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K. Benirschke • Department of Pathology, University of California, San Diego, USA Klassifikation und Plazentationsverhältnisse bei der Mehrlingsgravidität* Zum Thema Die Beurteilung der Chorion-Amnion-Ver- hältnisse läßt wichtige Rückschlüsse auf die genetische Verwandtschaft und damit für die Differentialdiagnose zwillingstypischer Krankheitsbilder zu; 80 % aller Zwillings- plazenten sind dichorial-diamnial; 35 % die- ser Kinder haben ein unterschiedliches Ge- schlecht und sind dizygot. Genotypanalysen zeigen, daß lediglich 8 % der 45 % gleichge- schlechtlichen Feten monozygot sind, wäh- rend 37 % zweieiig sind. Gefäßanastomosen kommen bei dichorialen Plazenten fast nie vor. 20 % aller Zwillingsplazenten sind mo- nochorial, davon wiederum nur jede 10. Pla- zenta auch monoamnial. Monochoriale Pla- zentationsverhältnisse weisen immer auf Monozygotie hin. Die Membranverhältnisse bei Mehrlingen sind postpartal makrosko- pisch leicht beurteilbar und sollten stets im Krankenblatt dokumentiert werden. Der makroskopische Befund sollte stets auch hi- stologisch bestätigt werden. Dabei läßt der Nachweis dichorial-diamnialer Membranver- hältnisse mit 90 %iger Wahrscheinlichkeit die Diagnose der Dizygotie zu. Wird diese neben der Geschlechtsidentifikation leicht durchführbare Untersuchung nach der Ge- burt versäumt, bleibt die Klärung des Ver- wandtschaftsgrades häufig erst später mög- lichen, aufwendigen Analysen des Geno- und Phänotyps vorbehalten. Aufgrund des in den letzten Jahren vermehrten Einsatzes von Techniken der assistierten Reproduktion wird der Geburtshelfer zunehmend häufiger mit Mehrlingsschwangerschaften konfron- tiert. Zur Geburtsbetreuung sollte auch die postpartale Beurteilung der Plazenta als sine qua non gehören. Die sachge- mäße Untersuchung der Plazenta ist nicht nur für den Ausschluß bzw. die Diagnose zwillingsspezifischer Auffäl- ligkeiten [z. B. Abgrenzung des fetofeta- len Transfusionssyndroms (FFTS) vom diskordanten Wachstum] wichtig, son- dern auch für die ursächliche Abklä- rung der bei Mehrlingen gegenüber nor- malen Geburten erhöhten perinatalen Morbidität und Mortalität. Darüber hinaus ergeben sich bei Mehrlingen aus der Beurteilung der Plazenta rasch ver- fügbare, wesentliche Hinweise auf die genetische Verwandtschaft. Dabei steht für Geburtshelfer, Pädiater und natür- lich auch die Eltern insbesondere bei Gleichgeschlechtlichkeit der Kinder die Frage nach der Zygotie im Vordergrund. Im folgenden sollen der gegenwärtige Wissensstand über die Embryologie und Pathologie der Plazentation bei Mehrlingen wiedergegeben und Vor- schläge zur postpartalen Untersu- chungstechnik gemacht werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daß prinzipiell alle Plazenten postnatal untersucht werden sollten. Aufgrund der großen Anzahl normaler Geburten von eutrophen Kindern am Termin muß in der Regel eine Auswahl getroffen werden. In unserer Abteilung hat es sich eingebürgert, alle Plazenten in einem mit Namen und Geburtsdatum der Patientin versehenen Karton oder Beutel im Eisschrank für eine Woche aufzubewahren. Jeden Tag werden dann diejenigen Plazenten entsorgt, die schon vor einer Woche gesammelt wur- den und an deren Untersuchung auf- grund des regelrechten Schwanger- schafts- und Geburtsverlaufes kein be- sonderes Interesse besteht. Auf diese Weise können alle Plazenten erfaßt wer- den, deren pathologische Untersuchung klinisch oder wissenschaftlich bedeut- sam ist. Wichtig ist in diesem Zusam- menhang, daß die Plazenta kaum Auto- lyse zeigt, so daß histopathologische Untersuchungen auch noch nach einer Woche sinnvoll durchführbar sind. Le- diglich das Plazentagewicht vermindert sich aufgrund der langsamen Serumex- pression etwas. Embryologie der Entwicklung von Zwillingsplazenten Dizygote Gemini Prinzipiell haben dizygote Gemini im- mer 2 Plazenten. Diese können entwe- der voneinander getrennt liegen oder aber, wenn sich die Blastozysten neben- einander im Cavum uteri implantieren, zu einem Organ verschmelzen. Dabei betrifft die Verschmelzung nur den Zot- tenbereich, nicht aber das Chorion mit den darin befindlichen fetalen Gefäßen. Obwohl man bei der postpartalen Un- tersuchung der gemeinsamen Plazenta 198 Der Gynäkologe 3·98 Gynäkologe 1998 · 31:198–202 Springer-Verlag 1998 Zum Thema * Bearbeitet von G. Crombach, Düsseldorf. Prof. K. Benirschke Pathology & Reproductive Medicine, University of California, San Diego, University Medical Center, 200 West Arbor Drive, San Diego, CA 92103–8321, USA

Klassifikation und Plazentationsverhältnisse bei der Mehrlingsgravidität

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Page 1: Klassifikation und Plazentationsverhältnisse bei der Mehrlingsgravidität

K. Benirschke · Department of Pathology, University of California, San Diego, USA

Klassifikation undPlazentationsverhältnisse beider Mehrlingsgravidität*

Zum Thema

Die Beurteilung der Chorion-Amnion-Ver-hältnisse läût wichtige Rückschlüsse auf diegenetische Verwandtschaft und damit fürdie Differentialdiagnose zwillingstypischerKrankheitsbilder zu; 80 % aller Zwillings-plazenten sind dichorial-diamnial; 35 % die-ser Kinder haben ein unterschiedliches Ge-schlecht und sind dizygot. Genotypanalysenzeigen, daû lediglich 8 % der 45 % gleichge-schlechtlichen Feten monozygot sind, wäh-rend 37 % zweieiig sind. Gefäûanastomosenkommen bei dichorialen Plazenten fast nievor. 20 % aller Zwillingsplazenten sind mo-nochorial, davon wiederum nur jede 10. Pla-zenta auch monoamnial. Monochoriale Pla-zentationsverhältnisse weisen immer aufMonozygotie hin. Die Membranverhältnissebei Mehrlingen sind postpartal makrosko-pisch leicht beurteilbar und sollten stets imKrankenblatt dokumentiert werden. Dermakroskopische Befund sollte stets auch hi-stologisch bestätigt werden. Dabei läût derNachweis dichorial-diamnialer Membranver-hältnisse mit 90 %iger Wahrscheinlichkeitdie Diagnose der Dizygotie zu. Wird dieseneben der Geschlechtsidentifikation leichtdurchführbare Untersuchung nach der Ge-burt versäumt, bleibt die Klärung des Ver-wandtschaftsgrades häufig erst später mög-lichen, aufwendigen Analysen des Geno-und Phänotyps vorbehalten.

Aufgrund des in den letzten Jahrenvermehrten Einsatzes von Technikender assistierten Reproduktion wird derGeburtshelfer zunehmend häufiger mitMehrlingsschwangerschaften konfron-tiert. Zur Geburtsbetreuung sollte auchdie postpartale Beurteilung der Plazentaals sine qua non gehören. Die sachge-mäûe Untersuchung der Plazenta istnicht nur für den Ausschluû bzw. dieDiagnose zwillingsspezifischer Auffäl-ligkeiten [z. B. Abgrenzung des fetofeta-len Transfusionssyndroms (FFTS) vomdiskordanten Wachstum] wichtig, son-dern auch für die ursächliche Abklä-rung der bei Mehrlingen gegenüber nor-malen Geburten erhöhten perinatalenMorbidität und Mortalität. Darüberhinaus ergeben sich bei Mehrlingen ausder Beurteilung der Plazenta rasch ver-fügbare, wesentliche Hinweise auf diegenetische Verwandtschaft. Dabei stehtfür Geburtshelfer, Pädiater und natür-lich auch die Eltern insbesondere beiGleichgeschlechtlichkeit der Kinder dieFrage nach der Zygotie im Vordergrund.Im folgenden sollen der gegenwärtigeWissensstand über die Embryologieund Pathologie der Plazentation beiMehrlingen wiedergegeben und Vor-schläge zur postpartalen Untersu-chungstechnik gemacht werden.

In diesem Zusammenhang ist eswichtig, daû prinzipiell alle Plazentenpostnatal untersucht werden sollten.Aufgrund der groûen Anzahl normalerGeburten von eutrophen Kindern amTermin muû in der Regel eine Auswahlgetroffen werden. In unserer Abteilunghat es sich eingebürgert, alle Plazentenin einem mit Namen und Geburtsdatumder Patientin versehenen Karton oderBeutel im Eisschrank für eine Woche

aufzubewahren. Jeden Tag werdendann diejenigen Plazenten entsorgt, dieschon vor einer Woche gesammelt wur-den und an deren Untersuchung auf-grund des regelrechten Schwanger-schafts- und Geburtsverlaufes kein be-sonderes Interesse besteht. Auf dieseWeise können alle Plazenten erfaût wer-den, deren pathologische Untersuchungklinisch oder wissenschaftlich bedeut-sam ist. Wichtig ist in diesem Zusam-menhang, daû die Plazenta kaum Auto-lyse zeigt, so daû histopathologischeUntersuchungen auch noch nach einerWoche sinnvoll durchführbar sind. Le-diglich das Plazentagewicht vermindertsich aufgrund der langsamen Serumex-pression etwas.

Embryologie der Entwicklungvon Zwillingsplazenten

Dizygote Gemini

Prinzipiell haben dizygote Gemini im-mer 2 Plazenten. Diese können entwe-der voneinander getrennt liegen oderaber, wenn sich die Blastozysten neben-einander im Cavum uteri implantieren,zu einem Organ verschmelzen. Dabeibetrifft die Verschmelzung nur den Zot-tenbereich, nicht aber das Chorion mitden darin befindlichen fetalen Gefäûen.Obwohl man bei der postpartalen Un-tersuchung der gemeinsamen Plazenta

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Gynäkologe1998 ´ 31:198±202 � Springer-Verlag 1998 Zum Thema

* Bearbeitet von G. Crombach, Düsseldorf.

Prof. K. BenirschkePathology & Reproductive Medicine,University of California, San Diego,University Medical Center, 200 West Arbor Drive,San Diego, CA 92103±8321, USA

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die beiden Zottenbereiche meist nichtmehr deutlich voneinander trennenkann, verwachsen die beiden Chorienbzw. die in ihnen verlaufenden Gefäûenicht miteinander. Dizygote Mehrlingemit einer dichorialen Plazenta entste-hen durch Polyovulation. Dabei kommtes häufig vor, daû die trennenden Cho-rien nicht genau über dem Areal der ver-schmolzenen Zottenbezirke liegen.Durch unterschiedliche intraamnialeDruckverhältnisse können sich die Ur-sprungsstellen der Membranen ver-schieben.

Monozygote Gemini

Bei eineiigen Zwillingen können so-wohl mono- als auch dichoriale Plazen-ten entstehen. Eine Spaltung des frühenEmbryos ist wahrscheinlich nur wäh-rend der ersten 2 postkonzeptionellenWochen möglich. Nach diesem Zeit-raum hat sich eine Embryonalachseentwickelt, deren Trennung nicht mehrdenkbar ist. Eine frühe Spaltung inner-halb der ersten 2±3 Tage nach der Be-fruchtung (Morula-Stadium) führtauch bei monozygoten Zwillingen zudichorialen Plazenten. Ab dem 4. Ent-wicklungstag trennen sich Embryo-blast und Trophoblast voneinander,und es kommt zur Entstehung einer

Blastozyste. Die Blastozystenhöhlekann sich bei der Spaltung zu Gemininicht mehr trennen. Deshalb sind diesich nach diesem Zeitpunkt trennen-den Zwillinge immer von einer gemein-samen Chorionhöhle umgeben, alsomonochorial. Wenn die Trennung derGemini erst nach der Entwicklung derAmnionhöhle erfolgt, die ebenfallsnicht mehr gespalten werden kann,kommt es zu einer monochorialen ±monoamnialen Zwillingsplazenta (abdem 8. postkonzeptionellen Tag). Daszeitliche Schema der Zwillingsentste-hung mit den daraus resultierendenChorion- und Amnionverhältnissen istin Abb. 1 dargestellt.

Aufgrund simultaner pathologi-scher und genetischer Untersuchungenweiû man, daû etwa 1/3 der monozygo-ten Gemini eine dichoriale Plazentahat, während 2/3 eine monochoriale Pla-zenta aufweisen. Die monochorial-mo-noamnialen Plazenten sind sehr seltenund kommen nur bei etwa 1±3 % allerZwillinge vor. Die Seltenheit (ca.1:3000±9000 Geburten) erklärt sichdurch die zunehmende Schwierigkeitder Spaltung mit fortschreitender Em-bryonalentwicklung. Noch seltenersind die Doppelbildungen (¹siamesi-sche Zwillingeª), die durch eine inkom-plette Embryonalspaltung zwischen

dem 12. und 14. postkonzeptionellenTag entstehen (ca. 1:45 000 Geburten).

Die Häufigkeit der unterschiedli-chen Plazentationsverhältnisse und dieKorrelation zur genetisch bestimmtenZygotie wurden 1968 von Cameron [2]untersucht. Von 668 Zwillingspaarenwaren 35 % aufgrund ihres unterschied-lichen Geschlechts als dizygot anzuse-hen. Weitere 20 % wiesen monochorialePlazenten auf, was für Monozygotiesprach. In 45 % der Fälle waren die Kin-der gleichgeschlechtlich und ihre Pla-zenten dichorial. Die Genotypanalysezeigte, daû 8 % dieser Kinder monozy-got und 37 % dizygot waren. Diese Un-tersuchungsreihe ist bis heute nicht du-pliziert, da die bei Gleichgeschlechtlich-keit und dichorialen Plazentationsver-hältnissen erforderlichen genetischenUntersuchungen (z.B mittels Polymera-sekettenreaktion [5]) aufwendig sindund nicht routinemäûig angewandtwerden. Somit ist die genetische Ver-wandtschaft beim Groûteil der gleichge-schlechtlichen Zwillinge postnatal nichtdirekt zu klären. Andererseits trägt diemakroskopisch oft leicht mögliche Be-urteilung der Chorionverhältnisse beider Geburt in mindestens 1/5 der Fällezur frühzeitigen sicheren Beurteilungder Zygotieverhältnisse bei. Bei gleich-geschlechtlichen Zwillingen beweistMonochorialität immer, daû eineiigeZwillinge vorliegen. Diese Feststellungist besonders wichtig vor dem Hinter-

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Abb. 1~ Embryonalentwicklung und Plazentation bei monozygoten Zwillingen

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grund, daû sich monochoriale und da-mit monozygote Zwillinge durchausphänotypisch beträchtlich voneinanderunterscheiden können (z. B. Diskordanzbezüglich Wachstum oder Fehlbildun-gen) [3]. Aus diesen Gründen ist es un-serer Meinung nach zwingend, daû beiallen Mehrlingsgeburten postnatal dieChorionverhältnisse untersucht und imKrankenblatt dokumentiert werden.

Klinische Abklärung derChorionverhältnisse

Die Sonographie ermöglicht insbeson-dere in der Frühschwangerschaft mithoher Zuverlässigkeit die pränatale Be-urteilung der Chorionverhältnisse [7,15]. Selbstverständlich muû die pränata-le Diagnose postnatal überprüft wer-den. Die dichorial-diamniale Membranist i. allg. dick und undurchsichtig. Anihrem Ursprung auf der Plazentaober-fläche findet sich ein Wulst, der durchdie Stauchung der beiden aufeinanderstoûenden Zottenareale verursacht ist.Nach der Betrachtung der Trennwandkönnen die beiden Amnionschichtenmit einer Pinzette leicht von den darun-ter liegenden chorialen Membranen ab-gelöst werden. Versucht man anschlie-ûend, die beiden Chorionschichtenvoneinander zu trennen, gelangt manauf der Chorionplatte in das Zottenge-biet. Im Gegensatz dazu besteht bei dermonochorialen Zwillingsplazenta dietrennende Membran lediglich aus 2Amnionschichten, die ziemlich durch-sichtig und dünn sind. Zwischen ihnenfinden sich keine Zottenreste (Abb. 2).Bei der leicht möglichen Trennung derMembranen wird die Chorionplattenicht tangiert. Durch eine histologischeUntersuchung der in Formalin fixiertenTrennwand läût sich der klinische Ein-druck leicht sichern (Abb. 3). Dabeimuû der Pathologe beachten, daû dasAmnion nicht nur aus einem Plattenepi-

thel besteht, sondern auch eine Binde-gewebebasis besitzt. Dieses Bindegewe-be wird leider häufig mit einer Chorion-membran verwechselt. Ferner sollteman wissen, daû das Amnion keineBlutgefäûe enthält und seine Vitalitätdurch Diffusion von in der Amnionflüs-sigkeit enthaltenem Sauerstoff gewähr-leistet wird. Diese Tatsache ist von er-heblicher klinischer Bedeutung. Wennz. B. einer der beiden Zwillinge intraute-rin verstirbt, so degeneriert die entspre-chende Seite der trennenden Amnion-schicht. Sofern der betroffene Zwillingzugleich auch der führende ist, bestehteine erhöhte Disposition für einen vor-zeitigen Blasensprung.

Nach der Bestimmung der Mem-branverhältnisse erfolgt die Untersu-chung der Chorionoberfläche, auf dersich die Nabelschnurgefäûe aufzweigen.Dabei verlaufen die Arterien immerüber den Venen, verzweigen sich undmünden dann ± zu Paaren ± in einen Ko-tyledo hinein. Bei dichorialen Zwil-lingsplazenten kommen Gefäûverbin-dungen zwischen den Gemini so gutwie nie vor. Wenn es derartige Gefäûver-bindungen öfters gäbe, wären viele ver-schiedengeschlechtliche Zwillinge Blut-chimären, was aber auûerordentlich sel-ten ist. Histopathologische Untersu-

chungen bestätigen, daû solcheAnastomosen zwischen dichorialenPlazenten extrem selten nachweisbarsind. Dagegen finden sich in über 90 %der Plazenten von monochorialen Zwil-lingen Gefäûanastomosen. Am häufig-sten und auch am leichtesten erkennbarsind die arterio-arteriellen (AA-)Ver-bindungen. Die AA-Anastomosen sindleicht durch Verschiebung des Blutesvon einem Gefäûbereich in einen ande-ren mittels Fingerstrich sowie mittelsInjektion von Milch zu erkennen. Dage-gen sind die veno-venösen (VV-)Ver-bindungen wesentlich seltener. Amschwierigsten erkennbar, klinisch aberam bedeutungsvollsten sind die arterio-venösen (AV-)Verbindungen. Dabeiwird ein Kotyledo von der Arterie desersten Zwillings perfundiert und venösvom 2. Zwilling drainiert. Bei der ma-kroskopischen Betrachtung der Plazen-ta sind die AV-Verbindungen nurschwierig erkennbar, da man im Prinzipjede Endverästelung der Arterien ver-folgen und sich davon überzeugenmuû, daû das Areal tatsächlich auchvom 2. und nicht vom 1. Zwilling drai-niert wird.

Klinische Bedeutung

In etwa 20±70 % der primär als Gemini-gravidität angelegten Schwangerschaf-ten ist ein sonographisch zwar nachge-wiesener, aber im 1. Trimenon dann in-trauterin verstorbener Zwilling bei derGeburt des anderen Kindes nicht mehroder nur schwierig identifizierbar. Manspricht von ¹vanishing twinª [10, 14],dessen ursprüngliche Existenz nur auf-grund der frühen Sonographie bekanntwar. Wesentlich seltener findet man beider Plazentauntersuchung einen rudi-

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Zum Thema

Abb. 3~ Histologie der Membranverhältnisse in Zwillingsplazenten: monochorial-diamniale Plazenten(links) sprechen immer für Monozygotie, dichorial-diamniale Plazenten für Mono- oder Dizygotie [1]

Abb. 2~ Chorion- und Amnionverhältnisse bei Zwillingen (DiMo = diamnial-monochorial, DiDi = diamnial-dichorial)

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mentären, meist zu Beginn oder in derMitte des 2. Trimenon intrauterin ver-storbenen Zwilling in den Plazenta-membranen (¹Fetus papyraceusª).

Gelegentlich werden die membra-nösen Trennwände von Zwillingspla-zenten pränatal zerstört [6]. Diese Rup-turen kommen spontan vor oder aberauch akzidentell bzw. beabsichtigt, z. B.im Rahmen einer Amniozentese [3]. Sokönnen dichorial- oder monochorial-diamniale Eihautverhältnisse artefiziellin monoamniale umgewandelt werden.Die Ruptur der Trennwand beinhaltetdie Gefahr von Nabelschnurkomplika-tionen. Bei der postnatalen Untersu-chung der Plazenta kann man Reste derrupturierten Membranwände nochnachweisen.

Die AV-Anastomosen der mono-chorialen Plazenta sind die anatomi-sche Voraussetzung für die Entstehungdes FFTS, das nur bei eineiigen Zwillin-gen auftritt und sich klinisch durcheine Wachstumdiskordanz sowie durchein Hydramnion des Akzeptors äuûert[12]. Es ist klinisch von groûer Bedeu-tung, die verschiedenen Formen vonAnastomosen auf der Chorionplatte zukennen und zu verstehen, da die Laser-koagulation der ursächlich wirksamenGefäûverbindungen heute ein sinnvol-les Behandlungskonzept beim FFTSdarstellt [4]. Die farbkodierte Sonogra-phie ermöglicht es, einige der gröûerenChoriongefäûe darzustellen.

Wenngleichzeitig eineAA- und eineVV-Verbindung zwischen den beidenGefäûgebieten von monochorialen Ge-mini besteht, kann es zur Umkehr desBlutstromes kommen. Ein Zwilling do-miniert dann den Blutdruck des ande-ren, der dann rückwärts perfundiertwird (twin reversed arterial perfusi-on = TRAP). Da diese Situtation schonwährend der frühen Embryonalent-wicklung eintritt (etwa ab der 3. post-konzeptionellen Woche), sind viele Or-gane des 2. Feten nur rudimentär ausge-bildet. Es entwickelt sich das Bild einesAcranius-Acardius [13]. Diese Fehlbil-dung kannnur bei einem der monozygo-ten Gemini entstehen. Der gesunde, per-fundierende Zwilling entwickelt infolgeder Kreislaufbelastung eine Herzhyper-trophie sowie ein Hydramnion mit derGefahr der Frühgeburt, was in 30±50 %der Fälle zu seinem Tod führen kann [11].

Die chorialen Gefäûverbindungenerklären auch andere Komplikationen

(z. B. pränatale Hirnschäden), wie siebei eineiigen Zwillingen gelegentlichvorkommen können. So kann nachdem intrauterinen Fruchttod eines Kin-des bei monochorialer Plazenta der 2.überlebende Zwilling soviel Blut in dentoten Feten abgeben, daû er schwergra-dig anämisch wird und aufgrund einerakuten Hypotonie Zerebralnekrosenmit einem konsekutiven Hirnschadenentwickelt oder sogar ebenfalls ver-stirbt. Dieser Pathomechanismus hatvermutlich auch dem schnell folgendenTod des 2. (Eng) der bekannten siamesi-schen Bunker-Zwillinge zugrunde gele-gen, nachdem der erste (Chang) an ei-ner Pneumonie verstorben war [8, 16].Möglicherweise kommen derartigeBlutdruckschwankungen auch bei Zwil-lingen vor, die nicht intrauterin verster-ben. So weiû man, daû sich sowohl wäh-rend der Schwangerschaft als auch unterder Geburt gröûere Blutmengen von ei-nem Zwilling in den anderen verschie-ben können. Daher muû sich auch beiZwillingen mit einem typischen FFTSder fetale Hämoglobinwert nicht unbe-dingt unterscheiden. Der kleinere Do-nor muû nicht unbedingt anämischsein, sondern kann aufgrund der akutenTransfusion durch den Akzeptor sogareine Polyzythämie haben. Deshalb istdas in der Literatur immer wieder ge-nannte Kriterium von 5 g Hämoglobin-differenz zwischen den Zwillingen beiFFTS oft nicht erfüllt [11]. Da diese Mög-lichkeit nicht allgemein bekannt ist,zweifeln viele Geburtshelfer und Pädia-ter postnatal die Diagnose eines FFTSan, wenn der Donor einen unerwartethohen Hämoglobinwert aufweist. Beimschwergradig diskordanten Zwillings-wachstum sollte vor dem Hintergrundder möglichen Differentialdiagnosen(FFTS, Chromosomanomalie oder iso-lierte Wachstumsretardierung einesKindes) neben den Chorionverhältnis-sen und dem Hämoglobinwert auch dieHerzgröûe überprüft werden. Im Rah-men des FFTS kommt es aufgrund derHypervolämie beim Akzeptor häufigzur charakteristischen Myocardhyper-trophie [9, 11].

Bei Zwillingsplazenten findet sichhäufiger als bei Einlingen eine velamen-töse oder marginale Nabelschnurinser-tion. Bei höhergradigen Mehrlingen istdie abnorme Insertion noch häufigerals bei Zwillingen. Diese Anomalie er-klärt sich am ehesten durch die zirkum-

ferentielle Ausdehnung der beiden Pla-zenten. Nach ihrer ¹Kollisionª ist einungleichmäûiges Wachstum mit einerrandständigen Nabelschnurinsertiondie Folge. Strassmann [14] erklärte mitdiesem ¹Trophotropismusª auch die ab-norme Plazentaentwicklung bei der Pla-centa praevia. Obwohl diese Deutungheute umstritten ist, gibt es bislang kei-ne bessere Erklärung. Über den glei-chen Mechanismus ist wahrscheinlichauch das im Vergleich zu Einlingen häu-figere Auftreten einer singulären Nabel-arterie bei Gemini zu erklären (ca. 1 vs.8 %). Aufgrund der häufigeren abnor-men Nabelschnurinsertion besteht imFall eines Blasensprungs eine erhöhteGefahr einer akuten fetalen Blutung.Weiterhin kommt es in den Vasa praeviaauch eher zu einer spontanen Throm-benbildung.

Bei Drillingen und noch höhergra-digen Mehrlingen können aufgrund si-multaner Mono- und Dizygotie der ver-schiedenen Kinder gleichzeitig mono-und dichoriale Plazentaverhältnisse be-stehen. Dieser Umstand ist nur erkenn-bar, wenn die Nabelschnur bei der Ge-burt den entsprechenden Kindern kor-rekt zugeordnet, und die Membranver-hältnisse dann postnatal untersuchtwerden.

Fazit für die Praxis

Nach jeder Mehrlingsgeburt sollten die Cho-rion-Amnion-Verhältnisse untersucht wer-den. Die Untersuchung der membranösenTrennwände gibt einen wichtigen Hinweisauf den Verwandtschaftsgrad und damit fürdie Differentialdiagnose zwillingstypischerKrankheitsbilder.

· Ein unterschiedliches Geschlecht ist be-weisend für Dizygotie.

· Eine Diskordanz hinsichtlich kindlicherFehlbildungen kann durchaus auch beiMonozygotie vorkommen.

· Bei dichorial-diamnialen Plazenten be-steht in 90 % der Fälle Dizygotie. Lediglichin 10 % sind die Zwillinge eineiig. Bei di-chorialen Plazenten imponiert die Trenn-wand relativ dick und undurchsichtig. DieAmnien lassen sich mit 2 Pinzetten mühe-los auseinander ziehen. Bei der Trennungder Chorionschichten gelangt man basis-wärts direkt in den Zottenbereich.

· Monochoriale Plazenten sind beweisendfür Monozygotie. Nach der leicht mögli-chen Trennung der durchsichtigen Amni-

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onschichten gelangt man direkt auf dieChorionplatte.

· In Zweifelsfällen sowie bei jeglichem Ver-dacht auf ein zwillingstypisches Krank-heitsbild (FFTS, Doppelfehlbildungen so-wie Diskordanz hinsichtlich Wachstumoder Anomalien) sollte die Plazenta histo-logisch untersucht werden.

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W. Thiel

Photographischer Atlas der praktischenAnatomie Teil 1

Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 1996, 427 S.,414 Abb., (ISBN-3-540-61047-2), geb., DM 498,±

Der fotografische Atlas der anatomischen Anatomieerscheint in zwei Doppelbänden. Band 1 beinhaltetdie Kapitel ¹Bauchª und ¹untere Extremitätª. Vorge-stellt werden 207 anatomische Präparationen, wel-che nach einem speziellen Konservierungsverfahrenhergestellt wurden und welche sämtlich in Farbab-bildungen wiedergegeben wurden. Hierbei handeltes sich fast ausschlieûlich um Präparationen, welchedie topographische Anatomie zum Gegenstand ha-ben, nur vereinzelt wurden gesonderte Präparatio-nen vorgenommen zum Beispiel von Gelenken undderen ligamentären Verbindungen. Alle Präparatio-nen sind mit äuûerster Sorgfalt durchgeführt, im fo-tografischen Teil des Buches zusätzlich unterstütztdurch (sparsam verwendete) Farbmarkierungen,Punktionsnadeln oder einzelne eingesetzte chirurgi-sche Retraktionshaken. Zu jeder Präparation er-scheint auf der Doppelseite linksseitig ein erklären-der Text. Dieser faût die wesentlichen gezeigtenanatomischen Gegebenheiten zusammen, verzichtetjedoch ausdrücklich auf die Darstellung und Wieder-gabe jeder einzelnen anatomischen Benennung. Wieauch von den Autoren im Vorwort ausgeführt undausdrücklich gewünscht, setzt damit das Verständnisvon Text und Bild ein anatomisches Grundwissenvoraus.

Ergänzt wird der Bildband durch einen zweitenParallelband, welcher in entsprechendem Formatund in entsprechender Ausstattung die jeweils iden-tischen Ansichten wiedergibt - hier allerdings in einerSchwarz-Weiû-Fotografie. In diese Schwarz-Weiû-Fotografien (rechts auf einer jeweiligen Doppelseite),sind Hinweispfeile und Hinweisnumerierungen ein-gebracht, welche in diesem Band auf der jeweiligenlinken Doppelseite durch die exakten anatomischenBezeichnungen erklärt und benannt werden.

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M. Hansis (Bonn)

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