Sein-können erkannt; die durch das Böse vorausgesetzte Freiheit ist eineFreiheit, die zur Abirrung, zur Abschweifung, zum Umsturz und zum Irrtumfähig ist. ·
Diese gegenseitige "Auslegung" des Bösen durch die Freiheit und der Freiheit durch das Böse is t der Kern der sittlichen Sicht von der Welt und vomBösen.
Wie verhält sich nun die sittliche Sicht von der Welt und vom Bösen zumsymbolischen und mythischen Universum? In doppelter Weise: einerseits istsie die radikale Entmythologisierung der dualistischen Mythen, des tragischen
und des orphischen Mythos; andererseits nimmt sie die actamische Geschichte
wieder in ein verständliches "Philosophem" auf. Die sittliche Sicht von derWelt denkt entgegen dem Substanzhaft-Bösen und im Sinn·e des Falles desersten Menschen.
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Als historische Exponente der ethischen Sicht des Bösen erscheinen zwei
Namen, die man gewöhnlich nicht zusammen erwähnt, deren innerliche Verwandtschaft ich aber spüren lassen möchte: Augustinus und Kant; Augustinus: wenigstens der heilige Augustinus in seinem Kampf gegen den Manichäismus; denn wir werden in der Folge zeigen, daß der "Augustinismus"- im bestimmten und engeren Sinne Rottmayers - diesmal nicht mehrMani, sondern Pelagius gegenüber, die Überwindung der sittlichen Sicht undin gewissem Sinne die Erledigung der sittlichen Sicht von der Welt vertritt;darauf kommen wir später zurück.
Die augustinische Interpretation des Bösen ist in dem Streit gegen Pelagiusin ihrer entmythologisierenden Fassung von der folgenden Behauptung beherrscht: Das Böse hat keine Natur, es ist kein Ding, es ist keine Materie,es ist nicht Substanz, es ist nicht Welt. Die Verdünnung des Schemas derExteriorität ist bis zu ihrer äußersten Grenze durchgeführt worden: DasBöse hat nicht nur kein Sein, man soll sogar die Frage quid malum?
streichen und sie durch die andere Frage unde malum faciamus? ersetzen.Man wird also sagen müssen, das Böse sei der Substanz und der Natur nachein Nichts.
Dieses "Nichts", Erbschaft des platonischen Nicht-Seins und der Nichtigkeit Plotins, aber dann entsubstanzialisiert, soll jetzt zusammengebracht werden mit Begriffen, die gleichfalls von der griechischen Philosophie, allerdingsaus einer anderen Tradition herstammen, nämlich aus der Nikomachischen
Ethik. Hier ist in der Tat zum ersten Mal eine Philosophie des Freiwilligen
und Unfreiwilligen (Nik. Eth., III. Buch) entwickelt worden; bis zu einer radikalen Philosophie der Freiheit geht Aristoteles jedoch nicht; er entwickelt die
Begriffe des "Vorziehens" (neoaieeatq), der überlegten 'Vahl, des vernünftigenWunsches, nicht aber den der Freiheit.
Es darf behauptet werden, daß der heilige Augustinus, indem er die imBösen enthaltene Macht des Nichts und die im Willen wirksame Freiheitsozusagen auf unmittelbare Übertragung schaltete, die Besinnung auf dieFreiheit radikalisiert hat, und dies bis dahin, die Freiheit zu verstehen als
die ursprüngliche Macht, dem Sein "nein" zu sagen, die Macht, "machtlos zuwerden" (deficere), zur Neige zu gehen (declinare), zum Nichts hin zu neigen,
ad non esse. Indem er den Begriff des defectus als. einer negativ gerichtetenZustimmung gestaltet, läßt er das Nichts nicht mehr als einen untätigenGegenpol des Seins, sondern als ein existentielles, der Bekehrung (conversio)
entgegengesetztes Gerichtetsein, als eine aversio a Deo hervortreten 1•Augustinus verfügt aber nicht über den Begriffsapparat, der seiner Ent
deckung völlig Rechnung trüge; so sehen wir ihn in Contra Felicem den bösenWillen der bösen Natur entgegensetzen; Matthäus 12, 33 kommentierend("entweder machet den Baum gut und seine Frucht gut, oder machet denBaum schlecht und seine Frucht schlecht") ruft er aus: Dieses "Entweder -
Oder" deutet auf sein Vermögen und nicht auf eine Natur hin (potestatem
indicat, non naturam). Damit resümiert er gewiß den Kern der christlichen
1 Contra Secundinum, § 11-12, De lib. arb. I, 16, 35; II , 19, 53-4.
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Philosophie des Übels in ihrem Gegensatz zur Gnosis: "Gibt es Buße, so gibt
es Schuld; gibt es Schuld, so gibt es Willen; gibt es in der Sünde Willen, sowerden wir nicht durch eine Natur genötigt." (Contra Felicem, § 8); der neo
platonische Rahmen seines Denkens gestattete ihm aber nicht, den GegensatzNatur - Wille in einer einheitlichen Gesamtkonzeption zu fassen und zustabilisieren; dazu bedürfte es einer Philosophie des Handeins und einerPhilosophie der Kontingenz, welche besagen würde, daß das Böse als ein Er
eignis, als ein qualitativer Sprung entsteht. Die Bewegung zum Nichts hin,die Abneigung, der Abfall, sie bleiben unmögliche Begriffe.
Überdies ist nicht sicher, ob der zu negative Begriff des defectus oder derdeclinato (welche in einer natura zur corruptio wird), der positiven Machtdes Bösen Rechnung trage; auch unterscheidet sich sogar hier das Nichts desad non esse schlecht vom ex nihilo des Geschöpfes, welches einfach auf dessen
Mangel eines eigenen Seins, auf seine geschöpfliehe Abhängigkeit hinweist.Augustinus hatte nichts zur Verfügung, um seine Entdeckung zu thematisieren, es sei denn die Sprache der neo-platonischen Ontologie. Er hätte dazufortschreiten sollen, die Setzung des Bösen als einen qualitativen "Sprung",als ein Ereignis, als einen Augenblick aufzufassen. Dann aber wäre Augusti
nus nicht mehr Augustinus, sondern Kierkegaard.
Welche Bedeutung hat nun Kant und insbesondere seine Abhandlung"Ober das radikale Böse" in Bezug auf die anti-manichäischen Traktate desAugustinus? Ich schlage vor, sich zu bemühen, den einen durch den anderenzu verstehen.
Kant hat zunächst die Spezifität der praktischen Begriffe: Wille, Willkür,Maxime auf die Spitze getrieben und dadurch den bei Augustinus fehlendenbegrifflichen Rahmen erarbeitet. In der Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten und in der Kritik der praktischen Vernunft ist diese Begriffsbildung
vollendet, und so gelingt es Kant, den von Augustinus im Contra Felicemskizzierten Gegensatz: Wil le - Natur zu verwirklichen. Er hat aber vor allenDingen die Hauptbedingung einer Konzeptualisicrung des Bösen als desunbedingten Bösen, also den Formalismus in der Moral herausgearbeitet.Diese Beziehung wird jedoch nicht sichtbar, wenn man "Ober das radikale
Böse" getrennt aus seinem Zusammenhang mit der "Kritik der praktischenVernunft" liest; durch den Formalismus nun vollendet Kant eine Bewegung,
die schon bei Plato begonnen hatte: wenn die "Ungerechtigkeit" die Figur desradikalen Bösen sein kann, so deshalb, weil die "Gerechtigkeit" keine Tugendunter anderen ist, sondern die Gestalt der Tugend selbst, das Einheitsprinzip,das aus der Verschiedenheit die Einheit der Seele bildet (Der Staat, IV. Buch).
Auch Adstoteles ist in seiner Nikomachischen Ethik auf dem Wege zueiner Formalisierung des Guten und des Bösen: die Tugenden sind sowohldurch ihren Gegenstand als auch durch ihren formalen Charakter der Mitte
( , u e a o r n ~ ) bestimmt, also ist das Böse die Abwesenheit einer Mitte, die Ab
weichung, das Äußerste in der Abweichung. Die platonische aöt"ia und diearistotelische a"eaaia kündigen also als unvollkommene Formalismen die
völlige Formalisierung des Sittlichkeitsprinzips schon an. Zwar bin ich mir
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bewußt, daß man nicht im ethischen Formalismus stecken bleiben kann, aber
man muß wohl zunächst diesen erreicht haben, um ihn übersteigen zu können.
Der Vorzug dies.er Formalisierung ist die Begriff3bildung der schlechtenMaxime als einer Norm, die der freie Wille für sich selbst ausgedacht hat.
Das Böse befindet sich überhaupt nicht mehr im Gefühl; die Verwechslungdes Bösen mit dem Affektiven, Triebhaften hat aufgehört; merkwürdigerweiseis t es die als die pessimistischste betrachtete Ethik, welche die Trennungzwischen dem Bösen und der Sinnlichkeit vollzogen hat; diese Trennung istgerade die Frucht des Formalismus und dessen Einklammerung des Wunschesinnerhalb der Definition des guten Willens; Kant darf sagen, daß die natür-lichen Neigungen, welche der Sinnlichkeit entspringen, nicht einmal eine un
mittelbare Beziehung zum Bösen haben. Das Böse kann jedoch ebensowenigin dem Umsturz der Vernunft bestehen; ein Wesen radikal außerhalb desGesetzes wäre nicht mehr verbrecherisch, eben weil es teuflisch wäre; dasBöse besteht in einer Beziehung, is t die Zerrüttung einer Beziehung. Das geschieht, sagt Kant, wenn der Mensch das reine Motiv der Ehrfurcht den Ge-fühlsmotiven unterordnet, wenn "er die sittliche Ordnung der Motive umstürzt, indem er sie in seine Maximen aufnimmt". Dergestalt bekommt dasbiblische Thema der Abschweifung, das dem orphischen Thema der anhaften-den Exteriorität gegenübersteht, in der kantianischen Idee der Zerrüttung derMaxime sein rationales Äquivalent. Noch gerrauer gesagt: Ich sehe in Kantdie höchste philosophische Manifestation dessen, daß das höchste Böse nichtin der groben Verfehlung einer Pflicht besteht, sondern in der Arglist, dieals Tugend ausgibt, was Verrat an ih r ist. Das Böse des Bösen ist die betrüge-rische Rechtfertigung der Maxime durch die scheinbare Gleichförmigkeit mitdem Gesetz; es ist das Trugbild der Sittlichkeit. Kant hat dem Problem desBösen zum ersten Mal, wie mir scheint, die Richtung der bösen Absicht, derHeuchelei gegeben.
Das ist der Höhepunkt der Klarheit, welche die ethische Sicht des Bösenerreicht hat; die Freiheit ist die Macht der Abschweifung, des Ordnungsum-sturzes. Das Böse is t kein Etwas, sondern die Zerrüttung einer Beziehung.Wer merkte aber nicht, daß wir im gleichen Auge.nblick, da wir das aussprechen, gleichsam im Leeren triumphieren?
III
Die Verdunklung des Denkens und die Wiederkehr zum Tragischen
Was ist das, was nicht in die ethische Sicht eingegangen ist? Was hier nichteingegangen ist, was hier verloren ist, das ist: diese dunkle Erfahrung des
Bösen, die in der Symbolik des Bösen auf verschiedene Weisen ansetzt unddas im eigentlichen Sinne "Tragische" des Bösen darstellt.
Auf der niedrigsten Stufe der Symbolik, auf der Stufe der Ursymbole,sahen wir, wie das Sündenbekenntnis das Böse gesteht als ein schon-da
seiendes Böses, ein Böses, in das ich geboren werde, ein Böses, das ich unter-halb des Aufwachens meines Gewissens in mir vorfinde, ein Böses, das nichtin individuelle Verschuldungen und aktuelle Fehler zerlegt werden kann; es
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wurde gezeigt, daß die "Gefangenschaft" der Knechtschaft das spezifische
Symbol dieser Dimension des Bösen als fesselnder Macht, des Bösen als reiner
Herrschaft ist.
Dieselbe Erfahrung des schon-da-seienden Bösen, das die Macht in meiner
Machtlosigkeit ist, ruft den ganzen nicht-adamischen Mythenkreis hervor,
worin je ein Schema der Exteriorität vorliegt. Nun ist dieser Mythenkreis
nicht einfach durch den adamischen Mythos ausgeschaltet, sondern eher gewissermaßen in ihn einverleibt, und er behält eine zwar untergeordnete,
aber doch keineswegs zu vernachlässigende Rolle; Adam ist für alle Menschen
der vorhergehende Mensch, nicht nur der musterhafte Mensch, er is t dieAutorität des Bösen selbst hinsichtlich eines jeden Menschen; und auch er
selbst hat seinen anderen, seinen Vorhergehenden in der Schlange, welche
schon da is t und schon listig ist. Die ethische Sicht des Bösen thematisiert
also bloß das Symbol des aktuellen Bösen, "die Abschweifung", die "kontin-
gente Abweichung"; Adam is t der Archetyp, das Muster dieses gegenwärti-
gen, aktuellen Bösen, das wir wiederholen und nachmachen, wenn immer wir
damit anfangen, das Böse zu tun; und in diesem Sinne fängt jedermann je
weils mit dem Bösen an. Aber indem wir das Böse tun, setzen wir es fort,
und das sollen wir jetz t zu sagen versuchen: das Böse als Tradition, als histo-
rische Verknüpfung, als eine schon vorhandene Herrschaft.
Wir gehen hier gleichwohl ein großes Wagnis ein, denn dadurch, daß wir
das Schema der Erbschaft einführen, und es mit dem der "Abschweifung" in
einem zusammenhängenden Begriff Z\1 vereinen suchen, begeben wir uns wie
der in die Nähe der Gnosis, hier gefaßt im weitesten Sinne von 1) dogma-tischer Mythologie und 2) von Verdinglichung des Bösen zu einer "Natur".
Wir wollen hier tatsächlich den Begriff "Natur" vorschlagen, um den der
Kontingenz, der den ersten Denkvorgang geleitet hat, auszugleichen. Was wir
zu denken versuchen wollen, ist etwas wie eine Natur des Bösen, freilich eine
Natur, die nicht Natur der Dinge wäre, sondern vom Menschen herkommende
Natur, Natur der Freiheit, also ein "habitus contractus", eine Weise des Ge-
wordenseins der Freiheit.
An dieser Stelle stoßen wir also wieder auf Augustinus und Kant; auf
Augustinus, wo er vom aktuellen Bösen zur Erbsünde übergeht, auf Kant,
wo dieser von der schlechten Maxime der freien Willkür zu dem Urgrundaller schlechten Maxime emporsteigt.
(Eine Bemerkung: Ich lehne die übliche Kompetenzdisjunktion ab, der man
Augustinus' Schrifttum gewöhnlich unterwirft, als ob die Philosophie desaktuellen Bösen dem Philosophen, die der Erbsünde dem Theologen zustehen
würde; was mich betrifft, so möchte ich Philosophie und Theologie nicht in
der Weise voneinander trennen; in seinem Charakter eines Offenbarenden- nicht aber Geoffenbarten - gehört das adamische Symbol genauso gut
wie alle anderen Symbole einer philosophischen Anthropologie an. Seinetheologische Zugehörigkeit wird nicht durch eine eigene Struktur bestimmt,
sondern durch sein Verhältnis innerhalb einer Christologie zum "Ereignis",zur Ankunft des Menschen-der-M·enschen: des Christus - Jesus. Ich halte
dafür, daß kein Symbol, insofern es eine Wahrheit vom Menschen eröffnet
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und entdeckt, der philosophischen Besinnung fremd i ~ > t ; ich halte den Begriff
der Erbsünde also nicht für ein außer-philosophisches Thema, sondern ich
halte ihn im Gegenteil für ein Thema, das einen Gegenstand darstellt für eine
intentioneile Analyse, für die Hermeneutik der rationalen Symbole, welche
die Aufgabe hat, die verschiedenen in den Begriff niedergeschlagenen Sinnesschichten zu rekonstruieren.)
Was bringt diese intentioneile Analyse zum Vorschein? Dies: daß derBegriff der Erbsünde als angeblich einsichtiger Begriff ein Scheinwissen ist,
und daß er, was seine epistemologische Struktur betrifft, den Begriffen derGnosis gleichzustellen ist: dem des metempirischen Sturzes nach Valentinus,dem des Angriffes des Reiches der Finsternis nach Mani; ihrer Interpretationnach antignostisch, ist die Erbsünde der Form nach ein quasi-gnostischer Begriff. Das Denken hat hier als Aufgabe, ihn als Scheinwissen zu zerbrechen,um seine Intention zu behalten im unersetzbaren rationalen Symbol desschon-da-seienden Bösen.
Vollziehen wir diesen doppelten Denkvorgang. Wie gesagt, soll der Begriff,
ein Scheinwissen, zerbrochen werden: denn der Augustinismus im strengen,vorher bestimmten Sinne umschließt in einem einzigen widerspruchsvollen Begriff den juridischen Begriff der Zurechnung, der zurechenbaren Schuld und denbiologischen Begriff der Erblichkeit. Einerseits kann Sünde nur sein, wenn derFehler eine Übertretung durch den Willen ist: Das war er bei dem Menschen,
der als eine wirkliche Person des Anfanges verstanden wird; andererseits istnotwendig, daß diese zurechenbare Schuld per generationem weitergetragenwird, auf daß wir alle und jeder von uns "in Adam" schuldig seien. Im Ver
lauf der Polemik mit Pelagius und den Pelagianern sieht man die Idee einerpersönlichen Schuld, welche juridisch den Tod verdient und in der Weiseeines Fehls durch Geburt vererbt wird, Form und Gestalt erhalten; Augustinus' Begründung verdient Aufmerksamkeit 1 ; hierin geht es ihm ja darum, dasgeheimnisvollste paulinische Thema der Verwerfung: "Ich habe Jakob ge
Hebt, und ich habe Esau gehaßt" zu rationalisieren. Weil Gott gerecht ist,muß die Verwerfung der Kinder im Mutterschoße gerecht sein, muß die Verdammung rechtens und das Heil aus Gnade sein; daher die Idee einer Naturschuld, wirksam wie ein Akt und strafbar wie ein Verbrechen, obwohl vererbt wie eine Krankheit.
Eine geistig widerspruchsvolle Idee nannten wir sie, insofern sie zwei verschiedene Bereiche der Vernunf t - den der Ethik oder des Rechtes und dender Biologie- vermischt. Sie ist auch eine geistig anstößige Idee, insofern sie,jenseits des Ezechiel und des Jeremia, auf die alte Idee einer Vergeltung undBeschuldigung der Menschen insgesamt zurückgreift. Sie ist endlich einegeistig lächerliche Idee, insofern s,ie von neuem die ewige Theodizee mitihrem Vorhaben, Gott zu rechtfertigen, in Gang setzt.
Und dennoch scheue ich mich nicht zu behaupten, wenn Pelagius tausendmal recht hat gegen den Pseudo-Begriff der Erbsünde, daß Augustinus durch
1 Der Tractatus ad Simplicianum von 397 is t in dieser Hinsicht bezeichnend, dl!nner kommt 14 Jahre vor der ersten antipelagianischen Schrift und enthält schon dasWesentliche der augustinischen Beweisführung.
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diese dogmatische Mythologie hindurch etwas Wesentliches rettet, was Pela
gius völlig verkannt hat; Pelagius hat vielleicht immer recht gegen die Mytho
logie der Erbsünde, und dennoch hat Augustinus1 immer recht hinter und
trotz dieser adamischen Mythologie.
Denn das, was im Erbsündebegriff ergründet werden soll, das ist nicht
seine falsche Klarheit, sondern sein dunkler analogischer Reichtum; seineKraft liegt in dem intentionalen Hinweis auf das, was den tiefsten Grund
des Sünde11bekenntnisses ·bildet, nämlich dieses, daß das Böse meinem Bewußtwerden vorangeht, daß es nicht in individuelle Fehltritte analysiert wer
den kann, daß es meine schon bestehende Machtlosigkeit ist; es is t für meine
Freiheit das, was meine Geburt für mein aktuelles Bewußtsein ist, das heißt:
immer schon da; Geburt und Natur sind hier zwei analoge Begriffe; die Ab
sicht des Pseudo-Begriffs der Erbsünde ist dann diese: das Thema einer
Quasi-Natur des Bösen in die gegen Man!i und die Gnosis entworfene Beschreibung des bösen Willens hineinzuweben; die unersetzliche Funktion desBegriffes ist dann: das Schema der Vererbung in das der Kontingenz zu inte-
grieren. Hier begegnet also etwas, das hinsichtlich der begrifflichen Wieder
gabe verzweifelt und in metaphysischer Hinsicht unersetzbar ist. Schon im
Willen selbst is t Quasi-Natur; das Böse ist wie etwas Unfreiwilliges inner
halb des Freiwilligen, nicht ihm gegenüber, sondern in ihm; das aber ist das
servum arbitrium. Auf einen Schlag ist die Bekehrung auf ein anderes Niveau
als die einfache Reue über Handlungen übertragen; is t das Böse "generatio",so is t die Bekehrung selbst - im symbolischen, nicht im faktischen Sinne -"regeneratio". In dieser Weise is t mit Hilfe eines absurden Begriffes ein
Antityp der Wiedergeburt gebildet; dank diesem Antityp scheint der Wille
als bestimmt durch eine, seiner aktuellen Wahl und Entscheidungsmacht innewohnende, passive Verfassung.
Kant hat es nun versucht, jenen Antityp der Wiedergeburt als ein a priorides sittlichen Lebens herauszuarbeiten; die philosophische Bedeutung der
Abhandlung "Ober das radikale Böse", die wir auf halbem Wege zurückgelassen haiten, liegt darin, daß sie die von uns so bezeichnete Kritik der Erb
sünde als Scheinwissen unternommen hat, wie auch den Versuch einer De
duktion, insofern als die transzendentale Deduktion der Kategorien eine
Rechtfertigung der Normen durch ih r Vermögen, einen Objektivitätsbereichzu bilden, bedeutet; das Naturböse wird in dieser Weise als die Möglichkeits
be-dingung der schlechten Maximen, als der Grund verstanden.
Unter dieser Bedingung ist die Neigung zum Bösen "verständlich". "Wenn
. . . das Dasein dieses Hanges zum Bösen in der menschlichen Natur durchErfahrungsbeweise . . . dargetan werden kann, so lehren uns diese doch nicht
die eigentliche Beschaffenheit desselben und den Gr:md dieses Widerstrei
tes; sondern diese, weil sie eine Beziehung der freien Willkür (also einer sol
chen, deren Begriff nicht empirisch ist) auf das moralische Gesetz . . . betrifft,muß . . . apriorierkannt werden" (Insel-Ausgabe, VI, S. 438). Die Erfahrung
"bestätigt·' unsere Urteile über das radikale Böse, aber sie "kann nie dieWurzel des Bösen in der obersten Maxime der freien Willkür in Beziehung
aufs Gesetz aufdecken, die als intelligible Tat vor aller Erfahrung vorher-
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HERMENEUTIK DER SYMBOLE UN D PHILOSOPHISCHES DENKEN 63
geht" (S. 442-443, Anm.). In solcher Weise ist jeder "Naturalismus" aus der
Auffassung des "natürlichen", "angeborenen" Hanges zum Bösen entfernt
worden; es kann gesagt werden, daß er "mit der Geburt gegeben" sei, obwohl
die Geburt ihn nicht verursacht hat; er ist vielmehr "eine Seinsart der Frei
heit, welche seiner Freiheit entstammt". Der Gedanke einer "angenom
menen" Gewohnheit des freien Willens liefert uns dann das Symbol von der
Versöhnung der Kontingenz und der Antezedenz des Bösen 1•Aber dann anerkennt der Philosoph hier, anders als in jeder "Gnosis", die
den Ursprung zu wissen behauptet, daß er auf das Unerforschliche und Un
ergründliche stößt: "Der Vernunftursprung aber dieses . . . Hanges zum Bösen
bleibt uns unerforschlich, weil er selbst uns zugerechnet werden muß, folglich
jener oberste Grund aller Maximen wiederum die Annehmung einer bösen
Maxime erfordern würde" (S. 477). Noch stärker: "Für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in Üns zuerst gekommen sein
könne" (S. 448). Das Unerforschliche besteht nach unserer Meinung gerade
hierin, daß das Böse, das immer durch die Freiheit anfängt, immer schon für
die Freiheit da sei, daß es Akt und Habitus sei, ein Hervorgehen und ein Vor
hergehen. Deshalb macht Kant diese Rätsel des Bösen in der Philosophie zu
einer Trftnsposition der mythischen Gestalt der Schlange; ich glaube, dieSchlange stellt das "Immer-schon-da" des Bösen dar, das nichtsdestoweniger
Anfang, Akt, Selbstbestimmung der Freiheit ist.
Kant ergänzt also Augustinus; zunächst indem er endgültig die gnostische
Hülle des Erbsündebegriffes zerstört; zudem durch seinen Versuch einer
transzendentalen Deduktion des Grundes der schlechten Maximen; schließlich indem er die Frage vom Grunde. des Grundes wieder in die Unwissenheit
untertaucht. Diese Bewegung ist dem Denken gleichsam ein Emporsteigen
und dann ein Wiederuntertauchen; ein Emporsteigen zur Klarheit des Trans
zendentalen und dann ein Wiederuntertauchen in die Finsternis des Nicht
Wissens. Aber vielleicht ist die Philosophie nicht nur für die Umgrenzung
ihres Wissens verantwortlich, sondern auch für die Grenzen, mit denen siesich vom Nicht-Wissen abgrenzt; die Grenze ist hier kein Grenzstein mehr,
sondern eine aktive und bescheidene Selbstbeschränkung: wiederholen wir
mit Kant: "Der Ursprung dieses Hanges zum Bösen bleibt uns unerforsch
lich, weil er selbst uns zugerechnet werden muß."
An diese Stelle gekommen, sind wir berechigt zu fragen,. warum das
Denken den Reichtum der Symbolik, der das Denken unaufhörlich
unterrichtet, reduziert. Vielleicht soll man zur ursprünglichen Situation
zurückkehren: Eine Symbolik, die bloß eine Symbolik der Seele, des
Subjektes, des Ich wäre, ist von vornherein bilderstürmerisch; denn
sie bedeutet eine Spaltung zwischen der "psychischen" und den anderen
Funktionen des Symbols: einer kosmischen, nächtlichen, onirischen, dichte
rischen Funktion; eine Symbolik der Subjektivität stellt schon den Bruch der
symbolischen Ganzheit dar. Das Symbol fängt an, aufgelöst zu werden, so-
1 ~ U n t e r dem Hange (propensio), verstehe ich den subjektiven Grund der Möglichkeit einer Neigung (habituellen Begierde, concupiscentia), sofern sie für die Mensch·heit überhaupt zufällig ist." (S. 430)
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bald es damit aufhört, mit verschiedenen Registern zu spielen: dem kosmi
schen und dem existentiellen. Die Trennung des "Menschlichen" und des"Psychischen" ist schon der Anfang der Vergessenheit. Deshalb ist eine rein
anthropologische Symbolik schon auf dem Wege der Allegorie, und sie meldet
schon die ethische Sicht des Bösen und der Welt an. Die große Vielzahlvon .anderen Mythen is t es, die das adamische Symbol vor jeder rp.oralisierenden Reduktion schützt; innerhalb des adamischen Symbols selber is t
es die tragische Gestalt der Schlange, die es vor jeder moralisierenden Re-
duktion schützt. Darum muß man alle Mythen des Bösen zusammen-
nehmen; gerade ihre Dialektik ist lehrreich. So denn, wie die Gestalt der
Schlange im eigenen Kern des adamischen Mythos der Entmythologisie-
rung der babylonischen Mythen ein Halt zuruft, genau so bedeutet die Erb-
sünde innerhalb der ethischen Sicht der Welt den Widerstand des Tragi-
schen gegen das Ethische. Aber is t es wirklich das Tragische, das Wider-
stand leistet? Man sollte vielmehr sagen, ein auf die Ethik unreduzierbarer
und jede Ethik ergänzender Aspekt habe im Tragischen einen bevorzugten
Ausdruck erhalten. Denn die tragische Anthropologie ist, wie wir gesehenhaben, von einer tragischen Theologie untrennbar; und eine solche is t in
ihrem Grunde unbekennbar. Auch kann die Philosophie nicht das Tra-
gische als solches wieder behaupten, ohne sich selbst das Leben zu nehmen.
Funktion des Tragischen ist es, die Zuversicht in Frage zu stellen, die
Selbstsicherheit, den kritischen Anspruch, man dürfte sagen: die Anmaßung
des sittlichen Bewußtseins, das sich das volle Gewicht des Bösen aufgeladen
hat. Viel Hochmut verbirgt sich vielleicht hinter dieser Demut. Dann aber
reden die tragischen Symbole in diese Stille der ged-!mütigten Ethik hinein;
sie reden von einem "mysterium iniquitatis", das der Mensch nicht voll für
sich beanspruchen und von dem die Freiheit nicht voll Rechenschaft ablegen
darf, insofern sie es nämlich schon in sich vorfindet. Von diesem Symbolgibt es keine allegorische Reduktion. Aber, so wird man einwenden, dietragischen Symbole reden von einem "göttUchen" Geheimnis des Bösen. Ja,
vielleicht sollte man in der Tat auch das Göttliche, das die ethische Auffas-
sung auf die moralisierende Funktion des Richters; reduziert, umdunkeln.
Gegen den Juridismus von Anklage und Rechtfertigung spricht der Gott desHiob "aus der Tiefe des Gewitters".
Die Symbolik des Bösen is t in ihrem Grunde niemals ohne Vorbehalt Symbolik der Subjektivität, des menschlichen Subjektes, gesondert von der Bewußtwerdung, niemals nur Symbolik des vom Sein getrennten Menschen, je
doch Symbolik der Naht zwischen Mensch und Sein. Man muß also bis zu
dem Punkte vordringen, wo das Böse das Abenteuer des Seins ist, wo es einenTeil der Seinsgeschichte bildet.
IV
Das spekulative Denken und sein Scheitern
Ist mit der Unwissenheit über den Ursprung des Grundes der bösenMaxime jede Möglichkeit für das Denken erloschen? Hört der Kampf zwi
schen der Unerbittlichkeit der Reflexion und dem Reichtum des Symbols auf
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HERMENEUTIK DER SYMBOLE UND PHILOSOPHISCHES DENKEN 65
mit der Rückkehr zum undurchdringlichen Symbol des Falles? Ich glaube es
nicht. Denn es bleibt ja ein Hiatus zwischen unserem jeweiligen Verständnisder wesentlichen Natur des Menschen einerseits und dem Bekenntnis derunergründlichen Kontingenz des Bösen andererseits. Kann man die Notwen-
digkeit der Fehlbarkeit neben der Kontingenz des Bösen bestehen lassen?
Nun zeigt sich jedoch, daß wir eine Dimension der Welt der Symbole mythi-
schen Charakters außer acht gelassen haben, die nämlich, daß die Symbole
vom "Anfang" ihren vollen Sinn erst aus ihrem Verhältnis zu den Symbolenvom "Ende" erhalten (Reinigung von der Befleckung, Sündenvergebung,Rechtfertigung der Schuldigen). Die großen Mythen sind sogar zugleich
Mythen des Anfanges und des Endes: so z. B. das Schlachtopfer des Mardukim babylonischen Mythos, die Versöhnung im Tragischen und durch das Tra-gische, das Heil durch die Kenntnis der verbannten Seele und schließlich die
biblische Erlösung mit ihren Gestalten des Endes: dem König der letztenZeiten, dem leidenden Gottesknecht, dem Menschensohn, dem zweiten Adamals Typ des künftigen Menschen. Merkwürdig in diesen symbolischen Vor-stellungen ist, daß der Sinn sich vom Ende her zum Anfang hin erschließt,von vorn nach rückwärts. Es stellt sich dann die· Frage, was diese Verknüp-fung von Symbolen, was diese rückwärtige Bewegung des Sinnes zu denken
gibt.
Lädt sie nicht dazu ein, von der Kontingenz des Bösen zu irgendeiner"Notwendigkeit" des Bösen zu kommen? Dies is t die höchste, aber auch die
gefährlichste Aufgabe einer durch die Symbole unterwiesenen Philosophie.
Die gefährlichste Aufgabe: sagten wir doch bereits, daß das Denken zwischenden beiden Abgründen der Allegorie und der Gnosis weiterschreiteL Das besinnliche Denken streift den ersten Abgrund, das spekulative Denken denzweiten. Dennoch is t dies die höchste Aufgabe, denn die Bewegung, welcheim symbolischen Denken vom Anfang des Bösen zu seinem Ende geht, setztoffenbar den Gedanken voraus, daß jenes alles letztlich einen Sinn hat, daßsich eine bedeutungsvolle Gestalt durch die Kontingenz des Bösen hindurchunabweislich abzeichnet, kurz, daß das Böse zu irgendeiner Gesamtheit derWirklichkeit gehört. Irgendeine Notwendigkeit . . . Irgendeine Gesamtheit . . .Es heißt aber nicht einerlei welche Notwendigkeit, nicht einerlei welche
Gesamtheit. Die Notwendigkeitsschemata, die wir erproben können, unter-liegen einer seltsamen Forderung: Die Notwendigkeit erscheint erst nach
träglich, vom Ende aus betrachtet, und der Kontingenz des Bösen "zumTrotz" . . . Der Hl. Paulus scheint zu einer solchen Erforschung aufzufordern,wenn er zwei Gestalten gegenüberstellt: den ersten Adam und. den zweitenAdam, die Gestalt des alten Menschen und die Gestalt des künftigen Men-schen; er begnügt sich nicht damit, sie zu vergleichen oder die eine der an-deren entgegenzustellen ("wie das Vergehen des Einzelnen für alle Men-schen die Verurteilung brachte, so wird auch eine gerechte Tat für alle Men-schen zur Rechtfertigung des Lebens" (Röm. 5, 18); wie . . . auch); von der
einen zur anderen gibt es Bewegung, Fortschritt, Überbietung; "wenn infolgedes Vergehens des Einen die Vielen starben, dann strömte Gottes Gnadeund das Geschenk, das in der Gnade des einen Menschen Jesus Christus be-
5 Castelli
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stand, noch viel mehr (:n:olA.w ~ - t a A . A . o v ) auf die Vielen reichlich über" (5, 15):"wo die Sünde sich mehrte, wurde die Gnade überreich" (5, 20). Dieses "nochviel mehr", dieses "überreich" deuten auf eine hohe Aufgabe für das
Denken.
Nun wird man eingestehen müssen, daß keine gxoße Philosophie derGesamtheit imstande ist, von dieser Einbeziehung der Kontingenz des Bösenin einem bedeutenden Entwurf Rechenschaft zu geben oder sie zu begründen.
Denn der Gedanke der Notwendigkeit läßt entweder die Kontingenz ausfallen, oder er nimmt diese so gut in sich auf, daß er den "Sprung" des sichselbst setzenden Bösen und das "Tragische" des schon immer sich selbstvorangehenden Bösen völlig ausschaltet.
Der erste Fall ist der der großen nicht-dialektischen Systeme, wie desPlotin und des Spinoza zum Beispiel. Beide haben etwas von diesem Problemerkannt, jedoch ohne ihm innerhalb des Systems Rechnung tragen zu können.So hat Plotin bis in seine letzten Abhandlungen den Fall (la "declinaison")der von dem eigenen Bilde in ihren Leibern faszinierten Seelen zu erklärenund sie mit der Notwendigkeit der Emanation zu vereinbaren versucht. DieAbhandlung IV, 3, § 12-18, unternimmt es, die narzißtische Versuchung, dieaus dem Abglanz der Seele im eigenen Leib hervorgeht, auf irgendein Mitgerissenwerden zurückzuführen, wobei die Seele einem allgemeinen Gesetzunterliegt: "sie scheint bewegt und getragen zu werden durch eine magischeMacht mit einer unwiderstehlichen Anziehungskraft" (ibid. § 12). Das Bös.ekommt also nicht von uns, es ist vor uns da und beherrscht den Menschen,
ob er es will oder nicht ,xadzet ovxl x 6 v w ~ ) .
In den letzten Abhandlungenüber die Vorsehung (:n:e6vwz) schließlich erneuert Plotin das alte Thema vomA . 6 y o ~ , das über die Stoiker und Phiion von Heraklit herkommt, und verkündet, daß die Ordnung aus der Dissonanz hervorgehe, und sogar, daß dieOrdnung der Grund der Unordnung sei (Ön n l E t ~ a w ~ [ a ) . So bedient sich dieVorsehung' der Übel, die sie nicht hervorbringt; die Harmonie entsteht trotz
O J . L W ~ ) · des Hindernisses. Trotz des Bösen siegt das Gute.
Wer sähe aber nicht, daß die Theodizee das Niveau einer beweisführendenund überredenden Rhetorik nie übersteigt? Es is t nicht zufällig, daß sie soviele Beweise heranzieht, die nur umso zahlreicher sind, weil sie einzeln ge
nommen keine Beweiskraft haben. Denn wie könnte sich das Denken zumStandpunkt des Ganzen emporheben, und wie dürfte es behaupten: "es gibtOrdnung, weil es Unordnung gibt"? Und. wenn es das könnte, würde es. dannnicht das Leid der Geschichte zu einem Spaß, zum unseligen Spaß des Spielesvon Licht UQd Dunkel machen, wenn schon nicht zu einer Ästhetik des Mißklanges (,;Ia discordance a sa beaute . . . "es soll einen Henker in der Stadtgeben, ganz recht, daß er da ist, er ist dort an seine:(ll Platz"). Darin bestehtdie Unehrli<;hkeit der Theodizee: sie besiegt nicht das Böse, sondern nur des-sen ästhetisches Gespenst. . .
Spinoza verzichtet gänzlich auf diese verdächtige Beweisführung der Theo
dizee. In einer unqialektischen Philosophiei der Notwendigkeit, wie derseinen, gibt es sicherlich einen Platz für die endlichen Modi, aber nicht fürdas Böse, das eine Illusion ist und das aus der Unwissenheit in allem her-
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vorgeht. Dennoch bleibt selbst bei Spinoza ein Rätsel übrig, nämlich das,
welches seinen Ausdruck findet im überraschenden Grundsatz des IV. Buches:
"Es gibt in der Natur kein Einzelding, das nicht von einem anderen mäch-tigeren und stärkeren übertroffen würde. Es gibt vielmehr immer noch ein
anderes mächtigeres als das jeweils gegebene, von dem dieses vernichtet wer-den kann." ("Die Ethik", Kröner-Ausgabe, S. 174.)
Wie in den letzten Abhandlungen Plotins is t auch bei Spinoza ein Gesetz
des Widerstreites in der Ausbreitungs- und Ausdrucksbewegung des Seinsmiteinbegriffen. Dieser Widerstreit is t aber notwendig, wie die Bewegungselbst notwendig ist. Die Kontingenz des Bösen, die durch die ethische Sichtdes Bösen erworben war, wurde hier nicht beibehalten, sondern als eineIllusion verworfen.
Wird eine dialektische Philosophie der Notwendigkeit dem Tragischen desBösen gegenüber gerechter sein, wenn man es so sagen darf? Das ist nicht zubezweifeln. Denn eben aus jenem Grunde bedeutet eine Philosophie wie dieHegels sowohl den größten Versuch als auch die größte Versuchung, demTragischen in der Geschichte Rechnung zu tragen. Die Abstraktion, in die
sich jede Weltanschauung einschießt, is t aufgehoben worden; das Böse hatseinen Platz erhalten, während die Geschichte der Gestalten des Geistes sich
in Bewegung setzt; das Böse ist wirklich beibehalten und überholt; der Streitis t als Instrument der Erkenntnis vom Bewußtsein eingeschaltet worden; alles
erhält einen Sinn; man muß durch den Kampf und das unglückliche Bewußtsein und durch die schöne Seele und durch die kantianische Sittlichkeit und
durch den Zwiespalt des schuldigen und des urteilenden Gewissens hindurch(Cfr. Hypp. II, 190-197).
Ist das Böse jedoch in der Phänomenologie des Geistes erkannt und integriert, so ist es das in Wirklichkeit nicht als Böses, sondern als Widerspruch;seine Spezifität ist in eine allgemeine Funktion untergegangen, von derKierkegaard sagte, sie sei der Meister Jakob des Hegelianismus: die Nega-
tivität. Die Negativität bedeutet gleichfalls die Inversion des. Besonderen insAllgemeine, den Gegensatz des Inneren und des Äußeren in der Gewalt, imTode, im Kampf, in der Schuld. Alle Negativitäten smd in die Negativitätaufgegangen. Auch das Hauptstück "Das Böse und seine Vergebung" der
"Phänomenologie" läßt keinen ·zweifel übrig. Die Vergebung ist schon dieVersöhnung in der absoluten Erkenntnis durch den Übergang des einenGegenteils in das andere, der Besonderheit in die Allgemeinheit, des verurteilenden Gewissens in das urteilende und umgekehrt; die "Vergebung" istdie Destruktion des "Urteils", welches selbst eine Kategorie des Bösen, nichtdes Heils ist; das ist sicherlich sehr paulinisch: Das Gesetz selbst ist verurteilt;aber zugleich is t das Symbol der Sündenvergebung verloren gegangen, denndas Böse ist ja weniger "vergeben" als wohl überholt; es verschwindet in die-ser Vergebung. Im seihen Augenblick geht der tragische Akzent über vommoralischen Bösen auf die Bewegung der Entfremdung, der Entäußerung des
Geistes selbst. Weil gerade die menschliche Geschichte eine OffenbarungGottes ist. übernimmt das Unendliche das Böse des Endlichen: "Diese langeGeschichte von Fehltritten, die die menschliche Entwicklung darzubieten hat,
5•
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und die die Phänomenologie uns aufzeigt, is t ja wohl ein Sturz (so schreibt
J. Hyppolite), man soll jedoch allmählich begreifen, daß dieser Sturz einenTeil des Absoluten ausmacht, daß er ein Moment der Gesamtwahrheit ist."(Genese eJ structure de la Phenomenologie de I'Esprit, S. 509). Der Pantragismus bildet die Kehrseite zur Auflösung der ethischen Weltanschauung; erwird zur absoluten Erkenntnis, indem sich die Sündenvergebung in die philosophische Versöhnung wandelt. Es bleibt nichts mehr übrig, weder vomNichtzurechtfertigenden des Bösen, noch von dem Gnadencharakter derVersöhnung.
Wenn also die undialektische Notwendigkeit des Plotirr und des Spinozaund die dialektische Notwendigkeit Hegels scheitern, wäre dann die Antwortauf unser Suchen nach Verständlichkeit nicht eher in der Richtung einergültigen Geschichte als in einer Seinslogik zu suchen? Schließt nicht die Be
wegung vom Sturz zur Erlösung hin, diese durchaus sinnvolle Bewegung,jede "Logik", ob undialektisch oder dialektisch, aus? Ist es überhaupt möglich, eine gültige Geschichte zu erdenken, in der die Kontingenz des Bösenund die Initiative zur Bekehrung beibehalten und eingegliedert wären? Istes möglich, ein Werden des Seins zu denken, wobei das Tragische des Bösen- des immer-schon-da-seienden Bösen - zugleich anerkannt und überwunden wäre?
Ich bhi nicht in der Lage, auf jene Frage antworten zu können; ich ahnelediglich eine mögliche Richtung für die Besinnung. Abschließend möchte ichsagen, was ich sehe. Es zeigen sich mir drei Formeln, welche drei Beziehun
gen zwischen der Erfahrung des Bös.en und der Erfahrung einer Versöhnungzum Ausdruck bringen. Zunächst erwartet man die Versöhnung trotz desBösen. Dieses "trotzdem" stellt eine echte Kategorie der Hoffnung dar: dieKategorie des Dementis. Dafür gibt es zwar keine Beweise, wohl aber Zeichen;die Mitte, der Einpflanzungsort dieser Kategorie ist eine Geschichte, nicht
eine Logik, - eine Eschatologie, nicht ein Sys.tem. Zweitens ist dieses "trotzdem" ein "dank dem"; mit dem Bösen schafft der Ursprung der Dinge Gutes.Das letztliehe Dementi is t zugleich auch verhüllte Pädagogie: Augustinus'etiam peccata klingt, wenn ich so sagen darf, wie eine Randbemerkung zum"Soulier de Satin", worauf Claudel eine Litotes anwendend, erwidert: "Das
Schlimmste steht nicht immer fest"; aber es gibt keine absolute Erkenntnis,weder die des "trotzdem" noch die des "dank dem". Und sdl.ließlich die dritteKategorie dieser gültigen Geschichte.: "Um wieviel m e h r . ~ , :noÄ.Ä.q'l ,uäA.A.ov;
dieses Gesetz der Überfülle umfaßt seinerseits ·das "dank dem" und das"trotzdem". Darin besteht das Wunder des Logos; von ihm heraus kommtdie rückwärtige Bewegung der Wahrheit; aus dem Wunder entsteht die Notwendigkeit, welche das Böse zurückwirkend in die Helligkeit des Seins stellt.
Das, was in der alten Theodizee nur der Ausweg des Scheinwissens. war,wird zum Verstehen der Hoffnung; die Notwendigkeit, nach der wir suchen,ist das höchste rationale Symbol, das sich aus diesem Verstehen der Hoffnung
ergibt.Aus dem Fanzösischen übersetzt von Dr. Franz Theunis.
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VERSTEHEN UND SPIELEN
von
Hans·Georg Gadamer
Das Problem der Entmythologisierung, wie es Rudolf Bultmann explizierthat, ist zwar in seiner Durchführung von hohem dogmatischem und theologi
schem Interesse, aber es ist dennoch nicht eigentlich ein dogmatisches Pro-
blem, sondern ein hermeneutisches. Es soll daher hier versucht werden,einen Aspekt des hermeneutischen Problems zu entwickeln, der sich mir vonmeinem eigenen Versuch der Grundlegung einer philosophischen Hermeneu-tik her (Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Herme-neutik 1960) ergibt und der indirekt zu der theologischen Diskussion einenBeitrag darstellen kann. Um die systematische Bedeutung des Themas "Ver-stehen und Spielen" recht zu würdigen, is t es nötig, sich einige allgemeineVoraussetzungen des Problems der Hermeneutik und die besonderen philo-sophischen Implikationen, die in der Problematik der gegenwärtigen Philo-sophie gelegen sind, bewußt zu machen.
Die erste der allgemeinen Voraussetzungen des hermeneutischen Problemsist, daß Verstehen immer schon· eine Reflexionsdimension in sich schließt,
wenn es als eine hermeneutische Aufgabe erfaßt ist. Verstehen ist nicht einfach Nachvollzug einer Erkenntnis, sondern ist, wie schon August Boeckhformuliert hat, "Erkennen des Erkannten". Bekanntlich hat bereits dieromantische Hermeneutik das darin gelegene Reflexionsverhältnis aufge-deckt und gezeigt, daß im hermeneutischen Verhalten ein unbewußter Voll
zug ins Bewußtsein gehoben wird. Sie hat sich für dieses Verhältnis auf denin Kants Ästhetik in den Vordergrund gestellten Begnff des Genies berufenkönnen, das "bewußtlos" und ohne Regeln Mustergültiges schafft.
Damit ist für die eigene Stellung des hermeneutischen Problems bereitsso etwas wie eine Ortsbestimmung gegeben. Es stellt &ich offenbar dor.t nochnicht, wo literarische Traditionen eine naive Aufnahme und Anverwandlungfinden, wie das beispielsweise bei der humanistischen Wiederentdeckungdes klassischen Altertums war, die weniger ein Verstehen desselben bezweckte als vielmehr Nachfolge und unmittelbaren Wettbewerb. Es bedarfdes Bewußtseins eines gestörten Einverständnisses, wenn sich das hermeneu-tische Problem stellen soll. Das heißt aber, Hermeneutik schließt immerschon ein Moment von historischem Bewußtsein ein. Das läßt sich sehrschön an den Anfängen der historischen Bibelkritik zeigen, wie sie Spinoza
in seinem Tractatus theologico-politicus darstellt. Dort wird klar gezeigt,daß der Weg in das historische Verstehen seine Motivation jeweils an demScheitern des unmittelbaren Einverständnisses hat. Die genetische Frage-stellung, die wissen will, wie es zu etwas gekommen ist, findet auf literarisch
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70 HANS-GEORG GADAMER
fixierte Meinungen nur dann Anwendung, wenn dieselben in ihrer Wahr
heit nicht mehr einleuchten und daher unverständlich scheinen. Zwar hat
man etwa gegenüber dem Alten Testament ein unmittelbares christlichesVerständnis desselben auch früher schon nur auf dem Umweg historischer
oder typologischer Auslegung ermöglichen können, wie etwa Augustinus
in De doctrina christiana zeigt. Aber dabei bleibt doch die dogmatische Tra
dition der christlichen Kirche der tragende Grund. Jetzt dagegen, im Zeit
alter der neuen Naturwissenschaft und der "Kritik", sind die Grenzen dessen, was sich von den heiligen Büchern durch die bloße Vernunft verstehen
läßt, plötzlich sehr eng geworden, und der Bereich dessen, was sich von ihnen
nur historisch verstehen läßt, nimmt den allergrößten Umfang ein. Für
S p i n ~ z a sind zwar die moralischen Wahrheiten, die die Vernunft in der Bibelentdeckt, noch unmittelbar einsichtig. Ihre Evidenz ist von derselben Art
wie etwa die der Bücher des Euklid, bei denen kein Mensch sich zu der histo
rischen Frage motiviert sieht, wie Buklid zu seinen Ansichten gekommen
ist. Die moralischen Wahrheiten, die in den Biblischen Büchern auf diese
Weise einsichtig sind, nehmen jedoch nur den kleinsten Teil derselben ein.Dem Ganzen steht die Vernunft fi:emd gegenüber und weiß sich nur mit
historischer Erklärung zu helfen. (Man denke etwa an die Wunderkritik.)
Das aber ist die Situation, die, in die Allgemeinheit erhoben, zur Schaffung einer allgemeinen Hermeneutik geführt hat, wie wir sie der deutschen
Romantik und insbesondere Schleiermacher verdanken. Sie setzt voraus, daß
das Ganze der Tradition derart fremd geworden ist, daß nur der Umweg
des historisch-hermeneutischen Verhaltens das eigentliche Ideal des Verstehens erreichen kann. Für Schleiermacher ist es kein unmöglicher Gedanke
mehr, sogar die Sätze des Buklid lediglich als fruchtbare Lebensaugenblickeim Leben des Buklid verstehen zu wollen - so sehr is t für die Absicht desVerstehens die Frage ihrer sachlichen Einsichtigkeit hinter die psychologischhistorische Verständlichkeit zurückgedrängt worden. Die Hermeneutik wird
ein universales Hilfsmittel, das den Abstand und die Fremdheit zwischen
Ich und Du so gut wie den zwischen dem Leser und seinem Text zu über
brücken hat. Sie wird zum Organon der historischen Methode selbst. Ichhabe in meinem Buche dargestellt, wie bei Droysen und Dilthey das Ver
fahren der Philologie das Vorbild für die Bewältigung des Erfahrungsganzendes historischen Bewußtseins darstellt *.In Wahrheit ist einer weiteren Reflexion nicht ~ u s z u w e i c h e n , die auf die
-Grenzen eines derart universal gedachten historischen Verstehens reflektiert. Es handelt sich dabei nämlich nicht nur um zufällige Grenzen, wie sie
etwa durch die besondere Affinität oder historische Sympathie gegeben sind,die den Forscher mit seinem Gegenstand verbinden. Wenn Kerenyi in sei
nem Beitrag mit Recht darauf hingewiesen hat, daß die historis.che Erkennt
nis von der Resonanzfähigkeit abhängt, die der jeweils gegenwärtige For
scher für die Zeugnisse der Vergangenheit besitzt, so daß er nicht beliebig
Beliebiges verstehen kann, so ist diese subjektiv-zufällige Bedingung des
* a. a. 0. S. 199 ff .
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VERSTEHEN UND SPIELEN 71
Verstehens in Wahrheit ins Prinzipielle zu wenden, sofern die Resonanzfähigkeit der Zeiten für einander, d. h. also der jeweiligen Gegenwart fürdie aus der Ferne der Zeiten kommende Überlieferung, keine beliebige ist,
sondern eine wesenhafte wirkungsgeschichtliche Bestimmtheit zu ihrem
Grunde hat.Die Möglichkeiten des historischen Verstehens sind nicht nur trotz aller
Methode durch zufällige Momente begrenzt. Es bedarf vielmehr nur eines
geringen Zeitenabstandes, damit sich auch an einer historischen Forschungs-
leistung der modernen Wissenschaft ihre eigene geschichtliche Gebundenheithervortut. Auch das Verstehen der Wissenschaft bleibt in das. Geschehenverschlungen, in dem sich Tradition bildet und verbindlich macht. Es stelltsich die Frage, wie eine Hermeneutik ausseheii! muß, die dieser SachlageRechnung trägt und im Verstehen mehr sieht als ein methodisches Verhaltendes Bewußtseins gegenüber beliebigen Forschungsgegenständen. Es liegtauf der Hand, daß eine Antwort auf diese Frage auch von theologischem
Interesse sein muß, sofern der Leser der Heiligen Schrift im Grunde immerschon weiß, daß er nicht nur verstehen will, sondern will, daß ihm etwasvon Gott her geschehe.
Hier stellen sich freilich philosophische Vorurteile in den Weg, und dasThema "Verstehen und Spielen" gewinnt seine eigentliche Schärfe in derAbhebung gegen diese Vorurteile. Es ist das Vorurteil des historischen Ob-jektivismus, dessen Naivität wir durch die vorangeschickte Analyse des Ver-stehens aufdeckten, das hier vor allem in Frage steht. Es kommt nicht von
ungefähr, sondern is t mit der Idee der modernen Wissenschaft derart erigverknüpft, daß auch die romantische Kritik an dem Rationalismus der Aufklärung keinen wirklichen Durchbruch in das geschichtliche Wesen des Ver-
stehens zustandebrachte; sondern nur eine irrationalistische Verschleierungdessen, daß das historische Bewußtsein in den Geisteswissenschaften dieeigentliche Perfektion der Aufklärung darstellt. Der historische Objektivis-
mus hat eben seine tiefliegenden Wurzeln in dem philosophischen Subjekti,vismus., der die Neuzeit beherrscht.
An solchem Objektivismus hat in unserer Zeit vor allem Husserls Begrün-
dung der Phänomenlogie in einem radikalen transzendentalen Reflexions-
streben, insbesondere der späte Husserl der Krisis-Abhandlung, eine grundsätzliche Kritik geübt, indem er aus der absoluten Historizität des Ego alleobjektive Geltung in konstitutiver Analyse abzuleiten forderte. Aber erstdurch die ontologische Wendung, mit der sich Heidegger gegen den Leitbegriff des Bewußtseins und seiner' Leistungen wandte, der dem Husserlschen Programm zugrundelag, wurde die Geschichtlichkeit des Verstehensin eine Fragebewegung eingeholt, die den Rahmen des philosophischenSubjektivismus der Neuzeit und des ihm korrespondierenden Objektivismuszu sprengen vermochte. Wenn "Sein und Zeit" das Verstehen als ein Exi-stenzial aufwies, d. h. als eine Grundbestimmung des menschlichen Daseins,
so war damit die Hermeneutik aus ihrer sekundären wissenschaftstheoretischen Funktion gelös.t und in das Zentrum einer philosophischen Fragestellung gerückt worden. Noch freilich konnte es so scheinen, als wäre damit der
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transzendentale Idealismus der Phänomenologie nur gleichsam konkretisiert
worden, indem das "ego cogito" als das sich auf sein Sein verstehende Da
sein verstanden wurde und in dieser Konkretion, in der Analyse der Zeit
lichkeit dieses Daseins, der dem Phänomen der Geschichte wesentlichen
Endlichkeit gerecht zu werden vermochte. So hat noch 1929 Oskar Beckerdas Verhältnis von "Sein und Zeit" zu Husserls "Ideen" charakterisiert *.
Indessen bedeutete die ontologische Wendung, die in Heideggers Kritik
an dem Bewußtseinsbegriff der Hus.serlschen Phänomenologie zutage trat,
weit mehr. Was Heidegger die Seinsfrage nennt, war in der radikalen und
totalen Subjektivierung der transzendentalen Phänomenologie noch weit
gründlicher verdeckt als in .der Tradition der Metaphysik, die Husserl selber
als Objektivismus kritisierte. "Sein" ist nicht als die Objektivationsleistung
eines Bewußtseins interpretierbar, das sein eigenes Sein unbefragt schon in
Geltung hält. Vielmehr liegt die Frage nach dem Sein in einer ganz anderen
Dimension. Nicht wie Sein verstanden werden kann, sondern wie Vers.tehenSein ist, war im Grunde schon die Fragestellung von "Sein und Zeit". Die
sogenannte Kehre, durch die sich Heideggers spätere Arbeiten von dem
transzendentalphilosophischen Ansatz der Daseinsanalytik in "Sein und
Zeit" abheben, war gegenüber "Sein und Zeit" im Grunde gar nichts Neues,
sondern .die Freisetzung der Grundintention auf das. Sein, das nicht mehr
ein Gesetztes des Bewußtseins sein sollte. Wenn Heidegger später vom "Seins
geschehen" spricht und von dem "Da" als' der "Lichtung des Seins" und
wenn er auf diesem Wege dem Geheimnis dessen, was Sprache ist, näher
gekommen ist, als alle Denker der antiken oder neuzeitlichen Sprachphilosophie, so wird im Lichte solcher Aussagen der alte Gegenstand der Herme
neutik, das Verstehen, nicht mehr als der bloße Vollzug des hermeneutischen
Bewußtsein gedacht werden dürfen, weil derselbe vom Seinsgeschehengleichsam übergriffen wird. Es ist von da aus kein Zweifel mehr, daß das
Verstehen keine Methode kennt, die den Erkenntnisvollzug des Subjektes
sichert. In allem Verstehen is t Geschehen, weil das Verstehen selber s.eineletzte Möglichkeit in jenem Geschehen hat, auf das Heideggers Denken gerichtet ist. Formal kann man die hier erfolgte Umkehrung als den Primat
des Verhältnisses gegenüber den das Verhältnis bildenden Gliedern, dem
Verstehenden und dem Verstandenen, bezeichnen**.
Indessen, es mag noch so richtig sein, daß Verstehen kein bloßer Vollzugeines Bewußtseins ist, und es mag noch so befreiend sein, daß dergestalt auf
eine ursprünglichere Weise die Erfahrung des Göttlichen, die Erfahrung
der Kunst und in allem die Erfahrung des Seins zur Anerkennung gelangt
- das alles muß dennoch seinerseits einer hermeneutischen Ausweisung
fähig sein. Das hermeneutische Bewußtsein, das von sich weiß, daß es endlich
und begrenzt ist, und gezeitigt wird im Geschehen der Geschichte selbst, muß
an sich selber wissen, was es damit weiß. Ich habe in meinem Buche versucht,
in dieser Richtung weiterzudenken, und es ist die gleiche Richtung, die ich
* Husserlfestschri!t p. 30 Anm.
** Daß von Heidegger her das "Spiel als Weltsymbol" hier seinen systematischen
Ort hat, wird auch aus E. Finks soeben erschienenem interessanten Buch deutlich.
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VERSTEHEN UND SPIELEN
verfolge, wenn ich jetzt als Beitrag zu einem Thema der theologischen Hermeneutik das Modell des Spielens als Leitfaden der Analyse heraushebe.
Sogleich fühlt man sich bei solcher Aufgabenstellung auf die Antike zurückgewiesen. Wie immer das Verhältnis von Mythos und Logos im anfangenden griechischen Denken bestimmt werden mag, das Schema dermodernen Aufklärung, derzufolge der Entzauberungsprozeß der Welt vomMythos zum Logos führt, stellt einen falschen Modernismus dar. Nicht nur,daß es von diesem Schema her geradezu unbegreiflich wird, wie die attische
Philosophie sich der Entzauberungstendenz der griechischen Aufklärungentgegenzustellen und zwischen der religiösen Überlieferung und dem philosophis.chen Gedanken eine säkulare Versöhnung zu stiften vermochte - esis t ein ständig sich wandelndes Zueinander, das die Geschichte von Mythosund Logos im frühen Griechentum zeigt. Das große Mißtrauen, das die alter
tumswissenschaftliche Forschung gegen den Mythos als religiöses Zeugniszu haben pflegt (und entsprechend der Vorzug, den sie aller Kultüberlieferung gibt), hat insofern etwas Berechtigtes, als die innere Wandlungsfähigkeit des Mythos, sein· Offenstehen für immer neue Ausdeutung durch die
Dichter, die Frage, in welchem Sinne ein Mythos "geglaubt" wird, am Endeohne Antwort läßt. Es. ist von da kein großer Schritt mehr zu der Einsicht,
daß auch die Ausdeutung des Mythos im Logos, die die Philosophen vornehmen, nichts grundsätzlich Neues ist gegenüber jenem beständigenSchwanken zwischen Bewahrung und Erfindung, zwischen verehrenderScheu und geistiger Freiheit, der die Geschichte des Mythos begleitet. Es
is t gut, sich daran zu erinnern, wenn man den Mythosbegriff, der dem Bultmannsehen Programm der Entmythologisierung zugrundeliegt, richtig ver
stehen will. Denn so ganz anders ist das Verhältnis eines christlichen Theologen zu der biblischen Überlieferung im Grunde nicht, wie das des Griechenzu seinen Mythen. Was Bultmann mit dem Begriff der Entmythologisierungfast zufällig und beiläufig formulierte, enthielt in Wahrheit die Summeseiner gesamten Theologie. Der Schüler der liberalen historischen Forschungsuchte in der biblischen Überlieferung das, was aller historischen Aufklärungwiderstand, weil es die Verkündigung, das Kerygma, den eigentlichen Anrufdes Glaubens trägt. Es ist dieses positive dogmatische Interesse-:- und nicht
das einer fortschreitenden Aufklärung-,
das die Begriffsbildung Bultmannsbestimmt. Sein Begriff des Mythos. is t also ein bloßer Gegenbegriff. Ihmhaftet grundsätzliche Okkasionalität an, und wenn es auch eine entscheidende theologische Frage ist, wo jeweils im theologischen Verständnis desNeuen Testamentes "entmythologisiert" werden soll, so is t dies doch selbstein rein exegetisches Problem und nicht eine Frage des hermeneutischen Prinzips. Dieses sagt vielmehr eindeutig, daß man nicht etwa einen bestimmtenBegriff des Mythos bei der exegetischen Entscheidung zugrundezulegen hat,von dem her sich bestimmt, was man als moderner Mensch, der die Zerstörung des Mythos durch die Wissenschaft miterlitten hat, glauben kann oder
nicht, sondern umgekehrt, daß man ein Selbstverständnis des Glaubens imVernehmen des Kerygma zugrundezulegen hat, von dem her sich bestimmt,was nur mehr "Mythos" ist. Mir scheint hier eine formale Analogie zu
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Spinozas Bibelkritik zu beobachten. Auch dort ist es so , daß sich von demin der Bibel Verstandenen her der Bereich dessen begrenzt, das als. unverständlich der umwegigen historischen Erklärung überantwortet wird. Was dortals wahr bewahrt wird, bestimmt sich freilich nicht als Offenbarung, sondern
als VernunftwahrheiL Aber auch dort ist die Kritik die bloße negative Folgeeines positiven religiösen Prinzips. Die große Freiheit, die der griechische
Dichter der mythischen Überlieferung seines. Volkes gegenüber hatte, hatebenso einen religiösen Grund, dem er seine Legitimität und das Recht zurKritik verdankt. Das sehen wir vielleicht am deutlichsten bei Pindar. Manwird von da aus zu einer neuen Überdenkung des Verhältnisses genötigt,in dem Glauben und Verstehen zu einander sich verhalten. Dazu soll derBegriff des Spielens dienen.
Das mag überraschend sein, daß derart der Glaubensernst mit der Unverbindlichkeit des Spielens konfrontiert wird, und in der Tat würde der Sinndieser Konfrontation verfehlt, wenn man das Spielen als. ein subjektivesVerhalten verstünde und nicht vielmehr als ein Bewegungsganzes sui generis,das die Subjektivität der Spielenden nur in sich einbezieht. Ein solcher Sinnvon Spielen is t aber, wie ich in meinem Buch gezeigt habe*, sowohl von derHerkunft des Wortes her als auch im Hinblick auf das Verhältnis von Glauben und Verstehen durchaus legitim. Das Hin und Her einer Bewegung, diein den Grenzen ihres Spielraums spielt, is.t so wenig von dem Menschenspielals einem spielenden Verhalten der Subjektivität her übertragen, daß viel-mehr umgekehrt auch für die menschliche Subjektivität die Erfahrung desSpielens dadurch bestimmt wird, daß es wie von selber geht, daß jede aus
gehende Bewegung gleichsam zurückkommt und sich im Hin und Her einerschönen Freiheit und Leichtigkeit dem spielenden Bewußtsein darstellt. ·
Das Primäre ist also das Zueinander der ins. Spiel Gebrachten oder im Spiele
Seienden. Für den einzelnen, der so ins Spiel eintritt, mag das wie eine Anpassung an das Gegenüber erfahren werden, so wie etwa zwei eine Baumsäge bedienende Männer in wechselseitiger Anpassung das freie Spiel der Sägesich ausschwingen lassen. Man kann dann etwa sagen, daß man sich miteinander erst einspielen muß. Aber was sich da einspielt, ist· im Grunde nichtdas subjektive Verhalten der beiden Gegenüber, sondern die Bewegungs-
gestalt selbst, die wie in einer unbewußten Teleologie das Verhalten dereinzelnen sich einordnet. Wir verdanken dem Neurologen Viktor von Weiz-
säcker die experimentelle Erforschung dieser Phänomene, die er unter demTitel "Der Gestaltkreis" analysiert hat. So hat er z. B. erwiesen, daß dasgebannte Gegenüber eines Ichneumon und einer Schlange, die einander inSchach halten, nicht ein Reagieren des einen Tiers auf die Angriffsbewegungdes anderen ist, sondern das Wechselverhältnis einer völligen Gleichzeitig-keit, d. h. aber die Einheit eines Bewegungsganzen.
Von da aus läßt sich nun das Verhältnis von Glauben und Verstehen ineinem anderen Lichte sehen, als wie es sich vom Selbstverständnis des Glau
bens aus zunächst darstellen will. Zwar sagt uns der Theologe, daß das Glau-
* a. a. 0. 96 ff ; 462 ff .
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VERSTEHEN UND SPIELEN 75
ben kein menschliches Können, sondern ein Gnadentat Gottes ist, und daß
dem Glaubenden etwas geschieht.
Aber es ist schwer, das im Selbstverständnis. de3 Glaubens festzuhalten,
solange die moderne Wissenschaftsidee und der ihr zugrunde liegende Metho-
dengedanke in seinem universellen Anspruch nicht begrenzt wird. Denn von
ihm aus wird alles Sichverstehen wie eine Art Selbstbesitz gedacht, der nichtsso sehr von sich weist, als daß ihm etwas geschehen kann. Die Erfahrung desSpiels kann hier hilfreich sein, weil das Sichverlieren an das Spiel nicht wirklich als ein Verlust des Selbstbesitzes., sondern Selbstverlust positiv als Ent-
spannung und Entlastung erfahren wird.
Wie der holländische Kulturhistoriker Huizinga gezeigt hat, steht das
spielende Bewußtsein in einer ununterscheidbaren Schwebe zwischen Glauben
und Nichtglauben. "Der Wilde selbst weiß von keinen Begriffsunterscheidungen von Sein und Spielen."
Es ist nicht nur der Wilde, der von solchen Begriffsunterscheidungen nichts
weiß. Vielmehr bleibt der Anspruch des Selbstverständnisses, wo immer er
erhoben wird, - und wo wird er nicht erhoben, wo Menschen Menschens ind? - auf eine eigentümliche Weise begrenzt. Das hermeneutische Bewußt·
sein findet keine Vollendung in der Durchsichtigkeit eines absoluten Wissens,wie Hegel es als die Perfektion des Seins geschildert hat. Das gilt nicht nur
vom Selbstverständnis des Glaubens. Alles Verstehen ist ja am Ende Selbst·verstandnis. Aber wie vollzieht sich dies? Der Vollzug eines Selbstverständ-
nisses, wie es im Verstehen von etwas geschieht, ist k.ein freier Vollzug. In
ihm wirdauch nichts vollzogen
undvollendet, so
daßes
nun daist. Es ist
in
sich unvollendbar. Es hat die Seinsweise des Wortes, das kommt und geht.
Daß es das Wort ist, das geglaubt und das verstanden werden soll, sagt
uns der Theologe. Aber von alters her hat das Wort Gottes das. Verständnis
seines Offenbarerturns iil der Auslegung des menschlichen Wortes gefunden.Augustinus hat in zahllosen Variationen das übermenschliche Geheimnis der
Trinität in dem Geschehen von Wort und Rede abgebildet, wie es unter
Menschen statt hat. Unzweifelhaft nun hat dieses Geschehen etwas vom
Spielen an sich. Wie ein Wort gewagt wird, wie es trifft, wie ein Wort dasandere gibt, wie ein Wort Antwort findet und s.elber Antwort ist, wie es einen
Spielraum gleichsam ausfüllt, in welchem es gesagt und verstanden wird,das alles weist auf einen Wesenszusammenhang von Verstehen und Spielen.Es sind sprachliche Spiele, in denen das Kind die Welt "lernt", und alles,
was wir "lernen", vollzieht sich in solchen sprachlichen Spielen. Wo immer
wir zu verstehen suchen, versuchen wir, uns klar zu werden und das rechteWort zu finden. Alles Verstehen entfaltet sich derart im Raum der Spracheund hat die Seinsweise des Gesprächs,
Denn die Sprache ist kein Besitztum des Menschen, kein Arsenal von
Werkzeugen, die er nach Bedarf in Gebrauch nimmt, kein Waffenlager desGeistes, sondern sie hat ihre Wirklichkeit allein im Gespräch. Gespräch aber
ist ein ursprüngliches Zueinander von Sprechenden, die in Rede und Gegenrede ihre Sprache entwickeln, durch die sie sich zu verständigen suchen. Niemand wird sich dem entziehen können, das Spielmoment in jedem echten
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Gespräch anzuerkennen. Das ist mit dem Ernst echter Verständigung sehrwohl vereinbar. Denn es meint nicht das spezifische Verhalten derer, die miteinander reden, nicht ein unverbindliches Sichzurückbehalten, das nur denSchein einer Meinungsäußerung erzeugt. Gerade mit einem spielerischen
Menschen kann man kein Gespräch führen, weil der, d.er sich derart zurückbehält, weil er verspielt ist, sich selber und seine Meinungen eben nicht aufsSpiel setzt. Wer aber keinen Einsatz leistet, kann auch nicht gewinnen. Nurwer sich ausspielt, kann mit dem anderen zu jener Verständigung gelangen,
die ein gutes Gespräch zu gewähren vermag.
Gespräch aber is t am Ende auch aller Umgang mit Texten. Denn solangeTexte stumm bleiben, hat die Verständigung des Verstehens noch gar nichtbegonnen. Aber sie können zu reden beginnen, und dann sagen auch Textenicht in statuarischer Gelassenheit ih r eines und selbes Wort, sondern gebendem, der sie fragt, immer neue Antwort und stellen dem, dem sie antworten,immer neue Fragen. Das Verstehen von Texten ist wirklich ein Gespräch.
Das zeigt sich n i c h ~ zuletzt daran, daß sich im Prozeß des eigenen Verstehens von Texten die Sprache erst ausbildet, in der das Verständnis mirzu eigen wird. Alle Auslegung von Texten, die nicht dahin gelangt, den fremden Text - und fremd ist auch der Text, der nicht in fremder Sprache ge
schrieben ist- neu zur Sprache zu bringen, d. h. in eigenen Worten zu voll
ziehen, die nicht meine eigenen, sondern die mir etwas sagenden sind, bleibtauf halbem Wege liegen. Immer bedarf es zur Aneignung des Umsetzens desVerstehens in Ausdrücklichkeit. Die Predigt ist das große Beispiel einer sol
chenverstehenden Auslegung
einesTextes.
Sie,und·
nichtder Kommentar
oder die exegetische Arbeit des Theologen als solche, vollendet jeweils dasLesen und Verstehen des Textes. Oder besser: sie dient dieser Vollendung,gibt zu verstehen, was der heilige Text sagt. Die wahre Vollendung des Verstehens liegt nicht in der Predigt als solcher, sondern in der recht gehörten
Predigt.
Die Exemplifizierung mit der Predigt soll aber nicht unklar machen, daßes sich hier nur um den Sonderfall eines allgemeinen hermeneutischen Verhältnisses handelt. Weder der Mythos, sofern er sich sprachlich aussagt, also imGriechischen vor allem die große Dichtung, noch das Evangelium haben
darin eine Sonderstellung. "Entmythologisierung" des Neuen Testamentesist insofern wirklich nur ein deskriptiver Begriff, der das hermeneutischeGrundverhältnis in seiner besonderen Anwendung auf die Heilige Schriftcharakterisiert. Alles Verstehen, nicht nur das Verstehen und Hören desWortes Gottes, is t ein Geschehen, das zwar Bemühung methodischen Vorgehens und kritischer Selbstkontrolle einschließt, aber dennoch al l das weithinter sich läßt. Was uns im Verstehen geschieht, ermessen wir nie .ganz.Das Wort, das uns trifft, hat uns schon immer übertroffen. "Über uns hinüber. spielt dami der Engel" (Rilke).
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DIE BEDEUTUNG DES ANWENDUNGSBEREICHES
DER EXISTENTIALEN INTERPRETATION INNERHALB
DER THEOLOGIE *Hans W erner Bartsch
I.Existential nennen wir eine Interpretation, die durch die Frage nach dem
im Text sich kundgebenden Verstehen der eigenen Existenz zum Verstehen
des Textes gelangen will. Dieses Selbstverständnis des Autors, - und dessen
Verstehen faßt die existentiale Interpretation ins Auge, - ist "die Art und
Weise, ,in welcher ein Mensch (der Autor) das Sein austrägt" t, is t das Exi-
stential, von dem die Interpretation ihren Namen hat. Mit dem Wort Selbst
verständnis is t "ein Urteil (gemeint), das der Mensch über sich selbst fällt
oder erwartet" 2• Wir können jedoch nicht sagen, daß das Verstehen ein Existential ist wie Sorge und Angst, vielmehr kommt in der Sorge, Angst, Freude
oder Geborgenheit das Urteil über sich selbst zum Ausdruck, das Verstehen
der eigenen Existenz. Es wäre darum besser zu formulieren: Selbstverständ-
nis ist der gleiche Begriff wie Existential, ein Synonym dieses Begriffes.
Diese Interpretation wandte Rudolf Bultmann zuerst für das Neue Testa-
ment an. Er legte diese Interpretation in seinem Aufsatz "Neues Testament
llnd Mythologie" 1941 als Vollzug einer Entmythologisierung des Neuen
Testamentes vor und löste die bis heute nicht beendete Debatte über das her-
meneutische Problem aus. Praktisch angewandt wird diese Interpretation un-
reflektiert weithin auch da, wo man das Programm Bultmanns ablehnt, wo
man sich aber um eine existentielle Interpretation müht, d. h. um eine Inter-
pretation, die auf die gegenwärtige Existenz des Hörers bezogen ist.
Soweit durch diese Interpretation eine Entmythologisierung der neutesta-
mentlichen Texte erreicht werden soll, hat sie als ihren Gegenstand das Zeug-
ms der neutestamentlichen Autoren im weitesten Sinn dieses Wortes, sowohl
die Berichte und Predigten der ersten Zeugen wie die Aussagen der Evange-
listen und die Briefe der Apostel und deren Nachfolger. Sie benutzt dabei die
Ergebnisse der historisch kritischen wie der literatkritischen Forschung, da
es für sie wesentlich ist, den Autor der Aussage, die es zu interpretieren
* Zu den Aufsätzen von Ernst Fuchs in den beiden Bänden "Zum hermeneutischen
Problem in der Theologie", Tübingen 1959, 365 Seiten (zitiert als I) und "Zur Frag'<)nach dem historischen Jesus", Tübingen 1960 458 Seiten (zitiert al s II).
1 I, S. 92.2 I, S. 76.
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78 H. W. BARTSCH
gilt, zu kennen wie auch die Adressaten, die er anredet und die Umstände,
unter denen und auf die bezogen die Aussage getan wurde. Das in der Aus
sage sich bezeugende Verstehen der eigenen Existenz läßt sich umso besser
erheben, je besser ich den Autor sowie die Bedingungen seines Lebens und
das Interesse seiner Aussage kenne.
Welche Bedeutung die Ergebnisse der Forschung fiir diese Interpretation
haben, wird etwa deutlich an dem Unterschied der Interpretation der Pasto
ralbriefe, je nach dem sie als e c h ~ e Paulusbriefe oder als pseudonyme Schrei-
ben ausgelegt werden. Sehe ich in diesen Schreiben echte Paulusbriefe, sofällt mir nicht nur die Aufgabe zu, sie im Leben des Apostels zu fixieren und
die in den Briefen vorausgesetzten und ausgesprochenen Umstände wahr
scheinlich erscheinen zu lassen, es fällt mir die schwierigere Aufgabe zu, das
Verstehen der Existenz des Schreibers als das in detl echten Paulusbriefen
bezeugte, durch die Gnade Jesu Christi bestimmte Selbstverständnis ver
ständlich zu machen. Und hier wird es am deutlichsten sichtbar, daß in den
Pastoralbriefen ein anderer Paulus spricht als in den großen Briefen.
1. Timotheus 1, 13 gibt der Verfasser als Grund für die ihm widerfahrene
Gnade an: on ayvowv lno[fja EV amar:tq,. Nun kann Paulus zwar den U n ~glauben der Heiden 1. Thessalonicher 4, 5 mit ihrem Unwissen entschuldigen.Lukas läßt Paulus entsprechend auf dem Areopag Acta 17, 23. 30 argumen
tieren. Soweit Paulus aber von der Zeit seines Unglaubens spricht, tut er esniemals in dem Sinne einer Entschuldigung mit seinem Mangel an Wissen
sondern stets mit dem Ziel, die Größe der Gnade, die ihm widerfahren ist,
durch eine Betonung des Kontrastes zu unterstreichen, 1. Korinther 15, 10 3•In der Aussage des echten Paulus drückt sich ein Selbstverständnis aus, das
sich in ausschließlicher Abhängigkeit von der Gnade Gottes weiß unter eben
so vollständiger Verurteilung des gesamten eigenen Tuns. Gerade diesesVerstehen der eigenen Existenz läßt ihn aber für die Heiden die Entschuldi
gung suchen. Der Pseudopaulus praktiziert nunmehr das gleiche Verständnis
in seinem Schreiben. Weil Paulus für ihn aber nicht nur der verehrte Apostel
ist, von dem er sagt, daß ihm die Ehrenkrone beigelegt is t (2. Timotheus 4, 7 f.),
sondern vor allem ein anderer, dem gegenüber er das Gleiche zu praktizieren
hat, was Paulus anderen gegenüber praktizierte, nämlich die aus dem eigenen
Selbstverständnis erwachsene Demut, führt er für Paulus die vorherige Unwissenheit als Entschuldigungsgrund für den Unglauben an. Es ergibt sichdaraus die paradoxe Folgerung, daß diese Aussagen d ~ r Pastoralbriefe durch-aus das gleiche Selbstverständnis bezeugen wie die echten Paulusbriefe, wenn
man sie als unechte Paulusbriefe versteht, daß sie dagegen ein von dem
Selbstverständnis der echten Paulusbriefe entscheidend differierendes Selbst-verständnis bezeugen, wenn man sie als echte Briefe wrstehen will. Es würde
uns dann nämlich ein Paulus begegnen, der nun trotz aller Betonung der
Gnade dennoch in dem eigenen Unwissen einen Entschuldigungsgrund sieht
und diesen in Anspruch nimmt, sein Leben also nicht ausschließlich in Ab-
3 vgl. die weiteren Belege im Kommentar des Handbuches zum NT 3. Auflage vonDibelius/Conzelmann zur Stelle.
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DIE BEDEUTUNG DES ANWENDUNGSBEREICHES usw. 79
hängigkeit von der in Christus geschenkten Gnade versteht, sondern auchabhängig von der Entschuldbarkeit seiner Sünde.
Was an dieser einen Stelle sichtbar wird, gilt für die ganzen Briefe. Sie be
zeugen,- verstehen wir sie als pseudonyme Schreiben der Ketzerabwehr, -
wie die frühe Kirche im Zuge ihrer Konsolidierung in dieser Welt, sich um
die rechte Ordnung der Gemeinde müht. Wir haben dann nicht·nur das Selbstverständnis des Verfassers zu erheben sondern daneben auch das Selbstverständnis der Gemeinde, die sich diese Ordnungen zur Sicherung der eigenen
Existenz gegeben hat. Die alte Kontroverse zwischen Sohm und Harnack
über die Anfänge des Kirchenrechts und seine theologische Legitimität, da
mals am 1. 'Clemensbrief ausgetragen, wäre nicht nur an den Pastoralbriefen
zu überprüfen, sie könnte durch die Frage nach dem sich in der Erstellung
einer Gemeindeordnung als Rechtsbildung ausdrückenden Verstehen der
eigenen Existenzeine
befriedigendere Antwortfinden, als
die beiden Ge
lehrten sie geben konnten.
Es wird daraus ersichtlich, daß die existentiale Interprettation für das
Zeugnis der Urchristenheit zu einem besseren Verstehen der in diesem Zeug
nis enthaltenen Intentionen führt. Besonders eindrucksvoll erscheint bisheute der Vollzug solcher Interpretation, den Bultmann in seinem Aufsatz
für die Begriffe "Fleisch" und "Geist" bietet, die er als Begriffe für das
menschliche Sein außerhalb des Glaubens bzw. im Glauben auslegt 4• Außer
halb des Glaubens versteht der Mensch seine Existenz in Abhängigkeit vom
"Fleisch", d. h. von allem Verfügbaren. Sein Leben vollzieht sich darum
einerseits getragen von der Sorge, andrerseits im Rühmen als Zeichen für dasBewußtsein der Sicherheit. Im Glauben versteht der Mensch dagegen seineExistenz abhängig von dem, der über ihn verfügt und ihm in Jesus Christus
als der Gott begegnet, der die Sünde vergibt. Damit versteht er sich selbst
als befreit von der Vergangenheit, offen für die Zukunft. In dem Wandel desSelbstverständnisses vom ungläubigen zum gläubigen findet Bultmann das
Heilsgeschehen bezeugt, insofern dieser Wandel sich nur aufgrund der Be
gegnung mit Christus vollziehen kann. Er ist das Werk Christi. Nicht nur gibt
es faktisch dieses Selbstverständnis nicht anders als innerhalb des Glaubens,
vielmehr ist es da, wo es ohne .Christus ergriffen wird, als eigene Leistung
nicht mehr das, was das Neue Testament als christliches Seinsverständnis bezeugt. Wesentlich für die uns jetzt beschäftigende Frage is t jedoch vor allem,daß die existentiale Interpretation des Neuen Testamentes die neutestament
lichen Schriften als Zeugnisse von dem Wandel des Selbstverständnisses und
als soldzes als Zeugnisse vom Heilsgeschehen versteht. Vom Heilsgeschehenund damit von Jesus Christus zeugt das Neue Testament nur indirekt. Die
existentiale Interpretation kann dieses Zeugnis von Jesus Christus nur in
direkt zu Gehör bringen, indem sie den Wandel des Selbstverständnisses beze],lgt. Jedoch indem sie diesen Wandel des Selbstverständnisses als ein Ge
schehen am Menschen bezeugt, das dem Menschen widerfahren ist, bezeugt
sie damit zugleich dieses Heilsgeschehen als ein Geschehen extra nos. Damit
4 Kerygma und Mythos, I, 4. Aufi. 1960 S. 27 f und 29 f.
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80 H. W. BARTSCH
stellt sich aber die Frage nach dem Bereich, auf den diese Interpretations
methode anwendbar ist.
I I .Die zehn Gebote als Offenbarung Gottes lass.en sich nicht existential inter
pretieren, will man nicht von dem Selbstverständnis Gottes reden. Auch das
ist geschehen und erscheint durchaus sinnvoll, soweit die Theologie an der
Entwicklung einer Metaphysik interessiert ist. Dann ist jedoch Gott zumin-dest für den diese Metaphysik entwickelnden Theologen ein beschaubares
und damit verfügbares Objekt der Beschreibung. Soweit ich die zehn Gebote
als Anrede höre, die mich zum Gehorsam ruft, verstehe ich sie dagegen als
das Angebot eines Selbstverständnisses unter der Herrschaft Gottes. So istes sinnvoll, die Bezeugung der zehn Gebote Exodus 10 auf das sich in dieser
Bezeugung manifestierende Selbstverständnis des Volkes Israel hin zu inter
pretieren, und das wäre existentiale Interpretation des Alten Testamentes.
Nun is t es die Frage, was dies für die existentiale Interpretation-des Neuen
Testamentes bedeutet. Anders ausgedrückt ist es die Frage nach der Bedeu
tung des historischen Jesus bei der existentialen Interpretation des Neuen
Testamentes, die sich uns mit der Frage nach dem Bereich der Anwendbar
keit der existentialen Interpretation stellt. Man hat sich m. E. voreilig darum
bemüht, zu betonen, daß die existentiale Interpretation keineswegs eine Ab-
wertung der Bedeutung des historischen Jesus impliziert, obwohl es s e h ~ be-
stimmte Aussagen Bultmanns gibt, die zumindest einen Mangel an Interessean der Darstellung eines sogenannten historischen J esus bekunden. Für den
speziellen Komplex des Os.terglaubens, in dem allerdings als in seinem Kern
der christliche Glaube fixiert ist, schreibt Bultmann 5 : "Der christliche Oster
glaube is t an der historischen Frage nicht interessiert; für ihn bedeutet das
historische Ereignis der Entstehung des Osterglaubens wie für die ersten
Jünger die Selbstbekundung des Auferstandenen, die Tat Gottes, in der sichdas Heilsgeschehen des Kreuzes vollendet." Hier sagt Bultmann nicht nur,
daß er an der historischen Frage kein theologisches Interesse nimmt, er sagt
zugleich, worauf sich das theologische Interesse legitim richtet, auf die Frage
nach der Entstehung des Glaubens. Soweit die Forschung daran geht, dieEntstehung des Glaubens zu untersuchen, gehen das historische Interesse und
das Interesse des Glaubens parallel. So wäre das Interesse an dem sogenann·ten historischen Jesus nur dann theologisch legitim, soweit es auch dabei um
die Entstehung des Glaubens geht. Ist Jesus als der Christus, als der Auf
erstandene die Offenbarung Gottes, so kann ich ihm nur als der an mich er-
gehenden Anrede Gottes begegnen, aber nicht als verfügbarem Gegenstand
meiner Untersuchung. Das Desinteresse an dem sogenannten historischenJesus sollte als zur existentialen Interpretation des Neuen Testamentes ge-hörig angesichts einer Reihe fragwürdiger Bemühungen eines restaurierten
Historismus in der evangelischen Theologie festgestellt werden.
5 Kerygma und Mythos I, S. 47.
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DIE BEDI:UTUNG PES ANWENDUNGSBEREICHES usw. 81
Jedoch nicht nur theologisch is t dieses Desinteresse begründet, es hat einenebenso entscheidenden Grund in dem von der historischen Forschung zu er
hebenden Tatbestand. Es gibt keine Überlieferung von J esus, die etwas an
deres wäre als ein Zeugnis von seinem Herr-Sein. Die gesamte neutestament-
liche Überlieferung ist getragen und bestimmt von dem urchristlichen Bekenntnis: Gott is t Jesus (Römer 10, 9; Kolosser 1, 15) Diese Bindung an dasurchristliche Bekenntnis ist so eng, daß auch die kritische Unterscheidungzwischen beiden mit dem Ziel der Eruierung einer noch nicht von diesemGlauben bestimmten Überlieferung unmöglich ist. Wenn Fuchs aus Römer1, 3 f schließt, "daß es eine unmessianische oder besser vorapostolische, pro-phetische Tradition über Jesus gab, die erst mit der Verkündigung seiner Er-höhung den Glauben an ihn als an das Heilsgeschehen verband" 6, so is t aufjeden Fall in Frage zu stellen, daß diese Tradition für uns heute noch erkenn-bar ist. Die- frühe Christenheit bezeugt uns zwar eindeutig, daß ih r jetziges
Verständnis der Person Jesu erst durch die Erscheinungen des Auferstan-denen entstanden ist, sie bezeugt uns damit einen Wechsel des Verständnissesder Person J esu. Die Gemeinde bezeugt, was sie von J esus vor den Erscheinungen des Auferstandenen hielt in den Worten der Ernmausjünger Lukas24, 20 f. Aber selbst dieses Zeugnis, das als Sündenbekenntnis, nämlich Bekenntnis des eigenen Unglaubens zu verstehen ist, is t recht nur von der Begegnung mit dem Auferstandenen bzw. von der Verkündigung der ErhöhungChristi her zu verstehen. Uns bleibt also eine Überlieferung über Jesus, wiesie Fuchs annimmt, verschlossen, einerlei, ob wir annehmen, daß es sie gegeben hat, oder nicht. Es kann selbstverständlich angenommen werden, daßes eine vorapostolische Überlieferung über Jesus gegeben hat, so wie es eineTradition über den Täufer wie über andere Messiasprätendenten gegebenhat, von denen wir nichts mehr wissen. Aber wir können nicht einmal feststellen, ob diese vorapostolische Tradition über Jesus, wenn es sie gegebenhat, unmessianisch war; denn Lukas 24, 20 stellt dies um des Gegensatzeszu der die Gemeinde jetzt erfüllenden Hoffnung willen in diesem Sinne dar,kanri darum nicht als Beweis dienen.
Es geht damit letztlich um die Einschätzung der Bedeutung der: Auf-erstehung. Liegt der Ursprung des Glaubens hier, oder ist er im Leben Jesuzu suchen? Von Martin Kähler 7 her sehen wir in der Auferstehung den Ur-sprung des christlichen Glaubens, bzw. die Selbstbekundungen des Auferstan-denen sind der Ursprung des Osterglaubens der Jünger und von daher derurchristlichen Verkündigung. Demgegenüber mißt Fuchs dem Osterglaubenkeineswegs diese entscheidende Bedeutung beL In einer Auslegung von1. Korinther 15 sagt er: "V. 4 und 5 zeigen, daß Tod und Auferstehung Christioffenbar in einem früheren, wohl mit dem ältesten Glauben der Urgemeindeno'ch fast identischen Stadium der Formelbildung so ausgelegt wurden, daßnicht auf dem Zweck des Todes Christi, sondern auf seiner Auferstehung
8 I, S. 141.7 Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus. L Aufl.
1892, neu herausgegeben von Ernst Wolf, München 1953.8 I, S. 202.
6 Castelli
7/27/2019 Kerygma Und Mythos, Bd. 6,1. Entmythologisierung und existentiale Interpretation (ThF 30, 1963, 250pp)
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82 H. W. BARTSCH
von den Toten der Ton lag; vgl. etwa Röm. 8, 34 mit Röm. 1, 4. Diese ältere
Formulierung dürfte den Sinn gehabt haben, das Ereignis der Auferstehung
der Toten, als Gottes Gericht bzw. den Tag des Herrn und damit die Gottes
herrschaft als in Jesu Auferstehung nahe herbeigekommen anzuzeigen." b
Zu dieser Analyse der ältesten Auferstehungsperikope, die durchaus richtigerscheint, sagt Fuchs in einer Anmerkung: "Ich halte das für eine Umbiegung
der Verkündigung und des Glaubens Jesu ins Apokalyptische, für einen
schmählichen Rückfall ehemaliger Johannesjünger, zumal des Sirnon Jona's
Sohn." Der unentwegte Verfechter der existentialen Interpretation unterläßt
es hier aber, dieses Zeugnis der Urchristenheit- und sei es ein schmählicherRückfall des Sirnon- existential zu interpretieren, um durch die so interpre
tierte urchristliche Verkündigung das Zeugnis der Urchristenheit von dem
Grund und Ursprung ihres Glaubens zu erheben. Er rekurriert vielmehr auf
die Verkündigung Jesu, die nicht apokalyptisch war und auf den Glauben
Jesu.
III.
Damit sind wir bei der entscheidenden Frage nach dem Bereich von Aus
sagen, der für die existentiale Interpretation innerhalb der evangelischen
Theologie anzunehmen ist. Fuchs bezieht in diesen Bereich von Aussagen
das ein, was er die Verkündigung Jesu nennt. Er meint damit einen Komplex
von Aussagen, die als Aussagen des historischen Jesu gelten dürfen. Nun is t
es ganz gewiß trotz der Vorbehalte, die wir betont haben, legitim, sich ein
Bild von dem zu machen, was Verkündigung Jesu genannt werden darf. Aber
es ist nicht nur theologisch illegitim, sondern is t wissenschaftlich eine Illusion, diese Verkündigung Jesu unabhängig vom Glaubenszeugnis der Ur
christenheit in den Griff bekommen zu wollen, wie f'uchs dies in der Aus
legung der Auferstehungsperikope unternimmt. Aber auch das Reden von dem
Glauben Jesu, der Theologie Jesu, Jesu Zeitverständnis u. ä. is t gerade in der
Häufung dieser Begriffe zumindest verdächtig. Fuchs kann so nur reden, weiler Glaube, Verkündigung und Theologie Jesu meint eindeutig und unabhängig
vom Glaubenszeugnis der Urchristenheit erheben zu können, und er meint
darum gar, diesen Glauben usw. Jesu im Gegensatz zur Theologie der Ur
christenheit darstellen zu können: "So wurde gleich die Verkündigung Jesu
für das Neue Testament nur indirekt zum theologischen Problem, weil das
Neue Testament die Theologie Jesu nicht mehr weiterdenken konnte. Das
Neue Testament konnte die Theologie Jesu nur noch verändern, und das hates auch r e i c h l ~ c h getan." 9 · . ·
Wir ~ r a g e n jetzt nicht nach dem Recht und der Möglichkeit dieser Aus
sage, wir fragen vielmehr nach der Bedeutung und. den Konsequenzen dieser
Aussage. Zunächst ist damit sowohl Jesu Theologie ·Und Verkündigung wiedie Verkündigung und Theologie der Urchristenheit als etwas Verfügbares
verstanden.- Fuchs beurteilt ja das Verfahren der neutestamentlichen Zeugen
mit Jesu Theologie als ein Verfügen über diese Theologie. Jesu Theologie
gerät für Fuchs in eine seltsame Parallelität zu der Theologie des Jesaja
D I, s. 139.
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DIE BEDEUTUNG DES ANWENDUNGSBEREICHES usw. 83
einerseits und des Paulus andrerseits. Fuchs selbst kommt dadurch in eine
seltsame Bundesgenossenschaft mit seinem bisher schärfsten Kontrahenten
Ethelbert Stauffer. Im Grunde ist die Fragestellung Fuchs' keine andere als
die Stauffe.rs: "Ist die Christusbotschaft der Urkirche eine Bezeugung oder
Verfälschung Jesu von Nazareth, seiner Gestalt, Geschichte und Botschaft?" 10 Wie Fuchs die urchristliche Botschaft als einen schmählichen
Rückfall ehemaliger Johannes.jünger abwertet, wertet Stauffer sie als Verfälschung des Heidenapostels Paulus ab. Neben Stauffer tritt dann noch
E. Barnikol, der mit unerschütterter Intensität sich darum müht, den histori
schen Jesus von der Verfälschung durch den Messias-Dogmatiker Markus zu
reinigen 11• Mit anderen Worten: Fuchs proklamiert eine Rückkehr zur alten
Aufgabe der Leben-Jesu-Forschung, wie s.ie im 19. Jahrhundert gesehen
wurde: "So bleibt uns nichts anderes übrig, als daß wir uns selbst auch einBild von dem machen, was man im 19. Jahrhundert das Leben Jesu
nannte." 12 Fuchs unterscheidet sich von den modernen Propagandisten desLebens Jesu lediglich durch die Anwendung der existentialen Interpretation
und die Benutzung der formgeschichtlichen Methode. Aber bedeutet das
wirklich noch einen Unterschied? Ist es etwas anderes, ob ich vom Selbstbewußtsein usw. Jesu rede, oder ob ich von Jesu Selbstverständnis, Glauben,
Gotteserkenntnis, Theologie usw. rede? Auf jeden Fall ist es kein grund
sätzlicher Unterschied. Vielmehr unterscheiden sich Fuchs, Stauffer und
Barnikol von der an Martin Kähler anknüpfenden Theologie, wie wir sieauch in Bultmanns Theologie des NT vertreten finden, dadurch, daß Fuchs
den urchristlichen Glauben bei dem historischen Jesus einsetzen läßt, wäh
rend wir im Gefolge von Martin Kähler und Rudolf Bultmann meinen, daß
der Glaube als Osterglaube begonnen hat und darum bei den Erscheinungen
des Auferstandenen einsetzt. Es is t nach Fuchs nicht der Auferstandene, der
den Hingern den Glauben geschenkt hat. "Weil er (Jesus) für sie (die J ü n g e r ~an die Stelle Gottes trat, um sie an die Gottesherrschaft zu weisen," formu
liert Fuchs in einer ausführlichen Kritik des Jesus-Buches von Günther Born
kamm, "deshalb konnten sie an s e in e m S c h i c k s a. I d i e G 1 a u b e n s -p r ob e e r f a h 1 e n , die er ihnen mit seiner Weisung in die Nachfolge auf
erlegt hatte. S e i n e H i n r i c h t u n g z w a n g d i e J ü n g e r z u r S t e I -1 u n g n a h m e g e g e n ü b e r s e i n e r P e r s o n. Sie glaubten nun an
ihn, weil sie, .gewiß mit Hilfe der Osterereignisse, sein Kreuz als Gottes Ge
richt über die Verfolger und ihre Welt und Jesu Ruf als den Ruf der Zukunft
selbst auffaßten 13 • Von daher wird verständlich, was Fuchs meinte, wenn er
von Jesus als dem Grund und Vorbild der Hoffnung 14, oder als. dem Urbild
der Zukunft 15 sprach.
· 1o Theologische Lit. Ztg. 1959, Spalte 644, dazu jetzt neuerdings E. Staliffers Ant
wort auf einen offenen Brief seiner Erlanger Kollegen P. Althaus, W. Künneth und
.w. Joest, Ev. Luth. Kirchenzeitung 14/1960, S. 263-265, und das Buch: Die Botschaft
Jesu, damals und heute, Bern 1959.u Ernst Barnikol: Das Leben Jesu der Heilsgeschichte, Halle 1959 besonders S. 290 ff.12 II , S. 37.
1s II, S. 216 (Sperrungen von mir).14 I, S. 86.
s•
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84 H. W. BARTSCH
So kann Fuchs nur reden, weil er J esus existential interpretiert, und mit demRecht der Anwendung der existentialen Interpretation auf Jesus steht undfällt die von Fuchs vertretene Theologie. Einerseits wird die Anwendungauf J esus stets unter der Kritik stehen, daß es unmöglich ist, ein derartexaktes Bild von Jesu Theologie und Verkündigung zu gewinnen, daß eine
existentiale Interpretation sich darauf begründen könnte. Und es sei indiesem Zusammenhang betont, daß die existentiale Interpretation einesWortes Jesus etwas ganz Anderes ergibt, wenn ich es als ips.issimum verbumJesu nehme, als wenn ich seine Überlieferung als Wort Jesu durch die ur-christliche Gemeinde existential interpretiere. Wir hatten Entsprechendesfür die als pseudopaulinisch geltenden Pastoralbriefe festgestellt. Ist beidesaber in seinem Ergebnis unterschiedlich, so ist die Interpretation, die einWort Jesu auf das in dieser Überlieferung des Wortes als Jesuswort sich aus-sprechende Selbstverständnis der Gemeinde hin interpretiert, dem urchrist-lichen Zeugnis konform. Der Interpret versteht das Jesuswort in dies.em Fallin der Nachfolge der ersten Gemeinde. Es erscheint darum eine derartigeexistentiale Interpretion des urchristlichen Zeugnisses als dem christlichenGlauben angemessen. Die existentiale Interpretation Jesu dagegen befindet
sich in bewußter und betonter Distanz zu dem urchristlichen Zeugnis, _er-
scheint als betont nichtchristliche Interpretation. Dies wird vollends deut-lich, wenn eine solche existentiale Interpretation J esu zur existentiellen Ver-
kündigung ausgezogen wird. Wie die Jünger durch Jesu Hinrichtung zur Stel-lungnahme gegenüber seiner Person gezwungen wurden, wird dann der heu-
tigeHörer zur Stellungnahme
gezwungen,zur Entscheidung gerufen. Er
istgefragt, ob er die Entscheidung Jesu nachvollziehen, den Glauben Jesu alsden eigenen übernehmen will. In der existentiellen Verkündigung wird es
vollends deutlich, daß J esus lediglich als Vorbild und Urbild verstanden ist.Damit ist aber ein christliches Seinsverständnis ohne Christus die letzteKonsequenz der Anwendung der existentialen Interpretation auf den histo-rischen Jesus. Was Bultmann in seinem berühmten Aufsatz zurückweist, er-
scheint bei Fuchs als notwendige Konsequenz, "daß im Neuen Testament nurein Seinsverständnis erstmalig entdeckt und mehr oder weniger klar aus-gesprochen ist" 16 , nämlich in Jesus, in seinem Glauben vorbildlich und ur-
bildlich begegnet . Und an Fuchs is t die gleiche Frage zu richten, die Bultmannan die Philosophie richtet: "ob die Natur des Menschen verwirklicht werdenkann, d. h. ob der Mensch dadurch, daß ihm gezeigt wird (bzw. er sich daraufbesinnt), was seine Natur eigentlich ist, schon zu sich selbst gebracht wird" 17 •
Bultmann beantwortet die Frage damit, daß das Neue Testament behauptet,"daß sich der Mensch von seiner faktischen Weltverfallenheit gar nicht frei-machen kann, sondern durch eine Tat Gottes freigemacht wird." 18 Diese TatGottes is t aber das Heilsgeschehen, das Christusgeschehen, sind die Selbstbe-kundungen des Auferstandenen, is t die Weckung des Osterglaubens. Auch
11 I, S. 86.18 Kerygma und Mythos 14 S. 32.17 a. a. 0. S. 35.
7/27/2019 Kerygma Und Mythos, Bd. 6,1. Entmythologisierung und existentiale Interpretation (ThF 30, 1963, 250pp)
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DIE BEDEUTUNG DES ANWENDUNGSBEREICHES usw. 85
Fuchsspricht vom Tun Gottes. Er nennt den historischenJesus als die entschei-
dende Hilfe zum Verstehen der neutestamentlichen Texte. "Dann erschließtsich uns, wie uns Gott auf diesem Wege begegnet, nämlich auf die Art, wie Gott
auf dem Wege Jesu diesem begegnete. Und da geschieht's, daß nun Go t t
se I b er e i ng r e i f t , so daß wir verstehen, wie Gott auf dem Wege Jesu
eingegriffen hat." 19 Nun wird es auch verständlich, warum Fuchs auf den
historischen Jesus rekurriert. Am historischen Jesus kann paradigmatisch ab-gelesen werden, wie Gott eingreift. Aber ein Zeugnis vom Handeln Gottes
an uns durch Jesus, den Christus, kennt Fuchs nicht, zumindest nicht so, wiees die Urchristenheit bezeugt: Wenn ich durch den Finger Gottes die Dä-
monen austreibe, ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen! (Lukas 11, 20)Dann hat aber auch die existentiale Interpretation des urchristlichen Zeug-
nisses nicht mehr das gleiche Ergebnis, wenn ich auch Jesus existential inter-
pretiere. Das neue Selbstverständnis ist nicht mehr das von Christus ge-
schenkte, sondern das in der Nachfolge Jesu ergriffene.
Endlich wird bei einer solchen existentialen Interpretation Jesu der Ansatz
der formgeschichtlichen Forschungsmethode verlass.en. W. Wrede erkannte
als Erster, daß die Evangelien überfragt sind, wenn sie besagen sollen, was
wirklich gewes.en ist. Wrede ließ das Ziel nicht fahren, etwas über die histo-
rischen Zusammenhänge des Lebens J esu zu erfahren, aber er ging einen
anderen Weg, er wählte einen Umweg, weil er erkannte, daß der direkte Weg
versperrt war. Er befragte die Evangelien nach dem, was sie über die ersten
Zeugen aussagten. Im Verfolg dieser Ansätze Wredes erwuchs dann die
formgeschichtlicheMethode.
Siehat ih r
Rechtaufgrund der Angemessenheit
der Fragestellung. Es ist bisher noch nicht nachgewiesen, daß die ersten Zeu-
gen bis zu den Evangelisten etwas anderes als das Ziel ihrer Aussagen haben
als die Verkündigung, daß Jesus der Christus ist. Werden diese Aussagen
daraufhin interpretiert, daß die existentielle Verkündigung, daß Jesus. der
Christus ist, als Angebot einer neuen Möglichkeit des Selbstverständnisses
das Ergebnis ist, wird der Ansatz der formgeschichtlichen Forschungsmethode
durchgehalten und theologisch fruchtbar weitergeführt. Wird dagegen J esus
existential interpretiert, wird die existentiale Interpretation zu einem Mittel,
das von der Hermeneutik des vorigen Jahrhunderts vtrwandt wird, um die
Verkündigung J esu zu reproduzieren.Es ergibt sich daraus, daß bei der existentialen Interpretation der Bereich
der Anwendung von entscheidender Bedeutung ist. Anders ausgedrückt: beider urchristlichen Botschaft sind nicht zuerst die hermeneutische Methode bzw.die Mittel, die sie verwendet, maßgebend, sondern der Ansatzpunkt, von dem
her das Verstehen gesucht wird. Dieser Ansatzpunkt ist für die existentiale
Interpretation im Gefolge der formgeschichtlichen Methode der urchrist-
liche Zeuge. Der Interpretierende ist daran gebunden, stets diesen Zeugen
zu befragen, sein Ziel kann allein sein, diesen Zeugen recht zu verstehen und
allein damit und allein für diesen Zeugen Jesus Christus als den, der das
18 ebenda.19 I, S. 98 (Sperrungen von mir).
7/27/2019 Kerygma Und Mythos, Bd. 6,1. Entmythologisierung und existentiale Interpretation (ThF 30, 1963, 250pp)
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86 H. W. BARTSCH
neue Selbstverständnis nicht vorbildlich oder urbildlieh vorgelebt hat, sondern der dieses neue Selbstverständnis ermöglicht hat. In Jesus ist nicht, wieFuchs sagt, der Glaube Sprachereignis geworden, es reicht auch nicht aus,von dem Ereignis der Liebe zu sprechen, das in- J esus einsetzt und sich in
der Verkündigung fortsetzt, sondern durch Jesus ist das Selbstverständnisdes Glaubens ermöglicht worden. Weil es sich dabei um ein Geschehen han-
delt, das ohne Zutun des Glaubenden an ihm geschehen ist, - extra nos -ist die existentiale Interpretation daran gebunden, allein für das Verstehen
des Zeugnisses verwandt zu werden.
7/27/2019 Kerygma Und Mythos, Bd. 6,1. Entmythologisierung und existentiale Interpretation (ThF 30, 1963, 250pp)
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SELBSTVERSTÄNDNIS ALS HERMENEUTISCHES PRINZIPDER "EXISTENZIALEN INTERPRETATION"
Helmut Fahrenbach
Rudolf Bultmann sieht den methodisch und sachlich positiven Sinn derEntmythologisierung im Vollzug der existenzialen Interpretation mythischen
Seinsverständnisses. Entmythologisierung und existenziale Interpretationsind jedoch nicht zwei aufeinander folgende Bewegungen, etwa in dem Sinne,
als sei die Entmythologisierung durch das moderne wissenschaftliche Welt-bild gefordert J.Ind die existenziale Interpretation dann der Versuch, aus derKritik des mythologischen Weltbildes doch noch etwas für das Existenzver-ständnis zu retten; sondern die Entmythologisierung vollzieht sich als exi-stenziale Interpretation und d. h.: das kritische Moment in der Entmytho-logisierung bestimmt sich aus dem Prinzip der existenzialen Interpretationund primär nicht aus dem wissenschaftlichen Weltbild. Dieses fällt vielmehrin bestimmter Hinsicht selbst unter den kritischen Aspekt existenzialer Inter-
pretation und wird zu einer kritischen Instanz in der Entmythologisierungerst dadurch, daß bestimmte mythologische Aussagen und Vorstellungsweisenfür uns in den Bereich der Wissenschaft fallen und damit allerdings auch derwissenschaftlichen Kritik verfallen. Die Frage is t jedoch, ob der Sinn des
mythischen Daseinsverständnisses von ihm selbst her überhaupt im Bereichder wissenschaftlichen Weltvorstellung steht. Die existenziale Interpretationantwortet hier: positiv Nein und kritisch Ja. Nein, sofern es der mythischenErfahrung um Existenzverständnis aus der Gegenwart des Göttlichen geht;Ja , sofern dieses Existenzverständnis sich mythologisch in gegenständlicherFeststellung objektiviert, wodurch menschliches Dasein und göttliches Sein
wie ein Bestand in der Welt vorgestellt werden. - F ü r unsere Fragestellungis t zunächst das Entscheidende, daß die Kritik am mythologischen u n dwissenschaftlichen Vorstellen der Existenz vom Prinzip der existenzialenInterpretation aus entworfen wird. Will man also in die Grundsatzfragender Entmythologisierung gelangen, dann muß man sich offensichtlich auf eineErörterung des Prinzips der existenzialen Interpretation einlassen.
Der Begriff der existenzialen Interpretation entstammt bekanntlich derExistenzialontologie Heideggers und bezeichnet (in "Sein und Zeit") die Me-thode der ontologischen Auslegung (menschlichen) Daseins aus der Seins-struktur der Existenzialität und auf diese hin, dergemäß der Mensch nicht
in der Weise eines gegenständlich bestimmten und eigenschaftlieh bestimm-baren Bestandes in der Welt vorhanden ist, sondern als ein faktisches Sein-können sich verstehend auf seine Möglichkeit hin entwirft, d. h. geschichtlichexistiert und darin sich selbst bestimmt bzw. seine Bestimmtheit übernimmt.
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88 HELMUT FAHRENBACH
Bultmann bezieht diese ontologische Auslegung der Existenz, die selbst
im Verstehendsein des Daseins ihre Einheit hat, in seine hermeneutische
Fragestellung ein und verwandelt dadurch den Begriff der existenzialen In
terpretation. Denn bei Bultmann bezeichnet existenziale Interpretation nicht
selbst eine Methode ontologisch-formalisierter Daseinsauslegung, sondern
die methodische Hinsicht einer. existenzialontologisd1 begründeten Herme
neutik existenzieller Möglichkeiten. Sie will geschichtliche Aussagen "auf
das in ihnen liegende Existenzverständnis hin" interpretieren. Und Existenzverständnis meint hier primär das existenziell vollzogene Sich
verstehen und Sich-auslegen geschichtlicher Existenz - wenn darin auchimmer bestimmte ontologische (existenziale) Einstellungen mitgesetzt sind.
Daß Bultmann gleichwohl mit Recht von existenzialer und nicht existenziellerInterpretation spricht, ergibt sich aus dem allgemeinen methodischen Cha
rakter existenzial begründeter Interpretationsweise. Existenzielle "Interpre
tation" (besser: existenzielles Verstehen) kann der Existierende je nur für
sich selbst in der Entscheidung seines Sich-verstehens vollziehen. Existenziale
Interpretation will den Text auf die Möglichkeit solcher Entscheidung hin
auslegen, ist aber nicht selbst ih r Vollzug. Unmißverständlicher wäre esallerdings, wenn Bultmann nicht einfach von existenzialer Interpretation,
sondern von existenzial begründeter Interpretation sprechen würde.
Wie kommt Bultmann nun zu dieser Forderung existenzialer Interpre
tation mit all ihren kritischen Folgen, und was liegt diesem Ansatz prin
zipiell zugrunde? Man muß diese Fragen stellen, weil die Methode der
existenzialen Interpretation selbst einen prinzipiellen Anspruch stellt. Denn
sie versteht sich nicht etwa bloß als eine mögliche Fragestellung unter an
deren prinzipiell (!) gleichrangigen, sondern als die, in der die eigentlicheDimension geschichtlicher Existenz und geschichtlichen Verstehens in
Frage steht. Wieso?
Bultmann antwortet hier zunächst als Exeget des Neuen Testamentes,
indem er sagt: "Ich darf nun, meine ich, voraussetzen, daß die der Bibelgegenüber angemessene - wenigstens im Raume der Kirche angemessene -Frage, die nach der menschlichen Existenz ist, - eine Frage, zu der ich durchdie mich existenziell bewegende Frage nach der eigenen Existenz getrieben
werde. Das is t doch eine Frage, die im Grunde die Befragung und Interpre
tation historischer Dokumente überhaupt motiviert; denn der letzte Sinn
des Studiums der Geschichte ist doch der, aus ih r die Möglichkeiten des Ver
ständnisses menschlicher Existenz zum Bewußtsein zu bringen" (Kerygma
und Mythos II, 191). Das Einzigartige der biblischen Botschaft ist nun, daß
sie mir nicht nur "eine Möglichkeit, meine Existenz zu verstehen z e i g t ,für die ich mich entscheiden oder die ich abweisen kann, sondern daß siedarüber hinaus zu dem mich persönlich anredenden Worte wird, das mir
Existenz s c henk t " (a. a. 0. 191), und in dessen Annahme der Glaube
geschieht.
Mit dieser Bestimmung der hermeneutischen Fragestellung steht Bultmanneindeutig in der Konsequenz der Forderung Kierkegaards, das Christentum
als "Existenzmitteilung" auszulegen und auf die Problematik der mensch-
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SELBSTVERSTÄNDNIS ALS HERMENEUTISCHES PRINZIP 89
liehen Existenz zu beziehen, um den existenziellen Sinn und Anspruch derchristlichen Verkündigung gegen alle spekulative oder wissenschaftliche Ver-fiüchtigung ins Objektive zur Geltung zu bringen. Bultmann scheint mir unterden gegenwärtigen Theologen streng genommen der einzige zu sein, der auf
der Linie Kierkegaards konsequent weitergedacht und von der Auslegungdes Christentums als Existenzmitteilung her auch die kritischen Konsequen
zen für die kirchliche Lehre gezogen hat. Und darum läßt sich Bultmannssystematische Konzeption mitsamt ihren philosophi;,chen Voraussetzungenm. E. viel eindeutiger auf Kierkegaard als auf Heidegger beziehen, zumalBultmanns Intention nicht in der Richtung der Heideggers.chen Seinsfrage,sondern wesentlich in der Richtung der Kierkegaardschen Existenzfrage steht.Die Weise, wie Kierkegaard die christliche Verkündigung auslegt, läßt sichdurchaus als "existenziale Interpretation" im Sinne Bultmanns bezeichnen,und insofern hat auch Kierkegaard bereits prinzipiell entmythologisiert,ohne allerdings die kritische Konsequenz für die dogmatischen Lehrstückedaraus zu ziehen. Indem er den · Sinn der christlichen Offenbarung als
Existenzmitteilung bestimmte, wurde ihre "Objektivität" aus dem Bereichdes spekulativen oder historischen Wissens (der "Lehre") heraus.geholt undals solche kritisiert, jedoch im Horizont der Existenzmitteilung als Ausdruckder paradoxen Struktur christlicher Existenz verwandelt zur Geltung ge-bracht. In Kierkegaards zeitgeschichtlicher Situation l.onnte der Akzent zudem nicht auf die Kritik der biblischen Vorstellungswelt fallen, weil es. gegen
deren idealistische Auslegung überhaupt erst wieder die Dimension derexistenziellen Aneignung zu gewinnen galt.
Wir können hier die sachlichen Beziehungen zwischen Bultmann undKierkegaard nicht weiter verfolgen, obwohl es noch eJne Reihe wesentlicher
Beziehungen gibt (etwa in der Bestimmung des Geschichtsbegriffes und vorallem des Offenbarungsfaktums) 1, sondern wir müssen fragen, durch welcheprinzipielle Struktur Kierkegaards und Bultmanns hermeneutischer Ansatzbei existenzdialektischer bzw. existenzialer Interpretation bestimmt ist.
Kierkegaard sagt: bei einer Existenzmitteilung kommt es darauf an, "inih r zu existieren" und nicht, sie als eine objektive Mitteilung über etwas
(Existenz) "verstehen" zu wollen. Es gilt vielmehr zu sehen, daß man sie so
gerade n i c h t versteht, sofern sie im objektiven "Verstehen" in ein gegen-ständliches Verhältnis abgesetzt und damit ihres gegenwärtigen Anspruchsauf Existenzwirklichkeit und d. h. ihres Sinnes als Existenzmitteilung be-raubt wird. Nun ist damit aber nicht etwa das Verstehen überhaupt aus demExistieren bzw. aus dem Existieren in einer Existenzmitteilung entfernt,sondern nur eine dem Existenzverhältnis zur Wahrheit prinzipiell unangemessene, ja es aufhebende Weise des Verstehens. In einer Existenzmitteilung existieren bedeutet vielmehr "sich selbst existierend in ihr verstehen"
1 Nähere Hinweise habe ich (für Kierkegaard) in "Kierkegaard-Auslegung", Bei
heft 3 der Philos. Rundschau 1962, bes. S. 14 fl.; und (für Bultmann) in: "PhilosophischeExistenzerheBung und theologische Existenzmitteilung" Theol. Rundschau 1956/57bes. S. 105 fl . gegeben.
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90 HELMUT FAHRENBACH
bzw. sie (die Existenzmitteilung) in Existenz verstehen. Nur so wird
sie als Existenzmitteilung verstanden und in ihrer Bedeutsamkeit für Existenz angeeignet. Denn sich selbst in Existenz v e r s t ~ h e n is t das Grundpro
blem menschlichen Daseins und als solches bestimmend für den Veistehens
sinn aller Existenzverhältnisse 1• Das heißt: durch oiese Formel wird der
hermeneutische Horizont bestimmt, der für alles Seinsverstehen des existierenden Menschen als solchen maßgebend ist.
In analoger Weise orientiert nun auch Bultmann die existenziale Inter
pretation am Begriff des Existenzverständnisses bzw. des existenziellen
Selbstverständnisses, das in den jeweiligen Texten sich ausspricht und um
dessen Auslegung es geht, weil hier gleichsam der KommuniKationspunkt
für das gegenwärtige Verstehen liegt. "Denn etwas verstehen, heißt, es in
seinem Bezuge auf sich, den Verstehenden, verstehen, sich mit oder in ihm
verstehen" (Glauben und Verstehen I, .295 f). Das schließt für Bultmann- wie
für Kierkegaard - theologisch die kri tische These ein, daß es in der christ
lichen Offenbarung nicht um die "Mitteilung von Lehren", sondern um das
als Kerygma "in die konkrete Existenz" redende Wort Gottes· geht, dem
der Mensch nur dann "glaubt", wenn er sich in den Situationen seines Da
seins aus ihm versteht. So ist der Glaube das existenzielle Sichverstehen im
Wort Gottes, und nur sofern er das ist, entspricht er dem Wort der Offenbarung (a. a. 0. 297). Wenn das so ist, dann muß die hermeneutische Maxime
der Exegese in der Tat sein", die theologischen Gedanken des N. T . . . . als
Explikation des glaubenden Selbstverständnisses" zu interpretieren, um siedadurch als eine Möglichkeit des Existenzverständnisses sichtbar zu machen,in deren Zuspruch auch der gegenwärtige Mensch steht (N. T. Theologie,
580 f). Das ist der Sinn existenzialer Interpretation. Es geht in ihr nicht ein
fach um historische Feststellung, sondern um geschichtliche Vergegenwärti
gung.
So sehr nun auch diese Beziehung auf das existenzielle Selbstverständnis
(bei Kierkegaard und Bultmann) m. E. durch den Anspruch der christlichen
Verkündigung selbst legitimiert und damit theologis.ch begründet ist, solassen die kritischen Konsequenzen, die dieser Ansatz vor allem bei Bult
mann gezeitigt hat, doch immer wieder die Frage entspringen, ob hier nicht
eine prinzipielle Reduktion des Inhaltes der christlichen Offenbarung wieauch des Sinnes von Verstehen überhaupt vorliege. Wird hier nicht - so
lauten die Fragen - der universale Gehalt der christlichen Offenbarung
auf das eingeengt, was im bzw. als existenzielles Selbstverständnis. reali
siert bzw. "angeeignet" werden kann und was darüber hinaus liegt, der
Kritik preisgegeben? Oder: wiederholt sich hier nicht gar, wenn auch in theo
logischem Gewande, Feuerbachs Reduktion der Theologie auf die Anthro
pologie? Und steht die ganze Orientierung der existenzialen Interpretation
am Begriff des Selbstverständnisses nicht im Horizont des neuzeitlichen Den-
1 "Sich selbst verstehen ist doch wohl eine absolute Bedingung für alles andere
Verständnis" (Kierkegaard, Unwissenschaftliche Nachschrift II, S. 10; vgl. I, 220,225 Schrempf). Wir können diese fü r die hermeneutische Struktur von Kierkegaards
Existenzdialektik entscheidende! Bestimmung hier nicht näher auseinandederlegen.
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SELBSTVERSTÄNDNIS ALS HERMENEUTISCHES PRINZIP 91
kens aus dem Prinzip des Selbstbewußtseins, dessen Fragwürdigkeit unsgegenwärtig doch immer mehr zum Bewußtsein kommt?
Es kann nicht bestritten werden, daß hier echte Fragen vorliegen. Sie
nötigen aber zunächst nur dazu, den hermeneutischen Horizont der existen
zialen Interpretation genauer zu bestimmen. Erst dann kann die Positionsichtbar werden, von der aus Bultmann und Kierkegaard sich diesen Fragenstellen.
Ich expliziere zunächst kurz am Gegensatz zu Feuerbach. Bultmann selbsthat immer wieder auf den wesentlichen Zusammenhang von Theologie undAnthropologie hingewiesen, in dem Sinne, daß sich theologisch von Gott nurreden lasse, indem (zugleich) von der durch die Wirklichkeit Gottes bestimmten Existenz des Menschen geredet werde (Glauben und Verstehen I, 28 ff).
Und Bultmann hat auch nichts gegen die Bezeichnung der existenzialenInterpretation als einer "anthropologischen" einzuwenden, wenn Anthropologie hier nur existenzial verstanden wird (Kerygma und Mythos II, 184).
Feuerbach seinerseits würde in Bultmanns Theologie zweifellos die Bestätigung seiner These sehen, daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologiesei, und daß. die protestantische Theologie das Geheimnis schon fast entdeckt habe, indem es ihr einzig noch um Gottes Sein für den Menschen unddamit im Grunde u m den Menschen gehe. Feuerbachs anthropologische Erklärung des Christentums und der Religion überhaupt ist aber von Bultmanns existenzialer Interpretation prinzipiell getrennt. Denn Feuerbach versteht sein Unternehmen als die genetisch-kritische Reduktion der religiösen
bzw. christlichen Vorstellungen auf ihre anthropologischen Elemente, derenreale Differenzen im religiösen Bewußtsein lediglich zu einem Jenseits vergegenständlicht worden sind. Die Wahrheit der Religion liegt für Feuerbachdarin, daß sich in ihr der Mensch sein Wesen gegenständlich (bewußt) macht,und die Unwahrheit, daß das religiöse Bewußtsein sich dieses Wesen als eineandere, vollkommene Exis.tenz entgegensetzt (Gott) und nicht durchschaut,daß hier nur eine Selbstvergegenständlichung des Menschen in der Differenzvon Gattungs- und Individualbewußtsein vorliegt. Die Theologie (und spekulative Philosophie) auf Anthropologie reduzieren bedeutet dann, denRealitätscharakter aller theologischen (bzw. transzendenten) Bestimmungen
als solchen negieren, indem diese auf die zugrundeliegenden und alleinempirisch ausweisbaren anthropologischen Realitäten zurückgeführt werden. Es, ließe sich leicht zeigen, wie diese ganze ontische Reduktion ausFeuerbachs fragwürdigem Bewußtseins- und Gegenstandsbegriff im Zusammenhang seiner sensualistischen Anthropologie entspringt. Wir können das
hier jedoch nicht weiter verfolgen. Bultmann is t jedenfalls völlig im Recht,wenn er sich von einer solchen "objektivierenden Anthropologie" distanziert und damit auch den darin implizierten Bewußtseinsbegriff ablehnt(Glauben und Verstehen II, 234).
Die prinzipielle Differenz liegt also darin, daß Feuerbach die in theologi
scher Aussage (bzw. religiöser Vorstellung) gemeinte Realität ontisch auf dasSelbstbewußtsein des Menschen reduziert und diesen als ein durch seine"Wesenskräfte" objektiv bestimmtes Seiendes versteht, das als Bewußtsein
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in allem Gegenstandsverhältnis sich selbst gegenständlich ist. - Das reli
giöse Gegenstandsbewußtsein nun is t - im Unterschied zum sinnlichen - ·reine Selbstvergegenständlichung des Menschen und sonst nichts, weil diein ihm gemeinte Gegenständlichkeit sich garnicht als selbständig seiend er
weisen läßt. Für Bultmann (und Kierkegaard) dagegen ist diese ganze
Hinsicht bereits anthropologisch verfehlt, weil sie. das. Wesen des Menschen
nicht aus der Struktur und den Bezügen seiner geschichtlichen Existenz
denkt, sondern abstrakt von außen und gegenständlich fixierend - ähnlichwar Feuerbach bereits durch Marx kritisiert worden - wenn auch in anderer
Absicht. Im Blickwinkel Feuerbachs k a n n die Realität Gottes überhaupt
nicht gesehen werden, sondern in der Tat nur die Selbstvergegenständlichung
des Menschen, weil die Wirklichkeit Gottes kein Bestand in der Welt ist,
sondern nur im Anspruch des Wortes Gottes bezeugt und im Sich-verstehen
aus ihm wahr-genommen werden kann. Hier zeigt sich, daß mit Selbstver
ständnis nicht ein anthropologischer Bestand gemeint ist, auf den transzen
dente Realität reduziert werden soll, sondern im Gegenteil der hermeneu
tische Horizont, worin sie als Existenz betreffende Wirklichkeit sichzeigt. Denn Sich-verstehen in Existenz meint gerade ein Sich-yerstehen in
den Verhältnissituationen des Daseins oder wie Bultmann sagt: in den geschichtlichen "Begegnungen" der Existenz. Und hier begegnet auch Gott im
Wort der Verkündigung als die Existenz unbedingt angehende Wirklichkeit.
· Damit dürfte klargestellt sein, daß die hermeneutische Beziehung der dieExistenz betreffenden Realität auf Selbstverständnis nicht den Charakter
einer Reduktion auf Selbstbewußtsein hat, sondern gerade umgekehrt be
gegnende Wirklichkeit auf verbindliche Weise erschließen will. Man muß
allerdings a u c h sehen, daß Selbstverständnis als hermeneutischer Hori
zont - wie jeder Horizont - in bestimmter und d. h. begrenzter Weiseerschließend ist. Damit wird nicht etwa eine abschließende Bewegung an die
eröffnende angeschlossen- wie es bei H. Ott aussieht (Geschichte und Heils
geschichte in der Theologie Rudolf Bultmanns, 1955, 154 ff) - sondern eswird bestimmt, in welcher Weise Selbstverständnis erschließender Horizont
ist. Eben die Bestimmtheit dieses Horizontes nötigt dann auch zur kritischen Interpretation dessen, was ihm entgegensteht. Dadurch gewinnt die
existenziale Interpretation notwendig einen kritischen Charakter.Worin liegt nun die Bestimmtheit von Selbstverständnis als Bezugs
dimension? Offenbar in dem, wodurch im Selbstverständnis das Sichverstehen-können in der Wirklichkeit des Begegnenden und diese selbst be
stimmt wird. Selbstvertändnis ist zunächst der hermeneutische Hori
zont, worin begegnende Wirklichkeit als Existenz betreffende und d. h. erst
a 1 s Wirklichkeit für Existenz erfahren wird. Was nicht im existenziellen
Selbstverständnis betrifft, mag zwar in der Welt vorhanden und "real" sein,
hat aber nicht den Charakter des eigentlich Wirklichen für Existenz, weil es
das Sich-verstehen von Existenz nicht an-geht. Es ist das objektiv Bestehende,
für das Bewußtsein Gegen-ständliche aber als solches für das existenzielleSich-verstehen nicht Gegen-wärtige. Das für Existenz Wirkliche muß den
ausgezeichneten Charakter des gegen-wärtig Betreffenden und die Zukunft
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Erschließenden haben. Gegenwärtig betreffend aber is.t es im existenziellenSich-verstehen aus seiner Gegen-wart. (Kierkegaard bestimmt die Gegen
wart des "für mich" Wirklichen durch den Begriff der "Gleichzeitigkeit, s.
"Einübung im Christentum" 1. Teil, Abschnitt IV.) Es ist klar, daß diese
Gegenwart nicht das bloße Jetzt-vorhandensein von etwas meint; damitwäre die Gegenwart ins gegen-ständliche Verhältnis zurückgesetzt und gerade nicht als die existenziell betreffende Gegen-wart des Wirklichen verstanden. Die Wirklichkeit des Begegnenden is t nie als objektiver· Bestandzu sichern, sondern nur in seiner subjektiv betreffenden Gegen-wart zu erfahren undi zu bestehen. Vor einem Gegen-stand kann man stehen, eineGegen-wart aber muß man bestehen (durch-stehen), weil sie in Anspruchnimmt. Und sie bestehen heißt, sich aus bzw. in ih r konkret verstehen könnenund zwar gerade darin, wodurch sie das Selbstsein betrifft und bestimmt.
In dieser Differenz eines gegenständlichen und gegenwärtigen Verhaltens,liegt m. E. der eigentliche Grund von Bultmanns und Kierkegaards Polemikgegen das "objektivierende" bzw. "abstrakt objektive" Denken. Denn Existenzverhältnisse haben als solche nie den Charakter gegenständlicher Be
ziehung (des Bewußtseins auf seinen Gegen-stand), sondern den des Sichverstehens in einer Gegen-wart, deren Ans.pruch entsprochen werden muß.Die existenziale Interpretation will das Daseinsverständnis geschichtlicher
Texte dadurch vergegenwärtigen ("gleichzeitig" machen), daß sie es aus demRaum objektivierenden Vors.tellens herausholt und in den Bereich des Existenzverständnisses zurückbezieht, dem es zugehört und worin es wiedergegenwärtig d. h. wirklich werden kann.
Wir haben die Struktur des Verstehens von Wirklichkeit im Horizont vonSelbstverständnis als gegenwärtige Beziehung besHmmt. Bei Kierkegaardund auch bei Bultmann wird diese Gegen-wärtigkeit des Sich-verstehens inder "Gleichzeitigkeit" des Wirklichen im Begriff des ,.Augenblicks" gefaßt.Der Augenblick ist die Situation, worin der Gegen-wart des existenziellWirklichen so entsprochen wird, daß der Existierende sich selbst dadurchim Ganzen seiner Zeitlichkeit neu bestimmt. Kierkegaard bezeichnet das Geschehen des Augenblicks vornehmlich als "Selbstwahl" in der Situation, Bultmann als "existenzielle Entscheidung". Das Sich-verstehen in der Gegen-wartdes begegnend Wirklichen wird also vom Existierenden je selbst entschieden
und hat nie den Charakter eines bloßen Sehens oder Vernehmens. Eben darinbezeugt sich die Gegen-wart des die Existenz betreffenden Wirklichen, daßes in Anspruch nimmt und Entscheidung fordert und dadurch den Existierenden in seinem Selbstverhalten betrifft. Das Selbstverständnis impliziertwesentlich ein Selbstverhältnis und nur wo diese3 beansprucht wird, ist
Gegen-wart des .für Existenz Wirklichen.Daß dieses Moment wesentlich zur Struktur des Selbstverständnisses ge
hört, liegt in der Struktur des Selbst bzw. der Existenz begründet. Denn dieGrundbestimmung menschlichens Existierens ist, sich zu allem, was für es
ist, verhalten zu müssen und dieses Verhalten in der Situation je nur selbstbestimmen und vollziehen zu k ö n n e n ~ Dieses. Selbstbestimmen impliziertaber ein Sich-zu-sich-selbst-verhalten oder genauer: es i s t ein solches,
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nämlich ein Sich-selbst-bestimmen zu . . . Der Akt dieses Selbstverständnisses
als Sichbestimmen in allem Verhalten zu Begegnendem ist der Grundakt desSelbstseins menschlicher Existenz. Und er is t als solcher auch im Begriff desexistenziellen Selbstverständnisses impliziert, sofern darin um das Sich
entscheiden in der Gegen-wart des Begegnenden geht.(Kierkegaard hat diese Bestimmung zum Selbstsein bzw. Selbstwerden als
die Grundstruktur menschlicher Existenz in der "Krankheit zum Tode" aus
führlich analysiert. Wir müssen hier darauf verweisen. Sie is t aber auch in
Heideggers und Bultmanns Existenzbegriff zu finden, wennschon Heidegger
im Zuge der Seinsfrage nach der Möglichkeit solchen Selbstverhaltens weiter
fragt.)
Nun darf man hier allerdings nicht in das Mißverständnis verfallen, dieseSelbstbeziehung im Selbstverständnis meine ein isoliertes "Verstehen" dieses
Selbst oder es sei damit eine ontologische Isolierung oder eine hermeneutische
Souveränität des "Selbst" behauptet. Denn das Selbst ist und bleibt "existie
rendes" Selbst und sein Sich-Verstehen bleibt auf die Existenzsituation bezogen. Darin liegt die ständige Angewiesenheit auf Begegnendes, in dessen
Gegenwart allein der Existierende sich selbst verstehen kann und muß.
Wohl aber liegt in der Struktur des Selbstseins die hermeneutische Be
deutung, daß Gegen-wart des Wirklichen für Existenz nur ist, wo das Sichbestimmen im Selbstverständnis beansprucht wird und damit das Selbstsein
auf dem Spiele steht. Die Wirklichkeit des Begegnenden erweist sich darin,
daß sie Existenzwirklichkeit verbindlich betrifft und entbindet.
Damit ist die Struktur von Selbstverständnis wenigstens soweitangegeben,daß sein bestimmter hermeneutischer Horizont sichtbar wird. Innerhalb
seiner is t erschlossen und muß als wirklich und wesentlich gelten, was
Existenz in ihrem Sich-verstehen so betrifft (an-geht), daß es das
Selbstsein der Existenz qualifiziert und in die Entscheidung fordert.
Und alles, was den Charakter solcher Gegen-wart nicht gewinnen kann,
weil es in die Dimension des Selbstverständnisses der Existenz nicht
hineinreicht, hat keine "Bedeutsamkeit" und damit auch keine Wirklichkeitfür Existenz. Nun läßt sich aber nicht etwa apriori bestimmen, was alles
existenziell bedeutsam ist bzw. sein kann und was nicht. Denn die Bedeut
samkeit erschließt sich erst und nur im offenen Horizont des je eigenen und.geschichtlichen Selbstverständnisses. Wohl aber läßt sich formal angeben,
welche hermeneutische Struktur existenziell betreffende Wirklichkeit als
solche charakterisiert, nämlich: Gegenwärtiger Anspruch des Begegnenden
an das Selbstsein im Verstehen. Und es läßt sich auch einsichtig machen, daß
solche Gegenwart nicht als ein gegen-ständliches Verhältnis vorgestellt wer
den kann, weil sie geschichtlich u.nd damit unverfügbar ist.Wenn hun Bultmann und auch Kierkegaard (wie ich meine mit Recht)
davon ausgehen, daß die christliche Offenbarung ein solches die Existenz -betreffendes- Geschehen ist, dann besagt existenziale_ Interpretation nichts
anderes als diesen Grundsinn der christlichen Verkündigung rein und konsequent zur Auslegung zu bringen. Dann ist es auch völlig richtig, diese
Auslegung im Horizont möglichen Selbstverständnisses zu vollziehen, denn
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SELBSTVERSTANDNIS ALS HERMENEUTISCHES PRINZIP 95
Existenz beanspruchende Wirklichkeit is t als solche in der Tat nur im und
als existenzielles Selbstverständnis erschlossen. Und es ist weiter dann auchgefordert, alle Vorstellungen, die den Sinn dieses Geschehens ins Gegen
ständliche verkehren und damit aufheben, der Kritik zu unterwerfen, bzw.
kritisch zu interpretieren. Von solcher Art sind für Bultmann die mythologischen Vorstellungsweisen. Die Nötigung zur kritischen IJ!terpretation ergibt
sich für Bultmann demgemäß primär nicht daraus, daß hier Aussagen ge
macht werden, die als Selbstverständnis nicht realisierbar sind - das würde
bloß ihre existenzielle Irrelevanz besagen - sondern daraus, daß durch die
Weise solchen Vorstelleus der Sinn der christlichen Verkündigung verdeckt
und ihre Gegen-wart verstellt wird.
Es gilt allerdings auch zu sehen, daß dieser Sinn des Christlichen, von dem
Kierkegaard und Bultmann ausgehen, bereits existenzial interpretierter Sinn
ist, und daß durch diesen Ansatz, ein bestimmter Auslegungshorizont vor
gegeben ist. So notwendig und möglich es ist, diesen Ansatz immer auch
exegetisch zu rechtfertigen und d. h. theologisch zu legitimieren, so kann
diese Rechtfertigung doch nie die systematische Konsequenz begründen, mit
der dieser Ansatz bei Kierkegaard und Bultmann entworfen und festgehal
ten wird. Diese gründet im hermeneutischen Prinzip der existenzialen bzw.existenzdialektischen Interpretation und d. h. in der Konzeption des Selbstverständnisses als hermeneutischem Horizont der Existenz. In ihm is t das
mögliche Verständnis von existenziell bedeutsamer Wahrheit und Wirklich
keit eröffnet und begrenzt. Was sich in diesem Bezug nicht bringen und d. h.
nicht als eine Bestimmung möglichen Existenzverständnisses verstehen läßt,
fällt aus dem Blickfeld des Selbstverständnisses heraus ins objektiv Festzu
stellende und Kritisierbare und existenziell Unverbindliche.
Woher bestimmt sich aber dieser maßgebende Blickpunkt des Existieren
den in seinem Sich-verstehen? Kierkegaard antwortet: aus dem unend
lichen Interesse des Existierenden an der Existenz und Bultmann sagt:
aus der unumgänglichen Frage des Existierenden nach der eigenen
Existenz. Weil die menschliche Existenz auf Grund ihrer dialektischen
Struktur als "endliche Freiheit" in sich selbst Aufgabe des Selbstwerdens
und Frage nach ihrer eigentlichen ·Möglichkeit ist, ist das Sichverstehen
in Existenz der ursprüngliche Sinnhorizont von Verstehen überhaupt.Und weil der Mensch je nur selbst die Aufgabe erfüllen und die Frage
beantworten kann, wird in allem Sich-verstehen das Selbstsein beansprucht.
So unausgeführt diese Angaben hier auch bleiben müssen, sie zeigen doch
oder wollen zeigen, daß Selbstverständnis als Horizont des Seinsverstehens
kein beliebiger Ansatz ist, sondern der für den verantwortlich existierenden
Menschen selbst ursprüngliche und wesentliche. Von dieser Position aus sagt
Kierkegaard: "Alles wesentliche Erkennen betrifft oie Existenz, oder nur
das Erkennen, das sich wesentlich zur Existenz verhält, ist wesentliches Er
kennen. Das Erkennen, das nicht nach innen in der Reflexion der Innerlich
keit die Existenz betrifft, is t wesentlich angesehen zufälliges Erkennen, seinGrad und Umfang wesentlich betrachtet gleichgültig'' . . . und er fährt dann
fort: "Nur das ethische urn:I das ethisch-religiös,e Erkennen is t daher wesent-
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liches Erkennen" (Unwiss. Nachschrift I, 273, Schrempf). Das wesentliche
Erkennen und das wesentlich Wirkliche is t das, was das Wesen der Existenzbetrifft. Das Wes.en der Existenz aber ist für den Existierenden erschlossen
in der Fraglichkeit seines Sich-verstehen-könnens, worin sich auch erst das
für Existenz Bedeutsame und Wesentliche erschließt.
Dies.e zur Existenz des Menschen wesentlich gehörende Fraglichkeit erfährt im Anspruch der christlichen Offenbarung jedoch eine äußerste Ver
schärfung, sofern der Mensch darin in die unbedingte Verantwortung desSich-verstehens "vor Gott" (Kierkegaard) gefordert und zugleich radikal inFrage gestellt wird, daß er- als Schuldner Gottes - sich von sich selbst herverstehen könne. So wird im Betroffensein durch den übertreffenden Anspruchder christlichen Offenbarung die Frage nach der eigenen Existenz erst in ihreradikale Fraglichkeit gebracht. Und darin sehen Kierkegaard und Bultmanndie theologische Rechtfertigung für ihren Ansatz, daß Christentum als Exi
stenzmitteilung im Horizont der Fraglichkeit des Sich-verstehens der Existenzauszulegen 1•
Damit ist vom (philosophischen und theologischen) Existenzproblem herund für dieses das Selbstverständnis als der hermeneutisch ursprüngliche Horizont bestimmt, und die existenziale Interpretation prinzipiell ausgewiesen.Sofern es dieser als geschichtlicher Interpretation wesentlich um Vergegenwärtigung geht, muß sie sich in Bezug auf mythologisch bestimmte Texteals Entmythologisierung vollziehen, d. h. als Übersetzen der mythologisch
ausgelegten Existenz- und Gotteserfahrung in den Bereich gegenwärtiger
VerständnismöglichkeiL Mythisch erfahren und mythologisch ausgelegt istdie Gegenwart des Göttlichen (nach Bultmann) dort, wo sie so in das welt
hafte Geschehen eingeht, daß sie von ihm her vorgestellt, wenn auch als
über-weltlich gemeint wird. Entmythologisierung will demgegenüber die ursprüngliche Transzendenz (des Offenbarungsgeschehens) aus dem Kreismythologisch gegenständlicher Feststellung herauslösen, um sie in ihrer dieExistenz betreffenden und beanspruchenden Gegenwärtigkeit sichtbar zumachen. Das ist nur in kritischer Interpretation möglich, wenn es dennstimmt, daß wir heute in verbindlicher Weise weder mythisch erfahren nochmythologisch denken können.
Für den christlichen Theologen ist Entmythologisierung aber vor allemvon seiner Sache her gefordert, nämlich: die christliche Offenbarung als dieg e s c h i c h t 1 i c h e Gegenwart des transzendenten. Gottes auszulegen.Durch den paradoxen Charakter der geschichtlichen Gegenwart des transzendenten Gottes is t das christliche Offenbarungsgeschehen grundsätzlichaus dem Kreis mythischen Erfahrens und mythologischen Vorstellens herausgesetzt. Denn die Paradoxie geschichtlicher Transzendenz besteht füreine ursprünglich mythische Erfahrung gerade nicht; in ihr kommt wederdie radikale Transzendenz des Göttlichen noch sein geschichtlich bestimmtes
1 vgl. hierzu E. Fuchs, Hermeneutik, 1954, 116 ff., s. jet:zt auch H. G. Gadamer, ZurProblematik des Selbstverständnisses in: Einsichten, Festschrift für G. Krüger, 1962,s. 71 ff-85-. "
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Offenbarsein zur Sprache, das Erscheinen der Götter gehört vielmehr zur
Welt, wenn auch als das dem Menschen nicht verfügbare, sondern ihm geschehende Ereignis. Bultmanns Kritik am welthaften Vorstellen des Unweitlichen im Mythos ist a1so bereits an der christlichen Paradoxie der geschicht
lichen Offenbarung des welt-transzendenten Gottes orientiert und hat hier -im theologischen Bereich- ihre eigentliche Berechtigung. Denn die Paradoxie
der christlichen Offenbarung läßt sich im Kreis mythologischen Vorstellensgerade nicht formulieren und wo das doch versucht wird, kann es nurauf eine gebrochene und unangemessene Weise geschehen 1• So zeigt Bult
mann mit vollem Recht, daß "Entmythologisierung" bereits im NT ansetztund ansetzen muß, wenn das paradox-geschichtliche Handeln Gottes in JesusChristus zur Sprache kommen soll. Um diese (für Kierkegaard und Bultmann gleich wesentliche) paradox-geschichtliche Struktur der christlichenOffenbarung und des christlichen Glaubens in unse.rer geschichtlichen Situation festzuhalten, ist radikale Entmythologisierung gefordert, weil die mythologischen Vorstellungsweisen und -elemente an sich und zumal für unsverstellen, in welcher Weise Gott für den christlichen Glauben als der transzendente zugleich geschichtlich gegenwärtig ist. Den Horizont und Ort dieser Gegenwärtigkeit sichtbar zu machen, ist die Aufgabe der existenzialenInterpretation. Und sie sieht diesen Ort im existenziel!en Selbstverständnis,in dessen Fraglichkeit Anspruch und Zuspruch de·r Offenbarung verbindlich
gegenwärtig werden.
Diese prinzipielle Beziehung existenzialer Interpretation auf mögliches
Selbstverständnis, deren hermeneutische Struktur formal bestimmt wurde,darf nun freilich nicht mit bestimmten Durchführungen existenzialer Interpretation gleichgesetzt werden, d. h. mit Entscheidungen darüber, was und wieexistenzial (kritisch) interpretiert werden muß. Solche Entscheidungenkönnen vielmehr nur in der konkreten Interpretation fallen und müssenoffen, d. h. kordgierbar bleiben. Und sofern Bultmann in seiner exegetischenArbeit bestimmte Entscheidungen getroffen hat, sind sie seiner eigenenMeinung nach kritischer Prüfung überantwortet. Der Horizont existenzialerInterpretation ist in seiner grundsätzlichen Beziehung auf mögliches Selbstverständnis offen für die unabschließbare Erfahrung und Auslegung der in
ihm begegnenden Möglichkeiten, ja in gewissen Grenzen selbst verschiebbar,sofern das Sich-verstehen selbst und damit auch der Sinn von Selbstverständnis fraglich bleibt und immer wieder bestimmt werden muß.
Will man indessen das hermeneutische Prinzip der existenzialen Interpretation als solches der Kritik unterwerfen, dann ist nichts geringeres zuleisten, als die hermeneutische Ursprünglichkeit des Sich-verstehens-in-Existenz und die ontologischen lmplikationen des Existenzproblemes selbst inFrage zu stellen und - wenn man Theologe is t - dieses Vorgehen auch
noch theologisch zu rechtfertigen.
H. Fahrenbach, Universität Tübingen
1 vgl. dazu F. Gogarten, Die V·erkündigung Jesu Christi, 1948, S. 439 ff, 447 ff.
7 Castelli
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DIE HERMENEUTISCHE VORAUSSETZUNG DERENTMYTHOLOGISIERUNG
Wilhelm Anz
Während dieser Tagung ist davon gesprochen wonlen, man müsse bis zuden ursprünglichen Erscheinungen des Mythos zurückgehen, um den Vorgang seiner Reinigung oder den seiner Aufhebung zu verstehen. Nur werum die Sprache dieser - wie ich jetzt zusammenfasse - "Urpoesie der
Menschheit" wisse, könne ermessen, daß uns eine ganze Dimension, diezum vollen menschlichen Wesen gehört, verloren zu gehen droht.
Das is t ein möglicher Weg. Meine Überlegungen führen auf einen andern.Auf ihn führt die folgende Überlegung: Es. liegt nicht nur an dem Denkender Aufklärung, sondern ebensosehr an dem christlichen Glauben selbst, daßwir aus dem mythischen Denken herausgetreten sind und in es nicht mehrzurückkehren können. Ich möchte behaupten, daß christliche Theologie notwendig in den Vorgang der Entmythologisierung hineinführt. Bultmann
dessen Entmythologisierungs"programm" diese Zusammenkunft zum Teilveranlaßt hat, steht hier in einer echten theologischen Tradition.
Wenn ich richtig sehe, sollte also nicht der Vorgang als solcher theologischer Kritik verfallen. Dagegen könnte die besondere Gestalt, in der wir ihnbei Bultmann finden, eine Auseinandersetzung verlangen.
Die Erörterung darüber möchte ich durch einige Hinweise vorbereiten, unddiese dann an Augustirr - Kierkegaard - Bultmann erläutern. Ein kurzerVorblick auf Platon soll den Unterschied zwischen einem philosophischenund dem theologischen Verstehensweg zeigen.
I.
1. Die Entmythologisierung ist nur eine Folgeerscheinung theologischerbei Bultmann finden, eine Auseinandersetzung verlangen. ·Besinnung, aber nicht ihr Zentrum. Im Zentrum isttheologische Besinnung"Explikation des Glaubens". Als solche setzt sie voraps, daß Offenbarunggeschehen ist und in der Kirche bezeugt wird; ferner, daß wir - sei es inZustimmung, $ei es .in Abwehr - von dem Wahrheits- und Heilsanspruch,der darin liegt, betroffen sind. . · ·
Zur ausdrücklichen Explikation des Sinnes von Offenbarung und Glaubenötigt die Erfahrung, daß von Anfang an: auch innerhalb der Kirche das
Verständnis von Offenbarung und entsprechend von Glauben strittig ist unddaß dem Glauben siCh Hindernisse in den Weg stellen, die e$ ihm schwer
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HERMENEUTISCHE VORAUSSETZUNG D. ENTMYTHOLOGISIERUNG 99
machen, dem Ruf, der ergangen ist, einfach und gerade zu folgen. Der Cha-
rakter einer Theologie ist niemals nur durch ih r Verständnis von Offenbarung
bestimmt, sondern immer auch durch diese Hindernisse: das, was der Glaube
aus seiner eigenen Vergangenheit und aus der Geschichte mitbringt, soll er
in sein christliches Leben mit hineinnehmen. Dazu muß er aufarbeiten.
Für Paulus etwa war seine pharisäische Werkgerechtigkeit, für Augustin
seine gnostische Weltverfallenheit, für Kierkegaard neben romantischer
Schwermut und Ironie das vernünftige Selbstbewußtsein das Hindernis, das
es ihnen schwer machte, den Grund, auf den die Offenbarung trifft, die
conscientia coram Deo, bis in ihre ionerste Freiheit zu erfassen und sich aus
ihr zu verstehen.
2. Daher wurde eine ausdrückliche Besinnung notwendig, also eine Hand-
lung der Reflexion. Die vollzog sich als ein besonderer hermeneutischer Pro-
zeß, als die Vergleichung zw:eier Verständnisse, die eines das andere zur
Rechenschaft über sich und den Verstehenden zu immer neuer Zuordnung
beider herausfordem. Da die Offenbarung in die Entscheidung zur "Wahr-
heit" ruft und mit der Entscheidung für oder gegen sie Heil oder Unheil
geschieht, erhält der hermeneutische Prozeß eine besondere Schärfe: jedes
Verständnis erhält den Charakter de·s Unbedingten; die Zuordnung beider
Verständnisse kann nicht in der Schwebe bleiben; am Ende· muß eines das
andere in sich "aufheben".
Vielleicht liegt der scheinbar synkretistische Charakter der christlichenTheologie in der für sie bezeichnenden Geschichtlichkeit, in der sie um
der "Selbstbehauptung" des Glaubens willen die kritische Auseinander-setzung mit den Mächten betreiben muß, auf die sie trifft. Entweder wird
beispielsweise das Christentum zu einer jüdischen Sekte, wird das Ereignis
der Offenbarung gnostis.ch umgedeutet, wird die Religion kritisch auf dieinnermenschlichen Motive destruiert, die dazu verführen, Glaubensvorstel-
lungen hervorzubringen, oder aber der Glaube behauptet sich selbst und
legt nun seinerseits Werkgerechtigkeit gnostischen Mythos, Dichterexistenz
und radikale Religionskritik als ein Heraustreten aus dem Grunde der
conscientia als selbs.tv•erschuldete Verstellungen wahren menschlichenLebens aus. Die kritische Erhellung des menschlichen Lebens ist eine
wesentliche Aufgabe der Theologie. Die Kraft einer Theologie scheint mirauf der Helligkeit, Eindringlichkeit, Aufrichtigkeit zu beruhen, mit der siesich auf diese Aufgabe einläßt.
Zur theologischen Reflexion gehört also ein Durchgang durch. das nicht-gläubige Vorvers.tändnis, das in sich erhellt, dem sein Ort zugewiesen sein
inuß, wenn der Theologe sich in dem einen und unteilbaren Leben, das er
in der Rechenschaft seines Gewissens führt, selbst verstehen soll; denn der
Theologe befindet sich ja selbst in diesem Vorverständnis; es ist der Hori-
zont, aus dem weder er selbst durch einen simplen Botschluß heraustreten
kann, noch die 'Menschen, mit denen er es zu tun hat. Zu .beachten is t also:
Theologie geht von einer gegebenen Voraussetzung aus; sie beginnt vomEnde her (das der Anfang ist), und sie muß das, was iht entgegensteht, durch-
dacht haben; nur dann hat sich der Verstehende mit allem, was er ist, in.,.
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100 WILHELM ANZ
den Glaubem.bezug hineingeholt. Ohne diese Mühe, die der Theologe auf
sich nehmen muß, wird - so scheint mir -Theologie nicht glaubwürdig sein.
3. Der dritte Hinweis kann hier nur genannt, nicht diskutiert werden.
Theologie ist kirchliche Theologie, oder wenigstens: sie setzt die Realität der
Kirche voraus und hat ·an ih r Teil. Sie setzt voraus, daß zum christlichen
Leben aufgerufen ist, und innerhalb seiner zum Bezeugen und Verkünden.
Die theologische Reflexion lebt von dieser kirchlichen Realität, aber sie geht
darin nicht auf.
Doch ist auf jeden Fall festzuhalten, daß die beiden ersten Momente nie
ohne das Dritte in Gang kommen und bestehen könnten.
Mit diesen drei Momenten: 1. Theologie ist "Explikation des Glaubens".
2. Explikation ist ein hermeneutischer Prozeß, der den Durchgang durch
das nichtgläubige Vorverständnis in sich s.chließt. 3. Theologie ist kirchliche
Theologie bzw. sie setzt die Realität der Kirche voraus - sind die herme-neutischen Voraussetzungen der Entmythologisierung angegeben. Wir müs
sen hier nur eines vom Mythos wissen: daß er einer vorbehaltlosen Ergrif
fenheit durch die welthaften Mächte entspringt, um nun zu sehen, daß der
Glaube verhindert, uns, sofern wir glaubend sind, mythisch zu ver
stehen. Der Glaube verlangt Reflexion auf die Freiheit; er bewirkt damit
eine Distanz zur Welt, die sich der Denkmittel der Aufklärung hat bedienen
können, ohne doch selbst Aufklärung zu sein.
Il.
Ein kurzer Hinblick auf Platon soll den Unterschied von theologischer und
philosophischer Reflexion zeigen.
Auch bei Platon finden wir eine Kritik am Mythos, nicht nur an den
Ammenmärchen, sondern am Mythos in seiner für Platon gegenwärtigen
Gestalt bei Homer, Hesiod, den Tragikern. Die Rede der DidJ.ter lebt von
der überwältigenden Ergriffenheit durch die Mächte der Welt. Wer in der
leidenschaftlichen Abhängigkeit von dem, was Leben gibt oder nimmt, ver
bleibt - der erfährt Götter.
Zwischen dieser ursprünglich mythischen Welterfahrung und der Philo
sophie liegt nun eine Grenze: der Blick des Verzauberten mag zwar hell und
sehend sein, aus seinem Wort mag auch echte Einsicht sprechen, abe:r diese
Einsicht bleibt in der Hingegebenheit gebunden; sie is t unfähig der Rechenschaft, die philosophische Besinnung verlangt, urid insofern unfrei. Von die
ser Unfreiheit befreit die Philosophie; sie wendet sich an unsere Fähigkeit
zu fragen, .,b:tonv"; sie lehrt uns eine Antwort auf die Frage versuchen,
indem wir das Gesehene in einem e t o , u 6 ~ b e g r e n z e n , und lehrt uns dann diese
Feststellung prüfen, indem wir versuchen, ob das Gemeinte in den vom
o e t a , u 6 ~ vorgezeichneten Umriß eingeht. Wir werden in der Bewegung von
Frage, , J e t o , u 6 ~ , Prüfung gehalten, bis sich das Seiende in seiner Unverbor
genheit zeigt, so wie es an ihm selbst ist.
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HERMENEUTISCHE VORAUSSETZUNG D. ENTMYTHOLOGISIERUNG 101
Im Logos des Gesprächs wird auf diese Weise unser Sehen an die Grund-
gestalt des Seienden ( e l ö o ~ , ovoia) gebunden, so c!.aß wir im Gespräch Abstand vom Seienden und auch von unserem .:Uyew gewinnen.
In dieser Bindung des Logos an das e M o ~ werden wir zur wahren Einsichtbefreit. Um in die Freiheit zur Einsicht zu gelangen, müssen wir freilicheine Umkehr ( ~ e e w r w r f J ) unserer Blickrichtung vollzogen haben.
Bisher waren wir dem hingegeben, was. von uns durch die Macht seines Ein-drucks Besitz nahm. Im Gespräch ist deutlich geworden, daß wir von einem
Seinsbezug zehrten, ohne die ihm eigene Ordnung zu Gesicht bekommen zu
haben; daher konnte er sich uns verdunkeln und verstellen. Wenn wir uns im
prüfenden Gespräch zur Einsicht hin umkehren lassen, gewinnen wir den
unverstellten Hinblick auf die in den Grundgestalten liegende Rangord-
nung und treten damit in die Helligkeit des ursprünglichen, jetzt aber verdunkelten Lichtes zurück. Wir erfahren es als das, was im höchsten Maße
seiend Sein gibt und im Sein erhält, das heißt als oipl;ov ärat?6v.
Mit der Umkehr zur Einsicht sind wir nicht schlechthin aus dem
Mythos herausgetreten und aus der religiösen Abhängigkeit, die ihn erzeugte.Das Verhältnis zum Mythischen hat sich allerdings durch das Hinzukommen
der Freiheit zu fragen geändert: das Bewußtsein der Unangemessenheit desMythos im Verhältnis zu dem Überschwänglichen und Unsagbaren, das er
meint, ist aufgekommen. Mythos ist nur e Ä . " w ~ p / ü t ? o ~ , eine nur annäherungs-
weise wahre Darstellung (Timaios 29 D). Prüfung und Einverständnis
(6,uolorla) müssen vorausgegangen sein, damit das in Mythos Sprechende
rein sprechen kann. Daher kann der Mythos auch abgeändert werden dahin,daß er der Grundeinsicht entspricht und sie bestätigt: er is t dann zwar abgewandelt und gereinigt, aber er bleibt doch Mythos, er bezeichnet die offeneGrenze alles philosophischen Fragens, dessen nie aufhebbare und auch nie
aufzuhebende religiöse Abhängigkeit. Ohne ihn wäre die hermeneutische
Struktur platonischen Philosophierens unvollständig.
III.
Augustin ist von vornherein christlich theologischer Denker. Sein Denken
hat einen anderen Ausgangspunkt. Es entzündet sich daran, daß er, vom An-
spruch der Offenbarung getroffen, diesen dennoch in sich nicht verifizierenkann. Der unbedingte Anspruch entläßt ihn nicht in die Freiheit der Philosophie: er kann in der Besinnung auf den 2 6 r o ~ keine Standfestigkeit mehr
gewinnen. Dahin Auseinandersetzung mit dem neutestamentlichen Sünden-
verständnis führt ihn in das mythologische· Denken der manichäischen Gnosis
zurück. Sünde is t ihm eine fremde Macht, die widerfährt, aber keinesfalls
selbstzugezogene Schuld.Erst durch die Evidenz der erleuchtenden Wahrheit Gottes wird er in den
Stand gesetzt, sich als den Weltmächten überlegene Freiheit zu verstehen.
Er ist diese Freiheit, weil er von Gott als solche angesprochen is.t. Es ist also
die "Wahrheit", die uns als Person schafft, trägt und uns als ego ipse sehenund verstehen läßt, nicht aber der Logos des ~ t a U r e a t ? a t .
Nun erst hat Augustin den Horizont gewonnen, innerhalb dessen er
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102 WILHELM ANZ
den logischen und faktischen Widerspruch der Sündenerfahrung in die Fragenach Ganzsein und Zerspaltensein des Willens h i n e i n n e h m e ~ kann. DieKnechtschaft der Sünde kann nunmehr als ein selbstverschuldeter Zus.tand,
als Zustand "der Freiheit" ausgelegt werden. Der Gnostiker hatte sie als ein
allgemein menschliches Schicksal hinnehJllen müssen; Platon hatte sie nochgar nicht zu Gesicht bekommen. Bei ihm stand der hoffnungslosen Weltverfallenheit der vielen noch die Freiheit der wenigen zur Philosophie entgegen.
Beziehen wir das Gesagte auf die vorgegebenen Gesichtspunkte: 1. DasDenken Augustins lebt von der Aufgabe•, den Anspruch der in der Offen
barung sprechenden Wahrheit so aufzuweisen, daß er aus der Erfahrung derPerson von sich selbst-verstehend nachvollzogen werden kann. Die Freiheitzu dieser Aufgabe is t erst durch den Glauben.Augustins theologisches Den
ken ist die DurchheBung seines Weges. in den Glauben.
2. Diese Durchhellung, in der die Hindernisse aufgearbeitet werden, is tein hermeneutischer Prozeß, der als confessio der von Gott in ihre Freiheitgerufenen Person sich vollzieht. Theologisch richtig ist, was in Lobpreis undReue von der bekennenden conscientia angesichts der Wahrheit gesagt wer
den kann.
Unter der Macht dieser leitenden Grunderfahrung we·rden die Vorstellungen, die Augustin aus det Gnosis mitbrachte, entmythologisiert; sie werdenauf den Boden der sich selbst verstehenden Freiheit umgesetzt, doch so, daßihre "ontologische" Aussageabsicht festgehalten und verdeutlicht wird.
Einige Beispiele seien genannt: nequitia bedeutet im gnostischen Denken
die schicksalhafte Nichtigkeit des an Welt und Zeit verfallenen Menschen.Nun erhält das Wort den Sinn der Nichtswürdigkeit der selbstgewolltenAbkehr von Gott und der gewollten Hinwendung zu dem, was in seiner Vergänglichkeit nicht zu halten vermag und daher in den Abgrund des Nichtsabstürzen läßt. Defectus ist nicht mehr die schicksalhafte Zugehörigkeit zuder abgefallenen Welt, sondern der selbstgewollte und bejahte Abfall vonGott; defectus ist aber zugleich Mangel an Sein. Entsprechend wird derBegriff des malum aufgelöst. Das. malum ist nicht mehr die Substanz der vonder der gottfernen und -feindlichen Materie beherrschten Welt, sondern die
Entscheidung der selbstgewollten Abwendung von Gott - des Bösen -.
Aber dieses Böse bleibt zugleich Übel: es is t privatio boni, Entzug deswahren erfüllenden Seins und daher Nichtigkeit.
In der Entmythologisierung gewinnen die theologischen Begriffe Augustinsjene gespannte Einheit von "moralischem" und ontologischem Sinn, diefür sein Denken so bezeichnend ist. Diese Einheit aber lebt vongnaden des
Fragehorizontes., der sich in der Erleuchtung durch die veritas Gottes eröffnet hat.
3. Das theologische Denken Augustins gewinn t - wie schon gesag t - dieFreiheit zur Frage erst im Glauben. Mit dem Glauben setzt es die sichtbare
glaubwürdige Existenz der Kirche voraus.Vorblickend auf das Problem der modernen Fassung des Entmythologisie
rungsproblems sei bemerkt .(ohne daß ich hier diese sehr wichtige Frage er-
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HERMENEUTISCHE VORAUSSETZUNG D. ENTMYTHOLOGISIERUNG 103
örtern kann), daß der Veritasbegriff Augustins vieles zuläßt, was bei Bult"
mann unter das Urteil Mythos fällt.
IV.
Bei Spinoza is t aus Vernunft etwas anderes und Neues geworden: die
Vernunft erfaßt ihre Prinzipien in sich selbst. Diese logischen Prinzipienhaben ontologischen Wahrheitsgehalt. Daher läßt sich die philosophische
Wahrheit auf dem Wege der demonstratio more geometrico deduzieren.Jetzt wird eine historische Religion unverständlich; sie ist nur noch histo-risch zu beurteilen, daraufhin, unter welchen Bedingungen es zu bestimm
ten Ereignissen und Vorstellungen hat kommen können. Wahr an der Offenbarungsreligion is t allenfalls das, was sich abgesehen von ihr und auch ohnesie in allgemeinen Vernunftbegriffen aussagen läßt.
Von diesem Vernunftbegriff ausgehend hat Lessing gezeigt, daß es vonder historischen Wahrheit zu der Vernunftwahrheit keinen Übergang gibt.Ein historischer Beweis für die Wahrheit der Offenbarung kann prinzipiellnicht geführt, höchstens können wahrscheinliche Fakten in einen wahr-scheinlichen innerweltlichen Zusammenhang eingeordnet werden, ohne aber
für das beurteilende Bewußtsein dadurch Maßgeblichkeit zu erhalten.Für das Problem der Entmythologisierung wichtig is t nun, daß Kierkegaard
dieser radikalen religionskritischen Konsequenz im Interesse des Glau-
bens zustimmt. Es ist nach Kierkegaard genau so, wie Lessing sagt: Solangeder Mensch sich im Zentrum als jenes philosophische vernünftige Selbstbewußtsein versteht, ist Sein = Gedachtsein, und besagt Gedachtsein so vielwie Geordnetsein in notwendigen oder in wahrschdnlichen Zusammen-hängen. Aber wir sind im Grunde und zuerst nicht Selbstbewußtsein, sondern Existenz. Die Wirklichkeit, die wir selbst sind und die der Glaubemeint, geht in das objektive Denken der Vernunft nicht ein: sie liegt jenseits
dessen, was die Vernunft erwartet und erreicht, sie is t paradox.
Durch den Begriff des Paradox wird nun nicht etwa auf ein irrationalesoder emotionales Vakuum hingewiesen. Der Bereich, in den es hinein
weist, besitzt eine eigene genaue und differenzierte V e r ~ t ä n d l i c h k e i t , diedem Leser Augustins nicht unbekannt ist. Auch für Kierkegaard ist derAus.gangspunkt seines christlichen Denkens eine Evidenz. Es is t die vomOffenbarungswort gestützte Evidenz des Gewissens vor Gott, die "Total-erinnerung des Gewissens", er findet sie· bestätigt in dem Spruch des Mat-thäusevangeliums (12, 36), daß wir vor Gott Rechenschaft ablegen müssenfür jedes unnütze Wort, das wir gesprochen haben.
Die Erfahrung von dieser überlegenen und in die radikale Durchsichtig
keit nötigenden Wahrheit hebt die Sicherheit, mit der das vernünftige Selbst
bewußtsein sich und die Prinzipien der Wahrheit besitzt, auf. Sie nötigt zuzugestehen, daß ursprünglicher als die Gewißheit des vernünftigen Selbstbe
wußtseins die Gewißheit ist, ein existierender Mensch zu sein, der im Ab-
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grunde der Zeitlichkeit nach einem Standort zu suchen nicht umhin kann.
Vom Ende her (d. h. in der Helligkeit seiner christlichen Gewissenserfah-
rung) zeigt Kierkegaard, daß es einen zuverlässigen Standort, an dem der
endliche Mensch mtt dem "Unendlichen" in Wahrheit einig wäre, nicht gibt,
und daß der Mensch daher der Angst ausgesetzt bleibt, bis er im Gottes.verhältnis eine Geborgenheit gewonnen hat (deren nun wieder in sich selbst
differenzierte Struktur ich jetzt nicht auseinandersetzen kann).
Diese Dimension der Existeninnedichkeit ist nur dem subjektiven Denker
zugänglich, der in denkender ErheBung - in einer Art intellektueller Reue -das voraufgegangene Dasein aufarbeitet und so in sein Selbstverständnis
gelangt.
Wir müssen die hermeneutische Struktur dieses Denkens festhalten, wenn
wir zu dem Problem der Entmythologisierung bei Bultmann kommen.
Beziehen wir das Gesagte· auf unsere Gesichtspunkte:1. Das Existenzdenken Kierkegaards ist ganz aus der paradoxen Spannung
zur Vernunft bestimmt: das Gottesverhältnis ist für die Vernunft paradox.
Aber es gilt auch die Umkehrung: was als Prinzipienwahrheit denkbar und
als historische Wahrheit objektiv feststellbar ist, geht als solches in das sich
selbst erhellende Verhältnis des Existierenden zu sich selbst nicht ein. Die
Sphären des "Objektiven" und des "Subjektiven" schließen eine die andere
aus, und nur in der Sphäre des "Subjektiven" is t das christliche Denken zu
Haus.
Kierkegaard ist christlicher Denker. Der Ausgangspunkt seines Den-
kens ist das von Gott getroffene Gewissen, auf das zu das neutestamentliche
Zeugnis spricht. Das gesamte Werk Kierkegaards ist eine ErheBung dieses
vorgängigen Bezuges - unter den von der philosophischen Aufklärung her-
aufgeführten Bedingungen.
2. Diese Bedingungen s.ind ein offenkundiges Hindernis. Daher mußte gezeigt werden, daß die Macht des vernünftigen Selbstbewußtseins eine Grenze
hat in der Existenz, daß aber für den Blick des christlichen Denkers Existenz
in ihrer Zeitlichkeit, geführt durch die Angst, in eine immer innerlichere
Innerlichkeit und in ihr auf Gott verweist. Dieser Aufgabe dient die Sta-
dienlehre Kierkegaards.
3. Vorausgesetzt ist die volle Glaubwürdigkeit der Offenbarung und dieLegitimität kirchlicher Verkündigung. Diese wird freilich durch die sozu
sagen konstitutionelle Verweltlichung der bestehenden Kirche aktuell in
Frage gestellt. Doch bleibt dieses für jede Kierkegaardinterpretation wichtigeProblem hier unerörtert. In unserem Zusammenhang genügt es, darauf hin-
zuweisen, daß Kierkegaard zwischen einem Apostel und einem Genie sehr
wohl zu unterscheiden wußte.
4. Welche Konsequenzen ergeben sich für das Problem der Entmythologi-
sierung? Aus der paradoxen Spannung von Vernunft und Existenz ergibt
sich eine Nötigung zur Existenzdialektik: alles o b j e k ~ i v Feststellbare, über-haupt alles "Positive" als solches is t relativierbar und also zweideutig; nur
durch das paradoxe Wagnis des Glaubens hindurch kann es in den Ver-
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stehensraum der conscientia hineingenommen und innerhalb seiner in seiner
wahren Bedeutung neu gesetzt werden.
Die Existenzdialektik enthält also im Keim das Problem der Entmytho-
logisierung. Kierkegaard übt u. a. Kritik an der sich selbst mißverstehenden
Orthodoxie, die dem paradoxen Wagnis des Glaubens eine objektive Ga-
rantie durch supranaturale Ereignisse vorziehe. Er übt auch Kritik an den
großen. idealistischen Gestalten (etwa Goethe und Hege!), die sich weigern,
in die unversöhnte Spannung von Vernunft und Existenz einzutreten: Siesuchen eine Wesenseinheit zwischen menschlichem und göttlichem Geist.Jede derartige "Identität" aber erscheint als eine Flucht aus der Zeitlichkeitin eine Art von Mythisierung 'des Dasein. Der Glaube jedoch sichert sich
weder durch objektive Garantien, welcher Art sie auch sein mögen,
noch durch vermeintliche Wesensverwandtschaft von Göttlichem und
Menschlic)lem; er hält "die Wunde der Negativität" offen und wagt es, sichin der Existenz dem Anspruch Gottes auszusetzen. In dieser Entscheidung
liegt seine Paradoxie.
V.
Das Hindernis, mit dem Bultmann es zu tun hat, ist zunächst die liberale
Theologie. Für die methodische Auseinandersetzung mit ihr hat er beson-
ders viel von Kierkegaard gelernt. Bultmann wendet gegen die liberale· Theo-
logie ein: sie meine durch historische Forschung zu theologischen Aussagengelangen zu können. Sie könne dieser Illusion nur deshalb verfallen, weil sie
in der Nachfolge der spekulativen Logik des deutschen Idealismus das ob-jektiv Erkannte als Erscheinung des Geistes und in J esus die höchste Erschei-
nung eben dieses Geistes sehe, mit dem wir im Grunde identisch sind.Die erste Aufgabe is t also, die rechte theologische Beurteilung der histori-
schen Forschung. Hier bringt Bultmann die paradoxe Spannung von Ver-nunft und Existenz zur Geltung. Historische Erkenntnis ist objektivierende
Erkenntnis und als solche relativierend. Das zuschauende und feststellende
Bewußtsein ordnet Fakten und Standpunkte in von ihm erarbeitete Zusam-
menhänge ein; aber es erreicht die Existenz nicht.Nur wenn wir die unaufhebbare Spannung von Vernunft und Existenz
festhalten, gewinnen wir Zugang zu der Situation des Menschen, in die hinein
die christliche Offenbarung spricht: der nach Gott fragenden und doch vor
ihm flüchtenden Existenz.
Von der Offenbarung in das menschliche Leben zurückblickend, findetBultmann ein Analogon zu Augustins Frage nach der Wahrheit und zu
Kierkegaards Stadien: der Mensch fragt nach seiner Eigentlichkeit d. h.
er fragt nach einer bleibenden, allen Verwirrungen des zeitlichen Da-
seins überlegenen Macht, der er :;ich anvertrauen kann. In der Frage nachder Eigentlichkeit sieht Bultmann die Frage nach Gott lebendig; aber dieseFrage erreicht ihr Ziel nicht. Alle Antworten greifen zu kurz: im Mythos
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106 WILHELM ANZ
(der als eine Vorstufe der Wissenschaft erscheint), in der griechischen Meta-
physik und ihrer Lehre von der Weltvernunft, in der modernen Wissenschaft und der von ihr ermöglichten Arbeits.welt gibt sich die menschlicheExistenz einen transzendentalen Horizont vor, vermöge dessen sie sich im
Abgrunde der Zeitlichkeit behauptet. Dieser Horizont ist ein Mittel der
Selbstbehauptung.
Bultmann hat die "Vernunft" (Mythos, Metaphysik, Wissenschaft) auf
ihren Ursprung aus der Existenz zurückgeführt und hat noch stärker alsKierkegaard die Verfallenheit an die Geschichte als einen Zustand der selbstgewollten Getrenntheit von Gott beschrieben. Er hat gemeint, sich für diese
"Anthropologie" auf Luther berufen zu dürfen, und er hat die existentialeAnalytik von "Sein und Zeit" in diesem Sinne aus.gelegt.
Es zeigt sich, daß Bultmann sein Denken in der paradoxen Spannung von
Vernunft und Existenz, besonders eindringlich von historischer Vernunftund Existenz expliziert und daß alles, was er geschrieben hat, sich in dieser
Grundstruktur hält. Der Existenzbegriff erscheint als das geeignete Mittel,das nichtgläubige Vorverständnis von der christlichen conscientia aus auf-
zuarbeiten.
Die Entmythologisierung ist für Bultmann ein rein hermeneutisches Pro-
blem. Bisher haben wir vor allem darauf geachtet, daß die theologische Reflexion Bultmanns sich gegen den der Intention des Glaubens unangemessenen Idealismus der liberalen Theologie wendete, weil darin die paradoxe
Spannung von Vernunft und Existenz verdeckt wird, und daß er diese A.usgangssituation der Existenzdialektik wiederherstellte. Diese Reflexion entspricht etwa der Auseinandersetzung Augustins mit der Gnosis, und sie folgtder Kritik Kierkegaards am spekulativen Idealismus Hegels; sie legt den
Zugang zum Glauben wieder frei, von dem aus Bultmann dann in das menschliche Leben wieder zurückfragt.
Die Frage is t nun: wie können wir die Sprache der neutestamentlichenSchriften umsetzen auf den einzigen Boden, der uns. in der Auseinandersetzung des Glaubens mit der Selbstgenugsamen Vernunft, vorab der historischen Erkenntnis geblieben is t: der durch die Verkündigung in die radikale
Selbstprüfung genötigten Existenz? Wenn diese Lage dem theologischen Den-ken unausweichlich vorgegeben ist, dann ist auch die Entmythologisieruhg einProblem, dem das theologische Denken nicht ausweichen kann.
Deshalb tritt eine zweite Reflexion hinzu, die an sich schon in der paradoxen
Spannung von Vernunft und Existenz angelegt ist. Durch die Kritik ist der'objektivierende und relativierende Charakter der historischen Erkenntnis
herausgestellt und in sein Recht eingesetzt. Kierkegaard - an der
historischen Erkenntnis selbst nicht interessiert - hatte sich mit der prinzipiellen Fragestellung begnügt: das objektiv geurteilt nur Wahrscheinliche
und durch seine historische Bedingtheit Relativierbare wird im Glauben alsMöglichkeit der eigenen Existenz ergriffen und zugeeignet. Er hatte ohne
weitere historische Reflexion das Neue Testament in dieses "Schema" auf-
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gelöst, in der Gewißheit, daß kein objektives Faktum die absolute Paradoxie
der Menschwerdung Gottes stützen oder wahrscheinlicher machen kann.
Bultmann aber als historisch-kritischer Exeget kann sich bei einer derart
"summarischen" Lösung nicht beruhigen. Der Historiker ist verpflichtet, der
historischen Wahrheit ihr Recht zuzuerkennen und den Gang der neutesta-
mentlichen Tradition zu erforschen. Nun erst stellt sich die im engeren
Sinne hermeneutische Aufgabe: den historisch begriffenen Gegenstand in
die theologische Reflexion hineinzustellen. Dabei ergibt sich eine neue linderregende Feststellung. Da die historische Gewissenhaftigkeit den Ausweg
der unbefangenen Umdeutung oder aber den der Allegorese ausschließt, muß
sich die theologische Reflexion nun gegen die Zeugnisse des Neuen Testa-
mentes selbst wenden; sie muß das Verhältnis vor allem der neutestament-
lichen Sprache zu unserem theologischen Verständnishorizont ausdrücklichzum Problem machen.
Dabei stellt sich heraus: Wir finden in der Sprache der neutestamentlichen
Schriftsteller v i ~ l e Bestandteile, die einer mythischen Welterfahrung zugehören, die wir heute nur noch aus ihrer historischen Bedingtheit verstehen
können. Der Bereich, der von diesem kritischen Urteil betroffen wird, reichtsehr weit: er erstreckt sich von dem sogenannten Weltbild über die Dämonen-
lehre zu so zentralen theologischen Begriffen wie o a e ~ und nveii,ua,dem Be
griff d·es Sohnes Gottes, dem Geschehen der Auferstehung. Die n e u t e s t a ~mentlichen Schriftsteller schreiben in einer Sprache, die die Reflexion der
Innerlichkeit noch nicht durchgemacht hat.
Diehermeneutische
Strukturdes durch diese zweite Reflexion bestimmten Denkens läßt nur zwei Erfahrungsdimensionen zu, die des historisch
objektivierbaren und also relativierbaren Berichtes von wirklichen oder ver
meintlichen Fakten und die von Gott zum Glauben und zur verstehenden
Rechenschaft über diesen Glauben gerufene Existenz.Wüßten die neutestamentlichen Texte von der durch den Terminus der
Existenz bezeichneten conscientia coram Deo nichts, dann wären sie tat-
sächlich unverständlich geworden, sie wären nur noch M a t ~ r i a l historischer
Erkenntnis; sie wären in die Religionsgeschichte abgesunken.Hier steht die Möglichkeit der Theologie auf dem Spiele, zwar prinzipiell
nicht anders als bei Augustinus, ehe er die veritas illuminans und bei Kierke-gaard, ehe er im Paradoxbegriff den Zugang zu dem im Glauben Gemeinten
fand, aber doch mit dem wesentlichen Unterschied, daß die kritische Reflexion nunmehr sich auf die neutestamentlichen Schriften selbst wendet und
daß die bisher nicht gestellte Frage des Exegeten nach der Verständlichkeit
der Texte zu der bewegenden Mitte des hermeneutischen Prozesses wird.
Die Antwort, die Bultmann in ständig forschender Auseinandersetzung
mit den neutestamentlichen Schriften gefunden hat, läßt sich etwa so zusammenfassen:
Tatsächlich liegt die gesamte Sprache des Neuen Testamentes vor der
zweiten, ja zum großen Teil vor der ersten theologischen Reflexion, - abernicht das, worauf die neutestamentlichen Schriftsteller mit ihrem Zeugnis
intendieren. Ihre Intention tritt immer wieder rein und entschieden hervor.
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Von solchen Stellen aus haben wir in historisch kritischer Exegese das wahrhaft Gemeinte (mit einem Worte Kierkegaards das "Christliche") zu unterscheiden von der Sprachgestalt, in der es sich ausspricht und z. T. auch verfängt.
Halten wir d i e n [ a n ~ als den Ausgangs- und Endpunkt aller neutestamentlichen Zeugnisse fest, dann läßt sich zeigen, daß der Apostel Paulus z. B. dengnostischen Urmenschenmythos- in dem Sünde kosmisches Schicksal ist-
gebraucht daß er ihn aber so modifiziert, daß der "geschichtliche" Cha"rakter
der n i a n ~ gewahrt ist d. h. daß die Dauer der Sünde in der Welt. (die Fortdauer des Bösen) die Freiheit vor Gott nicht ausschließt. Wo von Sünde und
Vergebung gesprochen wird, da is t an die Stelle mythischer Welterfahrungder Glaube getreten, der sich in s·einer unbedingten Abhängigkeit von Gottund in seiner innersten Freiheit, die B. Geschichtlichkeit nennt, weiß. In der
"Geschichtlichkeit" ist die in der Welt dauernde Machtdes.
Bösen nicht geleugnet, zugleich aber die Einsicht Kierkegaards festgehalten, daß inmittenaller· Determiniertheit durch die Geschichte und das in ihr wirksame Böse
doch immer "Sünde die Sünde voraussetzt" oder "die Sünde durch Sünde indie Welt kommt". Wir sind gezwungen, denselben Sachverhalt in einer durchreflektierten, der 1 Einsicht in unsere Geschichtlilchkeit entsprechendenSprache zu sagen. 'Das besagt die These, daß wir den Mythos nicht elimi-nieren, sondern interpretieren sollen. ·
Die durch die historische Vernunft erzwungene zweite theologische Reflexion nötigt uns also, den von Grund auf unmythischen Charakter des neu
testamentlichen Glaubens in seiner ganzen Schärfe herauszuarbeiten. DerWiderstand der historischen Aufklärung gegen den Wahrheits- und Heilsanspruch der Offenbarung treibt den Glauben in die letzte Rechenschaft übersich hinein.
Daher ist Bultmann kein Aufklärer, der ein dogmatisch voraus.gesetztesPrinzip kritischer Auslegung auf die neutestamentlichen Schriften anwendet,sondern ein Exeget, der den hermeneutischen Charai<:ter theologischer Arbeitständig festhält und daher die Hindernisse, die der glaubenden Aneignungim Wege stehen, mitbedenkt. Es is t zu viel behauptet, zu sagen, Bultmannleugne Wunder und Auferstehung; aber er besteht darauf, daß sie als ob
jektive historische Fakten nicht feststellbar sind, ja daß ihre Feststeilbarkeitdem Glauben wenig helfen würde. Was wir davon "wissen" und sagen können, gehört in die dem Glauben eigene Dimension der sich vor Gott verstehenden Existenz. Es sind immer "gewagte", nie objektiv gesicherte Aussagen, denen der Glaube vertraut. Das "sola fide" der Reformation erhälthier einen neuen Sinn, der - von Bultmann her gesehen - der Offenheit,die das Signum eines eschatologischen Glaubens ist, entspricht.
VI.
Eine kurze Zusammenfassung soll das Schema meiner Überlegungen wiederholen.
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Bei Bultmann und in gewissem Maße auch bei Kierkegaard haben wir esmit einer doppelten theologischen Reflexion zu tun.
Die erste Reflexion gehört - wie ich behaupten möchte - zum christlich
theologischen Denken als solchen. Wir fanden sie auch Augustin: die
veritas Dei ruft in das Selbstsein des Ego ipse. Die consctentia vor Gottkann die Überwältigung, der die mythische Welterfahrung entspringt, ansich selbst nicht mehr geschehen las.sen. Wo das ganze Leben in der con-fessio (oder abgewandelt bei Kierkegaard in den Stadien) sich dankend undreuend einholt, da ist jede mythische Welterfahrung aufgehoben.
Die zweite Reflexion kommt auf mit der rationalistischen Vernunft unddem ihr komplementären Begriff der historischen' Wahrheit. Das Problemder Entmythologisierung wird durch die paradoxe Spannung von Vernunftund Existenz verschärft. Bisher ging es darum, in einem vorgegebenen und
auch nicht in Frage gestellten Rahmen, der etwa durch das altkirchlicheDogma bezeichnet ist, den Raum für die Einsicht, die der Glaube ermöglicht,zu gewinnen und offenzuhalten. Jetzt sollen alle theologischen Aussagendurch den aneignenden Glauben vermittelt sein und aus der genauen Be
zogenheit auf ihn nicht heraustreten dürfen, da sie sonst unweigerlich inden Bereich der historischen Wahrheit abfallen.
Eine Di&kussion über das Problem der Entmythologisierung könnte sich-··- wie mir scheint - an der Frage nach dem Recht der ersten und dann andem Verhältnis von erster und zweiter Reflexion orientieren. Mir erscheintdie hermeneutische Struktur, deren Folge die Entmythologisierung ist, dis
kussionswürdiger zu sein als einzelne Ergebnisse des Entmythologisierungs-"programms", in eben dem Maße, wie· der Grund seiner Folge überlegen ist.
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MYTHOS - LOGOS - MYSTE"RION
Johannes B. Lotz
Ein philosophischer Beitrag zur Frage der Entmythologisierung
I. Einführung
Jede Theologie enthält eine Philosophie, ob es der Theologe weiß oder
nicht, ob er es eingesteht oder nicht. Daher is t es eine wichtige Aufgabe deschristlichen Theologen, bis zu den philosophischen lmplikationen und Vor-
aussetzungen der Theologie vorzudringen. Von diesem Ansatzpunkt her ent-
faltet sich das christliche Philosophieren; hier wird seine Bedeutung für die
christliche Daseinsgründung oder seine existenzielle Bedeutung offenbar;
also liegt in einem rein profanen Philosophieren fü:r einen Christen keine
echte Möglichkeit. Das christliche Philosophieren aber darf der Theologe
nicht vernachlässigen, weil er sonst nur seinen unbewußt bleibenden philo-
sophischen Annahmen kritiklos verfällt. Macht er hingegen die seiner Theo-
logie innewohnende Philosophie ausdrücklich bewußt, so setzt er sich zu-
gleich mit seinen philosophischen Grundlagen kritisch, auseinander. Dabei
kommt es zu einem Dialog zwischen der göttlichen Offenbarung und der
menschlichen Vernunft. Indem diese sich der Offenbarung gehorsam unter-
wirft, wird sie zugleich erlöst, findet sie erst ganz sich selbst oder ihre
eigene geläuterte Kraft. Eine solche Vernunft (ratio fide illustrata) vermag
der Offenbarung unersetzliche Dienste zu leisten, wenn diese sich selbst zu
verstehen sucht oder eine Theologie entfaltet.
An diesem großen Werk kann mit dem christlichen auch das nicht-christliche Philosophieren zusammenwirken. Die weltgeschichtlichen Beispieleetwa eines Augustinus (Platonismus), Thomas von Aquin (Aristoteles) und
auch Kierkegaard (Hegel) zeigen das mit aller Deutlichkeit. Doch muß das
nicht-christliche Philosopieren erst recht geläutert und so in christlichesPhilosophieren umgesetzt werden, damit es dem Wort Gottes nicht wider-
spricht, sondern ihm dient, wodurch sein Wahrheitsgehalt nicht zerstört, son-
dern erfüllt wird. Deshalb kann man mit Recht die Frage stellen, ob der
Aristoteles der Kommentare von Thomas ganz mit dem Aristoteles, wie er
konkret in seiner geschichtlichen Situation war, übereinstimmt.
Von dem vorstehend entworfenen Hintergrund her fällt auch auf die Frage
der Entmythologisierung einiges Licht. Diese hat nämlich ihre philosophische
Wurzel, insofern Bultmanns zentrales Anliegen das existenziale Verstehendes Menschen als des Christen ist, wozu sich die Entmythologisierung wie
eine Folge verhält. Das christliche existenziale Verstehen aber ist vom christ
lichen Ringen Kierkegaards und vom Philosophieren Heideggers befruchtet,
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MYTHOS - LOGOS - MYSTERION 111
und zwar von dessen erster Periode, die wiederum im Lichte Kierkegaardsgedeutet wird. Hier vollzieht sichi also entweder mittelbar (durch Kierke-gaard) oder unmittelbar (durch Heidegger) eine Begegnung der Theologie
mit der Philosophie. - Im folgenden wollen wir über die Eigenart und Berechtigung dieser Begegnung ein wenig nachdenken, indem wir sie in einenweiteren Rahmen, in den unseres Erachtens ihr· zukommenden Rahmen hineinstellen und so auch sachentsprechende Maßstäbe für eine kritische Beurteilung gewinnen.
Was wir unter einem solchen weiteren Rahmen in theologischer Hinsichtverstehen, sei nur kurz angedeutet. Wir s.ind mit Bultmann darin einig, daßman das Christentum grundsätzlich und verhängnisvoll mißversteht, wenn es
als Mythos, vielleicht besonderer Art, unter die heidnischen Mythen eingereiht und dies.en mehr oder weniger gleichgestellt wird. Das Christentumist nicht ein Mythos, ist mehr als jeder Mythos. Aber was is t das Christen-tum? Was ist der Sinn seiner Offenbarungs.-Botschaft? Darum ringt von An-fang an die christliche Hermeneutik, als deren Sonderfall die Entmythologi-sierung Bultmanns betrachtet werden kann und muß. Hierbei geht es umdie Auslegung der überlieferten heiligen Schriften, um voll Ehrfurcht undBehutsamkeit den Sinn der Botschaft herauszuarbeiten, den Gott uns mit-teilen will und den der Heilige Geist von Anfang an und für die Menschenaller Zeiten beabsichtigt hat. Im Zuge dieser Arbeit hebt sich das Überzeit-liche vom Zeitbedingten, der gemeinte Sinn von dem, was lediglich Einkleidung ist, ab; damit wird dann auch, was Bultmann besonders akzentuiert,die Grundlage für eine Anpassung der Botschaft an die Menschen einer bestimmten Zeit und zumal unserer Zeit gewonnen, ohne daß man fürchtenmuß, Wesentliches preiszugeben. Wichtige Beispiele solcher Hermeneutiksind etwa die Auslegung des Sechs-Tage-Werkes durch Augustinus, das Ringen um eine bestimmte Aussage der Hl. Schrift anläßlich des Falles Galilei,
die Erörterungen um die verklärte Leiblichkeit und den Himmel, die durch
das Dogma von der leiblichen Aufnahme der Gottesmutter in Gottes Herr-lichkeit neu ausgelöst wurden; ähnliche Fragen beschäftigen die Theologenbezüglich der Eschatologie. ·Dem Bemühen der Hermeneutik kommen die
Philosophie und auch die Naturwissenschaften zu Hilfe; ebenso kann dieReligions.geschichte einen Beitrag dazu liefern; die letzten Maßstäbe abersind der christlichen Botschaft selbst zu entnehmen. Wir lassen es bei diesen
grundsätzlichen Bemerkungen bewenden und gehen nicht näher auf eine·kritisclie Siehtung des Bliltmann'schen Versuches ein.
Den weiteren Rahmen in philosophischer Hinsi.cht wählen wir zum eigent
lichen Thema unserer Untersuchung. Er ist durch die drei im Titel unsererAbhandlung steii·enden Worte angedeutet, nämlich durch Mythos, Logos und
Mysteriori. Diese d ~ e i Größen sind kraft ihres eigensten Wesens auf dreiStufen· nienschiicher Selbstverwirklichung b e z o ~ e n , auf die Einbildungskraft,·den Verstand und die Veniunft. Die Vernunft vernimmt das Geheimnis, der
Verstand prägt es in den Begriff und die Einbildungskraft stellt es im Bildoder im Symbol dar. Daher setzen unsere Überlegungen beim. Menschen an ,und zwar bei seiner innersten Tiefe, bei seiner Verimnft, weil die beiden
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anderen Stufen von ihr abhängen und leben. Zu dieser Haupt-Thematik geleitet von Bultmann her eine vorbereitende Erörterung des existenzialenVerstehens hin.
l l . Die vorbereitende Erörterung des existenzialen Verstehens
Der Mensch ist jenes Seiende, das sich vor den anderen sichtbaren Seienden dadurch auszeichnet, daß es als Existenz auftritt. Der Existenz aber is tes eigen, sich selbst zu verstehen und über sich selbst zu entscheiden; beideZüge sind untrennbar eins, weil mit dem Verstehen das Entscheiden gegeben ist und umgekehrt das Entscheiden immer schon das Verstehen voraussetzt und einschließt. Kraft seiner Existenz ist der Mensch in seinerGegenwart zwar durch seine Vergangenheit bestimmt, nicht aber eindeutigfestgelegt; vielmehr entwirft er immer schon seine MögliChkeiten frei in die
Zukunft hinein. - Bultmann vertritt diese Sicht des Menschen, weil sie ihmvom Wort Gottes dargeboten wird, nicht in erster Linie weil er sich einembestimmten Philosophieren anschließt, obwohl dieses zur Klärung der christlichen Botschaft beiträgt.
Der Zweiheit des Dinges oder der Sache einerseits und der Existenz an
drerseits entsprechen zwei Weisen des Erfassens. Das Ding findet der Menschals etwas ihm Gegenüberstehendes und damit als Gegenstand oder Objektvor; es ist von ihm getrennt oder losgelöst, ihm fremd, geht ihn nichts an;
daher wird es von dem objektivierenden oder gegenständlichen Denken er-. faßt, das unbeteiligt bleibt. Seine eigene Existenz hingegen kann der Mensch
nicht objektivieren, ohne sie letztlich nach ihrem Eigeosten zu verfälschen;denn sie ist für ihn nicht etwas Fremdes, das ihn nichts angeht oder dem er
unbeteiligt gegenübersteht. Vielmehr is t sie ihm das Nächste, das er selbstganz ist, das ihn auf das höchste angeht, an dem er mit allem, was seinDasein ausmacht, beteiligt ist. Daher is t die Existenz :.ich selbst nicht in dem
von außen erfassenden objektivierenden Denken, sondern in dem von innen
her durchleuchtenden existenzialen Verstehen zugänglich.
Bultmann bewegt sieb in diesem existenzialen Verstehen, indem er es klar
von dem nur existenziellen Verstehen abhebt. Letzteres besagt den Vollzugder Seihsterheilung der einzelnen Existenz, der sich im existierenden Selbstentwerfen verwirklicht, ohne sich im Wort und Begriff äußern zu können.Ersteres hingegen schreitet von der einzelnen Existenz zu der Existenz fort,was ohne weiteres dadurch geschieht, daß wir über sie nachdenken und reden;
so erheben wir uns zu den allgemein menschlichen oder für alle Menschenzuinnerst (mögen sie auch in ihrer Erscheinung zunächst weit davon entfernt
sein) kennzeichnenden Strukturen.- Mit Hilfe des ~ ' ! J s t e n z i a l e n Verstehensprüft Bultmann die Ge&ebenheiten der Hl. Schrift auf ihre existenziale Bedeutung hm; was solche Bedeutsamkeit aufweist, gehört zum Kern der christlichen Botschaft; was solcher Bedeutsamkeit ermangelt, ist als Mythos aus
zuscheiden,Das existenziale Verstehen betrifft keineswegs die E:!dstenz in einer solipsistischen Isolierung, sondern in den Zusammenhängen, die zu.ihr gehören;
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unter diesen nimmt die Beziehung zu dem Grund, von dem allein her sie
Existenz ist und sein kann, die erste Stelle ein. Hier treten die beiden
Perioden im Philosophieren Heideggers auseinander. Während in der ersten
Periode der genannte Grund das Nichts ist, zeigt er sich in der zweiten
Periode als das Sein. Obwohl die beiden Perioden aadurch zusammenhän
gen, daß wir im Nichts dem verschleierten Sein und im Sein dem entschleierten Nichts begegnen, können sie doch nicht einander gleichgesetzt werden
oder sind bedeutende Akzentverschiebungen zu beachten. - Schon in der
Periode des Nichts ging es nicht um eine isolierte Subjektivität, weil dieExistenz als In-der-Welt-sein gesehen wurde, wobei der Ausdruck "Welt"
nicht die gegenständliche Vorhandenheit, sondern die existenziale Bedeut
samkeit aller Dinge bezeichnet; doch blieb die existenziale Analytik auf dieEntwürfe der Existenz beschränkt. In der Periode des Seins hingegen wird
die Welt als das Sein offenbar, weshalb das Sein nunmehr die Welt ist, von
der her und zu der hin die Existenz sich selbst versteht. Daher gründet dieExistenz darin, daß sie vom Sein und für das Sein in Anspruch genommen
ist (engage par l'etre et pour l'etre); sie wird unablässig vom Sein ent-worfen und hat mit ihrem eigenen Entwerfen dem Anspruch des Seins zu
entsprechen. Allein von diesem Anspruch her is t die Existenz als Selbstver
stehen und Selbstentscheiden ermöglicht, das nicht leer und richtungslos
bleibt, weil es eben je und je vom Sein in Anspruch genommen ist.
Erst von hier aus enthüllt sich ganz der Sinn des existenzialen V erstehens:
die Existenz versteht sich existenzial, wenn sie sich als entsprechend dem
Anspruch des Seins versteht. Der allen gemeinsame Anspruch des Seinsermöglicht auch das Forts.chreiten von der einzelnen Existenz zu der Exi
tenz, weshalb der oben umschriebene Sinn des existenzialen Verstehens von
der jetzigen vertieften Sinngebung abhängt. Demnach droht ohne die Ver
wurzelung im Anspruch des Seins das existenziale Verstehen in das nur
existenzielle abzusinken, das dann in der einzelnen Existenz kreist und über
deren eigenes Entwerfen letztlich nicht hinausdringt. Hier kündigt sich das
anthropologische Mißverständnis an, das schließlich zu einem Rückfall in
die isolierte Subjektivität führt und bezüglich dessen Heidegger zugibt, daß
"Sein und Zeit" noch einen gewissen Anlaß dazu geboten hat.
Blicken wir von diesem Ergebnis her auf Bultmann hin, so umfaßt seinexistenziales Verstehen zweifellos die Einwurzelung des christlichen Men
schen durch Christi Erlösungstat in Gott. Zugleich jedoch bleibt er bei
Kierkegaard und der durch diesen gesehenen ersten Periode Heideggers
stehen. Damit fällt bei ihm der Anspruch des Seins aus, der letztlich das
existenziale Verstehen über das existenzielle erhebt; folglich wird die Ge
fah·r spürbar, daß das existenziale Verstehen für Bultmann in das existen
zielle zurückgleitet.Insoweit das existenziale Verstehen nicht zum Anspruch des Seins gelangt,
fehlt in ihm auch der Ansatzpunkt für den Anspruch Gottes. Tatsächlich
wird bei Bultmann wie schon früher bei Kierkegaard der Anspruch Gottesdurch die Kraft des christlichen Glaubens in das existenziale Verstehen ein
geführt, während dieses von sich aus keine ausreichende Beziehung zu Gott
8 ca.telli
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aufweist. Hier macht sich ein grundsätzlicher Unterschied bemerkbar, der
die Katholiken. und die Protestanten voneinander trennt; denn die natür
lich-menschliche Gottesmitteilung, die der übernatürlich-gnadenhaften zugrundeliegt und innewohnt, wird von den Katholiken bejaht, von den Pro
testanten aber geleugnet; daraus ergeben sich ·für die Katholiken die sogenannten "praeambula fidei", die von den Protestanten folgerichtig abgelehnt werden. - Ein Rest der katholischen Auffassung findet sich in
· Bultmanns "Vorverständnis", das jedoch nicht zu voller Entfaltung kommt,
weil sein existenziales Verstehen, des. Seinsanspruchs beraubt, keinen ent
sprechenden Ansatzpunkt enthält. Daher gelangt dieses existenziale Verstehen durch einen Sprung, dem keine im Verstehen selbst wurzelnde Rechtfertigung innewohnt, vom Menschen zu Gott; l;leswegen droht die Gefahr,
daß Verstehen und Gottesglaube auseinanderbrechen und damit das Verstehen in sich selbst zurücksinkt. Ganz anders und erst eigentlich könnte
sich Bultmanns Vorverständnis auswirken, wenn er das voll-existenzialeVerstehen der zweiten Periode Heideggers annähme, weil darin der Anspruch
des Seins den Ansatzpunkt für den Gottesglauben bietet. In diesem zweiten
Sinne des Verstehens bewegt sich die katholische Auffassung, die freilich
auch bei Heidegger nicht stehenbleiben kann, sondern dessen Ansatz wesent
lich über diesen selbst hinausentwickeln muß, indem sie vom Sein zu Gottfortschreitet.
Das Sein kommt nie wie ein Gegenstand unter den anderen Gegenständen
vor und steht uns auch nie als Fremdes und Gleichgültiges gegenüber; folglich wird das nur objektivierende Denken das Eigentliche und Einzigartige
des Seins verfehlen. In Wahrheit geht uns das Sein stets als der übergegen
ständliche Grund aller Gegenstände auf, der nie selbst zum Gegenstand
werden kann; zugleich bietet sich das Sein immer schon als das uns Nächste
und Vertrauteste, als das mit uns Geeinte und uns Mitgeteilte dar, das uns
jederzeit auf das höchste angeht und von dem unser gesamtes Geschick abhängt. ·Damit gehört das Sein dem Bereich des existenzialen Verstehens an,
indem es sogar diesen Bereich allererst ermöglicht; denn wie die Existenz
sich einzig vom Sein her und zum Sein hin versteht, so wird auch das Sein
.für uns einzig von der Existenz her und zu der Existenz hin ursprünglich
verstehbar, was nicht besagt, daß das Sein zuinnerst und zuletzt nur als dasauf die Existenz Bezogene ist.
Der Klärung dieser Frage und zugleich der Abgrenzung von Heidegger
wird es dienen, wenn wir uns wenigstens kurz der Geschichtlichkeif des
Seins zuwenden. Der Anspruch des Seins., der an die Existenz ergeht, ist
stets derselbe .und doch nie derselbe; er is t stets derselbe, insofern es sich
immer um den Anspruch gerade des Seins handelt; er is t nie derselbe, inso
fern sich uns das Sein je und je anders mitteilt. Diese beiden sich durchdringenden Hinsichten machen die Geschichtlichkeit des den Menschen in An-
. spruch nehmenden Seins aus. Nun fällt nach Heidegger das Sein schlecht
hin mit diesem Anspruch zusammen; es besteht .in diesem Anspruch undläßt sich davon in keiner Weise ablösen. Daher ist für ihn das Sein nichtnur in seiner Mitteilung an den Menschen oder an die Existenz, sondern
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in sich selbst oder nach seinem eigensten Selbst geschichtlich, da ja dieUnterscheidung dieses Selbst von jener Mitteilung unmöglich ist.
Der so gefaßte Anspruch des Seins enthält zunächst keinen Ansatzpunkt
für den Anspruch Gottes; jedenfalls kann sich, daraus nicht unmittelbar eine
natürlich-menschliche Gottesmitteilung entfalten; ob sich darin eine über
natürlich-gnadenhafte Gottesmitteilung ereignen kann, erscheint sehr frag
lich. Heideggers wiederholte Versicherung, das geschichtliche Sein schließe
die Offenheit für die Transzendenz oder für Gott nicht aus, zwingt das
tiefere Durchdenken, in den inneren Grund jenes Seins einzudringen. Da
bei zeigt sich, daß die geschichtliche Mitteilung des Seins als ihre Möglichkeitsbedingung das übergeschichtliche Selbst des Seins voraussetzt. Infolge
dessen nimmt der Mensch durch das geschichtlich sich mitteilende und des
halb auf ihn bezogene Sein an dem übergeschichtlichen Sein teil, das zwar
durch seine freie Selbstmitteilung mit dem Menschen in Beziehung tritt,
zuinnerst aber als der personale Ab-solute in sich selbst ruht oder subsistiert. Also meldet sich im Anspruch des Seins letztlich der Anspruch Gottes,
was hier nicht im einzelnen entfaltet werden kann.
Damit enthält das existenziale Verstehen inkraft des Anspruchs des. Seinsnotwendig den Ansatzpunkt für den Anspruch Gottes, ja der ganz ent
faltete Anspruch des Seins ist bereits die natürlich-menschliche Gottes
mitteilung, in die hinein die übernatürlich-gnadenhafte Gottesmitteilung
geschehen kann und tatsächlich immer schon geschieht. Daß aber Gott indas existenziale Verstehen hineingehört, is t bei ihm nicht weniger als beim
Sein klar; denn Gott wird verfehlt, sobald er vom Menschen als ein gleichgültiger Gegenstand behandelt wird; Gott wird erst wahrhaft als Gott getroffen, wenn er dem Menschen als der für ihn schlechthin Bedeutsame oder
Entscheidende begegnet; das besagt keineswegs ein subjektivistisches Bot
wirklichen Gottes, sondern gerade das höchste Ver-wirklichen Gottes, wodurch das Subjekt über sich hinaus- und in die anbetende Hingabe hinein
geführt wird. Unser Ergebnis entspricht der oben angedeuteten katholischen
Auffassung; in ihm erfüllt sich zugleich Bultmanns "Vorverständnis", wer
den auch alle Gefahren überwunden, die bei ihm spürbar waren.
Ill. Die Haupt-Thematik: Mysterion, Logos, Mythos
1. Mysterion: Die vorbereitende Erörterung des existenzialen Verstehens
hat uns bereits mitten in unser Hauptthema hineingestellt. Wie wir gesehen
haben, ist der Mensch in seiner Tiefe vom Sein und für das Sein, letztlichaber von Gott und für Gott in Anspruch genommen. Dieser Anspruch vollzieht sich geschichtlich; das besagt: das Sein und Gott enthüllen .sich in einer
An-wesenheit, die unaufhebbar in Ab-wesenheit verhüllt bleibt; sie teilen
sich auf verborgene Weise mit, indem sie zugleich ihre entschleierte Bot
bergung oder Gegenwart entziehen. Darum ist der Mensch nie beim Sein
und Gott wirklich angekommen, sondern stets zu ihnen geschichtlich unterwegs; wegen der Anwesenheit kann er auf dem Wege sein, wegen der Ab
wesenheit muß er auf dem Wege bleiben; wegen des Sich-mitteilens ist er
s•
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immer schon am Ziele, wegen des Sich-entziehens ist er nie am Ziele.
Insofern das Sein und Gott für den Menschen im Pilgerstand wesentlichoder immerdar verhüllt und verborgen bleiben, übers.chreiten sie ihn unein
holbar oder unendlich, lassen sie all sein Erfassen hinter sich. Sie erweisen
sich als das Unbegreifliche, das vom menschlichen Begreifen nie ausgeschöpft werden kann, und damit als das Mysterion oder Geheimnis schlecht-
hin. Also ist das Tiefste im Menschen oder das, was ihn zuinnerst zum Men
schen macht, der Bezug zum Geheimnis. - Indem wir von "Bezug" sprechen,weisen wir bereits darauf hin, daß das Abwesende uns' immer schon an
wesend und das Sich-entziehende uns immer schon mitgeteilt ist. Dadurch
wird aber der Geheimnis-charakter des Geheimnisses nicht aufgehoben, weiles gerade als das Abwesende uns anwesend und gerade als das Sich-ent
ziehende uns mitgeteilt ist, weil obendrein die Anwesenheit und die Mit
teilung endlich, die Abwesenheit und der Ent-zug aber unendlich sind. Das
Geheimnis bleibt das, was sich vom Menschen nicht herbeizwingen läßt und
worüber er nicht verfügen kann, obwohl es sich uns immer schon und ständig
neu aus freier Huld gewährt oder zur Verfügung stellt, nicht damit wir dar
über verfügen, sondern damit wir uns darin einfügen.
Unsere Andeutungen suchen das Sein und erst recht Gott als das Geheim
nis der natürlich-menschlichen Ordnung zu umschreiben, das nur ein Vor
spiel zu dem der übernatürlich-gnadenhaften Ordnung bildet. Die eine Ord
nung des Geheimnisses gehört dem philosophischen Bereich an; sie is t schon
dadurch eröffnet, daß wir als Menschen da sind und wirken; auch läßt sie
sich in Sätzen aussprechen, die wir wegen der für uns einsichtigen Wahrheit
annehmen. Die andere Ordnung des Geheimnisses hingegen gehört dem theo-
logischen Bereich an; sie ist uns erst dadurch geschenkt, daß Gott eigens sein
offenbarendes Wort an uns richtet, was er vor allem in seinem menschgewordenen Sohn getan hat; auch läßt sie sich nur in Sätzen formulieren, deren
Sinn wir zwar verstehen, deren inneren Zusammenhang aber wir nicht durchschauen, weshalb wir ihnen nicht aus eigener Einsicht, sondern allein auf
Grund der unfehlbaren Autorität Gottes zustimmen. - Trotz dieses Unter
schiedes bleibt auch das Geheimnis des philosophischen Bereiches wirklichGeheimnis, weil das Sein und Gott etwas unendlich Einfaches sind und
dahereine
Teilaussage darüber nie fürsich abgeschlossen
sein kann.Folglichist alles Ausgesagte von dem Nicht-ausgesagten und Nicht-auss.agbaren,
alles Begriffene von dem Nicht-begriffenen und Nicht-Begreifbaren be-stimmt
und durch-stimmt, wobei die helle Zone verschwindend klein, die dunkle
aber überwältigend groß ist. Nie kommen wir über die "docta ignorantia"
angesichts des lichten Dunkels oder des Geheimnisses hinaus.
Umreißen wir noch genauer, wie sich das Geheimnis dem Menschen mit
teilt. Die erste und grundlegende Mitteilung geschieht in der Konstitution
des Menschen, insofern dieser unaustilgbar und vorgängig zu allem Wirken
auf das Sein und Gott und damit auf das Geheimnis ausgerichtet ist. Weil sich
ihm das Geheimnis immer sChon übereignet hat, steht er ständig unter dessenZug und lebt in ihm eine unstillbare Unruhe, die ihn über alles hinaus- und
immer tiefer in das Geheimnis hineintreibt. Diese aus dem Geheimnis ent-
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springende Unruhe hat nicht nur Augustinus in sein unsterbliches Wort gefaßt, sondern sie macht sich auch in der Erfahrung als jene bewegendeKraft bemerkbar, aus der schließlich alle Taten hervorgehen. - Die zweiteund vollendete Mitteilung geschieht im Wirken des Menschen; sie is.t durch
die erste ermöglicht und bringt dieser zugleich ihre Verwirklichung und Ent-faltung. In seinem Vollzug erfährt der Mensch, wie das Geheimnis ihm jeund je neu aus der Fülle seines Reichtums mitteilt; entsprechend vernimmter die stille, aber zuinnerst unüberhörbare Botschaft, die ihm das Geheimnisauf vielen Wegen, besonders durch die Begegnung mit dem Seienden undmit der andern Existenz zuschickt. Das Organ solchen Vernehmens heißt dieVernunft; sie is t jenes Höchste, wodurch der Mensch in das Übermenschlichehineinragt, wodurch er vor allem für das Geheimnis empfänglich is t undimmer schon von ihm in Anspruch genommen wird; Thomas von Aquin hatdafür das Wort "intellectus" gewählt. Des genaueren meinen wir mit Ver-nunft ein Denken, das sich von der Hingabe nicht trennen läßt; ferner einDenken, das, auf das Übergegenständliche bezogen, nie objektivierend seinkann, sondern sich stetiS als existenziales Verstehen verwirklicht. Das Vernehmen des Seins durch die Vernunft ereignet sich also als existenziales Ver-stehen, in dem das Geheimnis durch die Existenz und die Existenz durchdas Geheimnis erschlossen ist, in dem der Ansatzpunkt und der Raum auchfür jede wissenschaftliche Untersuchung dieses Bereiches liegt.
2. Logos: Die Geschichtlichkeit macht das Sein und noch mehr Gott fürden Menschen zum Geheimnis. Hier muß eine Frage aufgegriffen werden,
die sich schon mehrfach angekündigt hat: Wie kann sich das Geheimnis unsmitteilen, ohne daß es aufhört Geheimnis zu sein? Die Antwort liegt darin,daß das Geheimnis oder das Sein zunächst nicht als das, was erfaßt wird,sondern als das, wodurch das Seiende erfaßt wird, auftritt. Es is.t das Licht,das anderes licht macht, aber selbst im Dunkel bleibt; es wird uns insoweit mitgeteilt, als es anderes enthüllt, entbirgt oder anwesen läßt; es begegnet uns im Aussagen des Seienden, ohne selbst als Sein ausgesagt zu werden. Alle diese Formulierungen zeigen, wie das Sein in seiner Offenbarkeit
wirklich Geheimnis bleibt.Aus denselben Formulierungen geht zugleich hervor, daß unser mensch
liches Erfassen zunächst dem Seienden oder Gegenständlichen zugewandtund daher objektivierendes Denken ist. Darin spielt der objektivierendeBegriff die entscheidende Rolle; er entsteht dadurch, daß die sinnliche Ge-stalt des Seienden oder Gegenständlichen mit dem übergegenständlichenGeheimnis des Seins durchleuchtet wird. So zeigt sich, auf welche Weise dembetreffenden Seienden das Sein zukommt; diese Wei'>e aber is t seine Seiendoder Wesenheit, durch die das Seiende verstanden wü d. Das entsprechendeOrgan heißt der V erstand, der im objektivierenden Denken den gegenständ-lichen Begriff bildet, was. er aber nur kraft der in ihm tätigen Vernunft unddes ih r zugeordneten übergegenständlichen Geheimnisses vermag. Wichtig
für unsere weiteren Überlegungen ist, daß der Begriff zuerst in seinerobjektivierenden Gestalt auftritt und folglich begrifflich Denken und objektivierend Denken anfänglich zusammenzufallen scheinen.
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Doch trägt der gegenständliche Begriff als die Bedingung seiner eigenenMöglichkeit immer schon das übergegenständliche Geheimnis in sich; deshalb kann auch er nie ganz ausgeschöpft werden, kann auch er sowie dasin ihm verstandene Seiende an der existenzialen Bedeutsamkeit des Geheimnisses teilnehmen. Dieses is t also einerseits im objektivierenden Begriff amWerke; andrerseits aber spielt es lediglich als der mit-vollzogene, nicht eigens
beachtete und bedachte Hintergrund mit; wenn es nie aus dieser Unausdrücklichkeit hervorträte, könnten wir nicht einmal darüber reden. Nun drängtunser geistiges Leben dazu, das Implizite zum Expliziten, das Mit-vollzogenezum Vollzogenen, eigens Beachteten und Bedachten zu erheben; das gilt vorallem bezüglich des für unsere Existenz entscheidenden Geheimnisses. Hierbei muß der Mensch äußerst behutsam vorangehen, damit das Geheimnisim Sinne der oben gestellten Frage wirklich Geheimnis bleibt.
Auf keinen Fall istes möglich,
das Geheimnis mit dem objektivierendenoder (was das.selbe besagt) kategorialen Begriff zu fassen; denn das wäre
Angleichen des Seins an das Seiende und damit ein Zerstören des Geheimnisses. Ebenso is t es nicht möglich, das Geheimnis ohne jeden Begriff
zu fassen; denn die Vernunft hat (abgesehen von der Mystik) keine eigenenMittel, um dem Geheimnis die hier gesuchte Ausdrücklichkeit zu verleihen.Daher kommt alles. darauf an, daß es gelingt, mit dem Begriff des Verstandes das Geheimnis der Vernunft zu erreichen. Hierzu ist eine Erhebung des
Begriffes über seine zunächst gegebene Ebene erforderlich; eine solche Erhebung müssen wir aber nicht willkürlich herbeiführen, sondern der Begriff
wandelt sich ganz von selbst, sobald er dem Geheimnis begegnet, und ninimteine ihm gemäße Gestalt an. So gelangen wir zu dem Begriff, den die großeÜberlieferung "analog" nennt, weil er sich, wie das Wort sagt, seinem Gehalt "nach einem Verhältnis" nähert. Er faßt nämlich, da es eigene Ausdrucksmittel der Vernunft nicht gibt, das Überkategoriale nach seinem Verhältnis zum Kategorialen oder das übergegenständliche Geheimnis nach
seinem Verhältnis zum Gegenständlichen; dabei überwindet er das objektivierende Denken und geht in das existenziale Verst"'hen ein. Die Eigenartdieses ana-logen Begriffes ist darin vorgezeichnet, daß uns das Sein anfänglich als Hintergrund des Seienden und damit im Verhältnis zu diesem im
plizit aufgeht, weshalb es auch nur im Verhältnis zu demselben expliziertwerden kann. - Um eine terminologische Abgrenzung zu treffen, könnteman vorschlagen, das Wort "Begriff" auf den gegenständlichen Bereich zubeschränken und das Wort "Logos" der begrifflichen Fassung des_ Geheimnisses vorzubehalten; in diesem Sinne meinen wir "Logos" in unserem Titel.
Suchen wir den Logos näher zu kennzeichnen. Erstens vermag er das Geheimnis nie auszuschöpfen; sonst wäre das Geschichtliche überstiegen unddas begriffliche Fassen ginge in das Schauen über, was dem völligen Enthüllen und damit dem Aufheben des Geheimnisses gleichkäme. Das Ausschöpfen is t schon dadurch ausgeschlossen, daß das Sein nur im Verhältnis
zum Seienden entborgen wird . - Zweitens is t der Logos nicht wie der kategoriale Begriff ein schlechthin abstraktes Allgemeines; denn das Sein läßtsich nicht schlechthin vom Seienden abstrahieren, weshalb in ihm stets alles
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MYTHOS - LOGOS - MYSTERION 119
Seiende implizit mit-gedacht ist. Auch kann man nicht am Sein eine Rücksicht völlig isolieren, weshalb wir in jeder Rücksicht die gesamte Fülle des
Seins implizit mitvollziehen. Schließlich zeigt sich der Logos als das konkret
Allgemeine, das den einmaligen Bezug des Seienden zum Sein und letztlich
zu Gott oder des Endlichen zum unendlichen Geheimnis ausspricht.
Während also der kategoriale Begriff das Geheimnis auflöst, verleiht ihmder Logos gerade seine begriffliche Fassung. - Drittens ist mit dem ebenGesagten gegeben, daß der Logos im Geheimnis des Seins vor allem jenesSeiende mit-vollzieht, das als Mensch zum Verstehen des Seins durchdringt.Daher wird das Sein nie als etwas vom Menschen Abgetrenntes und für ihnGleichgültiges, sondern stets als das für ihn schlechthin Bedeutsame undEntscheidende gedacht. Folglich gehört der Logos dem Bereich des existen
zialen Verstehens, nicht dem des objektivierenden Denkens an.
Obwohl nach unseren Darlegungen das Geheimnis im Logos seine begriffliche Ausprägung findet, so fällt es doch nie mit dieser zusammen oderschreitet es immer über diese unendlich hinaus. Daher unterscheidet es sichzuinnerst von seiner begrifflichen Gestalt, wodurch es dieser zugleich alsderen kritisches Richtmaß gegenübertritt; demnach kann sich vom Geheimnisher der Logos ständig wandeln und immer mehr vollenden. - Aus dem ebenerwähnten Hinausschreiten ergibt sich die weitere Folgerung, daß eine Ent-konzeptualisierung des Geheimnisses möglich ist. Das heißt nicht, daß wirdas Geheimnis je ohne Logos voll zu fassen vermögen; das heißt aber sehrwohl, daß jede Art des Logos unendlich hinter dem Geheimnis zurückbleibt
und deshalb dieses von einer begrifflichen Gestalt in eine andere übergehenkann: Um-konzeptualisierung.
3. Mythos: Die oben gestellte Frage, wie das Geheimnis sich uns mitteilt,ohne daß es aufhört Geheimnis zu sein, findet nicht nur im Logos, sondernauch im Mythos eine Antwort. Wenn das Geheimnis aus der Vei:nunft in denVerstand hinabsteigt, entsteht durch eine entsprechende Umformung des Begriffes der Logos; wenn aber das Geheimnis noch weiter in die Einbildungs
kraft hinabdringt, erwächst aus einer ihm mehr oder weniger gemäßen Um-formung der Bilderwelt das, was man Mythos nennt. Zu einer solchen Ver-
sinnlichung des Geheimnisses kommt es notwendig, weil dieses sich nicht inder Vernunft einschließen läßt, sondern den ganzen Menschen durchstrahltund auf seine eigene Tiefe hin verwandelt.
Kraft der oben erwähnten Zuwendung zum Seienden oder Gegenständ-lichen entwirft der Mensch mit seiner Einbildungskraft zunächst Ab-bilder,
in denen sich die Dinge dieses Bereiches widerspiegei.n; es handelt sich alsoum Bilder von gegenständlicher oder objektivierender Art. Doch werdenschon diese nicht allein von den bloß sinnlichen Vermögen hervorgebracht;denn Thomas von Aquin weist darauf hin, daß die Einigungskraft (vis cogitativa), in der das sinnliche Erfassen gipfelt, nur durch ein Überstrahlen aus
dem geistigen Erkenntnisvermögen imstande ist, ih r Werk zu vollbringen,nämlich anschauliche Dinggestalten zu formen und zu erfassen. Daher erklärt sich die Einheit der Dinggestalt letztlich aus der Wesenheit des Ver-
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120 JOHANNES B. LOTZ
standes und dem Sein der Vernunft. Also kündigt sich bereits in den objek
tivierenden Bildern das Geheimnis als ermöglichender Hintergrund an.
Nun kann dieser Hintergrund ganz verborgen bletben, weshalb im Bild
einzig das Ab-bild uns entgegentritt. In vielen Fällen wird es aber nicht da
bei bleiben; vielmehr wird der H intergrund selbst in das Bild eingehen undin ihm mehr oder weniger zum Ausdruck kommen. Dann leuchtet im Abbild
das Ur-bild auf; mit "Urbild" meinen wir die dem Geheimnis entsprechendeanschauliche Gestalt, die Urbild heißt, insofern das Sein der Ursprung oderUrgrund alles Seienden oder Gegenständlichen ist. Schließlich kann es geschehen, daß in der bildhaften Gestalt das Ur-bild völlig die Oberhand überdas Abbild gewinnt; so entsteht ein Bild, das ganz iu der VersinnZiehung
des Geheimnisses aufgeht. Ein solches Bild erhebt sich vom Gegenständlichen zum Übergegenständlichen, indem es zugleich eine ihm eigene existen
ziale Bedeutsamkeit erreicht. Wie oben beim Logos, so kann auch hier voneiner gewissen Analogie die Rede sein; denn das Geheimnis begegnet unsdurch das gegenständlich Bildhafte und wird deshalb nach seinem Verhältnis zu diesem anschaulich ausgeprägt. Dabei spielen Elemente mit, die zwaraus dem Abbild stammen, die aber in ihrem gegenständlichen Gehalt transparent für das übergegenständliche Geheimnis werden, so daß sie, ganz indas Urbild eingeschmolzen, allein dem existenzialen Verstehen dienen.
In den vorstehend entfalteten Zusammenhang gehören der Mythos und
die Mythologie; beide unterscheiden sich nach Kerenyi dadurch, daß jenerdas Ursprüngliche ist und an sich Wahrheit darstellt, während diese das Ab
geleitete und weiter Ausgesponnene ist, das wegen des vielen Redens in dieLüge abgleitet. Doch ist auch der Mythos selbst nicht über jeden Einwand
erhaben, was sich aus seiner Eigenart ergibt. Näherhin macht er das Geheimnis in bildhaften Erzählungen oder Geschichten anschaulich; dabei gelingt es oft nicht, die gegenständlichen Elemente wirklich analog zu nehmenund so ganz in das übergegenständliche Geheimnis umzuschmelzen, weshalbes weithin zu einer Vergegenständlichung des Übergegenständlichen kommt;ebenso gelingt nicht die Unterscheidung des übergegenständlichen Geheimnisses von der noch allzu gegenständlich anschaulichen Gestalt, weshalbbeide, wenigstens solange der Mythos ungebrochen herrscht, miteinander
gleichges.etzt werden.Eine Ent-mythologisierung und auch Ent-mythisierung ist möglich und notwendig. In dem oben angedeuteten Sinne is t die Ent-mythologisierung möglich, insoweit in der Mythologie noch der ursprüngliche Mythos lebt unddieser sich von jener unterscheidet, indem er zugleich zum kritischen Richtmaßfür sie wird. Die Entmythologisierung ist wegen des Geheimnisses notwendig, weil dieses das Ausscheiden der später beigemischten Lügen und die
Rückkehr zu der anfänglichen Wahrheit des Mythos verlangt. - Auch dieEnt-mythisierung is t möglich, insofern das Geheimnis nie mit dem Mythoszusammenfällt, sondern stets unendlich über diesen hmausschreitet; da also
nie ein Mythos das Geheimnis ausschöpft, kann es mit Recht viele Mythenbezüglich desselben Geheimnisses geben. Deshalb unterscheidet sich trotzder erwähnten Gleichsetzung das Geheimnis zuinnerst immer schon von
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MYTHOS - LOGOS - MYSTERION 121jedem Mythos, indem es sich zugleich als kritisches Richtmaß an ihm be
währt. Hieraus ergibt sich, daß der Mythos nie nur im Bildhaften besteht,
sondern stets ein gewisses geistiges Erfassen, nämlicll das Vernehmen des
Geheimnisses durch die Vernunft und oft auch ein wenigstens. anfängliches
begriffliches Prägen desselben durch den Verstand einschließt. Die Ent-mythi
sierung ist nicht nur möglich, sondern auch notwendig, weil um der Reinheit
des Geheimnisses willen die Unzulänglichkeiten des Mythos überwunden
werden müssen, die der oben erhobene doppelte Einwand nennt.
Die Ent-mythisierung, wie sie hier genommen wird, fordert aber keineswegs die radikale Ent-sinnlichung des Geheimnisses oder sein völliges Her
auslösen aus den Bildgehalten; ein solches Unternehmen widerspräche der
geistig-sinnlichen Natur des Menschen. Daher geht es einzig darum, das Ge
heimnis von einer unzureichenden Ver-sinnlichung zu befreien, um dadurch
eine ihm möglichst gemäße Ver-sinnlichung anzubahnen. Hieraus erwächsteine Um-mythisierung, wenn man den von jenen Unzulänglichkeiten ge
läuterten Mythos noch "Mythos" nennen darf; soll dieses Wort vermieden
werden (was wegen möglicher Mißverständnisse wohl besser ist), so kann
vielleicht von "Symbolisierung" die Rede sein. Auf jeden Fall vollendet sichdie Begegnung des Menschen mit dem Geheimnis erst dann, wenn er es nichtnur im Logos begrifflich faßt, sondern auch in sinnlichen Gestalten (im ge
läuterten Mythos), .vorab in Symbolen anschaut. Dabei müssen die gegenständlichen Elemente wirklich ana-log genommen und so ganz in das übergegenständliche Geheimnis umgeschmolzen werden; zugleich muß trotz und
in der innigsten Durchdringung von unanschaulichem Geheimnis und anschaulicher Gestalt der Unterschied beider mit-ausgeprägt sein, weil sonst im
Anschaulichen nicht wirklich das Unanschauliche angeschaut wird. Solche
Ver-sinnlichung oder Ver-bildlichung kann nicht künstlich gemacht werden;
sie muß aus den Tiefen des Menschen wachsen und sich je nach den Völkern
und Zeiten ändern; sie bringt das überbegriffliche Geheimnis auf überbe
griffliche Weise ins Bild, wobei Herrlichkeiten anschaulich hervortreten, diesich mit dem begrifflichen Logos nicht oder nur mühsam und nie restlos ein
holen lassen.
Im Rückblick sehen wir den Logos zwischen dem Mysterion und dem"Mythos". Diese beiden kann er nie ganz einholen und deshalb auch nichtersetzen; doch hält er sich zu ihnen hin offen· und läßt sich von ihnen befruchten. Umgekehrt sind Mysterion und "Mythos'' auf den Logos angewiesen, insofern er sie durch seine Begrifflichkeit prägt, klärt und läutert.
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DIE STELLUNG EINER REFORMIERTEN THEOLOGIEGEGENÜBER DER EXISTENTIALEN INTERPRETATION
Henri Bouillard SI.
vom Institut Catholique de Paris
I.
Das offene Zwiegespräch zwischen Barth und Bultmann hat bekanntlich
lange vor jenem berühmten Artikel aus dem Jahre 1941 über die Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung oegonnen. Mit Genugtuung hebt Barth im Vorwort zur dritten Auflage des "Römerbrief" im Jahre1922 die gefällige Aufnahme hervor, die sein Werk bei Bultmann gefundenhat. Freundschaftlich antwortete er damals auf dessen Vorwurf, in seinerExegese von einer zu wenig radikalen Kritik durchdrungen zu sein. Zu jenerZeit standen sich die beiden Theologen ziemlich nahe. Man zählte sie mitGogarten, Brunner und anderen zu den Vertretern der sogenannten dialek
tischen Theologie. Sie arbeiteten zusammen an der Zeitschrift "Zwischenden Zeiten".
In den Jahren 1928 bis 1933 tritt nach und nach ein ernsthafter Zwiespaltzutage. Bultmann entwickelt systematisch 1 eine Idee, die ihm von jeher geläufig war: man kann einen biblischen Text oder die christliche Verkündigungnicht verstehen, ohne bereits ein "Vorverständnis" von dem zu haben, worumes sich handelt. Er kommt dabei zu folgendem Schluß: die Theologie "setztalso in ihren Aussagen ein bestimmtes Verständnis vom Menschen voraus" 2• Dieses Verständnis läßt sich zusammenfassen in der' Geschichtlich
keit des Daseins, wie sie Heidegger gerade in "Sein und Zeit" definierthatte. Gegen diese Idee eines zur theologischen Arbeit notwendigen Vorverständnisses lehnt sich Barth auf. Er sieht darin eine Art Geistesverwandt
schaft mit Schleiermacher 3• Im Jahre 1933 gibt er seine Zusammenarbeit mitBultmann, Gogarten und Brunner auf.
Mehrere Jahre hindurch erwähnt er Bultmann kaum mehr in seinen Schrif
ten. Erst von 1948 an bringt er in offenen Schriften seine Kritik hinsichtlichdes im Jahre 1941 dargelegten Planes der Entmythologisierung und der. existentialen Interpretation zum Ausdruck. Einige dieser Kritiken finden sich in
1 Vgl. dazu vor allem: "Die Bedeutung der dialektischen Theologie für die neutestamentliche Wissenschaft", erschienen 1928 in "Theologische Blätter", S. 57-67,wieder aufgenommen in "Glauben und Verstehen" I, 8.114-133. Die Entwicklung destheologischen Denkens Bultmanns bis zum Jahre 1933 habe ich analysiert in "Karl
Barth, I. Genese d evolution de la theologie dialectique" Paris, Aubier, 1957,8.190-203.
2 "Glauben und Verstehen", I, 8.117.3 D. ("Kirchliche Dogmatik") I/1, S. 36, 38-39, 132-133.
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DIE STELLUNG EINER REFORMIERTEN THEOLOGIE 123
dem Dogmatikband, der der Anthropologie gewidmet ist, an der Stelle, wo
von der Auferstehung Christi die Rede ist 4• Ausführlicher spricht er darüber in einer kleineren Schrift, die im Jahre 1952 unter dem Titel "RudolfBultmann. Ein Versuch ihn zu verstehen" erschienen i&t. Im folgenden Jahreerscheint der erste Teilband der "Lehre von der Versöhnung". Im Vorworterklärt Barth, er habe beständig die Gedanken Bultmanns vor Augen gehabtund er halte Zwiesprache mit ihm, selbst wenn er ihn nicht zitiere.
Die erwähnte Kleinschrift hebt vor allem die Schwierigkeit hervor, Bult
mann zu verstehen; sie erweckt den Eindruck eines tastenden Versuches, beidem die Kritik meist unter der Form von Fragen zum Ausdruck gelangt. DieZurückweisung, die bereits in ihr enthalten ist, kommt kategorischer in der"Dogmatik" zum Ausdruck. Ich werde in meinen Ausführungen diese verschiedenen Schriften im Auge behalten, mich dabei aber ungefähr an die
Anordnung besagter Kleinschrift halten, in welcher die jeweilige Bedeutung
der verschiedenen Bemerkungen deutlicher verständlich wird.1. Um Bultmanns Werk zu würdigen, betrachtet Barth zunächst dessen Er
gebnis: die positive Auslegung der neutestamentlichen Botschaft. IndemBultmann den Akzent auf das Christusereignis setzt, betrachtet als TatGottes, bringt er unbestreitbar seine Absicht zum Ausdruck, diese Botschaftgetreu wiederzugeben. Er trennt sich von der liberalen Theologie und setzts i ch - wie die anderen positiven Theologen- den Vorwürfen Jaspers' unddessen Schüler F. Buri aus 5• Leider gelingt es ihm nicht, diese seine Absichtzu verwirklichen. Denn bei ihm scheint das Christusereignis zurückgeführtund beschränkt auf den Übergang des Menschen von seinem uneigentlichenzu seinem eigentlichen Sein. Die Geschichte Jesu Christi selbst, sein Todund seine Auferstehung erscheint lediglich am-Rande, gleichsam als dunklerund unbestimmbarer Ausgangspunkt dieses Übergangs. Das bp' t i . n a ~ desHeilsereignisses besteht nicht in dem, was Jesus Christus ein für allemalan unserer Stelle vollbracht hat, sondern in der Aufforderung, sein Verhalten nachzuahmen, mit ihm zu sterben, um sich der Zukunft seines Lebenszu öffnen. Erst in der Existenz des Christen findet das Kreuz Jesu seineBedeutung und wird so zum Kreuze Christi. Erst im Leben des Christen gelangt Christus zur Auferstehung. Kurz, die Geschichte Jesu Christi fällt zusammen mit der Geschichte des gläubigen Menschen. Die Christologie wirddamit sozusagen absorbiert von der Soteriologie, die Tat Gottes von der
des Menschen 6• Weiterhin werden die Sünde und das neue Leben nachmenschlichen Kriterien definiert; die merkwürdig platonische Beschreibung
die Bultmann davon gibt, steht trotz der Teilwahrheit, die in ihr enthaltenist, in keinem Verhältnis zu dem, was uns das Werk Christi über uns selbst
offenbart 7•
Schon oft, so fährt Barth fort, wurde der Versuch unternommen,die Geschichte Jesu Christi mit der des Gläubigen zusammenfallen zu lassen.
4 D. III/2, S. 531-537.
s "Bult.", S. 23.o "Bult.", 8.16-23; D. IV/1, S. 857-858.7 "Bult.", S. 13-16.
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124 HENRI BOUILLARD
Bultmann ahmt auf diese Weise den jungen Luther, den jungen Melanchthon- beide wieder aufgenommen von der liberalen Theologie (Ritschl und Hermann) - nach 8• Der gleiche Versuch erscheint in der katholischen Mystikunter einer anderen Form, unter der Idee nämlich, daß die Heiligen das
Leben Christi wiederleben, daß die Messe das Opfer von Kaivaria wiederholt. Es herrscht, so sagt Barth, eine beunruhigende Verwandtschaft zwi
schen der Bultmannsehen Wiedergabe der neutestamentlichen Botschaft -
zurückgeführt auf die Nachahmung Christi - und der katholischen Todes
mystik 9• Mehr noch: "Was ist die Konzeption Bultmanns Anderes als dieexistenzialistische Übersetzung der Sakramentalistischen Doktrin der römischen Kirche, der zufolge es auf dem Höhepunkt der Messe, im Vollzug derWandlung der Elemente zugleich - in metaphysischer Identität mit demdamals und dort Geschehenen - zu einer ,unblutigen Wiederholung' desOpfers Christi auf Golgatha kommt? Wer diese Lehre vom Meßopfer fürsachlich von Grund aus untragbar hält, der wird das in Jesus Christuseg/ l b r : a ~ Geschehene auch nicht mit dem, was im Glauben geschieht, koinzidieren lassen können; er wird den Glauben mit dem späteren Luther als ein
erkennendes E r g r e i f e n (comprehendere) Jesu Christi als des für unsMenschen, an unserer Stelle, Gestorbenen und Auferstandenen verstehen,ihn aber mit dem Sterben und Auferstehen Jesu Christi und umgekehrt dasSterben und Auferstehen Jesu Christi mit dem, was im Glauben geschieht,
unverworren lassen." 10 Sicherlich steckt etwas Wahres in dem Wort Melanch
thons: "Hoc est Christum cognoscere, benoficia eius cognoscere". Es istsogar richtig, dieses Wort zur Geltung zu bringen, wenn es darum geht, gegeneinen abstrakten Objektivismus zu Felde zu ziehen. Auf der anderen Seitejedoch kommt man in Gefahr, in einen nicht minder abstrakten Subjektivismus zu verfallen, indem man diesen Satz zu einem systematischen Prinziperhebt 11• Es ist sicher unbedingt notwendig in Erinnerung zu rufen, daßChristus "für uns" gestorben ist, ja sogar - mit Luther und dem Pietismus- daß er "für mich" gestorben ist, und schließlich mit Kierkegaard, daß ermich "existentiell" betrifft 12• Auf keinen Fall jedoch darf man dem Irrtumverfallen zu meinen, das, was sich in dem Gläubigen, der dieses "pro me"anerkennt, ereignet, sei die Heilstat Gottes selbst, sei der Tod und die Auferstehung Jesu Christi, sei die Vergegenwärtigung oder die Wiederholungseines Gehorsams, seines Opfers und seines Sieges. Die reale Vergegenwärtigung der Geschichte J esu Christi is t die, die er selbst durch den Heiligen Geist vollbringt, indem er sich selbst zum Objekt· und zum Ursprungdes Glaubens macht 13• Man kann nicht mit Bultmann sagen, daß Christuslediglich die Möglichkeit zum Leben verschafft habe, und daß dieses selbsterst in den Gläubigen Wirklichkeit würde 14 : das "pro nobis" ist bereits wirk-
8 "Bult.", 8.12; D. IV/1, S. 858.
o "Bult.", S. 20-21.10 D. IV 1, S. 858.11 "Bult.", S. 12.12 D. IV 1, S. 843-845.13 D. IV 1, S. 858.
14 "Theol. des N. T.", S. 248.
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DIE STELLUNG EINER REFORMIERTEN THEOLOGIE 125
lieh im Versöhnungswerk Christi, das er ein für a]lemal für alle Menschen
vollbracht hat, und das von deren Seite keinerlei Etgänzung nötig hat 15•
2. Im Verlaufe dieser Diskussion hat Barth mit keinem Wort die "Ent
mythologisierung des Neuen Testamentes" erwähnt. Während die Mehrzahl
der Theologen und Exegeten, die Bultmann kritisiert haben, sich auf diese
Frage konzentriert haben, ist er der Ansicht, daß diese - in sich selbst be
t rachte t - verhältnismäßig bedeutungslos ist im Vergleich zu den Problemen,
die aufgeworfen wurden durch das positive Ergebnis der Exegese Bultmanns
(wovon bisher die Rede war) und durch sein positives Prinzip der existen
tialen Interpretation (wovon später die Rede sein wird). Diese Probleme
wären von der gleichen beunruhigenden Bedeutung, selbst wenn die "Ent
mythologisierung" dabei nur eine nebensächliche Rolle spielen würde. Da
diese nun aber einmal ins Zentrum der. allgemeinen Aufmerksamkeit ge
raten ist und Bultmann selbst ihr eine außerordentliche Bedeutung zuzuschreiben scheint, müssen wir ihm auch auf diesem Plan folgen 16•
Barth bemerkt zunächst, daß das Wort "Entmythologisierung" - von
Bultmann erfunden - außerordentlich häßlich is t und darüber hinaus unnötig
provozierend wirkt. Es hat geradezu die Mißverständnisse begünstigt, über
die sich der Autor beklagt 17• Für ihn handelt es sich tatsächlich, von Aus
nahmen abgesehen, nicht darum, die mythologischen Elemente aus dem
Neuen Testamente auszuscheiden, sondern sie zu interpretieren. Und er tut
dies mit einer Ernsthaftigkeit, die vielen Theologen, die bedeutend "ortho
doxer" sind als er, ein Beispiel sein könnte, und um derentwillen manche
"liberale" Theologen sich weigern, ihn als einen der Ihren anzuerkennen 18•
Aber weshalb hat er diese Elemente ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit
gerückt, indem er sie - nebenbei gesagt - mit einer gewissen Ironie, um
nicht zu sagen karikierend beschreibt? Um welchen Interesses an seiner
Exegese willen hat er diese Kette von merkwürdigen Elementen zusammen
geschmiedet? 19
Die wesentliche Frage is t indessen zu wissen, ob es überhaupt angezeigt
ist, das Neue Testament zu entmythologisieren. Bultmann glaubt, das Neue
Testament sei in seiner mythologischen Form unverständlich für den moder
nen Menschen, der durch die Naturwissenschaft und die philosophische Re
flexion geformt ist. Was aber muß dann die Richtschnur sein für den Exegeten: die Voraussetzungen seiner Zeitgenossen oder die Erklärungen des
Textes selbst? Kann man irgendeinen Text verstehen, wenn man - statt
seiner Selbsterschließung offen entgegenzusehen und geduldig zu folgen -
mit einer Vorentscheidung über das Maß und die Grenzen seiner Verständ
lichkeit, mit einem seinem Inhalt und Geist fremden Kriterium bereits an
ihn herantritt? 20
1s D IV 1, S. 313.1.o "Bult.", S. 24-25.17 "Bult.", S. 24.1S "Bult.", S. 25-26, 28.
19 "Bult.", S. 27.20 "Bult.", S. 30-31.
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126 HENRI BOUILLARD
Anderseits nennt Bultmann jede Redeweise Mythologie, die das Göttliche
als menschlich, das Nicht-Weltliche als weltlich wiedergibt. Ist diese Auffas
sung nicht zu formeÜ? Ist der wirkliche Mythus nicht immer eine in Form
einer Erzählung übermenschlichen Charakters, einer "Göttergeschichte" gekleidete Darstellung irgendwelcher allgemeiner Verhältnisse und Beziehungen innerhalb des natürlich-geschichtlichen Kosmos? Dieser Streit um das
Wort is t nicht unwichtig. Würde nämlich Bultmann statt mit jenem for
malen mit diesem oder einem ähnlichen i n h a: 1 t 1 i c h e n Begriff desMythus arbeiten, so könnte er zwar immer noch von allerlei im Neuen
Testament aufgenommenen mythologischen Anschauungsmaterial reden, eswürde ihm aber dann unmöglich sein, die Form seiner Botschaft als "mytho
logisch" zu bezeichnen und durch eine andere ersetzen zu wollen. Haben
denn die neutestamentlichen Schriftsteller je daran gedacht, das was sie zu
sagen haben, in Form der Proklamation einer als Göttergeschichte eingekleideten Darstellung allgemeiner kosmischer Beziehungen vorzubringen?
Warum hat Bultmann ausgerechnet den Begriff des Mythus gewählt, um das
zu bezeichnen, was man früher den biblischen "Supranaturalismus" nannte 21 ?
Da er ihn nun aber einmal gewählt hat, bleibt nur übrig, die entscheidende
theologische Frage zu stellen: kann die Botschaft des Neuen Testamentes da
zur Sprache kommen, wo sie - in Bultmanns Sinn "entmythologisiert" -nicht sagen darf, daß es Gott gefallen hat, sich selb3t zu erniedrigen und soallerdings zum Objekt dieser Welt zu werden, ja datiertar zu werden? Ist eswirklich noch das Neue Testament, das spricht, wenn es bereits nicht mehr
das Recht hat zu sagen, daß Christus auferstanden und seinen Jüngern inRaum und Zeit erschienen is.t, daß sie ihn mit ihren Augen gesehen, mit
ihren Ohren gehört, mit ihren Händen berührt haben? Wenn es also nichtmehr aussagen darf, daß das Christusereignis - Kreuz und Auferstehung -in sich selbst, in seiner historischen Realität das Fundament des Glaubens,
der Botschaft und der Kirche ist; daß Jesus Christus; in dem Gott uns zuerst
geliebt hat, für uns lebendig is t und uns leitet, bevor wir noch glauben, ja
sogar ohne unseren Glauben und schließlich darüber hinaus gar gegen unseren
Unglauben? Vermag man wirklich alldieseDinge in einer anderenSprachezum
Ausdruck zu bringen, als in der, die Bultmann mythologisch nennt? Auf jeden
Fall is t sicher, 4aß Bultmann sie in seiner entmythologisierten Sprache nichtgesagt hat. Ein scharfer Geruch von Doketismus scheint einem aus der ent
mythologisierenden Interpretation Bultmanns entgegenzusteigen. Es ist
schwierig, das Neue Testament in dieser Interpretation anders als in den
dunkelsten Umrissen wiederzuerkennen 22 •
3. Nach diesen Betrachtungen geht Barth dazu über, sich mit der Frage
nach dem positiven Faktor der Bultmannsehen Hermeneutik zu befassen.
Nach Bultmann, so sagt er, müssen rechtschaffene Exegese, Dogmatik und·
Verkündigung nichts anderes sein als "existentiale" Interpretation des Neuen
Testamentes, d. h. eine solche, die es auf die Herausstellung des im Neuen
21 "Bult.", S. 31-32.22 "Bult.", S. 32-34; Cf. D. III/2, S. 536-537.
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DIE STELLUNG EINER REFORMIERTEN THEOLOGIE 127
Testament in mythologischer Form sich aussprechenden menschlichen - des
spezifisch christlich-menschlichen Selbstverständnisses abgesehen hat 23 • Das
aber setzt voraus, daß man mit einem bestimmten Vorverständnis an den
Text herangeht, mit einem Vorverständnis., das in einem Sichselbstverstehen
des Menschen besteht, und welches seinen Ausdruck gefunden hat in der
Philosophie Martin Heideg.gers. Der Exeget muß im vorhinein verstanden
haben, daß das Neue Testament eine Anthropologie riarbietet, die den Men-
schen zwischen eine "nichteigentliche und eine eigentliche Existenz situiert,
zwischen die Vergangenheit und die Zukunft. Man darf sich nicht darüber
hinwegtäuschen, so sagt Barth, daß die existentiale Interpretation Bultmanns
- den ersten Ideen Luthers so nahe - in verführerischer Einfachheit und
bestrickender Gewalt erscheint, und daß die frommen Deklamationen gegendie Entmythologisierung deren ursprüngliche Gewalt nicht zu verringern
vermögen. Was es zu kritisieren gilt, das ist· seine Voraussetzun_g in sichselbst 24 •
Das aber is t es gerade, was man nicht einzusehen vermag: warum man
nämlich, um das Neue Testament zu verstehen, zuvor durch den Panzer der
Heideggerschen Philosophie schlüpfen müßte.1 Sicher is t sie für Bultmann
nicht d i e Philosophie schlechthin, er betrachtet sie aber nichtsdestoweniger
als die Philosophie "unserer" Zeit. Und wer wollte bestreiten, daß sie ein
sehr bedeutsamer Ausdruck des Geistes der ersten Hälfte unseres Jahrhun-
derts ist; ein: bißeben existenzialistisch denken und reden wir heute alle.Es gibt aber auch ganz andere Ausdrücke des heutigen Zeitgeistes. Es scheint
heute keine so große Zahl gebildeter Menschen zu geben, die sich ausgerechnet in der spezifisch Heideggerschen Form des. Existentialismus besonders
verstanden fühlen. Ja, Heidegger selbst scheint die anthropologische Phase
überwunden zu haben, auf die Bultmann so großen \Vert legt und auf die er
sich so sehr stützt. Es ist also kein Grund vorhanden, in diesen Gedanken
und in dieser Konzeption ein notwendiges Vorverständnis im Hinblick auf
das Verständnis des Neuen Testamentes zu erblicken 25•
Aber ernster, so fährt Barth fort, ist auch hier die theologische Frage: was
würde aus der Botschaft des Neuen Testamentes, wenn man sie totalitär und
exklusiv in die Zange der Frage nach dem sich in ihr aussprechenden mensch
lichen Selbstverständnis nehmen möchte? Sicher is t richtig, daß man sie auchnach ihrem anthropologischen Gehalt pefragen kann und muß; hat sie ja
als Botschaft von Jesus Christus ein Geschehen zwischen Gott und dem
Menschen zum Inhalt, und ist sie ja doch in ihrer Form ein menschliches
Zeugnis von diesem Geschehen. Verzerrt und beschneidet man aber nicht
diese Botschaft, wenn man die Christologie der Auffassung von der mensch-
2a. Der Anweisung Bultmanns getreu und, bestrebt, nicht in de n Irrtum zahlreicher
Kritiker zu verfallen, hütet sich Barth, die Begriffe "existential" und "existenziell"
zu verwechseln. Die " e x i ! ~ t e n t i a l e " Interpretation, so sagt er, v:.ersteht und legt dieErklärungen des Neuen Testamentes als "existenzielle" Erklärungen aus. ("Bult.",
s. 35).24 "Bult.", S. 34-38.2s "BuTt.", S. 38-39.
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128 HENRI BOUILLARD
liehen Existenz unterordnet, wenn man das. Christusereignis verringert undzurückführt auf den Übergang des Menschen vorn Uneigentlichen zumEigentlichen? Bultmann kann wenigstens das Verdienst für sich buchen, daßer dieses Ereignis als Tat Gottes ansieht und daß er anerkennt, daß es hinsichtlich dieses Ereignisses keinerlei Vorverständisses bedarf. Er bricht andieser Stelle aus -dem existentialistischen Schema aus und spricht als Theo ·loge. Aber er hat sich selbst die Frage gestellt, und andere haben ihn gefragt,ob denn das vereinbar sei mit dem Plan der Entmythologisierung, und Bult
mann hat keine befriedigende .Antwort darauf zu geben vermocht. Jedenfalls ist sicher, daß trotz jener anerkennenswerten Inkonsequenz in seinerexistenzialistischen Auslegung die Botschaft des Neuen Testamentes nur sehrschwer wiederzuerkennen is t 26 •
Die Kritik Barths richtet sich nicht nur gegen die systematische Anwendung
des Heideggerschen Gedankenguts, sondern trifft die Idee der Notwendigkeit eines "Vorverständnisses" selbst. An diesem Punkt offenbart sich diewohl fundamentalste Beschwerde, die bereits 1932 im ersten Band der "Dogmatik" formuliert erschien und die später häufig wieder auftaucht. GegenEnde seiner Broschüre erklärt Barth, daß alle von ihm gestellten Fragen sichschließlich und letztlich in denjenigen zusammenfassen lassen, die Bultmannselbst stellt: was heißt es, das Neue Testament zu verstehen? Und was heißtschließlich verstehen im allgemeinen? (Barth vertauscht absichtlich die
Reihenfolge, die sich bei Bultmann findet.) Gibt es ein echtes Verstehen, sosagt er, ein authentisches Verständnis< der Texte des Neuen Testamentes
unter Voraussetzung einer als normativ festgelegten, unbeweglichen Vorstellung, eines sozusagen gegossenen Bildes von dem, wasi, der Leser sich
für möglich, richtig und wichtig halten und also verstehen "kann", unter Voraussetzung eines kanonisierten "Vorverständnisses"? Wo es doch im Verstehen der neutestamentlichen Botschaft um das glaubende Verstehen des inih r bezeugte Wortes Gottes geht. Wo doch dieses Wort Gottes dem Menschen,
wenn überhaupt, so nur als die ihm von Grund aus und immer aufs neuefremde, seinem ganzen Verstehenkönnen zuwiderlaufende und gerade sosich ihm zu eigen gebende Wahrheit und Wirklichkeit begegnen und einleuch
ten kann! Wenn ich schon nicht aus eigener Vernunft und eigener Kraft
"glaube", wie sollte ich da "verstehen" könn en ? Was. heißt "Können",wo es um das, dem Einleuchten des Heiligen Geistes folgende Verstehengeht? Wenn schon dieses Verstehen immer seine Grenzen hat, so verbarrikadieren wir uns doch wenigstens nicht hinter den vermeintlichen Grenzenunseres Verstehenkönnens! Natürlich gehen wir alle mit gewissen "Vorverständnissen" an das Neue Testament heran, mit mitgebrachten Bildern undVorstellungen, und wir sind immer in der Versuchung, das Neue Testamentdiesen unseren "Vorverständnissen" anzupassen, es ihnen unterzuordnen,es sozusagen einer "Eingemeindung'' in die Schranken unserer Vorstellungenzu unterziehen. Aber muß man nun unbedingt daraus ein Prinzip ableiten,
muß man das zu einer systematischen Methode erheben? Darf man jenem
2o "Bult.", S. 39-40; Cf. D. 111/2, S. 534-535.
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DIE STELLUNG EINER REFORMIERTEN THEOLOGIE 129
uns fremd Erscheinenden zurufen: "Bis hierher und nicht weiter!", indemman eine existenzialistische oder sonst eine Philosophie als Grenznorm aufstellt? Ist es nicht in Wirklichkeit der Text selbst, der uns zu unserm eigenenSelbstverständnis hinführen muß, dadurch daß der Heilige Geist selbst uns
durch die Bo.tschaft hindurch den nötigen Aufschluß verleiht? Indem sie dieseForderung erhebt, macht sich die biblische Hermeneutik zum Modell, zumVorbild und Maß aller Hermeneutik überhaupt 27•
Als Barth und seine Freunde vor ungefähr 30 Jahren den Versuch unternahmen, der Theologie eine neue Orientierung zu geben, ging es ihnengerade um die Umkehrung des damals geläufigen Begriffes vom "Verstehen" der Heiligen Schrift und vom Verstehen überhaupt, ging es ihnenum die Begründung des menschlichen Erkennens in des Menschen Bekanntwerden und Erkenntsein vom "Gegenstand" seines Erkennens her, und ginges ihnen schließlich um die Freigabe des Wortes, in welchem Gott den Menschen anspricht, zu Gunsten einer Freigabe auch des Wortes, in dem einMensch den anderen anredet. Es handelte sich darum, das Verstehen derBibel der ägyptischen Gefangenschaft, wie sie es nannten, einer Philosophiezu entreißen; und es war ihr Plan, die Idee, nach der der Mensch selbst dasMaß allen Verstehens sei, zu "entmythologisieren·' - ohne daß jedochdieses Wort selbst schon bekannt gewesen wäre. Man hätte damals glaubenkönnen, Bultmann schlage den gleichen Weg ein, hat er doCh - gegen die
liberale Theologie· - den Begriff des "Kerygma" wieder zur Geltung gebracht. In der Folge wurde jedoch klar, daß er wiederum den alten Wegging. Und das is t es, was Barth ihm in allererster Linie vorwirft. Im Gegen
satz zu den meisten Kritikern Bultmanns sind es "viel weniger 's.eine massiven antisupranaturalistischen Negationen", als vielmehr sein "vorkopernikanisches Gehaben", was Barth immer wieder in Verlegenheit bringt 28•
Vielleicht, so sagt er zum Schluß, können die neuen Generationen, diedie Ära Ritschl-Harnaclc-Troetsch nicht mehr aus eigener Anschauung gekannt haben, nicht1 verstehen, warum wir uns von ihnen getrennt haben.Ohne das Gesetz, dem wir damals gefolgt sind, zur absoluten Norm erheben zu wollen, möchte ich doch, so sagt er, folgenden Wunsch zum Ausdruck bringen: sollte die Theologie der zweiten Jahrhunderthälfte wirklich
eine "entmythologisierende" und "existential interpretierende", also aufsneue eine Theologie des·obligaten "Vorverständnisses" werden, möchte danndoch das c.lJ.ristliche Volk darum nicht mit zu vielen Wachteln gestraft werden, wie es den Israeliten in der Weise erging, als sie die FleischtöpfeÄgyptens zu bejammern begannen 29 •
II.
Das sind kurz zusammengeiaßt die wesentlichen Einwände; die Barth derBultmannsehen Interpretation der neutestamentlichen Botschaft entgegenhält. Getreu der Aufgabe, die man mir übertragen hat, habe ich mich bis-
21 "Bult.", S. 48-51).28 "Bult.", s. 9 ~ 1 0 , 52-53.29 "Bult.", S. 53.
9 Ca.stelli
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130 HENRI BOUILLARD
her in den Grenzen dessen gehalten, der einfach wiedergibt. Muß ich unbedingt hervorheben, daß ich. weder die Position Barths noch die Bultmanns,
so wie sie sind, zur meinen machen kann? Bald wäre ich nämlich Partei
gänger des einen, bald des anderen, und zwischenhinein sähe ich mich sogar
veranlaßt, gewisse Voraussetzungen zu kritisieren, die beiden gemeinsam
sind.
Ich werde mich nun dat:auf beschränken, einige Bemerkungen anzubringen,
ohne allerdings auf die Begründungen eingehen zu können, die dazu erfor
derlich wären. Nehmen wir die drei Punkte der Barthschen Kritik noch einmal auf, aber in der umgekehrten Reihenfolge.
1. Betrachten wir zunächst den Gedanken des "Vorverständnisses". Indem
er Dilthey folgt, hebt Bultmann hervor, daß jede Art von Interpretation beidem, der sie vollzieht, eirie vorgängige Beziehung, ein "Lebensverhältnis"
zu dem voraussetzt, worum es in dem betreffenden Text geht, und das den
Sinn angibt und bestimmt, in dem der Text zu befragen ist. Anders ausge
drückt beruht jegliche Interpretation notwendig auf einem gewissen "Vor
verständnis" von dem, was den Gegenstand der Erörterung ausmacht. Besonders angesichts philosophischer, religiöser und dichterischer Texte ist
das Verständnis: einer bestimmten Anschauung über die menschliche Existenz bedingt. Dasselbe gilt, wenn es sich um die Heilige Schrift handelt.
Wir vermöchten nicht zu verstehen, was die inj ihr wiedergegebene Tat
Gottes bedeuten kann, wenn wir nicht bewußt oder unbewußt von der Frage
nach Gott bewegt würden 30•
Man wird sich darüber klar, daß für Bultmann das zum Verstehen der
Heiligen Schrift notwendige Verständnis nicht direkt eine Philosophie ist,wie Barth zu meinen scheint; es is t vielmehr in erster' Linie das existenzielle
Selbstverständnis, das ein existenzielles Wissen um Gott miteinschließt. Es
is t auch nicht, wenigstens nicht prinzipiell, eine starre, zur Norm dessen erhobene Konzeption, was man noch zugeben könnte. Es ist klar, so sagt Bultmann, daß dieses Vorverständnis nicht mit einem Vorurteil über den Inhalt
der Schrift an dieselbe herantreten kann, daß es nicht auf die Ergebnisse der
Exegese vorgreifen darf, daß es vielmehr bereit sein muß, sich von diesen
korrigieren zu lassen in dem Maße, als jene sich bereits in irgendeiner Weiseausgedrückt hat. Seine Aufgabe besteht einfach darin, dem Inhalt des Textes
gegenüber die Augen zu öffnen 31 • In diesem Sinne gibt es für Bultmann,
mag Barth darüber sagen, was er will, ein Vorverständnis der Tat Gottes
selbst.Sicherlich holen sich der Exeget und der Theologe im Hinblick auf ihr wis
senschaftliches Arbeiten bei den Philosophen eine Existentialanalyse des existenziellen Vorverständnisses. Ihr Arbeiten ist von da an abhängig von
jenem des Philosophen. Bultmann erkennt dies an und erklärt es für un
vermeidlich; Aber, so sagt er, die Existentialanalyse legt lediglich die onto
logische und formale Struktur des menschlichen Seins frei, ohne im vor-
ao Cf. Bultmann "Glauben und Verstehen" II . S. 227-232.31 "Glauben und Verstehen" II , S. 232; "Kerygma und Mythos" (herausgegeben von
H. W. Dartsch) II , S. 191.
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DIE STELLUNG EINER REFORMIERTEN THEOLOGIE 131
hinein; ein Urteil abzugeben über das im Glauben gegebene ontische und
existentielle Verständnis 32 • Vielleicht hat Barth der Tragweite dieser Unter-
scheidung zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet.
Mir scheint, man müsse die Wahrheit dieses von Bultmann zur Geltung
gebrachten fundamentalen Prinzips anerkennen: der Glaube setzt ein "Vor-
verständnis" dessen voraus, wovon die Heilige Schrift spricht, und die Er-
arbeitung einer zusammenhängenden Theologie schließt die Formalanalyse
dessen ein, was dieses Vorverständnis konstituiert. Kein.vernünftiger Glaube
wäre ohne das "a priori" einer dem Offenbarungswort entsprechenden·
Aufgeschlossenheit möglich. Keine Theologie vermöchte einen· zusammen-
hängenden Sinn herauszuarbeiten, ohne im Hinblick auf ihn eine philosophische Reflexion wiederaufzunehmen, die die Analyse der Formalbedingun-
gen jeglichen konkreten Sinns darstellt. ·
Anderseits aber glaube ich nicht, daß die Philosophie Bultmanns hinreichend
genug den Dienstleistungen, die er von ihr erwartet, angepaßt ist. Von
Kierkegaard und Heidegger inspiriert, hat sie nur geringe Elemente aus
deren Gedankengut bewahrt. Wer immer mit den großen klassischen Philo
sophien vertraut ist, wird s.ie wahrscheinlich als zu mager beurteilen. Mir
scheint sie jedenfalls nicht hinzureichen, um das Verhältnis des Menschen
zur Welt, noch seine Beziehungen zu Gott klar zu bestimmen. Und das ist
wohl auch der Grund dafür, warum sie die Bedeutung der christlichen Bot
schaft herabmindert 33•
2. Was nun die Begriffe "Mythus" und "Entmythologisierung" angeht,
so verdienen mehrere der von Barth formulierten Bemerkungen unsere Auf-merksamkeit. Der Sinn, den Bultmann dem Worte Mythus verleiht, ist der
formale und herabsetzende Sinn, den es vom Rationalismus des. 18. und
19. Jahrhunderts erhielt, nicht der Sinn, den ihm die Religionshistoriker
unserer Tage wieder geben. Es ist indes richtig, daß Bultmann oft unter dem
Titel "mythologische Redeweise" eine etwas karikierte Lesung des Neuen
Testamentes präsentiert. So entsprechen zum Beispiel die· reichlich plumpen
Begriffe, die er beim ersten Hinsehen dort zu finden glaubt, wo von der stell
vertretenden Genugtuung und der Auferstehung Christi die Rede is t 34,
keineswegs den viel feineren und inhaltsreicheren Gedanken der Schriftsteller
selbst. Wohl ist wahr, daß Bultmann dies später weitgehend zugibt; aber washat er davon, zuerst auf einseitige und systematische Weise die Stellen zusammenzutragen, die, aus ihrem Kontext gerissen, außerordentlich schwierig
zu akzeptieren erscheinen?
Indessen hat Bultmann völlig recht, wenn er sagt, die Sprache des. Neuen
Testamentes bedürfe der Interpretation, vor allem dort, wo sie Elemente der
jüdischen Apokalyptik oder der Gnosis verwendet. Barth berücksichtigt dies
32 "Kerygma und Mythos" II, S. 192-194, 201. Vgl. auch den bedeutenden Artikel
"Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube" in "Zeitschrift fü r Theologie und
Kirche" 1930, S. 339-350.33 Den Bultmannsehen Begriff des "Vorverständnisses" habe ich eingehender analy-
siert und erörtert in "Karl Barth" III, S. 55-61.34 "Kerygma und Mythos" I, S. 20.
9•
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132 HENRI BOUILLARD
nicht genügend. Man kann sich sogar die Frage stellen, ob nicht seine Theo
logie gewisse Züge trägt, die Bultmann als "mythologisch" im herabsetzen-
den Sinne, den er diesem Ausdruck gibt, bezeichnen könnte. Wir werden
gleich ein Beispiel dafür finden.
· 3. Betrachten wir nun die Gedanken, die sich unsere beiden Theologen
über das Heilsereignis, das "Christusereignis" machen.Bultmann erklärt: "Das eschatologische Geschehen, das Christus ist, reali
siert sich also immer nur jeweils in concreto, hier und jetzt, wo das Wort
verkündigt wird, und zwar im Glauben oder im Unglauben." 35 Anderswo
sagt er: "Durch Christus ist also nicht mehr beschafft worden als dieM ö g I ich k e i t der t ; r o ~ , die freilich bei den Glaubenden zur sicheren
Wirklichkeit wird 36. "
Barth erwidert, wie wir gesehen haben: die Heilstat Gottes hat sich in
Jesus Christus selbst erfüllt, und zwar ein für allemal und für alle Men·
schen. Unser Glaube beschränkt sich darauf, das zu bezeugen; er stellt in
sich selbst kein eschatologisches Ereignis dar.
Will man der Botschaft des Neuen Testamentes. völlig treu bleiben, so gilt
es meiner Meinung nach, die beiden Thesen gegenseitig zu ergänzen und zu
korrigieren. Das Christusereignis als Heilsereignis läßt sich nicht auf daszurückführen, was sich hier und jetzt im einzelnen Gläubigen vollzieht. Es
läßt sich ebensowenig auf das geschichtliche Ereignis des Todes und der
Auferstehung Jesu reduzieren, unabhängig davon, ob Gläubige diesem Ge
schehen anhangen oder nicht. Der Gedanke eines derartigen Heils würde mit
Recht in Gefahr geraten, als etwas mythisch zu erscheinen. Es geht darum,
zwei Behauptungen nebeneinander aufrechtzuerhalten: in Jesus Christus istdas Heil bereits für alle prinzipiell und rechtlich e r w o r b e n; aber ese r f ü 11 t sich, es vollzieht sich effektiv in den einzelnen Gläubigen 37•
Barth und Bultmann scheinen mir beide, wenn auch auf verschiedenenWegen, die neutestamentliche Idee von der Heilsgeschichte zu verändern.
Barth führt diese Geschichte zurück auf die Tat Gottes, der in Jesus.Christus
die Stelle des Menschen einnimmt. Bultmann reduziert sie auf den Augen
blick der existenziellen Begegnung zwischen Verkündigung und Glaube.
Weder der eine noch der andere beläßt jenem Satze des hl. Paulus genügend
Geltung: es gibt eine Geschichte der Menschheit in ihrem Verhältnis zu
Gott, und Jesus Christus ist die Angel, um die sich :fiese Geschichte dreht 38•
Die soeben ausgesprochenen knappen und gedrängten Bemerkungen er
heben nicht den Anspruch, ein Urteil darzustellen. Sie wollen lediglich einigeGrenzen abstecken im Hinblick auf eine Diskussion und eine Untersuchung.
Außerdem übergehen sie dadurch, daß sie im Licht der Kritik Barths an
Bultmann abgefaßt sind, gewisse hermeneutische Probleme, die manchen
Philosophen oder Exegeten wohl wichtiger und interessanter sein mögen.
as "Kerygma und Mythos" li, S. 206.
36 "Theologie des N. T.", S. 248.
31 Vgl. "Karl Barth" III, S. 36-41.3s Vgl "Karl Barth" II , S. 73-101.
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GIBT ES EIN KATHOLISCHES PROBLEM DERENTMYTHOLOGISIERUNG?
Rene Marle
Es ist schwierig, in einem Gespräch, das unter Venetern ziemlich verschiedener philososphischer und religiöser Meinungen geführt wird, ein Themaanzuschneiden, das schon im Titel auf eine streng konfessionelle Orientierung
hinweist. Zweifellos muß es unser Anliegen bleiben, so weit als irgend möglich, eine gemeinsame Sprache anzustreben. Wenn diese allerdings nicht imstande ist auszudrücken, was wir tatsächlich sind, die Situation, von der herwir den Gegenstand unseres Meinungsaustauschs angehen, dann erfüllt sieihre Aufgabe zumindest nur unvollkommen. Echte Kommunikation erfor-dert, daß man den Bereich, wo es Besonderheit und Gegensatz gibt, nicht
allzurasch hinter sich läßt.
Der klar als solcher erkannte Standpunkt des an eine Konfession gebun
denen Theologen wird nicht nur vom Titel dieses Referates. her gefordert.Das Problem, von dem wir ausgehen, is t selbst
-zumindest in
derForm, in
der es zu Anfang von Rudolf Bultmann abgegrenzt wurde -, ein Problemdes gläubigen Menschen, des Theologen. Es ist zwar möglich, daß diese ur-sprüngliche Formulierung überschritten werden muß. Eines der Ziele diesesReferates ist gerade zu zeigen, wie man sich dahin geführt sehen kann, dieProblemstellung Bultmanns abzulehnen. Und zweifellos wird es sogar gutsein, diesen Schritt ziemlich kategorisch zu tun, um nach z w a n z i ~ Jahrender Diskussion und scholastischen Weiterbildung aus dem herauszukommen,was bereits vielen ein allzu ausgefahrenes Geleis theologischen Denkens zusein scheint. Aber wenn dieser Versuch gelingen soll, müssen wir uns wenig
stens als Aus.gangspunkt auf das Grundanliegen beziehen, aus dem das Pro-blem der Entmythologisierung hervorgegangen ist.
Daher werden wir versuchen, die Reaktion katholischer Theologie bezogenauf Bultmanns VorseHung der Entmythologisierung und Hermeneutik ab-zugrenzen, indem wir uns zugleich bemühen, den Zirkel des Denkens. vonBultmann zu durchbrechen. Diese Bemerkung ist nicht überflüssig. Es is tnämlich in der Tat möglich festzustellen, wie stark Sinn und Kontext, in demdie verschiedenen Begriffe verwendet werden, wechseln können. .
Jede Theologie is t in genau dem Maße, in dem sie \ersucht, die rationalenStrukturen des Glaubens herauszustellen, in Gefahr, als scheinbar indiskre
ter Versuch einer Apologetik mißverstanden zu werden. Die folgenden Über-legungen sind nur von der Überzeugung getragen, daß d.as Gespräch einerder wirksamsten Beiträge zum Fortschritt is t und daß es am besten gewinnt,wenn es mit offenem Visier geführt wird.
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134 RENE MARLE, S. J.
Bultmanns Problem der Entmythologisierung und der protestantische Glaube
Bultmann meint, im Prozeß der Entmythologisierung und in der existen
tialen Interpretation, die dessen positiven Aspekt darstellt, eine Möglichkeitzu finden, nicht nur dem Neuen Testament seine g::mze, den Menschen ergreifende Bedeutung zu bewahren, sondern darüber hinaus auch der luthe-
risch-paulinischen Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben,
ohne Gesetzeswerke, völlig gerecht zu werden. (Vgl. Zur Frage der Entmytho-
logisierung, in Kerygma und Mythos II. S. 207.) Auf diese Weise fände also
das von der modernen Kritik gestellte Problem eine Lösung, die den For-
derungen des lutherischen Glaubens v o l l k o m m ~ n entspricht und zugleichdessen beachtliche Aktualität erweist. Aber ob es nicht vielleicht möglich is t
zu denken, daß Bultmann, bevor er diese Lösung vorlegte, bereits von einem
Problem ausging, das, wenn nicht ausschließlich, so doch zumindest in besonderem Sinn potestantisch ist? Bei jeder grundlegenden Frage sind For-
mulierung und Lösung stets miteinander verknüpft.
Bultmanns Problem ist das der Distanz, die uns Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts von den Verfassern der heiligen Schrift trennt. Für den
modernen Exegeten scheint dieser Abstand ein wirklicher Abgrund zu sein.
Es sieht so aus, als ob es für die mythische Welt, in der sich nach Bultmann
die Menschen des Neuen Testaments bewegen, und unsere moderne, durch
das wissenschaftliche Denken bestimmte Welt, keine gemeinsamen Maß-
stäbe gäbe. Sind aber Dringlichkeit und Schärfe dieses Problems nicht zum
Teil mit der Stelle verbunden, an der die Frage sich gestellt hat: im lnnern
einer Konfession, die aus dem Bruch mit einer Tradition entstanden ist, dieihr zumindest verdächtig erscheint, ein Bruch, der g e t r a g ~ n ist von dem Verlangen, wieder ein unmittelbares Verhältnis zum Text der heiligen Schrift
zu finden?
Das katholische Volk hat vielleicht in manchen Epochen zu weit von der
heiligen Schrift entfernt gelebt, aus der sein Glaube doch immer neue Kraft
schöpfen muß. Denn auch für den Katholiken bleibt die Schrift in besonderer
Weise Organ des Wortes Gottes und Glaubensregel. Aber es hat nie geglaubt,
daß die Substanz der Offenbarung allein im Text der Schrift überliefert seiund das unmittelbare Verhältnis an diesem Text für die einzige authentische
Beziehung gehalten, oder auch nur für die, auf die es vor allem ankäme. Für
den Katholiken vollzieht sich die Begegnung mit Jesus Christus und die Ein-
weihung in den Glauben gewöhnlich nicht durch die Lektüre der Bibel. Viel
eher durch die Taufe und die Zugehörigkeit zum Leben der Kirche, die dem
Christen auch weiterhin durch ihre Lehre, ihre Liturgie, das Zeugnis ihrer
Heiligen, die Reichtümer der "vielgestaltigen Gnade" Gottes offenbart und
ihn seinerseits zu einer immer persönlicheren und totaleren Zustimmung zur
Glaubenswirklichkeit führt. Und diese Kirche selbst versteht sich nicht nur
als Gemeinschaft derer, die recht, nämlich im Glauben, das in der Schriftenthaltene Wort Gottes hören, sondern auch als vom Herrn eingesetzter Ort
und Hort einer Tradition, in der Sein Denken unverfälscht bewahrt ist und
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GIBT ES EIN KATH. PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG? 135
in der folglich die Substanz der Schrift selber nicht aufhört, ihre Früchte des
Heils hervorzubringen.
So scheint man also sagen zu können, daß nicht nur das Problem der Ent
mythologisierung, sondern allgemeiner gefaßt, das Problem der Hermeneutik
- Bultmann hat ja mit Nachdruck erklärt, das Problem der Entmythologisie
rung sei grundsätzlich ein Problem der Hermeneutik - ,"ein spezifisch pro
testantisches Problem darstellt. Oder genauer: die Tendenz, das theologischeProblem auf ein Problem der biblischen Hermeneutik im Sinne Bultmanns zu
reduzieren, taucht innerhalb des Protestantismus viel selbstverständlicher auf
als innerhalb des Katholizismus. Ich sage: die Tendenz, denn auch der Pro
testantismus hat seine Tradition oder seine Traditionen, und große Beispiele.
zeigen uns, daß er fähg ist, umfassendere Untersuchungen als nur rein exegetische hervorzubringen, und daß sein theologisches Anliegen weiter gehen
kann, als nur das Problem der Bedingungen einer richtigen Exegese durchzu
arbeiten. Denken wir an die Kirchliche Dogmatik von Karl Barth und ganz
allgemein an all die Dogmatiken, die auch heute noch immerfort neu heraus
kommen. Es bleibt bestehen, daß das Problem der biblischen Hermeneutik
vielen heute als das Problem schlechthin erscheint. Auf dieses Problem kon
zentriert sich ja eine beträchtliche Zahl Untersuchungen und Diskussionen,
wobei Spitzfindigkeiten mehr als einmal zu finden sind. Es is t oft so, als ob
es letztlich in allem auf dieses Problem ankomme. Zumindest is t das der Fall
bei Bultmann und seinen Anhängern, in denen man schwerlich etwas anderes
sehen kann als besonders kons.equente Repräsentanten des protestantischen
Glaubens.
Das moderne Problem der Hermeneutik und die traditionelle Oberlegungüber den Sinn der Schrift
Heißt das nun, im katholischen Bereich kümmere man sich nur mit einer
gewissen Uninteressiertheit um die s.chriftlichen Quellen seines Glaubens?
Ganz im Gegenteil, und deshalb war es auch für P. de Broglie nicht schwer,
in seinem ausführlichen Nachwort zu Bouyer's "Du Protestantisme a 'Eglise"
auf die Vorrangstellung des Schriftbeweises in der katholischen Theologie
hinzuweisen. Die Schrift is t zwar nicht der einzige "Ort", an dem die Kirchedie ihr vom Herrn übergebene Offenbarung findet, aber_ in diesem "Ort"
findet sie sie dennoch in gewisser Hinsicht vollständig. Die Schrift bleibt für
die Kirche in ganz besonderem Sinn "Kanon" des authentischen Glaubens.
Und Tatsache ist, daß das Lehramt noch nie gemeint hat, irgendein Dogma
definieren zu können, ohne aufzuzeigen, daß es auf irgendwelche Weise in
der Schrift enthalten ist.Die katholische Kirche hat also, wenn auch vielleicht nicht immer in jedem
ihrer Glieder (wäre das denn möglich gewesen vor Erfindung der Buchdruckerkunst und einer kulturellen Weiterentwicklung?), so doch wenigstens
in der Person ihrer Hirten und Theologen nicht aufgehört, direkt aus denschriftlichen Quellen ihres Glaubens zu schöpfen, um diesem Glauben Nah
rung zu geben und zugleich ihn rein zu bewahren. P. de Lubac hat in seinem
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136 RENE MARLE, S. J.
g10ßen Werk über Origenes "Histoire et Esprit. L'intelligence de l'Ecriture
d' apres Origene" und ebenso in seinen Schriften über die mittelalterlicheExegese aufgezeigt, daß sich die Theologie zumindest bis ins Hochmittelalter
in erster Linie als "Exegese" versteht, als unablässig neu aufgenommene Be-
trachtung und Kommentierung der Heiligen Schrift. P. de Lubac unterstreicht
nur, daß diese "Exl!gese" viel mehr enthielt als das, wozu sie heute geworden
ist: eine ziemlich spezialisierte Disziplin, deren Gegenstand und Methode
eng begrenzt sind. Im Mittelalter ist sie wie zur Zeit der Kirchenväter ein
"umfassender Akt" (acte complet), zugleich Wissenschaft, Reflexion, geist-liche Aneignung.
Man könnte sagen, damals war das Problem nicht nur das der Hermeneutik
als der (mehr oder minder subjektiven) Bedingungen einer richtigen Inter-
pretation der Schrift. Es war das Problem des einen oder mehrfachen Sinnesder Schrift. Man darf allerdings beide Probleme nicht zu beziehungslos ein-
ander gegenüberstellen. Bultmanns Problem der Hermeneutik besteht sehr
wohl darin, nach dem Sinn der Schrift zu suchen, wenn er sich fragt, wie der
Text aufgefaßt werden muß, damit sich dieser Sinn dem Leser oder Exegeten
wirklich kundtut. Und das Problem des einen oder mehrfachen Schriftsinns
schließt notwendig die Bestimmung des Gesichtspunktes ein, unter dem der
Text in dem Augenblick, wo dieser oder jener Sinn hervortritt, betrachtet
wird. Gerade das is t übrigens der Grund, warum die Theologie, von der wir
hier reden, von einem mehrfachen Schriftsinn spricht (wörtlicher, mora-
lischer, geistiger . . . Sinn). So bleibt, daß beim hermeneutischen Ansatz der
Akzent auf den a pnori für eine gläubige Schriftlesung nötigen Bedingungen
liegt und daß die Sorge, richtig zu lesen dominiert. Die Frage nach dem einen
oder mehrfachen Sinn der Schrift setzt den Akzent genau entgegengesetzt
auf die Fülle des Inhalts, den der Glaube in der Schrift voraussetzt und von
dem er bereits lebt, bevor er darangeht, ihn zu untersuchen.
Genau wie man das Problem der Hermeneutik in der Form, in der man
es als Grundanliegen bei vielen protestantischen Theologen findet, nicht in
allzu absoluten Gegensatz zum tniditionellen Problem des mehrfachen
Schriftsinns, das man bis in die älteste katholische Tradition zurückverfol-gen kann, bringen darf, hieße es die Dinge in unzu,läss.iger Weise verein-
fachen, wenn man behauptete, das Problem der biblischen Hermeneutik be-treffe allein die protestantische· Theologie· und das Problem des einen oder
mehrfachen Schriftsinns sei ein Monopol der katholischen Theologie. Wir
werden zu präzisieren haben, in welchem Umfang es ein katholisches Pro-
blem der Hermeneutik, oder wenn man will der "Entmythologisierung" gibtoder geben kann. Und wenn es andererseits stimmt, daß Luther· eine ge-
wisse Verachtung für die mittelalterlichen oder patristischen Spekulationen
über den Schriftsinn zeigte, so war doch die Haltung der Reformatoren gegen-über der Bibel im großen Ganzen nichtsdestoweniger ziemlich verschieden
von der, die wir bei den heutigen protestantischen Theologen finden. Das
Interesse an den subjektiven Bedingungen einer Annäherung und gültigenBefragung der Schrift ist bei den meisten Reformatoren so inexistent, daß
der Sinn des Schriftzeugnisses für sie aus völliger Evidenz hervorzugehen
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GIBT ES El"N" KATH. PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG? 137
scheint: Scriptura interpres sui ipsius, auf diesem Axiom hat man damalsmit Vorliebe Glaule und Theologie aufgebaut.
Genau genommen darf man in diesem absoluten Objektivismus, der diesubjektiven Bedingungen der Aneignung einfach ignoriert, nicht nur dasgenaue Gegenteil der quälenden Bemühungen sehen, die darauf hinauslaufen,sich in der Bestimmung dieser subjektiven Bedingungen z ~ erschöpfen. Derabsolute Objektivismus der Reformatoren und die transzendentalen Überlegungen der modernen Hermeneutik-Theologen entspringen aus dem glei-chen Übersehen geschichtlicher Vermittlung oder, wenn man das lieber will,der lebendigen Tradition als dem grundlegenden Organ der Offenbarung. Fürden katholischen Glauben ist der Sinn der in der Schrift enthaltenen Offen-barung weder eine rein objektive Gegebenheit, die sich dem Verständnismit Evidenz aufdrängt, noch das Ergebnis u n s e r ~ r immer besser berich-tigten Fragestellung. Der Sinn der Offenbarung formt die Tradition derKirche, sie allein ist sein vollständiger Ausdruck.
Man wird entgegnen,. daß die Reformatoren die subjektiven Bedingungeneiner gläubigen Aneignung des Schriftsinns s.ehr wohl kannten. Tatsächlichmuß nach ihrer Lehre zur Evidenz, mit der sich der Sinn der Schrift enthüllt,das innere Zeugnis des Heiligen Geistes kommen. Umgekehrt setzen dieBultmannsehen Theologen der Hermeneutik immer die Begegnung mit demlebendigen Wort voraus, die der Schrifttext bezeugt und die von der Fragedes Exegeten nicht eigentlich bewirkt werden kann. Aber genau genommentendieren in beiden Fällen die Wahrheit der Schrift und ihre gläubige An
eignung dahin, so betrachtet zu werden, als ob. sie zu Anfang autonomeExistenz besäßen und deshalb laufen sie Gefahr, einander auch später nuräußerlich zu berühren. Die katholische Kirche ihrerseits lebt von der Überzeugung, daß die Gabe des Heiligen Geis.tes nicht in einer Erleuchtung be-steht, die unabhängig wäre vom Hervortreten des Schriftsinns in der Geschichte und von der Überzeugung, daß dieses geschichtliche Hervortretenzusammenfällt mit der Existenz der Kirche selbst. So kann sich das Findendieses Sinnes auch nicht unabhängig von dem Ganzen dieser Geschichte, inder er sich realisiert , vollziehen, noch unabhängig von der hierarchischen
Institution, die deren Authentizität verbürgt. Tatsächlich entdeckt die Kirche
immer den unveränderlichen Sinn der göttlichen Rede, die, in der Schriftenthalten is t und eignet sich ihn an, indem sie ihn weiterträgt. EbendieserSinn hat die Kirche ursprünglich erbaut, ebenso wie sie allein ihn vollstän
dig ausdrückt.
Die katholische Kirche vor der Heiligen Schrift
Wir müssen jedoch noch präzisieren, wie sich der Sinn der Schrift in der
Kirche enthüllt. Daß der Sinn der Schrift nicht unabhängig vom Ganzen derGeschichte, in der er sich realisiert, noch unabhängig von der hierarchischen
Institution, die seine Authentizität garantiert, gefunden wird, heißt nichtnotwendig, daß er zwangsläufig oder ausschließlich durch irgendeine spontane Geschichtsbewegung oder durch die autoritativen Weisungen der Hier-
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138 RENE MARLE, S. J.
archie zu finden ist. Wenn man sich von einem mehr oder weniger mystizistisch oder intellektualistisch gefärbtem Idealismus absetzt, so bedeutet
das nicht notwendig, sich zu irgendeinem Positivismus oder religiösen Prag-
matismus bekennen, für den der Sinn der Schrift in einer ganz bestimmten
historischen, mit der Wirklichkeit der Kirche selbst identifizierten Gestalt
unmittelbar gegeben und erkennbar wäre, als direkter und adäquater Aus-
druck des Denkens Gottes über die Welt. Es is t bekannt, daß dieser Vor-
wurf des "kirchlichen Positivismus" dem Katholizismus nicht erspart geblieben ist Mehr als einmal ist behauptet worden, für die Kirche sei das,was sich in ihrem Schoß entwickelt hat, zugleich die Norm für das, was sein
soll. Für die katholische Kirche, so behauptet man wetter, sind die pastoralen
oder sogar utilitaristischen Interessen, sofern s.ie ihren eigenen Zusammen-
halt und ihre Fortdauer berühren, wichtiger als die eigentliche Wahrheits-
frage. Unter dieser Perspektive gäbe es selbstverständlich keinerlei Platz für
das Problem der Hermeneutik. Das Wort der Offenbarung wäre dann in
Form von etwas einer Losung gegeben und müßte auch so entgegengenom-
men werden.
Ganz abgesehen von der Verehrung, welche die katholische Kirche auchdem Text der Schrift selbst von jeher erweist, istJ evident, daß ihre Inspira-
tionslehre eine derartige Auffassung verbietet. Es ist wahr, das Neue Testa-
ment ist grundliegenderweise jener neue, im Blut. Christi geschlossene Bund
(vgl. Lk. 22, 20), dessen Verwirklichung die Kirche ist. Aber für die Kirche
selbst ist das Neue Testament auch eine Art Charta, in der ihre Gründung
niedergelegt ist, auf die sie sich rückbeziehen muß, um ihren eigenen Sinn zuerfassen. Die Bewahrung dieses Textes trägt.in ganz besonderer und unersetz-
licher Weise dazu bei, daß die Lebensbewegung der Kirche, während sie sich
weiterhin - gleich der Bewegung einer Linie - im Lauf der Zeit entfaltet,
doch nicht aufhört, sich zugleich - gleich der Bewegung eines Kreises -
immer wieder auf ihren Ursprung zurückzubeziehen. Was sich entfaltet, ist
ganz in diesem Ursprung enthalten, und zwar ohne daß irgendetwas wirklich hinzugefügt würde. Und in diesem Ursprung findet die Lebensbewegung
der Kirche stets ihre Legitimität und Authentizität.
Allerdings gleicht diese Rückbewegung der Kirche auf ihren Ursprung, der
ihr vom Text der Schrift in seiner ganzen Reinheit ins Gedächtnis gerufenwird, nur in einer Hinsicht einer unmittelbaren Beziehung. Denn die katho-
lische Kirche vollzieht diese Rückbewegung nie, indem sie von ihrem um-
fassenden Gedächtnis abstrahiert, das zugleich mit dem ursprünglichen Wort
den Sinn enthält, den ehendieses Wort im Lauf der Jahrhunderte entwickelt
hat und der unverändert bleiben muß. So kann s.ie niemals jenen Eindruck
haben, daß da ein Abgrund überwunden werden muß, ein Eindruck, der
übrigens zum Teil auf einer Täuschung beruhen kann und von dem Bultmann sagt, daß er ihn empfinde, wenn er sich über die alten biblischen
Texte beuge.
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GIBT ES EIN KATH. PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG? 139
Glaubensüberlieferung und historische Kritik
Wird dieses umfassende Gedächtnis die katholische Theologie aber hin-
dern, die ursprünglichen Dokumente, denen sie nahebleiben möchte und
nahezubleiben behauptet, in ihrem authentischen Wortlauf zu erfassen? Wird
sie fähig sein, für die Entdeckungen der Wiss.enschaft, der Geschichte und
der Kritik offen zu bleiben? Zweifellos ist die katholische Kirche von der
Möglichkeit einer Grundübereinstimmung zwischen ihrem Glauben auf der
einen und den wirklichen Gegebenheiten der Wissenschaft auf der anderen
Seite überzeugt und hält es für ihre Pflicht, die Ergebnisse der Wissenschart
ehrlich zu respektieren. Dennoch kann praktisch eine Spannung sichtbar wer-
den zwischen den Aussagen des Glaubens und den Phänomen, welche dieWissenschaft zu erfassen sucht. Die modernistische Krise ist eines der dra-
matischsten Beispiele für diese Spannung, die (wenn auch andere Faktoren
mitspielten) veranlaßt wurde durch eine außergewöhnliche Entwicklung der
verschiedenen wissenschaftlichen und kritischen Disziplinen.
In weniger tragischer Form zeigt sich die gleiche Spannung heute oft
zwischen Vertretern einander ergänzender Fächer, sagen wir vereinfachend
zwischen Exegeten und Theologen. Denn die Zeit is t vorbei, daß ders.elbeMensch, wie etwa Origenes, zugleich Exeget, Theologe, geistlicher Meister . . .sein konnte. Die Bibelkritik wurde, indem sie sich weiterentwickelte, immer
anspruchsvoller und forderte eine immer weitergehende Spezialisierung
derer, die sich ihr widmen. Die Integration, die früher ein und derselbe
Mensch vollziehen konnte, ist heute nur noch im Rahmen der Kirche als
Ganzes möglich.
Aus dieser Situation folgen für die katholische Kritik zugleich Verpflich
tungen, die schmerzlich sein können, Und Vorteile, die auch nicht vergessen
oder verachtet werden dürfen. Der katholische Exeget weiß, daß er seineAufgabe nicht nur im Licht der Glaubenstradition, auf die er sich beruft, erfüllen muß, sondern auch in Abhängigkeit von denen, die den Auftrag haben,
diese Tradition in ihrer vollen Reinheit zu bewahren. Das wird ihn mehr
als einmal dazu bringen, die Kühnheit seiner Hypothesen zu zügeln. Es
kann ihn auch veranlassen zu zeigen, daß er mehr "Einsicht" hat in die kom
plexe Struktur der Gegebenheiten, daß er stärker auf sämtliche Dimensionender Probleme achtet und weniger den Einseitigkeiten (oder fixen Ideen)
einer Methode verfällt, den "Moden", die sogar im Bereich der Forschung
einander ablösen und deren Hin und Her schließlich ih r Ansehen untergräbt.
Innerhalb der katholischen Kirche ist die Arbeit des Exegeten nur einMoment, wenn auch ein wichtiger Moment, der Bemühung um das Ver-
ständnis jenes discursus fidei t, dessen Inhalt zwar der Substanz nach, be-
1 Discursus fidei, der auf französisch discours de foi übersetzt werden kann, ist
ansrheinend auf deutsch kaum übertragbar. Man wird sehen, daß dieser Begriffallerdings in unserem Nachdenken eine wichtige Rolle spielt. Er soll die Bewegung
des Sinnes des Wortes Gottes, der sich im ganzen Leben der Kirche (Dogmenge·schichte, Theologie, aber auch Liturgie, Frömmigkeit etc.) entfaltet, zum Ausdruck
bringen.
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140 RENE MARLE, S. J.
reits in der Schrift gegeben ist, der aber seinen Sinn, wie wir sagten, erst im
Verlauf und in allen Formen des Lebens der Kirche entfaltet.
Anders ausgedrückt wird die katholische Kirche, selbst wenn sie zugibt,daß das Neue Testament der Interpretation bedarf, um richtig gehört zu
werden, sich doch niemals, wie es Bultmann gewöhnlich tut, damit zufrie-
dengeben, nur einen raschen Blick auf die früheren Auslegungen zu werfen,
- einen Blick, der andeutet, daß man davon nichts erwartet. Sicher werden
diese Auslegungen niemals alle Probleme, die uns von der heutigen Kritik
gestellt werden, vollständig lösen. Und im übrigen gilt, worauf Bultmann
selbst mehrmals mit vollem Recht. hingewiesen hat, daß diese alten Aus-
legungen, die für uns. ja ebenfalls die Form von "Dokumenten" haben, selber der Interpretation bedürfen, damit ihr Sinn wirklich herauskommt. Der
streng historisch-kritische Blick, zu dem sich der katholische Exeget wie
alle anderen gegenüber den Dokumenten, die er analysiert, verpflichtet weißt,is t etwas relativ Neues und geeignet, neue Probleme hervorzurfen. Die
Kirche hält dem katholischen Exegeten mit all ihren Forderungen und auchmit den Erfahrungen, die sie ihm bietet, wenigstens im Bewußtsein, daß
der vom modernen wissenschaftlichen Denken bestimmte Blick ein recht begrenzter Blick ist, der selber eingeordnet werden muß. Man könnte sagen,daß jedem Katholiken ein implicite gegebene Formung zugutekommt, die
weniger von ihm selbst erworben ist als von der Kirche, in deren Raum er
denken und leben will, und die ihn dazu bringt, die Einseitigkeit des. Stand-
punktes, die mit den besonderen Bedingungen, unter denen sich sein Suchennach der Wahrheit entfaltet, gegeben ist,· leichter zu überwinden.
So kommt die Zurückhaltung der katholischen Exegeten und Theologen
gegenüber dem Bultmannsehen Programm der Entmythologisierung nichtnotwendig nur aus der Besorgnis um den eigenen Glauben anges.ichts der
zersetzenden Schlußfolgerungen, zu denen dieses Programm führt. Sie ent-
spricht bereits einem mehr oder minder klar erfaßten Gefühl dafür, daß
die Art, wie Bultmann sein Problem angeht, inadäquat ist oder, wenn man
so· will, daß der Ausgangs.punkt seiner Problematik einen Mangel an Kritik
verrät. Die katholischen Theologen und Exegeten können übrigens, wenn
sie die Berechtigung dieses Gefühls, das auf jener eben erwähnten imma-
nenten Formung beruht, nachprüfen, einen unerwarteten Bundesgenossenin M. Heidegger finden. Es ist bekannt, daß Bultmann das Problem der Ent-
mythologisierung aufwirft, indem er das mythische "Weltbild" des Neuen
Testaments in Gegensatz stellt zu dem von der Wissenschaft erarbeiteten
"Weltbild" des heutigen Menschen. Heidegger zeigt aber in einem Abschnittvon Holzwege, daß der Begriff "Weltbild" selbst ein Produkt der modernen
Zeit ist, er sagt, es sei einer der die moderne Zeit charakterisierenden Züge,daß die Welt sich zum "Bild" konstituiert habe. Indem sich Bultmann alsoauf diesen Standpunkt stellt, ohne ihn zu kritisieren und relativieren, so is t
er dahingekommen, sich in einer in etwa widerspruchsvollen Weise auszu-
drücken, denn, wenigstens nach Heidegger, kann es im strengen Sinn keinmystisches "Weltbild" geben. Vor allem aber nimmt sich Bultmann, indem
er sich prinzipiell auf einen Standpunkt stellt, der nicht imstande ist, die
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GIBT ES EIN KATH. PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG? 141beiden Erfahrungen, die er einander gegenüberstellen will, zu "umgreifen",
aus freien Stücken die Möglichkeit, eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen
zu entdecken. Jedenfalls verrät es nicht notwendig einen. Mangel an Kritik,
wenn die katholische Theologie im Gegensatz dazu an der wesenhaften
Identität des Gesamtglaubens der verschiedenen christlichen Generationen
festhält.
Die Vermittlung der Welt und der Geschichte
Bultmann meint allerdings, nachdem er die radikale Andersartigkeit
unserer Glaubenswelt gegenüber der der ersten Christen herausgestellt hat,
doch dem Neuen Testament wieder eine reale Aktualität geben zu können.
Das geschieht aber, indem er den Akt des Glaubens auf das. Entschiedenste
abstrahiert von der Welt, in der sich dieser Glaube ausdrückt. Man hat des
halb von seinem "Akosmismus" gesprochen. Die katholische Theologie hältzwar an einer gewissen Transzendenz des Glaubensaktes gegenüber seinen
(schon in der Tatsache ihrer Vielzahl gegebenen) Formulierungen fest, be
hauptet aber das genaue Gegenteil, nämlich eine unverlierbare organischeVerbindung zwischen diesem Ak t - der den Bedingungen jedes menschlichenAktes unterliegt, denn der Glaube is t auch ein menschlicher Akt - und der
Gesamtheit der Ausdrucksweisen, die den Glauben tragen. Diese Gesamtheit
der Ausdrucksweisen kann sich entwickeln, den ganzen Reichtum des Glau
bensinhaltes entfalten, damit er von der unablässigen Bewegung menschlichen Fragens besser aufgenommen werden kann. Aber für den Blick der
katholischen Tradition bleibt diese Gesamtheit in ihrer konkreten Wirklichkeit unverfälscht und, obwohl es im Lauf der Zeit ain Wachstum gibt, dem
Wesen nach unverändert.
In dieser Perspektive gründet sich die Aktualität des Neuen Testaments
in erster Linie auf die Einheit der Welt und der Geschichte, in der sich der
Sinn des Offenbarungswortes unaufhörlich enthüllt, oder, wenn man sowill, auf die Einheit jenes discursus fidei, der seit den Tagen der Apostel
bis heute geführt wird und in den sich unser Glaubensakt einfügen muß,
wenn er richtig formuliert sein soll.
Die sich im Lauf der Zeiten unaufhörlich neu vollziehende Aufnahme der
Gesamtheit des Glaubens, des Offenbarungs.gutes und besonders des Ganzen
der Schrift durch die Kirche, ihre Gläubigen und ihre Theologen kann mit
einem Prozeß der "Entmythologisierung" verglichen werden, wenn man
darunter einfach das stets neu aufgenommene Bemühen versteht, sich den
geistigen und lebenspendenden Inhalt der Ausdrucksform anzueignen, in
denen uns die Offenbarung gegeben ist. Aber diese Aufgabe läßt sich einer
seits nur als Fortsetzung ein und desselben discursus fidei verstehen und
andererseit kann sie niemals zu einer Unterdrückung der Bilder odell zu
einem praktischen Vergessen- der konkreten Formen führen, durch die hin
durch die Offenbarung für uns Gegenwart bleibt.
Wenn unsere wissenschaftlichen Denkgewohnheiten uns diese Formen als
unmögliche "Mythen" erscheinen lassen, so müssen wir unsere eigene Denk-
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142 RENE MARLE, S. J.
weise und deren scheinbare Erfordernisse in Frage stellen, nicht aber etwasbeseitigen, ohne das unser, Glaube sich wohl nicht mit voller Sicherheit undnach allen Dimensionen Glaube der Apostel nennen darf. Das ist der Grund,weshalb die katholische Theologie und Exegese das Programm einer Ent-
mythologisierung, so wie Bultmann ihn vorschlägt, grundsätzlich ablehnt.
Die guten Wirkungen des Gesprächs
Heißt das, die katholische Theologie und Exegese kenne auf Grund derLage, in der sie sich befindet, keine Schwächen und Schwierigkeiten? Ist die
modernistische Krise, die wir vorhin erwähnten, nur eine zufällige Episodeohne bleibende Bedeutung? Um das zu behaupten, müßte man nichts vomLeben der heutigen Kirche wissen. Andererseits sind die katholische Theo-
logie und Exegese durch das Gewicht an Tradition, das auf ihnen lastet undauch durch die Schutzwälle, von denen sie umgeben sind, einer besonderenGefahr ausgesetzt, di8 man ebenfalls nicht unterschätzen darf: der Gefahr,den echten Fragen der Stunde nicht zu begegnen und sie deshalb a fortiorinicht zu beantworten.
Deshalb ist es heilsam für sie, mit denen in Kontakt zu bleiben, die kühn,ja selbst bis Ärgernis, jene Fragen der Menschen von heute vorantreiben,denen sich auch Gott offenbaren möchte. Umgekehrt können jene, die einunberuhigtes Bewußtsein bezeugen, sich zweifellos durch die Begegnung mitder katholischen Theologie aufgefordert sehen, ihren Standpunkt zu erwei-
tern, sodaß reicheres Licht einfallen kann, was wiederum dazu führen wird,neue Fragen zu formulieren. Auf beiden Seiten scheint wieder einmal einaufrichtiges Gespräch miteinander in besonderer Weise geeignet, uns tieferin die Wahrheit zu führen.
Rene Marle, s. ;.
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PROLEGOMENA ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG
Franz Theunis
Diese Betrachtungen, die ich als "Prolegomena zum Problem der Entmytho-
logisierung" bezeichnen möchte, erheben keineswegs den Anspruch, irgend-einen wesentlichen Beitrag zu dieser Problematik zu liefern. Ich will ja
weder eine neue Ansicht vertreten, noch einen neuen Stoff zur Debatte
herbeiführen. Ich möchte lediglich einen Gang quer durch die Problematik
der Entmythologisierung machen und mich bemühen, diejenigen Themen und
Probieme anzukreuzen, die mir zur Klärung der Frage, und zwar sowohl zur
Kritik als zur Durchführung der Entmythologisierung, als die wichtigsten vor-
kommen wollen. Ich hoffe aber, daß eben das schlichte Gruppieren und
Ordnen schon einige Klarheit herbeiführen möge.
Man kann von der Entmythologisierung reden als von einer zeitgenössi-
llChen geistesgeschichtlichen Bewegung; mit "Entmythologisierung" kann man
aber auch ein ganz bewußtes und planmäßiges Unternehmen bezeichnen. In
diesem Sinne meine ich hier Entmythologisierung. Da "Entmythologisierung"
sogar in diesem beschränkteren Sinne keineswegs ein eindeutiger Begriff ist,
dürfte ich wohl dazu berechtigt sein, ein ganz bestimmtes Entmythologisie-
rungsprojekt ins Auge zu fassen'. So werde ich mich bei meinen Betrachtungen
bald auf das Entmythologisierungsprojekt Rudolf Bultmanns beziehen.
Wo immer von Entmythologisierung geredet wird, wird sie in irgendeiner
Weise als ein Anliegen gesehen. Die' kritische Reflexi<'n soll hier fragen: is t
es ein berechtigtes Anliegen? Noch prägnanter wird die Frage, wenn die Not-
wendigkeit der Entmythologisierung behauptet wird. Dies ist bei R. Bultmann
der Fall. Es soll also die Notwendigkeit der Entmythologisierung kritischuntersucht werden.
Man könnte sogar versucht sein, die Frage der Notwendigkeit der Frage
nach der Möglichkeit der Entmythologisierung überhaupt unterzuordnen. Bei
der Untersuchung der Möglichkeit scheint dann zunächst die! Frage nach
einer mythischen Funktion wesentlich zu sein: gibt es eine mythische Funk-
tion oder gibt es eine solche nicht? Wenn schon, so wäre damit zum Teil ge-antwortet, insofern diese Funktion als wirklich spezifisch und aus diesem
Grunde als unreduzierbar erkannt werden könnte. Wenn aber nicht, wäre
dann der Mythos als reduzierbar zu betrachten oder nicht? Sollte der Mythos
reduzierbar sein, so würde sich die weitere Frage stellen, worin dann geradedie Reduktibilität gesehen wird, oder in welchen Modalitäten eine Reduk-
tion vollzogen werden kann.
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144 FRANZ THEUNIS C. P.
Die Frage nach einer etwa unreduzierbaren mythischen Funktion soll von
den Fachleuten allerdings gestellt werden. Aber wie richtig und wichtig auch,so scheint mir dies.e Fragestellung die von Bultmann aufgeworfene Ent-
mythologisierungsproblematik nicht direkt zu berühren. Und zwar zunächst,
weil Bultmann, selbst wenn er in irgendeinem Sinne eine "mythische" Funk-
tion feststellen könnte, dieser Funktion schwerlich einen religiösen Wert, das
heißt einen Wert für den Glauben beimessen könnte. Und dann, weil rechtschwer zu sehen ist, wie man von einer mythischen Funktion im Sinne des
Bultmannsehen Mythosbegriffes reden könnte.
Die Frage "Was heißt Mythos?" müßte also wohl die erste sein. Der
Mythosbegriff hat sich nicht nur im Laufe der Zeit entwickelt, es gibt auchde facto mehrere Mythosbegriffe. Obwohl diese je nach dem Bereich, in dem
sie angewendet werden, alle berechtigt sein dürften, kommt es jedoch sehrdarauf an, immer hinsichtlich des Mythosbegriffes, mit dem gearbeitet wird,
im Klaren zu sein. Nur das Befolgen dieses selbstverständlichen methodologi-
schen Grundsatzes kann gewisse Mißverständnisse verhindern. Auch sollte
man Bultmann nicht mit einem mitgebrachten Mythosbegriff verstehen oder
kritisieren wollen, sondern ihn nach s e in e m Mythosbegriff fragen. Man
kann kaum bezweifeln, daß Bultmann einen ihm eigenen Mythosbegriff geprägt hat.
Die Begriffsbestimmung des Mythischen sieht bei ihm offenbar gänzlich
von der psychologischen Fragestellung ab, und enthält wohl keinen Hinweis
auf eine mythogene Funktion. Das ist daraus verständlich, daß seine Frage-stellung ja ursprünglich eine hermeneutische ist, welche von vornherein nichtdaran interessiert ist, wie eine Aussage entstanden ist, sondern daran, wassie besagt. Demnach ist sein Mythosbegriff ursprünglich ein hermeneutisches
Instrument.
Findet man bei R. Bultmann im Gebrauch des Ausdrucks "Mythos" den
Niederschlag der üblichen Anwendungen des Mythosbegriffes, so interessiert
uns hier aber der die Durchführung der Entmythologisierung bestimmende
Mythosbegriff. Und ich glaube, daß man sagen kann, daß dieser kein literari-
scher is t (der auf bestimmte überkommene Themen oder auf eine bestimmte
formale Gestalt hinwiese), und auch kein empirischer (die Umschreibung
eines bestimmten Phänomens), sondern ein apriorischer, kritischer und radi-
kaler. - Wenn man zunächst den Mythosbegriff der Religionswissenschaft
(mit seinen jeweiligen für die Hermeneutik notwendigen Einteilungen) über-
nimmt, so drängt sich ja zur Festlegung der hermeneutischen Regeln, die eine
Interpretation in einer nicht-mythologischen Sprache des im Mythos Ge-
meinten ermöglichen sollen, eine kritische Mythosbestimmung auf, die einen
bei der Interpretation davor sichern könne, selbst noch innerhalb von bestimmten Grenzen mythologisch zu verfahren. Daran entspricht die Bestim
mung des Mythos als einer Objektivation des Unweitlichen (Jenseitigen,
Göttlichen) zum Weltlichen. (Vgl. Kerygma und Mythos, I, Hamburg, 1954,
s. 122.)
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PROLEGOMENA ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG 145
Diese Bestimmung bezieht sich also nicht auf die literarische Gestalt oder
Verwandtschaft, nicht auf die Historizität, nicht auf das Zuverlässigkeits
urteil an Hand etwa der "ordinarie contingentia", sondern rein auf dengedanklichen Inhalt. - D a s Eigentümliche der Bestimmung des Mythos als
einer Objektivation des Jenseitigen zum Diesseitigen bei Bultmann liegt wohlin seinem umfassenden Charakter und in seiner kritischen Bedeutung, welcheaber nur bei einer näheren Betrachtung des Entmythologisierungsprojektsselbst hervortreten.
Jene Begriffsbestimmung des Mythos, welche den verschiedenen aufeinanderfolgenden hermeneutischen Mythosbegriffen Rechnung trägt, kann alssolche wohl nicht kritisiert werden. Höchstens könnte man überprüfen, ob
sie ihrer Intention entspricht, das heißt dem hermeneutischen Anliegen derEntmythologisierung, in deren Funktion sie endgültig präzisiert worden ist.
Wenn R. Bultmanns Mythosbegriff nur mit seinem Entmythologisierungsanliegen in einem richtig erfaßt werden kann, so kann dieses seinerseits nurunter Berücksichtigung seines ganzen theologischen ßemühens richtig verstanden werden. Denn sein Entmythologisierungsprojekt ist offenbar nurdie konkrete logis.che Folge eines viel umfangreicheren und zugleich vielprägnanteren Anliegens, das die Frage nach dem Wesen und dem Sinn derReligion und des Christentums ist. Über jene Problematik soll jetzt nicht
ausgeführt werden. Aber aus der Folge wird genügend hervorgehen, wie dasEntmythologisierungsprojekt durch jene Neubesinnung auf Christentum,Offenbarung und Glauben entscheidend bestimmt wurde.
Bultmann sieht die Entmythologisierung als ein aus den Notwendigkeitender Hermeneutik hervorgehendes hermeneutisches Prinzip. Man kann in derEntmythologisierung als hermeneutischem Prinzip drei Stadien unterscheiden: die Kritik, das Verstehen, die Interpretation.
Gegenstand der Entmythologisierung ist zunächst die neutestamentlicheVerkündigung, d. h. wohl die christliche Verkündigung, insofern diese dieneutestamentlichen Themen übernimmt. Nach Bultmann sind viele Aussagendarin mythologisch im Sinne seines Mythosbegriffes. Damit setzt aber auch
gleich die Kritik an. Denn solche "mythologischen Sätze" sind nach Bultmar . r.als unglaubwürdig, oder eher als unannehmbar zu bezeichnen in dem Sinne,daß der gedankliche Inhalt solcher Sätze weder bejaht werden könne noch
solle.
Die kritische Norm nun des Mythischen is t nicht die Primitivität als solche,
nicht die Unwahrscheinlichkeit und die daraus folgende Unglaubwürdigkeit,auch nicht die Unverifizierbarkeit oder die Unfeststellbarkeit, sondern die
Undenkbarkeit.
Hier begegnet dann auch ein wesentlicher Unterschied zu dem Mythosbegriff, in dem die Unfeststellbarkeit die Norm des Mythischen ist: was an sich
nicht festgestellt werden kann, is t mythologisch, wenn es in historischem Bericht begegnet. Mythos ist hier nur eine relativ-kritiscl1e Kategorie; ein Satzkönnte als historisch-zuverlässiger abgelehnt werden, sein gedanklicher In-10 Castelli
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146 FRANZ THEUNIS C. P.
halt jedoch als solcher bejaht werden. Demgegenüber i!>t Bultmanns Mythosbegriff radikal-kritisch: der gedankliche Inhalt ist nicht nur historisch onnachweisbar, weil unfeststellbar, sondern er ist ganz und gar undenkbar. DieUndenkbarkeit i&t auch der Beweggrund der Entmythologisierung.
Die kritische Überprüfung dieser Behauptung der Undenkbarkeit desmythischen Gedankeninhaltes wäre deshalb äußerst wichtig. Diese Undenkbarkeit beruht bei Bultmann, wenn ich es richtig sehe, auf zwei Gründen,
gleich ihren zwei Wurzeln.
Die erste Wurzel ist die Gesetzmäßigkeit allen Geschehens in Natur, Geschichte und Psyche. Die Unmöglichkeit, ein Eingreifen Gottes in diesen Be-
reichen (Welt, Weltgeschichte und innerlichem Leben des Menschen) anzu-. nehmen, hat Bultmann deutlich und oft genug betont. Welchen Eindruck aber"Neues Testament und Mythologie" in dieser Hinsicht auch erwecke, Bult-
manns Position ist hier nicht von einem optimistischen Vertrauen auf dieWissenschaft abhängig. Zwar weiß er, daß viele Phänomene, welche früherübernatürlichen Ursachen zuge&chrieben w u r d ~ n , jetzt natürlich erklärt wer-den können. Die Ergebnisse der Wissenschaft haben jedoch keinen bestimmenden Einfluß auf sein Urteil. Bultmann meint nicht, die natürlichen Mög-lichkeiten zu überblicken, und er beruft sich tatsächlich auch nicht auf be-
stimmte Naturgesetze, &ondern lediglich auf die Gesetzmäßigkeit der Natur.
Damit beruft er sich aber auch nicht auf irgendeinen Beweis oder aufirgendeine Theorie der Gesetzmäßigkeit, sondern auf die Tatsache selbst desGesetzmäßigkeitsgedankens, wonach alles in Natur und Geschichte in einem
ganz bestimmten kausalen Zusammenhang steht und ganz bestimmten Ge-.setzen gehorcht. Er versucht aufzuzeigen, daß dieser Gedanke nicht nur derWissenschaft, sondern all unserem auf die Welt gerichteten Denken undHandeln, zugrundeliegt. Wenn nun in unserer Auffassung Natur und Geschichte durch eine bestimmte Gesetzmäßigkeit beherrscht sind, so könnenwir freilich nicht zu gleicher Zeit annehmen, daß s.ie es nicht seien, daß sie
der Willkür überirdischer Mächte ausgeliefert sein können.
Besonders im Hinblick auf die Destruktion des Mirakelgedankens betontBultmann, daß der Gesetzmäßigkeitsgedanke absolut ist, d. h. keine einzigeAu&nahme gestattet, und zwar, weil er kein Gedanke ist, den wir beliebig
vollziehen, kein Ergebnis der Forschung oder der Erfahrung, sondern eineVoraussetzung. Er is t keine subjektive oder auf einer Entscheidung beruhendeWeltanschauung, sondern er is t "mit unserem Das.ein in der Welt gegeben",so daß wir uns nicht "nach subjektivem Belieben" von ihm freimachen können.Ob wir es wollen oder nicht, fatal denken .wir alles, was sich in der Welt abspielt, als in einem gesetzmäßigen Zusammenhang stehend. Nach Bultmannzeigen ja gerade die Verteidiger des Mirakels, daß eben im Mirakelglaubendie Gesetzmäßigkeit allen Geschehens abermals vorausgesetzt ist: "Gott"wird dabei . einfach zu einem Unterteil jenes großen Relationszusammenhangs, den wir sonst Natur n ~ n n e n . Wird Gott irgendwie als U t : s ~ c h e ge-
dacht, so wird er als Natur gedacht, weil wir nur einen Kausalitätsbegriffhaben, nl. d ~ n der . n a t ü r l ~ e h e n Ursache.
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PROLEGOMENA ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG 147
Wenn der Gesetzmäßigkeitsgedanke, und darin der Gedanke der Nicht
Durchbrechung, einen beträchtlichen Platz in Bultmanns Ausführungen ein
nimmt, als Argument is t er offenbar sekundär. Viel wichtiger, ja entschei
dend is t die zweite Wurzel: der Gottesgedanke. Der gedankliche Inhalt desMythos ist schlechthin undenkbar, eben weil in ihm von Gott Weltlichesgedacht und ausgesagt wird; weil er nur bejaht werden kann, insofern Gott
als Welt gedacht wird und nicht als Gott.
Eben damit ist der mythis.che Gedanke kritisch als kontradiktorisch auf
gelöst. Zugleich stellen wir fest, daß Bultmanns Mythosbestimmung von
vornherein schon eine kritische ist; sie enthält die kritische Norm; Mythos
hat man überall dort, wo diese kritische Norm zutrifft. Nicht der Mythos ruft
die Kritik herbei, sondern was Mythos heißt, das bestimmt die Kritik. Des
halb is t es wohl richtig zu sagen, daß Bultmanns Mythosbegriff kein empirischer ist, sondern ein apriorischer und kritischer.
Der gedankliche Inhalt des Mythos kann also nicht bejaht werden, weil
er mythisch und als solcher undenkbar ist. Worin ist aber diese Undenkbar-
keif zu sehen? Es ist von vornherein klar, daß eine Aussage unannehmbar ist,also nicht bejaht werden kann, wenn Gott dabei als Welt gedacht wird, eben
weil Gott als Welt gedacht wird, da ja mit Gott nur Gott, mit Welt nur
Welt gemeint werden kann. Wenn nun trotz dieser Selbstverständlichkeit
mythologische Aussagen vorkommen, so is t das offenbar nur dadurch mög
lich, daß zwar Gott gemeint wird, der Gottesgedanke jedoch nicht rein er
faßt ist.Sowohl die Kritik als auch die Identifikation des Mythos können also nur
von einem bestimmten Gottesgedanken aus durchgeführt werden. Der
Gottesbegriff wird formal durch den Begriff der Jenseitigkei-t bestimmt. DieseJenseitigkeif aber versteht Bultmann als ZukünftigkeiL Das hängt mit seiner
Auffassung des Menschen als eines geschichtlichen Wesens zusammen, des
sen Sein ein Sein-Können ist, dessen Eigentlichkeif immer n o c h ~ aussteht,
immer noch zukünftig ist.
Existential-ontologisch gesehen hat der Mensch die Möglichkeit, sich von
seiner Eigentlichkeif aus zu verstehen, sich von ihr bestimmen zu lassen und
dadurch eigentlich zu existieren. Er hat aber auch die Möglichkeit, sich seiner
Eigentlichkeif zu vers.chließen, indem er sich selbst als vorhanden versteht.
·Mit diesem Entschluß, sich selbst uneigentlich zu verstehen, konstituiert der
Mensch zugleich die Welt des Vorhandenen, oder einfach die Welt.
Die Welt ·(als Diesseits) is t nicht nur ein Gegenpol, sondern die Auf-
hebung Gottes (des Jenseits). Welt ist, wenn ein Mensch sich als vorhanden
versteht. Solches Verständnis dokumentiert sich in jedem objektivierenden
Denken. Das Denken nun, das Gott als vorhanden denkt, ist ein diesem Ver
ständnis gemäßes Denken und denkt Gott einfach als Welt. Wer den Zu
sammenhang dieses objektivierenden Denkens mit dem uneigentlichen Selbstverständnis durchschaut hat, kann Gott nicht als vorhanden denken, und eine
Aussage, in der. Gott als vorhanden gedacht wird, tinmöglich bejahen.
JO•
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Und zwar wird Gott als vorhanden gedacht, wenn immer er als ein Gottwesen gedacht wird, das irgendwo present ist, oder als ein Wesen, das irgendetwas verursacht in der Welt, in der Geschichte oder in der Seele oder garin unwahrnehmbaren supranaturalen Höhen. Auch der Gedanke eines theo-
retisch wahrnehmbaren Eingreifens Gottes in mein aktuelles Leben impliziertdemnach das Denken Gottes als eines vorhandenen und also als Welt. Alldiese Gedanken sind als ein Herabziehen des Jenseitigen in das Diesseitige
der Kritik preisgegeben. Und deshalb qualifiziert sie Rudolf Bultmann alsmythologisch.
Mehr als dem Gesetzmäßigkeitsgedanken soll dem Gottesbegriff R. Bult-manns Aufmerksamkeit geschenkt werden, sowohl um den Wert dieser zwei-
ten Wurzel der Kritik als um den vollen Umfang und die Radikalität desBultmann'schen Mythosbegriffes ermessen zu können. Ferner soll hier, so-
wohl in der Auseinandersetzung als im Dialog mit Bultmanns Projekt,dieKritik des Gottesbegriffes einsetzen, wobei sich gleich die Frage nach der
Möglichkeit und dem Vorgang einer solchen Kritik erhebt.
Das Ergebnis für die Hermeneutik können wir in den folgenden zwei kri-
tischen Grundsätze(). zusammenfassen: 1) der betraclltende Blick hat keineandere Wahl, als alles völlig welt-immanent zu sehen und zu verstehen; Aussagen, welche davon abweichen, können nicht bejaht werden. 2) Gott kanndefinitionsgemäß nicht als vorhanden gedacht werden; Aussagen, in denenGott als vorhanden, also als Welt gedacht wird, können als solche keinen
Anspruch auf Anerkennung erheben.Insofern nun in manchen Aussagen des Neuen Testamentes und der tradi
tionellen christlichen Verkündigung die Immanenz des Weltgeschehens offen-
bar verkannt oder Gott als irgendein vorhandenes Gottwesen gedacht wird,sind sie als mythologisch im Sinne des Bultmannsehen Mythosbegriffes zubezeichnen. Insofern sie mythologisch sind, sind sie schon als unannehmbarqualifiziert. Haben sie dann überhaupt noch irgendeir.e Bedeutung, irgendeinen Sinn, irgendeine Geltung?
Indem Bultmann im Anschluß an seine Kritik des Mythos auch die Fragenach dem Sinn der mythologischen Aussagen beantwortet hat, is t seine Entmythologisierung als hermeneutisches Prinzip auch eine Weise des Ver-stehens. Die Frage nach der Bedeutung des Mythos stellt Bultmann als Fragenach der Bedeutung der mythologischen Aussage, und diese Frage verstehter ausschließlich als die Frage nach einem gültigen Sinn, eben a:ls eine Frageder Hermeneutik.
Wichtig is t hier zunächst die Frage, ob die Hermeneutik des Neuen Testamentes, allerdings insofern sie von einem Christen unternommen wird, nicht
etwa über besondere Voraussetzungen verfüge. Bultmann löst diese Frage
ganz in Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Immanenz und mit seinerAuffassung der Jenseitigkeit. Demnach kann 1) das Neue Testament unmöglich als ein Dokument göttlichen Ursprungs mit einer göttlichen Lehre,
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PROLEGOMENA ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG 1 49
welche als solche Anerkennung fordere, betrachtet werden. Sowohl die Ent
stehung des Christentums wie die des Neuen Testamentes kann und soll
natürlich erklärt werden. Es gibt ja überhaupt keine überirdische Autorität,
die die Annahme Uneinsichtiger Lehren etwa fordern könnte. 2) Es gibt in
der Welt keine Instanz, welche etwa von Gott autorisiert wäre, das Neue
Testament zu interpretieren. 3) Man ist also auf sich selbst angewiesen.4) Und zwar gibt es im Menschen nicht etwa ein pneumatisches Organ, auf
das er sich verlassen dürfe: man is t also angewiesen auf seine eigene Ver-nunft. Die Frage nach der Bedeutung des Neuen Testamentes (mitsamt
seinen mythologischen Aussagen) kann einzig lauten: inwiefern hat das Neue
Testament eine Geltung vor der menschlichen Vernunft.
Hier wird vollends deutlich, daß die Entmythologisierung der neutesta
mentlichen Verkündigung eine bestimmte Auffassung von dem Wesen des
Glaubens und von dem etwaigen Offenbarungscharakter des Neuen Testamentes voraussetzt, über die man von vomherein im Klaren s.ein soll. Je
nachdem kann man den mythologischen Stoff von vornherein als verbindliche
Glaubenssätze als Ausdruck oder Wiedergabe der Offenbarung werten,
oder dasselbe verneinen, sei es aus Gleichgültigkeit (da man etwa nur an
Texten interessiert ist), sei es eben von einer bestimmten Auffassung der
Offenbarung her.
Die Frage nach der Reduzierbarkeit des Mythos wird bei Bultmann offen-bar als die Frage nach seiner Sinnhaftigkeit gesehen. Der Mythos is t dann
reduzierbar, wenn er, nach der kritischen Beseitigung seines mythologischenGedankeninhaltes noch einen Sinn hat, und in dem Maße, in dem dies.er Sinn,wie der eines anderen historischen Stoffes, freigelegt und verstanden wer-
den kann.
Da der Mythos ein historisch-überkommener Stoff ist, findet hier das
historische Verstehen überhaupt seine Anwendung. Da man nach Bultmanns
Ansicht zum historischen Verstehen den Text nach dem sich darin äußern
den Selbstverständnis zu befragen hat, wird man den Mythos nur wirklichverstehen, wenn man ihn unter der Fragestellung des Selbstverständnisses
verstehen kann.
Die Entmythologisierung als Weise des Verstehens erhebt viele Fragen:
hat das als mythologisch zu qualifizierende Traditionsgut uns noch etwas
zu sagen? Soll man es nach seiner "Wahrheit" fragen? Ist die Frage nachdem in ihm enthaltenen Selbstverständnis die nicht nur sinnvolle, sondern
die angemessene, ja sogar die geschichtlich einzig interessante, wichtige
oder berechtigte Frage?
Die Suche nach dem Selbstverständnis ist kein maskierter Versuch einer
psychologischen Erklärung, sondern will wirklich etwas im Text Ausge-drücktes erreichen, nämlich das, was im Text gemeint ist. Hier ist dann dieF,rage wichtig, inwiefern man das Gesagte und das Gemeinte gesondert be-trachten darf, und ob und mit welcher Methode man das eigentlich Gemeinte
erreichen kann. Ist die Feststellung des eigentlich Gemeinten nicht immer ein
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150 FRANZ THEUNIS C. P.
Wagnis? Und wenn das so sein sollte, wird dieser Sinn dann noch wirklichdurch den Text vermittelt?
Hier stellt sich also vollends das Problem des Wesens des historischen Ver-stehens. Was man als dessen Wesen verstehen will, beruht vielleicht auf einer
Entscheidung, welche ihrerseits von der jeweiligen Auffassung des mensch-
lichen Daseins und seiner Verantwortlichkeit abhängig sein wird. Die kri-
tische Würdigung der Entmythologisierung als Methode des Verstehens ver-
langt auf jeden Fall eine eigene bewußte Stellungnahme.
Die Interpretation kann man als ein weiteres Stadium in R. Bultmanns
Entmythologis.ierungsprojekt betrachten. Das Problem der rechten Interpre-
tation des Mythologischen entsteht, sobald erkannt ist, daß der mythologische
Stoff noch einen anderen und zwar verständlichen Sinn hati neben dem
typisch mythischen Gedankeninhalt. Interpretieren heißt dann, diesen frei-gelegten Sinn mittels einer angemessenen Begrifflichkeit zum Ausdruck zu
bringen. Freilich geschieht das rechte Verstehen selbst nicht ohne eine solcheBegrifflichkeit, aber Verstehen und Ausdrücken sind formal zu unterscheiden.
Die für die Interpretation zu wählende Begrifflichkeit wird jeweils. durch
das, was man als den eigentlichen Sinn des Mythologischen zu erkennen
meint, bestimmt. Bultmanns Forderung einer existentialen Begrifflichkeit ist
dann auch zunächst als folgerichtig zu betrachten, und kann wohl nur zu-
sammen mit seiner Kritik und mit seiner Forderung eines geschichtlichen
Verstehen beurteilt werden.
Soweit meine Erörterung der Probleme und Themen, die sich auf die Ent-
mythologisierung als hermeneutisches Prinzip beziehen.
Freilich ist die Entmythologisierung bei Rudolf Bultmann nicht nur einhermeneutisches Prinzip, sondern auch eine Theorie der Verkündigung. Auchhier wären viele Fragen zu erörtern und wichtige Themen anzudeuten. Damit
kämen wir aber in den Bereich einer andersartigen und schon strikt theologi-schen Problematik.
** *
Ich habe also lediglich Probleme gestellt. Die Tatsache, daß ich im Augen-blick keine Antwort zu geben versuche, dürfte nicht nur die Schwierigkeitund die Komplexität dieser Problematik hervorheben, sondern auch eineWürdigung der Größe und der Wichtigkeit der Werte darstellen, die hier auf
dem Spiele stehen, Werte, die eine unbedingte intellektuelle Redlichkeit for-
dern und jegliche voreilige Stellungnahme untersagen.
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152 VIRGIL FAGONE, S. J.
wird dem wirklichen Problem umsomehr entsprechen, je mehr sie sich be-müht.. sich von den übernommenen Vorurteilen, von den scheinbaren Selbst-
verständlichkeiten zu befreien, kurz gesagt, von dem ganzen Ballast des Be-kannten, des bereits Gewußten, der in den meisten Fällen den Ausgangs-
punkt der Untersuchung selber bildet.Jedes Problem hat seinen geschichtlichen Ort in einer bestimmten Tradition
der Denkweise, und wenn einerseits die Interpretation der Ausgangsdatendem geschichtlichen Faktor Rechnung tragen muß, auf Grund dessen ebendiese Fakten überliefert wurden, so darf sie sich andererseits nicht der Auf-gabe entziehen, auf Grund einer Kritik der Tradition selber bis zu den Ur-sprüngen vorzustoßen.
Der Begriff der Interpretation neigt sehr leicht dazu, mißverstanden zuwerden. Interpretieren heißt im Grunde übersetzen. Übersetzen bedeutet abernicht, daß man einen Sinn, der bestimmt war durch eine primitive Subjek-
tivität, nun lediglich neuen subjektiven Erfordernissen unterwirft. Der Über-gang von einer Terminologie zu einer anderen is t nur möglich auf Grund des
Verständnisses des Originalsinnes, der Originalbedeutung, die beiden Ter-minologien gemein ist. Wenn wir vollkommen gefangen wären in einer be-
stimmten Terminologie, wenn wir uns nicht schon Yon jeher jenseits ihrerGrenzen befänden, wäre jede Interpretation unmöglich.
Sicherlich enthält der Prozeß der Interpretation einen wesentlichen Bezugzum interpretierenden Subjekt, zu seiner Art, die Welt zu verstehen und zuseiner geschichtlichen Situation. Wenn sich aber das Subjekt auf Grund seiner
ontologischen Konstitution nicht schon jenseits seiner geschichtlichen Situa-tion befände, wäre es ihm unmöglich, jemals den Originalsinn zu begreifen.
Jeder Versuch einer Interpretation würde in einer radikalen Subjektivieruriguntergehen. Übersetzen und Interpretieren ist nur möglich, sofern die ver-
schiedenen Terminologien und die unterschiedlichen Situationen ein inten-tionales Offensein dem Sein gegenüber gemein haben, obwohl sie sich alsgeschichtliche Phänomene durchaus voneinander unterscheiden.
In Kürze: der Begriff der Interpretation fordert ein gemeinsames Grund-element in verschiedenen und immer neuen Situationen, das heißt: ein inten-tionales Offensein dem Sein gegenüber, das untrennbar mit dem geschicht-
lichen Geschehen des interpretierenden Subjekts verbunden ist. Um mitHeidegger zu sprechen: das Dasein, d. h. das interpretierende! Subjekt, istgeschichtliches Geschehen soweit es Seinsverständnis ist. Eine Interpretationauf existentialer Basis kann nicht von der historisch intentionalen Struktur
des Daseins absehen, ohne dadurch einem wertlosen Subjektivismus odereinem leeren Essenzialismus zu verfallen.
Diese einleitenden Überlegungen zum Begriff der Interpretation führenuns direkt in die Problematik der Entmythologisierunng. Selbst Bultmannversichert, daß das Problem der Entmythologisierung im Grunde nur einhenfieneutisches Problem ist. Das entmythologisierende Verfahren vollzieht
sich in positiver Weise durch eine existentiale Interpretation der christlichenBotschaft. Um den naheliegenden Mißverständnissen zu entgehen, denen derBegriff der Entmythologisierung ausgesetzt war, unterstreicht Bultmann das
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GESCHICHTE UND GEHEIMNIS. 153
prinzipiell hermeneutische Ziel seiner Untersuchungen. Die Frage ist, bis zuwelchem Grade der Begriff der Entmythologisierung als Formulierung eines
existentialen Interpretationsproblems noch eine andere Interpretation ent
hält, die sicherlich nicht existential ist, nämlich die Interpretation des Er
lösungsgeschehens als mythischer Fakt. Gründet sich nicht die Ablehnungder Möglichkeit eines übernatürlichen Eingriffes in den Kausalzusammen
hang der natürlichen Ereignisse auf ein unberechtigtes Vorurteil, auf eine
ebensowenig existentiale Interpretation des Weltbildes, die von der zeit
genössischen Wissenschaft erarbeitet wurde?Bevor wir uns dem Gespräch über die Möglichkeit einer existentialen
Interpretation der christlichen Botschaft zuwenden, wird es nicht überflüssig sein, die nicht existentialen Interpretationen zu nennen, die ihrer unberechtigten Identifizierung mit dem Prozeß der Entmythologisierungl zugrunde liegen. Dabei werden wir zwei Grundprobleme zu unterscheiden
haben, die wegen ihres Inhaltes1 und ihres Ursprunges völlig verschiedensind und die nur in unberechtigter Willkür miteinander verwechselt werdenkönnen.
Es ist nicht schwer, die verschiedenen Quellen aufzufinden, von denen sie
herstammen. Die frühen Schriften und Untersuchungen Bultmanns bezeugenin ausreichender Weise die geschichtlichen und exegetischen Interessen des
Autors. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen dokumentieren ganz deutlich
die typische geistige Haltung einer gewissen Geschichtsschreibung positivisti
scher oder rationalistischer Inspiration. Die Unmöglichkeit, die historischeRealität eines übernatürlchen Ereignisses zu erkennen, - eine Unmöglich
keit, die der These von der Entmythologisierung zugrunde liegt - findet indiesen vorhergehenden Schriften ihren Ursprung. Der Eingriff einer übernatürlichen Kraft in den Verlauf der Geschichte wird nicht nur als unerkennbar bezeichnet, sondern als innerlich unmöglich. ·Diese Unmöglichkeit liegtjener, von der oben die Rede war, zugrunde. Sie wird gerechtfertigt, indemman sich auf das Weltbild bezieht, das von der zeitgenössischen Wissenschaft erarbeitet wud. Ein Übernatürlicher, unmittelbarer Eingriff würde tatsächlich diese Gesetzmäßigkeit zerreißen, die die Kausalzusammenhänge derphysischen Erscheinungen regelt.
Die Gleichsetzungjeglichen
übernatürlichenEingriffes
in denBereich
derGeschichte mit einer mythischen Erzählung wird möglich durch jenes Vor
urteil, das man irrtümlicherweise der modernen Wissenschaft zuschreibt. DerKonflikt zwischen einer mythischen Vorstellung der Welt, wie sie den primitiven Kulturen eigen ist, und einem wissenschaftlichen Weltbild, wodurch
unsere Zeit charakterisiert wird, ein Konflikt, der eine entscheidende Stellung einnimmt im Gedankengang Bultmanns und der seinen Versuch einerEntmythologisierung der christlichen Botschaft bestimmt hat, ist nur zumTeil wahr.
Wie Heidegger hervorhebt, ist de-r Begrift; des Weltbildes ausschließlich
der modernen Philosophie eigen, die durch die Vorherrschaft der Subjektivität, durch die Vorherrschaft des ,;vorstellenden Denkens" charakterisiertwird. Andererseits hat Jaspers gut bemerkt, daß gerade dieses wissenschaft-
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liehe Weltbild der modernen Denkungsart- obwohl es weit verbreitet ist -nur fälschlicherweise der modernen Wissenschaft zugeschrieben werdenkann 1• Die moderne Wissenschaft is.t in der Tat dadurch charakterisiert daßsie sich der Vorläufigkeit der Schemata bewußt ist, mit der sie die 'weitinterpretiert. Dieses Wissen um die Vorläufigkeit wird weitgehend bewiesendurch die Krise der Grundbegriffe, die den einzelnen wissenschaftlichen Gebieten zugrunde liegen. Nur mißbräuchlicherweise, im Überschreiten ihreseigentlichen Forschungsbereiches, kann die Wissenschaft allgemein gültigeUrteile über das tiefste Wesen der Dinge geben. Jedenfalls kann sie nie einerechtmäßfge Aussage über die Möglichkeit eines übernatürlichen Eingriffes
in die natürliche Ordnung machen. Wenn sie es tut, ist Eie nicht mehr Wissenschaft, sondern Philosophie, eine Philosophie von rationalistischer oderpositivistischer Richtung.
Es ist nicht zu leugnen, daß diese unbestimmte wissenschaf-tliche Geistes
haltung den modernen Menschen weniger annahmebereit erscheinen läßtgegenüber einem Eingriff des Göttlichen in den Bereich der Geschichte alsz. B. einen Menschen des Mittelalters. Und es ist gerade diese Schwierigkeit,die Bultmann hier ohne weiteres als Unmöglichkeit ansieht, durch die dieAufgabe einer Entmythologisierung des Inhaltes der christlichen Botschaftgestellt wird. Entmythologisieren bedeutet, negativ gc&ehen, die christlicheBotschaft von den mythischen Formen, die sie verbergen, zu befreien. DieseForderung gründet sich auf die Tatsache, daß das Erlöaungs.geschehen, soweites geschichtlich jst, mit dem Mythos gleichgesetzt wird. Diese Gleichsetzung
is t möglich auf Grund eines nicht wissenschaftlichen sondern rationalistischen Vorurteils, nach dem ein unmittelbarer Eingriff des Transzendenten,des wesensmäßig Jenseitigen in das Diesseits der historischen und weltlichen
Realität unmöglich ist. Einen völlig anderen Ursprung hat der existentialeInterpretationsbegriff von Bultmann. Er schließt sich unmittelbar an diePhilosophie des frühen Heidegger an. Aber, tiefer gesehen, findet er seineWurzeln im Existentialismus Kierkegaards und im typischen Individualismus des Protestantismus.
Die grundlegende Intuition, durch die die existentiale Interpretationcharakterisiert wird, kann man zusammenfassend durch eine Unterscheidung
definieren: die genaue Unterscheidung zwischen dem eigentlichen Sein desMenschen, soweit er persönliche Realität ist, aufgerufen, in Freiheit überdie Echtheit seines Seins zu entscheiden, und der Realität des materiellenWesens, die bereits in dessen Faktizität einbegriffen ist. Diese Intuition, dieman in jeder philosophischen Richtung von spiritualistischer Eingebung finden könnte, b,ekommt einen besonderen Akzent in der Existenzphilosophieund vor allem in der Terminologie von Heidegger, wo der Begriff der Personeine zeitliche Dimension gewinnt 2•
1 K. Jaspers, Wahrheit up.d Unheil, in Kerygma und Mythos III, Harnburg 1954,s. 12-13. •
2 Heidegger führt die Unterscheidung von Objekt und Person auf Husser1 und aufScheler zurück, aber er erkennt ihre Grenzen in der mangelnden Vertiefung und Anerkennung des zeitlichen Charakters des. menschlichen Seins. (Sein und Zeit,S. 47-48.)
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GESCHICHTE UND GEHEIMNIS 155
Das Das.em, d. h. das Sein des Menschen, soweit es wesentliche Seinsmög-lichkeit is t im Unterschied zu einem innerweltlichen Wesen, das nur "vorhanden" ist, zeigt sich in den drei Ekstasen der Zeitlichkeit als ein unaufhörlicher Entwurf des eigenen Seins. Der Werdeprozeß des Menschen ist ein
Geschehen, das sich von dem jedes anderen innerweltlichen Wesens dadurchunterscheidet, das es der Zukunft geöffnet ist. Das Dasein geschieht vonseiner Zukunft aus, gerade weil es wesentlich Seinkönnen ist. In dieser
genialen Umkehrung des traditionellen Zeits.chemas brkommt die Zukunfteine entscheidende Bedeutung. Nur der Mensch "ist" Zukunft, eben weil seinDasein ein Seinkönnen ist. Aber diese Zukunft is t nicht vorherbestimmt,sondern, s.oweit sie freie Seinsmöglichkeit ist, dem Entwurf des Daseins aufgegeben. Der Mensch existiert also auf Grund einer Wahl; in der er übersein Sein selbst entscheidet. Es wäre ein Irrtum, diese Wahi als einenWillensakt zu verstehen. Sie hat einen tieferen Sinn, der die Totalität des
Menschen in ihrer ursprünglichen Einheit erfaßt, in der jede psychologische
Fähigkeit ihren Ursprung hat. Die Wahl, mit der der Mensch über sich selbstentscheidet, ist gleichzeitig ein Selbstverständnis. Das Geschehen des Menschen erlangt seine Bedeutung auf Grund der Interpretation, die der Menschvon sich selbst gibt. Der Mensch ist im, Wesentlichen eine unaufhörlicheSelbstauslegung.
Zwei Möglichkeiten stehen der Entscheidung des Daseins immer: offen:Die erste Möglichkeit, sich auf Grund der eigenen Vergangenheit zu interpretieren, also nicht als eine Möglichkeit des Daseins, sondern als einfacheTatsache, als bloßes "Vorhanden-sein", in einem Wort, als Ding. Und die
zweite Möglichkeit, sich auf Grund der eigenen Zukunft zu interpretieren,als ein Seinkönnen, das sich selbst aufgegeben ist. Diese beiden Möglich-
keiten der Interpretation eröffnen zwei Richtungen historischen Wissens:Die Geschichte als Kenntnis einer schon abgeschlossenen Vergangenheit(Historie), und die Geschichte als Überholung der Vergangenheit im Lichte
des in die Zukunft gerichteten Entwurfes (Geschichte). Die erste Art, die
mit der unechten Interpretation des Daseins zusammenfällt, ist unfähig, denwahren Sinn der Geschichte zu erfassen. Nur sofern der Mensch die Ver-antwortung für die Vergangenheit im Entwurf der Zukunft übernimmt, d. h.
im Entwurf des eigenen Seinkönnens, is t er in der Lage, der Geschichte
Bedeutung zu geben, die Geschichte echt zu interpretieren.Diese Prinzipien, die nur einen Aspekt des Gedankenganges des frühen
Heidegger darstellen, werden Bultmann dazu dienen, mit Hilfe der existen-tialen Interpretation (Geschichte), das wiederzugewinnen, was auf der Ebeneder Historie u1;1wiederbringlich verloren schien. Der Prozeß der Entmythologisierung wird sich positiv vollziehen, wenn die existentiale Bedeutungeines Ereignisses wiedergefunden wird, das, historisch gesehen, unerkenntlich bleibt in seinem ureigensten Sinn. Entmythologisierung bedeutet also,die christliche Botschaft von einer Wahlmöglichkeit aus zu verstehen, die
sich dem interpretierenden Subjekt anbietet.Das Ereignis selbst der Erlösung, soweit es vergangenes Ereignis ist,
bleibt unbedeutend. Das, was zählt, ist die Bedeutung der Erlösung, die sich
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156 VIRGIL FAGONE, S. J.
dem Gläubigen enthüllt, wenn er dem göttlichen Aufruf folgt, authentisch erselbst zu sein. Die Geschichte, soweit sie Heilsgeschichte ist, hat daherwesensmäßig eskatologischen Sinn. Die Zukunft, das Seinkönnen\ des Daseins, entscheidet über die Vergangenheit, die jedoch jeden wirklichen Be-
stana verliert, wenn sie als bloßes "Vorhandensein" betrachtet wird.Die existentiale Interpretation fällt daher mit dem Prozeß der Entmytho
logisierung zusammen. In der Tat is t der Mythos nur die historiographischeErzählung eines übernatürlichen Ereignisses, dessen Sinn jedoch nur durchdie existentiale Interpretation erfaßt werden kann. Der negative undder positive Aspekt fallen praktisch zusammen. Die beiden Instanzen treffensich in dem Punkt, wo die historiographische Auffassung vom "Mythos" unddie existentiale vom bloßen "Vorhandensein" spricht. Der Mythos is t nichtsanderes als ein göttliches, wes.ensmäßig eskatologisches Geschehen, das inder historischen Zeit datiert wird, zurückgeführt auf die Bedingungen desbloßen Faktums und umschrieben durch die 1unangemessenen und wiedersprüchlichen Grenzen des bloßen Vorhandenseins. Doch bei genauer Überlegung erweist sich diese Konvergenz als vordergründig. Sie wird nur möglich durch die Verwirrungzweier Instanzen, die völlig verschieden sind, wennnicht sogar entgegengesetzt. Der historiographische Begriff des Mythos entsteht aus dem Vorurteil, das irrtümlicherweise für wissenschaftlich gehaltenwird, ein direkter Eingriff Gottes in die natürliche Ordnung sei unmöglich.
Dieses Vorurteil ist aber nicht wissenschaftlich, sondern hat einen rationalistischen Ursprungs, auf Grund dessen der Bericht einer irdischen Geschichte Gottes als mythisch betrachtet wird. Wenn daher dem geschichtlichen
Ereignis der Menschwerdung und der Erlösung mythischer Charakter zuge-
schrieben wird, handelt es sich um eine Folge der rationalistischen Denkweise.Dagegen ist der Begriff des "Vorhandenseins" als unechte Interpretation
des geschichtlichen Geschehens des Menschen in einer personalistischen oder,wenn man so will, existentialistischen Denkweise begründet, die dem Rationalismus direkt entgegengesetzt ist.
Und es ist gerade die Beharrlichkeit dieser beiden antithetischen Instanzen, ihr gegenseitiges Überlagern und Durchdringen, die den GedankengangBultmanns äußerst mißverständlich werden läßt: einerseits kann Bultmann
dem Ereignis der Menschwerdung, der Erlösungspassion Christi, s.einer Auferstehung und seinen Wundern jeglichen historischen Inhalt absprechen;
anderseits kann er die existentiale Wahrheit der christlichen Botschaft be-
haupten, in der alles das eingeschlossen ist, was auf der Ebene des objek-tiven Wissens geleugnet wurde. Eine Zweideutigkeit, durch die mindestensteilweise eine subjektivistische Interpretation der Bultmannsehen Konzeption, wie sie R. Prenter, H. Thielicke und 0. Cullman durchführen, gerecht-
fertigt wird. In gleicher Weise kann sich auf diese Zweideutigkeit eine ob-
jektivistische oder besser gesagt "realistische" Interpretation gründen, wie
jene Gogartens. Einerseits scheint tatsächlich die Bedeutung der christlichen
Botschaft bedingt zu sein durch das Erlebnis des Glaubenden, der sie interpretiert, indem er sie wirksam und real werden läßt in dem Maße, in demer dem göttlichen Anruf folgt. Andererseits zögert Bultmann nicht, die histo-
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GESCHICHTE UND GEHEIMNIS 157
rische Einmaligkeit des Erlösungsgeschehens zu verteidigen, obwohl er dieEntdeckung seiner authentischen Bedeutung und seiner konkreten Verwirk
lichung auf die individuelle Erfahrung des Glaubenden beschränkt.
Abei: in welchem Sinne kann man von einer Realität des Erlösungsge
schehens sprechen, wenn die Menschwerdung als Mythos betrachtet wird,wenn Christus nicht wirklich Gott war, sondern nur ein Bote der Heilsver-kündigung? Eine nur auf die Erlösung gerichtete Intention Christi würde
nicht ausreichen, um seinem Leiden und seinem Tode Wirksamkeit zu ver-
leihen. Die Menschwerdung verwirklicht sich also für Bultmann nicht in der
ontologischen Person Christi als Vereinigung von göttlicher und mensch-
licher Natur, sondern vielmehr in seiner Botschaft, durch die sich das gött-liche Wort an die Menschheit richtet. Für ihn is t der Begriff der Einheit der
beiden Naturen in der Person des Erlösers nur die Frucht eines objektivie-renden
Wissens,selbst wenn
es philosophischausgearbeitet wird mit Hilfe
der Kategorien einer es.sentialistischen Ontologie: er ist die begriffliche Ver-kleidung einer mythischen Erzählung.
Aber man muß hier zweierlei unterscheiden und voneinander trennen:
erstens, die Behauptung, daß der übernatürliche Sinn der Menschwerdung
und der Erlösung nur mit den Augen· des Glaubens in angemessener Weiseerfaßt werden kann; zweitens die Leugnung einer h1storischen Realität in
Bezug auf die Menschwerdung, die man ohne weiteres als mythisch definiert.
Wir stehen hier tatsächlich: vor einem unheilbaren Bruch zwischen dem
historischen Faktum, das in der Welt der Mythen eingeschlossen ist, und
seiner Bedeutung, die sich nur der existentialen Interpretation erschließt.Aber bis zu welchem Maße is t es gerechtfertigt, das Ereignis von der Be-
deutung zu isolieren?
Bei der Bultmannsehen Auslegung der christlichen Botschaft handelt essich um zwei verschiedene Erkenntnisweisen einer und derselben Realität,
von der die eine der Natur des Objektes unangemessen ist, während ihr dieandere auf Grund ihres übernatürlichen Charakters entspricht. Es handelt sich
nicht, das muß wiederholt werden, um den alten Konflikt zwischen zwei ver-schiedenen Gesichtspunkten, dem des Glaubens und dem der Vernunft. Denn
die Folgen der existentialen Interpretation als Entmythologisierung aufge-
faßt, treffen die gleiche Natur und Realität des Ereignisses und nehmen ihmjede ontologische Dimension.
Ist der Bruch einmal durchgeführt, so hat das Ereignis keinerlei Wahr
heit, und die Bedeutung ihrerseits entbehrt jeder Realität. Die Gefahr, das
Erlösungswerk mit einer Theorie des Heils zu verwechseln, is t zu real, um
ihr durch eine besondere Betonung des Begriffes "existential" entgehen zu
können. Es genügt nicht auf der Behauptung zu bestehen, daß die existen-tiale Interpretation immer eine "existentielle" Begegnung des Gläubigen
voraussetze.
Denn es geht bei der existentialen Interpretation des Heilsgeschehens nichtum das Ereignis einer persönlichen Begegnung mit Gott, sondern darum, daß
Gott Mensch geworden ist. Das is t das Ereignis, das dem Glauben des Ein-
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zeinen zu Grunde l i eg t - und nicht umgekehrt- auch wenn es nur im Lichte
des Glaubens wirklich erfaßt werden kann.
Wir fassen zusammen: das entmythologisierende Verfahren, insofern eseine rationalistische Ausgangsposition hat, endet mit der Leugnung eines
wirklichen, unmittelbaren Eingriffes Gottes in den weltlichen und historisdienBereich. Ein solches Ereignis - und das ist besonders zu beachten - wirdvor der historischen Wissenschaft nicht nur als unerkennbar, sondern als
.wesenmäßig unmöglich, das heißt "mythisch", betrachtet. Die existentialeInterpretation erkennt darüber hinaus in dem Ereignis, das auf seine menschlichen Dimensionen zurückgeführt is.t - durch die Vernunft faßbar unddurch die Historie belegbar - eine verborgene Intention, einen ethischenWert und eine religiöse Bedeutung, die, obwohl ausgedrückt in der Terminologie der christlichen Offenbarung, nichts weiter sind als die willkürlicheÜbertragung
einer philosophischen Ausdrucksweise, dieganz andere Ur
sprünge und Ziele hat.
Die Identifizierung der Erlösung mit der Echtheit einer Entscheidung, die
dem eigensten Seinkönnen offen ist, soweit es verfügbar ist dem AnrufGottes, die Gleichsetzung von Sünde und Vergangenheit, Vergangenheit als
Unechtheit einer Existenz, die sich selbst interpretiert auf Grund eines
"bloßen Vorhandenseins", verraten - trotz ihrer Suggestionskraft und desverborgenen Anklingens einiger dem Protestantismus vertrauter Themen -die Absichten der Philosophie, von der sie wieder hervorgehoben wurdenund riskieren, das Wesen der christlichen Botschaft radikal zu verändern.
Wie wir schon angedeutet haben, wurde die Trennung ·von Ereignis undBedeutung durch die Terminologie des frühen Heideggers möglich. Aber einevertiefte Analyse von Sein und Zeit, eine Beachtung der Gesamtrichtungder Untersuchung, die auf das Problem des Seins hin orientiert is t und demrlie Analyse des Daseins untergeordnet is.t, genügen, um ein derartiges Miß
verständnis zu beseitigen. Die folgenden Schriften Heideggers bestätigen imübrigen mit aller Deutlichkeit die B e g r e n z t h ~ i t und Willkürlichkeit einersolchen Interpretation. Das, was bei Heidegger einen tiefen Sinn hat im Zusammenhang mit der Seinsfrage, wird, so hebt Karl Jaspers richtig hervor,"tonlos" in der entmythologisierenden Interpretation von Bultmann 3•
In der Tat enthält die existentiale Analyse, richtig verstanden, nicht notwendigerweise den Prozeß der Entmythologisierung. Im Gegenteil, die entscheidende Richtung, die sie im· Zusammenhang der Heideggerschen Konzeption einschlägt, scheint diesen Prozeß völlig auszuschließen. Die Gleich
setzung von Mythos und bloßem Vorhandensein des Seienden - eineGleichsetzung, die den Berührungspunkt zwischen den beiden Problemkreisen bildet - ist nur möglich auf Grund der Übertragung einer rationalistischen Instanz in den Bereich der Existenzanalyse. Die letztere äußertsich nicht - wie wir im Folgenden noch sehen werden - zu der Möglich
keit eines direkten Eingriffes des Übernatürlichen in den Bereich der mensch-
a K. Jas-pers, a. a. 0., S. 16.
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GESCHICHTE UND GEHEIMNIS 159
liehen Geschichte: weder fordert sie seine wirkliche Gegebenheit, nochschließt sie von vornherein seine grundsätzliche Möglichkeit aus.
Der Gegensatz zwischen Historie und Geschichte kann nicht soweit ge-trieben werden, daß man der historischen Erzählung eines übernatürlichen
Ereignisses jeden Wert und jede Bedeutung abspricht und sie ohne weiteres
als mythisch definiert.
Daher scheint es uns, daß sich eine echte Formulierung des Problems mehr
auf die Vertiefung der Beziehung zwischen Geschichte und Geheimnis
stützen muß, als auf die einfache Gegenüberstellung von historischem und
mythischem Wissen.
In seiner weitesten Bedeutung gefaßt, enthält der Begriff "Mythos" immer
eine Grundverneinung gegenüber der Möglichkeit eines übernatürlichen Ein
griffes in den Bereich deti weltlichen Realität. Eine Vemeinung, die jede
wirkliche Vettiefung des Problems hemmt, es von Anfang an festlegt durchden Gegensatz zwischen Geschichte und Mythos.
Dagegen erkennt der Begriff "Geheimnis" die wesensmäßigen Grenzen
menschlichen, historischen und rationalen Wissens an, schließt aber dennochdie Möglichkeit eines transzendenten Ereignisses nicht aus, dessen tiefer
Sinn nur durch eine höhere Erkenntnis erfaßt werden kann, also durch den
Glauben. Eine solche Einstellung ist der oben genannten überlegen, weil sie
nicht von vornherein die Lösung des Problems durch ein Vorurteil belastet;
sie hält das Problem einer wirklichen Vertiefung offen, die dessen ursprüng
lichen Daten Rechnung trägt, ohne sie auf Grund ungerechtfertigter vorge-
faßter Meinungen gewaltsam zu verändern.Die Frage, die wir uns bei der Analyse der Beziehung zwischen geschicht-
licher Erkenntnis und dem Wissen um das Geheimnis stellen, richtet sich nicht
so sehr auf den Berührungspunkt zwis.chen dem Inhalt einer "Geschichte der
Erlösung" und dem Inhalt des. christlichen Glaubens, als vielmehr auf die
Bedingungen der Möglichkeit eines solchen Berührungspunktes.
Methodisch gesehen, werden wir uns in der Erarbeitung des Problems an
die Philosophie Heideggers halten mit besonderem Blick auf die Existenz
analyse von "Sein und Zeit" und auf die Vertiefung, die die anfänglicheUntersuchung in den späteren Schriften erreicht hat. Damit beabsichtigen wir
nicht, der fundamentalen Ontologie des Freiburger Philosophen den Vorrang
zu geben, sondern wir wollen vielmehr die Grenzen der Bultmannsehen Inter-
pretation aufzeigen. ·
Kurz gesagt, unser Ziel ist zu erkennen, ob die Existenzanalyse notwen
digerweise einen Prozeß der Entmythologisierung der christlichen Botschaft
einschließt, oder ob sie vielmehr der Möglichkeit eines göttlichen Eingriffes
in die menschliche Geschichte geöffnet ist.
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160 VIRGIL FAGONE, S. J.
li . Geschichte und Geheimnis
Bevor wir über die Möglichkeit eines Berührungspunktes zwischen Geschichte und Geheimnis diskutieren, ist es zunächst notwendig, die Bedeu
tung dieser beiden Begriffe zu bestimmen, die auf den ersten Blick zweiverschiedenen völlig voneinander unabhängigen Bereichen anzugehören
scheinen. Geschichte ist, der allgemeinen Auffassung nach, nichts weiter als
der Bericht menschlicher Ereignisse; sie bewegt sich wesentlich im Bereichder Tatsachen, auf der zuständigen Ebene menschlichen Werdens. Unter
Geheimnis dagegeri versteht man gewöhnlich eine Wahrheit, die die Grenzen
unserer Erkenntnisfähigkeit übersteigt. Welche Beziehung is t möglich zwi
schen dem endlichen Geschehen des Menschen und einer tranzendeuten
Wahrheit?
Diese Untersuchung geht nicht von der Definition der Begriffe Geschichte
und Geheimnis aus, es is t vielmehr ihr Ziel eine solche Definition zu finden.Es genügt, an dieser Stelle einige allgemeine Betrachtungen vorwegzunehmen,
.deren Gültigkeit im Folgenden zu beweisen sein: wird. Die Kenntnis der
menschlichen Ereignisse - will sie die Ebene der Geschichte erreichen -kann sie nicht auf eine bloße Feststellung der Tatsachen beschränken, sondern muß sich bemühen, ihre Einheit zu erfassen, das heißt ihre Bedeutung
und ihre Wahrheit. Andererseits schließt der Begriff des Geheimnisses, der
negativ interpretiert wird in Bezug auf die Grenzen uns.erer Erkenntnis, nicht
a priori die Wirklichkeit einer transzendenten Wahrheit aus. Irri Falle der
Menschwerdung unrl der Erlösung besteht das christliche Geheimnis gerade
in dem Einbruch der Transzendenz in die menschliche Geschichte.
Vorläufig kann das Problem also in dieser Form gefaßt werden: is t die geschichtliche Erkenntnis eines Ereignis.ses möglich, das, seiner Natur nach, eben
die Geschichte übersteigt? Ist im Bereich der Wahrheit menschlicher Ge-
schichte Raum für einen unmittelbaren und direkten Eingriff der Wahrheit
selbst?
Wenn wir uns auf die historiografj.schen Begriffe beziehen, die ein weitesGebiet der abendländischen Kultur im vergangeneo Jahrhundert beherrschthaben und deren Erben wir sind, kann die Antwort auf diese Fragen nur
negativ sein. Die rationalistische wie die idealistische Storiografie lassen dem
Geheimnis im oben erklärten Sinn keinen Zugang.
Denn für den Positivismus ist die Geschichte nur eine Feststellung von
Tatsachen und ihre Wahrheit ist jene der Tatsachen, soweit sie wirklich vorgefallen sind.· Es ist folglich die Aufgabe des Historikers, die effektive Wahr-
heit des Ereignisses auf Grund der Untersuchung und Analyse von Doku-
menten zu bestätigen; genauer gesagt, das Ereignis in die zeitliche Folge einzuordnen, seine Ursachen sowie seine Wirkungen auf andere Tatsachen her-
auszustellen. Kurz gesagt, die Wahrheit der historischen Erkenntnis beschtänkt sich auf die Gewißheit in Bezug auf das Faktum, soweit es real
besteht. Der Historiker muß sich dem Fakt-um bis zu dem Grade anpassen,daß er sein eigenes Ich, das heißt den verändernden Eingriff der eigenen
Interessen und seiner subjektiven Ansichten aufgibt.
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GESCHICHTE UND GEHEIMNIS 161
Gegen eine solche Haltung macht die idealistische Historiografie geltend,
daß die Wahrheit der Tatsachen in ihrer Einheit, in ihrer Bedeutung liegt.
Aber diese Einheit, dieser Zusammenhang is t nicht <chon in den Ereignissengegeben, sondern wird im Bewußtsein wieder hergestellt. Die Wahrheit der
geschichtlichen Erkenntnis besteht vielmehr in der Angleichung der Tatsachean das Subjekt, in der Interpretation, die das Subjekt aus den Quellen erarbeitet.
In diesen beiden Ansichten, die den Begriff der Wahrheit als Richtigkeit,als Übereinstimmung zwischen Subjekt und Objekt gemein haben - - sei esim subjektivistischen Sinn als Angleichung der Tatsache an das Bewußtseindes Historikers, sei es in der objektivistischen Auffassung als Anpassung des
Subjektes an das Faktum selbst - is t kein Raum für das Geheimnis, dasheißt für ein Ereignis, das, obwohl es sich. im Bereich historischen Werdenszugetragen hat, einen transzendenten Sinn und Wert hat.
Für den Positivismus ist ein solches "Ereignis" a priori unmöglich. Eswürde in der Tat den Determinismus der Kausalzusammenhänge, die Gesetz-mäßigkeit des historischen Werdens zerstören. Ein solches Ereignis wäredie Wirkung einer nicht existierenden Ursache, oder mindestens einer Ur-sache, die nicht bestätigt werden kann in der Ordnung natürlicher Fakten.Der Positivismus zögert also nicht, die effektive Realität dieses Ereignisses
zu leugnen, bereit, jedwede Interpretation zu Hilfe zu nehmen, um nicht denDeterminismus zu brechen, der die Folge der Tatsachen regelt. Darum werden die Quellen, die von einem solchen Ereignis berichten, als mythisch erklärt. Ihre historische Wahrheit liegt nicht in ihrem Inhalt, sondern in derDokumentation von religiösen Ideen und psychologischen Reaktionen vor-wissenschaftlicher Kulturen gegenüber natürlichen Ereignissen, deren Ur-sachen ihnen unbekannt waren. Die Aufgabe des Historikers ist es daher, jenephysischen und psychischen Fakten herauszustellen, die der mythischen Pro-jektion zu Grunde liegen. So wird das Geheimnis in seinem ionersten Wesenals transzendente Wirklichkeit geleugnet und auf ein bloßes Faktum zurück
geführt.Für den Idealismus dagegen, nicht so sehr besorgt um die Tatsache als um
seine Bedeutung, ist das Geheimnis nur ein Moment im Geschehen des
Geistes, der noch nicht zu sich selbst, zum vollen Bewußtsein der Selbsterkenntnis gekommen ist. Die idealistische Historiografie wird also dem Ge-heimnis einen, wenn auch nur begrenzten und unvollkommenen, Wahrheits-gehalt nicht absprechen. Doch dieser Wahrheitsgehalt drückt in symbolischerWeise jenen letztgültigen aus, den nur die philosophische Reflexion in derdurchscheinenden Selbsterkennntnis enthüllen kann. Die Richtung der historischen Untersuchung, die zusammenfällt mit der Rückkehr des Geistes zusich se lbs t - nach einer Selbstentfremdung in der wahrnehmbaren Welt undeiner Projektion seiner selbst in eine transzendente Wirklichkeit - besteht in einer Untersuchung der philosophischen Bedeutungen, die in jeder
religiösenKonzeption
enthalten sind.·. In Kürze, während die positivistische Historiografie die Realität des Ge-
heimnisses als historisches Ereignis leugnet, bestreitet die idealistische Auf-l i Castelli
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162 VIRGIL FAGONE, S. J.
fassung die Autonomie und die Transzendenz s e i n ~ r Bedeutung: das Ge-heimnis ist nichts weiter als eine unvollkommen erkannte Wahrheit.
Diese klare Unterscheidung hat die Härte und die Unzulänglichkeit jedersystematischen Schematisierung. In Wirklichkeit gibt es keine positivistische
Historiografie, die nicht einer subjektiven Voraussetzung Rechnung trägt, undsei es nur die Prämisse des Positivismus selbst; wie andererseits keineidealistische Historiografie besteht, - auch nicht die willkürliche, von Hegelversuchte Interpretation auf dem Schema der Dialektik - - die nicht in ge
wissem Maße die Fakten selbst berücksichtigt.
Aber beide verschließen in gleicher Weise den geschichtlichen Horizontgegenüber einem Einbruch des Übernatürlichen.· Indem sie das Ereignis vonder Bedeutung trennen, wird das Geheimnis als Ereignis unmöglich undzum unvollkommenen Symbol. Es is t das nicht zu übers.ehende VerdienstHeideggers, unter Berücksichtigung der phänomenologischen UntersuchungenHusserls und der fruchtbaren Intuitionen Diltheys, eine radikale Übetwin-dung des jahrhundertealten Gegensatzes versucht zu haben, indem er einen
neuen und vertieften Begriff des geschichtlichen Geschehens als intentionaleZeitlichkeit einführte, wo Ereignis und Bedeutung in einer einzigen Struk-tur zusammengefügt sind. In dieser neuen Auffassung der Geschichte wirddas Geheimnis nicht a priori ausgeschlossen, sondern in verborgener Weise
als deren letzter Sinn angerufen.Unsere Absicht ist nicht die Herausstellung des Heideggerschen Geschichts
begriffes, sondern vielmehr eine Interpretation seiner echten Bedeutung inBeachtung der geheimen Absichten, die die Totalität der Untersuchungenbestimmen, der letzten Ziele, auf die sie gerichtet sind.
Gemäß einer ihm eigenen Methode beginnt Heidegger seine Untersuchun-gen zur ·Bedeutung des Geschichtsbegriffes mit einer phänomenologischenAnalyse der Terminologie, wo die ursprüngliche Bedeutung iminer vorhan-den ist, s.ei es auch nur in den Verkleidungen und Entstellungen einer un-vermeidlichen Verfallenheit.
Der geläufige Sprachgebrauch versteht gewöhnlich unter "Geschichte"zweierlei: Das Ereignis selbst und das Wissen darum. Diese Doppeldeutig-kei< ist nicht willkürlich, sondern gründet sich auf eine ursprüngliche. Ein
heit. In der Tat gibt es kein geschichtliches Ereignis, das nicht schon in sichselbst Bedeutung hätte. Und andererseits besteht kein geschichtliches Wissen,
das nicht schon an sich ein Ereignis. ist. Zwischen dem geschichtlichen Ge-schehen und seiner Bedeutung ist eine innere, unlösbare Beziehung, die dieEinheit und Wahrheit der geschichtlichen Erkenntnis selbst begründet.
Damit wird jener anfängliche Bruch zwischen Subjekt und Objekt über-wunden, der sowohl der idealistischen als auch der positivistischen Historio-grafie zu Grunde htg und ihre nachträglichen Versuche einer Synthese lähmte.Aber diese Überwindung ist möglich dank einer vertieften Sicht des geschichtlichen Geschehens in seinen ontologischen Wurzeln un<;l eines ur-
sprünglicheren Begriffes von Wahrheit.Der Gegenstand geschichtlicher Erkenntnis ist das Geschehen des Men-schen als Zeitlichkeit. Eine Geschichtsphilosophie, die es unterläßt, den
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GESCHICHTE UND GEHEIMNIS 163
wesensmäßig zeitlichen Charakter menschlichen Geschehens hervorzuheben,
läuft Gefahr, sich von vornherein jeden Zugang zu seinem Verständnis zu
verschließen. Der geschichtliche Verlauf ist nicht nur eine Tatsache oder eine
Folge von Tatsachen, sondern das Entfalten menschlichen S ~ i n s in der Zeit.Und andererseits vollzieht sich auch die geschichtliche Erkenntnis im Bereich des zeitlichen Horizontes, der geöffnet ist durch das Geschehen desDaseins. Es ist gerade der Begriff der Zeitlichkeit, der eine Begegnung zwischen Ereignis und Bedeutung ermöglicht. Daher wird es nicht überflüssig
sein, auf einer Analyse dieses. B e g r ~ f f e s zu bestehen.
Zunächst muß unterschieden werden zwischen der äußeren, kosmologischenZeit, meßbar auf Grund der Bewegung der Gestirne, und der existentialen
Zeitlichkeit, die dem Dasein eigen ist. Der Mensch ist nicht nur ein Seiendes,dessen Werden in einer vorgegebenen und gleichgültigen Zeit abläuft. Das
Dasein hat Zeit, denn es ist in seinem Ursprung selbst Verzeitlichung. An-
nähernd kann die Zeitlichkeit des. Daseins verstanden werden durch den im
übrigen nicht neuen Hinweis auf die spezifische Natur seines Seins selbst.Das Sein des Menschen ist nicht bereits gemacht, vollendet, sondern befindetsich wesensmäßig in fieri.
Aber auch diese Definition hat nur annähernden Wert, insofern sie für
jedes Lebewesen gilt. Das Sein der Menschen wird dadurch charakterisiert,
daß sein Werden unaufhörlich seiner eigenen Entscheidung, seiner eigenen
Wahl aufgegeben ist. Und es ist gerade das Hinzukommen der Freiheit im
Verlauf menschlichen Werdens, wodurch der Unterschied zu jedem anderen
Geschehen deutlich wird. In der Tat, soweit es sich um Werden handelt, ist
jedem innerweltlichen Lebewesen - der Mensch ausgenommen - die eigene
Zukunft bereits vorgeschrieben in den biologischen Gesetzen, die die Pro-
zesse seines Organismus regeln; diese Zukunft ist sehr leicht bestimmbar,
wenn mim einmal die Gesetze selbst erkannt hat. Die Zukunft des Menschendagegen ist wesensmäßig unvorhersehbar, ist ursprünglich im tiefsten Sinn
des Wortes. ·
Dem Mens.chen aber ist sein eigenes Sein anvertraut, er muß es selbst erfinden, sei es auch auf Grund einer bereits gegebenen Ausgangsstellung. Das
wird sehr deutlich ausgedrückt in der Definition Heideggers, die paradox
scheinen könnte: "Das Sein des Menschen besteht in seinem Seinkönnen"
(Sein und Zeit, S. 42). ··Aber die Gleichsetzung von "Sein" und "Seinkönncn", die auf den ersten
Blick die ontologische Konstitution des Menschen zu verletzen scheint, darf
nicht dahingehend 'erstanden werden, als sei das Seh des Daseins reine und
unbegrenzte Möglichkeit. Das Sein des Menschen, obwohl ausschließlich sich
selbst, dem eigenen Entwurf aufgegeben, ist doch radikal begrenzt in seinem
Seinkönnen selbst. Der Mensch ist nämlich ·immer in eine Ausgangssituation
,_geworfen", die nicht nur die Anzahl seiner effektiven Wahlen umschreibt,sondern darüber hinaus auch den Entwurf der Möglichkeit selbst in seiner
tiefsten Wurzelbecinflußt. Der
Entwurf, in demsich
derMensch
~ > e i n e meigensten Seinkönnen öffnet, ist wesensmäßig ein "geworfener Entwurf". Das
"Geworfensein" durchdringt den Akt des Entwerfens in vollkommener Weise.
n•
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GESCHICHTE UND _GEHEIMNI.3 165
das Sein des Menschen der Willkürlichkeit einer ontischen Wahl zu über
geben, sondern er will zu der ontologischen Struktur des Daseins vor
stoßen, von der jede ontische Fakultät und Aktivität ausgehen. So verstanden,
fällt die Freiheit, das heißt die Möglichkeit über das eigene Sein zu entschei
den, mit dem Sein des Menschen selbst zusammen, soweit es Seinkönnen ist.In dieser ursprünglichen Wurzel ist die Freiheit nicht mehr dem Verstehen
als einer anderen Fakultät entgegengesetzt, sondern bildet mit ihr zusammen
die ganzheitliche Struktur des Entwurfes .
Verstehen ist wesensmäßig das Entwerfen der SeinsmöglichkeiL Die ver
schiedenen Bedeutungen, die der Mensch in seinem zeitlichen Geschehen ent
deckt, sind im Grunde nur Seinsweisen, Seinsmöglichkeiten. Die Dinge be
kommen in dem Maße Bedeutung, in dem sie in den vom menschlichen Ent
wurf geöffneten geschichtlichen Horizont eintreten. Die Bedeutung wird da
her auf das geschichtliche Geschehen des Daseins zurückgeführt, die Bewegung der Intentionalität fällt mit der Bewegung der Zeitlichkeit zusammen.
Der Entwurf - mit dem der Mensch über sein eigenes Sein entscheidet, in
dem als geschichtliches Geschehen das Seinkönnen zu sich selber kommt, -
identifiziert sich hier mit dem: Seinverständnis, soweit auch dieses die Ent
deckung einer Seinsmöglichkeit ist. Das Ereignis is t also in seinem Ursprung
der Bedeutung nicht entgegengesetzt, sondern bildet mit ihm zusammen eine
einmalige, geschichtlich-zeitliche Struktur.
Die Möglichkeit des Seins fällt mit der Zukunft zusammen. Als Ereignis
wird gewöhnlich das verstanden, was "vergangen" ist. Eine echte Erkenntnis
der Bedeutung des Vergangenen isi nur insofern möglich, als das Vergangene
in die Zukunft entworfen wird, das heißt, in dem Maße, in dem es eine Seins
möglichkeit des Daseins wird, das dafür die Verantwortung in Entwurf über
nimmt. Die Bedeutung des Ereignisses liegt in seiner Möglichkeit; aber dieseMöglichkeit ist niemals abgeschlossen: sie öffnet s.ich immer neu und ur
sprünglich der eigentlichen Entscheidung des Daseins. In Kürze: eine ge
schichtliche Erkenntnis ist möglich soweit der Akt, in dem sich der Mensch
auf die Vergangenheit bezieht, selbst geschichtlich ist: das Geschehen eines in
die Zukunft gerichteten Entwurfes, aber gleichzeitig ein von jeher "Ge
worfensein" in eine Ausgangssituation, in der der Mensch der Verantwortlich
keit für die Vergangenheit gegenübersteht. Aber die Vergangenheit kann nur
dann im Lichte der Zukunft gesehen werden, wenn sie selbst ein "geworfener
Entwurf" ist, .eine Möglichkeit, die sich auf die Zukunft richtet. Der alte
Gegensatz zwischen Erkenntnis und Realität wird im interpretierenden Ge
schehen des Daseins überwunden.
Jedoch verleitet das Zusammenfallen von Ereignis end Bedeutung zu einem
grundlegenden Mißverständnis, dem auch die Bultmannsehe Interpretation
der existentialen Hermeneutik nicht ausgewichen ist. Wenn in der Tat die
Bedeutung nur eine Seinsmöglichkeit ist, und wenn dieses Sein seinerseits zu
sammenfällt mit dem Sein des Daseins, mit der "Jemeinigkeit", auf die der
Entwurf gerichtet ist, scheint es schwierig zu sein, einer radikalen Relativi
sierung der Erkenntnis bis zum Grade der Subjektivisierung zu entgehen. Der
Daseinsentwurf- würde dieser Hypothese gemäß den Sinn oder das Wesen
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GESCHICHTE UND GEHEIMNIS 167
Seins mehr negativ als positiv vorgreifend, ahnt, daß das Sein jedes Seiende
und den Menschen selbst, soweit er endliches Seiendes ist, total übersteigt.
Nur auf Grund der Erfahrung einer radikalen Endlichkeit des. menschlichenSeins war es möglich, die Illusion aufzulösen, in der der Idealismus befan
gen war: die Jdentifizierung des Seins als solchen mit dem subjektiven Bewußtsein. Unleugbar besitzt das Denken die Merkmale der Totalität undder Einheit, wodurch eine solche Illusion geschaffen wird - hat man einmaldie Art des "vorstellenden Denkens" akzeptiert. Aber wenn die Seele ineinem bestimmten Sinn "alles" ist, wie Heidegger selbst hervorhebt, indemer Aristoteles und Thomas von Aquin zitiert, so is t sie es nicht auf ontischerEbene, sondern auf ontologische Weise, das heißt, soweit sie intentional demSein selbst offen ist.
Der traditionelle Begriff der Intentionalität wird in der Existenzanalyseum die Dimension der Zeitlichkeit erweitert, die s.eine radikale Endlichkeit
unterstreicht. Das Dasein befindet sich, soweit es intentional dem Sein offenist, immer jenseits seines eigenen ontischen Seins. Aber als geschichtliches Geschehen is t es in seinem eigenen Seinkönnen in eine Welt geworfen, undauf die einzelnen Seienden zurückverwies.en. Der Mensch in seinem Geschehen als Zeitlichkeit, das vom eigensten Seinkönnen aus.geht, somit demSein selbst offen ist, erschließt einen geschichtlich-intentionalen Horizont, indem sich das Sein des Seienden und die Bedeutung ·des Ereignisses anzeigenkönnen. Das Ges.chehen des Menschen ist interpretierend, gerade weil es sich
unaufhörlich als Übergang vom Ereignis zur Bedeutung, vom Seienden zumSein vollzieht. Der letzte Sinn der existentialen Hermeneutik ist nicht dasSein des Daseins in seiner Endlichkeit, sondern das Sein selbst sich enthüllend im zeitlichen, durch den Entwurf geöffneten Horizont. Die Synthesezwischen Ereignis und Bedeutung is t nicht möglich, wenn der Entwurf vondem Rahmen der individuellen und subjektiven Möglichkeiten begrenzt bleibt,
sondern nur, wenn er trotz seiner Endlichkeit dem Sein als solchem offen ist.Die Vergangenheit kann aufgenommen und in Zukunftsentwurf interpretiertwerden, sofern die Zukunft des Menschen auf das Sein selbst gerichtet ist,
das heißt, sofern das Geschehen des Menschen als "Lichtung des Seins" ge
schieht.In seinen folgenden Schriften hat sich Heidegger ständig bemüht, das
Mißverständnis aufzuheben, das durch einige Ausdrücke in "Sein undZeit" entstanden war. Es is t das Sein selber, das das Denken und denDaseinsentwurf selbst ermöglicht und nicht umgekehrt (Brief iiber den
Humanismus, S. 56). "Das Sein lichtet sich dem Menschen im ekstatischen Entwurf. Doch dieser Entwurf schafft nicht das Sein" (a. a. 0. S. 84).
"Das Werfende im Entwerfen is t nicht der Mensch, sondern das Sein selbst,das den Menschen in die Existenz des Da-seins als s.ein Wesen schickt"
(a. a. 0. S. 84). Die Geschichte ist nicht zunächst das Geschehen des Menschen, das Vergehen des Vergangenen, sondern die Gabe des Seins, in dess.en
Wahrheit sich die Existenz zeitlich erschließen kann. "Die Geschichte geschieht nicht zuerst als Geschehen. Und dieses ist nicht Vergehen. Das Geschehen der Geschichte weist als das Geschick der Wahrheit des Seins aus
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diesem . . . Zum Geschick kommt das Sein, indem Es, das Sein, sich gibt"(a. a. 0., S. 82-83). Existierend, das heißt geschichtlich geschehend, steht derMensch im "Geschick des Seins". "Gesetzt, daß der Mensch inskünftig dieWahrheit des Seins zu denken vermag, dann denkt er aus der Ek-sistenz.
Bk-sistierend steht er im Geschick des Seins" (a. a. 0., S. 82). Die Geschichtlichkeit des Menschen findet ihr Fundament in der Wahrheit des Seins. "Erstwo das Seiende selbst eigens in seine Unverborgenheit gehoben und verwahrtwird, erst wo diese Verwahrung aus dem Fragen nach dem Seienden als sol
chem begriffen ist, beginnt Geschichte" (Vom Wesen der Wahrheit", S. 16).
Die Konsequenzen einer solchen Umkehrung der Perspektive oder besserder Vertiefung der Ausgangsstellung, werden sehr deutlich in der erneutenGegenüberstellung von Geschichte im echten Sinne und Historismus. Heidegger versteht unter Historismus eine Interpretation der Vergangenheit aufGrund "bestimmter Vorstellungen der Gegenwart". Der eskatologische Sinnder Geschichte ist nicht so sehr in der Zukunft des Menschen zu suchen alsvielmehr in der "Eskatologie des Seins selber" (Holzwege, S. 301, 310-311).
Die Echtheit dieser Interpretation. wird klar bewiesen durch die Bedeutung,die der Begriff "Freiheit" in der neuen Ansicht der "Wahrheit des Seins" erlangt. Das Wesen der Wahrheit besteht in der Freiheit. Aber die Freiheit istkeine psychologische Fähigkeit des Subjektes, keine Willkür der Wahl, son
dern ein wesensmäßiges Offensein des Menschen, eine Verfügbarkeit, ein"Seinlassen", das Sein des Seienden, wie es in sich selbst ist. (Vom Wesen der
Wahrheit, S. 14.) Eine solche Verfügbarkeit gegenüber dem s.ich enthüllendenSein des Seienden ist möglich wegen des ursprünglichen Offenseins des Menschen im Lichte des Seins selbst. Die Gleichsetzung zwischen Wollen undVerstehen in der ontologischen Struktur des Entwurfes erscheint jetzt inihrem tiefsten Sinn. Die Freiheit, mit der der Mensch s·eine eigenen Möglich
keiten entwirft, ist keine subjektive Tendenz, kein "Wille der Macht". DieMöglichkeiten, auf die dieser Wille gerichtet ist, gehören nicht in den Bereich
des "vorstellenden Denkens". In seinem Geschehen als zeitlicher Entwurf erschließt der Mensch einen Horizont der Verständlichkeit, in dem sich das. Seindes Seienden nur darum zeigen kann, weil sein Entwurf ursprüngliche Frei
heit ist, Verfügbarkeit dem Sein selbst gegenüber. Die Geschichte beginnt mitdem Einbruch
des Seinsselbst in das Geschehen
desMenschen
(a. a.0.,
S. 17). Nur darum hat der Mensch Geschichte. Die ,.Natur" hat keine Geschichte.
Die Überwindung der positivistischen wie der idealistischen Historiografiegründet sich letztlich auf diesen neuen Begriff der Wahrheit. Der Kern derWahrheit besteht in seinem Ursprung nicht in der "richtigen" Übereinstimmung von Ereignis und Bedeutung, von Subjekt und Objekt; sondern im Enthüllen selbst des Seienden, in seinem Hervorkommen aus der Verborgenheitin das Licht des Seins. Wahrheit ist in der ursprünglichen Bedeutung der grie
chischen Ethymologie ein "Nicht-Verborgensein" (a-A.1]-&eta). Aber das Nicht
Verborgensein des Seili,lnden is t durch das geschichtliche Existieren des Menschen möglich, durch sein Geschehen als Freiheit, als Sein-lassen, in einemWorte, als dem Sein als solchem gegenüber Offensein.
7/27/2019 Kerygma Und Mythos, Bd. 6,1. Entmythologisierung und existentiale Interpretation (ThF 30, 1963, 250pp)
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GESCHICHTE UND GEHBIMNIS 169
Die innere Beziehung zwischen der Wahrheit des Seins und der Geschichteerlaubt uns, die. Eingangsfrage zu vertiefen, von der die Untersuchung aus
gegangen ist; die Frage nach der Möglichkeit einer Begegnung zwischen Geschichte und Geheimnis.
III. Das Sichverbergen des Seins: das Geheimnis
Der echte Geschichtsbegriff der heideggerschen Analyse - wenn man ihn
in seiner Totalität und seinen Grundintentionen innerhalb der Untersuchung
versteht - widersetzt sich dem Geheimnis nicht, sondern fordert es geradezu
als seine letzte Sinngebung.
Das Sein als solches, dem der Entwurf des Menschen ursprünglich offen ist,kann niemals in seinem Wesen erfaßt werden. Ähnlich dem Licht erhellt esalles, was da ist, bleibt aber selbst unsichtbar. Indem er das Wesen und dieBedeutung des jeweiligen Seienden möglich macht, hat es in sich selbst keine
ontische Bestimmung: es is t das "Nichts" des Seienden.
Die Entdeckung des Seins des Seienden, das im geschichtlichen "Ex-sistie
ren" des Daseins geschieht, fällt mit dem Sich-Verbergen des Seins als solchem zusammen. Das Sein als solches verbirgt sich hinter der Realität, die esenthüllt. Darum ist das geschichtliche Geschehen des Menschen oft ein"Irren" von einem Seienden zum anderen, von einer endlichen Wahrheit in
eine andere. "Die Drogetriebenheit des Menschen weg vom Geheimnis hin
zum Gangbaren, fort von einem Gängigen, fort zum nächsten und vorbei am
Geheimnis, is t das Irren." (a. a. 0., S. 22) Das· Irren liegt jedem Irrtum zu
Grunde, in dem Maße, in dem die Aufmerksamkeit für ein verfüg- und meß
bares Seiendes das Licht des Seins selbst verhüllt.
Dieses ursprüngliche und unvermeidliche Sich-Verbergen des Seins ist das
"Geheimnis", von dem die ganze menschliche Geschichte beherrscht wird. Die
Erfahrung des Todes als äußerste Möglichkeit der menschlichen Existenz
zeigt den geheimnisvollen Charakter des Seins an. Jede Geschichte mündet in
ein persönliches und individuelles Schicksal; aber der Sinn des Schicksalsbleibt Geheimnis. Das "Nicht-sein-können" in der geschichtlichen Bedingung
der Existenz is t der "Schleier des Seins" selbst.
Der Entwurf des Daseins.in seinem
Seinkönnen wird möglich durch dieAnziehungskraft des Seins selbst, das sich jedoch ständig jedem Griff unseres
Entwerfens entzieht. In dieser Tendenz, die die innerste Realität unseres
Seins strukturiert, sind wir ein "Zeichen" dessen, was uns anzieht. und sichuns gleichzeitig entzieht. "Was sich uns .entzieht, zieht uns. dabei gerade mit,
ob wir es sogleich und überhaupt merken oder nicht . . . Sind wir also die An
gezogenen auf dem Zuge zu dem uns Ziehenden, dann ist unser Wesen schondurch dieses "auf dem Zuge zu" . . . geprägt. Auf dem Zuge zu dem Sichentziehenden weisen wir selber auf dieses Sichentziehende. Wir sind wir, indem wir dahin weisen." (Was heißt Denken? S. 5-6) Das geschichtliche Ge
schehen des Menschen is t das unaufhörliche Hinweisen auf das, wodurch jegliche Sinngebung möglich wird, das sich aber selbst jeder konkreten Bedeu
tung entzieht: das "Geheimnis des Seins".
7/27/2019 Kerygma Und Mythos, Bd. 6,1. Entmythologisierung und existentiale Interpretation (ThF 30, 1963, 250pp)
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Aber das Geheimnis des Seins ist noch nicht das religiöse Geheimnis im -
eigentlichen Sinne. Heidegger weist eine derartig vereinfachte Identifizierungzwischen dem Sein als solchem und Gott, so sehr die auch von einigen Aus
drücken suggeriert zu sein scheint, entschieden zurück. Das Geheimnis des
Seins bleibt einbezogen in den Bereich der philosophischen Untersuchung. Es
bildet den End- und Ausgangspunkt jeden Fragens. Es ist das ,.Denkwürdige",
das .,Fragwürdige", wodurch jede philosophische Frage angeregt wird; aber
es entzieht sich jedem begrifflichen Erfassen, jeder Antwort, die beansprucht,ihren Sinn zu erschöpfen. Die Philosophie entsteht, wenn in der Frage nachdem Seienden als solchem das Geheimnis durchscheint, sie vertieft sich in
der Suche nach dem Sinn des Seins und zerfällt, wenn sich die ursprünglicheFrage verdunkelt. Ihre Aufgabe ist, dieser Frage treu zu bleiben, ihren Sinnund ihre Kraft nicht durch Wißbegier und Wissenschaftlichkeit zu zerstören,
die Tiefe des Seinsgeheimnisses, von dem die Philosophie ih r fragendes Wesen
ableitet, zu respektieren und zu schützen. Das religiöse Geheimnis dagegenbezieht sich auf eine andere Haltung, auf die des Glaubens. Während diePhilosophie durch ein Fragen gekennzeichnet wird, durch ein Nichtwissen, das
zu wissen sucht, is t der Glauben wesensmäßig eine Erkenntnis, das heißt ein
Wissen, das, obwohl unfähig, das durchscheinende Geheimnis zu verstehen,
doch dessen innersterWahrheitmit äußeren Mitteln nahekommt und damit
aufhört zu fragen. Heidegger verschärft den Gegensatz zwischen diesen beiden wesensmäßig verschiedenen Erkenntnisweisen so sehr, daß es zu der
Behauptung kommt: wer glaubt, kann nicht mehr fragen, das he.ißt kann nicht
mehr philosophieren, denn er kennt bereits das, womit sich eine philosophischeFrage beschäftigen müßte (Einführung in die Metaphysik, S. 5-6) . Aus dieserangenommenen Unmöglichkeit, die auf einer unzulänglichen Berücksichtigung des Unterschiedes zwischen philosophischer und glaubender Erkenntnis
beruht, kennen wir jedoch eine äußerst wichtige Konsequenz im Hinblick auf
die heideggersche Konzeption ziehen: Das Zusammenfallen, oder wenigstensdie Konvergenz des Seinsgeheimnisses mit dem religiösen Geheimnis als sol
chem. Nur wenn der Gläubige bereits we i ß - und sei es auch nur in dunkler
und indirekter Weise - wonach die Philosophie noch sucht, wird sein Fragen,
wie Heidegger behauptet, überflüssig.
In Wirklichkeit besteht zwischen dem Seinsgeheimnis und dem religiösenGeheimnis eine tiefe Beziehung, von Heidegger selbst ausdrücklich anerkannt:
"Erst aus der Wahrheit des Seins läßt sich das Wesen des Heiligen denken.
Erst aus dem Wesen des Heiligen ist das Wesen von der Gottheit zu denken.Erst im Lichte des Wesens von der Gottheit kann gedacht und gesagt werden,was das Wort ,Gott' nennen soll (Brief über den Humanismus, S. 102). In
dieser fortschreitenden, vorsichtigen und sagen wir, ehrfurchtsvollen An
näherung des Seinshorizontes an den Namen Gottes, sind, so meinen wir, die
Bedingungen angezeigt einer möglichen Begegnung mit dem Einbruch des
Göttlichen in den Bereich der menschlichen Geschichte.
Wenrt die echte geschichtliche Erkenntnis sich auf die Seinswahrheit gründet,auf Ihr geheimnisvolles Sich-Enthüllen und Sich-Verbergen im Entwurf desMenschen, der, indem er geschichtlich geschieht, die Welt erleuchtet; wenn
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GESCHICHTE UND GEHEIMNIS 171
das Seinsgeheimnis seinerseits den Horizont bildet, innerhalb dessen das reli-
giöse Geheimnis !>ich zeigen kann; so folgt daraus, daß es keinen Sinn hat,
von einem unüberwindlichen Gegensatz zwischen geschichtlicher Wahrheit
und der Wahrheit eines übernatürlichen Eingriffes zu sprechen.
Wenn das Wesen der Wahrheit nicht in einer subjektiven Interpretation be-
steht, die das Sein der Dinge überdeckt, sondern vielmehr ein "Sein la'Ssen"in Freiheit bedeutet, eine Verfügbarkeit im Lichte des Seins, so wird auch
das Wesen der geschichtlichen Wahrheit darin bestl!hen, die Tatsache oder
besser gesagt das "Ereignis" anzunehmen, nicht in einfacher Feststellung und
Bestätigung, sondern in Anerkennung der Bedeutung, die in seinem Ge
schehen selbst enthalten ist. Die Bedeutung kann nicht von dem Ereignis ge-trennt werden, eben weil ein geschichtliches Ereignis das Geschehen eines
Wesens ist, das sich dem Seinsverständnis öffnet, und weil andererseits auch
die geschichtliche Erkenntnis selbst einSeinsverständnis
ist, das zeitlich ge-schieht.
Die Bedeutung eines übernatürlichen Ereignisses bleibt in seinem innersten
Wesen für die Historie unzugängilch. Aber eine echte, dem Seinsgeheimniserschlossene Geschichte sperrt sich nicht völlig und a priori der Möglichkeit
eines direkten göttlichen Eingriffes in die Welt. Sie wird niemals nur mit ihren
eigenen Kräften die innere Bedeutung eines solchen Eingriffes ganz erfassen
können oder auch nur als Ereignis fordern. Aber sie kann im Geschehen des
Menschen in der Welt die Spuren eines Urfalles erkennen; sie kann in einer
durch die Jahrhunderte gereiften Erwartung die Anzeichen einer Verheißung
erfassen; sie kann im Hervorragen einiger Tatsachen aus dem notwendigenKausalzusammenhang die "Zeichen" des Eingriffes einer geheimnisvollen und
übernatürlichen Macht erahnen, in der sich die Wahrheit der Heilsbotschaft
bestätigt.
Der Seinshorizont, in dem sich die Untersuchung des späteren Heidegger
bewegt, bleibt der Möglichkeit einer übernatürlichen Offenbarung gegenüber
neutral. Die philosophis.che Frage, die vom Glauben in einem besonderen
Credo unterschieden wird, is t bereit, in j.edem Mythos einen Wink des• Seins-
geheimnisses anzuerkennen.
Was den Mythos betrifft, is t es nicht die Aufgabe der Geschichte, die philo-
sophische Bedeutung von der sie verkleidenden phantastischen Erzählung zubefreien, sondern vielmehr ihre innere Beziehung in ihrer gemeinsamen Teil-
habe an der Sprache zu entdecken. Der Mythos ist in der Tat nichts weiter als
das ,.sagende Wort", "das Wesende in seiner Sage: das Scheinende in der
Unverborgenheit seines Anspruches. Der l6yoG" ist der alle Menschen zuvor
und von Grund. aus angehende Anspruch, der an das Scheinende, an das
Wesende denken läßt". (Was heißt Denken? S. 6-7)
"MvfJo, und l6yo' treten keineswegs, wie die landläufige Philosophie
historie meint, durch die Philosophie als solche in einen Gegensatz . . .p / ü { } o ~
undl 6 r o ~
treten erst da aus- und gegeneinander, wo wederp J j { } o ~
noch l o r o ~ ihr anfängliches Wesen behalten können. Dies ist bei Platon ge-schehen. Es is t ein auf dem Grunde des Platonismus vom neuzeitlichen Ratio-
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172 VIRGIL FAGONE, S. J.
nalismus übernommenes Vorurteil der Historie und Philologie zu meinen, derp v { } o ~ sei durch den . A . 6 y o ~ zerstört worden. Das Religiöse wird niemalsdurch die Logik zerstört, sondern nur dadurch, daß Gott sich entzieht"(a. a. 0., S. 6-7)
In dieser "Zeit der Bedürftigkeit", in der· der Logos zur Logik gewordenist, im negativen Sinne verstanden als Technik des_"vorstellenden Denkens",als Logistik; in dieser "Nacht" der Zeiten, in der die Götter geflohen sind undtragisch der Schrei Nietzsches widerhallt: "Gott ist tot!", fordert Heideggerden heutigen Menschen auf,. über das Geheimnis des Seins zu besinnen alsc'ie einzige Möglichkeit, in der das göttliche Wort hörbar, der Sinn eines über·natürlichen Ereignisses verständlich werden kann.
(Übersetzung v. E. M. Jäger)
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MENSCHLICHE SITUATION UND "VOR-ESCHATOLOGIE"
Renato Lazzarini, Universität Bologna
Zum Problem der Entmythologisierung
In der Begegnung mit der von Rudolf Bultmann vertretenen existentialenInterpretation des Neuen Testamentes empfing ich sozusagen einen Anstoß,der hervorgerufen wurde einerseits durch seine eschatologische These, ander
seits durch sein Anliegen der Entmythologisierung. Diese beiden Themen, diesich bei Bultmann 1 wechselweise bedingen, schienen mir ganz und gar un
vereinbar - jedenfalls solange man nicht auf eigene Faust gewisse Abschwächungen und Verdeutlichungen zugunsten eines möglichen Ausgleichsvornimmt. Dieser liegt jedoch wahrscheinlich auf einer anderen Ebene alsder Bultmanns.
Dennoch habe ich mir die Behandlung dieser Themen - Eschatologie undMythos - zum Ziel gesetzt. Ich schicke einige Erwägungen voraus, welche
die Verwandtschaft zwischen dem Begriff der existentiellen Situation unddem mittelalterlichen Begriff des "status viae" hervorheben sollen.
1. Der Begriff der menschlichen Situ_ation in der Philosophie der Gegenwart
Ein zentrales Thema der heutigen philosophischen Betrachtung der Geschichte ist ih r eschatologischer Charakter, die Frage nach ihrem Sinn, ihrerletzten Bedeutung. Dieses dringliche und in hohem Maße aufschlußreicheThema lädt gleichsam unausweichlich ein zu einer Gegenüberstellung mitjener spezifischen menschlichen Erfahrung, die nicht bloß als religiös, son
dern eigentlich als christlich zu bezeichnen ist, und zwar mit ihrer echtesteri
Form: der des Neuen Testaments.
Schon vor einem halben Jahrhundert war die Behauptung gang und gäbe,daß das Urchristentum in einer eschatologischen Stimmung lebte, und manempfand es wie ein Ärgernis, daß es sich dem Gang der Geschichte angepaßthat, als ob es, das angekündigte Ende überlebend, sich geradezu in seinemEigensten verleugnet hätte.
Von Zeit zu Zeit trat in verschiedenen Gestalten eine eschatologische Gärung ein, z. B. im 13. Jahrhundert in den Bewegungen des Joachim von Fioreund der Franziskanerspiritualen. Sie wurde stets ausgelöst durch jenen Prozeß der Anpassung der Menschheit an ihre politisch-wirtschaftliche, recht-
1 Ich beziehe mich vor allem auf "Zum Problem der Entmythologisierung" - in:Kerygrr-a und Mythos, 2. Band (Hamburg 1952), 179-208 (hier zitiert unter: KM) -und aut "Geschichte und Eschatologie" (Tübingen 1958). Vgl. auch die Sammlung sehtbedeutsamer Aufsätze: "L'interpretation du Nouveau Testament" (Paris 1955).
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174 RENATO LAZZARINI
liehe usw. Ordnung, der Kultur und Gesellschaft, auch die christliche, in der
Geschichte hervorbringt.
In der Philosophie der Gegenwart hat sich der Begriff des "finis" durch
gesetzt - in seinem doppelten Sinn, dem positiven von r ü o ~ oder Ziel und
dem privativen von Ende, eax,amv -, seit Heidegger ihm, in dem kühnen
Begriff der "vorlaufenden Entschlossenheit", gewissermaßen Heimatrecht im
Bereich der Existenzanalytik verschafft hat.
Deshalb findet die Auseinandersetzung mit der Eschatologie als Wesens
element von Botschaft und Persönlichkeit Jesu Christi, zu deren Rechtferti
gung das philosophische Klima vor fünfzig Jahren mit seiner Versteifung
auf eine schlechthin immanentistische Geschichtsdeutung nichts beizutragen
vermochte, in der Existenzphilosophie der Gegenwart die Werkzeuge, die
einer Vertiefung -des christlichen Bewußtseins gerade in seinem Eigensten,
seiner eschatologischen Haltung, dienen können.Die eschatologische Haltung fordert vor allem in Bezug, auf den Menschen
eine grundlegende, uns heute sehr geläufige Unterscheidung zwischen Natur
und existentieller Situation. Der naturhafte Mensch besitzt seiner objektiven
Existenz nach ein spezifisches Wesen, das bestimmbar is t im Gegenüber zu
anderen Naturen oder Wesen, die als in der Wirklichkeit vorgegeben voraus
gesetzt werden. Unter dieser Hinsicht is t der Mensch ein Geschöpf, das zu
jener größeren Wirklichkeit gehört, welche den Naturkosmos, die Welt dar
stellt. In diesem Sinn also kann man von dem naturhaften Menschen spre
chen. Heute wird dieses naturhafte Sein gewiß nicht bestritten, aber seine
Grenzen werden abgesteckt. Auch der Mythos wird, insofern er eine Reduktion des Göttlichen auf naturhafte Vorstellungen darstellt und damit selber
dem Naturhaften angehört, vernachlässigt als etwas Zweitrangiges im Vergleich mit dem eigentlichen Gebiet der Erforschung des Menschen in seine_r
geschichtlichen Konkretheit.
Die Erforschung des Menschen hat zum Ziel das eigentlich Existentiale an
ihm. Das jedoch, was den Menschen macht, ist, weit mehr als das "Situiert
sein" (als Passivität), das "Sich-situieren" (als reflexe Aktivität), ein Sich
klar-werden über sich selbst, ein Sich-zum-Problem-machen, ein Sich-verge
schichtlichen und Sich-verzeitlichen.
Das enge Band zwischen Situation und Bewußtsein ist damit gegeben, daß
die Existenz das Sein ist, gerade insofern es "situiert" ist, Situation besagt,
d. h. insofern es sich selbst annimmt; und dieses Sichannehmen besteht darin,
mit Bewußtsein zu existieren, sich zum Sein selbst zu verhalten.
Es ist zu beachten, daß dieses Seinsbewußtsein oder dieses Exis.tieren vor
allem als Forschungsmethode übernommen wird. Sie entfremdet uns dem
empirisch-alltäglichen wie auch dem wissenschaftlichen Wissen, das die Natur
betrachtet als vorgegeben, unabhängig von dem existentiellen Bewußtsein
von ihr.
Aber was is tdieses
Bewußtsein anderesals
ebendie
Intention, zu existieren
oder sich selbst auszusagen? Hier begegnet sich der phänomenologische ln
lentionalismus Husserls mit dem existentialen Heideggers: die beiden Denk-
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MENSCHLICHE SITUATION UND V O R - E S t ~ H A T O L O G I E 175
motive sind heute als Forschungsmethode zu übernehmen 2• Gerade auf demGebiet der Methode hat die Unterscheidung von existential und existentiell,
von ontologisch und ontisch eine spezifische Funktion: die Anwendung aufden Bereich der existentialen Erfahrung, in der jedem bewußten Akt ein schon
bestimmter oder doch stets bestimmbarer Existenzgehalt entspricht, der als
solcher unterschieden ist von der metaphysischen Ebene, die von sich aus unbestimmbar ist.
Auch Blonde! unterschied die beiden Ebenen: er stellte in seiner Phänomenologie des konkreten Handeins das darin ausdrücklich Gesetzte dem gegenüber, was einschlußweise gegeben und gleichsam vom Schleier des Geheimnisses verhüllt bleibt.
Der Mensch ist von jedem Naturwesen dadurch charakteristisCh unterschieden, daß er sich selbst in Frage stellt. Der Mensch steht deshalb in einer problematischen Mehrdeutigkeit. Im Bannkreis dieser Mehrdeutigkeit ist der fürihn grundlegende kennzeichnende Akt zu suchen.
Dieser Akt ist die Wahl, die Entscheidung: die Wahl seiner selbst undseiner eigenen Situation. Beides is t der Sache nach dasselbe. Es gibt keineWahl ohne eine Besitzergreifung seiner selbst, eiri Bewußtsein vom eigenenKörper, der einen bestimmten Raum einnimmt. Die wirkliche Entscheidungist die Anerkennung und Legitimierung seiner s.elbst. Ein solcher Akt istjedoch nicht als punktartig zu betrachten, sondern als andauernd: er gibt
Raum dem "Habitus" des Existierens, der Situation. Entscheidung oder
Selbst-Habitus machen aus dem "natürlichen" Menschen etwas, das nichtmehr natürlich ist, sondern in eigentlichem Sinne als etwas "Außer-" oder"Über-natürliches" (preter-, bzw. trans-naturale) bezeichnet werden könnte 3•
Die Wesenszüge dieses außernatürlichen Seins feststellen: heißt von derkosmologischen auf die anthropologische Ebene übergehen, auf der derMensch niemals bloß Natur ist, was er nur sein könnte nach Verlust seines
Menschseins. Der Mensch ist niemals nur ein Sein, sondern ein Sein-können.Ausgehend von seiner eigenen Situation stellt er sich darauf ein. etwas zutun, zu denken, zu sagen, zu fühlen, was ihn selbst betrifft, oder etwas anderes,das jedoch in einer von ihm ausgehenden Beziehung zu ihm steht.
Diese dem Menschen eigene "Außernatürlichkeit", die zusammenfällt mi t
der Möglichkeit der Selbstverfügung, bringt mit sich ein beständiges Sichaufgegeben-sein des Menschen selbst und damit sein Geschichtlich- und Zeitlichwerden. D i ~ Geschichtlichkeit is t für den Menschen die eigentümlicheWeise des Werdens. Es gibt hier kein anderes als geschichtliches Existieren.Aus der Geschichtlichkeit müssen jene Formalstrukturen des Menschen gewonnen werden, die die Ontologie des Menschen bilden, die Anthropologie(die ich lieber Anthroposophie nennen würde).
2 D a ~ eben ist die Einstellung Bultmanns, der die Philosophie Heideggers als eine;,Methode" übernimmt, die sich auf die metaphysisch-religiöse Ebene übertragenläßt. Vgl. KM 193. Die Existenzphilosophie sagt dem Menschen nicht: "So sollst du
existieren", sondern einfachhin: "Du sollst existieren".a Ich habe von diesem Begriff ausführlich Gebrauch gemacht in "Situazione umana
e senso della storia e del tempo" (Mailand 1960) und in voraufgegangenen Arbeiten.
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176 RENATO LAZZARINI
Außerdem bedeutet Geschichtlichkeit eine Erhebung des ontisch Gegebenenoder bloß Vorhandenen, das ausgedrückt wird in der Form des Indikativ- oderDemonstrativpronomens ("dies-da"), zu einem ontologischen Seinsollen, dassich ausspricht in der Form des Imperativs. Schließlich führt die Geschicht
lichkeit, die der Situation als Existieren eigen ist, zur axiologischen Beurteilung und damit zu den Begriffen Sein und Wert. Das Problem, ob der Mensch
in diesem Zusammenhang Wert oder nur Wertträger ist, is t hier nicht vonBelang, weil der Mensch auch als Wertträger bereits den Menschen als Werterkennen läßt.
2. Natur und existentielle Situation des Menschen in dermittelalterlichen Philosophie
Zur Frage steht das Problem der Anwendbarkeit der soeben beschriebenenexistentialen Kategorien auf die religiöse Erfahrung im allgemeinen und dieneutestamentlich-christliche im besonderen. So soll eine Lösung jener Schwie
rigkeiten gefunden werden, die besonders Bultmann auf das Konto des
Mythos schreibt, während andere in ihnen einen unaufhebbaren Gegensatzzur Forderung streng wissenschaftlicher Erkenntnis der Welt ohne Mythensehen. Dazu scheint es mir notwendig, die modernen existentialen Kategoriender Art und Weise gegenüberzustellen, in der sie von dem spekulativen Bewußtsein während seiner langen und fruchtbaren mittelalterlichen Entwicklung gesichtet wurden.
Der existenzphilosophische Begriff der Situation findet tatsächlich seineEntsprechung - und eine ganz ursprüngliche Verdeutlichung und Überhöhung - in dem mittelalterlichen Begriff des "status". In allen wichtigen
Fragen der Erkenntnislehre, der Moral und des Gefühlslebens. machen die
mittelalterlichen Denker genaue Angaben über den "status" des Menschen,auf den sie sich beziehen: den "status" des gegenwärtigen Lebens, den ein
zigen, den wir kennen, im Gegensatz zu dem idealen status des Menschen,wie er (in hypothesi) von Ewigkeit her dem Geiste Gottes gegenwärtig ist, so
wie zu dem endgültigen eschatologischen "status", dem "status" nicht mehrdes Weges (status viae), sondern der Ziel-Heimat (status Patriae).
Es is t vor allem zu beachten, daß man in keinem dieser drei "status" vondem Menschen in seiner bloßen Naturhaftigkeit sprechen kann. Dies trifft
jedenfalls zu für die Menschheit in der Wirklichkeit der Schöpfung, kraftderen sie nicht mehr nur einen innerlichen Gedanken Gottes bildet (vgl.Anselm von Canterbury), sondern in eigener Verantwortung zu existierenbeginnt. Welche Bedeutung ih r auch jemals zukommen mag: weist sie nichtstets in eine bestimmte Richtung, indem sie so sich selbst überschreitet? Esgeht nun darum, die mens.chliche Situation zu erfassen, sobald sie einmalüber diese bloße Naturhaftigkeit hinausgeht. Dieses Hinausgehen erweist
sich als wirklich gegenüber der Welt, wenn der Mensch über sich selbst verfügt, indem er sich bewußt wird, daß er nicht nur in einer vorläufigen Situation, sondern in einer endgültigen Grenzsituation steht.
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MENSCHLICHE SITUATION UND VOR-ESCHATOLOGIE 177
Der Mensch ist gewiß Ebenbild Gottes. Seine ganze Würde und Größejedoch besteht darin, daß er fähig ist, eine Wahl zu treffen angesichts derAlternative: entweder dem göttlichen Urbild immer ähnlicher zu werden oderihm unähnlich zu werden bis zur Möglichkeit des Selbstverlustes. Diese zwei
fache Fähigkeit verleiht dem Menschen jenen eigentumliehen Charakter derZweideutigkeit und Problematik, von dem die Rede war. Die Situation desmittelalterlichen Menschen ist aufs bestimmteste eine existentielle Situation,eine Situation, die gebunden is t an eine beständige und sich stets erneuerndeMöglichkeit des Heils oder Unheils.
Angesichts dieser möglichen Endsituation ist es klar, daß das zu verwirklichende Wesen des Menschen zwar darin besteht, Ebenbild Gottes zu sein,daß dieses Ebenbild in seinem gegenwärtigen "statm:" sich jedoch auch insein dämonisches, widergöttliches Gegenteil verkehren kann. Wenn einmal-im
Menschen- die Kontingenz auf die Stufe von Wissen, Verstand undReflexion erhoben ist, erlangt sie die Freiheit, Gott ähnlich zu werden odersich selbst zu verlieren. Daß die Welt als schöpferisches Werk Gottes sichaufwärts entwickelt, müssen wir von unserem Standpunkt aus als wohlbe
gründete Möglichkeit betrachten. Aber nur wenn die Weltgeschichte im Sinnder Vollendung des Menschen - nicht seiner. Verfallenheit und Selbstverhaftung - verläuft, kann diese Möglichkeit verwirklicht werden. Ohne diesenAblauf ist die menschliche Natur in der Schwebe der Neutralität und Wertindifferenz der bloßen Natur, der "natura pura".
Daher wird das dringlichste und anspruchvollste Problem nicht die Natur,
auch nicht die vernünftige Natur des Menschen sein, sondern seine Freiheit,die zu fassen ist im Ausgang von einem Punkt null der Neutralität und Indifferenz (liberum arbitrium indifferentiae) 4•
Zur Klärung dieses Übergangs von der natürlichen Art "Mensch" zumMenschen als Freiheit ist das Problem zu untersuchen, das dies.er Übergangeinschließt: der "status", in dem sich die Menschheit als Art-Ganzheit befindet.
Das Mittelalter hat das Thema der Situation - unter dem klassischen Be
griffswort "s tatus"- gekannt und sich zu eigen gemacht. Es vermochte darinsogar die Grundzüge nicht einer mehrdeutigen anthropozentrischen oder
4 Die Neutralität, die der existentialen Analyse der faktischen, bloß vorhandenenExistem. eigen ist, hängt ab von de m Eingeständnis, daß ich, wenn ich in mir bliebe,Gott nicht finde. Indem ich darauf verzichte, Gott zu finden, erlange ich einen Zustandder Neutralität (Bultmann: KM 195).
Neutralität besagt Indifferenz gegenüber den Werten, einschließlich des hypothetischerweise angenommenen absoluten Wertes Gott, der der Ursprung der Werteist. Es handelt sich jedoch um eine Urteilsenthaltung ( b r : o x ~ ) , nicht. um eine ausdrückliche Leugnung, die von vornherein ausschließen würde, was vielmehr nur vorläufig unentschieden bleibt.
Das Gegenstück hierzu in der traditionellen Theologie stellt das Problem de•:
menschlichen Existenz im Zustand der "reinen Natur" dar, der gewöhnlich als Abstraktion betrachtet wird. Dieses Problem ist auch heute bei den Theologen lebendig.Man könrite hierzu sagen, daß-die "reine Natur" des MenschE:n al l das besitzt, was sie
zum Existieren braucht, jedoch ohne die Existenz selber oder ohne den "status". Fehltdieser, so fehlt dem menschlichen Selbstbewußtsein Perspektive und endgültige Ausrichtung; sein Selbstentwurf bleibt anonym, empirisch, r e i ~ zufällig.
12 Castelli
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178 RENATO LAZZARINI
anthropomorphistischen Auffassung, sondern eines. echten Humanismus zu
finden. Nach und nach geht man von der Beschreibung der Strukturelemente
des Menschseins oder von dem Menschen als Natur über zur metaphysischen
und moralphilosophischen Erhellung des Menschen als Person. Im s.elben
Maße nimmt bei den Schulen und Denkern des Mittelalters die Häufigkeit
und Genauigkeit der Gedankengänge zu, die zum Begriff des "status" führen,
insofern sich dieser unterscheidet vom Begriff der Natur, die, als reine Natur
gefaßt, zur Abstraktion wird.
Die mittelalterliche Philosophie hat allerdings stärkeren Nachdruck gelegt
auf den Begriff der Person (in ihrem Unterschied von dem "natürlichen"
menschlichen Individuum). Aber das erklärt sich daraus, daß die Konstitution
der Person diejenige des "status" möglich macht in Adam, wie für uns um
gekehrt die Konstitution des "status" die der Person. Die Konstitution des
"status" gehtzurück
auf drei Ereignisse, die sich im Bereichdes
Religiösenvollziehen: die übernatürliche Erhebung, der Sündenfall, die Erwartung desendgültigen Erlösers. Diese drei Ereignisse greifen über auf alle Strukturele
mente der menschlichen Natur und versetzen sie in eine existentielle Situa
tion, wodurch diese ihrerseits die Eignung empfangen, Sinnrichtungen und
Bedeutungsgehalte anzudeuten oder auszudrücken 5• Weit entfernt davon, daß
sie aus der menschlichen Natur ableitbar wären, haben diese Ereignisse vielmehr eine Kontingenz an sich: sie konnten ebenso auch nicht geschehen.Keinerlei Notwendigkeit besteht für die Annahme, daß sie dem Menschen
als Natur von vorneherein geschuldet wären. Der "status", die Situation des
Menschen ist deshalb gekennzeichnet durch eine außernatürliche Kontingenz.Die Gegenwart der Kraft, die den Menschen ursprünglich über sich selbst
hinaus erhoben hat, dann der auf Abwege führenden Sünde und schließlich
des neuen Weges zu einem wahrhaften Letztziel (der Ausrichtung auf einen
endgültigen Sinn) läßt in der menschlichen Natur etwas zum Vorschein
kommen, was nicht von dieser Natur selbst stammt, ob die Natur verstanden
wird in ihrer spezifischen, allgemeinen Wesenheit - wenn auch sogar einer
vernünftigen Natur - oder in ihrer individuellen Bestimmtheit. Das Neue
besteht darin, daß die Freiheit ins Spiel kommt, die sich der Vernunft be
dient, aber ihr nicht unterworfen ist; denn im Vernunftvollzug selbst steckt
kraft der Initiative der Freiheit ein schöpferisch-erfinderisches Element, dasder "naturhafte" Mensch nicht kennt. Der doppelte Impuls der ursprünglichen
Erhebung und der gleichfalls ursprünglichen Sünde gibt de.m Menschen eine
anhaltende Bewegung, die nicht von der Natur her meßbar is.t, die jedoch
Bedeutung besitzt für die Bestimmung der Menschheit: die ganze menschlicheGeschichte wird von ihr betroffen, ja gleichsam in Gang gehalten. Der
5 Es ist einsichtig, daß diese drei Ereignisse ein "mythisches" Aussehen erhalten,
insofern es sich um Tatsachen handelt, die "sub specie historiae" vorgestellt werde.1.Ich verweise hierfür auf den meisterlichen Vortrag von Prof. Ricoeiir. Es sind Ereig
nisse; die sich offensichtlich beziehen auf eine Geschichte "avant lettre", auf eine Vor
geschichte, in der Kosmo- und Theogonien. das Feld behaupten. An dem der vorgeschiebtliehen Epoche entgegengesetzten Ende wird jene Epoche stehen, die ich
weiter unten als voreschatologisch bezeichnen werde.
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MENSCHLICHE SITUATION UND VOR-ESCHATOLOGIE 179
"status" der Menschheit wird bezeichnet als "status vialis" oder "statusviatorius", alsZustand desUnterwegsseins. Er bildet den fruchtbaren "humus",der die Personen hervorbringt, und zwar gerade in dem umgreifenden und
zusammenfassenden moralisch-religiösen Bereich dils Personalen, der allenanderen Bereichen, dem spekulativ-theoretischen, ästhetischen, sozialen undökonomischen, zugrunde liegt. In Adam geht ("in hypothesi") die Person derKonstitution des "status" voraus; in den Nachkommen Adams folgt die Person auf den "status", gründet sie im "status", kraft dessen die großen Möglichkeiten und Kräfte des Guten und des Bösen sich nicht mehr in einer Situation der Indifferenz und des Gleichgewichts befinden, sondern in einer strukturellen Bestimmtheit, die geordnet, verstärkt und schließlich zur Vollendunggeführt wird durch das doppelte Wirken des Menschen (der sich allerdingsauch verweigern könnte) und Gottes.
Wie nun beschreiben die mittelalterlichen Denker, angefangen von Augusti
nus bis zu den großen Scholastikern des 13. Jahrhunderts, den gegenwärtigwirklichen "status" der Menschheit? Der "status iste" des Menschen - der,.status", der stets wirklich bleibt in seiner unmittelbaren (ich. möchte sagen"daseinshaften") Gestalt - is t die Einbettung des Menschen in diese raumzeitliche Welt, in die Welt in ihrem empirischen Charakter, die jedoch trotzder Existenz des Menschen keineswegs äußerlich ist. Vielmehr is t auch dieWelt, die auf das existentielle Subjekt bezogen ist, in einer Situation, allerdings in einer uneigentlichen Situation (Heidegger), da sie dem Zufall, derVorläufigkeit und der Streuung unterworfen ist.
In seiner mittelbaren, reflexen, tieferen Bedeutung steht der gegenwärtige"status" in Beziehung zu einer metaphysischen Welt, deren Geistigkeit verbürgt wird einerseits durch ihre reine Möglichkeit 6 (die als solche nichts zutun hat mit der existentiellen Verfassung der Welt, in die wir hineingestelltsind), anderseits durch eine Gewißheit von (oder einen Glauben an) Wirklichkeit, die besteht kraft der Wirklichkeit Gottes selber 7•
Dies macht den geistigen Aspekt des "status iste" wichtig und angemessenfür das eschatologische Stadium. Hierin besteht die Echtheit der existentiellen Situation, die nicht mehr bloß möglich und insofern auch negativ,sondern wirklich und deshalb positiv ist. Der gegenwärtige "status" ist jenerÜbergangszustand, jener Weg, dessen Schwergewicht auf dem Werden liegt;gleichzeitig zeigt er den Wert der menschlichen Errungenschaften und dieGrenzen an, die ihnen - als Werten "in via" - anhängen.
Wenn z. B. Thomas von Aquin sagt, daß unserem Verstand "secundumstatum viae" ein Gegenstand nur gegeben werden kann durch etwas ihmirgendwie Ähnliches oder daß "unser Verstand ,in statu viae' sich zu den Vorstellungsbildern so verhält wie der Gesichtssinn zu den Farben" 8, so zeigt er
6 bisefern alle Möglichkeit ihren Grund in einem letzten geistigen Prinzip habenmuß, das sie entwirft und erkennt.
7 Insofern die geschaffene Wirklichkeit teilhaben muß an der Geistigkeit ihres
schöpferischen Prinzips.8 Vgl. 1 Sent. 17, 1, 4, 4 und Ver. 10, 9 c.; zitiert nach A. llayen, L'intentionnel selon
S. Thomas (Paris 21954) 212.
12*
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MENSCHLICHE SITUATION UND VOR-ESCHATOLOGIE 181
Was also das heutige 'Situationsschema in außergewöhnlichem Maße dem
mittelalterlichen annähert, ist die Gemeinsamkeit der Motive, die insgesamt
auf der Kontingenz von Ereignissen beruhen, die dem Menschen das Privileg
verleihen, nicht nur ein Naturobjekt, ein naturhaft Vorhandenes, sondern
auch und vor allem Subjekt, d. h. Existenz, zu sein. Darin zeigt sich der
"transnaturale" Charakter des Menschen; er ist, wenigstens zum Teil, näm
lich der Absicht nach, Herr und Richter seines eigenen Schicksals und unter
scheidet sich infolgedessen von allen bloßen Naturwesen. Das gilt auch dann,
wenn dieses Schicksal sich auf die extremsten Grenzsituationen erstreckt, die,je extremer sie sind, desto mehr das Sein selbst offenbaren: das Nichts dies.er
Welt oder die Transzendenz, ein Geheimnis des Elends oder ein Geheimnis
der Größe.
Gerade die Ausrichtung auf diese äußersten Lösungen gibt dem Problem
der Existenz einen religiös.en und damit im Grunde tragischen Charakter,
auch dann, wenn sie sich zugrunderichtet in einer Lösung, die tragisch ist
durch ihre Unangemessenheit.
Diese Beziehung auf äußerste Situationen ist in der ganzen existenzphilo
sophischen Problematik von heute gegenwärtig, auch dort, wo sie hinter fal-schen Zielsetzungen versteckt oder vollständig verdrängt ist. Dieser äußerste
Ausblick ist auch gegenwärtig in: der mittelalterlichen Philosophie, die über
dies jede Zielverkehrung zurückweist. Ihre Eigenleistung besteht ja darin,
den ursprünglichen Sinn der menschlichen Situation im religiösen Bereich be-
stimmt zu haben. Sie erwartete, daß diese Situation ihre genau umrissene
echteGestalt
gewinne,sobald
sievollständig
eschatologischgeklärt
ist.Ich möchte festhalten, daß von dem Anliegen Bultmanns eine Wieder
annäherung an das mittelalterliche Denken, wie ich sie angedeutet habe, nicht
von vorneherein zurückgewiesen werden kann. Ich setze dabei voraus, daß
Bultmann diese Beziehung auf Gott für möglich hält im Unterschied zu Hei-
degger, dessen Daseinsanalyse sich vollzieht im Bezug auf das mögliche Sein,
jedoch ohne Verweis auf Gott 10 •
3. "Vor-Eschatologie"
"Das Unterwegssein des Menschen ist seine Geschichte. Welche Eigenschaftverbürgt dessen Echtheit? Ich möchte diese charakteristische Eigenschaft
kurz als vor-eschatologisch kennzeichnen. Bultmann hat sehr gut die Be-
ziehung gesichtet, die Geschichte und Eschatologie zugleich eint und trennt 11•Eine genauere Bestimmung dieses Zusammenhanges legt sich jedoch nahe;
Sie muß klären, wie man, falls der Mensch als geschichtliches Wesen auf dem
10 Vgl. Bultmann: KM 194.11 Bultmann, Geschichte und Eschatologie. Ich möchte festhalten, daß, wie bei
Bultmann, erst nach der Klärung des eschatologischen Charakters der Geschichte das
Thema der Entmythologisierung wenigstens des neutestamentlichen Christentums
angegangen werden kann. Der eschatologische Charakter der Geschichte seinerseitsverlangt eine Untersuchung der auffallenden Verwandtschaft, die den Begriff der
existentiellen Situation mit dem des "status viae" verbindet.
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182 RENATO LAZZARINI
Weg zu einem Ziel ist, "Weg " und "Ziel" zu unterscheiden hat - ohne siezu t rennen-, so daß die Geschichte sich stets in einem zielbestimmt-eschatologischen Horizont bewegte, ohne doch je zusammenzufallen mit diesemHorizont. Das bedeutet, daß die Geschichte - und damit die Existenz des
Menschen - an sich stets nur voreschatologisch (pre-eschatologica) oder,wenn man so sagen will, eschatologie-bezogen (peri-eschatologica) ist.
Damit ist die Lage bestimmt umschrieben, in die sich die Menschheit gestellt sieht: zwischen eine mit ihr notwendig vorgegebene Natur, die noch"sine statu" ist, und einen zukünftigen Endzustand ("status termini"), der gewissermaßen "sine natura" sein wird, insofern die Natur zurückgenommen,überhöht und verklärt wird in den "status.". Diese Situation macht es verständlich, daß die endgültige Schau einer auch ihrerseits endgültigen Welt nochnicht möglich ist, weil die Menschheit, sowohl in den einzelnen Personen wieals übergreifende Gesamtheit, noch nicht angelangt ist im "status termini",in jenem Zustand, in dem die Umwelt des Menschen als end-gültige verschieden sein muß von der des Menschen, der noch auf dem Wege ist.
Es is t auch hinzuweisen auf den beziehungsreichen Begriff der Überlieferung, dem die ihm zukommende Unbegrenztheit eine besondere Strahlkraftverleiht. Die Überlieferung stellt in ihrer Beweglichkeit das geistige, lebendige Element dar gegenüber der Schrift in ihrer Gebundenheit an den Buchstaben. Überlieferung und Schrift stehen in der Mitte zwischen der Abwesenheit alles Eschatologischen als Ausgangspunkt und der in eine unbestimmte Zukunft vorausweisenden Fülle des Eschatologischen als Endpunkt.
Auch wenn ich an den für mich, auf diese Welt gekommenen und von denToten auferweckten Christus glaube, so halte ich doch unentwegt Ausschaunach dem wiederkommenden Christus, nach seiner Parusie. Die Zeit dereschatologischen Fülle jedoch bleibt für mich so unbestimmt, daß ich sie nureben als anders denn die gegenwärtige Zeit zu erwarten vermag, die eineZeit des Kampfes und der Vorbereitung (in der "streitenden Kirche") ist.
Diese Haltung des Ausschauens begründet den voreschatologischen Charakter der religiösen Erfahrung "in via". Diese Erfahrung is t nicht naturhaft,sondern existentiell und deshalb "statushaft". Aber dieser "status" is t nochnicht der abschließend letzte, sondern der nichtabgeschlossen vorletzte. Wir
sind allezeit noch Anwärter der Erfüllung, auf die Vollendung des GlaubensHarrende, Bewerber für die vollkommene Teilnahme.
Ein zum "Vor-eschatologischen" analoger Begriff ist der des "Mittel-alterlichen", verstanden nicht als chronologischer Hinweis auf das Zeitalter zwischen Antike und Moderne, sondern als Struktur eben der Existenz undGeschichte, als typische existentielle Situation, die den Menschen kenn
zeichnet 12•
Das, was zwar ein .Letztes ist, aber immer noch innerhalb der Reihe dergeschichtlich-existentiellen Akte verbleibt, steht diesseits des Todes und gehört deshalb zum "status iste", der eine voreschatologische Haltung fordert.
12 Ich verweise auf das 10. Kapitel meiner Arbeit "Situazione umana e senso dellastoria e del tempo" (Mailand 1960).
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MENSCHLICHE SITUATION UND VOR-ESCHATOLOGIE 183
Einzig das Letzte, das außerhalb jener Reihe vor sich geht, steht jenseits des
Todes und gehört zu jener Endsituation, in der das Ursprünglich-Letzte, das
ewig ist, das nicht ursprüngliche, sondern abgeleitete Letzte gründend stiftet.
Alles existentielle Werden besteht in einer Spannung zwischen Vergangen
heit und Zukunft. Jenes Werden, das die voreschatologische Situation kenn
zeichnet, steht zwischen einem zeitlichen Nacheinander und einer Zukunft,
die sich dem Nacheinander insofern entzieht, als sie eine Spannwog ganz
anderer Art annimmt:· eine Spannung, die von einem anderen Ich herrührt.
Wenn das Sein des Menschen ein Sein-können, ist, s.o ist jenes Sein-können,
das der existentiellen Haltung im - voreschatologischenI - ethisch-religiösenBereich entspricht, ein Gott-begegnen-können - Gott aber ist jenes ganz
und gar geheimnisvolle Sein, das an sich nichts mit unserer Natur zu tun hat
und das jeder vorstellungshaften oder mythischen Aufarbeitung widersteht,
die dem Menschen selber eine eschatologische Stellung einräumen würde.
Der Auszug aus der Welt, mystisch-wirklich oder geistig-intentional verstanden, ist nur wahr, insofern er in beiden Fällen rein voreschatologischbleibt, gegenüber dem eigentlich eschatologischen letzten Geschehen. Allestleibt in der Schwebe jener geistigen Haltung, die man "Intention" b ~ n a n n that. Die mittelalterlichen Denker haben gelegentlich gesprochen von Inten
tionen der Natur oder von Naturgesetzen, wobei nicht immer ersichtlich ist,
ob in Wirklichkeit die Intention des Urhebers der Natur darin einzuschließensei, wenn man nur im letzteren Fall das Naturges.etz dem ewigen göttlichen
Gesetz gleichsetzen dürfte. An sich müßte die Natur, weil sie ohne Selbst
bewußtsein und ohne Vernunft ist, auch ohne "Intention" sein. Der Verweis
auf die Intention is t nur angängig inbezug auf die Konstitution des Men•
sehen, womit nicht so sehr dessen Natur als vielmehr sein "status" gemeint
ist, vor allem sein End-Zustand, der die Vollendung der Schöpfung in der
Teilnahme am Leben Gottes bedeutet. Man muß sich deshalb berufen auf
die Intention in ihrer ionersten Grun<fstruktur und in ihren weitesten Aus
griffen, wie sie nur von Gott her verstanden werden kann.
Daraus ergibt sich für den Menschen die Notwendigkeit, die verschiedenen
Weisen, wie er selber seine Intentionalität vollzieht, der Prüfung zu unter··
ziehen, indem er unmittelbare, teilweise und vorläufige Intentionen von einer
vermittelten, umfassenden, endgültigen Intention unterscheidet. Eben das Bewußtsein einer solchen Unterscheidung erstellt den eschatologischen Horizont
und damit die Eschatologie-Bezogenheit, die allein ein Wertmaß für Sinn
und Bedeutung eben der Existenz abgeben kann. Gewiß hat der Christ sichimmer schon entschlossen gegenüber der Vergangenheit, aus. der er kommt,
und findet er sich dadurch qualifiziert 13• Aber dieses Wesen ist geprägt durch
einen Akt des Glaubens, der " statu isto" geschieht, und als solches fordert
es das Wissen darum, daß das Ziel, auf das sich der Glaubensakt erstreckt,
noch nicht erreicht ist, so sehr es allerdings zu ihm unterwegs ist. Die schon
angedeutete Unterscheidung zwischen dem Letzten außerhalb und dem Letz
ten innerhalb der Reihe der menschlichen Akte legt sich nahe.
ta Vgl. Bultmann, Glauben und Verstehen (Tübingen 1933) 168 f.
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184 RENATO LAZZARINI
Wenn nun diese Unterscheidung unumgänglich ist gegenüber der Grundentscheidung, die das Existieren überhaupt betrifft, so wird sie noch dringlicher gegenüber der Frage: Wie exis.tieren? 14 Auf uneigentliche oder aufeigentliche Weise (Heidegger), in einer Alltags- oder in einer Grenzsituation
(Jaspers), kurzum: in einer vorläufigen oder in einer endgültigen Situation?Jene Unterscheidung erlaubt, einerseits dem zeitlichen Kontinuum der Geschichte gerecht zu werden, anderseits das Endgeschehen als unterschiedenabzuheben von dem Nicht-Geschichtlichen, jenseits der Geschichte Liegenden. Die Grenze zwischen der Geschichte und dem eschatologischen Letztenis t eben dadurch gegeben, daß dieses das Letzte is t innerhalb der Reihe derGeschehnisse, während es das Vorletzte ist inbezug auf das außerhalb derReihe liegende Geschehen. Die Aufhebung der Geschichte in das, was jenseits der Geschichte ist, hat nur Sinn, wenn die Ges.:hichte in ihrer eigenen
Ordnung erfüllt ist. Jedes endgültige übergeschichtliche Urteil bleibt solange
in der Schwebe, bis die Reihe der Teilentscheidungen erschöpft ist, solangealso, als wir "in statu isto" sind. Jedes übergeschichtliche Urteil, das sich aufcie geschichtlichen Teilentscheidungen bezöge, wäre vorzeitig, leichtfertigund schließlich ungerecht. Das Wissen um das unabdingbare Unterwegsseinis t zugleich das Bewußtsein von jenem Maß an Übergeschichtlichkeit, das
möglich is t innerhalb der Geschichte, in der sich stets die dem natürlichenMenschen eigene Kontingenz in ihrer Ursprünglichkeit durchhält. Es ist möglich, ja es is t die Aufgabe des "Daseins", die Kontingenz durch den Vollzugder Freiheit auf den Weg phänomenologisch-existentialer Selbstgestaltung zuführen. Dies.e Belebung und Überhöhung ist jedoch stets nur teilhaft, undgerade diese Teilhaftigkeit erhält ihr scharfes, unverwechselbares Relief mitdem Tod, der das privative Moment des eschatologischen Geschehens, an derSchwelle des positiven Moments, bedeutet. Das Ä r g , ~ c n i s des Kreuzes is t dieAnkündigung eines noch größeren Ärgernisses: des Ärgernisses der Auferstehung.
Zusammenfassend läßt sich sagen: der Akt, auch der religiöse Akt, vollzieht sich in der Geschichte, die verstanden wird nicht als Akt, sondern alseine Reihe von Akten, deren Zusammenhang einen Zustand, eben den Zustand der Geschichte, ausmacht.
Hier kommt nun die Zweideutigkeit in Sicht, mit der in der Dialektischen
Theologie der Entmythologisierung die Einbettung des religiösen Lebens imallgemeinen (und erst recht des christlichen Lebens) in die Geschichte behaftet ist. Die Dialektische Theologie spricht von einem geschichtlichen Akt,von Augen8licken und insofern von einem Aktualismus des Glaubens - voneinem Akt mit einem eschatologischen und übernatürlichen Charakter, derdie Verneinung und Aufhebung der Geschichte und der Natur mit sich bringesowie einen Übergang Gottes in unsere Existenz und von uns in Gott.
Aber die Geschichte ist im Gegensatz dazu nicht ein Akt, sondern eineReihe von Akten, deren Gesamtheit den geschichtlichen "status" ausmacht.
14 "D u sollst existieren" im allgemeinen und "So sollst du existieren" sind zweiverschiedene Gebote (vgl. Bultmann: KM 193); das zweite ist die Anwendung desersten auf das eschatologische Stadium.
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MENSCHLICHE SITUATION UND VOR-ESCHATOLOGIE 187
Diese Definition vermag sich gerade im Namen der Anthropologie, von der
sie aufgestellt wird, zu behaupten gegenüber dem Verdrängungsversuch einer
wissenschaftlichen Vorstellung, die von vorneherein keinerlei Bezug auf
irgendeinen religiösen und im besonderen eschatologischen Gehalt kennt. Es
geht sodann darum, eine Vorstellungsweise zu finden, die zwar nicht mehr
jene des neutestamentlichen Weltbildes sein kann, die jedoch zu dem "status"
des Menschen paßt, der bestimmt wird aufgrund des eigenen Nachvollzugs
der neutestamentlichen eschatologischen Erfahrung. Zwischen dem mythi
schen Weltbild und seinem vollständigen Ersatz durch eine Vorstellung, dieihrerseits Endgültigkeit beansprucht 21, ist Platz für eine in gewissem Sinnemittlere Vorstellung. Wie läßt sich diese kennzeichnen?
Mir scheint, der eben dargelegte Begriff der Voreschatologie erlaube eineBeschreibung des von dem Menschen gebildeten Mythos, der dem religiösenBedeutungsgehalt des Neuen Testaments gemäß ist. Im "status viae" bestehen die "natürliche", "mythische" Vorstellung und die im Zeichen ang-ezielte Wirklichkeit so sehr zugleich, daß das Unterwegssein dieses status eben
dadurch definiert werden kann, daß die beiden Momente, die Natur und der
angezielte Sinn, sozusagen im Wettstreit miteinander liegen, da beide dem
pneumatisch-religiösen Werdeprozeß des Menschen "in via" zugeordnet sind.Dessen Rhythmus ist desto schneller und kräftiger, je mehr die bezeichnete
und angezielte Sache das Symbol durchdringt, was ihr allerdings stets nur
teilweise gelingen wird. Das Gleichgewicht zwischen den beiden Momenten
wird stets wieder von neuem gestört, und dieser Spannungszustand dauert
also in der geschöpfliehen Ordnung - auf der pllysischen, moralischen und
metaphysischen Ebene - stets fort. Im End-"status'' dagegen muß das Miß
verhältnis dem geglückten Verhältnis Platz machen: denn dieser "status"
wird die Natur selbst ineins mit der ihr angemessenen Vorstellungswelt in
sich zurücknehmen, nicht indem er sie vernichtet, sondern indem er sie vielmehr verklärt und unendlich überhöht. Vorstellung und Begriff oder gegen
standsbestimmte Intuition bleiben auch "in statu termini". Ihre Gestalt und
ihr Verhältnis jedoch wandeln sich, wie dies einem neuen status - dem desZieles - zukommt.
Gehört der Glaube der Apostel an den auferstandenen Christus ihrem
"status viae" oder dem "status termini" an? Es ist klar, daß er für die Apostelzum "status viae" gehört, weil l i ler- nicht nur der Intention nach, sondern
in Wirklichkeit - Auferstandene Christus ist, nicht sie selber. Deshalb ist
ihre existentielle Situation nach wie vor die des Weges, wenn sie auch etwa
mit der neuen Erfahrung die F ü l ~ e des Glaubens an ihre eigene künftige
Auferstehung gewonnen haben. Daher die Verwunderung, das Erstaunen,
der Schreck, der Jubel . . . alle Gefühlsstimmungen in enger Bindung an dieStörung des Gleichgewichts zwischen der "natürlichen" Vorstellung und ihrem
augezielten Gehalt. Die Apostel nehmen ~ m Schicksal des Auferstandenen
21 In der Literatur (z. B. bei R. Marle, Bultmann und die Interpretation des N. T.
[Paderborn 1959]) wird darauf hingewiesen, daß Bultmann nicht eine "szientistische"Einstellung vertritt, die jede objektive Vorstellung von existentialem Belang un
IT!öglich machen würde.
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188 RENATO LAZZARINI
teil in einer Haltung, die noch dem gegenwärtigen "status" angehört, derdoch stets noch "in via" ist, wenn es sich auch um jenes Wegstück handelt,das dem Ziel am nächsten ist: um den voreschatologischen "status".
Nur jemand, der selbst auferstanden ist, kann dem Auferstandenen in
vollem Verstehen und voller Freude begegnen; das is t nicht möglich "in via".Solange die Auferstehung nicht, über ihre intentionale Erwartung hinaus,auch ein für den Gläubigen wirklich gewordenes Ereignis ist, muß dieser denSpannungszustand zwischen den beiden Weisen der Begegnung - vor demTod und nach der Auferstehung - zulassen, d. h. zwischen einer Erinnnerungan die Vergangenheit und einer in die Zukunft vorentworfenen Gegenwart.Gerade diese Spannung der beiden Weisen der Begegnung mit Christus bestätigt, was im voraufgehenden Kapitel gesagt wurde über das Verständnisder Geschichte als eines "status" des Bundes und als Voreschatologie, nichtals erfüllter Wirklichkeit oder als Eschatologie.
Die Auferstehung Christi ist nicht allein ein wunderbares, sondern auch eineschatologisches Ereignis. Wäre sie nur ein Wunder, so entspräche sie denAuferweckungen des Lazarus oder des Jünglings von Naim, die zwar vomTod zum Leben zurückkehrten, aber zum Leben "in statu isto", sodaß sie vonneuem dem Tod unterworfen waren. Die Auferstehung Christi dagegen istein eschatologisches Ereignis, weil sie die endgültige Überwindung des Todesund den Anbruch eines ewigen Lebens bezeichnet.
Für Lazarus ist die Rückkehr zum Leben nur ein Akt, der keinen Wandeldes "status" bedeutet, weil sein status nach wie vor der geschichtliche ist. Für
Christus dagegen bringt der Akt der Rückkehr zum Leben einen Wandel des"status'' mit sich: er geht über von dem geschichtlichen "status in via" zudem übergeschichtlichen "status in termino".
Wie is t die Situation des Gläubigen, der sich den Glauben der Apostel, derZeugen an das Geheimnis-Wunder, zu eigen macht? Er hat, durch Christushindurch, zu glauben an jenen Wandel des "status" - im Advent des EndZustandes -, ndem er jedoch nach wie vor hineingesteH bleibt in den "statusviae", der die Geschichte ist.
Zur Klärung dieses Sachverhalts sind zwei Erwägungen notwendig.
1.
Der "status viae", und das heißt die Geschichte, ist für das religiöseBewußtsein nicht nur ein menschlicher Akt oder "Habitus", sondern auchetwas Mittleres zwischen Natur und Übernatur, das besteht kraft eines Bun
des zwischen dem Menschen und Gott. Der Bundesschluß steht am Schöp
fungsmorgen der Menschheit, sein Verfallstermin wird deren Ende sein. DerGlaubensakt der Apostel zielt auf dieses Ende, aber er vollzieht sich "instatu viae", der weiterhin als geschichtlicher Ablauf besteht. Hierin bezeugensich diese beiden Aspekte des Glaubens: das gläubige Subjekt ("fides qua"),die "Noesis" des Glaubens; und der angezielte Gegenstand des Glaubens("fides quae"), das "Noema" des Glaubens, d. b. d,er Gehalt, der in einem
eschatologischen Ereignis besteht, das der Glaube keineswegs hervorzubringen beabsichtigt, wohl aber zu finden hofft. Die p h ä n o m e n o l o g i s c h ~ e x i s t e n -tiale Analytik ermächtigt, ja zwingt zu dieser Unterscheidung, bei Strafe,
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MENSCHLICHE SITUATION"UND VOR-ESCHATOLOGIE 191
J..Urr:dvOta) sein mag: sie fordert nicht die Abschaffung eines gegenständlichenWeltbildes, sondern seine endgültige Umformung, sobald sich die Wandlungdes Menschen vom "status viae" in den "status termini" vollzogen hat. Solltees wundernehmen, daß diese Wandlung auch eine Änderung im "status" desKosmos 23 einschließt, wobei allerdings dessen ursprüngliche Struktur dieselbe bleibt? Wiederum wäre es wider den dem Religiösen innewohnendenSinn, die Unterscheidung zwischen der Natur (die gewissermaßen eingeklam
mert wird) und dem "status" zu übersehen. Gewiß, an das Kreuz glaubenheißt, es nicht nur objektiv betrachten, sondern es auch existentiell tragen,so wie das Gericht über die Welt ein Gericht über uns selbst ist. Existentiell die Zeit leben heißt nicht jenseits der Zeit sein. Aus diesem Grundedrängt sich immer wieder die Frage auf: Geschieht dies, wenn es geschieht,für den Gläubigen "in via" oder "in termino", in der Geschichte oder in derÜbergeschichte? Ist es etwa nicht wahr, daß für Christus ein übergeschichtliches und eschatologisches Ereignis ist, was für die Apostel dagegen ein nurerst voreschatologisches Ereignis ist, insofern es in einer Zeit geschieht, die
noch ganz eins is t mit dem "status iste", wenn auch nur noch für kurze Frist(- für jenes "siebte Zeitalter", von dem Bonaventura und die Spiritualensprechen)?
Das Ereignis des Glaubens vollzieht sich im eschatologischen Horizont,ohne selbst eschatologisch zu sein, weil der religiöse Sinn, den es der Geschichte verleiht, doch stets einbeschlossen ist in eben diese Geschichte. Ebenweil es in den Bereich der geschichtlichen Existenz fällt, ist dieses Ereignis
t,egleitet von allen geschichtlichen Zufällen und Umständen; deshalb erschließt es den Aposteln die Erwartung des eschatologischen Geschehens, indem es ihnen jedoch nur einen begrenzten Blick auf dessen sichtbare Auswirkungen gestattet.
Von Kirche und Auferstehungsglauben sprechen heißt für die Apostel unddie späteren Gläubigen von Einrichtungen und Akten sprechen, die nichteschatologisch, wohl aber voreschatologisch: sind, von einer "streitenden",nicht "triumphierenden" Kirche (und Gläubigkeit).
Das Zeugnis, das die Apostel von Tod, Auferstehung und HimmelfahrtChristi geben, besteht gewiß nicht ohne den Glauben an Christus. Aber Zeug
nis und Glaube sind zwei verschiedene Akte: der erste schaut auf die ge&chichtliche Gegenwart der Apostel; der zweite verweist auf analoge Momenteihrer eschatologischen Existenz. Die beiden Akte - Zeugnis und Glaube -sind miteinander verbunden in jenem eschatologischen Stadium der Geschichte, das wir als Voreschatologie bezeichnet haben. Wenn die geschichtliche Kenntnis nicht besteht ohne den Glauben, so auch dies.er nicht ohne dieBeziehung auf ein geschichtliches Zeugniswissen. Die Überkreuzung dieserbeiden Akte läßt die Aporie entstehen, daß die Vorstellung mit ihrer bildhaften Struktur (als "Schau") dem eschatologischen Faktum, auf das sie vor-
23 Ich habe diese Auffassung dargelegt auf dem 14. Kongreß von Gallarate 1959
(vgl. Il mondo e l'int,enzionalita religiosa", in "Il Mondo . . . Brescia 1960, 295-305).
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ausweist, ohne es doch erreichen und in sich vor der festgesetzten Zeit· ver
wirklichen zu können, nicht angemessen ist.Ich möchte zusammenfass.end sagen, daß das Geschehen, von dem wir zu
sprechen vermögen, nicht in sich eschatologisch ist, wie es im "status termini"
sein wird, sondern eschatologisch im "status viae". Aus diesem Grunde ist esschließlich gleichzusetzen mit dem Vor-eschatologischen.
Damit scheint mir die Auffassung Bultmanns übereinzustimmen, bei demdie Entmythologisierung s.ich nicht als Ausscheidung aller gegenständlichenVorstellung der neutestamentlichen Welt gibt, sondern als deren Interpretation. Die Entmythologisierung ist in der Tat "negativ" "Kritik am Weltbilddes Mythos, sofern dieses die eigentliche Intention des Mythos verbirgt". Sie
ist "positiv" eine existentiale Interpretation, welche "die Intention desMythos deutlich machen will, eben seine Absicht, von der Existenz des Menschen zu reden". Es handelt sich nicht um Elimination der mythischen Aussagen, sondern um ihre Interpretation. Die Entmyihologisierung ist "keinSubtraktionsverfahren, sondern eine hermeneutische Methode" 24• Deshalb
sind mythische Vorstellungen und Begriffe notwendig "in einem vorläufigen
Sinne, sofern in ihnen Wahrheiten intendiert sind, die sich in der Spracheder objektivierenden Wissenschaft nicht aussagen lassen. In mythologischerSprache kommt dann zum vorläufigen Ausdruck, wofür die adäquate Spracheerst gefunden werden muß" 25• Nun is t aber das Vorläufige doch stets dergeschichtliche "status" des Unterwegsseins. Es handelt sich nur darum, zuverstehen, daß auch die Deutung des Mythos, die sich der angemessenenSprache der Existenzphilosophie bedient, nach wie vor eine vorläufige ist.Daß ferner die existentiale Interpretation philosophisch und damit mehr derWeisheit als der Einzelwissenschaft zugehörig ist, das ist eine Verdeutlichung, die in Übereinstimmung steht mit jener Brüchigkeit und Vorläufig
keit, die allem eigen ist, was in der existentiellen Situation geschieht - die
auch unsere "objektive" Vorstellung von der Welt, wie immer sie sein mag,durchzieht 26•
Wenn "der Glaube ein existenzielles Selbstverständnis ist" 27, zusammenmit den Ereignissen, durch die der Glaubensakt sich konstituiert, so schließt
er deswegen das Geheimnis nicht aus. 28 , setzt es vielmehr stets voraus, so
wie es stets injedem
Vorgang entmythologisierenderBearbeitung
des Mythosvorausgesetzt wird.Es liegt alles daran, zu begreifen, daß das Wort Gottes sich uns stets als
Geheimnis zeigt. Und wenn dessen existentiale Interpretation es für uns ver·stehbar machen will 29, so geschieht dies doch nur in einem "Gewissermaßen".In der Tat behält die Vorstellbarkeit des Geheimnisses stets ein gewisses Maßvon Uneigentlichkeit, das seinen Geheimnischarakter wahrt. Die volle Eigent-
24 Bultmann: KM 184 f.25 KM 186.26 KM 187.27 KM 189.2R KM 190.29 KM 190.
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mehrmals geführt worden, oft gerade voli jenen, von denen man das weniger
erwartet hätte, z. B. von Rosmini 35• Die Welt kann nicht Gegenstand unserer
Betrachtung werden, außer wenn sie unsere Welt. wird, und ebenso kann man
nicht von Gottes Handeln reden, wenn man nicht von der eigenen Existenz
redet 36• Damit soll nicht Gott der Allerhöchste subjektiviert werden, sondern
der Mensch soll sich bereit machen zu jener Begegnung, deren Initiative, auch
für Bultman_n, bei Gott l i eg t - uns kommt nur die Antwort auf diesen einzigartigen Anruf zu.
Aber ist jemals ein Nicht-gegenständilch-machen einfachhin möglich, d. h.die Verwirklichung der eigenen Existenz ohne eine damit verschränkte Vergegenständlichung, an die die Gegenwart einer Welt, dieser oder einer
anderen, gebunden ist?
Die Entmythologisierung als Zerstörung der gegenständlichen Schau der
Dinge, als Entwurzelung oder Vernichtung der Wel t - bis zur Erschaffungdes Leeren und der Wesenheit einer irgendwie gegenständlichen Gegenwart
desselben - besteht nicht zu Recht, es sei denn als negatives. Element des
eschatologischen, Geschehens, im Ausblick auf den wichtigeren positiven
Aspekt. Dieser positive Aspekt läßt sich nun aber nicht fassen ohne eine
"objektive" Vorstellung von einer Welt, die zwar verschieden ist von der
gegenwärtigen, aber deshalb nicht weniger objektiv gegenwärtig als diese.Gewiß, die Entmythologisierung ist "eine Forderung des Glaubens selbst":
"dieser verlangt die Befreiung von der Bindung an Jedes Weltbild, das dasobjektivierende Denken entwirft, sei es das Denken des Mythos, sei es das
Denken der Wissenschaft"37
• Aber das will nicht besagen, daß im eschatologischen "status" jedes wie immer beschaffene gegenständliche Bild fehlte,das einer neuen Welt entspräche. Und es versteht sich, daß, solange diesesneue Bild einer ebenfalls neuen Welt nicht aufgetaucht ist, der Mensch
natürlicherweise mit Gewalt an dem Bilde der alten Welt "in statu isto"
festhält.
Letzten Endes is t die Eschatologie; ihrer positiven Seite nach, die Gegenwartsschau der Dinge vom Blickpunkt Gottes aus - und infolgedessen auchdes Menschen, insofern er an Gott teilhat. Zwar ist Gott unsichtbar und
scheint dadurch jeden objektivierenden Mythos auszuschließen 38, aber die
Unsichtbarkeit Gottes vonseiten des Menschen schließt nicht die Sichtbarkeitdes Menschen vonseiten Gottes aus. Kann nun dieses Sich-von-Gott-gesehenwissen den Menschen nicht yielleicht die Fähigkeit verleihen, sich auf eine
andere Weise zu sehen, als sie sich selbst sehen in der gegenwärtigen Welt?
Die Welt und der Mensch sind, von Gott aus gesehen, sehr viel reicher und
weiter, mit ins Unendliche sich erstreckenden Dimensionen, als sie es von
der Sicht "in statu isto" aus sind.
35 Ich verweise auf meinen Artikel "11 punto critico dell' ontologia rosminiana",
in : Atti del Congresso Internazionale di Filosofia A. Rosmini (Florenz 1957) 827-859.36 Bultmann: KM 196, 198. .37 KM 207.38 KM 207.
7/27/2019 Kerygma Und Mythos, Bd. 6,1. Entmythologisierung und existentiale Interpretation (ThF 30, 1963, 250pp)
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Gerade die Unmöglichkeit dieser Reduktion wird von Bultmann hervorgehoben . Das Wort Gottes erhält die Bedeutung eines ganz und gar eschato
logischen Ereignisses - nicht allein für den, der es ausspricht (von dem manja genau genommen sagen müßte, daß er stets im eschatologischen "status"ist), sondern auch für den, der es hört und es mit einer unbedingten Entscheidung, auf endgültige Weise glaubend, annimmt.
Diese beiden Unzuträglichkeiteil (Abschwächung und Zuspitzung) scheinendann überwunden, wenn man - dem Menschen gebend, was des Menschen,
und Gott, was Gottes is t - die im strengen Sinne eschatologische StellungGott vorbehält und dem Menschen, der noch "in via" ist, jene Lage zuschreibt, die wir als voreschatologisch bezeichnet haben. Hier kann auch dievermittelnde existentielle Erziehungsfunktion des Wortes Gottes gegenüber
dem Menschen ansetzen, während dagegen in der eschatologischen Situationdieser ganze Prozeß abgeschlossen und vollendet ist.
Zwischen dem naturhaften und geschichtlichen Menschen im allgemeinen(dessen Strukturen die existentiale Analytik erforscht) und dem eschatologischen Menschen (der ganz durchwaltet is t von dem Wort und Wirken Gottesdurch Christus) steht der voreschatologische Mensch, der die letzte Epochedes "status iste" und damit der Geschichte anführt, aber stets innerhalb ihresBereiches verbleibt. Deshalb muß man eher von einem eschatologischen Horizont als von eschatologischem Besitz sprechen.
Ärgernis, Paradox, Wunder, Geheimnis haben ihren Sinn in dem Wettstreit, den die beiden Welten und die beiden Menschen - der alte und derneue -miteinander austragen. Darin wird auf unverkennbare Weise gegen
wärtig die "streitende", im Kampf stehende Gemeinschaft der Menschen inder Kirche- nicht die eschatologische Gemeinschaft in ihrer " t r i u m p h i e r e n ~den" Erfüllung.
Gegen eine radikale Entmythologisierung spricht, daß der Mythos - als
vergegenständlichende Vorstellung der gegenwärtigen Welt in der biblischen
oder modern-wissenschaftlichen Kosmologie - umfangen wird von einemHorizont religiöser Geheimnishaftigkeit. Die Theologie stimmt dieser Auffassung zu; sie is t - als negative Theologie - stets bereit, den Abgrundanzuerkennen, der sich zwischen dem Symbol und der symbolisierten Sache
auftut. Dieser Geheimnishorizont umgreiftauch
dasWeltbild,
das den"status" der den Mythos Entwerfenden widerspiegelt. Deshalb is t zu sagen,daß auch das vergegenständlichende Weltbild in einem ethisch-religiösen
"status" steht, wie jenes Wesen, das sich selbst in Frage zu stellen vermag:der Mensch. Daher kommt es, daß jede Änderung des Menschen auch eineÄnderung des Weltbildes mit sich bringt.
Es zeichnet sich vor uns ab das Zusammenspiel eines geschichtlichen Werdens mit dem eng damit verbundenen Werden des "status viae", über dennachzudenken uns die mittelalterliche Philosophie mit großem Nachdruck
eingeladen hat.
So verschieden die Ausdrucksweise sein mag, der thematische Gehalt istderselbe. Wenn die Situation, die das Da-sein ist, sich konstituiert im Be
greifen ihres eigenen existentiellen Charakters, so is t der "status iste" die
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198 RENATO LAZZARINI
faktische Situation, die Licht wirft auf den Sinn der ihr voraufgegangenen
wie der auf sie folgenden Ereignisse. Die verschiedenen Stufen der Eigent
lichkeit oder Uneigentlichkeit dieses existentialen Begreifens verweisen auf
die bestimmenden Prägungen durch jenes ideelle oder geradewegs göttliche
Element. dessen Anwesenheit in der Welt, so flüchtig und kaum angedeutet
sie sein mag, doch so bedeutungsvoll und ausdrucksstark ist, daß sie alle Ge
schöpfe zu zeichnen und letzten Endes zu retten vermag.
Die existentiale Analyse hebt dieses göttliche Element (den Sinn, Wert
usw.) hervor, klärt ihn, bringt ihn gleichsam ans Licht in seinen verschie
denen Momenten, je nachdem der geschichtliche Mensch sich betrachtet in
seinem primitiven Anfangsstadium, in dem im eigentlichen Sinn geschicht
lichen Zeitalter oder in der oben als voreschatologisch bezeichneten Zeit
spanne.
Das primitive Zeitalter stellt gewissermaßen die Vorgeschichte des "Da
seins" dar. Dieses Stadium, auf das sich die im 2. Kapitel angesprochenen
Grundstrukturen der Existenz beziehen, erhält einen ethischen und religiösenCharakter, wobei eben jene mythisch-kosmologische Vorstellung einen
größeren Raum einnimmt, der stets - auch für Bultmann - "ein bestimmtes
Verständnis der menschlichen Existenz" 42, vor allem in der primitiven Welt,
eigen ist. Ja diese Vorstellung ist so vorherrschend, daß sie alle Gestaltungen
der menschlichen Gesellschaft und Kultur (Recht, Politik, Kunst usw.) prägt.
Ihre Eigenart ist von Vico als heroisch und poetisch beschrieben worden. Es
versteht sich, daß d i e s e ~ Kulturformen in ihrer Unmittelbarkeit einen geschichtlichen Sinn besitzen, der ganz eingehüllt und fast erdrückt ist von bildhaften, oft grob materiellen Vorstellungen.
Auf der Höhe der Geschichte wird die Bewußtheit der existentialen Kom
ponenten erreicht. Nach den hier grundlegenden Erkenntnissen gibt es eine
Vielheit (menschlicher oder auch außerweltlicher) geistiger Subjekte, die, eben
insofern sie im eigentlichen Sinne existieren, den Bereich der Geschichtlich
keit konstituieren und der Welt, in die hineingestellt ("situiert") sind, Sinn
und Bedeutung verleihen, indem sie ihre eigene und die Beziehung der Dinge
zum absoluten Sein freilegen. In dieser Richtung scheint sich auch die gegen
wärtige wissenschaftliche Forschung von vielen Seiten aus zu bewegen, im
Gegensatz zu dem deterministischen Positivismus, der in der Weltwirklichkeit nur materielle Kräfte s.ehen wollte. Hierin scheint Bultmann (soweit
ich ihn verstehe) etwas ungenau, zumindest insofern er sich auf die moderne
Wissenschaft beruft, die nach ihm alle jene geistigen Kräfte nicht kennt,
denen die antiken Kosmologien umgekehrt zuviel Spielraum gaben. Es steht
jedoch fest: wo nicht auf eine auch kritisch wohlbegründete Weise eine Viel
heit nicht von Objekten, sondern von geistigen, ich-haften Subjekten angenommen wird, da kann unmöglich ein Sich-mitteilen im Religiösen seinen
Anfäng nehmen. Anderseits ist es gerade auf der Höhe der geschichtlichenund philosophischen Entwicklung möglich, im Bereieh der existentiellen
Situationen klar zu unterscheiden zwischen vorläufigen, teilhaften, inner-
42 Bultmann: KM 183.
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weltlichen Elementen dieser Situation von Mensch und Welt und dem göttlichen Element. Mit dieser Unterscheidung werden alle Anlagen des kritischforschenden Geistes für alle Bereiche und besonders für den der religiösenErfahrung zur Tätigkeit entbunden. Starken Widerhall findet solChe Analyse
in der Methodik, die zur Aufteilung der beiden Forschungsbereiche Philosophie und Theologie führt. Das Fragen nach Gott und der Welt des Göttlichen baut ganz auf der Voraussetzung auf, die am Anfang einer negativenTheologie steht. Diese ihrerseits fordert eine vertiefte Analyse des Wertesder gegenständlichen Vorstellungen des Göttlichen und damit der Tragweiteder Werte überhaupt in den verschiedenen existentiellen, theoretischen,praktischen und affektiven Bereichen der Analogie zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. Sowohl die gegenständliche Vorstellung als auchclie Analogie stehen in einem gemeinsamen Spannungsverhältnis dem Ge·heimnis gegenüber.
Schließlich ist das Geheimnis zu betrachten in jenem Stadium der Geschichte, das im 3. Kapitel als voreschatologisch bezeichnet wurde. Gott unddie Welt des Göttlichen begegnen hier auf dem Boden der geschichtlichenZeit, ohne jedoch in diese eingeschlossen zu sein. Im Gegenteil, sie lasseneinen eschatologischen Horizont hervortreten, in dem sich die Umrisse einesganz neuen "status" des Daseins abzeichnen: des "status" des Endes oder desZieles. Er is t der eigentliche Horizont eines Verständnisses der Botschaft desNeuen Testaments.
Die Botschaft Christi richtet sich an den Menschen, der "hier und jetzt"
ist und deshalb in der Zeitlichkeit als solcher lebt, nicht mehr nur innerhalb,sondern auch außerhalb der Reihe zeitlicher Akte 43. Der religiöse Bereich,und mit ihm jeglicher ihn begleitende analoge Vorstellungsgehalt, strebt nachdem Übergewicht über den geschichtlich-existentiellen Gehalt, der sich bereit machen muß zur Heimholung in das wohl von allen Religionen geglaubte
und bekannnte "ewige Leben". Diese - keimhaften oder entfal teten- Ausblicke geben ein Gespür für das Jenseits-der-Grenze, wo sich eine ganz neue,weil in Unendlichkeit getauchte, "Umwelt" auszubreiten vermag, wo dasVorläufige und Brüchige dem Endgültigen Platz macht: "nullus status nisi inDeo". Selbstverständlich haben die Toten, die lebendiger sind als die Leben
den, keine Geschichte mehr, sondern eine Übergeschichte: die Eschatologie.Wir Lebenden finden uns als Gläubige noch hineingebunden in die Geschichte, jedoch genau in jene geschichtliche Situation, die den End-"status"vorbereitet und anbahnt, der die Geschichte überschreitet. Dem, der an dieBotschaft des Neuen Testamentes glaubt, ist deshalb die voreschatologischeHaltung eigen, die die Vorgeschichte des eschatologischen "status" ist, so wiedie existentielle Konstitution des Menschen die Vorgeschichte seines geschichtlichen "status" ist. Es is.t leicht einzusehen, daß in der voreschatologischen Situation die Betrachtung des Todes ihren Platz hat; er ist der letzte
43 KM 201 f. Die beiden Aspekte der Zeit, der voreschatologische und der im eigentlichen Sinne eschatologische, scheinen mir hier jedoch nicht deutlich genug unter··schieden zu sein.
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202 ALBERTO CARACCIOLO
gwsen einschätzt, geändert hat. Auch denen, die in den Kirchen bloß ge
schichtliche Wirklichkeiten anerkennen, is t die Idee immer fremder geworden, daß die Struktur des Religiösen eher außerhalb als innerhalb derKirchen zu suchen sei: die Kirchen erscheinen als mehr oder weniger reine
mehr oder weniger angepaßte, doch jedenfalls wirkliche Einrichtungen desReligiösen.
2 - Dieses Bewußtsein des Religiösen und der Beziehung der Kirchen zuihm, ist es nicht vielleicht nur für einen beschränkten Bereich des zeitgenössi
schenDenkens feststellbar? Erweist sich unsere Behauptung nicht geradezu als
grundlos, wenn man sich die das europäische Denken und die abendländischeKultur - ganz zu schweigen von der russischen und amerikanischen -durchdringenden Wogen von Aufkläricht und innerweltlichem Humanismusvergegenwärtigt? Für zeitgenössisches Denken gilt aber hier nicht das (dennes kann auch Nicht-Denken sein), welches sich den politischen Macht be
mächtigt oder sich ihr unterworfen hat, noch das, welches in Zeitschriftenund Büchern und am Mikrophon zu einer vorherrschenden Stellung gelangtist, sondern das, worin uns gegeben ist, den Menschen (und folglich die Welt)in seiner unveränderten und doch geschichtlichen Verfassung gründlicher ausgelegt und erhellt zu finden. Darum soll der Denker bestrebt sein, diese Verfassung nicht in irgendeiner geschichtlichen, sondern in einer ideell geschicht
lichen Konkretheil zu evozieren, d. h. so wie sie sich gestaltet, wenn derMensch als jener vorgestellt ist, der alles in sich aufnahm, was von ihm aufzunehmen war. Die
Geschichtlichkeitist
nichtnur eine Gegebenheit, sondern
auch ein Sein-sollen, uild, wenn die Philosophie nicht von dem Menschensprechen kann, ohne in seinem Sein dessen Sein-können und Sein-sollen zuerblicken, dann kann sie den Menschen nur in seiner ideellen Geschichtlichkeil betrachten.
Die Philosophie, die sich diesem Maßstab nach als zeitgenössis-ch ergibt,könnte als die von der Gegenwärtigkeit entfernteste, nach der Zukunft (nachder Zukunft die sein sollte, nicht nach der, die in der Wirklichkeit sein wird)
am weitesten verschobene verdächtigt werden. Sie ist in der Tat die, in wel
cher wir höchst wahrscheinlich nicht nur die Haltung und die Werke der
geistig Fortgeschrittensten sondern auch der unter unseren Zeitgenossengeistig Ärmsten· besser gedeutet finden: und das mindestens innerhalb eines
gewissen geschichtlichen Raums, in unserem Fall innerhalb Europas. Nun gut,zeigt sich also das "zeigenössische Denken" der religiösen Struktur des Men·sehen bewußt, und ist alles wahr, was wir über die Beziehung vom zeitgenössischen Denkens zum zeitgenössischen Leben innerhalb eines bestimmten Be
reichs festgestellt haben, so sind wir nicht mehr berechtigt, unsere Epoche imAbendland unreligiös zu nennen. Es ist vielleicht sachgemäßer, zu fragen, obdie "Krise" unserer Zeit eher die Krise der Religion (genitivus subjektivus)
im Sinne der durch die Religion erzeugten Krise sei als die Krise der Religion
(genitivus objectivus). Seit Nietzsche ist die Rede übet die Krise der Werteund die damit verbunlfene Diagnose des Nihilismus ein Gemeinplatz gewor
den. Die Rede ist aber sichtbar verworren. Was bedeutet "Krise der. Werte"?
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ENTMYTHOLOGISIERUNG UND ZEITGENÖSSISCHES DENKEN 203
Es gibt eine Krise der geschichtlichen Gestaltungen der Werte (des Absolutis
mus, des Nationalitätenprinzips im Sinne des XIX. Jahrhunderts, des bürger-lichen Liberalismus, der patriarchalis.ch und paternalistisch erzogenen undorganisierten Familie, des Fortschrttsideals, der Poetik der Romantik und der
Dekadenz usw.), welche mit dem Leben zusammenhängt und gar keine Krisedes Wertes an sich ist. Erscheint sie als solche, so kommt das daher, daßdas zerstörende Prinzip weder Gestalt noch Autorität anzunehmen vermag,
wenn es auch irgendwie da ist und wirkt. Blicken wir aber mit un-
voreingenommenen Augen in uns und um uns her, so verbietet uns die Auf-richtigkeit zu sagen, daß Religion, Denken, Kunst, Mitteilung und Vitalitätselbst keine Werte sind. Auch die tragischen Erfahrungen, die wir erlebthaben, und weitere noch schwerere, die wir fürchten, scheinen nicht die Ein-schätzung solcher Werte, d. h. dieser Möglichkeiten, herabgesetzt zu haben.Die Helle der Dichtung von Sophokles, Shakespeare, Leopardie hat Bestand;
Plato is t Plato geblieben. Nicht der Glaube an die Werte ist erschüttert, aberdies alles ist sichtlicher geworden: die Schranken, die dem Einzelnen in derVerwirklichung jener Werte ges·etzt sind; die unerklärliche Ve.rwirrung, mitder die Schranken zugeteilt erscheinen; die Möglichkeit, daß der Anteil amWerte - auch für das, was seine weltliche Gestalt betrifft - sich in bloßeund nichtige Anrufung auflöst. Eine andere, vielleicht nicht weniger hohe,doch furchtbare Gestaltung der menschlichen Möglichkeit ist so emporge-taucht: daß der einzige Wert, die einzige Kultur, die sich aufrichten lassen,die des Leidens seien, d. h. der Aufsichnahme des Schicksals, von der Teil
nahme an Werten ausgeschlossen zu bleiben. An die Stelle des Bildes derschöpferischen Kultur, an welches das Abendland vom Humanismus her ge
wohnt war, ist das dem ursprünglichen Christentum sehr bekannte Bild derKultur des Leidens getreten, ohne daß der Mensch jedoch einen Gott an-zurufen hätte, ein Corpus Mysticum, in welches sein Leiden, in Gabe verwandelt und verklärt, strömen könnte, ohne daß er ein unsterbliche Leber1
vor sich fände.
Müssen wir dann nicht von einem Mißtrauen gegen die Werte, vielmehrvon einem Mißtrauen gegen das Leben als Möglichkeit ihrer Verwirklichung
sprechen? Der Grund der "Lebensunlus.t", die in Buropa die Grundstimmung
unserer Zeit ist, wäre dann in dem Bewußtsein der letzten Erfahrungen zusuchen, die dem Einzelnen beschieden werden können? Die Formulierung derLebensunlust lautet nicht: Das Leben ist nichts - sondern: Das Leben ist
etwas. Ist es aber letzten Endes etwas wirklich Seinswertes.?
Die Krise, die wir erleben, kann man nicht durch die Vermutung einerÜberzeugung des Unsinnes der Werte erklären und nicht durch die Annahmeaes bloßen Mißtrauens gegen die hinreichende Möglichkeit ihre,r Verwirk-lichung: die Krise is t dadurch hervorgerufen, daß der Mensch, kraft auch derbesagten Erfahrungen, sich wieder den Raum vert11aut gemacht hat, wo sich
alles auf eine schreckliche Weise relativisiert: den religiösen Raum. Die
Religion ist ihrer Natur nach Krise der Werte, selbst in der glänzendstenGestalt ihres weltlichen Erscheinens.
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206 ALBERTO CARACCIOLO
gegen die (mindestens in der Formulierung) allzu brachylogische idealistischeIdentifi7ierung von Geschichte und Philosophie stark beschäftigt 4• Es ist eine
Unterscheidung, die nicht nur in der Exegese oder in der Geschichtsschrei
bung, die als Objekt ein religiöses Moment hat, sondern in der Geschichts
schreibung im allgemeinen vorkommt. Um aber auf dein Gebiet zu bleiben,das uns vertrauter ist, so is t es eines - so könnte es jedenfalls scheinen -,
Platons Gedanken zu verfolgen, indem man ihn in seinen geschichtlichen Voraussetzungen, in seiner Entstehung und Entwicklung, in seinem Einfluß aufdas Denken und Ethos der nachfolgenden Zeiten erhellt, und ein anderes,durch eine Begegnung mit Plato zu versuchen, zu seinem eigenen Denken zugelangen. Ist aber jene Rekonstruktion ein wirkliches Erhellen unter allenerwähnten Gesichtspunkten, birgt sie dann nicht in sich die Voraussetzungdieser verwandelnden :Begegnung?
4 - Wir haben hervorgehoben, daß die Dialektik Theologie-Historie nichtsanderes ist als die Dialektik Eigentlichkeit-Geschichtlichkeit. Für alle Menschen innerhalb oder außerhalb der Kirchen besteht die Frage: Wenn dieletzte Struktur des Menschen religiös ist, und die Religion ihrer Natur nachOffenheit zur Transzendenz bedeutet, welches sind die Weisen (die Modi), indenen wir uns ih r öffnen, aus denen es uns möglich ist, ihr Wort zu schöpfen,gesetzt daß es schöpfbar sei? Mit anderen Worten: welches sind die transzendentalen Wege zur Transzendenz? Zweitens: welchen Teil nimmt die geschichtliche Überlieferung in der Zurücklegung dieser Wege ein, die der Ein
zelne zu vollziehen hat? Da aber der Ausdruck "geschichtliche Überlieferung"im allgemeinen alle möglichen Anknüpfungen an die Vergangenheit bezeichnet, auf welchen bestimmten Punkt der Vergangenheit muß man zurückgehen?
a) Welches sind die transzendentalen Wege zur Transzendenz? Die Formulierung kann selbst ein Oxymoron scheinen, denn überall, wo sich ein reli
giöser Anspruch einstellt, ist jeder menschliche adscensus durch einen göttlichen descensus bedingt. Es ist hier nicht der Ort zu beweisen, wie der Transzendentalismus einen wesentlichen Charakter der Philosophie bildet und wie
er mit dem Subjektivismus absolut nicht zu identifizieren ist. Ich werde mich
auf die Bemerkung beschränken, daß sowohl die Philosophie von Jaspers wiedie Heideggers ihren transzendentalen Charakter nicht verloren haben dadurch, daß sie den Schwerpunkt von der Existenz zur Transzendenz, vomDasein zum Sein verschoben haben, und die Analyse der Weisen der Men
schen in ihnen zur Analyse der Weisen der Offenbarung zum Menschen geworden ist. Die Antwort auf die Frage beansprucht die Ausarbeitung einervollständigen Philosophie der Modi des menschlichen Bewußtseins oder, genauer gesagt, des menschlichen Bewußtseins in seinen Modi, um zu erkennen,welche von diesen eine transzendent offenbarende Natur zeigen.
Zu diesem Problem siehe auch die interessante Diskussion zwischen Barth,Harnack, Jülicher . nach der Veröffentlichung des Römerbriefes, in W. G. Kümm-el,o. a. 0., S. 460 ff.
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b) Auf welchen bestimmten Punkt der Vergangenheit müssen wir zurückgehen? Für denjenigen, der sich zu keiner christlichen Kirche bekennt lindtrotzdem nicht religiös unbekümmert ist, scheint das Sich-vertiefen insChristentum nicht die einzig mögliche Wahl. Übrigens genügt ein Blick um
sich her, um zu bemerken, wie das Vorsokratische Denken oder der antikeMoment der biblischen Religion schon oft mehr als der christliche, oder dieReligionen des Ostens keine modische Vorliebe, sondern wirkliche, d. h.
völlig bewußte Wahl sind. Um diese Orientierung abzulehnen, genügt abernicht einmal die Mahnung, daß wir Abendländer. Kinder und Schüler desGriechentums und des Christentums sind; denn man kann erwidern, daß die
Gesch·ichtlichkeit, die einer in sich findet, nicht die einzig mögliche ;Ge
schichtlichkeit ist; daß die eigentliche Geschichtlichkeit sich uns a posteriorioffenbart, da sie zusammen mit der Existenz entsteht, so daß wir beim Unsbewußt-werden der zweiten auch zum Bewußtsein der ersten kommen. DieBehauptung erhält einen Wert, wenn wir uns überzeugt haben, daß die
griechisch-christliche Überlieferung nicht unsere tatsächliche sondern unsereideelle Gescllichtlichkeit ist, was allenfalls mit sich bringt, daß auch die
anderen möglichen Traditionen innerhalb des Horizonts einbeschlossen
wurden.
5 - An diesem Punkt angelangt, lautet das Problem wie folgt: Welche Gestaltung scheint mir die Religion nehmen zu sollen? Welche Beziehung besteht zwischen Christentum und diesem ideellen Bild der Religion? Um aber
auf eine solche Frage Antwort geben zu können, worauf muß ich mich beziehen? Auf meine Philosophie? Die Philosophie ist einerseits eine Art desreligiösen Strebens des Menschen; anderseits ist sie Bewußtsein und Auslegung (notwendigerweise kosmischer Art) solchen Strebens in seiner Einheit,Bewußtsein und Auslegung, die eine existentielle Verwirklichung und zugleich eine Objektivierung der erreichten ideellen Religiosität in sich begrei
fen. Die Philosophie is t aber weder die ganze Religion eines Menschen noch
stets das angepaßteste Bewußtsein derselben. Überdies is t sie kein lerov
sondern eine l:veereta. Es bleibt jedenfalls wahr, daß sich die Erörterunghier nur auf philosophischer Ebene entwickeln kann.
Welche Beziehung besteht zwischen dem C h r i s t e n t ~ m und diesem ideellenBild der Religion? Um diese Frage zu beantworten, muß man bestimmen,was unter Christentum gemeint ist, und das is t ein Problem der Historie als
Geschichte, der Forschung und des Einsatzes zugleich. Zweitens: eine spezi
fische Beziehung kann, explizite oder implizite, an der Wurzel dieses existentiellen Gewinnes gewesen s e i n - sie kann aber auch gefehlt haben. Jede reli
giöse Einstellung enthält notwendigerweise ein Verhältnis von Urteil undBeurteiltwerden zum Christentum, wie übrigens zu _jeder anderen Religion.
Das Wiederkehren des Themas: Warum können wir nicht umhin, uns Christen
zu e n n e n ~ warum dürfen wir uns nicht Christen nennen- so im XIX. Jahrhundert (Feuerbach; Strauß; Streit zwischen der Hegeischen Rechten und derHegelscl).en Linken) wie in unseren Jahren (Croce, Gentile, Russel, Jaspers,
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208 ALBERTO CARACCIOLO
Spirito, Calogero . . . bezeugt jedoch die absolute überwiegende Dringlich
keit der Konfrontation mit dem Christentum.Auf die erstere der zwei am Anfang des Paragraphen gestellten Fragen zu
antworten, bedeutet, nicht unsere Philosophie darzulegen, sondern nach Ge-
wissen zu leben und zu denken, nach Gewissen weiter zu leben und zu denken. Auf die zweite Frage zu antworten bedeutet, jeweils ein Verhältnis zueinem Punkt der Geschichte herauszuheben, der im Werden unseres Lebensund Denkens notwendigerweise jeweils anders erscheinen muß. Nur in dieserVerwandlung liegt die Treue. Die Idee der Verwandlung fällt nicht mit derAnmaßung des Fortschritts zusammen: sie schließt eher die Möglichkeit desFalles und der Armut in sich ein.
6 - Im Bezug auf einige Punkte halte ich die Suche nach dieser verwan-delnden Treue als besonders nützlich. Sie zu erkennen, hilft uns noch einmaldas Bultmannsehe Denken. In seinem drastischen Willen zur Reinigung undzur Absonderung des Wesentlichen scheint es, .daß alles zugrunde gehenmüsse. Und doch will er mit einer Anstrengung, die in ihrer Hartnäckigkeitund Verdrehung etwas Heroisches hat, eine Wahrheit als unentkräftbar ret-ten, nachdem alles sie entkräftet zu haben scheint: die Erlösung kommt durch
das Ereignis des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Daß die Weise,auf die Bultmann glaubt, dieses Moment des Christentums zu retten, an sichnicht überzeugend ist, darin stimmen fast alle überein. Was aber nicht einmalJaspers genügend erwogen hat, is t der tiefere Grund seines Beharrens auf
diesem Dogma. In der Tat, wenn wir an das denken, was das Kreuz jahr-hundertelang im menschlichen Leiden, Anrufen, Schaffen bedeutet hat undnoch immer bedeutet, wenn wir uns die zentrale Lage vergegenwärtigen, diedieses Dogma in der Philosophie selbst des höchsten philosophischen Geniesder Neuzeit eingenommen hat- dann sind wir gezwungen, in der Beharr-lichkeit Bultmanns einen tieferen Grund zu vermuten. Diese Vermutung wirdnoch stärker, wenn man sich überlegt, daß die strenge Überlieferung dernegativen Theologie in ihm nicht ohne Einfluß ist.
Wenn wir das zeitgenössische Denken als religiös bezeichnet haben, wollten wir damit nicht sagen, daß es an Gott glaubt, sondern daß ihm der Raum
vertraut ist, in welchem die Welt von der Gestalt der einzigen Wirklichkeit;n die der bloßen Möglichkeit unter Möglichkeiten übergeht, ja sich zu vernichten scheint. Wir wollten sagen, daß es dem Raum des Nichts vertraut hat.Daß dieses Nichts sich nicht mit dem nichts identifiziert, wird deutlich, sobald man bedenkt, daß das erstere· einen so weiten Raum darstellt, daß sich
die Welt darin verliert (es verlieren sich ja alle Welten darin, die wir unsvorstellen können), während das zweite die Dummheit der Natur ist. Daserste ist das Geheimnis der Geheimniss.e, das zweite ist so wenig ein Ge-heimnis, daß es nicht einmal den Anfang eines Problems oder eines Gedan-kens bildet. Jener Raum ist für den Mens.chen etwas so Wesentliches; daß
nicht einmal die Angst vor meinem Tode als Pforte 'zu ihm betrachtet werdenkann, wenn mein Tod nicht der Tod wird, und der Tod das Symbol selbstder Welt als Endlichkeit. Es ist interessant zu bemerken, wie Heidegger mit
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ENTMYTHOLOGISIERUNG Ul'JD ZEITGENÖSSISCHES DENKEN 209
der Ablehnung des Nihilismus und dem Sichbehaupten der rechten religiösen
Auslegung der eigenen Grundintuition die Zentraltät des Themas des eigenenTodes und der Identität der Angst vor dem Nichts mit der Angst vor demTode nach und nach beiseite gelassen hat, und wie der Tod, in dem die Offen-
barung des Nichts als des Seins entsteht, der Tod der Welt ist.Transzendenz, Sein, Nichts klingen wie metaphysische und leere Grübe-
leien für manche, die nicht bemerkt haben, wie erfahtungsvoll jene uraltenAusdrücke sind. Seit mindestens zwei Jahrhunderten ist die tiefste Musik,
Poesie und Kunst von ihnen beherrscht. Und vielleicht ist es mit der vonjenen Ausdrücken angedeuteten Wirklichkeit auch vielen Christen wider-
fahren, wesentliche Augenblicke ihres Daseins zu erleben.
Dies·es Nichts ist also kein nichts, es ist aber auch nicht Gott. Die Grund-frage is t für uns: ist es m:eenm, oder "tfip,a ? Ist es also ein durch einenEntmythologisierungsprozeß leer gebliebener Raum 5, der darauf wartet,daß ihn Gott unter anderer Gestalt erfülle? Oder ist es schon an sich dieWirklichkeit des Seins? Die Verwandlung jenes Nichts ins Sein is t nicht dasGeschehnis einer besonderen Philosophie, sondern, wenn man den Mut zueiner gründlichen Schau hat, eine schon tief eingewurzelte und verbreiteteNeigung.
Jenes Nichts ist weit entfernt von dem Gott, von dem uns Jesus. gesprochen,
den das Abendland im Worte Jesu kennengelernt und durch Jesum Christumangerufen hat: feierliche und ferne Wirklichkeit, die kein Beten erlaubt. Istjenes Nichts also unser entmythologisiertes Kerygma oder die Vorbereitungeines Kerygmas, dessen Kommen von dem Willen des Menschen nicht be-
stimmt, aber doch vorbereitet werden kann? Wenn der erste Fall wahr ist,
ist dann unsere Bangigkeit vor einem: Leben mit j e n ~ m Nichts nur Mutlosig-keit und Unangemessenheit gegenüber den Ansprüchen des echt religiösenAtems?
Ein anderer Punkt sollte, wie es uns scheint, nochmals ernster und aus-
drücklicher überlegt werden: wir wollen auf die ausgemachte Entmythologi-sierung hinweisen, die die Philosophie (vielleicht auch ein Teil der protestan-tischen Theologie) mit dem Begriff der Unsterblichkeit vorgenommen hat(oder nicht abgeneigt ist, vorzunehmen), indem sie ihn in den der Ewigkeit,d. h. der verklärten Zeit umwandelt. Der Charakter von Ewigkeit (qualitativbegriffen), den die christliche Überlieferung dem seligen Leben der Erwähltenin der Anschauung Gottes nach dem Tode zuschrieb, wird dem existentiellenAugenblick zuerkannt; die religiöse Erfahrung wird deshalb, statt Anrufungund Erwartung, Anschauung und Erreichung. Der die Welt vernichtendeAugenblick wird so zur höchsten Weihe der Welt, so daß man versucht wäre,im Hinblick auf diesen zu wiederholen, was Benedetto Croce an einer be-
rühmten Stelle über die Kunst schrieb: "Als Dante oben am Himmel imZeichen der Zwillinge die Gestirne und Planeten mit dem Blick überflogund unter ihnen, fern und klein, ,den Fleck' entdeckte, ,der uns so grausam
5 Der Prozeß wäre in diesem Fall, als entmythologisierend, positiv, aber als k e • r y ~matischer Fülle ermangelnd: negativ anzusehen.
14 Castelli
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210 ALBERTO CARACCIOLO
macht' die Erde, und sie ,von den Höhen bis zu den Mündungen' durchmaß;oder als ein letzter Sohn Dantes, Giosue Carducci, einem Freund im Vertrauen sagte: ,Meine Seele ist des Schreibens müde. Warum muß mein Gedanke, der in einem Augenblick das Weltall umfaßt und sein Leiden in sich
aufnimmt, zu den Zwangsarbeitern der Feder verurteilt sein?' - da hattensie sich schon über die Welt hinaus. versetzt: ihr Wunsch war erfüllt. Nur füreinen Augenblick? Gewiß! Für einen Augenblick, wie jeder Vollzug. Unddann kehrten sie auf die Welt, zu der ,aiuola ehe ci fa tanto feroci' zurück,zu der Arbeit, die uns an die Scholle fesselt. Sie kehrten zurück, aber sie bewahrten in dieser Welt die Kraft, sich über die Welt zu stellen: die Kraft,die der Kunst und dem Denken eigen ist . . . Das Paradies gibt es wohl, aberauf Erden . . ." (Di Ia dalla vita, in Etica e politici, Bari, 19453, S. 87). Croceaber, der bei solcher Auffassung der Kunst, in ihr eine die Selbstgenügsamkeit des Weltlichen rechtfertigende Kraft erkennen konnte, kannte noch dennahen Gott, so daß er an einer christlich-hegelisierenden Stelle schrieb:". . . de-r christliche Gott· ist noch unser Gott, und unsere verfeinerten Philosophien nennen ihn den Geist, der immer über uns hinaus geht und dochimmer wir selbst ist" (Perche non possiamo non dirci "cristiani", in Discorsidi varia filosofia; Bari, 1945, Bd. I,S. 23).
Wird es demjenigen, der nicht einmal den fernen verborgenen Gott kennt,sondern nur das Nichts, noch möglich sein, auf die weltliche Ewigkeit dieRechtfertigung des Lebens zu gründen? Sollen wir in der "Lebensunlust" nureine große, schreckliche Sünde des Willens, eine furchtbare sittliche Mut-losigkeit erkennen? Sich diese Probleme zu stellen, bedeutet, sich zu fragen,ob der von der zeitgenössischen Philosophie vollzogene Entmythologisierungsprozeß in rechter und hinreichender Weise kerygmatisch und menschlich ist.
Alberto Caracciolo
(Übersetzung Maria Caracciolo-Perotti)
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DIE UMMYTHOLOGISIERUNGIN DER BEGEGNUNG DES CHRISTENTUMS MIT DEM HINDUISMUS
Raymond Panikkar
I. Das Anliegen
Das Problem der Entmythologisierung ist aus einer rein inneren Entwicklung des christlichen Abendlandes entstanden. Es hat aber einerseits bedeutende Folgen für die eigentliche Mission der Kirche, d. h. für die Verkündigung der cl:J.ristlichen Botschaft an die nicht-christlichen Völker: Soll manetwa von nun an eine entmythologisierte Botschaft verkündigen? Ist der ge
ringe Erfolg der Christlichen Mission in manchen Ländern vielleicht aufden Mangel einer angepaßten Entmythologisierung zurückzuführen? Andererseits aber macht die heute unentbehrliche und unvermeidliche Begegnung des Christentums mit den anderen Religionen gerade die Entmythologi-5ierung zum dringenden Problem, und sie mag sogar ein neues Licht auf die
Aufgabe des Christentums im Konzert der Weltreligionen werfen.
Wir möchten nur diese zweite Seite an Hand der konkreten Begegnung des
Hinduismus mit dem Christentum- von der wir aus eigener Erfahrung redendür fen - durch einige Bemerkungen beleuchten 1•
1. Die negative Erfahrung
Das christliche Abendland hat die Erfahrung gemacht, daß die einst glau
benden Völker mehr und mehr dem Unglauben anheimgefallen sind. Ausdieser Grunderfahrung entspringt der Versuch der Entmythologisierung 2• Dietraditionelle Apologetik, sagt man deshalb, muß neu gedacht und reformiertwerden. Eine ähnliche, wenn auch nicht identische Überzeugung liegt dem aU-
gemeinen Bewußtsein der heutigen Missionswissenschaft zugrunde: Nach sovielen Jahrhunderten, in denen es weder an Mitteln noch an Einsatz undHeldentl}m gefehlt hat, holt die Zahl und vielleicht auch die Qualität derGläubigen, vor allem der höheren Kulturen, den Zuwachs der Weltbevölke-
1 Dieser Artikel ist eine gedrängte Zusammenfassung dessen, was der Verfasserin einigen Studien eingehend behandelt und begründet ha:. Der Leser; se i auf dieseBücher hingewiesen, die der Verfasser nach seiner Rückkehr aus Indien im Lautedieses Jahres zu veröffentlichen hofft.
2 vgl. G. BORNKAMM, Die christliche Botschaft und das Problem ihrer Entmytho,.logisierung in : Theologie heute, München (C. H. Beck) 2, 1959, S. 36 :li.
14*
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DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 213
Gegenantwort war), ist Indien fremd, und die ursprünglich indische Idee einer
"creatio a Deo" meinte man afs eine "creatio ex Deo" auslegen zu müssen.
Das will nicht sagen, in Indien gäbe es keine Pantheisten - wie es sie ja
auch im Abendlande gibt - doch is t der Pantheismus nicht eine indische
Grundstimmung. Die tiefe Bedeutung jener Texte und vor allem ihre "Bot
schaft'' ist eher das, was man mit einem unglücklichen Wort als "Panentheis
.nus" gekennzeichnet hat.
b) Mon i smus
Daß die indische Advaitalehre einen Monismus darstelle, is t fast ein
Dogma der westlichen Interpretation - die wiederum ihre Anziehungskraft
auf manche moderne indische Philosophen ausgeübt hat - und doch ist die
Grundhaltung de'> A-dvaita (Nichtdualismus.) die Beh;wptung: Gott und die
Welt sind nicht "Zwei", denn es gibt nichts - k e i n "Ding", kein Se i n - das
jenes "Zwei" mit Sinn füllen könnte. Gott und die Welt sind aber wiederum
nicht "Eins", denn die!j würde nicht nur die Welt - um die das Abendland
so sehr besorgt ist - verflüchtigen, sondern auch die Ab-solutheit (alsoa-dvaita) Gottes beeinträchten. Die ganze thomistische Problematik der
"relatio rationis", der Schöpfung von Gott her, dürfte von der indischen
Advaitalehre nicht sehr entfernt sein.
c) I r r e a I i t ä t d e r WeI t
Von den wenigen Worten, die sich im Abendland aus der indischen Philo
sophie eingebürgert haben, ist vielleicht Mäya das populärste, und man versteht darunter "Illusion", also eine Welt der Unwirklichkeit. Abgesehen davon, daß das Wort sogar grammatikalisch ein Instrumental is t - Mäyä is t der
terminus technicus, um gerade die Eigenart jenes nichtgöttlichen So-seins zu
bezeichnen, das weder das Sein noch das Nicht-sein ist, und das als solchesnie in toto, in statu quietis, in esse completo, sondern nur in fieri, in statuviatoris, in esse im-perfecto erlaßt werden kann - is t es etwas, das nicht
neben Brahman, auf dieselbe Ebene wie das Absolute gestellt werden kann,
weil es keine eigene Wirk-lichkeit besitzt.
d) D i e I m p e r s o n a I i t ä t G o t t es
Vielleicht stößt eine wohlwollende Annäherung an Indien von sciten der
westlichen theistischen Philosophie her die anscheinend unleugbare indischeLehre des apersonalen Charakters der Gottheit am stärksten ab. Hier läßt sichebenfalls das Mißverständnis aufweisen. Abgesehen davon, daß der indische
Brahmanbegriff und der semitische Gottesbegriff sich zueinander wie zwei
Pole ein und derselben Realität verhalten, sodaß sie eher zwei Betrachtungsweisen des Absoluten sind, sollte man noch dazu überlegen, daß es dieselben
Gründe sind, die das Abendland bewegen, Gott die Personalität zuzuschreiben, die Indien veranlassen, Gott die Personalität abzusprechen. Weil der
Westen in der Person, in der menschlichen Personalität, den höchsten Wert
sieht, will er jenen Wert in eminenter Weise auf Gott anwenden. Gerade weil
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DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 215
Wir möchten ganz kurz einige von diesen Ansatzpunkten andeuten, umdann aber nur einen einzigen etwas weiter zu entfalten.
a) Ex i s t e n z i e 11 e I n k a r n a t i o n
Die integrale Aufgabe des Christus ist die der Schöpfung, der Erlösung undder Verherrlichung. Die Aufgabe aber, die Christus seiner Kirche anvertrauthat, ist die der Mitwirkung an der Erlösung der Welt. Christus, der Erlöser,vollzog aber seine Mission durch die Kenosis der Inkarnation. Es gibt keineErlösung ohne Fleischwerdung. Dem Jünger kann es nicht besser gehen alsseinem Meister. Wenn es sich um die Miterlösung handelt, so muß der Christsich der Welt und Umwelt seines Nächsten an- und einpassen, ja, er muß sich
an- und einleben. Er muß dort wiedergeboren werden. Wenn der Nächsteeiner ganz anderen Kultur angehört, so bringt jener Inkarnations.versuch eine
aufrichtige und echte Aufnahme aller Werte einer solchen Kultur mit sich,auch wenn sie geringer sind als die der eigenen. Es ist nicht so leicht, die Botschaft als Christi Bote zu verkünden, es verlangt den vollen menschlichen
Einsatz. Das Wort des Zeugnisses muß auch Fleisch werden. Ohne diese Umgestaltung kann keine Kommunikation in der Tiefe zustande kommen. DasKerygma kann nur über einen in concreto Mensch-gewordenen Botschafterkommen.
b) Konve r s i on
Unter Konversion verstehen wir nicht _so sehr Abkehr vom Irrtum (aversio)
alsvielmehr Hinwendung und Aufnahme einer Wahrheit. In
diesemSinne
stellt die oben erwähnte existenzielle Inkarnation eine Konversion zu allenTeilwahrheiten, die im Hinduismus vorhanden sein können, dar. Wenn mannur den Irrtum bekämpft, so ficht man gegen ein Unding und trifft das Seinder "Sache" nicht. Wenn dagegen der Christ zum Hinduismus konvertiert, sobefruchtet er nicht nur den Hinduismus von innen her, sondern lädt den Hir.. ·
duismus auf eine höhere Ebene ein. Diese Konversion bedeutet nicht die
Preisgabe der christlichen Wahrheit, sonderen deren Verstärkung und Be·
reicherung. Das fordert selbstverständlich eine innere, nicht leicht vollzieh
bare Nacktheit und Entsagung, d. h. eine wahre Armut im Geiste, die allein
jene con-versio ohne irgendeine christliche a-versio ermöglicht. Mit anderenWorten: Man soll die Botschaft verkündigen, man sollte aber nicht vergessen,
daß jene Verkündigung ein Dienst ist, nicht nur am Worte Gottes sondernauch an den Menschen - ein Lieben nicht nur auf Gott, sondern auch aufdie von ihm Angesprochenen hin, - ein Leben nicht nur für Gott, sondernauch für die Gotteskinder.·
c) S tud ium
Es ist eine Selbstverständlichkeit, die aber nicht immer leicht zu verwirklichen ist, daß Gottes Wort einer Übersetzung bedarf, zuerst einmal weil esschon übersetzt auf uns gekommen ist. Christus sprach weder Latein nochGriechisch noch Hebräisch. Was die Evangelisten für uns getan haben, sollenwir auCh für die anderen tun. Die Übersetzung setzt aber eine genaue Kennt-
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DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 217
unsere Augen sind auf die Menschentöchter gefallen, wir finden sie schön 4,
und wir haben uns in den Briefträger verliebt, Nun, das klassische Indien
- - das immer noch l e b t - kümmert sich nicht um den Briefträger, liest aber
auch kaum, d. h. entziffert nicht seine Briefe. Philosophie im postcartesia-
nischen Sinne gibt es kaum, seine Weisheit ist Religion oder Theologie, ist einHören und Horchen des Wortes, ist eine Einsicht in das Dunkel und in dieTiefe, nicht aber ein Grübeln über die Daten, ein Erforschen der Phänomene,
ein Entzifferungsversuch der Gegebenheiten. Stellt man sich das Evangelium
als die Lösung der menschlichen Probleme vor, als den Schlüssel für das
Rätsel der Existenz, als eine der Geschichte, d. h. der Vergangenheit ange
hörende Tatsache, als ein die Vernunft orientierendes Licht, also als. ein wissenschaftliches und nachprüfbares Faktum, als einen entmythologisierten
Sachverhalt, so bleibt das indis.che Herz kalt, und der indische Geist nimmt
bestenfalls den moralischen oder den rationalen Niederschlag auf, geht aber
an dem Anliegen der Botschaft vorbei.
1. Entmythologisierung
Dem Entmythologisierungsversuch liegt die Voraussetzung zugrunde, das
Evangelium sei zeitgebunden; und da nun sein Kerygma von und für Men-
schen, die tief im mythischen Weltbild steckten, verkündet w u r d ~ , müßte man
gerade, um eine integrale Interpretation der Botschaft zu verstehen und ihren
echten Gehalt aufzunehmen, das Kerygma selbst entmythologisieren, d. h. es
von jenen zeitbedingten mythischen Vorstellungen befreien5.
Die Inten-tion is t tadellos, und die Art und Weise der tatsächlichen Entmythologisierung
hängt ja davon ab, ob durch sie der Hörer der Verkündigung die christliche
Botschaft bess.er versteht und sich zu ihrer Aufnahme eher bereit findet. Uns
geht es. jetzt nicht darum, wie man entmythologisiert, - also nicht darum,
wie man das Wesentliche der Botschaft schärfer und präziser hervortreten
lassen kann , - sondern uns geht es um das Wesen der Entmythologisierung
selbst.
Jene erwähnte Voraussetzung ist doppelseitig: d11s Evangelium als Verkündigung der Botschaft ist zeitbedingt, die Zuhörer aber sind ebenso zeit
gebunden. Die Verkündigung is t eine lebendige Beziehung zwischen einer vor-getragenen Botschaft. und dem Hörer. Sieht man vom zweiten völlig ab, so
hätte die Botschaft, die eine Botschaft für den Menschen ist, überhaupt keinen
Sinn. Der klassische Weg zur Aufnahme der Botschaft war die Vorbereitung
des Empfängers, Vorbereitung, die je nach dem sehr verschieden war: der
Mensch soll sich auf das Hören vorbereiten (sittliches Leben, richtiges Er-
kennen . . . . Die Entmythologisierung bevorzugt die Vorbereitung des
4 vgl. Gen. 6, 2.
s ,.Das eigentliche Problem ist also das hermeneutische, d. h. das Problem der
Interpretation der Bibel und der kirchlichen Verkündigung in der Weise, daß diese
als ein den Menschen anredendes Wort verstanden werden können." R. BULTMANNin K. JASPERS, R. BULTMANN, Die F1·age der Entmythologisierung, München
(R. Piper), 1954, S. 62.
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218 R.PANIKKAR
Kerygmas für den Menschen, unter dem sie übrigens den modernen"wissenschaftlichen" Menschen versteht. Als Methode mag sie Erfolg haben,es wäre aber nicht verwunderlich, wenn bei dieser "Technik" ein Teil
der Botschaft verlorenginge. Wir haben Technik gesagt, denn es will uns
scheinen, als ob die Entmythologisierung eine typische Erscheinung der technischen Zivilisation sei. Das Ideal des alten Indien war e s , - es war vielleichtauch gar nicht anders möglich (das bleibe dahingestellt)- den Menschen undnicht die Umwelt zu "kultivieren". Das technische Zeitalter "kultiviert" dieUmwelt, läßt aber den Menschen auf sich beruhen. Mit anderen Worten:Indien strebte danach, die Freiheit und die Vervollkommnung des Menschendadurch zu erlangen, daß seine Kultur den Menschen erzog, von der Umwelt,ja von seinem eigenen Körper und von seinen individuellen Bedürfnissen unabhängig und all dem überlegen zu werden. Man hielt es nicht der Mühe wert,
oder vielleicht nicht für möglich, die Welt, die Umwelt, ja die Gesellschaft zuändern: Kultur hieß hauptsächlich innere, intime Kultur. Das christlich moderne Abendland, obwohl seine Wurzeln wahrscheinlich in Griechenland liegen, verfährt gerade umgekehrt: es verfeinert den Menschen, indem seine
Kultur soviele Bedürfnisse - auch seelischer Art - wie möglich hervorruftund entwickelt, und gleichzeitig die Stillung und Erfüllung jener Bedürfnisseschafft: alles wird um- und aufgebaut: die Welt, die Umwelt, die Gesellschaft,
der Leib, die Seele, nur der innere Kern bleibt unangetastet. Indien strebtnach der Ein-falt (Simplifikation), der Westen nach der Ent-fC!ltung (Entwick
lung) des Menschen. Die Entmythologisierung gehört diesem westlichen Geistan 6• Man verlangt
nicht die menschlicheAnpassung, sondern
die technischeÜbersetzung - der Botschaft -, damit ih r Appell verstanden werde 7•Das is t aber nicht alles. Jene, somit nicht falsche Voraussetzung der Zeit
bedingtheit, läßt s.ehr leicht außer acht, daß auch der moderne wissenschaftlichgebildete Mensch zeitgebunden ist, und daß deshalb, was für ihn verständlich
ist, andern Geschlechtern vielleicht verschlossen bleibt. Mit anderen Worten:die Botschaft muß immer ein Vehikel haben, sie muß immer bekleidet sein.Eine totale Entkleidung - und das scheint zumindest manchmal, eine Versuchung der Entmythologisierung zu s e i n - wäre völlig unsichtbar, unhörbar,unmitteilbar . . . nicht weil man die Botschaft von ihren Kleidern, Mythen,
Formen . . . nicht unterscheiden dürfte, sondern ;weil man sie nicht völligdesirrkamieren kann. Der heutige Mythos ist die Wissenschaft. Deshalb wagenwir von einer Ummythologisierung zu sprechen. Um aber deren Sinn einwenig zu beleuchten, müssen wir zuerst auf die Bestandteile des Wortes ein
gehen.
8 vgl. R. BULTMANN, op. cit. S. 61.
·7 Jenes Sprichwort ist ja bekannt, welches besagt, wenn der Berg nicht zu Mahometgeht, daß Mahomet sich zum Berge begibt. Die Entmythologisierung gibt es auf, denMenschen bis zu jenem Berg hinzuführen, weil sie gesehen hat, daß die Bergpredigtund die ganze Botschaft nicht in den Menschen hineingeht; sie versucht dagegen, den
Berg mit technischen Mitteln zu versetzen.
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DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 219
2. Logos
In der Entmytho-Logisierung will man den Mythos abräumen und ihn
durch den Logos ersetzen. Man entmythologisiert, weil man die Botschaft
verständlich machen will. Sollte dies gelingen, so bliebe die entmythologisierte
Botschaft eine verständliche Lehre, frei von kosmogonischen, mythischen und
anderen Unreinheiten. Man wird sich für diese oder jene Lehre entscheiden,und jene Lehre wird sogar eine solche Entscheidung fordern. Die Entmytho
logisierung braucht nicht ohne weiteres reiner Naturalismus oder R a t i o n a l i s ~mus zu sein. Das Mysterium kann erhalten, und Raum für den Glauben mag
wohl bestehen bleiben. Wir wiederholen, daß es nicht unsere Aufgabe ist,
Kritik zu üben, sondern einige Randbemerkungen anzufügen, die einen gewissen Ergänzungswert haben könnten.
Unsere Ummythologisierung möchte den überlogischen Sinn des Logos
wiedergewinnen. Logos heißt bestimmt eine gewisse Intelligibilität, aber nicht
nur und nicht primär die logisch rationale Intelligibillität. Mehr noch, Logos
heißt das Wort, aber nicht primär das Verbum mentis sondern das Verbum
entis bzw. die Offenbarung des Seins. Das Wesentliche am Worte ist nichtdessen Sinngehalt, also s.eine Bedeutung, sondern sein Gesprochenwerden.
Ein Wort kann nur gesprochen werden. Nur sein Inhalt kann niedergeschrieben und sein Laut niedergelegt werden. Man dürfte Wort nie mit Schrifttum
verwechseln. Das Wort ist eher Anrede als Rede. Sein Anhalt ist wichtiger alssein Inhalt. Es hält uns an den Redner, es verbindet uns mit dem Sprechen
den eher als mit dem im Worte Gesagten. Das. Wort will zuerst gehört und
danach erst verstanden werden. Das Hören· des Wortes heißt zuerst ein Hor
chen auf den Sprechenden. Das Wort verlangt Gehorsam, es offenbart uns
den Sprechenden und verbindet uns ihm, bevor wir das Gesprochene ver
stehen. Die Annahme des Wortes hängt nicht von der "wissenschaftlichen",vernünftigen Analyse seines Inhalts ab, sondern setzt zuerst die Aufnahme
des Sprechenden voraus. A.6yo_. heißt nicht primär 7!0fJJ.Ul1 sondern ovp.{Jolov.Das Wort ist das Symbol schlechthin. Es hat wohl einen Inhalt, es besitzt
einen Sinn, es birgt Intelligibilität, aber es ist eine Epiphanie, eine Mittei
lung, eine Offenbarung, und das Wichtigste einer Botschaft ist nicht, was sie
in-sich und aus-sich enthält, sondern was sie an-hält, wessen Botschaft sie
ist, von wem sie un'> spricht, wessen Verkündigung sie is t 8•
Diese Auffassung ist übrigens keine Eigentümlichkeit Indiens. Für das Alte
Testament ist das Wort Gottes gleichbedeutend mit Gottes Forderung und
Tat. Das Wort Gottes ist Anrede und zugleich seine eigene Macht. Gottes
Schöpfung und Gottes Gebote sind sein Wort. Gottes Wort is t sein Wille 9•
8 Dies ist die phänomenologische Erklärung für die Existenz einer sakralen, kul
tischen Sprache, die man nicht unbedingt ,.vt!rstehen" muß, solange man die leben-
dige Beziehung mit dem Sprechende n aufrechterhält. · ·9 vgl. den inhaltsreichen und gut belegten Aufsatz von R. BULTMANN, Der Be
griff des Wortes Gottes im Neuen Testament in Glauben und Verstehen, Tübingen(J . C. B. Mohr) 1954, Bd. I,. 268-293, der uns weitere Zitate und eine ausführliche Be
handlung erspart.
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220 R.PANIKKAR
Auch das Neue Testament versteht das Wort in diesem Sinne. Den WillenGottes tun heißt, sein Wort hören und tun 10• Wer Christi Worte hört, wirdgerettet werden 11 • Er selbst is t das Wort 12 • Gott, d ~ r in alten Zeiten durch
die Propheten gesprochen hatte, hat am Ende der Zeiten durch seinen Sohngesprochen 13• Es is t das Wort des Lebens 14• Seine Worte s.ind die Wahrheit 15, weil er selbst die Wahrheit 16 ist. Mehr noch, in den Worten Jesu is timmer jene angedeutete und noch anzudeutende Einheit zwischen Sprechenund Handeln spürbar 17• Sein Wort is t mächtig, genau so wie seine MachtWort ist 18 •
In den sogenannten "primitiven" Kulturen is t das Wort die erste Epiphanie eines jeden Dinges. Gottes Wort ist Gott selbst, und die Macht überdas Wort heißt Vollmacht über die genannte Sache. Der Zauberer übt seineMagie aus, gerade weil er über das wichtige und passende Wort verfügenkann, usw.
In Indien hat das Wort eine eigene Philosophie, und es gibt sogar einvollständiges philosophisches System auf der Grundlage des Wortes 19 • Dessenungeachtet werden wir nur zwei Bemerkungen hier anknüpfen.
Die erste ist die für die westliche Mentalität verblüffende orthodoxe hinduistische Behauptung, die Veden hätten keinen Verfasser 20• Hierbei wäre zunächst zu bedenken, daß die Veden für den Hinduismus nicht die "heiligeSchrift" sondern sruti, d. h. das Gehörte, sind 21 • Sie sind nicht Schrift son
dern Wort und als Wort mächtig, gebieterisch, seinshaft, selbstruhend. DreWorte selbst haben erlösenden Charakter, die Erweckung zur Brahman
anschauung kommt durch das Wort22•
Die Hauptsätze- mahä-väkyani- dersruti und nur diese- also ohne Akt ion- bringen die totale Befreiung nach
der Advaita-Schule 23• Dies braucht nicht ohne weiteres als Magie ausgelegt
10 vgl. Lue. 8, 21; 28. etc.11 vgl. Mare. 8, 38; Job. 8, 28; 5, 38; 14, 10, etc.12 vgl. Job. 1, 1. ·13• vgJ. Hebr. 1, 1.14 vgl. Job. 6, 63; 6, 68; 8, 51, etc.1s vgl. Job. 8, 40.
10 vgl. Job. 14, 6.17 "Es ist auch k.eineswegs so, daß Wort und Handeln Jesu als zwei getrennte Funk
tionen seiner Erscheinung auseinanderfallen . . . schon hier wird deutlich, wie das,Wort' wirksames, selbsthandelndes ist, das heißt aber: Grundbestandteil des Handelns". KITTEL, Tbeol. Wört. d. N. T., IV, 107, art. Uyro.
18 vgl. Math. 8, 8. 16; Mare. 1, 25 f..; 2, 10 f.; 4, 39; Lue. 5, 5; 7, 7. 14 f.; etc.19 vgl. die Sabda-Philosophie, und im allgemeinen dao;; ganze mimlbns&.20 Diese Lehre ist wesentlich für das Purva-mim&msl\. Vgl. übrigens die Diskus
sionen und verschiedenen Auslegungen von Brahma-sutra I. 1, 3.21 Und doch die alten rsis, die eventuell die Veden haben niederlegen können,
sind m a n t r a d r a ~ t a (Seher· der mantras) genannt. Man sieht und hört zugleich diemächtige Realität des Wortes.
22 vgl. die ganz·e Problematik des :Kr (Aum-kara), des Symbols schlechthin(Om ist übrigens mit ä , u ~ v , amen verwandt). Vgl. Chand. Up. II 23, 3; Ka!h. Up. I, 2,
15 sq ;Mu11d.
Up. II, 2,3,
sq; Prasn. Up.V. 1
sq; ! H a ~ d Up.I
sq. etc.Vgl.
auch GitaVII, 8; VIII, 13; XXVII, 23 sq .
23 vgl. z. B. SURESVARA, N a i ~ k a r m y a Siddhi, II , 1 sq . (vgl. die erste europäischenoch private Übersetzung von A. J. ALSTON, London (Shanti Sadan) 1959). Für
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DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 221
zu werden 24 • Der Grund liegt gerade darin, daß das Wort nicht bloß alsRede und intellektueller Inhalt aufgefaßt wird, sondern als Symbol schlechthin.
Und dies wäre schon die zweite Bemerkung. Das Wort ist Symbol "ar•
l$oxfJv, oder christlich gesprochen: das Wort ist das Sakrament überhaupt.
Hier aber sollten wir das einbeziehen, was die Symbolik in Indien bedeutet.
Das Symbol ist nicht eine andere Wirklichkeit, das Wort Gottes ist nicht etwas
anderes als Gott selbst, es ist der geoffenbarte Gott, es ist Gott, insoft:.m er für
uns Gott ist. Es ist nicht etwa so, daß wir durch den bloßen Inhalt des Wortes
unabhängig vom Wort selbst tiefer in die Wirklichkeit eindringen könnten,
sondern es ist gerade das Vernehmen des Wortes als Wort, das uns die integrale Botschaft des Wortes bringt. Allerdings gehört das Verstehen des Wor-
tes mit dazu. Wenn wir aber jenes Verstehen autonom vom Worte selbst abschälen, dann verlieren wir den lebendigen - ontischen - Zusammenhang
mit der Quelle des Wortes und geraten in toten Intellektualismus, wenn nichtin tödlichen Rationalismus 25•
Diese uns.ere zweite Bemerkung hat zu dem christlichen Hauptdogma eine
direkte Beziehung, die uns für unser Probiem äußerst wichtig erscheint.Die ganze Verlegenheit der n i c h t c h r i s t ~ i c h e n Religionen besteht gerade
darin, daß, sobald sie an diesem Punkt angelangt s ind , - und fast alle reichenbis hierhin - es unvorstellbar, ja naturgemäß undenkbar ist, daß es in Gott
eine Spaltung - theologisch-christlich gesprochen: eine Relation - geben
könne, ohne die Einfachheit und Absolutheit Gottes zu beeinträchtigen.
Gottes Wort ist Gott selbst, das Symbol der Gottheit ist die Gottheit selbst,das Eikön Gottes is t Gott und nicht nur göttlich. Auf der anderen Seite aber
muß es einen Unterschied geben. Wäre der Logos Gottes Wort schlechthin.
so würde man entweder in Polytheismus oder in Monismus verfallen, wäre
das Wort Gott ohne die Spannung, die uns nur durch den Dreifaltigkeitsglau-
ben erschlossen wird, so gäbe es nur zwei Auswege: den Ausweg der griechi
schen Kultur, das Wort vom Wort loszulösen und nur seinen theoretischen
Inhalt zu betrachten - und das ist der Anfang des Humanismus und desAtheismus 26 - oder den Ausweg der indischen Kultur, das Wort als Gott
aufzufassen, das Symbol als die Wirklichkeit anzunehmen - und das is t der
Anfang des Monismus und des Pantheismus27 •
Alleindas
theandrischeMysterium Christi, das seinen Raum nur im Dreifaltigkeitsglauben findet,kann einen mittleren Weg einschlagen, der die Einseitigkeiten beider Extreme
vermeidet.
ganze Problematik vgl. P. HACKER, Die Schüler Sankaras, Untersuchungen über
Texte des frühen Advaitavada, Mainz (Abh. der Akad. geisteswiss. Kl. Nr. 26) 1950,
S. 97 sq.2i Wie sich P. HACKER, Magie, Gott, Person und Gnade im Hinduismus, "Kairos"
4/1960, S. 225 sq. anzunehmen geneigt .fühlt. Dazu meinen kritischen Brief an deaHerausgeber, in "Kairos". 1961, 2, S. 12 ff .
25 Man lese nur Psalm XXVIII über das Wort Gottes.
IB ov yae . " J.oyq> 1j flarnlsia 'fOV Oeoii, a.U' ev dvva!'EI,. I Cor. 4, 20.27 China würde hier größtenteils mit Europa, und Afrika im großen und ganzen
mit Indien zusammengehen.
7/27/2019 Kerygma Und Mythos, Bd. 6,1. Entmythologisierung und existentiale Interpretation (ThF 30, 1963, 250pp)
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DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 223
"Unten" heißt keine negative Größe in einem Koordinatensystem für einmythisches Verstehen, nicht einmal eine räumliche Kategorie in einem newton
sehen Raum. Deshalb sagten wir, daß die Mythologie im aufklärerisch ratio
nalen Sinne eine Absurdität darstellt, nicht nur für den wissenschaftlichen.
sondern auch für den mythischen Mensch.en und gerade für ihn 33• Nicht umsonst war die Gnosis die Hauptgegnerin des Mythos im Urchristentum 34•
b) Gibt es aber keine Brücke zwischen diesen zwei so entgegengesetztenHaltungen? Eine freie Verkehrsbrücke gibt es vielleicht nicht, weil sie einenKompromiß darstellen würde, der eiliem mit keinem Glauben v ~ r t r ä g l i c h e nRelativismus gleichkäme. Es mag wohl eine Überwindung beider Haltungengeben. Was wir vorhin über Heteronomie (Mythos) und Autonomie (Naturwissenschaft bzw. Intellekt) gesagt haben und über ihre mögliche Synthese ineiner ontonomen Haltung, könnte auch hier vielleicht eine Anwendung finden.
Der Prozeß von Mythos zu Logos entspricht ganz der schon erwähntenmenschlichen Entwicklung von der undifferenzierten, ganzheitlichen, heteronomen Haltung zu einer sauber getrennten rationalen aber einseitigen autonomen Position.
Die autonome Verdrängung des Mythos durch den Logos ist sehr deutlich:liegt die Wahrheit im Urteil, so ist der Mythos unwahr und sogar Lüge, so
gibt es keinen p/iHJ.ot; -rijc: ÜÄrJ1'ftdn.c: 3". Nur wenn man anerkennt, daß die Wahrheit als menschliche Übereinstimmung mit der Wirklichkeit den begrifflichen,
ja sogar intellektuellen Raum - also das Urte i l - sprengt, kann man in derWahrheit Platz für den Mythos finden. Will man aber nicht einem bloßen
Irrationalismus verfallen, so muß man den Mythos als ein Mittel der Teilnahme an der Wirklichkeit ansehen, das den bloßen Erkenntnisbereich überschreitet, d. h. man muß den Mythos als Kult betrachten, als sakrale Handlung oder als zur sakralen Handlung auffordernde Parabel. Die Parabel willnicht bloß verstanden ("qui habet aures audiendi, audiat" 36) , sie will vorallem getan, realisiert werden ("Vade et tu fac similiter" 37) .
Dies bringt uns der angedeuteten ontonomen Synthese und unserem Themanäher. Darüber wollen wir im nächsten Abschnitt sprechen. Dafür müssen wirvorher den Weg durch einen dritten Punkt ebnen.
c) Ilavra Zevt; ~ - t e f H e r : a schrieben die alten Griechen 38• Gott tu t alles in
setzung: "ibi posuit soli tabemaculum suum" heranbringen und interpretieren, usw.Doch ein für das Symbol aufgeschlossener Mensch wird alle jene Auslegungen willkommen heißen, sie werden fü r ihn aber nie! die ganze Botschaft des Originalswiedergeben.
33 Man sollte nicht vergessen, daß trotz aller Sauberkeit und Objektivität das sogenannte wissenschaftliche Weltbild "genauer" sein mag al s das mythische, es istaber wirklichkeits-ärmer und genauso wie das. letztere bewußtseinsbedingt, d. h.einem gewissen menschlichen Bewußtseinsgrad entspJ;"echend. Vgl. 0. BARFIELD,Saving the Appearances, Londo.n (Faber 'and ·Faber) 1957.
34 vgl. Belege in KITTEL, art. cit. IV, 785-786.35 EURIP., Phoe.n. 469 (apud KITTEL, art. cit. · S; 792).36 Mattli. 13, 9. · . -:·;
37 I.uc. 10, 37.
" 8 DEMOKRIT, Fragm., 30 - Diels; Die Frgin. der Vorsokratiker (5. Aufi.) II S. 151.
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224 R.PANIKKAR
Mythen, Gott mythologisiert alles, könnte man frei übersetzen 39• Diese Aussage steht der biblischen Bejahung, Gott tue alles nach Maß, Ordnung undZahl, keineswegs entgegen 40, denn der ursprüngliche Sinn von Mythos heißtgerade Gedanke 41 und kommt sogar mit dem Logos zusammen vor 42•
Mehr noch: gegen die geläufigen aber anscheinend entmythologisiertenInterpretationen hat fl/iH}or; wenig mit Esoterismus zu tun 43, hängt vielmehrunmittelbar mit Wort 44 zusammen. Mv{)or; heißt weder der flatus vocis noch
das verbum mentis allein, sondern die noch i n d i f f e r ~ n z i e r t e Einheit, die untrennbare Inkarnation von Fleisch und Geist, von Stoff und Seele, von prak
tischer Haltung und theoretischem Inhalt. Mythos und Logos gehören zusammen und zwar beide als W-ort, der erste als das die Gedanken - als
Wirklichkeiten - aussprechende Wort 45, der zweite als intelligente Tat undaktives Eingreifen des im Wort selbst Ausgesprochenen 46, oder anders aus
gedrückt: "Logos bezeichnet das Wort von der subjektiven Seite des Denkenden und Sprechenden her als das Bedachte und Berechnete" 48 ; !'fl{}or;, bezeichnet "ursprünglich gerade nicht das Wort vom Gedachten, sondern vom Tat-sächlichen" 48• .
Wenn durch den Logos alles geworden is.t 49, wenn durch Vac alles entstanden is t 50, wenn Zeus überhaupt alles mythologisiert 51, wenn der Taoam Anfang war 52, usw. all dies mag verschiedene Wahrheitstiefen erreichen
und ungleichen Wert haben, hat aber doch zur Folge, daß jene urgründliche
Tatsache nur im Mythos ausgesprochen werden kann, soll siei allgemeine- d h. für Gelehrte und Ungelehrte, Primitive und Fortgeschrittene, alteund neue Menschen- Gültigkeit haben.
39 Man weiß, daß die für jene Zeit sinngetreue Ubersetzung, etwa "Zeus denkt,erwägt alles" wäre.
40 vgl. Sap. 12, 21.41 vgl. STÄHLIN, art. cit. S. 772, sq . vgl. den schönen homerischen Ausdruck p:M}ov
p,vfJsiafJu.. (Od., III, 140): "Den Grund (für etwas) erklären", der schon auf die Bedeutung "einen Gedanken aussprechen" hinweist.
42 Die Ausdrücke J.Oyo• xa l p,vfJo• aber auch ,(oyo0 Tov p,vfJov kommen häufig vor.Vgl. STÄHLIN, art. dt., S. 777, etc.
43 Die etymologische Abteilung von · ~ v r o (schließen, evtl. u v a T ~ e w v ) ist ausgeschlossen.Vgl. z. B. die Wörterbucher vo n BOISACQ und HOFMANN.
u vgl. STÄHLIN, IGc. cit., vgl. den alttestamentlichen Spruch: lf:vfJero:n:O> lizae'••
pvfJo• lixu.t(!O> (wie ein unangenehmer Mensch ist ein unzeitliches Wort). Eccl. 20, 21.45 vgl. K. KERENYI, Umgang mit Göttlichem, Göttingen (Vandenhoeck u. Ruprecht),
21961, s. 36 f.
46 Man erkennt heute allgemein an, daß Goethes Auslegung von Job. 1, 1: "Im Anfang war die Tat" (Faust, V. 1237) nicht so sehr falsch ist. "Der Ausdruck ,Wort'(Logos) erweist die göttliche Macht und da s göttliehe Tun als geisterfüllte Macht undgeisterfülltes Tun". !VI. SCHMAUS, Katholische Dogmatik, op. cit. § 44 (Bd. I, 5. Aufl.1953, s. 310).
47 vgl. W. F. OTTO. Der Mythos, "Studium Generale" (1955, Heft 4), in E. GRASSI.Kunst und Mythos, Harnburg (Rowohlt), 1957, S. 81.
46 W. F. OTTO, 'fheophania, - Der Geist de_r a l t g r i e c h i ~ c h e n Religion, Harnburg(Rowohlt), 1956, S. 23.
49 vgl. Job. 1, 3; Col. 1, 16 sq ; Hehr. 1, 2 etc.50 vgl. Sathapatabrahmana VI, 1, 1, 9; Maitropanishad li, 6, etc.51 vgl. Anm. 38.52 vgl. Tao-te-king I. 2; IV, 1-2. 2; XXV, 1. etc.
7/27/2019 Kerygma Und Mythos, Bd. 6,1. Entmythologisierung und existentiale Interpretation (ThF 30, 1963, 250pp)
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DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 225
4. Parabel
Der letzte Vers des Johannesevangeliums sagt uns, daß die Welt die Bücher,die über Christi Taten zu schreiben wären, nicht enthalten könne 53• Die Ent
mythologisierung hat sich zur Aufgabe gestellt, solche Bücher zu schreiben.Sie will alles erklären und verstehen lassen, indem sie sich der Mentalität derLeser anpaßt. In diesem Sinne is t alles Schrifttum über Christus mit Ausnahme der Heiligen Schrift Entmythologisierung. Es will nämlich die TatChristi weiter erklären und auslegen. Und beileibe wird die Welt bald die
Unmenge solchen Schrifttums nicht mehr t ragen- vielleicht sogar nicht mehrertragen. Solches Schrifttum ist in diesem Sinne erlaubt und kann auch nützlich und erbaulich sein. Allerdings sollte dabei der Unterschied zwischenchristlicher Literatur und Bibel nicht verloren gehen. Es is t nicht nur ein Gradunterschied sondern ein Gattungsunterschied. Die Inspiration der Heiligen
Schrift heißt nicht nur, daß die Bibel irrtumsfrei ist, sie meint auch, die Bibelenthalte das Wort Gottes und sei es sogar in gewissem Sinne. "Diese Sachenaber sind aufgezeichnet, damit ihr glaubt, daß Jesus der Messias, der SohnGottes ist, und daroll ihr im Glauben das Leben habt in seinem Namen""4 • Dieanderen Bücher können sich solche Aufgaben prinzipiell nicht anmaßen. Siesind zum Verstehen und zur Vorbereitung und Auslegung des Glaubens ge
schrieben, enthalten aber die lebendigen Wasser des. ewigen Lebens nicht 55•
Dies soll keineswegs heißen, daß man bloß zum Mythos zurückgehen soll,daß man nötigenfalls nicht ummythologisieren dürfte - was eine gewisseEntmythologisierung voraussetzt -. Dies sollte nur heißen, daß man den
ganzheitlichen und einheitlichen Sinn der Botschaft, d. h. des Evangeliumsnicht verlieren darf.
Zuerst könnten wir vielleicht bemerken, daß die "Heilige Schrift" als
"Glaubensschatz" nicht bloßes Schrifttum ist, sondern lebendige, wenn auch
geschriebene Überlieferung. "Schrift" und "Tradition" sind nicht zwei unabhängige christliche Quellen, sondern zwei engverbundene und aufeinanderbezogene Dimensionen ein und derselben "Sache", deren dritte Dimension,die jene "Sache" erst in die lebendige Botschaft verwandelt, der Glaube ist.
Zweitens möchten wir auf die Tatsache hinweisen, daß, was das Evangelium
enthält, nicht direkt Mythen, sondern Ereignisse und Parabeln sind. EineParabel ist weder reiner Mythos noch eine bildhafte Ausdrucksweise, die etwaChristus gebraucht hätte, weil es orientalische Redeweise oder für seine
schlichten Zuhörer passender gewesen Wäre 56• Es wäre verhängnisvoll zudenken, daß eine feingeschliffene, metaphysische FormuHerung inhaltsreicherund vollkommener wäre als eine Parabel des Herrn Man darf und mußTheologumena aus dem Evangelium ableiten, aber man dürfte dabei nie ausden Augen verlieren - und aus dem Herzen vergessen -, daß jene Theo-
•a Joh. 21, 25.
Joh. 20, 31,66 vgl. Joh. 4, 10; 14; etc.•• Das meint SENECA, Epist. LIX, 6, wenn er die Parabel als "imbecillitatis nostrae
adminicula" betrachtet.
15 Castelli
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226 R.PANIKKAR
logumena nur Auslegungen, Übersetzungen, Erklärungen eines Sach
verhaltes sind, der als solcher einen unersetzlichen und unerschöpflichen Wertbesitzt. Man sollte dabei auch der providentiellen Tatsache eingedenk sein,daß das Evangelium, als Gottes Wort, uns dadurch erhalten geblieben ist, daß
fast sämtliche originale Vokabeln verloren gegangen sind, damit wir nichtder grammatischen bzw. philologischen Sklaverei verfallen. Es sind wederVokabeln noch Begriffe, was uns das Evangelium erhalten hat, sondern GottesWort als Ereignis und Parabel. Nur jene Ereignisse und jene Parabeln sinddas angemessene Fahrzeug der Botschaft und damit das unmittelbare Objektder Verkündigung. (Das Subjekt ist der Christus selbst und sein Geist 57. )
Ereignis und Parabel haben wir gesagt, weil das erste ohne die zweitebloße Geschichte wäre; die zweite ohne das erste reiner Mythos.. Weil dieorthodoxe Lehre im Abendlande sich in den letzten Zeiten gegen die modernistische Irrlehre verteidigen und definieren mußte, hat sie oft den tatsächlichen, geschichtlichen Wert des christlichen Ereignisses betont. Nichts warWichtiger als das; und die Geschichtlichkeit der christlichen Botschaft kannkeines.wegs vermindert oder unterminiert werden. Allerdings ist es eine eigen
artige Geschichtlichke.it, die vor allem nkht Nur-geschichte ist. Will manChristus als eine hauptsächlich und primär geschichtliche Ers.cheinung verkündigen, so verkündigt man nicht mehr den lebendigen und übergeschichtlichen
Pantokrator 58• Will man dagegen die Geschichtlichkeit übersehen und nurden parabolischen Wert des Evangeliums anerkennen, so ist dies der Beginnder G n o s i s und der Anfang der Zerstörung aller echten - und mehr nochder christl ichen - Religion.
Wir möchten drittens noch hinzufügen, daß sich jene Einheit zwischen Ereignis und Parabel, zwischen Logos und Mythos - also in diesem Sinne einewahre und echte logomythische Synthese (wir wagen es kaum, den AusdruckMythologie zu gebrauchen) -m i t der realen Teilhabe an jener "Sache", mitder echten Aufnahme jener Person, mit der wirklichen Vergegenwärtigungjenes Ereignisses und der echten Annahme jener Parabeln vollzieht. Und dasist genau der Kult 59 •
Um diesen letzten Zusammenhang klar zu machen, müssen wir, viertens,eine Überlegung über die Parabel selbst hinzufügen: Ihrer Etymologie gemäß
heißt Parabel ein Nebeneinanderstellen60
• Die Parabel muß gedeutet wer,den. Diese Deutung heißt: die Brücke zu entdecken und über sie dahinschrei"
ten. Die Brücke verbindet zwei nebeneinandergestellte "Sachen". Das Paraboion is t nur durch das Symbolon realisiert 61• Das Sym-bolon is t das, was
57 vgl. Matth. 10, 10, 20; Job. 14, 16. 26, etc. .58 vgl. als Beispiel und Versuch meinen Artikel, Der ISwara des Vedanta und der
Christus der Trinität als philosophisches Problem, in "Antaios" ·(1961), Bd. 11/5,S. 446 sq.
59 vgl. mein demnächst erscheinendes Werk, Die Bedeutung des Kultes im Hinduismus und das Christentum, dem manche Seite dieses zweiten Abschnittes entnommen sind.
10 naea(Joi.'l] kommt von na(Jaßai.Aew, nebeneinanderstellen; es kann als "Gleichnis" oder "Vergleichung" wiedergegeben werden.
61 Wie )Jekannt, kommt Symbolon von rivp,{Jallea{}a,, avp,p&.).).tiv.
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DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 227
die Para-bole über-brückt. Mit anderen Worten: W b kann man die Parabel
deuten, wie auf die andere Seite des Gleichnisses gelangen? Das "Verständ
nis" der Parabel setzt schon voraus, daß man an das andere Ufer gelangt
is t 62 • Die_ Parabel ist nicht bloß ein Rätsel, sie verlangt eine Aktion, d. h. den
Kult, um dorthin zu gelangen, wohin uns die Parabel weist. Man kann diePara-bole nur "verstehen", wenn man sich auf die andere Seite hinführen,
wenn man sich in die Dynamik des Gleichnisses einspannen läßt 63• Ohne
Glauben kann man die Parabel nicht deuten 64•
Zum Schluß: Parabel heißt auch Wor t , - hier als Sprache verstanden. Die
Parabel ist augenscheinlich eine Sprache, sie ist aber eine überkulturelle
Sprache, denn sie ist nicht an Begriffe gebunden, die nur in einer bestimmten
Kultur bekannt sind oder nur dort Geltung haben; sie ist eine universellere
Sprache, eine allgemeingültigere: Begriffe vergehen und ihr Sinn verschiebt
sich, Gleichnisse bleibenbestehen.
Sie is t eine tiefere Spracheals
die jeweilsgewöhnliche menschliche, denn sie ist reicher an Inhalten und Gehalten, da
in der Parabel der Zusammenhang zwischen dem Augenscheinlichen und dem
Verglichenen immer enthalten und lebendig bleibt. Die Parabel bleibt allerdings rätselhaft und verschlossen, wenn man ihren Dynamismus nicht mit
vollziehen kann, d. h. die Parabel scheut die Hilfe der gewöhnlichen Sprache
nicht und bedient sich ihrer, aber sie läßt sich nicht in Wörter einsperren.
Eigentlich kann man nur in Gleichnissen reden. Jede Rede ist Vergleich,jedes Wort ist Gleichnis, das den Begriff mit der begriffenen "Sache" ver:
gleicht und damit verbindet. Jedes Wort spricht etwas aus und stellt damit die
gemeinte "Sache" und unsere Erfassung von ihr nebeneinander. Die eigentliche Parabel deutet nicht einfach irgend etwas an, sondern weist uns auf
den Typus, auf das ursprüngliche Gegenbild hin 65•
Wir möchten uns den folgenden Eingriff in die Ethymologie noch gestatten·
Was die Para-bole nebeneinanderstellt, ist gerade Logos und Mythos. Manch
mal is t es der Logos, der an die Seite des Mythos. gestellt wird, und manchmal
is t es der Mythos, der auf den Logos hinweist.
Für den, der in einer mythischen Weltanschauung lebt, is t die Parabel das
Mittel, um den Logos-inhalt der Wahrheit zu entdecken, sie ist die Brücke,
über welche er gehen kann, damit sich der Mythos nicht auflöse und bloße
Legende werde; sie is t das Gleichnis, das vom Mythos zum Logos führt. Die
Parabel is t in diesem Falle ein Mittel der Entmythologisierung. Der Mythos
wird nicht zerstört durch die Parabel, sondern vertieft, erweitert, in einem
gewissen Sinne begründet.
Für den in einer ausgesprochenen Logos-kultur lebenden Menschen ver
bindet die, Parabel dagegen den Logos mit dem Mythos, sie läßt die Unzu
länglichkeit des reinen Logos-inhalts entdecken und führt zu dem anderen
Ufer hin, nämlich zu jenem, wo Begriffe nicht mehr angebetet werden, wo ihr
62 vgl. Job., 8, 47; 10, 2'f; 19, 37; etc.63 vgl. Mattb., 8, 10-17; 34-35; Mare., 4, 33-34; etc.M vgl. Mare., 4, 10--!2; Job., 12, 40; Is., 6, 9 f. etc.65 vgl. diesen Sinn in Hebr. 9, 9
• 5•
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228 R.PANIKKAR
reiner Mittler-charakter und ihre Kultur-gebundenheit aufleuchtet, ohne daß
man sie deshalb preisgeben müßte, - dorthin, wo die Wirklichkeit nicht
mehr be- oder er-griffen, be- oder er-faßt wird, sondern wo sie getastet, erlebt und erfahren wird, nicht in einem egozentrischen Sinne, sondern gerade
umgekehrt, - d. h. dorthin, wo die Wirklichkeit selbst durch mich er-geht,er-fährt, er-lebt. Der Mythos läßt uns die Wirklichkeit nicht· erkennen, son
dern er setzt uns in die Wirklichkeit hinein und läßt uns an ihr - paradoxer
weise - bewußt (nicht selbst-bewußt sondern wirklichkeits-bewußt) teilnehmen. Die Parabel läßt aber nicht alles verschwimmen, da sie uns beide
Seiten neben- und zueinanderstellt. Die Parabel is t in diesem Falle ein Mittel
zur Vermythologisierung. Der Logos wird nicht verneint, sondern integriert
und an seinen Platz gestellt.
Ill. Die Verkündigung
Es is t Aufgabe der Verkündigung, den Empfänger vor die Entscheidung zu
stellen, die Verkündigung Ereignis werden zu lassen 66 • Mit Recht betont dieEntmythologisierung, die Offenbarung sei keine Mitteilung von Lehren 67 •
Hierzu· wären zwei Anmerkungen zu machen. Erstens, die Entscheidung
braucht nicht eine intellektuelle, voll-selbstbewußte Entscheidung zu sein;
sie ist vielmehr ein freies Sich-entscheiden-lassen. Das Wort Gottes dient
nicht dazu, erst be-griffen zu werden, sondern, damit wir von ihm er-griffenwerden. Mit anderen Worten, wir können der vollen christlichen Botschaft
nicht mit dem Logos allein begegnen, eine entmyhologisierte Verkündi
gung kann vielleicht verstanden, aber nicht an- und aufgenommen wer
den. Die zweite Anmerkung betrifft die Spaltung zwischen Wort und
Sakrament, die in der Entmythologisierung zutage tritt. Der Logos allein kann
nicht Träger der ganzen christlichen Mitteilung sein, er braucht noch das
Sakrament dazu. Man soll nicht nur eine Lehre mitteilen; eine entmythologi
sierte Verkündigung kann aber nur eine verstehbare Lehre verkünden. Nur
die Praxis, nur das Sakrament, nur die Aktion können die andere Dimension
der christlichen Botschaft mitteilen 68• Und dazu is t der Mythos unentbehr
lich, andernfalls gäbe es keine Liturgie. Ein Sakrament ist ein integrales noch
nicht in Handlung und Sprache gespaltenes Wort. Es ist aktions- und inhalts
beladenes Wort. Es ist immer Ereignis.
Nach dieser Einleitung würde die eigentliche Arbeit erst beginnen, doch
88 "Die Offenbarung kann also nur jeweils Ereignis sein, wann und wo das Wort
der richtenden und sc;,enkenden Gnade jeweils einem Menschen zugesprochen wird."
R. BULTMANN, Die Frage der Entmythologisierung, op. cit., S. 71.
87 "Wenn die Offenbarung wirklich al s Gottes Offenbarung verstanden wird, so is t
sie keine Mitteilung von Lehren, auch nicht von ethischen oder geschichtsphilosophi
schen Wahrheiten, sondern die unmittelbare Anrede Gottes &n mich, . . . ebd. loc. cit.
88 vgl. die ganze eucharistische Rede Jesu (Job., 6, 26 f.), wo in eindrucksvoller, anstoß-erregender Weise das Heil nicht mit einer Lehre, sondern mit einem Essen, einer
Handlung, einem Sakrament verbunden ist.
7/27/2019 Kerygma Und Mythos, Bd. 6,1. Entmythologisierung und existentiale Interpretation (ThF 30, 1963, 250pp)
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DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 229
werden werden wir nur an zwei Beispielen das zu veranschaulichen versuchen,was sonst mehrere Seiten beanspruchen würde.
Das erste Beispiel mag ein Beitrag für das sein, was man Vermythologisie
rung und das zweite fürdas,
was man Ummythologisierung nennen könnte.
1. Das Sein Gottes
Es gehört zum Schicksal der abendländischen Christenheit·- ob auch zuinVerhängnis, bleibe dahingestellt - jene berühmte Stelle des Alten Testaments, wo Gott sich Moses als Der, der ist, offenbart, erstens metaphysiziertund zweitens im Sinne einer Seinsmetaphysik ausgelegt zu haben 69•
Wir möchten von vornherein klarstellen, daß wir gegen diese Interpretation, die einen guten Teil der christlichen Tradition darstellt, nichts einzu
wenden haben 70• Wir müssen aber sofort hinzufügen: man hat oft vergessen,daß es sich erstens um eine Interpretation, also nicht um eine Identität, undzweitens um eine, der apriori nicht auszuschließenden möglichen Interpretationen jenes Textes, handelt 71 •
Dies vorausgeschickt, könnte man wohl sagen, daß die seinsmetaphysische
Interpretation der christlichen Tradition, obwohl verschieden von der Seinsmetaphysik eines Plato 72, eines Aristoteles 73 und auch eines Philo 74, primäreinen anderen Sinn hat. Wir dürfen nun nicht in denselben Fehler verfallen
und eine Metaphysik durch eine andere ersetzen. Als Metaphysik ließe sichkaum eine bessere finden. Wir möchten die biblische Aussage als solche unangetastet lassen und den Hörer jenem Offenbarungswort näherbringen. Da wiraber hier eine philosophische Sprache zu sprechen genötigt sind, müssen wirden Versuch machen, solchen Sinn zu erschließen. Und wir finden einen vier
fachen Sinn:
a) Die Formel hat einen zeitüberwindenden Sinn. Sie will besagen, daßJahwe der ist, der war, ist und sein wird 75• Diese Aussage ist auch grie-
09 "Ego su m qui sum, ait: sie dices :filiis Israel, qui misit me ad vos" Ex., 3, 14.
70 vgl. das meisterhafte III. Kapitel E. GILSONs in L'esprit de Ia philosophiemedievale, Paris (Vrin) 1944 (1932), wo die Entwicklung diesees Gedankens verfolgtwird, daß es keine Metaphysik im Exodus, wohl aber eine Metaphysik vom Exodusgibt.
71 Es will uns sogar scheinen, daß die patristische Auslegung des Textes nicht imSinne des "ipsum esse" des THOMAS von AQUIN (vgl. Sum. Theol. I q. 13, a. 11)sondern eher in det' Richtung des lebendigen Gottes als Herr, gemäß des folgendenVerses im selben Text liegt.
72 vgl. -ro :n:aneÄw> lfv, Sophist., 248 E.
73 vgl. Metaph., III, 1 (1003 a 31) etc.
74 Er verwendet nicht nur o wv sondern ro lfv. Er sieht aber in o &Sv de n eigent
lichen Namen Gottes. Ygl. Abr., 121 (bei BÜCHSEL in KITTELs Theol. Wört. d. N. T.II , 397, art. eip1.
75 vgl. BÜCHSEL, loe cit.
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230 R.PANIKKAR
chisch 7ü und indisch 77 • Sie findet einen Nachklang in den Worten Christi 78 ,
im Neuen Testament 79 und überhaupt in der Tradition 80•
b) Die Stelle hat auch einen ausschließenden Sinn. Es gibt keinen anderenGott als den Gott Israels 81 • Er ist der Einzige 82• In diesem Sinne verwendet
Jesus die gleichen Worte, und die Juden verstehen sie wohl als eine Behauptung seiner Gottheit, denn für Israel war die Einzigkeit Gottes. dessen Hauptkennzeichen 83•
c) Unser Text deutet ferner an, daß Jahwe der ist, der da ist, als ob eshieße: ich bin da, der, der zu dir redet, der sich und zwar hier und dir offenbart, der für dich und überhaupt für euch sorgt und euch befreien will, ich bin
so sehr gegenwärtig, wie ich es war, als ich mit eurem Vater Abraham ein
Testament geschlossen habe. Die Stelle will also die Vorsehung, die tatsäch
liche Sorge Gottes um s·ein Volk aus.drücken. Der Gott Israels ist eine unsichtbare, schreckliche und transzendente Gottheit, er ist aber gleichzeitigVater, Bräutigam, Freund, der sich jetzt offenbart, um zu sagen: ich bin daund, weil ich immer mit euch bin und war, habe ich gesehen, wie ihr unterden Ägyptern zu leiden hattet, und ich habe mich nun entschlossen, euch zuretten und dich, Mos.es, als meinen Propheten auszuwählen 84 •
d) Die eigentliche Kraft dieses Textes scheint in der Bestätigung des personalen Charakters Jahwes zu liegen. Er offenbart sich selbst hier nicht so s.ehr
als das Sein, sondern als das Ich. Er sagt nicht, er s.ei das Sein, sondern er seiIch: ich bin, der ich bin. Der Akzent liegt auf dem Ich. Er hat kein Prädikat,nicht einmal das des Seins. Er offenbart sich hier nicht als Substanz, sondernals Verbum (Zeitwort), als Akt, als Person, und zwar nicht als "ist", sondernals "bin", weil Gott, mindestens der Gott des Alten Testaments, von s.ich
nicht "ist", sondern nur "ich" sagen kann. Wollte man ein Prädikat unterstellen, so dürfte man die Stelle nicht so auslegen, ich bin das .Sein, sondernich bin das Ich 85• In diesem Zusammenhang steht die Aussage Jesu, wenner das eyro Bif.U auf sich s.elbst anwendet 86•
76 vgl. den wundervollen Orakelspruch von Dodona: Zwt; i]v, Zsvt; ~ a - & w , Zsvt; laana1ro f-IBYM1J b i i (bei BUCHSEL, loc. cit.; vgl. auch PLAT., Timaeus 37 D sq.).
77 "puruea evedam sarvam yad bhutam yac bhavyam". "Gott - der Purusa - is talles, was· gewesen ist und sein wird"). Rg. Ved. X, 90, 2. Vgl. auch RAMANUIA,Giti-bhifya, IX,19, wo er das sadasat (Sein und Nicht-sein) als Bezeichnung Gottes
im Gita (h. 1.) im Sinne von Gegenwart -sat- und Vergangenheit-Zukunft -asatinterpretiert.
78 vgl. Job., 8, 58, wo de r Gegensatz zwischen ywia{}a, (von Abraham) und F'''cu
(von Jesus) klar zutage tritt. Jesus verwendet das Wort slf,il im Sinne seiner Zeittranszendenz. Vgl. auch Job., 8, 19, wo Jesus das ~ y w elf" wiederum mit seiner Zeitüberlegenheit in Verbindung bringt.
79 vgl. Apoc., 1, 4. 8; 6, 17; 16, 5.80 vgl. Gregor Naz., Orat. 30, 18; etc.81 vgl. Deut., 16, 4; Jl.lat·c., 12, 29; Deut., 32, 16; Eccles., 1, 8.82 vgl. Ex., 20, 2; Js, 44, 6-8; 45, 5.83 vgl. Job., 10, 31-39.
Ich verdanke J. B. LOTZ die Anregung für diesen dritten Punkt.
85 Die Folgen einer solchen Auffassung sind ungeheuer wichtig, gehören aber nicht1u urserer Arbeit. Vgl. meinen Aufsatz, Die existentielle Phänomenologie der Wahrbt>.it, in "Philosophisches Jahrbuch der Görresgesellschaft•• München 1956.
86 vgl. J oh., 8, 24, 28. ' '
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232 R.PANIKKAR
schreiben und dann die Grundlinien einer ummythologisierten VerkündigungschematisCh skizzieren:
Es geschah wohl vor zwanzig Jahrhunderten, daß Jesus von Nazareth sichals Sohn Gottes bezeichnete, am Kreuz für die ganze Welt starb, am dritten
Tage auferstand und auf s.einen Aposteln eine Kirche begründete, damit sieseine Botschaft weitertrage, und diese gelangt jetzt zu dir, mein Heber Freund!
Das bereitet gar keine Schwierigkeit für den gläubigen Hindu, er kennt ja
viele ähnliche Fälle. Die Welt ist voll von göttlichen Menschen, die Gott hier
und dort für das Heil der Welt sendet, und Ietztenendes predigen alle dasselbe: die Liebe, das Gute, die Milde, das Mitleid und dergleichen. Die Theo-
logen bilden darauf dann je eine Lehre, die je nachdem besser oder schlechterist und die sich an die Menschen je nach Temperament, Kultur, Zeit und
Raum anpassen läßt. Der Hindu ist bereit, sich auch als Christ zu bekennen,soweit ihn die christliche Lehre anspricht (denn manchmal hat er den Verdacht, es handle sich um eine ausgesprochen westliche Religion). Nur eineswird er überhaupt nicht verstehen - und mit seinem Hintergrund darf mim
wohl hinzufügen "nicht-verstehen-können" - und das is t nicht der Absolutheitsanspruch des Christentums (den meint er ohne weiteres anzuerkennen,
denn im Absoluten sind alle gleich), sondern seinen vermeintlichen Ausschließlichkeitsanspruch. Wenn die Geschichte so lang un!l so bunt ist, wenn
die .Menschheit so alt und verschieden, warum soll es da nur einen Avatära
geben, warum soll die Welt mit Ausnahme jener Gruppe in Finsternis und
Gottferne gebannt sein, warum, endlich, jenes Monopol? Auf die Tatsache,daß meine Religion teuflisch und deine göttlich, daß mein avatära oder meineForm der form- und namenlosen Gottheit kleiner, schlechter als deine sei,wird man sich im ernsten Gespräch nicht einlassen: es handelt sich ja nichtum einen Kinderstreit, daß mein "Vati" einen besseren Mantel hat als deiner.Gewiß, die klassische Apologetik kann ja auf solche Einwände vernünftige
Antworten geben und zeigen, daß die christlichen Behauptungen nicht inhuman sind, sie wird aber nicht die letzte Begründung umgehen können,daß es Gott so gewollt hat, und daß Er uns ausdrücklich geoffenbart hat, Er
wolle nur durch Seinen Sohn Jesus Christus verehrt und angebetet werden;
worauf der Hindu meinen wird - ohne es gewöhnlich zu sagen -, daß,
wenn es so ist, er jene Offenbarung abwarten wird.Anders läuft das Schicksal der Verkündigung, wenn sie zuerst an das, waswir Christus-bewußtsein genannt haben, anknüpft. Ohne das indisclteChristusbewußtsein zu kennen, wird jede Verkündigung der christlichen Botschaft dem Verhängnis des Mißverständnisses anheimfallen.
Ich möchte den Versuch wagen, diesen indischen Hintergrund kurz darzu-
stellen, wobei ich die westlich christliche Mentalität anflehen möchte, michmit jungfräulichem Gemüt anzuhören, und nicht sofort die folgenden Gedankengänge mit innerkirchlichen, geschichtlichen Resonanzen zu vermischen.
Jesus, der Christus, ist nicht eine vom Himmel plötzlich gefallene Inkarna-
tion Gottes. Für clen Judenchristen war Er .der von alters her versprocheneund prophezeite Messias, für den Griechenchristen die lang ersehnte Ant-
wort, der erahnte Logos. Jener Logos ist Fleisch geworden, sagt Johannes,
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DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 233
und durch seine Fleischwerdung hat Er freilich den hellenistischen Logosbegriff völlig umgewälzt (wie übrigens Christus auch nicht die bloße adaequatiodes jüdischen Messiasglaubens war, sondern deren adimpletio). Sollte manmit dem Logos beginnen, so würde man in Indien t:;her das Umgekehrte,
sagen müssen, um das gleiche auszudrücken. Das Fleisch ist Logos geworden(denn der Logos is t nichts geworden, was er nicht wäre - Er wird nicht)!Das Schicksal des Fleisches is t nicht die Zerstörung oder die Vernichtungsondern die Vergöttlichung, die Aufnahme in die Gottheit hinein, und dieseVergöttlichung ist es gerade, was der fleischgewordene Logos hervorbringt,mehr noch, diese Auferstehung des Fleisches geschieht nicht durch den Logos,sondern in ihm. Aber dies is t noch nicht alles.
Genauso wie die indische Religion starke Spuren einer Dreifaltigkeit inGott aufzeigt (aber diese finden sich nicht in der Trimurti sondern eher imSaccidänanda), hat der Hinduismus ein ausgesprochenes Christus-bewußtsein, aber dieses hat mit seiner Avatära-lehre wenig zu tun, vielmehr mit demIswarabegriff, mit seiner Auffassung von Antaryämin und vor allem mitseiner theandrischen Erfahrung die in mannigfaltigen Formen existiert.
Will man Christus als ein Avatära, also als eine Erscheinung der Gottheitin menschlicher Form, in Raum und Zeit, als eine göttliche geschichtliche
Herablassung bezeichnen, so schaltet man für den indischen Geist die mög
liche Identität zwischen Jesus und dem Christus aus; dann wäre Jesus wirk
lich eine Inkarnation aber nur eine Inkarnation, dann wäre er so geschicht
lich, daß er die Geschichte nicht transzendieren könnte.Das sehr verkürzte und deshalb ein wenig verzerrte Grundschema der Ver
Kündigung wäre etwa folgendes:Nur Gott ist, Gott ist die absolute Wirklichkeit und alles "andere", was
es sonst noch gibt, kann es geben, sofern es für Ihn gibt, in Ihm west und inIhm "ist". Schöpfung ist nicht ein Hinausgeschleudertwerden aus Gott (dasis t gerade die Sünde), sondern eher ein Hinaufgerufenwerden zu Ihm hin.Man darf nicht fragen: wer ist denn hinau.fgerufen? denn das "Wer" ist gerade dieser Ruf, das Gerufensein. Ich bin nichts anderes als. dieses Wort.
Gott is t nicht das "andere" sondern das "Noch-nicht-eine", das "Nichtzweite' , ohne jedoch das "Eine" zu sein. Diese Spannung innerhalb derGottheit
-ohne dergestalt ihre Ab-solutheit und Ein-fachheit
zu beeinträchtigen - is t ein wesentlicher Bestandteil der Offenbarung Gottes als Trinität.Indien sieht das nicht ein, und doch fragt es immerwährend danach: was istdieses "Sein", das ohne Gott zu sein, falls es ist, nur Gott sein kann? Wiekann es ein "Sein", eine "Schöpfung" geben, die Sein und Nicht-sein gleicherweise sein muß? Was gibt es in Gott, göttlich und geschöpflieh zugleich?
Die christliche Antwort leuchtet nun ein: das ist Christus, der ganze Christus,der in sich die neue Erde und den neuen Himmel enthält, das ist jene theandrische Realität, an der alles teilnimmt, was. sonst "ist". Nun, dieser Christusist der ontische Mittler in seinem zeitlichen Abenteuer. Bis jetzt nämlich
hatten wir die Zeit von unseren Überlegungen ausgeschaltet. Dieser Christusis t Schöpfer und Verherrlichet, das heißt Vollender des zeitlichen Seins.
Dieser Christus ist das göttliche Prinzip, das jedes Sein erhält und sein läßt;
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234 R.PANIKKAR
dieser Christus ist, in einem Wort, wirklich und tatsächlich Gott. Und nun
kommt die eigentliche temporale Botschaft: dieser Cb.ristus ist auch ErWser
weil jenes Hinaufsteigen zu Gott eine wirkliche Rückkehr und ein reales
Auf-steigen bedeutet. Jener Christus, der sonst für die Welt gesorgt hat, weil
die Welt ja sein Leib ist (in der Ewigkeit) und sein soll (im Zeitverlauf -
wobei, was nicht sein wird, auch nicht ist) und infolgedessen Propheten, Reli-
gionsstifter, heilige Männer hat entstehen lassen, jener Christus hat am Ende
der Zeiten sich als Haupt geoffenbart; Er hat nicht nur seine zum Werden
bestimmten Glieder geboren werden lassen, sondern Er selbst ist aus Maria
der Jungfrau geboren, unter Pontius Pilatus. gestorben und am dritten Tag
auferstanden, um seine Mission weiterzuführen bis zur Vollendung (/Gor.
15, 28).
Das mag zu philosophisch klingen, und tatsächlich konnte eine gedrängte
Zusammenfassung nur philosophisch wiedergegeben werden. Es sollte aber
keineswegs eine philosophische Rede sein. Jetzt aber, da wir jene Rede vor
weggenommen haben, können wir unser Grundschema einfacher darstellen:
Man fängt mit der Eucharistie an, und zw<J,r buchstäblich mit der Eucharistie
als Opfer, Sakrament und Lehre. Die Vergöttiichung is t ,möglich; ja sie ist
eine Tatsache. Die Einheit, zu der das Geschöpf berufen worden, ist die der
Trinität selbst (wie der Vater und ich Eins sind, . . . lo. 21 etc.). Gott kommt
zu uns. und er kommt nicht nur, sondern er wird Eins mit uns., es ist einewirkliche Vereinigung, durch die wir eigentlich "sind", usw. Nun ist diese
Eucharistie, dieser kosmische und persönliche Christus, identisch mit dem
historischen Jesus von Nazareth.
Das ist das unerhörte skandalon für Indien, nicht daß es eine Inkarnation
gebe. nicht daß Gott sich niederlasse und Mensch werde, nicht daß der Logos
Fleisch geworden, sondern daß jedes Fleisch Gott werden kann und soll,
daß der Mythos Geschichte geworden ist, daß das Einswerden mit Gott
nicht mit der Preisgabe alles Werdens, sondern gerade durch dessen Ver
göttlichung erreicht werden kann.
Mit anderen Worten, die Geschichtlichkeit ist nicht die Basis, sondern die
Krone der Verkündigung, der historische Jesus is t nicht der Anfangspunkt
sondern das Eschaton. Das Fundament der Verkündigung ist somit nicht die
Historiographie Jesu, sondern der Glaube an ihn, der nur durch den persönlichen Kontakt in der intimen Begegnung mit ihm zu uns kommen kann. Man
pflegt zu sagen, und zwar mit Recht, daß der Glaube ein freies Geschenk
Gottes sei, man übersieht aber manchmal, daß gerade diese Gabe, weil sie
ein reales Geschenk ist (sofern nämlich Christus sich zu uns niedergelassen
hat, um uns an seiner Erkenntnis und an seinem Leben teilnehmen zu lassen),
immer eine Begegnung mit Christus, also eine Damaskusstunde voraus
setzt. Jeder Gläubige ist ein Begnadeter, wenn er auch später die Gnade ohne
den Glauben verlieren kann. Dieses Damaskuserlebnis aber braucht uns
nicht groß bewußt zu sein. Die Begegnung ist da, wir können aber ihr gegen-
über blind bleiben in größerem Maße als Paulus, da er nur für die physischeUmwelt blind blieb. Man sollte nie aus den Augen verlieren, daß das Ent
scheidende in unserer Begegnung mit Gott nicht unser Bewußtsein davon
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DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 235
ist, sondern die tatsächliche Begegnung selbst, und, zweitens, daß dasWichtigste der Begegnung nicht mein Gott-treffen, sondern das göttlicheMich-treffen ist.
Mit anderen Worten: es kommt alles darauf an , der Person Christi den
Primat zu überlassen, oder besser gesagt, ihm den Primat, der ihm zukommtund den er tatsächlich hat, nicht zu rauben. Das soll man ganz existentiellzuerst annehmen, das heißt, es handelt sich nicht darum, daß ich als Missionar den Primat Christi verkündige, nicht einmal, daß ich Christus verkündigeund ihn durch mich sprechen und handeln lasse, sondern es handelt sich ganzwirklich darum, daß er auftrete, daß er, vielleicht durch aber auch ohne undgegen mich, handle und wirke, daß ich sein und nicht er mein Instrument sei,daß er wirklich gegenwärtig werde und ankomme und das Opfer verrichte,die Herzen entflamme und die Geister erleuchte. Er muß wachsen, ich aberabnehmen. Die Verkündigung Gottes ist nicht nur im Sinne des objektivenGenitivs zu verstehen, sondern vor allem im Sinne des subjektiven, das heißt,es ist nicht meine Verkündigung des geoffenbarten Wortes sondern die gött-
liche Verkündigung seiner eigenen Wor te - wohl vielleicht durch mich. Das isteigentlich das, was wir vorhin meinten, als wir die liturgische Haltung und dieOrthopraxis erwähnten. Der Kult ist der eigentliche Ort der Verkündigung,zuerst einmal, weil der Kult als solcher schon Verkündigung, und zwar lebendige und tatfordernde Verkündigung Gottes selbst ist. Ohne Kult ka,nn esnur die Mitteilung einer Doktrin geben, aber nicht die Verkündigung desWortes Gottes . Da aber die christliche Lehre eine übernatürliche ist, wird1tie bloße Übertragung einer Doktrin steril bleiben, weil unverständiich, sofern nicht zugleich die Gnade mitgegeben ist, den Anstoß aufzunehmen unddem Anspruch zu entsprechen.
Mit Recht bemerkte E. Castelli: angenommen, nUr l"in paar Christen wärenauf Erden übriggeblieben und wollten nun ohne irgendeine geschichtlicheUrkunde auf einer isolierten Insel die christliche Botschaft weiter verkündigen, so wäre ihre Verkündigung doch sinnvoll. Um andere theologischeProbleme auszulassen, möchten wir annehmen, daß unter den Übriggebliebenen ein Priester wäre. Er wäre die ganze lehrende Kirche und hätte dieVollmacht der Kirche, er könnte seine Vollmacht bezüglich des Hauptes der
Kirche ausüben, das heißt, Christi Opfer darbringen, und somit brauchteseine Verkündigung nicht notwendig das Zeugnis der Geschichte, weil Jesus,an den geglaubt wird, primo et per se nicht eine Qestalt der geschichtlichenVergangenheit ist, sondern der lebendig auferstandene Christus, gegenwärtig in der Mess.e und wirksam in unserem Herzen. Die Bewohner jenerInsel dürfen wohl für ihren Vollglauben die verlorenen geschichtlichen Urkunden für die geschichtliche Existenz Jesu nicht vermissen. Und doch würdedie Geschichtlichkeit Christi nicht bezweifelt, sondern im Glauben mit eingeschlossen werden. Geistesgeschichtlich gesprochen, befindet sich Indienauf dieser Insel. Es interessiert sich wenig für die Geschichte der Vergangen
heit, gerade weil es zu der Geschichte der Gegenwart, zu der Realpräsenzdes Christus leidenschaftlich hingerissen ist. Diese findet man im Opfer und
im Sakrament, im Gebet und im Glauben. Das ist das Entscheidende.
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DIE ENTMYTHOLOGISIERUNG ALS EIN VERSUCH DER
RADIKALEN VERGESCHICHTLICHUNG DES GLAUBENS
Franeo Bianco
Es ist eine häufig geübte Kritik an der Konzeption R. Bultmanns, daß erin seiner Interpretation der christlichen Botschaft die his.torische Dimensionals eine konkrete Wirklichkeit völlig unbeachtet gelassen habe, die dagegen,-so meinen die Kritiker derEntmythologisierung,-wesentlich verknüpft sei
mit der Offenbarung dieser Botschaft, die durch Christus zu einem bestimmten Zeitpunkt und ein für alle Male in der Geschichte der Menschheit geschehen ist. Auch während der Zusammenkunft zu dem Thema: "Das Problem der Entmythologisierung", deren einzelne Beiträge in diesem Bandveröffentlicht werden, ist diese Kritik mehr als einmal geäußert worden, besonders .wirkungsvoll von Enrico Castelli in seinen einleitenden Worten undspäter im Verlauf der Diskussion.
Um zu einer wirklichen, wenn auch begrenzten Klärung der ProblematikBultmanns beizutragen, scheint es uns daher notwendig, die Bedeutung undTragfähigkeit dieser Kritik näher zu untersuchen. Das Ziel ist, zu erkennen,ob und wie weit diese Kritik wirklich die Auffassung Bultmanns trifft. AufGrund dieser Prüfung hat es den Anschein, daß wir vor einer tiefen undradikalen Meinungsverschiedenheit stehen, die weit über die zufälligen undunmittelbaren Äußerungen hinausgeht, bis in den Bereich der jeweiligenphilosophischen Voraussetzungen, die dem traditionellen christlichen Verständms zu Grunde liegen, bzw. dem entmythologisierten Verständnis gemäß dem Vorschlag Bultmanns. Der Problemkreis dieser Meinungsverschie
denheit is t derartig weit und umfassend, daß er innerhalb der engen Grenzen eines Aufsatzes weder verständlich gemacht noch gründlich untersucht
werden kann. Die Aufgabe, die wir uns stellen, kann deshalb nur sehr bescheiden sein. Sie beschränkt sich auf das Herausarbeiten und Sichtbarmachen des grundlegenden, oben angedeuteten Kontrastes und dem Aufzeigen des bedeutenden philosophischen Problems, das sich hinter diesem
Kontrast verbirgt.
Als Ausgangspunkt unserer Untersuchung zitieren wir eine kurze Stelleaus der Einführung von E. Castelli, die, trotz ihrer Knappheit, wohl aufdeutlichste Weise das kritische Problem trifft, das durch eine Stellungnahme
zu den Ideen Bultmanns entstanden ist."In einem gewissen Sinne", so schreibt Castelli, "besteht der Fehler der
entmythologisierenden Theologie Bultmanns darin, nicht verstanden zu
haben, daß das Sein des Ereignisses beinhaltet- soweit es Geheimnis ist -
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DIE ENTMYTHOLOGISIERUNG ALS VERGESCHICHTLICHUNG 237
und die mögliche historische Analyse des Ereignisses widerspricht .nicht der
Offenbarung, denn sie ist die Offenbarung der Botschaft und des Ereignisseszur gleichen Zeit." Was bedeuten diese Worte? Ihre Bedeutung, so scheintuns, liegt in der, wir können sagen, traditionellen Überzeugung, nach der die
christliche Botschaft wohl einerseits die Verkündigung einer "Frohen Botschaft'' ist, aber auch, und zwar in gleich wesentlicher Weise, die Verkündi-
gung eines historischen Ereignisses, das mit der größten Genauigkeit datiertwerden kann und eine absolut eigene Bedeutung hat.
Im ersten Punkt, d. h. im Verständnis des Christentums als Verkündigungeiner "Frohen Botschaft" best,ehen keinerlei M ~ e i n u n g s v e r s c h i e d e n h e i t e n .Bultmann und die Tradition stimmen vollkommen überein. Die Schwierigkeiten beginnen jedoch gleich, danach; denn die traditionelle, Auffassung be
steht der Entmythologisierung gegenüber darauf, daß das Christentum auchOffenbarung eines bestimmten geschichtlichen Zeitpunktes ist, eines ver-gangenen Ereignisses mit univers.eller Bedeutung, begreifbar nur im Glauben.
Und genau hier setzt die Kritik gegen Bultmann ein, die ihm vorwirft,in seiner Theorie der Entmythologisierung diesen zweiten Offenbarung'!aspekt der christlichen Botschaft nicht berücksichtigt zu haben, so bliebe dasKerygma ohne jede authentische Verwurzelung in dem historischen Jesus 1 :
sie sei deshalb in Gefahr, einerseits als ein nur subjektives Phänomen inter-pretiert zu werden, andrerseits als eine Art ethisch-philosophische Doktrin,der jede Verbindung mit dem durch die Person Christi gegebenen Ereignismangelt.
Ist ein derartiger Vorwurf der Auffassung Bultmanns gegenüber berechtigt?Wenn ja, was beabsichtigt Bultmann, wenn er in Bezug auf die Offenbarungden Aspekt der authentischen Bedeutung eines historischen Ereignissesnicht berücksichtigt?
Bevor sich eine derart verpflichtende Frage, die ein Urteil enthält sowohldem traditionellen wie dem entmythologisierenden Verständnis des Christen-tums gegenüber, beantworten läßt, ist es vielleicht notwendig, die Gründe zubeleuchten, die die traditionelle Denkweise zu dieser kritischen Stellungnahmen Bultmann gegenüber veranlaßt haben. Das bedeutet, sich um dasVerständnis der Voraussetzungen, von denen die Tradition ausgeht, zu be
mühen,und ganz genau die Motive dieses Vorwurfs festzustellen. Darüberhinaus gilt es aber auch, die Gründe zu erkennen, die Bultmann zu seiner
exponierten Stellungnahme - ob richtig oder falsch - veranlaßt haben, zueiner so radikalen und energischen Kritik.
Um zunächst die Grunde der Tradition verstehen zu können, müssen wiruns fragen, welche Rolle der zweite Offenbarung3aspekt des christlichenKerygmas - der in Frage steht -in der traditionellen Anschauung spielt.In diesem Zusammenhang scheint die Behauptung erlaubt: wenn die christ
liche Botschaft die Offenbarung sein soll, nicht nur als die "Frohe Botschaft",sondern darüber hinaus als ein historisches Ereignis, so folgt daraus, daß
jenes Ereignis in seiner vollen Gültigkeit nicht unmittelbar begreifbar ist;
1 vgl. die jetzt in Gang befindliche Diskussion um den historischen Jesus.
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238 FRANCO BIANCO
es ist nicht faßbar außerhalb des Glaubens, der seinerseits die Frucht jener
Offenbarung ist. Der Glaube allein vermag dem Menschen die wahre Bedeutung der Geschichte aufzuzeigen, jener Geschichte, die sich in einem bestimmten Ort, zu einem bestimmten Zeitpunkt der Vergangenheit ereignet
hat. Wenn wir uns darüber hinaus fragen, welches die eigentliche Bedeutung jenes Geschehnisses der Vergangenheit sei, das dem Menschen nur im
Glauben greifbar ist, sich aber den gewöhnlichen Mitteln historischer Unter-
suchung entzieht, so wird klar, daß es sich um eine heilsgeschichtliche Bedeu
tung handelt, die der christlichen Tradition gemäß mtt der konkreten Histori-
zität verknüpft ist, begreifbar aber allein durch den Glauben.
Es gilt nun, festzustellen, in welcher Weise in der traditionellen christlichen Interpretation die Verknüpfung zwischen einem Ereignis absoluten
Ausnahmecharakters - d. h. Heilscharakters - und einem gewöhnlichen Ge-
~ c h e h n i s der Vergangenheit, das sich in keiner Art von ähnlichen dieser Weiseunterscheidet, konzipiert und ausgedrückt wird. Die Schwierigkeit liegt
in der Tatsache, daß das Ereignis der Erscheinung Christi in seiner bloßen
Form eines einfachen Geschehnisses der Vergangenheit nichts von seiner
heilsgeschichtlichen Bedeutung erkennen läßt. Diese Bedeutung wird in der
Tat einer historischen Forschung nicht greifbar, wohl aber dem Glauben;
d. h. der Glaube muß das Ereignis irgendwie aus der Vergangenheit heraus-
holen und es sich vergegenwärtigen, und sei es nur im Glauben. Is.t es möglich, beide Wesenszüge anzuerkennen, die der christlichen Tradition gemä.ßdie eigentliche Bedeutung der Erscheinung Christi bestimmen als vergangenes
Geschehnis einerseits und gleichzeitig als bedeutungsvolles Ereignis. für· den
Gläubigen, d. h. als gegenwärtiges Geschehnis im Glauben andrerseits?
Die Tradition wird wi'e bisher so auch weiterhin daran festhalten, daß die
beiden oben angedeuteten Aspekte des Heilsgeschehens. als Einheit konzipiert
werden können und müssen, indem man sie jeweils als den objektiven und
subjektiven Aspekt ein und ders.elben Wirklichkeit, ein und derselben Erschei
nung interpretiert, die eben die Realität des christologischen Ereignisses ist,
mit sich selbst identisch unter zwei verschiedenen Aspekten. Der Glaube desEinzelnen wäre somit zu interpretieren als Erneuerung der Offenbarung, die
in ihrer vollen Bedeutung einmalig in der Geschichte geschehen ist, geschehen
im totalen Sinn des Wortes, nämlich als Heils.geschehen. Der Glaube dec;Einzelnen wäre also in letzter Analyse nichts andere·s als ein Akt des Er-
kennens, eine Möglichkeit, das zu begreifen, was. einmalig und endgültig in
der Vergangenheit geschehen ist. Andrerseits wäre das Geschehnis der Ver-
gangenheit als objektiver Aspekt des Phänomens historisch untersuchbar; in
seinem subjektiven Aspekt vom Glauben zu verwirklichen. Der Glaube an
das tatsächliche historische Leben Jesu wäre nichts als bloße subjektive
Illusion, wenn · es nicht den Beweis eines bestimmbaren Geschehens g ä h ~ .dessen Bedeutung sich nur dem Glauben öffnet, desc;en Realität aber, unab-
hängig vom Glauben selber, historisch objektiv ist, prüfbar und feststellbar
wie jede andere vergangene Tatsache. Der Tradition gemäß also begreiftder christliche Glaube den Inhalt des Ereignisses Christi, es jedesmal neu
gegenwärtig machend, während das Ereignis selbst, reich an heilsge-
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DIE ENTMYTHOLOGISIERUNG ALS V E R G E S C H I C H T L I C ~ U N G 239
schichtlieber Bedeutung, seinen Platz in der Geschichte einnimmt und auf
Grund dieser historischen Einordnung das Fundament und die Garantie für
den subjektiven Glauben des Einzelnen ist. Der Glaube is t in seinem Wesen
das Erkennen eines vergangenen Geschehens, das aber nicht ohne die Hilfe
des Glaubens selbs.t begreifbar ist. Der Glaube ist zugleich das Glauben
an die Realität dieses Geschehens und seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung.
Diese kurze Charakterisierung der traditionellen Auffassung zeigt, - so
meinen wir, - ein Problem von grundlegender Wichtigkeit auf, um dessen
Lösung sich die Tradition sehr bemüht hat. Soweit wir erkennen können,
scheint die Hauptsorge der traditionellen Interpretation des Christentums
darin zu liegen, die objektive Historizität der Offenbarung zu garantieren.
Dieses Bemühen entspringt dem berechtigten Wunsch, das konkrete Phäno-
men des Glaubens außerhalb jedes Subjektivismus zu stellen und findet, wie
wir sehen können, eine geeignete Lösung in der Fundamentierung· des Glau-bens in seinem eigenen Objekt, auf das er gerichtet ist. Es wird verständlich,
daß die Anklage gegen Bultmann unter dem Gesichtspunkt der Tradition so
schwerwiegend is.t, daß sie - wo sie sich als berechtigt erweist - ohne wei
teres die Möglichkeit ausschließt, das Gespräch mit den Autoren der Ent-
mythologisierung weiterhin fortzuführen.
· Die christliche Offenbarung sei wohl die Verkündigung einer Frohbot-
~ c h a f t aber in gleicherwesentlicher Bedeutung auch die Verkündigung einesvergangenen Geschehens. Die Tradition beschuldigt Bultmann, den zweiten
Aspekt nicht hervorgehoben zu haben, sodaß der christliche Glaube und die
Botschaft auf ein rein subjektives Phänomen zurückgeführt werden, nichtmehr verankert und garantiert in ihrer Objektivität durch ein einmaliges,genau bestimmbares Ereignis, das s.elbst die Quelle jeder konkreten Glau-
benserfahrung ist. Folglich beinhaltet die Kritik an Bultmann auch, er habe
die Person Christi nicht berücksichtigt und so dessen Botschaft auf eine rein
ethisch-philosophische Doktrin zurückgeführt.
Die Frage ist nun, festzustellen, ob und bis. zu welchem Grade die oben
angeführten Kritiken gegen Bultmann berechtigt sind; ob wir sie - mit
anderen Worten - vollständig anerkennen und übernehmen können, oder
ob sie, wenigstens in einem gewissen Maße, nicht den wirklichen Absichten
und der eigentlichen. Bedeutung der Auffassung Bultmanns entsprechen. Wir
müssen uns der Bultmann'schen Hermeneutik zuwenden, um deren wirkliche,eigentliche Fundamente zu finden, und um vor allem ihre kritischen Motive
zu prüfen, die sie der christlichen Tradition gegenüber geltend macht.
Daher gilt es, kurz zu dem fundamentalen Anspruch der traditionellen
Konzeption zurückzukehren, den sie in Bezug auf die objektive Historizität
des Offenbarungsgeschehens erhebt. Wir haben oben gesagt, daß diese For-
derung nach Historizität gestellt wird, um das Verständnis der Offenbarung
jedem Subjektivismus gegenüber zu garantieren und das Ereignis als ein ob
jektives zu konzipieren, d. h. als analog jeder anderen geschichtlichen Tat-sache, mit allen ihm wesentlichen Eigenschaften, die es zu dem einmaligen
Offenbarungsgeschehen der Geschichte werden lassen.
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240 FRANCO BIANCO
Daß der Tod Cäsars eine Tatsache ist, die sich zu den Iden des März im
Jahre 44 vor Christi Geburt zugetragen hat, ergibt sich aus und kann bewiesen werden mit den üblichen geschichtlichen Untersuchungen. Diese Un-
tersuchungen machen den Verdacht unmöglich, daß es sich um eine, bloße
Illusion des Historikers handeln könne oder um einen subjektiven Irrtum.
Die Tatsache des Todes Cäsars wird mit solcher Gewißheit bezeugt, daß
dem Historiker nichts anderes übrig bleibt, als sie als gegeben hinzunehmen.
In derselben Art wird das Offenbarungsgeschehen Christi als objektives Ge-
schehen konzipiert, das sich in der Vergangenheit vollzogen hat und zwar
unabhängig von der Person, die heute davon erfährt, oder die heute daran
glaubt: in solchem Maße unabhängig, daß es selber die Ursache und das
Fundament jeden späteren Glaubensaktes sein kann Der einzige Unter-
schied, der, der Tradition gemäß, zwischen der Offenbarung Chnsti und
dem Tode Cäsars - beide als historische Tatsachen genommen - besteht,
ist folgender: der Tod Cäsars kann von jedem als das, was er ist, begriffen
werden durch ein einfaches Studium der Zeugnisse, die ihn vor die objek-
tiven; historischen Ergebnisse stellen, während das OffenbarungsgeschehenChristi zwar in derselben Weise studiert und in Erfahrung gebracht werden
kann, ohne auch nur im Geringsten in seiner eigentlichen Bedeutung als einmaliges, geschichtliches Heilsgeschehen deutlich zu werden. Denn um die Be
deutung des vergangenen Geschehens zu begreifen, ist, wie wir wissen, der
Glaube nötig. Nur der Glaube, nicht die historische Untersuchung, kann in
einem weltlichen Geschehn, so ähnlich vielen anderen, diese ganz besondere Bedeutung erkennen, die die Erscheinung Christi auszeichnet und bestimmt.
In diesem Punkte scheinen für die traditionelle Konzeption die ersten
Schwierigkeiten zu entstehen, über die es genauer Klarheit bedarf, wenn man
die Stellung Bultmanns verstehen will, die eben aus einem radikalen Versuch,diese Schwierigkeiten zu überwinden, hervorgegangen ist. Diese Schwierigkeiten s.ind im Grunde durch eine Art Zweideutigkeit bestimmt, die in der
traditionellen Auffassung enthalten ist, wenn es sich darum handelt, die begrifflichen Merkmale des Offenbarungsgeschehens Christi zu bestimmen.
Wenn es wahr ist, daß man die Erscheinung Christi einerseits als historisches
Ereignis der Vergangenheit, ähnlichjedem
anderen, erfassen kann, obwohles eine einmalige Bedeutung hat, die auch in Bezug auf die Geschichte durch
scheint, so is t es nicht weniger wahr, daß andrerseits dieses, nur dem Glauben
begreifbare Ereignis, sich auf irgendeine Weise auch in seinen begrifflichen
Bestimmungen von den anderen objektiven Ereignissen der Vergangenheit
unterscheiden muß, um tatsächlich dem außergewöhnheben Charakter zu ent-
sprechen, der ihm eigen ist. Die traditionelle Auffassung muß tatsächlichunterscheiden zwischen der historisch-objektiven Tatsache der Erscheinung
Christi und der in dieser Tatsache enthaltenen Bedeutung von übergeschicht
lichem, übernatürlichem Charakter. Der Glaube wird jedoch nicht i n t e r p r ~ -tiert als Hinwendung zur Bedeutung allein, sondern als Verständnis sowohlder übergeschichtlichen Bedeutung als der historischen Tatsache der Erschei-
nung Christi.
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DIE ENTMYTHOLOGISIERUNG ALS VERGESCHICHTLICHUNG 241
Die Schwierigkeit besteht, genau gesagt, in der Konzeption einer untrenn
baren, realen Einheit der beiden oben genannten Aspekte der Erscheinung
Christi: der objektiv-historische und der nur dem Glauben begreifbare. E->
muß hier der Verdacht entstehen, die beiden Aspekte ständen in klarem Kon
trast zu einander und schlössen sich gegenseitig aus, wodurch es unmöglichwird, sie in einer einzigen Realität zu vereinigen. Wenn einem Geschehen die
objektive Geschichtlichkeit ausdrücklich zuerkannt wird, identisch mit allen
anderen analogen Geschehnissen, so ist schwer zu begreifen, warum dann
zum Erfassen der Realität dieses Ereignisses eine übernatürliche Fähigkeit,
d. h. der Glaube, dazukommen kann und muß. Ist mit dieser Forderung nichtvielleicht gerade das geleugnet, was man zu Beginn aufzeigen wollte, nämlichder Charakter der objektiven Realität, identisch mit jedem anderen histori
schen Phänomen? Doch wenn es so ist, welches is t dann der Sinn aller vor
hergegangenen Anstrengungen , das Geschehnis der Erscheinung Christi in
Analogie zu anderen Geschehnissen der Vergang.enheit zu verstehen?
Dieses sind, einerseits, die Schwierigkeiten, die sich bei einer zusammen
fassenden Prüfung der Begriffe objektive Realität und reale Geschichtlichkeifergeben, die von der Tradition angewandt werden, um das Geschehnis der
Erscheinung Christi als Tatsache der Vergangenheit zu definieren. Nicht geringer zeigen sich die Schwierigkeiten, die einer begrifflichen Bestimmung desGlaubens innewohnen. Der Glaube wird folgendermaßen konzipiert: einer
seits findet er Begründung und Vollendung im Offenbarungsgeschehen,andrerseits aber geht er über dessen objektive Historizität hinaus, weil er
sich nicht allein auf sie begründen kann. Die traditionelle Auffassung steht
vor einer jahrhundertealten Schwierigkeit, die aus dem Konflikt zweier völlig
verschiedener Verhaltensweisen - die kaum integrierbar, wenn auch immer
miteinander verbunden - dem Verständnis des Glaubens gegenüber her
vorgeht. Einerseits hält man es für unvermeidlich, die Verkündigung desNeuen Testamentes als Voraussetzung und Fundament des Glaubens zu
interpretieren, um den Glauben selbst, .wie wir ges·ehen haben, vor jeder
Gefahr des Subjektivismus zu schützen. Andrerseits sucht man auf jede
Weise die in der Ausgangsposition enthaltenen letzten Konsequenzen zu
vermeiden, d. h. den Glauben als ein bloßes Für-Wahr-Halten eines histo
rischen Geschehenszu konzipieren.
Die hervorgehobenen Schwierigkeiten in der traditioneUen Auffassung,
seien es jene in Bezug auf die Begriffe objektive Realität und objektive
Historizität, seien es jene in Bezug auf das Glaubensverständnis, sind von
Bultmann auf eine einzige Ursache zurückgeführt worden, auf die, wie er
sie nennt, metaphysische Interpretation der christlichen Offenbarung. Es
bedürfe- so meint Bul tmann- nicht vieler Worte, um zu zeigen, wie sichdiese Interpretation auf völlig unkritische Weise seit Jahrhunderten in der
traditionellen Auffassung erhalten hat, und es sei nötig, sie aufzugeben und
durch ein radikal-neues, d. h. das geschichtliche Verständnis, zu ersetzen,
wolle man die genannten .Schwierigkeiten überwinden.Die metaphysische Interpretation der Offenbarung in der traditionellen
Auffassung begehe - so meint Bultmann - einen fundamentalen Irrtum,
16 Castelli
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242 FRANCO BIANCO
indem sie den eigentlichen Charakter des Menschen ignoriert. In der tradito-
nellen Auffassung - so meint Bultmann - wirkt ein metaphysisches
Verständnis des Menschen, ein Verständnis, das nicht fähig ist, dem
Grundcharakter des Menschen Rechnung zu tragen, ihn in seiner Ge-
schichtlichkeit zu verstehen. Die gesamte abendländische Tradition habe
in ihren verschiedenen Formen die fundamentale Geschichtlichkeit des Men-
schen ignoriert, in dem sie ihn auf Grund metaphysischer Begriffe inter-
pretiert, die in keiner Weise seiner wirklichen Natur entsprechen. Unter
diesem Gesichtspunkt haben sowohl das klassische Altertum als das Mittel-
alter und auch das moderne Zeitalter metaphysische Auffassungen ent-
wickelt, die den Menschen nacheinander als Substanz bestimmt durch Akzi-
dente, als ein Sein, das aus Seele und Körper besteht, als Geist oder als
Materie interpretiert, niemals aber als individuf!lle, verantwortliche ge-
schichtliche Person.Nur im Urchristentum habe das Merkmal der Geschichtlichkeit des
Menschen entdeckt und befestigt werden können, erstickte .aber bald in
der christlichen Tradition selbst, weil es an angemessenen, begrifflichen Aus-
drucksmitteln fehlte. Die griechische Konzeption habe - meint Bultmann - dieses Merkmal entstellt und .ausgelöscht, indem sie das Verständnis desMenschen in erneuerte, metaphysische Formen zurückfallen ließ. Ihr Einfluß
habe aber die christliche Urkonzeption nicht hindern können, im Innern wieHefe zu wirken, fähig, das Problem, das in den Anfängen des Christentums
entstanden ist, wieder hervorzuheben, sei es auch auf einem unendlich viellängeren und qualvollen Wege. Durch das Heraus.bilden eines neuen ge
schichtlichen Bewußtseins zu Beginn des modernen Zeitalters und durch das
Wiedererwachen eines besonderen Geschichtssinnes in der Romantik habe die
zeitgenössische Auffassung von neuem die Frage nach dem eigentlichen Seindes Menschen gestellt, indem sie den verborgenen Sinn des chris.tlichen
Selbstverständnisses wiederentdeckte.
Angesichts dieser wirklichen oder behaupteten Wiederentdeckung des
christlichen Verständnisses, erhebt Bultmann gegen die Tradition den An-
spruch, die christliche Botschaft und das menschliche Sein im Allgemeinen zu
verstehen.· Das Menschenverständnis in der traditionellen Auffassung ist
metaphysisch, weil sich der Bezug zwischen dem Gläubigen und den Glau-bensinhalten in einem philosophischen Schema vollzieht, das den Menschen
zum Subjekt macht und alles, was sich von ihm unterscheidet, zum Objekt:
auf diese Weise nimmt es sowohl dem Menschen wie auch der objektiven
Welt jedes Merkmal der Geschichtlichkeit. Metaphysisch ist auch die traditio-
nelle Interpretation der christlichen Botschaft, weil sie die objektive Tai-
sächlichkeit des Offenbarungsgeschehens als Ereignis der Vergangenheit
garantieren will, anstatt aufzuzeigen, daß sie ein Appell an die Geschichtlich
keit des Menschen ist, und folglich selbst ein geschichtliches Geschehen und
nicht ein .bloß objektives Ereignis der Vergangenheit.
Wir müssen jetzt aber näher untersuchen, was dieser Begriff Geschichtlich-keif bedeutet, auf den wir uns während der Herausstellung der von Bultmann
gegen die Tradition geführten Anklagen dauernd bezogen ·haben. Es is t
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DIE ENTMYTHOLOGISIERUNG ALS VERGESCHICHTLICHUNG 243
offensichtlich schon auf Grund dessen, was wir gesagt haben, daß das
ganzf> Gebäude der Entmythologisierung in letzter Analyse auf jenem Begriff ruht, von dessen Gültigkeit also die Gültigkeit der Bultmannsehen
Auffassung in ihrer Gesamtheit abhängt. Der Begriff Geschichtlichkeit hat,
wie bekannt ist, im Verlauf der modernen und zeigenössischen Geschichte der
Philosophie eine Vielfalt von Anwendungen und Bedeutungen erfahren.
Bultmann versteht und gebraucht ihn ganz eindeutig in jenem neuen Sinn,
der in der Auffassung Heideggers seinen Ursprung hat, genau gesagt, ir..
dessen erstem bedeutendem Werk: "Sein und Zeit". ß.eim frühen Heideggerwird der Begriff Geschichtlichkeit im Hinblick auf die fundamentale, onto-
logische Struktur des menschlichen Seins, auf seine eigene Seinsweise ge
braucht, die auch als Existenz definiert wird. In diesem Sinn kann man also
sagen, daß der Begriff "Geschichtlichkeit" hier nicht irgendeine zufälligeSeinsweise des Menschen bezeichnet, auf Grund derer der Mensch selber
eine Geschichte haben, zurückblicken, und die Vergangenheit untersuchen
kann, während sein Grundwesenszug der gleiche und Sein als Subjekt, oder
Seele, oder Geist, oder Materie unverändert bleibt. Die Geschichtlichkeit,von d ~ r Heidegger und Bultmann reden, ist im Gegensatz dazu nicht z u f ä l l i ~ ; J .sondern eine Wesensbestimmung des Menschen: sie bezeichnet nicht eineseiner Eigenschaften, sondern eine spezifische und absolut individuelleSeinsweise. Dieser Konzeption gemäß kann der Mensch nicht nach seinem
Willen und Gefallen eine Beziehung zur Geschichte herstellen, wobei er
selbst unabhängig und außerhalb von der Geschichte existierte. Nach der Auf-
fassung Heideggers kann der Mensch niemals als außerhalb und über der
Geschichte stehend konzipiert werden, denn ohne die. Geschichte wäre er
nicht das, was er wirklich ist. Der Mensch ist in der Tat die dauernde, unerschöpfliche Möglichkeit der Wahl seiner ureigenen Möglichkeiten und
gleichzeitig das Wissen um diese Möglichkeiten: offen für die Zukunft, so
weit er Entwurf, Projekt, Durchgang durch eine bereits vollendete Wahl ist;in diesem Sinn also is t er Existenz.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß der Begriff "Geschichtlichkeit" in der
Daseinsanalytik eine konstitutionelle Struktur des Menschen definiert, daß er
als ontologischer und nicht bloß als ontischer Begriff gemeint ist, also daß er
das Wesen der menschlichen Existenz ausdrückt und nicht eine seiner zufälligen Eigenschaften. Diese Begriffsbestimmung erlaubt Bultmann zu behaupten, daß die moderne Auffassung mit Heidegger das metaphysische Verständnis des Menschen überwunden hat, indem sie wieder entdeckte, daß der
Mensch ein Wesen ist, das sein Sein nur als Existenz, nur als Wahl seiner
Möglichkeiten verwirklichen kann, indem er in einer konkreten, geschichtlichen Situation, in letzter Analyse also in und gegenüber der Geschichte inihrer Gesamtheit existiert. Das bedeutet: der Mensch wird hier zum ersten
Mal seit der Konzeption des Urchristentums als verantwortliches Wesen
konzipiert, verantwortlich nicht nur für seine jeweilige Wahl, für seine Ent-
scheidungen, sondern auch für die Existenz, die in dieser Wahl Gestalt gewinnt und für die Geschichte, die die Summe der Entscheidungen aller In -
dividuen ist. Es ist der Begriff der Verantwortlichkeit des Menschen gegen-16*
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244 FRANCO BIANCO
über sich selbst und der Geschichte, die es Bultmann erlaubt, von einer Ana-logie zwischen der ontologischen Struktur im Sinne Heideggers und demeigentlichen Verständnis des Menschen im Urchristentum zu sprechen.
Tatsächlich meint Bultmann, daß die christliche Botschaft in ihrer eigent
lichen Form die menschliche Existenz schon in ihrer Ge.s.chichtlichkeit gesehen und bestätigt habe, d. h., in ihrer strukturellen Bedingung, der gemäßder Mensch nur in der Verantwortlichkeit für seine Entsch·eidungen und folg
lich für die Geschichte, letztlich für seine Beziehung zur Welt und zu denanderen, existiert. Der Mensch wird also charakterisiert als ein radikal geschichtliches Wesen, begabt mit einer Verantwortung, die sich nicht im Be
reich des Handeins erschöpft, sondern die das gesamte individuelle Sein begreift. Diese Verantwortung sei zum ersten Male vom Christentum entdecktund bestätgt worden, soweit das Christentum selbst den Menschen als dieverantwortliche Ursache für das Übel in der Welt, als Folge der Sünde konzipiert hat. In der frühchristlichen Konzeption der Sünde verbirgt sich also
- so meint Bultmann - die erste Bestätigung des radikal geschichtlichend. h. verantwortlichen Charakters menschlichen Seins.
Hieraus ergibt sich, wie gesagt, in eindeutiger Weise die Identität,die nach Bultmann besteht, zwischen dem eigentlichen Menschenverständ-nis des .Urchristentums und dem Verständnis der menschlichen Exi
stenz, wie sie in "Sein und Zeit" ausgedrückt wird. Diese Identität is t in derInterpretation des Heideggerschen Begriffes Geschichtlichkeif als Verantwor-
tung begründet. Gerade weil die Geschichtlichkeit des Menschen, von derHeidegger spricht, bei Bultmann als Verantwortung aufgefaßt wird, is t esdem Autoren der Entmythologisierung möglich, von einer wesentlichen Über-einstimmung zwischen dem Urchristentum und der Existenzphilosophie zusprechen. Angesichts der Tatsache, daß das gesamte Gebäude der Entmytho-logisierung als existentiale Interpretation des Neuen Testamentes auf diesewahre oder behauptete Übereinstimmung gegründet ist, wird verständlich,daß wir hier vor einem Problern stehen, das für die Bewertung der Möglichkeit einer Entmythologisierung fundamentale Wichtigkeit besitzt, vor einemProblem, das die Wurzeln und philosophischen Voraussetzungen der gesamtenAuffassung umfaßt.
Kann der Begriff Geschichtlichkeit, wie er in "Sein und Zeit" heraus.gearbeitet wird, zurückgeführt werden auf den Begriff Verantwortung oderdurch ihn interpretiert werden? Und vor allem: welche Rolle spielt der Be
griff Verantwortung in der Auffassung Bultmanns? Die Antwort auf dieerste Frage, die eine gründliche Prüfung der Heideggerschen Auffassung ver-langt, kann nicht im Rahmen dieser Arbeit gegeben werden. Sie würde eineAuslegung der Grundbegriffe der ontologischen Analyse fordern, die hiernicht durchführbar ist. Uns genügt es, das Problern herauszustellen. In Be
zug auf die zweite Frage is t dagegen vielleicht der Versuch möglich, die Auf-fassung Bultmanns zum Begriff Verantwortung besser zu beleuchten, um so
zu einem tieferen Verständnis des Standpunktes zu gelangen, von dem dieEntmythologisierung ausgeht.
Es is t vor allem klar, daß der Bultmannsehe Begriff Verantwortung, auf
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DIE ENTMYTHOLOGISIERUNG ALS VERGESCHICHTLICHUNG 245
Grund dessen der Mensch als verantwortlich für sein Verhältnis zur Welt,
konzipiert wird, ein Verständnis des Mensch-Welt-Verhältnisses enthält und
fordert, das sich wesentlich von der traditionellen Auffassung unterscheidet.
Bultmann erklärt ausdrücklich, der Sinn seiner Behauptung von der Ge
schichtlichkeit und Verantwortung des Menschen bestände darin, das alte Begriffsschema, das auf dem Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt be
gründet ist, zu überwinden und aufzuzeigen, daß es in keiner Weise die tat
sächliche Situation des Menschen widerspiegelt. Das Schema: Subjekt-Objekt
fordert in der Tat die Unterscheidung und die Isolierung von Mensch und
Welt. Diese Ausgangssituation sucht man dann dunh die Analyse und Be
gründung des Erkenntnisprozesses zu überwinden. Die Erkenntnis wird auf
diese Weise die einzige Art und Möglichkeit des Menschen, aus der Isolie
rung herauszutreten und in Verbindung mit der Welt zu kommen. Der Be
weis des wirklichen Wertes dieses Heraustretens des Menschen aus sich selbst ,
d. h. des wirklichen Wertes des Erkenntnisprozesses, birgt so erhebliche
Schwierigkeiten, daß man, wenn man einmal jene Voraussetzungen angenom
men hat, zugeben muß, daß die Isolierung von Subjekt und Objekt kaum
aufhebbar ist. Dieser Schlußfolgerung entspricht aber keineswegs - sagt
Bultmann - die wirkliche Situation des Menschen in seinem Verhältnis zur
Welt. Anstatt isoliert zu sein, ist der Mensch von j eher mit der Welt verbun
den und hat es deshalb nicht nötig, eine Verbindung zu ihr mit Hilfe seiner
Erkenntnisfähigkeiten herzustellen. Die Erkenntnis repräsentiert also nicht
eine Brücke zu den Dingen: im Gegenteil, die Erkenntnis ist eine abge
leitete und sekundäre Form des existenziellen Bezuges des Menschen zur
Welt. Der Mensch wäre nicht das, was er ist, hätte er nicht diesen inneren
Bezug zur Welt, bedeutete sein Dasein nicht die!Oes In-der·Welt-sein.Was immer die Bedeutung dieser philosophischen Voraussetzungen sei,
die sich grundlegend von denen der traditionellen Auffassung unterscheiden,
eines wird sofort klar: wenn die Hypothese des isolierten, vom Objekt ge
trennten Menschen wahr ist, so fällt damit jede Möglichkeit, von einer Ver
antwortung des Menschen für die Welt und für die Verwirklichung seines
Bezuges zu ihr zu sprechen. Das Subjekt ist - laut Definition - dem Ob
jekt wesensfremd und kann niemals wesensmäßig vom Objekt verändert
werden, wie auch immer das Objekt gesehen und erfaßt wird. Der Bezug
Subjekt-Objekt nimmt niemals den Charakte·r eines Ereignisses an, das die
Seinsweise des Subjekts verändern könnte. Das bedeutet aber, daß das Sub
jekt für das Objekt nicht verantwortlich ist noch sein kann, daß der Mensch,
mit anderen Worten, für die Welt nicht verantwortlich ist noch sein kann.
Deshalb also klagt Bultmann die traditionelle Interpretation des christlichen
Kerygmas der absoluten Unfähigkeit an, den eigentlichen Sinn der Botschaft
zu begreifen; er wirft ihr vor, in einer Metaphysik befangen zu bleiben, die
nichts gemein hat mit dem ursprünglichen Christentum. Wenn es wahr ist,
daß das Christentum zum ersten Male in der Geschichte die radikale ver
antwortlicheGeschichtlichkeit
des Einzelnen ausspricht, wenn andererseits
die traditionelle Auffassung prinzipiell die Dimension der Verantwortung
ausschaltet, so wird offensichtlich, daß durch Unsicherheit, Kompromisse und
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246 FRANCO BIANCO
Schwierigkeiten jeder Art die traditionelle Interpretation des Christentums
unvermeidlich dazu geführt hat, das eigentliche Wesen und die fundamentale
Entdeckung des christlichen Menschenverständnisses - in letzter Analyse
des Kerygmas selbst - zu vernachlässigen. .Hiermit - so meinen wir - sind die Gründe genügend beleuchtet worden,
mit denen Bultmann dem traditionellen, metaphysischen Verständnis deschristlichen Glaubens widersprechen will mit einem geschichtlichen Verständnis des Glaubens selbst und der Realität, auf die er gegründet ist.Dieses Verständnis wird möglich durch eine ebenfalls. geschichtliche statt
metaphysische Interpretation der menschlichen Natur, von der, - in letzter
Analyse, - die gesamte Auffassung Bultmanns abhängt. Wir haben tatsächlich schon zu Eingang behauptet, daß ein definitives Urteil über die Gren-
zen und den philosophischen Inhalt der Entmythologisierung nur gegebenwerden kann auf Grund einer vergleichenden Prüfung der HeideggerschenAuffassung und des Bultmannsehen Ansatzpunktes. An dieser Stelle scheintuns jedoch eine Behauptung erlaubt, auch wenn wir damit in etwa einer
speziellen, gründlichen Besprechung des Themas vorgreifen. Die radikale
Herausarbeitung der Geschichtlichkeit bei Bultmann durch die Zurückführung
des Kerygmas auf seine wesentliche Bedeutung kann nicht als. eine Zurückführung der realen Glaubensfundamente in den anthropologischen oder subjektivistischen Bereich 'Verstanden werden, gerade weil sie im Rahmen der
ontologischen Analyse geschieht. Eine derartige Auslegung der AnschauungBultmanns würde bedeuten, daß man auch die Heideggerschen -Motive alsanthropologisch und subjektivistisch versteht: eine Auffassung, die unserer
Meinung nach völlig unhaltbar ist.Was bleibt also von der Anklage, die die Tradition gegen Bultmann er
hebt? Es bleibt das entsprechende und lebhafte Zeugnis eines radikalen Un-
terschiedes im Verständnis der Geschichte und der Bezüge zwischen dem
Mensclie.n und seiner Geschichte. Der Sinn und das Ziel unserer bisherigenArgumentation bestand darin, diesen Unterschied hervorzuheben undj ihn
in Bezug auf die jeweiligen philosophischen Voraussetzungen zu erklären.Man könnte an dieser Stelle geltend machen, daß wir die Voraussetzungen
der traditionellen Auffassung sehr ausführlich geprüft haben, während wir
der kritischen Untersuchung in Bezug auf die Gedanken Bultmanns nicht dengleichen Raum widmeten. Wir haben also die Schwierigkeiten und die Wider··sprüche der traditionellen Interpretation des Christentums zusammengefaßt
und hervorgehoben, aber wir haben die neue, von Bultmann ausgearbeitete
und vorgeschlagene Konzeption nicht im Hinblick auf ihre Ziele und ihre
Auslegung befragt. Wenn es, mit anderen Worten, wahr ist, daß die traditio-
nelle Interpretation, befangen in einer unangemessenen Konzeption, der
wirklichen Situation des Menschen und der konkreten Weisen seiner
Glaubenserfahrung nicht Rechnung tragen kann, so bedeutet das noch nicht,daß die von der existentialen Interpretation vorgeschlagene Lösung in der
Lage ist, uns eine erschöpfende Antwort zu diesen Problemen zu geben.Die Frage, die unsere Analyse offenläßt, kann daher folgendermaßen for
muliert werden: haben wir ausreichend überzeugende Motive, um den Men-
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sehen als radikal geschichtliches Wesen zu verstehen und analog dazu den
christlichen Glauben als eine geschichtliche Realität frei von jeder Bindung
oder Garantie durch ein Ereignis der Vergangenheit? Und was bedeutet
geschichtliche Wirklichkeit? Der Leser möge uns zugestehen, daß wir hier
vor Problemen stehen, die in einem gewissen Sinn über die Auffassung Bultmanns und die Entmythologisierung hinausgehen. Diese Probleme zeigen
noch einmal auf, wie eng die Richtungen der ontologischen Analyse von
"Sein und Zeit" und der Untersuchungen Bultmanns miteinander verbunden
sind durch die Tatsache, daß sich sowohl die Auffassung Heideggers als auchdie Bultmanns in einem einzigen Urteil treffen.
· Abschließend ist es vielleicht angebracht, klar zu sagen, daß die Antwort
auf die oben gestellten Fragen - wenigstens nach unserer Meinung- weder
tinfach noch einheitlich ausfällt. Gleichzeitig ist aber hervorzuheben, daß
die auftauchenden Schwierigkeiten bei dem Versuch, eine endgültige Stellungnahme Bultmann gegenüber zu beziehen, identisch sind mit den charakte
ristischen Schwierigkeiten des aktuellen philosophischen Standpunktes.
Wenn wir für einen Augenblick den Blickkreis erweitern und die Frage
unter einen allgemeinen Gesichtspunkt stellen, so müssen wir genau wieBultmann feststellen, wie unzureichend gewisse Auffassungen, gewisse Be
griffe und gewisse Denkweisen sind, die wir von der Tradition übernommen
haben. Jeden Tag fühlen wir deutlich, und gelegentlich sogar auf dramatische
Weise, daß unsere konkreten Bezüge zu der Welt, zu den anderen, zu uns
selbst und zur Zeit nicht faßbar sind in der alten Begrifflichkeit, weil diesenicht mehr unserer gelebten Erfahrung entspricht. Wenn wir jedoch von der
kritischen Phase zur konstruktiven übergehen, wird uns klar, daß wir viele
Mittel zur Verfügung haben, großes Wissen und geniale Einfühlungsgabe,
daß mir uns aber trotzdem vor Schwierigkeiten befinden, die weder leicht zu
nehmen, noch einfach zu überwinden sind. Können wir ohne weiteres diephänomenologisch-existentialen Formulierungen in Bezug auf den Charakter
der radikalen Geschichtlichkeit der Existenz annehmen? Kann diese Wesensbestimmung der Geschichtlichkeit so verstanden werden, daß ihre Anwen
dung in der Interpretation der christlichen Botschaft berechtigt ist? Oder
müssen wir den Begriff Geschichtlichkeit von eineni völlig anderen Gesichts
punkt aus verstehen, unter dem nicht der Begriff Verantwortung - den
Bultmann im Hinblick auf seine hermeneutischen Ziele einführt - als um
fassend und bestimmend erscheint, sondern z. B. der Begriff der radikalen
Begrenztheit des Menschen, die Heidegger durch das Sein-zum-Tode auf seine
Weise ausdrücken will?Abgesehen von jedem Problem, das sich durch das Studium und die Inter
pretation der Bultmannsehen Auffassung ergibt, scheint es uns abschließendberechtigt, dem Autoren der Entmythologisierung das Verdienst zuzuerken
nen, von neuem die fundamentalen Fragen in Bezug auf das Verständnis
unserer Existenz aufgeworfen zu haben, sei es auch im Rahmen einer begrenzten Thematik. Schon allein in der Tatsache, daß hier diese Probleme
gesehen werden, liegt die Bestätigung für die unbestreitbare und lebhafte
Aktualität der Entmythologisierungsproblematik nicht nur im theologischen
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248 FRANCO BIANCO
sondern auch im philosophischen Bereich. Durch die Bultmannsehe Fragestel-lung erneuert sich in der Tat die Diskussion um die Lösung aller Fragen, indenen das zeitgenössische Denken fortschreitend seine eigene Gestalt zagewinnen beginnt 1•
Franeo Bianco
(Übersetzung E. M. Jaeger)
1 Im nachfolgenden Band KERYGMA UND MYTHOS V I- 2* wird der Versuchgmacht, die philosophischen Voraussetzungen der Entmythologisierung näher zuuntersuchen, indem die Bultmann'sche Fragestellung auf das Problem der Geschichtehin interpretiert wird.
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9. Kerygma und Mythos VDie Diskussion der katholischen Theologie
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13. Eschatologie und GeschichtePfarrer Dr. theol. Johannes Körner-Gießen
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