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Kleider machen Leute Großansicht des Bildes mit der Bildunterschrift: Seriös und neutral: Kleidung am Arbeitsplatz Hemd, Bluse und Blazer: Die Kleidung entscheidet, ob wir bei der Arbeit ernst genommen werden. Der erste Eindruck ist der wichtigste. Deshalb haben Firmen oft Dresscodes. Wenn Angela Merkel keine ordentliche Frisur hat, gibt es Kritik. Die Wähler haben bestimmte Vorstellungen davon, wie Politiker aussehen sollen. Und bei Politikerinnen sind sie besonders kritisch. Von Frauen wird in der Politik nicht nur erwartet, dass sie sich seriös kleiden, sondern auch dass sie weiblich sein sollen. Dresscodes gibt es in vielen Berufen. Entweder weil es praktisch ist, oder weil es darauf ankommt, ernst genommen zu werden. Josefine Paul ist neu in der Politik. Den Dresscode, den es für Politiker gibt, findet sie praktisch. Privat trägt die Abgeordnete der Partei "Die Grünen" gerne Jeans und T-Shirt. Blusen, Blazer und Stoffhosen sind hingegen Josefines Berufskleidung. Sie erklärt: "In meinem Alter, mit 28 Jahren, möchte man auch nicht unbedingt dadurch auffallen, dass man der flippigste Typ ist, sondern man möchte ernst genommen werden. Das ist manchmal eben ein bisschen leichter, wenn man Bluse und Blazer trägt." Die Etikette-Trainerin Gabriele Krischel ist der Meinung, dass Kleidung in bestimmten Berufen wie eine Uniform

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Kleider machen Leute  

Großansicht des Bildes mit der Bildunterschrift: Seriös und neutral: Kleidung am Arbeitsplatz

Hemd, Bluse und Blazer: Die Kleidung entscheidet, ob wir bei der Arbeit ernst genommen werden. Der erste Eindruck ist der wichtigste. Deshalb haben Firmen oft Dresscodes.

 Wenn Angela Merkel keine ordentliche Frisur hat, gibt es Kritik. Die Wähler haben bestimmte Vorstellungen davon, wie Politiker aussehen sollen. Und bei Politikerinnen sind sie besonders kritisch. Von Frauen wird in der Politik nicht nur erwartet, dass sie sich seriös kleiden, sondern auch dass sie weiblich sein sollen. Dresscodes gibt es in vielen Berufen. Entweder weil es praktisch ist, oder weil es darauf ankommt, ernst genommen zu werden. Josefine Paul ist neu in der Politik. Den Dresscode, den es für Politiker gibt, findet sie praktisch. Privat trägt die Abgeordnete der Partei "Die Grünen" gerne Jeans und T-Shirt. Blusen, Blazer und Stoffhosen sind hingegen Josefines Berufskleidung. Sie erklärt: "In meinem Alter, mit 28 Jahren, möchte man auch nicht unbedingt dadurch auffallen, dass man der flippigste Typ ist, sondern man möchte ernst genommen werden. Das ist manchmal eben ein bisschen leichter, wenn man Bluse und Blazer trägt." Die Etikette-Trainerin Gabriele Krischel ist der Meinung, dass Kleidung in bestimmten Berufen wie eine Uniform funktioniert: Man fühlt sich sicherer und muss sich keine Gedanken machen, was richtig oder falsch ist. Krischel erklärt: "Man sagt, dass man den ersten Eindruck in den ersten 30 Minuten nicht ändern kann." Deshalb ist es in vielen Berufen wichtig, zu wissen, was der Kunde möchte. Als zum Beispiel eine Bank ihre Auszubildenden in Jeans und Hemden arbeiten ließ, wurden diese von den Kunden ignoriert. Was bei Berufskleidung als neutral gilt, ist natürlich eine Frage der Kultur und Tradition. In Deutschland machen es inzwischen immer mehr Firmen so wie die Schweizer Bank UBS: Sie stecken ihre Mitarbeiter in Uniformen. Dann müssen diese sich nur noch korrekt verhalten, denn: Schlechte Umgangsformen können auch das beste Outfit kaputtmachen.

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Glossar "Kleider machen Leute" – der Titel einer Novelle von Gottfried Keller; gemeint ist: Man ist, was man anzieht. Dresscode, der (aus dem Englischen) – die Kleiderordnung; die Vorschrift, welche Kleidung am Arbeitsplatz getragen werden darf Blazer, der (aus dem Englischen) – eine schicke Jacke, die oft mit einem passenden Rock oder einer passenden Hose getragen wird sich kleiden – sich anziehen seriös – so, dass man ernst genommen wird; glaubwürdig von jemandem ernst genommen werden – von jemandem respektiert werden Abgeordnete/r, der/die – Vertreter/in einer Partei in einem Parlament Berufskleidung, die – Kleidung, die man bei der Arbeit trägt flippig – umgangssprachlich für: auffällig; witzig und verrückt Typ, der – hier: die Person; der Mensch Etikette, die – das Benehmen; das Verhalten Uniform, die – Kleidung, die in Stoff, Form und Farbe einheitlich aussieht; Kleidung, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe (z.B. Polizei) zeigen soll Auszubildende/r, der/die – jemand, der einen Beruf lernt jemanden/etwas ignorieren – etwas/jemanden mit Absicht nicht beachten neutral – hier: so, dass etwas nicht auffällt etwas gilt als etwas – etwas wird von vielen Leuten als etwas angesehen Umgangsform, die – die Art, wie man sich jemand anderem gegenüber verhält; das Benehmen Outfit, das (aus dem Englischen) – die Zusammenstellung von Kleidung

Fragen zum Text

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 1.  Dresscodes helfen, am Arbeitsplatz …a)  nicht beachtet zu werden.b)  individuell auszusehen.c)  ernst genommen zu werden. 2.  Privat trägt Josefine Paul am liebsten …a)  Blusen und Blazer.b)  Jeans und T-Shirts.c)  Hemden und Stoffhosen. 3.  Gabriele Krischel sagt, dass der erste Eindruck … a)  nach 30 Minuten entsteht.b)  nicht von der Kleidung abhängt.c)  sich nicht ändern lässt. 4.  Welcher Ausdruck passt nicht zu den anderen?a)  ernst genommen werdenb)  ignoriert werdenc)  respektiert werden 5.  Welcher Satz beinhaltet nur korrekte Pluralformen?a)  Josefines Berufskleidung sind Blusen, Blazers und Stoffhose.b)  Hemden und Blusen werden in Firmen besonders häufig getragen.c)  Viele Firmen geben ihren Mitarbeiter Uniformen.  ArbeitsauftragKleidung ist nicht immer seriös und neutral, sondern oft auch:flippig – ausgefallen – extravagant – stilvoll – elegant – schick – spießig Recherchieren Sie die Bedeutung dieser Wörter und bilden Sie anschließend mit jedem Wort mindestens zwei Sätze, von denen ein Satz sich auf Kleidung bezieht, während der andere nichts mit Kleidung zu tun hat. Beispiel: Mein neuer Rock ist ziemlich flippig, weil er gelb und lila ist.Wir waren gestern auf einer flippigen Party mit Lasershow und DJ.  

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Kleider machen Leute Von Gottfried Keller bearbeitet von Karin Hohlweg

Wenzels Ankunft in Goldach

Es war an einem kalten, regnerischen Novembertag. Ein armerSchneider wanderte auf der Straße nach Goldach. Er kam aus Seldwyla, wo er bei einem Schneidermeister gearbeitet hatte. Es gab aber zu wenigArbeit, deshalb hatte der Schneidermeister ihn fortgeschickt. Nunsuchte der arme Schneider neue Arbeit, denn er hatte kein Geld, abergroßen Hunger.Als er traurig und geschwächt (schlapp) bergan ging, überholte ihn eineschöne Kutsche1. Der Kutscher sah, wie elend der Schneider war.Deshalb fragte er ihn, ob er sich in die Kutsche setzen wollte. Natürlich war der Schneider dankbar. Nun kam er schnell und bequem nach Goldach.Die Kutsche hielt vor dem Gasthaus „Zur Waage“. Als der Wirt undsein Diener die herrliche Kutsche sahen, rannten sie schnell aus demHaus und rissen die Tür des Wagens auf. Sie dachten, ein reicher Grafwürde in der Kutsche sitzen.Der Schneider stieg ganz erschrocken aus. Aber wie sah er aus? Wiewar er gekleidet? Der Schneider war groß und schlank, hatte lange,schöne Haare, einen gepflegten Schnurbart und ein blasses, sehr hübsches Gesicht. Obwohl er so arm war, liebte er schöne Kleidung und hattesich deshalb einen schwarzen Sonntagsanzug und einen weiten dunkelgrauen Radmantel genäht. Auf dem Kopf trug er eine feine polnische Pelzmütze. Sah er aus wie ein Schneider?Nein! Er sah wie ein vornehmer, reicher Herr aus. Alle mussten glauben, dass ihm die Kutsche gehören würde und er ein Graf oder sogar ein Prinz wäre.

1 Kutsche, die – ein Wagen, den Pferde ziehen

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Das Essen im Gasthaus

Der Wirt führte den Schneider sofort in seinen Speisesaal. DerSchneider war so erschrocken und ängstlich, dass er auch mitging und sich an den Tisch setzte. Schnell lief der Wirt in die Küche und rief der Köchin zu: „Ein feiner, reicher Herr ist angekommen, koche die besten Sachen. Ich hole unseren guten Wein aus dem Keller.“Inzwischen hatte der Schneider sich von seinem Schrecken erholt. Natürlich war er sehr hungrig, aber er wusste, dass er keinen Pfennig in der Tasche hatte. Er konnte das Essen nicht bezahlen. Deshalb nahm er schnell seine Mütze und seinen Mantel. Er wollte heimlich aus dem Gasthaus fliehen. Aber der Kellner sah ihn und dachte, er würde die Toilette suchen. Er zeigte dem Schneider die Toilette und dieser hatte nicht den Mut, die Wahrheit zu sagen. So ließ sich der Schneider wieder an seinen Tisch bringen und begann mit dem wunderbaren Essen. Zuerst gab es eine kräftige Brühe. Das war das Richtige für den leeren hungrigen Magen des armen Schneiders. Trotzdem aß er nur ganz langsam, denn er hatte ein schlechtes Gewissen2. Er hatte ja kein Geld. Wer sollte das Essen bezahlen?Danach brachte der Wirt eine Forelle3. In seiner Angst nahm derSchneider nur die Gabel, um etwas von dem Fisch zu kosten.Die Köchin schaute heimlich durch die Tür und sagte zu den anderenNeugierigen: „Oh, ist das ein feiner Herr! Er weiß, dass man Fisch nicht mit dem Messer schneiden darf. Schaut nur, wie schön er ist und wie traurig er aussieht. Vielleicht ist er in ein Mädchen verliebt, dass er nicht heiraten darf.“Nach dem Fisch kam der Braten, aber auch davon aß der Schneidernur wenig, deshalb wurde sein Hunger immer größer. Nun brachte der Wirt eine herrliche Pastete von Rebhühnern. Der Schneider dachte: „Jetzt ist mir alles egal, ich kann sowieso nicht bezahlen. Aber was ich einmal gegessen habe, kann mir keiner mehr wegnehmen.“ Und das tat er auch. Hastig und mit großen Bissen verschlang er fast die ganze wunderbare Pastete. Dazu trank er mit großen Schlucken den besten Wein.Der Wirt staunte, lief zur Köchin und rief: „Köchin, er isst die Pasteteauf, von den anderen Sachen hat er nur gekostet. Er weiß, was gutschmeckt. Oh, muss das ein feiner Herr sein!“Der Kutscher hatte in dieser Zeit seine Pferde füttern lassen und in der Gaststube für die armen Leute eine kräftige Suppe gegessen.

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2 Gewissen, das – Angst haben3 Forelle, die – ein Fisch

Nun wollte er weiterfahren. Der Wirt und seine Angestellten waren so neugierig und fragten deshalb den Kutscher: „Wer ist dein Herr und wie heißt er?“ Der Kutscher wollte sich einen Spaß machen und sagte: „Das ist der G r a f Strapinski. Er bleibt noch ein paar Tage hier.“ Damit fuhr er los.

Wenzel will aus Goldach fliehen

Nun war es so, dass der arme Schneider wirklich Strapinski hieß,Wenzel Strapinski. Der Wirt aber glaubte, dass ein Graf bei ihm wohnen wollte. Darauf war er sehr stolz. Das schönste Zimmer in seinem Gasthaus ließ er fertig machen. Darin sollte Wenzel Strapinski schlafen und wohnen.Wenzel wurde ganz blass vor Schreck, als der Wirt zu ihm G r a fStrapinski sagte und ihn in das herrliche Zimmer führte. Aber er ließ alles geschehen und sagte vor Angst wieder nicht die Wahrheit.Inzwischen erzählten alle Leute in Goldach, dass ein feiner polnischer Graf im Gasthaus angekommen war.Die reichen Goldacher trafen sich nachmittags im Speisesaal um Karten zu spielen und zu würfeln. Bald konnten sie es vor Neugierde nicht mehr aushalten und setzten sich an Wenzels Tisch. Sie boten ihm die besten Zigarren an (anbieten – geben) und unterhielten sich.Jetzt schien die Sonne und sie beschlossen, mit Pferden und Wageneine schöne Fahrt zu machen. Wenzel Strapinski war darüber froh, denn er dachte: „Da kann ich mich ungesehen davonmachen (fortlaufen) und weiterwandern.“ Er setzte sich in den Wagen und lenkte die Pferde. Alle staunten, wie gut er mit Pferden umgehen konnte. Sie flüsterten: „Er ist wirklich ein feiner Herr!“Sie fuhren auf das Gut4 des Bürgermeisters. Nach kurzer Zeit warenalle mit einem spannenden Kartenspiel beschäftigt. Sie spielten um Geld und Wenzel hatte Glück. Er gewann viele Spiele. Zum Schluss hatte er so viel Geld, wie er noch nie in seinem Leben besessen hatte.

4 Gut, das – großer, reicher Bauernhof5

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Als er das Geld in seine Tasche steckte, dachte er, alles wäre einTraum. Vor dem Abendessen ging Wenzel im Garten spazieren. Er überlegte:„Jetzt habe ich so viel Geld, dass ich auf meiner Wanderschaft5 nichtmehr hungern muss. Aus der nächsten Stadt schicke ich dem Wirt das Geld für das gute Mittagessen.“

Begegnung mit Nettchen

So ging er durch den Park. Er entfernte sich immer weiter von der anderen Gesellschaft. Gleich war er auf der Straße, die zur nächsten Stadt führte. Aber da stand plötzlich der Bürgermeister mit seiner Tochter vor ihm. Wenzel schaute Nettchen an. Sie war ein hübsches Fräulein mit einem feinen Kleid und reichem Schmuck.„Wir suchen Sie, Herr Graf!“, rief der Bürgermeister. „Bitte essen Siemit uns Abendbrot. Die anderen Herren sind schon in meinem Haus.“Wenzel nahm schnell die Mütze vom Kopf und begrüßte Nettchen höflich. Er war sehr aufgeregt und wurde ganz rot im Gesicht, weil Nettchen ihm so gut gefiel. Nettchen schaute Wenzel an. Sie fand ihn sehr hübsch und besonders nett. Es war ihr angenehm, dass Wenzel so schüchtern und höflich war. Sie erzählten miteinander.

5 Wanderschaft, die – Suche nach Arbeit

Wenzel spielte immer mehr die Rolle des Grafen (er verhielt sich wie ein Graf). Er wollte Nettchen gefallen. Nun dachte er nicht mehr daran, dass er fliehen (weglaufen) wollte. Er ging mit Nettchen und dem Bürgermeister ins Haus.

Das Abendessen beim Bürgermeister

Am Tisch erhielt Wenzel einen Ehrenplatz neben Nettchen. Nettchens Mutter war vor vielen Jahren gestorben und sie lebte allein mit ihrem Vater. Beim Abendessen wurde Wenzel wieder sehr traurig. Er dachte daran, dass er ja nur ein armer Schneider war und nicht bei dem reichen Nettchen bleiben konnte.

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Er durfte nicht lange in Goldach wohnen, sonst würden die Leute merken, dass er kein Graf war. Nach dem Essen wurde es immer lustiger. Alle tranken Wein, sangen Lieder und machten viel Spaß.Wenzel vergaß neben dem lieben Nettchen fast seinen großen Kummer. Es war schon spät, als die Gäste wieder abfuhren. Der Wirt wartete auf Wenzel und führte ihn in sein schönes Zimmer. Er fragte: „Wo ist Ihr Gepäck, Herr Graf? Ich befürchte, der Kutscher hat vergessen, es auszuladen.“Wenzel schwindelte, denn er hatte ja nur die Sachen, die er anhatte.Der Wirt erzählte es überall.Am nächsten Morgen brachten seine neuen Freunde ihm die feinstenSachen: Einen herrlichen Bademantel, feine Wäsche, Kleider, Bücher, Zigarren, Stiefel, Schuhe, Pelze, Mützen, Strümpfe und anderes. Jeder wollte mit dem hübschen, feinen „Grafen“ befreundet sein und alle wollten ihn am Nachmittag besuchen. Sie freuten sich, dass der Graf Strapinski angekommen war, denn oft war es etwas langweilig in Goldach. Als Wenzel alle Reichtümer sah, glaubte er zu träumen. Er fasste in seine Manteltasche. Aber da war sein Fingerhut, also war alles Wahrheit und kein Traum.So schön war das Leben für ihn noch nie gewesen. Alle verwöhntenihn. Wenn seine Freunde gewusst hätten, dass er nur ein armer Schneider war, hätten sie ihm nichts geschenkt und wären nicht so freundlich zu ihm gewesen.„Oh, wie wunderbar ist es, wie ein Graf behandelt zu werden!“, dachte Wenzel.Wie schön sah die Stadt jetzt aus, wenn man spazieren gehen konnte und nicht Arbeit suchen musste. Die Häuser waren hübsch gebaut und über jeder Tür standen Namen: Zur Freundschaft, zur Liebe, zur Hoffnung, zum Wiedersehen, zur Fröhlichkeit usw. An jeder Straßenecke stand ein Turm mit einer hübschen Uhr. Die kleine Stadt war von einer alten Mauer umgeben, die mit dichtem Efeu (grüne Kletterpflanze) überwachsen war. Goldach gefiel Wenzel sehr. Hier würde er gern als Schneider arbeiten. Er ging weiter und kam wieder zu der Straße, die in die nächste Stadt führte. Sollte er Goldach verlassen und wieder als ehrlicher Schneider leben?Wenzel hatte noch so viel Geld, dass er seine Schulden bezahlenkonnte. Ja, lieber wollte er wieder arm sein und nicht mehr so herrlichleben. Er wollte nicht mehr lügen müssen, deshalb verließ er die Stadt.

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Das Fest

In diesem Augenblick kam ihm eine kleine Kutsche entgegen. Er erkannte Nettchen, das hübsche Fräulein von gestern. Wenzel grüßteganz höflich und schaute dem schönen Nettchen hinterher. Nettchen gefiel ihm so sehr, dass er umkehrte und doch wieder nach Goldach zurückwanderte. Er wollte Nettchen noch einmal wiedersehen. Deshalb spielte er weiter den Grafen.Es gefiel ihm immer besser, wie ein reicher Graf zu leben. Aber oft,besonders in der Nacht, hatte er Angst, dass die Leute in Goldach den Schwindel bemerken würden. Immer wieder nahm er sich vor, Goldach zu verlassen. Aber dann dachte er an das schöne Nettchen. Wenzel verliebte sich mehr und mehr in sie. Er merkte, dass Nettchen ihn auch gern hatte. Aber was sollte daraus werden? Das konnte doch nicht gut enden!

Die Verlobung

Einmal war er zu einem großen Fest eingeladen. Als die ganze feineGesellschaft zusammen war, verkündete (sagen) er: „Ich muss leiderverreisen.“ Dabei schaute er Nettchen an. Sie wurde vor Schreck ganz rot, dann ganz blass und war wie erstarrt. Dann tanzte sie nur mit den anderen jungen Herren. Als Wenzel sie aufforderte (mit ihr tanzen wollen), sagte sie: „Nein, danke!“ Sie drehte sich schnell um und ging zu den anderen zurück.Darüber war Wenzel sehr traurig, er nahm seinen Mantel und ging inden Garten hinaus. Nun wusste er, dass er das ganze „Grafenspiel“ nur wegen Nettchen so lange mitgemacht hatte. Er wünschte sich immer mehr, Nettchen zu sehen und in ihrer Nähe zu sein. Plötzlich hörte er schnelle leichte Schritte hinter sich. Er drehte sich um und Nettchen und Wenzel standen sich mit klopfenden Herzen gegenüber. Er streckte die Hände nach Nettchen aus. Sie fiel ihm um den Hals (umarmte ihn) und weinte ganz jämmerlich (weinte sehr). Es war wirklich ein schönes Bild, wie die beiden dort im Garten standen.Wenzel war so glücklich und verliebt, dass er sich keine Gedanken

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mehr machte. Nettchen erklärte noch in der selben Nacht ihrem Vater:„Ich werde den Grafen heiraten, nur den Grafen und keinen anderenmöchte ich haben.“ So sehr liebte sie Wenzel.Am nächsten Morgen ging Wenzel zu Nettchens Vater und bat ihn:„Bitte, geben Sie mir Nettchen zur Frau, ich möchte sie heiraten.“ Und der Vater antwortete: „Was soll ich da sagen? So ein dummes Mädchen!Immer wollte sie etwas Besonders. Als Kind wollte sie sogar einen Räuberhauptmann heiraten. Die Heiratsanträge von den jungen Männern in Goldach hat sie abgelehnt und nun will sie einen Grafen heiraten. Ach, was würde ihre tote Mutter sagen, wenn sie das noch sehen könnte: „Nettchen eine Gräfin.“In ganz Goldach wurde nur noch von der Verlobung gesprochen.Wenzel brachte Nettchen ein schönes Brautgeschenk. Nun hatte er nicht mehr viel Geld von dem gewonnenen Geld. Von seinem letzten Geld wollte er mit Nettchen ein großes Fest feiern.

Die Schlittenfahrt zum Gasthaus

Es war Faschingszeit und herrliches Winterwetter. Die Landstraße war dick verschneit, deshalb wollte Wenzel alle Freunde zu einer Schlittenfahrt und danach zu dem großen Fest einladen. Zwischen Goldach und Seldwyla lag ein schönes Gasthaus. Hier sollte gefeiert werden. So fuhren dann die Goldacher Gäste mit ihren geschmückten Schlitten und Pferden durch die Straßen der Stadt zum Stadttor hinaus. Im ersten Schlitten saß Wenzel mit seiner Braut Nettchen. Wenzel hatte einen grünen Samtmantel an und Nettchen einen wunderbaren weißen Pelzmantel. Auf dem Schlitten stand in großen Goldbuchstaben „Glück“, denn so hieß auch das Haus des Bürgermeisters. Nettchens Schlitten folgten fünfzehn oder sechszehn andere Schlitten. Alle Schlitten waren herrlich geschmückt. In jedem Schlitten saßen fröhliche Paare. Aber kein Paar war so schön wie das Brautpaar. Lustig und mit fröhlicher Musik fuhren sie durch die verschneite Winterlandschaft.Aber was geschah zu dieser Zeit in Seldwyla?Einige Leute hatten auch einen Schlittenzug zusammengestellt. Aber

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Es waren nicht so feine, hübsche Schlitten, sondern große grobe Schlitten, wie sie die Handwerker fuhren. Diese Schlitten waren wie zum Karneval geschmückt. Man erkannte, dass das Handwerk der Schneider dargestellt war.Beide Schlittenzüge trafen mit Lachen und Gesang zur selben Zeit vor dem Gasthaus ein. Die Herrschaften von Goldach waren überrascht und erstaunt über diese Begegnung. Die Seldwyler aber schadenfroh, denn sie hatten sich einen schlechten Spaß ausgedacht. Sie hatten gehört, dass ihr armer Schneider Wenzel Strapinski in Goldach als Graf lebte und heute das Verlobungsfest sein sollte. Deshalb wollten sie ihn bestrafen. Ihr erster Schlitten hieß „Leute machen Kleider“.Auf allen Schlitten saßen junge Leute, die wie Schneider verkleidetwaren. Sie waren bescheiden und ließen die Goldacher zuerst ins Wirtshaus gehen. An der Spitze ging das Brautpaar. Dahinter kamen die anderen Herren und Damen aus Goldach. Sie gingen die breite Treppe nach oben in den geschmückten Festsaal. Sie lachten über die lustigen Leute in den anderen Schlitten, die in den unteren Räumen feiern wollten. Nur Wenzel wurde etwas ängstlich und misstrauisch, als er die vielen verkleideten Schneider sah. Aber er hatte nicht bemerkt, dass die Gesellschaft aus Seldwyla gekommen war. So vergaß er sie schnell wieder. Bald saßen Nettchen, Wenzel und ihre Freunde an dem fein gedeckten Tisch. Sie waren fröhlich und machten viel Spaß. Nach dem Essen wurde getanzt. Als sie alle im Kreis standen, kamen ein paar Leute aus Seldwyla und fragten höflich: „Dürfen wir den Herrschaften von Goldach einen Schautanz vorführen?“ Die Goldacher freuten sich auf diesen Spaß. Ob Wenzel an etwas Schlimmes dachte?

Wenzel wird entlarvt(Alle erfahren, dass Wenzel ein Schneider ist)

Nun traten die Schneidergruppen nacheinander auf. Sie zeigten, wieLeute Kleider nähten, z. B. einen Fürstenmantel. Dann zog ein armerSchneider diesen Mantel an. Und wie sah er aus? Ja, wie ein Graf! Dieses Verwandlungsspiel zeigten sie auch an Tieren. Eine hässliche Krähe wurde mit Pfauenfedern geschmückt. Was geschah? Die Krähe sah wieein Pfau aus.

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Oder, ein Esel wurde in einen Löwenpelz gesteckt. Nun sah der Eselwie ein Löwe aus. Und alle tanzten so lustig umher. Plötzlich wurde die Musik leise und traurig. Als letzte Person trat einjunger, schlanker Mann mit dunklem Mantel, schönen dunklen Haaren und einer polnischen Mütze in den Kreis. Er sah genau so aus wie Wenzel Strapinski, als er an jenem Novembertag aus der Kutsche stieg. Alle schauten gespannt auf den Mann. In der Mitte des Kreises setzte er sich auf den Boden und begann mit geschickten Fingern an einem Grafenmantel zu nähen. Es war genau so ein Mantel, wie ihn Wenzel damals getragen hatte.Dann stand der Mann auf, zog den anderen Mantel aus und den grünen Grafenmantel an. Nun war er Wenzel zum Verwechseln ähnlich. Die Musik wurde lustig. Der Mann begann zu tanzen bis er vor Wenzel stand. Er schaute Wenzel überrascht an. In diesem Moment hörte die Musik auf zu spielen. Es war ganz still in dem großen Saal. Mit lauter Stimme rief er: „Ei, ei! Ei, ei! Das ist ja unser Schneider Wenzel Strapinski, der bei mir gearbeitet hat! Ich freue mich, wie gut es Ihnen geht. Haben Sie Arbeit in Goldach?“Nun kamen alle Leute aus Seldwyla und begrüßten Wenzel. Heimlichlachten sie über ihn und freuten sich, dass sie mit Wenzel einen so bösen Scherz gemacht hatten. Mit lautem Lachen und Singen verließen sie den Saal.

Wenzel möchte sterben

Nettchen und Wenzel saßen ganz still und einsam auf ihren Stühlen.Auch alle Freunde waren fortgegangen, denn mit einem Schneider wollten die feinen Herrschaften nicht befreundet sein.Da stand Wenzel langsam auf und ging mit müden Schritten davon. Er schaute auf den Boden. Er hatte so viele Tränen in den Augen. Wie ein Toter ging Wenzel zwischen den Goldachern und Seldwylern, die noch auf der Treppe und draußen standen, hindurch. Alle gingen ihm still aus dem Weg. Keiner lachte mehr oder sagte böse Worte. Wenzel ging an den Schlitten vorbei und wie im Traum in die Richtung nach Seldwyla. Bald verschwand er in der Dunkelheit. Seine Mütze und seine Handschuhe hatte er im Gasthaus vergessen. Er fror in der kalten Winternacht und nun dachte er über die Ereignisse nach. Er schämte sich. Oh, wie sehr schämte er sich!

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Aber er glaubte auch, die Seldwyler hätten ihm Unrecht getan, denn bis zu seinem Leben als Graf in Goldach hatte er nie etwas Unrechtes getan. Er konnte sich nicht erinnern, dass er alsKind und später gelogen hatte. Aber in Goldach war er ein Betrüger geworden. Warum? Weil er Hunger hatte, als er nach Goldach kam. Und dann hatte er sich so sehr in Nettchen verliebt, dass er in Goldach blieb. Wenzel weinte sehr. Besonders als er an Nettchen dachte, schämte er sich so sehr und wurde noch trauriger.Plötzlich hörte er hinter sich Schlittenglocken läuten und lautes Lachen. Die Seldwyler kamen vom Fest zurück. Mit einem großen Sprung sprang Wenzel in den Straßengraben und versteckte sich hinter einem Baum. Die Schlitten fuhren vorbei. Keiner hatte Wenzel bemerkt (gesehen). Wenzel wollte nicht mehr leben, deshalb blieb er im weichen Schnee liegen. Traurig und verzweifelt schlief er ein.Und was war in dieser Zeit mit Nettchen geschehen?

Nettchen findet Wenzel

Nettchen war ganz durcheinander. Sie hatte hinterhergeschaut, alsWenzel aus dem Saal ging. Lange Zeit saß sie unbeweglich und still auf ihrem Stuhl. Dann stand sie auf, weinte bitterlich und ging zur Tür. Zwei Freundinnen wollten Nettchen trösten und brachten ihr die Sachen. Da stellte sich ein anderer junger Mann zu Nettchen. Er hieß Melchior Böhni. Er wollte Nettchen schon früher gern heiraten. Er dachte: „Vielleicht heiratet Nettchen mich jetzt doch.“ Er sagte zu ihr: „Ich bringe dich nach Hause.“Aber Nettchen schaute ihn nur stolz und zornig an. Mit festen Schritten ging sie zu ihrem Schlitten, stieg hinein, nahm die Pferdeleine und die Peitsche. Sie fuhr schnell auf die Landstraße hinauf. Melchior Böhni schaute sie überhaupt nicht an.Aber auch Nettchen fuhr nicht nach Goldach, sondern auch in Richtung Seldwyla. Ganz genau beobachtete Nettchen die Straße rechts und links.Plötzlich sah sie eine längliche Gestalt am Straßenrand liegen. Es war Wenzel.Schnell hielt Nettchen die Pferde an, stieg aus dem Schlitten und ging leise zu Wenzel.Sie betrachtete sein schönes Gesicht, seine langen schwarzen Haare

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und seine schlanke Gestalt. Als sie sich dicht zu ihm herunterbeugte, erkannte sie die Gefahr, in der sein Leben war. Sie bekam große Angst, dass er vielleicht schon erfroren wäre. Sie griff nach seiner Hand, aber diese war kalt und starr. Vor Schreck vergaß sie ihren Kummer. Sie dachte nur noch: „Wenzel darf nicht sterben!“ Sie rief: „Wenzel! Wenzel!“ Umsonst, er rührte sich nicht. Da nahm sie beide Hände voll Schnee und rieb damit sein Gesicht und seine Finger so stark sie konnte. Endlich erholte sich Wenzel, wachte langsam auf und hob den Kopf. Er blickte sich um und sah Nettchen vor sich stehen. Er kniete vor ihr und rief: „Verzeih mir! Verzeih mir!“ Nettchen sagte: „Komm, ich möchte mir dir sprechen und dich von hier fortbringen.“ Zusammen stiegen sie in den Schlitten und Nettchen fuhr mit Wenzel davon. Nicht weit von der Landstraße entfernt lag ein Bauernhof. Die Bäuerin lebte allein dort. Sie war Nettchens Tante. Hierher fuhren sie. Es war Licht hinter dem kleinen Fenster, denn die Tante war noch wach und sehr erstaunt, als Nettchen und Wenzel so spät vor ihrer Tür standen. Sie freute sich sehr über den Besuch und brachte schnell einen heißen Kaffee.Nettchen sagte zu ihr: „Liebe Tante, lass uns bitte allein. Wenzel undich haben uns gestritten. Wir müssen über Vieles sprechen.“ „Ich verstehe schon“, sagte die Tante und ging aus dem Zimmer.

Wenzels Leben

Wenzel trank langsam den heißen Kaffee. Er blickte Nettchen jetztschüchtern an. Sie schüttelte den Kopf und sagte: „Wer sind Sie? Warum haben Sie mich so angeschwindelt? Warum wollten Sie mich heiraten“? Wenzel antwortete traurig: „Ich bin ein armer, dummer Mensch. Ich werde mich bestrafen. Ich werde nicht mehr lange leben. Aber zuerst werde ich Ihnen die Wahrheit erzählen.“Und er begann von seiner Ankunft in Goldach zu berichten, von demWirt, von dem guten Essen. Er erzählte auch, dass er heimlich fliehenwollte. Dann aber hatte er Nettchen kennen gelernt und sich so sehr in sie verliebt. Nettchen war auch sehr aufgeregt. Ihr Herz klopfte ganz laut. Sie fragte: „Haben Sie solche Streiche schon früher gemacht? Haben Sie andere Mädchen auch schon so angeschwindelt?“

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Wenzel erzählte leise: „Nein, ich bin noch nie ein Lügner gewesen. Ich habe auch noch keine andere Frau geliebt.Meine Mutter arbeitete bei einer feinen Dame. Sie war mit dieser Dame oft auf Reisen gewesen und hatte viele große Städte kennen gelernt. Mein Vater war ein armer Lehrer und ich das einzige Kind. Meine Mutter zog mir immer besonders hübsche Sachen an, obwohl wir arm waren. Mein Vater starb früh. So hatte meine Mutter nur noch mich. Als ich 16 Jahre alt war, zog die reiche Dame in eine andere Stadt. Sie wollte mich mitnehmen, damit ich in eine gute Schule gehen konnte. Aber meine gute Mutter wurde ganz traurig. Sie liebte mich sehr. Deshalb bin ich bei ihr geblieben. In unserem kleinen Ort konnte ich aber nur den Beruf eines Schneiders erlernen.Später musste ich zum Militär. Als ich nach einem Jahr zurückkam, war meine liebe Mutter gestorben. Seit dem bin ich einsam von Stadt zu Stadt gewandert. Und nun ist Goldach mein Unglück geworden.“

Nettchen beobachtete aufmerksam Wenzels Gesicht und lächelte. Sie schwieg. Nach einer kurzen Pause stand sie auf, ging zu Wenzel und küsste ihn. Sie flüsterte: „Ich werde dich nicht verlassen. Ich liebe dich auch sehr. Mögen die anderen Leute über uns reden! Das ist mir egal. Auch wenn du nur ein armer Schneider bist, werde ich dich heiraten.“ So feierten sie die richtige Verlobung. Doch Nettchen war nicht dumm. Sie musste klug überlegen und richtig handeln. Deshalb sagte sie: „Wir wollen nach Seldwyla gehen. Dort werden wir mit Fleiß und Klugheit viel Geld verdienen. Keiner wird mehr über uns lachen!“ Und so machten sie es auch. Herzlich verabschiedeten sie sich von der Tante und fuhren nach Seldwyla. Jetzt lenkte Wenzel die Pferde und Nettchen lehnte sich zufrieden anihn. Sie liebte Wenzel sehr.

Nettchen und Wenzel in Seldwyla

Als Nettchen und Wenzel im Gasthaus erschienen, waren alle Gästeüberrascht und aufgeregt. Doch Nettchen und Wenzel kümmerten sich nicht darum. Nettchen bekam ein schönes Zimmer. Wenzel verabschiedete sich lieb von ihr. Er wohnte in dem anderen Gasthaus. Die Seldwyler schauten erstaunt hinter ihm her. Auch in der Stadt Goldach erfuhren alle, dass Nettchen zusammen mit

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Wenzel in Seldwyla war. Nettchens Vater hatte sich schon große Sorgen gemacht. Deshalb fuhr er am nächsten Morgen gleich nach Seldwyla. Er nahm den aufgeregten Böhni mit. Nun wollte der Vater auch, dass Nettchen unbedingt Böhni heiraten sollte.

Nettchen kämpft um Wenzel

Nettchen hatte schon auf den Vater gewartet. Nachts hatte sie sicheinen Plan für ihr weiteres Leben gemacht. Der Vater wollte Nettchen trösten. Er dachte: „Nun ist Nettchen traurig und verzweifelt.“Aber Nettchen war ganz ruhig. Sie sagte: „Lieber Vater, ich weiß, dass du mich sehr lieb hast. Höre mir gut zu. Du weißt, was geschehen ist. Deshalb möchte ich nicht mehr in Goldach wohnen. Alle würden mich auslachen. Bitte gib mir das ganze Erbe (Geld) von meiner gestorbenen Mutter. Ich werde Wenzel Strapinski doch heiraten, auch wenn er nur ein armer Schneider ist. Wir wollen beide in Seldwyla wohnen. Zusammen werden wir ein gutes Schneidergeschäft gründen (aufmachen). Ich werde ihm helfen. Und nun Vater, hab Vertrauen zu mir. Es wird alles gut werden.“Aber mit Nettchens Wunsch war der Vater nicht einverstanden. Erglaubte jetzt nur noch Schlechtes von Wenzel. Er sagte zu Nettchen: „Sei froh, dass dich Melchior Böhni jetzt noch heiraten will. Nur mit ihm kannst du wieder ein ordentlichen Leben führen.“ Da wurde Nettchen aber böse. Sie rief: „Niemals heirate ich MelchiorBöhni! Ich kann ihn nicht leiden! Ich liebe Wenzel!“ Es gab heftigenStreit. Nettchen weinte nun doch noch. Plötzlich gab es ein großes Durcheinander, denn Wenzel und Böhni trafen sich vor Nettchens Zimmer. Zum Glück kam auch der Rechtsanwalt, den Nettchen bestellt hatte. Er sagte: „Wir wollen in Ruhe verhandeln.“ Er schickte Wenzel in sein Hotel zurück und Herr Böhni sollte im Gasthaus warten.

Der Kampf zwischen Seldwyla und Goldach

Der Rechtsanwalt hatte in Seldwyla erzählt, dass Nettchen viel Geldhätte. Nun wollten die Seldwyler, dass das junge Paar, Nettchen und

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Wenzel, in ihrer Stadt bleiben sollte. Sie dachten: „Wenn wir einen guten Schneider haben, ist es für uns alle ein Vorteil.“ Sie wollten die beiden Liebenden beschützen. Deshalb versammelten sich alle vor dem Gasthaus. Die Leute von Seldwyla waren sogar zu einem Kampf bereit. Der Amtsrat wollte Nettchen mit Gewalt wieder nach Goldach bringen. Aber als er die vielen Menschen sah, bekam er Angst.Schnell schickte er Böhni nach Goldach. Er sollte dort starke Männerzur Hilfe holen. Am nächsten Tag kamen die Goldacher mit ihren stärksten Männern, mit ihrer Polizei und mit Waffen.Die Goldacher und die Seldwyler standen sich drohend gegenüber.Der Rechtsanwalt verhandelte. Aber Nettchen blieb fest. Auch Wenzel war nicht mehr schüchtern und ängstlich.Der Rechtsanwalt untersuchte auch, was Wenzel früher für ein Lebengeführt hatte. Alle Menschen berichteten nur das Beste über Wenzel. In seinem Heimatdorf hatten ihn alle gern. Er hatte wirklich nur in Goldach falsch gehandelt. Der Rechtsanwalt bewies auch, dass Wenzel ja nie gesagt hatte: „Ich bin ein Graf.“ Seine Unterschrift überall war auch nur „Wenzel Strapinski“. Niemals hatte er „G r a f Wenzel Strapinski“ geschrieben.

Der Schneidermeister Wenzel Strapinski

So endete dann der Streit mit einer Hochzeit. Der Amtsrat gab Nettchen ihr ganzes Erbe (Geld). Davon gründeten beideein Schneidergeschäft. Wenzel war bescheiden, sparsam und fleißig. Er nähte für die Seldwylaer wunderschöne Sachen aus Samt und Seide. Die Seldwylaer wollten nicht bezahlen. Sie machten Schulden bei Wenzel. Aber lange musste Wenzel nicht auf sein Geld warten.Wollten die Seldwylaer etwas Neues, noch Schöneres haben, somussten sie erst die Schulden bezahlen. Wenzel war klug. Er ließ sich von den Seldwylaern nicht betrügen. Heimlich schimpften sie über ihn.

Wenzels Rache

Bei diesem Leben wurde Wenzel rund und kräftig. Er träumte nicht

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mehr so oft. In seinem Geschäft bekam er immer mehr Erfahrung. Bald wurde der Amtsrat, der ja jetzt sein Schwiegervater war, wieder sein Freund. Wenzel verdiente immer mehr und mehr Geld. Er wurde reich, weil er fleißig, geschickt und klug war.Nun war er zwölf Jahre glücklich mit Nettchen verheiratet. Sie hatten10 schöne, liebe Kinder. Aber nun zogen sie um. Sie wollten wieder in Goldach wohnen. In Seldwyla ließ Wenzel keinen Pfennig zurück. So rächte (rächen – die Rache) er sich an den Seldwylaern, weil sie ihm damals beim Fest so einen bösen Streich gespielt hatten.