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ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOSOZIALE PRAXIS UND FORSCHUNG KLINISCHE SOZIALARBEIT 15. Jg. n Heft 3 n Juli 2019 n Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e.V. n Deutsche Gesellschaft für Sozialarbeit e.V. n European Centre for Clinical Social Work e.V. Inhalt Herausgeber Themenschwerpunkt: Subjektive Theorien von Gesundheit und Krankheit 3 Editorial 4 Subjektperspektive in der Gesundheitsarbeit Ein gesundheitspsychologischer Ansatz zur Arbeit mit subjektiven Gesundheits- und Krankheitstheorien Toni Faltermaier 7 Alltagswissen über Körper, Gesundheit und Krankheit aus soziologischer Perspektive Stefan Dreßke und Heike Ohlbrecht 10 Metaphern als subjektive Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit Rudolph Schmitt 14 Subjektive Gesundheitstheorien in Fami l ien mit psychisch erkranktem Elternteil Impressionen aus einer qualitativen Interviewstudie Patricia Graf und Albert Lenz 2 Zu dieser Ausgabe: Autor*innen, Termine, Informationen, Wissenschaftlicher Beirat, Impressum 16 Rezension

KLINISCHE SOZIALARBEIT

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Page 1: KLINISCHE SOZIALARBEIT

ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOSOZIALE PRAXISUND FORSCHUNG

KLINISCHE SOZIALARBEIT

15. Jg. n Heft 3 n Juli 2019

n Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e.V.n Deutsche Gesellschaft für Sozialarbeit e.V.n European Centre for Clinical Social Work e.V.

Inhalt

Herausgeber

Themenschwerpunkt: Subjektive Theorien von Gesundheit und Krankheit

3 Editorial

4 Subjektperspektive in der Gesundheitsarbeit Ein gesundheitspsychologischer Ansatz zur Arbeit mit subjektiven Gesundheits- und Krankheitstheorien

Toni Faltermaier

7 Alltagswissen über Körper, Gesundheit und Krankheit aus soziologischer Perspektive Stefan Dreßke und Heike Ohlbrecht

10 Metaphern als subjektive Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit Rudolph Schmitt

14 Subjektive Gesundheitstheorien in Fami lien mit psychisch erkranktem Elternteil Impressionen aus einer qualitativen Interviewstudie

Patricia Graf und Albert Lenz

2 Zu dieser Ausgabe: Autor*innen, Termine, Informationen, Wissenschaftlicher Beirat, Impressum 16 Rezension

Page 2: KLINISCHE SOZIALARBEIT

Stefan Dreßke, Dr. rer. pol., Diplom-Soziologe, wissen - schaftlicher Mitarbeiter am Institut für Gesell schafts - wissenschaften, Lehrstuhl für allgemeine Sozio logie/ Mikrosoziologie der Otto-von-Guericke-Universität Mag -deburg. Kontakt: [email protected]

Toni Faltermaier, Prof. Dr., Diplom-Psychologe, Pro -fessor a.D. an der Europa-Universität Flensburg, Ab tei -lung Ge sund heitspsychologie und Gesund heits bil dung.Ar beits schwerpunkte: Gesundheitspsychologie, PublicHealth, Stress- und Salutogenese-Forschung, Ge sund -heitsvorstellungen und Gesundheitshandeln von Laien,Männergesundheit, Qualitative Sozialfor schung, An -sätze der Prävention und Gesundheitsförderung.Kontakt: [email protected]

Patricia Graf, Psychologin M.Sc., WissenschaftlicheMitarbeiterin der Universität Bielefeld, Zentrum für Prä -vention und Intervention im Kindes- und Jugendalter,Kontakt: [email protected]

Albert Lenz, Prof. Dr. (i.R.), Dipl. Psychologe, Katho -lische Hochschule NRW, Institut für Gesundheits -forschung und Soziale Psychiatrie (IGSP). Kontakt: [email protected]

Heike Ohlbrecht, Prof. Dr., Soziologin, Lehrstuhl inha -berin für allgemeine Soziologie/Mikrosoziologie an der

Infoseite

Herausgeber:DVSG – Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit imGe sund heitswesen (v.i.S.d.P.) DGSA – Deutsche Ge sellschaft für Soziale Arbeit ECCSW – European Centre for Clinical Social Work e.V.

Redaktionsteam:Anna Lena Rademaker (Leitung)Gerhard Klug, Ute Anotonia LammelIngo Müller-Baron, Karlheinz Ortmann

Anzeigenakquise:Ingo Müller-Baron, Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeitim Ge sund heitswesenE-Mail: [email protected]

Anschrift der Redaktion:Redaktion „Klinische Sozialarbeit”c/o Dr. Anna Lena RademakerDeutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im GesundheitswesenAlt Moabit 91, 10559 BerlinTel.: +49 (0) 521 106 7817 (Büro Bielefeld)E-Mail: [email protected]

Layout, Grafik & Schlussredaktion: Jill Köppe, Perfect Page, KarlsruheJan Schuster, Perfect Page, Karlsruhe

Druck: Bachmann & Wenzel Offsetdruck GmbH, Karlsruhe

Erscheinungsweise: viermal jährlich als Einlege zeit schrift in:DVSG – FORUM sozialarbeit + gesundheit

ISSN: 1861-2466

Auflagenhöhe: 2.490 Exemplare

Copyright: Nachdruck und Vervielfältigen, auch auszugsweise,sind nur mit Genehmigung der Redaktion gestattet.Die Redaktion behält sich das Recht vor, veröffent-lichte Beiträge ins Inter net zu stellen und zu verbrei-ten. Der Inhalt der Beiträge entspricht nicht unbe-dingt der Mei nung der Redak tion. Für unverlangt ein-gesandte Manu skripte, Fotos und Datenträger kannkeine Gewähr übernommen werden, es erfolgt keinRückversand. Die Redaktion behält sich das Rechtvor, Artikel redaktionell zu bearbeiten.

Prof. Dr. Peter Buttner, Hochschule München

Prof. Dr. Peter Dentler, Fachhochschule Kiel

Prof. Dr. Matthias Hüttenmann, Fachhochschule Nordwestschweiz Olten, Schweiz

Prof. Dr. Johannes Lohner, Hochschule Landshut

Prof. Dr. Albert Mühlum, Bensheim

Prof. Dr. Helmut Pauls, Hochschule Coburg

Prof. Dr. Elisabeth Steiner, Fachhochschule FH Campus Wien

Prof. Dr. Dr. Günter Zurhorst, Hochschule Mittweida

Impressum

Wissenschaftlicher Beirat

4/2019 Abhängigkeitserkrankungen(Redaktionsschluss: 15.06.2019)

1/2020 Case Management (Redaktionsschluss: 15.09.2019)

Kommende Ausgaben

Zu den Autor*innen dieser Ausgabe

Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Kontakt: [email protected]

Katarina Prchal, Diplom-Rehabilitationspädagogin undM.A. Klinische Sozialarbeit, Mitarbeiterin am Institut fürSoziale Gesundheit (ISG) der Katholischen Hochschulefür Sozialwesen Berlin (KHSB), Arbeitsschwerpunkte:empirische Fun dierung der gesundheitsorientierten So -zia len Arbeit, Soziale Ar beit und Pflege, Pflege -geschichte und -entwicklung, Gesundheitsförderungim Rahmen der Kinder- und Ju gendhilfe. Kontakt: [email protected]

Anna Lena Rademaker, Dr. phil., M.A. Soziale Arbeit,Lehrkraft für besondere Aufgaben, FachhochschuleBielefeld und Fachreferentin für Fachkonzepte undForschungsprojekte in der Deutschen Vereinigung fürSoziale Arbeit im Gesundheitswesen e.V. (DVSG).Kontakt: [email protected]

Rudolf Schmitt, Prof. Dr. phil. habil., Hochschule Zit -tau/Görlitz, Fakultät Sozialwissenschaften. Arbeits -schwer punk te: Beratung, Soziale Arbeit mit psychischkranken Menschen; Forschungsschwerpunkt: kognitiveLin guis tik/Metaphernanalyse als qualitatives For -schungs ver fahren.Kontakt: [email protected]

DVSG-Bundeskongress 2019 am 14.–15. November inKassel: Gesundheit für alle!? Benachteiligungenerkennen – Handlungsspielräume nutzenInternational und national sind soziale und gesundheitli-che Ungleichheit und deren Auswirkungen auf die Ge -sund heit bestimmter Bevölkerungsgruppen wissen-schaftlich belegt. In Deutschland verdeutlicht die Ge -sundheitsberichterstattung des Bundes, dass sich sozia-le Benachteiligung auf Gesundheitschancen und Lebens -erwartung auswirkt. Für Fachkräfte der gesundheitsbe-zogenen Sozialen Arbeit zeigen sich die Ursachen undWechselwirkungen von sozialer Lage und Gesundheit invielfältiger Weise, gestützt auf Erfahrungen aus der täg-lichen Praxis und aufgrund sozialarbeitswissenschaftli-cher Befunde: Menschen in Armut, einem Leben amRande der Gesellschaft, mit gesundheitlichen Be ein -trächtigungen, chronischen Erkrankungen und Behin de -rung sind gesundheitlich benachteiligt.

Um gerechtere Chancen auf Gesundheit zu ermöglichen,müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse für alle undinsbesondere die in sozial und gesundheitlich prekärenLebenslagen lebenden Menschen, entsprechend ausge-baut werden, um bessere Möglichkeiten der Gesund -heitsförderung und Unterstützung zu schaffen. Aus Sichtder gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit gelingt dieVerminderung von gesundheitlicher Benachteiligung nurnachhaltig, wenn Interventionen zur Verhinderung undBewältigung sozialer Probleme partizipativ und lebens-weltorientiert geplant und umgesetzt werden sowie aufdie Veränderung von Verhältnissen abzielen. An beidenKongresstagen bieten insgesamt 34 Foren und Work -shops vielfältige Möglichkeiten zur fachlichen Diskus -sion, zum Austausch und zur Fortbildung.

Weitere Informationen, Programm und Anmeldung:www.dvsg-bundeskongress.de

Netzwerk „Qualitative Gesundheitsforschung“. In dem Netzwerk schließen sich Forscher*innen zusam-men, um u.a. einen regelmäßigen interdisziplinären Aus -tausch im Bereich der qualitativen Ge sund heits for schungzu gewährleisten, qualitative Forschungs metho den wei-terzuentwickeln und durch Metho den work shops undForschungswerkstätten zu fundieren, einen Anschlussan die internationale For schungs land schaft zu etablie-

Fortbildungen und Tagungshinweise

ren, die aktuellen An wendungsfelder qualitativerGesundheitsforschung zusammenzufassen und zukünf-tige Forschungssfelder zu erschließen sowie gemein-sam zu forschen und zu publizieren.

Mehr Informationen unter: http://www.qualitative-gesundheits forschung.de.

TiSSA 17th Annual PhD (16 – 18 August 2019) andPlenum Conference (19 – 21 August 2019) in Münster(Germany). Conference theme: "Challenging SocialWork: Borders, Boundaries and Bridges".The international "Social Work & Society" Academy(TiSSA) is an independent cooperation between Eu ro -pean universities, institutes and organizations. Manycountries are confronted with social and political for-ces that aim at strengthening symbolic and social boun-daries such as class, gender, race and nationality. Thestrengthening of these boundaries leads to processesof othering, in which a strong focus is placed on dis-tinctions between 'us' and 'them'. Today, these dis-tinctions are often translated and expressed in debatesabout a diversity of themes such as 'we' versus the'refugees', the West versus the East, Europe versus theUS, left versus right and so on. Hence, social workpractice and research is challenged to position itself inthe face of these often-polarised debates. In doing so,social work often seems to rely on essentialist con-cepts. Such an essentialist approach leads to methodo-logical claims of truth rather than to democratic deba-tes about possible diverse perspectives on social pro-blems and answers to these problems.

However, driven by a social justice agenda, social workpractice and research should challenge these bordersand boundaries, opening them up by also acting as abridging rather than dividing force. In order to stimulatethis debate and providing a forum for open discussion,TiSSA invites experts from academic social workresearch, professional fields and policy to discuss thetension between boundaries and bridges in social workas a way forward for social work in its quest for social jus-tice at the TiSSA 2019 conference in Münster, Germany.

Registration and information: https://www.tissa.net

2 Klinische Sozialarbeit 15 (3) | 2019

Page 3: KLINISCHE SOZIALARBEIT

S ubjektive Theorien von Ge -sundheit und Krankheit um- fassen all die Bestandteile all-

täglichen Wissens, dem sogenanntenAll tags wissen, auf dessen Grundlagedie gesellschaftliche Wirklichkeit vomSub jekt erfahren wird, und sind damitein System unmittelbar leitender Orien -tierungen, das von einzelnen Men -schen und bestimmten Per sonen grup -pen geteilt wird (Schütze 1973, S. 16 f.).Subjektive Gesundheits- und Krank -heits theorien sind „Laientheorien“und beschreiben die Vorstellungen,Begriffe und Ursache-Wirkungs zusam -menhänge, die sich die Menschen vonihrer Gesundheit und ihrer Krankheitim Alltag machen. Sie werden mitzunehmendem Alter und Erfahrungenmit Erkrankungen, ihrer Behandlungund Genese komplexer und durch wis-senschaftlich und gesellschaftlich kon-sensfähige Definitionen und Wissens -standards über Risiko fak toren undBedingungen der Heilung beeinflusst,gehen aber noch weit über das Ex -pert*innenwissen hinaus (Flick 1998).Die Erklärungen, über die Ent stehungvon Krankheit und Aufrecht erhal tungvon Gesundheit variieren ins be son -dere nach Bevölkerungs grup pen, Al -ter, Geschlecht, Herkunft, sozialerSchicht und Berufszugehörigkeit. Die -se Unterschiede in den soziodemogra-fischen Bereichen deuten auf eineHerausbildung von Gesundheits- undKrankheitstheorien in Auseinander set -zung mit den vorherrschenden Lebens - bedingungen und Erfahrungen hin.Nicht nur das Individuum ist von zen-traler Bedeutung, wenn es um dieFrage geht, wie Gesundheit und Krank -heit subjektiv erfahren werden. Glei -cher maßen beeinflussen das sozia leUm feld, kollektive Einstell ungen zubspw. medizinischen Expert*innenoder alltagspraktischen Verfahren, umdie Ge sundheit aufrecht zu erhalten,gemeinschaftlich geteilte Erfahrungenmit Hilfesystemen und deren Ver fa h -rens weisen sowie andere Alltags kon -struk tionen die Gesundheits- undKrank heitstheorien der Adressat*in -nen Kli nischer Sozialarbeit.Studien belegen, dass die subjektivenTheorien von Gesundheit und Krank -heit für viele Menschen handlungslei-

tend sind. Interventionen, präventivesVerhalten und weitere die Gesundheitaufrechterhaltende bzw. Krankheit ver-meidende Alltagshandlungen basierendarauf, wie die Welt in ihrer aktuellvorherrschenden Situation von denMenschen wahrgenommen und inter-pretiert wird und welchen eigenenEinfluss sie sich vor dem Hintergrunddieser Alltagskonstruktion auf ihre bio-psychosoziale Gesundheit selbst bei-pflichten.

Die Klinische Sozialarbeit tut gut da -ran, diese subjektorientierte Pers -pektive bewusst in ihre psychosozialePraxis von Beratung und Behandlungvon, nicht nur „hard to reach“, son-dern „seldom heard“ und mehrfachbe lasteten Menschen zu integrieren.Häufig liegen bereits lange Krank -heitsbiografien, Verstrickungen mitHelfersystemen sowie sozial geteilteVorannahmen seitens der Adressat*innen, wohl aber auch Expert*innenvor, von denen sich die Sozialarbeiter*innen nicht ausnehmen können. Fürdie Beratungspraxis bedeutet das bei-spielsweise, nicht nur die objektiv vor-liegenden Diagnosen und expertokra-tisch als helfend deklarierte Interven -tio nen in den Blick zu nehmen, son-dern im Sin ne des Fremdverstehens,das Ge sund heits- und Krankheits ver -stehen und -handeln von Adressat*in nen sensibel zu rekonstruieren.

In die Subjektperspektive in der Ge -sundheitsarbeit führt Toni Faltermaiermit seinem Beitrag über subjektiveGesundheits- und Krankheitstheorienals gesundheitspsychologischen An -satz ein. Darin stellt er die subjektivenTheorien als praxisrelevantes For -schungsfeld vor und skizziert Erfor -dernisse an die psychosoziale Praxismit einer Subjektperspektive. StefanDreßke und Heike Ohlbrecht nehmenin ihrem Beitrag über Alltagswissenüber Körper, Gesundheit und Krank -heit eine soziologische Perspektiveein, anhand der sie das Verständnis

des Alltags als Arbeitsgrundlage kon-zeptualisieren, mit der eine lebens-weltorientierte Sozial arbeit Zugang zuihren Adressat*innen erhält. Dazu ge -hören Kenntnisse über Lebens la gen,Biografien, Handlungsspielräume undLebensperspektiven, die Hinweise aufVerwirklichungs- und Teilhabe chan cengeben, die sie anhand zweier empiri-scher Beispiele exemplarisch heraus-arbeiten. Die Autor*innen be schrei bendas Konzept des Alltags wis sens als einzentrales methodisches Werkzeug, ins-besondere wenn, wie in der KlinischenSozialarbeit üblich, Körper, Gesund -heit und Krankheit zu thematisierensind. Anhand von Me ta phern erweitertRudolf Schmitt die subjektiven Pers -pektiven von Klient*in nen in der Kli -nischen Sozialarbeit und erörtert ihreRelevanz in der Be handlung schwererreichbarer Betrof fener und bei derVer änderung leidvoller Situationen.

Am Beispiel des Rauchens führtSchmitt in Erkenntnisse methaphern-analytischer Forschung ein und skiz-ziert das Vorgehen einer methaphern-reflexiven Beratungsarbeit, um in Be -ra tung und Prävention Refle xions -prozesse anzuregen, die dazu führen,eigene Denkmuster zu erkennen undAlternativen zum bisherigen Verstehenzu entwickeln. Mit Blick auf Kinder mitpsychisch erkranktem Elternteil stellenPatricia Graf und Albert Lenz Ergeb -nisse einer qualitativen Interview stu -die über subjektive Gesundheits theo -rien aus 18 betroffenen Familien vor,die sich nach Aussage der Autor* in -nen in ein biopsychosoziales Modellvon Gesundheit einordnen und so Im -pli kationen für die Praxis zulassen. Fürdie Klinische Sozialarbeit arbeiten sieheraus, dass Betroffenen verschiedeneFacetten psychischer Gesundheit ge -läu fig sind, auf die psychoedukativeInterventionen eingehen sollten, umfür die Betroffenen besser anschluss-fähig zu sein.

Wir wünschen viel Freude mit dieserAusgabe und freuen uns auf Rück -meldungen oder Anregungen.

Für die RedaktionAnna Lena Rademaker

Editorial

3Klinische Sozialarbeit 15 (3) | 2019

Subjektive Theorienvon Gesundheit und Krankheit

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F ür die Qualität einer Praxis derGesundheitsförderung und derSozialen Arbeit im Gesund -

heits wesen ist es ganz wesentlich, wiedie Adressat*innen professionellerArbeit konzipiert werden. Wie die mehroder weniger gesunden oder krankenMen schen als Laien, Klient*innen oderPatient*innen betrachtet, einbezogenund behandelt werden, ist nach allem,was wir darüber heute wissen, ent-scheidend für den Erfolg einer Praxis.Das Bild, das Pro fes sio nelle von ihremGegenüber (bewusst oder unbewusst)haben, bestimmt den Umgang mitihnen. Das ist mit einem biopsychoso-zialen Modell von Ge sund heit undKrankheit (Faltermaier 2017) zwarimpliziert, aber die Kons truktion derZielpersonen und -gruppen ist damitnoch nicht festgelegt. In einem medizi-nisch geprägten Ge sund heitssystemwar das Grundmuster traditionell einhierarchisches Verhältnis zwischenPatient*innen und Ärzt*innen, das Wis - sen, die Kompetenzen und die Machtschienen eindeutig zugunsten derExpert*innen verteilt, die Aus bil dungund Sozialisation der Gesund heits -berufe reproduzierte dieses Bild. Abereine moderne Gesund heits ver sorgungfunktioniert heute in Prä ven tion, Be -handlung und Rehabilitation nichtmehr nach diesem Muster. Wir habenviele wissenschaftlichen Hin wei se aufdie Bedeutung des „Laien gesund heits -systems“ (Falter maier 2016), solltenuns also die Frage stellen, wie wir(medizinische) Laien verstehen wollen,welchen Beitrag zur Gesunderhaltungoder Genesung sie als Betroffene leis-ten (können) und welche Beziehungwir in der professionellen Arbeit zuihnen herstellen wollen. Unter Stich -worten wie „Par tizi pation“, „informier-te Entschei dungs findung“ oder „Em -powerment“ werden in der professio-

nellen Ges und heitsarbeit solche Fra -gen diskutiert.

In diesem Beitrag soll in der notwendi-gen Kürze die Frage gestellt werden,was es bedeuten kann, wenn gesundeoder kranke Laien, Klient*innen undPatient*innen konsequent als Subjektein ihren Lebenswelten verstanden wer-den. Dazu wird zunächst die Sub jekt -perspektive allgemein eingeführt, dannauf ein dafür wichtiges Forschungsfeldverwiesen, das gesundheitsbezogeneVorstellungen von Laien untersucht.Diese zunächst individuelle Ebenewird durch den Kontext der Lebens -welt er weitert und schließlich werdeneinige Kon se quenzen für die professio-nelle Ge sund heitsarbeit abgeleitet.

Subjektperspektive in denGesundheitswissenschaftenDas Subjekt ist ein sozialwissenschaft-liches Konstrukt, das in den Ge sund -heitswissenschaften aufgegriffen wurd eund das in deutlichem Ge gen satz zujener psychologischen Tra di t ion steht,die Individuen vor allem über ihre Ver -haltensaspekte zu konstruieren sucht.Subjekt impliziert eine potenziell akti-ve, mehr oder weniger bewusst han-delnde Person, die für das eigenständi-ge Handeln im Alltag das notwendigeWissen und die Kom petenzen besitzt,die sie im Laufe ihrer Sozialisation er -worben hat. Das impliziert für den Ge -sundheitsbereich, dass Menschen imLaufe ihres Lebens beim Umgang mitihrem Körper, mit ihrer Gesundheitund mit ihren Krankheiten vielfältigeund kontinuierlich Erfah run gen ma -chen. Hieraus entstehen Wissen undKom petenzen, die sie im weiteren Le -ben leiten. Die Tatsache, dass Men -schen gesundheitsbezogen überwie-gend in ihrem Alltag und nicht im pro -fes sionellen System handeln, vor al -

lem wenn sie gesund sind oder sichfüh len, aber auch wenn sie krank sindund behandelt werden, verweist aufdas „Laiengesundheitssystem“, ein imAlltag oft „verborgenes“ System so -zia ler Interaktionen, dessen Existenzim traditionellen Fokus auf das profes-sionelle Gesundheitssystem in denWissenschaften lange übersehen wur -de. Es spielt aber eine wichtige Rolle inder Erhaltung von Gesundheit, imUmgang mit alltäglichen Krankheiten,in der Umsetzung von Behand lungs -maßnahmen, in der Versorgung vonchronisch kranken und pflegebedürfti-gen Angehörigen (Faltermaier 2016).Insofern sind Professionelle gut bera-ten, Patient*innen einzubeziehen, wennsie erreichen wollen, dass sie mit ih -nen kooperieren und Maßnahmen inih rem Alltag umsetzen („compliance“).Sie sind noch mehr darauf angewie-sen, wenn sie Zielgruppen der Prä -vention erreichen wollen, die vielleichtnoch gar keine Motivation (und keinenLeidensdruck) haben, ihr Leben undihre Gewohnheiten zu verändern, nurweil Gesundheitsexperten das für ge -boten halten. Hier stellt sich die Fra ge,wie sie angesprochen werden, alsmündige Subjekte oder als Objekteiner wie auch immer als vernünftigoder wissenschaftlich begründetenExpertenstrategie. Es ist offensichtlichund inzwischen vielfach empirischbelegt, dass sich Menschen unabhän-gig von Expert*innen Gedanken zu ih -rer Gesundheit oder einer spezifischenKrankheit machen und dass die seÜber zeugungen ihr Handeln (oderNicht-Handeln) wesentlich be stim men.

Subjektive Gesundheits- und Krankheitstheorien: ein praxisrelevantes ForschungsfeldMit der Herausbildung der Ge sund -heits wissenschaften und der Gesund -

4 Klinische Sozialarbeit 15 (3) | 2019

Thema

Toni Faltermaier

Subjektperspektive in der GesundheitsarbeitEin gesundheitspsychologischer Ansatz zur Arbeit mit subjektiven Gesundheits- und Krankheitstheorien

Page 5: KLINISCHE SOZIALARBEIT

heits psychologie in den 1990er-Jah -ren wurde zunehmend deutlich, dassdie Genese und der Verlauf von Krank -hei ten und Gesundheit in hohem Ma -ße vom Verhalten von Individuenabhängen (Faltermaier 2017; Schwar -zer 2004). Auf dieser Basis entstandein großes Forschungsfeld, das nachden psychischen und sozialen Deter -mi nanten von spezifischen Risiko- undGe sundheitsverhaltensweisen suchteund damit auch nach Möglichkeitenihrer Veränderung.

Neben sozialen Bedingungen (Familie,soziales Netz werk) und soziodemogra-phischen Fak toren (sozioökonomi-scher Status, Ge schlecht, Alter) erwei-sen sich vor al lem gesundheitsbezoge-ne Überzeu gungen („health beliefs“)als bedeutsame Det erminanten einesGesundheits ver haltens (ebd.). Ob Men -schen überhaupt ein Risiko wahrneh-men zu er kranken, welchen Einfluss siesich persönlich zuschreiben, das eige-ne Risiko zu verringern (Kontroll über -zeugung), und welche eigenen Kom -petenzen sie sich dabei zuschreiben(Selbst wirk samkeitsüber zeu gung),diese kognitiven Variablen erkläreneinen signifikanten Anteil der Varianzfür viele spezifische, von Expert*innenempfohlene Formen des Gesund heits -verhaltens (beispielsweise Änderungeines riskanten Verhaltens wie Rau -chen oder Alkoholkonsum, Umsetzunggesunder Ernährung und ausreichen-der Be we gung, Inanspruchnahme vonVor sorgeuntersuchungen).

Gesundheitspsychologische Modellezur Erklärung des Gesund heitsver hal -tens wurden entwickelt, immer mehrverfeinert und empirisch abgesichert(Schwarzer 2004). Sie alle gehen aberdavon aus, dass Expert*innen genauwissen, welche Lebensweisen fürMenschen präventiv notwendig odergesund sind, und dass Menschen ent-sprechend dieser Vorgaben handelnsollten. Die Schwierigkeiten in der Pra -xis, Lebensstile erfolgreich und nach-haltig zu ändern, zeigen jedoch, dassdieses Modell an seine Grenzen stößt,vor allem bei Bevölkerungs grup pen,die eigentlich den größten Bedarf fürpräventive oder rehabilitative Inter ven -tionen hätten.

Daher etablierte sich nahezu zeitgleicheine zweite Perspektive auf die Person,die stärker auf das eigenständige Han -deln des Subjekts, auf seinen All tagund seine Lebenswelt setzte. Sie kon-zentriert sich auf das Alltagswissenvon Menschen über Gesundheit undKrank heit (Flick 1998), das als zentraleBe dingung des gesundheitsbezoge-nen Handelns verstanden wird. In vie-len Studien weltweit wurden sowohldie Vorstellungen von Gesundheit beigesunden Menschen als auch dieVorstellungen von spezifischen Krank -heiten bei Patient*innen untersucht(vgl. Faltermaier und Brütt 2013). ImFolgenden wird ein kurzer Abriss überErkenntnisse aus diesen Studien gege-ben (vgl. Faltermaier 2016; 2017):

Die Laienvorstellungen von Gesund -heit lassen sich zunächst differenzierennach subjektiven Konzepten und sub-jektiven Theorien. Subjektive Gesund -heitskonzepte umschreiben das per-sönliche Verständnis von Gesundheit,subjektive Gesundheitstheorien mei-nen die Vorstellungen über die Ein -flüsse auf die eigene Gesundheit; siekönnen insofern die Form von Theo -rien annehmen, weil Alltags menschensich wie naive Wissenschaftler*innenverhalten und Ereignisse in ihrem Le -ben zu erklären versuchen. Aus den Er -kenntnissen der internationalen quan -titativen und qualitativen Forschunglässt sich resümieren, dass Laien ihreGesundheit sowohl positiv als auchnegativ bestimmen, wobei in reprä-sentativen Stichproben die positivenDefinitionen überwiegen. Dabei wirdGesundheit positiv vor allem als psy -chi sches Wohlbefinden, als Hand -lungs- und Leistungsfähigkeit sowieals Potenzial an Energie beschrieben,negativ als Abwesenheit von Krankheitoder als geringes Maß an Be schwer -den bzw. Schmerzen.

Es zeigen sich tendenzielle Unter schie -de zwischen sozialen Status grup pen,Ge schlecht und Alter, die jedoch nichtdurchgehend konsistent sind; Männertendieren mehr zu negativer Bestim -mung von Gesundheit, positiv domi-niert die Leistungsfähigkeit; Frau enhaben differenziertere Konzepte, da -bei herrscht das psychische Wohl -

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Thema

befinden vor. Kranke Menschen oderPa tient*innen können mit gesundenver gleichbare Gesundheits kon zepteha ben. Wie vor allem qualitative Stu -dien zeigen, werden in subjektivenGesund heitstheorien positive und ne -ga tive Einflüsse vor allem durch dieArbeit und Familie (Risiken, psychi -sche Belastungen und soziale Unter -stüt zung) sowie durch die Umwelt undden eigenen Lebensstil (riskantes undgesundes Verhalten) wahrgenommen.Es fällt auf, dass Laien – wenn sieoffen-qualitativ befragt werden – oftdurch aus komplexe Vorstellungen for-mulieren, bei denen vielfach psycho-soziale Einflüsse dominieren, die aufbiographischen Erfahrungen beruhen.Entsprechend vielfältig kann das Ge -sundheitshandeln von Laien sein, dasauf ihren subjektiven Theorien von Ge -sundheit beruht. Gesundheits bezo ge -ne Lebensweisen reichen in qualitati-ven Studien von wenig vorsorgendenHandlungen (riskante oder auf Be -schwer den bezogene) über Hand lun -gen mit einem spezifischen Hand -lungs schwerpunkt (Ernährung, Bewe -gung, Abbau eines Risikoverhaltens)bis zu einem mehrdimensionalen undin den Alltag integrierten Gesund heits -handeln (Faltermaier, 2017). Menschensind zwar vielfach überzeugt von dem,was sie zum Erhalt ihrer Gesundheittun müssten, aber es ist abhängig vonihrer sozialen und biographischenLag e, ob und was sie im Alltag auchumsetzen.

Die internationale Forschung über dieLaienvorstellungen von Krankheit hatsowohl gesunde als auch kranke Men -schen befragt (vgl. Faltermaier undBrütt 2013). Es dominieren quantitati-ve und qualitative Studien zu den sub-jektiven Krankheitstheorien von Pa -tient*innen, vor allem den Be troffenenverbreiteter körperlicher Krankheiten(beispielsweise koronare Herz er kran -kung, Krebs erkrankung, chronischeRücken be schwer den), aber auch Pa -tient*innen mit psychischen Erkran -kungen (De press ionen, Essstörungen)werden zunehmend untersucht. Dasdominante Modell der Forschung un -terscheidet dabei Vorstellungen vomKrank heits bild, den Ursachen einer Er -krankung, ihrer Dauer und des zeitli-

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Thema

6 Klinische Sozialarbeit 15 (3) | 2019

chen Verlaufs sowie Annahmen überdie Folgen einer Krankheit und überihre Be handlungsmöglichkeiten. Esfällt auf, dass Betroffenen die Ur sa -chen ihrer Krankheit vor allem in psy-chosozialen Faktoren, der Umwelt unddem Lebens stil sehen. Die kausalenAttri butionen sind oft eng mit deneigenen Erfahrungen verbunden undinsgesamt durchaus vergleichbar mitwissenschaftlichen Theorien. Sub jek -tive Krankheitstheorien sind bedeut-sam für den Umgang des Betroffenenmit der Krankheit im Alltag und derInter aktion mit den betreuenden Pro -fes sio nellen. Wie die Belastungen ei -ner Krankheit erlebt und bewältigt wer-den, welche Hilfen und Unter stützungge sucht werden, wie in der Familieund im sozialen Netzwerk damit umge-gangen wird, wie die professionelleBehand lung bewertet und wie mit denEx pert*innen kooperiert wird, dashängt ganz wesentlich von den subjek-tiven Theorien der kranken Menschenund ihrer Angehörigen ab. Pro fes sio -nelle sollten daher davon ausgehen,dass ihre Patient*innen diese Vor stel -lungen haben und sie möglichst explo-rieren, um sie bei ihrem Handeln ein-beziehen und damit kooperative Pro -zesse ermöglichen zu können.

Subjekt und Lebenswelten: sozialeLage, Geschlecht, Alter, LebensphaseFür ein angemessene Konzeption die-ses Feldes ist es wichtig, die Menschennicht zu individualisieren, sondern inihrem sozialen Kontext zu verstehen.Lebenswelten stellen den Kontext fürdas gesundheitsbezogene Handelndes Subjekts dar (Faltermaier und Wi -hofsky 2012). Es gilt daher zum einensoziale Differenzierungen vorzuneh-men, zum anderen das handelndeSubjekt in seinen lebensweltlichenKontext zu stellen. Wie angedeutet un -terscheiden sich subjektive Theo rienvon Gesundheit und Krankheit nachsozialen Gruppen. Gesundheit variiertnicht nur objektiv nach sozialen In -dikatoren wie der sozialen Lage, demGeschlecht und Alter, sondern auchsubjektiv. Menschen handeln alltäglichnicht nur mit dem Ziel Gesundheit, siehaben viele Anforderungen in ihremAlltag zu erfüllen und viele andere per-sönliche Ziele vor Augen. Gesundheit

stellt daher in der Regel nicht dieobers te Priorität für Menschen dar.Aber es können Lebenssituationen undLebensphasen entstehen, die es wahr-scheinlicher machen, dass Sub jek te dieGesundheit für sich höher bewertenund diese damit handlungsrelevanterwird. Das können gesundheitliche Er -eignisse (eigene Erkran kung oderKrank heiten im sozialen Netz werk)sein, aber auch soziale Über gangs pha -sen (Familiengrün dung, be ruf liche Ver -änderungen oder der Ein tritt in denRuhestand), die Menschen zur Re flek -tion über ihre Gesundheit und zurneuen Handlungs prioritäten bringen.Diese Labilisierung von Mo ti ven undIden titäten können auch eine Chancedafür sein, professionelle Strategien derGesundheits förderung zu etablieren.

Gesundheitsarbeit als psychosozialePraxis mit einer SubjektperspektiveDie Geschichte der Prävention undGesundheitsförderung ist in Deutsch -land seit mehr als 3 Jahrzehnten inbedeutsamer Weise durch eine psy-chosoziale Praxis geprägt worden (vgl.zum aktuellen Stand: Hurrelmann et al.2018; Kohlmann et al. 2018). Über dieOttawa-Charta der WHO zur Gesund -heitsförderung wurden ein positiverGesundheitsbegriff, ein salutogeneti-scher Ansatz der Förderung vonRessourcen und eine professionelleGrundhaltung des Empowermentsund der Partizipation vorgegeben, diesich zwar in der Praxis nicht immerdurchsetzen, aber nach wie vor als„state-of-the-art“ gelten.

Die Gesundheitsförderung und gene-rell die psychosoziale Gesund heits -arbeit sind daher in hohem Maße kom-patibel mit einer Subjektperspektiveund können von ihrer konsequentenUm set zung gewinnen. Konkret bedeu-tet das, dass in der Praxis der Gesund -heits förderung die Zielgruppen inihren subjektiven und sozialen Aus -gangs bedingungen verstanden unddort abgeholt werden sollten, wo sie inihrem Alltag subjektiv und sozial ste-hen. Bei der Förderung von Gesund -heit über ihre körperlichen, psychi -schen und sozialen Ressourcen solltedas Subjekt in seiner Lebensweltbetrachtet werden (Faltermaier 2018;

Faltermaier und Wihofsky 2012). Damitkönnten nicht nur viele Zielpersonenmit Bedarf besser erreicht werden,sondern auch die Qualität von Maß -nahmen gesteigert werden, weil sichdie Chancen einer nachhaltigen Um -setzung von Veränderungen in denAlltag erhöhen. Auch der Ansatz derpsychosozialen Gesundheitsförderungin Settings und „communities“ bieteteine gute Grundlage für lebenswelt -orientierte Maßnahmen. Die Praxis derGesundheitsberatung in ambulantenund klinischen Settings sollte gleicher-maßen von einer Subjektorientierungprofitieren. Letztlich muss erfolgreicheGesundheitsarbeit immer auch Be zie -hungs arbeit sein, in der es darum geht,das „Gegenüber“ als Subjekt im Kon -text seiner Lebenswelt zu verstehenund in seiner Eigenlogik zu respektie-ren, bevor Veränderungen von au ßeninitiiert werden.

Literatur:

Faltermaier, T. (2016): Laienperspektiven aufGesundheit und Krankheit. In: Richter, M.;Hurrelmann, K. (Hg.): Soziologie vonGesundheit und Krankheit. Berlin: Springer-Verlag, S. 229–241.

Faltermaier, T. (2017): Gesundheitspsycho -logie (2., überarbeitete und erweiterteAuflage). Grundriss der Psychologie, Band21. Stuttgart: Kohlhammer.

Faltermaier, T. (2018): Salutogenese undRessourcenorientierung. In: Kohlmann, C.-W.;Salewski, C.; Wirtz, M.A. (Hg.): Psychologiein der Gesundheitsförderung. Bern: Hogrefe,S. 85–97.

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Schwarzer, R. (2004): Psychologie desGesundheitsverhaltens. Göttingen: Hogrefe.

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Thema

7Klinische Sozialarbeit 15 (3) | 2019

D as Verständnis des Alltags istdie Arbeitsgrundlage, mit dereine lebensweltorientierte So -

zial arbeit Zugang zu ihren Adressa t*in -nen erhält. Dazu gehören Kenntnisseüber Lebenslagen, Bio grafien, Hand -lungsspielräume und Le bens pers pek -tiven, die insgesamt ge nom men Hin -weise auf Verwirk li chungs- und Teil -habechancen geben. Das Kon zept desAlltagswissens bietet dafür ein zentra-les methodisches Werkzeug, insbeson-dere wenn, wie in der Klinischen So -zialarbeit üblich, Körper, Gesundheitund Krankheit zu thematisieren sind.Das Konzept des Alltagswissens fußtauf dem Ver ste hen der Lebensweltenund subjektiven Relevanzhorizonteder zum Teil schwer zu erreichendenAdres sat*innen.

Zur Bedeutung des AlltagswissensGesundheit und Krankheit sind wider-sprüchliche Dimensionen unseres Le -bens. Zwar beobachten wir unserenKör per sehr aufmerksam, andererseitsunterstellen wir zumeist eine fragloseFunktionsfähigkeit. Erst durch Krank -heiten oder Symptome werden wir ansein Vorhandensein, mögliche Ein -schränkungen und Endlichkeit erin-nert. So klafft beispielsweise zwischendem objektiven Befund einer Krankheitund dem subjektiven Erleben vonBetroffenen mitunter eine erheblicheLücke, denn die eigenen Deutungendes Körpers und die der Expert*innendecken sich in der Regel nicht, zumin-dest nicht vollständig.

Auf diese und ähnliche Bereiche lässtsich das Konzept des Alltagswissensüber den Körper und dessen Ge sund -heit sowie Krankheit anwenden. Kul -turell vermittelte und inkorporierteWissensbestände – das ist das All tags -wissen – rahmen unsere Vorstellungenvon Gesundheit und Krankheit, indem

sie Vermutungen über die Herkunft,die Deutung und den Verlauf vonKrankheiten zur Verfügung stellen (vgl.Flick 1991). Alltagswissen hat dahernicht nur (wie etwa schulisches Wis -sen) kognitive Elemente, sondern um -fasst auch verkörperlichte, erlebte undemotionale Anteile, die nicht unmittel-bar sprachlich zugänglich sind (Kellerund Meuser 2011). Aus diesem Grundwird im Folgenden auch kein konzep-tioneller Unterschied zwischen psy-chisch und physisch etikettierten Krank -heiten gemacht: Letztendlich ge hörenalle Krankheiten zu unserer leiblichenIdentität.

Obwohl Alltagswissen im Gegensatzzum wissenschaftlichen Wissen wider-sprüchlich, situativ und nicht logischist, gehorcht es dennoch Regeln. Esfolgt allerdings nicht den argumenta-tiv-schlüssigen Logiken nüchternerWis senschaft, sondern den impliziten,stillschweigenden und emotional ge -färbten, aber umso machtvollerenNormen des Handelns in sozialenMilieus, in Familien, in professionellenBeziehungen oder in der Erwerbs -arbeit (vgl. Moscovici 1991). Orientie -run gen für das Gesundheits- undKrankheitshandeln geben kulturelleKontexte, in denen Körper in je spezifi-scher Weise erlebt, definiert und ver-handelt werden (Morris 2000; Jellenu.a. 2018).

Darüber hinaus hat das Alltagswissenaufgrund seiner biografischen Aneig -nung eine zeitliche Komponente. ImAlltagswissen werden biografischeund historische Erfahrungen tradiert –nicht nur unsere eigenen, sondernauch die der Generationen unsererEltern und Großeltern. Das praktischeund intuitive Alltagswissen leitet zuunmittelbarem Handeln an, gibt Orien -tierungen und weist dem Handeln

einen Sinn zu. Was Individuen übersich selbst und ihren Körper wissen, istalso nicht im konventionellen Sinnesubjektiv auf die eigene Person be -schränkt, sondern folgt als kulturellesScript vielmehr sozialen Normen undErwartungen sowie den typischen An -forderungen zur Sicherung der Exis -tenz. Im vorliegenden Beitrag spre-chen wir daher statt von „subjektivemWissen“ eher von Alltagswissen, wo -mit das Soziale und das Soziali sie -rende dieses Wissens gegenüber demrein Persönlichen und dem essenziellIndividuellen betont werden. Anhandvon 2 Beispielen werden die Wir kun -gen des Alltagswissens erörtert unddie Kon sequenzen für die KlinischeSozial arbeit aufgezeigt.

Beispiel I: Schmerzverständnisse in sozialen MilieusMit dem Interviewmaterial einer Stu -die mit hochaltrigen geriatrischenPatient*innen wird im Folgenden illus-triert, wie Körper erfah rungen gedeutetwerden (vgl. Dreßke und Ayalp 2017).Insbesondere Personen aus dem länd-lichen Raum mussten in den 1930er-und 1940er- Jahren in ihrer Kind heitund Jugend hart arbeiten. Frau Gert(geb. 1924) erinnert sich an eine Epi -sode bei der Feldarbeit, die sie ab demAlter von 6 Jahren in den 1930er- Jah -ren verrichtete:

Ja, wir mussten schon viel mitar-beiten. Da gab es keine Ma schi -

nen, die die Kartoffeln rausmachten,da ist der Papa und der Opa, die sindfrüh morgens schon um vier Uhr losaufs Feld mit Gabeln und haben dieKartoffeln ausgegraben. Wir Kinderhat ten Eimer und Körbe und dann ha -ben wir die Kartoffeln aufgelesen. EineSchwester von mir sagte: „Papa, ichkann nicht mehr. Ich habe so Rücken -

Alltagswissen über Körper, Gesundheitund Krankheit aus soziologischerPerspektiveStefan Dreßke und Heike Ohlbrecht

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weh. Ich habe so Kreuzweh.“ Dann hatder Papa gesagt: „Du bist noch so jung,du hast doch noch gar kein Kreuz.“

Unsere Informant*innen hatten undhaben ein robustes Verständnis vonihrem Körper und von sich selbst, dassich aus den Notwendigkeiten derExis tenzsicherung durch harte Arbeitspeist. Frau Gert denkt über den Un -terschied von Kinder- und Er wachse -nenkörper nach, was sich folgender-maßen deuten lässt: Kinder kör persind noch im Wachsen begriffen undzerbrechlich, aber sie sind auch un ver -braucht, biegsam, trainier bar, weichund formbar – resistent gegenüberUnfällen und Schmer zen. Er wach se -nen körper sind dagegen ge formt, hartund stabil, werden abgeschliffen, undSchmerzen werden zu ihrem ständi-gen Begleiter. Schmer zen werdenstoff lichen Ur sa chen zu geschrieben:Man hat sich bei harter Arbeit ver-spannt, sich gestoßen oder sich ver-letzt. In der Regel wird trotz derSchmerzen weiter gemacht und manlässt sich nichts anmerken. Schmer -zen werden durch sichtbare Mar kie -rungen demonstriert: durch Nar benvon Unfällen, blaue Flecke vom Sturzoder Verletzungen aus dem Krieg.

Tatsächlich scheint das Gespür fürSchmerzen und das Wissen darübernach sozialen Milieus, biografischenErfahrungen, Generationenlage undnach Lebenslagen zu variieren: InMilieus, deren Angehörige körperlichhart arbeiten, sind Schmerzen einNaturereignis des sich langsam an derArbeit und am Leben verschleißendenKörpers, dem man sich zu ergebenhat. Psychische Schmerzen kennt mandagegen eher nicht. Der Körper ist inder Gemeinschaft und in der notwen-digen Arbeit aufgehoben. Aktivität undSchmerz bedingen und bestätigeneinander. Man arbeitet in einem ver-wandtschaftlich organisierten Leis -tungs- und Belastungskollektiv, dasSchmerz- und Körpernomen bestimmt(Boltanski 1976, Herzlich und Pierret1991). Dem Körper wird Leistung fürdie Existenzsicherung abverlangt,wofür Schmerzen ausgehalten werdenmüssen, die durchaus auch abgewie-sen werden (Le Breton 2003, Peller

2003). Jedenfalls darf darüber nichtunangemessen geklagt werden.

Am Beispiel der Studie zu den Schmerz -umgangsdeutungen der Hochaltrigenlässt sich verstehen, dass für dieBefragten Schmerzen des körperlichenVerschleißes ihre Ausweise biografi-scher und historischer Erfahrungensowie von Zugehörigkeit sind. Das be -deutet, dass zu einer guten Schmerz -behandlung auch gehört, die lebens-weltlichen Sinnhorizonte der Patient*innen zu verstehen. Dafür genügenwe der standardisierte Schmerzskalennoch das Versprechen kompletterSchmerzfreiheit.

Beispiel II: Psychiatrische Kranke in ländlichen GemeindenDie oben genannte Studie zeigt, dassüber das Alltagswissen vom KörperZugehörigkeit bestimmt wird, es mar-kiert aber genauso die Abgrenzung zuAngehörigen von anderen Gruppen –eine Dimension, die durchaus proble-matisch sein kann, wie Denise Jodelet(1991a, 1991b) in ihrer ethnografi-schen Studie ländlicher französischerGemeinden zeigt. Am Beispiel einesReformprojektes, welches seit demJahr 1900 bäuerliche Familien dabeiunterstützt, psychiatrische Patient*in -nen gegen eine Aufwands ent schä di -gung bei sich aufzunehmen, werdenStig ma ti sierungs- und Ausgrenzungs -gefahren bei psychischer Krankheitproblematisiert. Die Kranken, vor al -lem Männer, nehmen im Zuge des Pro -jektes am Alltag der Familien und derGemeinden teil, und ihr Leben solltesich, so das offizielle Ziel, normalisie-ren. Neben durchaus positiven Effek -ten – immerhin ist eine Privatunter -brin gung angenehmer, als ein Auf ent -halt in der Klinik – kann Jodelet aller-dings auch die unbeabsichtigten Wir -kungen dieses frühen Enthospi ta li -sierungs projektes aufzeigen.

Statt eines normalen Zusammen le -bens unter Gleichen beobachtet Jode -let nämlich auch mehr als 80 Jahrenach Einführung des Programms viel-fältige Routinen und Rituale der Ab -grenzung zwischen Einheimischenund Kranken. Im Kern dieser Grenz -

ziehungen steht der Körper: AlleKörper sekrete der Kranken – Blut, Trä -nen, Sputum, Schweiß, Urin, Stuhl,Sperma – werden von den Einhei mi -schen mit einem strengen, aber un -aus gesprochenen Tabu belegt, dasdurch Trennungen der Wäsche, desEssens, des Schlafens, der Arbeit, vorallem aber der Sexualität aufrechter-halten wird. Die Einheimischen schüt-zen sich beispielsweise vor Berüh run -gen mit den Patient*innen, die, wennsie sich nicht vermeiden lassen, strikteVerfahren der symbolischen Reini -gung nach sich ziehen, die weit überdie sonst üblichen Hygienevor keh -rungen hinausgehen. Diese „heimli-chen” Normen wirken hartnäckiger alsoffizielle rechtliche Regeln. Fragt mandie Einheimischen allerdings danach,bekommt man zur Antwort, dass dieüblichen Hygienestandards waltenund man ansonsten mit den Kranken„ganz normal” zusammenleben würde.

Auf solche Widersprüche zwischen„offiziellen” Einstellungen einerseits,tatsächlichen Praktiken sowie den da -hinter liegenden Vorstellungen ande-rerseits lässt sich das Konzept desAlltagswissens anwenden. Im Fall desEnthospitalisierungsprojektes sind dieAngehörigen der ländlichen Ge mein -den von der latenten Vorstellung gelei-tet, dass Geisteskrankheit sowohl an -steckend als auch vererbbar sei.Solche Ideen lassen sich auf medizini-sche Theorien des 19. Jahrhunderts(die damals schon nicht mehr aktuellwaren) sowie auf ältere humoralpatho-logische Anschauungen zurückführen,die seit dem Start des Projektes imJahr 1900 von Generation zu Gene -ration weiter gegeben und im Zu sam -menleben mit den Kranken beständigaktualisiert werden. Der (zugeschrie-bene) heriditäre und infektiöse Cha rak -ter der Geisteskrankheit führe demzu-folge zur sittlichen Degeneration, dieden Zusammenhalt und die morali-sche Integrität bedrohe, wenn sie aufdie Angehörigen der Gemeinden über-tragen werde. Solche Aussagen wür-den die Einheimischen zwar abstrei-ten, aber die unerbittlichen Trennungs -praktiken stellen sicher, dass sie sichnicht mit den Kranken mischen, ob -wohl sie ständig in Kontakt sind. Auf

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9Klinische Sozialarbeit 15 (3) | 2019

Herzlich, C. (1991): Soziale Repräsentationenvon Gesundheit und Krankheit und ihreDynamik im sozialen Feld. In: Flick, U. (Hg.):Alltagswissen über Gesundheit und Krankheit.Heidelberg: Asanger, S. 293–302.

Herzlich, C.; Pierret, J. (1991): Kranke gestern,Kranke heute. München: Beck.

Jellen, J.; Ohlbrecht, H.; Winkler, T. (2018):Strategien im Umgang mit Krankheit – zumVersuch einer Typologie im Rahmen sich wan-delnder Arzt-Patienten-Interaktionen.In: Medizinische Soziologie trifft MedizinischePädagogik. Wiesbanden: Springer, S. 173–193.

Jodelet, D. (1991a): Madness and social repre-sentations. Hemel Hampstead: Harvester.

Jodelet, D. (1991b): Soziale Repräsentatio nenpsychischer Krankheit in einem ländlichen

Milieu in Frankreich. In: Flick, U. (Hg.) (1991):Alltagswissen über Gesundheit und Krankheit.Heidelberg: Asanger, S. 269–292.

Keller, R.; Meuser, M. (Hg.) (2011):Körperwissen. Wiesbaden: Springer VS.

Le Breton, D. (2003): Der Schmerz. Zürich: dia-phanes.

Morris, D. B. (2000): Krankheit und Kultur.München: Kunstmann.

Moscovici, S. (1991): Die prälogischeMentalität der Zivilisierten. In: Flick, U. (Hg.):Alltagswissen über Gesundheit und Krankheit.Heidelberg: Asanger, S. 245–268.

Peller, A. (2003): No pain, no gain. In: africaspectrum 38. Jg., Heft 2, S. 197–214.

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Dreßke, S.; Ayalp, T. (2017): Lebensschmerz –Verkörperungen des Historischen. Biogra -phische Leidens- und LebenserfahrungenHochaltriger. In: Keller, R.; Meuser, M. (Hg.):Alter(n) und vergängliche Körper. Wiesbaden:Springer VS, S. 209–231. Download unter:http://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-10420-7_10 (25.04.2919)

Flick, U. (1991): Alltagswissen überGesundheit und Krankheit. In: ders. (Hg.):Alltagswissen über Gesundheit und Krankheit.Heidelberg: Asanger, S. 9–27.

diese Weise werden wiederum die kol-lektiven Ängste der Einheimischen vorder Gefährlichkeit der Krankheit undder Kranken reproduziert.

Im Alltagswissen finden sich hand-lungsleitende Weltdeutungen, derenWirkungen nicht zu unterschätzen sind,auch wenn Wissenschaft und dergesunde Menschenverstand dagegensprechen. Im Falle der Enthos pita li sie -rung psychiatrisch Kranker zeigt dieStu die von Denise Jodelet, dass ge -mein denahe sozialpsychiatrische Pro -gramme nicht notwendigerweise dieBandbreite der erwünschten Effektebewirken. Das lässt sich auch heutenoch beobachten: Erkrankte mit psy-chiatrischen Diagnosen besitzen zwar(entsprechend ihrer rechtlichen Be -treuungsvereinbarungen und bezogenauf ihren Gesundheitszustand) weitge-hend alle bürgerlichen Rechte, den-noch geht ihr Leben in den Gemeindenmit einer unmerklichen Distanz in densozialen Beziehungen außerhalb (undmöglicherweise auch innerhalb) ihrerKernfamilien einher, unter der siesicher auch leiden. Die Vorstellung ih -res Andersseins ist immer noch kollek-tiv sehr tief verankert. Man möchte mitpsychiatrisch Erkrankten höchstensoberflächliche Kontakte haben. Sobegrenzt Alltags wissen die alltäglichenHandlungs spielräume und Teilha be -chan cen jenseits der durchgesetztenformalen Rechte (und Pflichten).

Die Konsequenz dieser stillschweigen-den Ausgrenzung aus den Nah räu -men der zwischenmenschlichen Inter -ak tio nen ist, dass die Erkrankten imRah men der sozialpsychiatrischen In -

fra struktur ihre eigenen communitiesbilden, in denen sie unter sich sind.Für die Klinische Sozialarbeit ist dasein Dilemma: Zwar bewirkt sie eineVer besserung der Situation der Er -krank ten, kann aber gerade wegenihrer Interventionen bisher keine kom-plette Normalität herstellen – hier fehlt(noch) die dafür notwendige Auf ge -schlossenheit in der Bevölkerung ge -gen über psychiatrisch Erkrankten.

Fremdverstehen und leibliche KommunikationDas Verständnis des Alltagswissenszeigt die Grenzen der gesundheitsbe-zogenen Kommunikation auf – aberauch ihre Chancen. Denn ganz allge-mein ergeben sich nämlich für dieKlinische Sozialarbeit über die Kör per -erfahrungen und das Körperwissenzahlreiche Zugangschancen zum Le -ben ihrer Adressat*innen, mit ihrenoftmals schwer zu fassenden multi-plen sozialen, psychi schen und soma-tischen Problemen. Zu einer ernsthaftgestellten Frage nach dem Befinden:„Wie geht es Ihnen?“ gehört auch dasEntziffern der leiblichen Äußerungendes Gegen übers. Durch das aufrichtigeHören wollen der Antwort und desDeutens der Körperzeichen eröffnensich zahlreiche Möglichkeiten zumniedrigschwelligen Fremdverstehender leiblich-biografischen Erfahrung,ohne dass sofort die (höherschwellige)Auf forderung einer Behandlung mitihren strategischen Handlungs impera -tiven ausgesprochen werden muss.

Das Fremdverstehen bedeutet aberauch die Relativierung des expertiellenWissens, denn zwischen dem wissen-

schaftlichen und professionellen Wis -sensvorrat der Klinischen Sozialarbeitsowie dem Alltagswissen ihrer Adres -sa t*innen besteht ein Wechsel verhäl t -nis, beides bedingt sich. Die unter-schiedlichen Modelle über Gesundheitund gesunde Lebens führung sowiedie Krankheitslehren bleiben nicht aufdie wissenschaftlichen Diskurse be -schränkt, sondern diffundieren in dieLebenswelten des Alltags, lagern sichim Wissensvorrat der Subjekte ab,beeinflussen auch familiales Handelnund finden sich in ihren Konzeptenvon Krankheit und Ge sundheit wieder.Alltagswissen mar kiert Zugehörigkeitund Abgren zung und dirigiert Nähesowie Distanz. Gleichzeitig beeinflusstes die Wahr nehmung des Körpers, vonGesundheit und Krankheit und findetEingang in die Interaktion mit Expert*innen (Stichwort Empo wer ment undmündige Patient*innen).

Erst die Kenntnis der Alltagstheorienüber Krankheit lässt die Bewälti gungs -mechanismen von Krankheiten in derjeweiligen Lebenswelt sowie die Inter -aktionsmuster im Umgang mit Ex pert*innen verständlich werden. Sie ist fürdie Praxis der Klinischen So zial arbeitsehr wertvoll. Die mi lieu spe zifischenSozialisations- und Alltags erfah run genschlagen sich in Alltags theorien nieder,die wiederum die tatsächlichen Reak -tionsweisen und Hand lungs mus tergrun die ren und den Um gang mit demKörper rahmen, Stress erfah run gen ab -mildern oder befördern, ge sund -heitsgefährdende Ver hal tens wei senhervorrufen oder die Emp fäng lich keitund An sprechbarkeit für Thera pienund Präventionsangebote moderieren.

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zept lässt zum Beispiel Zigaretten alsNahrungsmittel begreifen:

Metaphorisches Konzept I: Rauchen ist Nahrung „wollt halt eigentlich bloß kosten” „die ham toll geschmeckt nach so ’ner Prüfung” „das war ’ne leckere Zigarette” „hatt ich och wieder Appetit auf ’ne Zigarette” „ ist mir sozusagen nicht mehr bekommen” „würd’s mir den ganzen Tag nur mehr danach gieren”

Das Rauchen ist, in der Sprache derkognitiven Metapherntheorie gefasst,hier der Zielbereich einer Metapho ri -sierung durch Bilder des Essens. Dasmetaphorische Konzept „Rauchen istNahrung” impliziert Bewertungen ausdiesem Bereich: Es schmeckt „lecker”oder „toll”. Der Einstieg in den Kon -sum ist ein „Kosten”, die spätere Ab -wesenheit des Suchtmittels relativiertsich zum „Appetit” danach. Das meta-phorische Konzept naturalisiert alsoden Konsum eines potenziell tödlichenSuchtmittels zur alltäglichsten Hand -lung: Abstinenz kann in dieser Bild lich -keit des Essens nur als Hunger („gie-ren”) gedacht werden. – Aber das Rau -chen wird auch in anderen Bildern er -lebt und konstruiert:

Metaphorisches Konzept II: Rauchen ist Lernen für das Leben „wir wollten das dann aber auch ausprobieren” „so geschult war darin keiner von uns” „Übung macht den Meister sozusagen” „es war mir also vorerst eine Lehre” „dann heimlich irgendwo geübt wie nimmst‘n du die Zigarette” „Anfänger halten die Zigarette immer so, also die umfassen die mit der ganzen Hand”

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D ie vorhandene Literatur bieteterste Beispiele, dass Sprach -bilder, also Metaphern, als

Ausdruck subjektiver Perspektiven aufGesundheit und Krankheit gelten kön-nen. Diese subjektiven Perspektivenvon Klient*innen sind für die KlinischeSozialarbeit relevant, die einen eige-nen Auftrag zur Behandlung schwererreichbarer Betroffener und zur Ver -änderung leidvoller Situationen sieht(Gahleitner, Pauls 2019).

Wenn Men schen von standardisierten(sozial-) pädagogischen, psychologi-schen oder medizinischen Insti tu tio -nen und Pro grammen nicht erreichtwer den, wird die Enge solcher Kon zep -tionen deutlich. Hier wird es unver-meidlich, sich auf den Eigensinn dieserMen schen einzulassen, um tatsächlichhelfen zu können. Es legt nahe, sichihren sprach lichen Ausdrucksformenneu zu widmen und sich dafür zu sen-sibilisieren, dass hinter scheinbar ver-trauten Wor ten andere Welten auf-scheinen. Der Aufsatz führt zunächstam Beispiel des Rauchens in das Phä -

nomen ein; streift dann die theoreti-schen Anschluss mög lichkeiten eineraus der kognitiven Linguistik (Lakoff,Johnson 2017) abgeleiteten qualitati-ven Forschungs rich tung und überlegtzum Schluss Konsequenzen für eineForm der Ge sprächsführung, die dieWer te der Klient*innen ernst nimmtund innerhalb ihres Denkens weiterentwickelt.

Ein Beispiel: Bilder des RauchensDas Thema des Rauchens eignet sichzur Darstellung gesundheitsschädigen-den, gewohnheitsmäßigen und/oderabsichtsvollen Verhaltens – 27 Prozentder Männer und 21 Prozent der Frauenüber 18 Jahren in Deutschland rau-chen (Kuntz et al. 2018, S. 50). Die me -taphorischen Konzepte des Rau chenswurden in einer Sekun därana lyse re -konstruiert, die 36 Interviews mit Rau -chenden und ehemals Rau chendenumfassten, welche im Rahmen mehre-rer studentischer Projekte zu stoffbe-dingten Abhängigkeiten und derenPrä vention entstanden waren (Schmitt,Köhler 2006). Ein metaphorisches Kon -

Metaphern als subjektive Perspektivenauf Gesundheit und KrankheitRudolph Schmitt

Der Begriff der MetapherÜberraschend ist zunächst eine radikale Ein fach -heit der Definition: „Das Wesen der Me ta pherbesteht darin, dass wir durch sie eine Sache odereinen Vorgang in Begriffen einer anderen Sachebzw. eines anderen Vorgangs verstehen underfahren können.“ (La koff und Johnson 2017,S. 13). Eine Metapher überträgt also Bedeu tungenvon einem Bereich auf einen anderen. Ein Vorzugdieser Definition besteht darin, dass alltäglicheMetaphern er f asst werden können, wie die fol-genden Beispiele aus einer Studie zu alltäglichemAlkoholkonsum zeigen (Schmitt 2002): „Es warwie als würde man durch eine dicke Nebelwanddurchgucken.“ oder „Du kannst nicht mehr rich-tig klar denken.“ Diese Redewendungen enthal-ten 3 Elemente einer weiten Definition von Me ta -phern nach Lakoff und Johnson (2018, S. 20–26):

Es lässt sich ein Quellbereich der Metapher,das heißt eine für die Be frag ten konkret-sinn-liche Erfah rungs basis rekonstruieren: „Ne -belwand“ und „nicht klar denken“ verweisenauf visuelle Sinneseindrücke und das Ver mö -gen, Helligkeit, Dunkelheit sowie Grade da -zwi schen zu unterscheiden.

Die Formulierungen beziehen sich zu dem aufein komplexes Ziel, nämlich den Zustand nacheiner Intoxikation mit Alkohol.

Sie übertragen dabei einen bildlichen Gehaltvon einer konkreten se man tischen Quelle (un -scharfes Sehen) auf ein abstrakteres Ziel(Betrunkenheit).

Alle Redewendungen, in denen Be deu tungenvon einer Bild-Quelle auf ein Bild-Ziel übertragenwerden, gelten für Lakoff und Johnson als Me -tapher. Diese weite Definition umfasst Dif fe ren -zierungen wie Symbol, Chiffre, Vergleich undAllegorie, wie sie in traditionellen sprachwissen-schaftlichen Überlegungen üblich waren. Siefokussiert nur auf den Prozess der Über tra gungvon Mustern der Wahrnehmung von einemPhänomen auf ein anderes. Diese Übertragungdient gleichermaßen der individuellen Ver -sprach lichung des Phänomens wie der sozialgeteilten Sinnstiftung.“ (Schmitt 2018)

Schmitt, R. (2018): Metaphernanalyse. In: socialnet Lexi -kon. Online abrufbar: https://www.socialnet.de/lexikon/Metaphernanalyse (28.04.2019)

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„ganz professionell ist es dann,wenn man die zwischen Zeigefingerund Mittelfinger hält und den Dau -men vorn am Filter hat”

Das Rauchen wird hier als Lernprozessgedeutet, das „Probieren“ als Vorstufezum „richtigen” Rauchen. Die Rau -chen den erscheinen in der Rangskalader Peergroup als „Anfänger” unddann als „Professioneller”, als „ge -schult”. Das problematische Verhaltenwird normalisiert und positiv konstru-iert: Die Abhängigen erscheinen alsKönner. Unschwer zu erkennen sindhier alternative Hierarchien der An er -kennung im Meisterungsmotiv, wennman schon in der Schule nicht erfolg-reich ist. – Eine dritte Gruppe vonMetaphern lässt das Rauchen als viel-fältigen Kampfplatz erscheinen:

Metaphorisches Konzept III: Rauchen ist ein (Freiheits-)kampf Rauchen ist aufregend, man raucht tapfer mit, man kann seinen Mann stehen, es gibt Verfechter des Rauchens und Gegner Nikotin kann unangenehme Gefühle abtöten man darf sich nicht erwischen lassen

Diese 3 metaphorischen Muster desDenkens und Fühlens sind nur einAusschnitt aus weiteren Mustern (u.a.Rauchen als Medikament, als ökono-misches Tauschgeschäft, als Weg) –sie sollten ausreichen, um Resultateeiner Metaphernanalyse zu skizzieren.

Metaphern als subjektiveKrankheitstheorien?Das alltägliche, metaphorische Denkenlässt sich nur begrenzt als subjektiveKrankheitstheorie verstehen: DieseBilder stehen zwanglos nebeneinanderund sind daher nicht widerspruchsfrei;aber sie sind einfachste, „natürlich”erscheinende Erklärungsmuster. Siekonstruieren Gesundheit und Krank heitaus den Begriffen des gelebten All -tags. Damit steht die Idee des me ta -pho rischen Konzepts in einer Kon kur -renz zu anderen Begriffen der Sozial -wis senschaften wie „Deutungs mus -ter”, „Habitus”, „Diskurs”, „soziale Re -

präsentationen” oder „tacit know -ledge”, die auf diesem begrenztenRaum nicht entwickelt werden kann(Schmitt 2017, S. 117–189). Schaut mansich eine neuere Synopse der Dis kus -sionen um subjektive Theorien vonGesundheit und Krankheit an (Ra de -ma ker 2018, S. 108–137), so scheinendie dort mit anderen Methoden gebil-deten Typen auf metaphorische Kon -zepte hinauszulaufen: Gesundheit alsBalance, als eigene oder äußere Kraft,als Besitz (Potenzial), als Wachstumoder Verkümmern etc. Die Alltäg lich -keit der Metaphern als sinngebendePhänomene prädestiniert sie als zurekonstruierende Phänomene für dieSozialwissenschaften. Metaphern ana -ly sen erlauben es, konkrete Mi schun -gen von Vorstellungen zu analysieren,denn kaum ein Mensch lässt sich aufeinen einzigen Typus (oder eine Meta -pher) reduzieren. – Nur stichwortartigsoll hier auf einige Annahmen derkognitiven Metapherntheorie nach La -koff und Johnson verwiesen werden(Schmitt 2017):

Unüblich weiter MetaphernbegriffDie Beispiele zeigen, dass Lakoff undJohnson (2017) einen sehr weiten Me -ta phernbegriff nutzen. Als Meta pherwerden alle sprachlichen Äußerungengedeutet, die eine Übertragung vonBedeutungsstrukturen aus in der Regeleinfacheren und gestalthaft formulier-ten Bereichen (beispielsweise Nah -

rung, Kampf ...) auf komplexe, neue,umstrittene oder tabuierte Bereiche(beispielsweise Rauchen) erkennenlassen. Lakoff und Johnson interessie-ren sich anders als viele Me ta phern -theorien nicht für auffallende oder lite-rarische, sondern für umgangssprach-liche Metaphern.

Homologie von Denken und SprechenDie Verwendung von Metaphern istnicht zufällig, sondern verweist auf insich konsistente Denk-, Wahr neh -mungs-, Emotions-, Kommunikations-und Handlungsmuster: „Rauchen alsFreiheitskampf” bündelt Affekte, Kog -nitionen und Handlungen.

Viele Metaphern, wenige metaphorische KonzepteMetaphern treten nicht zusammen-hangslos auf, sondern lassen sich bün-deln. Aus einer Vielzahl von Meta -phern lassen sich metaphorische Kon -zepte rekonstruieren, die dem gleichenBild folgen: In der vorliegenden Studieließen sich 2440 Metaphern finden, diesich in 20 metaphorischen Konzeptenordnen ließen (Schmitt, Köhler 2006).Die systematische Metaphernanalyse(Schmitt 2017; vgl. zur Einführung:Schmitt, Schröder, Pfaller 2018) entwi-ckelt die kognitive Linguistik nachLakoff und Johnson (2017) zu einerMe thode zur Rekonstruktion metapho-rischer Konzepte weiter. Sie besteht imWesentlichen aus 3 Arbeitsphasen:

Qualitative Gesundheitsforschung„Begreifen wir Gesundheit und Krankheit im Kontext sozialwissenschaftlicher Theoriebildung als so -zia le Konstruktion in gesellschaftlichen Kontexten und fassen wir die in ihnen tätigen Menschen alsHandlungs- und damit auch deutungsfähige Subjekte, die ihre Lebenswelten ihrer Hand lungs -mächtigkeit (agency) entsprechend zu gestalten versuchen, dann sind qualitative Forschungsansätzein besonderer Weise geeignet, krankheits- wie auch gesundheits bezogene Prozesse aus der Per -spektive der Akteure zu rekonstruieren bzw. qualitativ empirisch in den Blick zu nehmen.“Homfeldt, H. G. (2010): Gesundheit. In: Bock, K.; Miethe, I. (Hg.): Handbuch Qualitative Methoden in der SozialenArbeit. Opladen & Farmington Hill: Barbara Budrich Verlag, S. 127.

Gesundheitsbezogene Agency„Agency beschreibt die realen Handlungsoptionen der Menschen, sich für oder gegen ein Handeln zuentscheiden und betrachtet diese Optionen in Relation zu dem situativen Kontext, in dem sie sichbefinden. Optionen basieren auf eigenen Fähigkeiten, Möglichkeiten, Freiheiten, darüber hinaus abergleichsam auf Motiven, erworbenen und wertgeschätzten Umgangsformen, gesellschaftlichenNormen und zeitgeist-abhängigen Werten. Die Komplexität von Agency ist an die Lebenswelt derAkteure zurückzubinden. Dies impliziert Gesundheit ausgehend der Lebenswelt der Menschen zu ver-stehen.“ (…) Die Orientierung an der gesundheitsbezogenen Agency „fokussiert weniger auf dieVerantwortung Einzelner, sondern hebt auf die Verhältnisse ab, in denen die Chancen auf Gesundheitim Alltag verteilt werden.“Rademaker, A. L. (2018): Agency und Gesundheit in jugendlichen Lebenswelten. Herausforderungen für die Kinder-und Jugendhilfe. Weinheim und München: Beltz Juventa Verlag, S. 27 f.

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a) Identifikation und Extraktion allereinzelnen Metaphern aus Inter viewsbzw. anderen Textmaterialien unterVermeidung einer Inter pretation;

b) Rekonstruktion metaphorischerKonzepte aus einzelnen Metaphern,in denen dasselbe Quellbild (bei-spielsweise Nahrung, Lernen) aufdasselbe Zielphänomen (beispiels-weise Rauchen) übertragen wird;

c) Rekonstruktion der Implikationen,die die verwendeten metapho-rischen Konzepte für das zu unter-suchende Phänomen haben.

Die Methode kann je nach verwende-tem Ausgangsmaterial Studien zuEinzelfällen, (Sub-)Kulturen und auchkulturellen Unterschieden leisten.

Empirische Perspektiven aufGesundheit und KrankheitMetaphern eignen sich besonders zumAus druck von Schmerz und Körper -befinden und überspringen damit denGraben zwischen einem nicht begriffli-chen Deutungsvermögen und be wusst- sprachlicher Reflexions tätigkeit; siestellen ein Übergangsfeld dar. Diedeutschsprachigen Beiträge zur meta-phernanalytischen Diskussion von Ge -sundheit und Krankheit sind ver-

schwindend im Vergleich zur englisch-sprachigen, so in der Übersicht (Schmitt2017, S. 271–294). Insbesondere zuKrebs erkrankungen und AIDS sindviele englische Studien zu finden, wel-che die sprachlichen Bilder der von derErkrankung betroffenen Menschen,aber auch die Metaphern des massen-medialen Diskurses nachzeichnen. Spe - zialstudien wie beispielsweise zu Epi -lepsie und Querschnittverletzungen imRugby liegen ebenfalls vor (ebd). Inder neuesten deutschsprachigen quali-tativen gesundheitswissenschaftlichenForschung werden metaphernanalyti-sche Herangehensweisen immerhinzitiert (Ohlbrecht, Meyer 2018). Da ge -gen gibt es bereits den ersten Hand -buchartikel im englischsprachigen Be -reich, der ausschließlich metaphern-analytische Perspektiven auf das The -ma referiert (Demjén, Semino 2017).

Im Kontext der Klinischen Sozialarbeitsind bereits die metaphorischen Mus -ter des Alkoholkonsums (Schmitt2009) diskutiert worden: Wenn bei -spielswei se männliche Alko hol krankeoder -miss brauchende ihr Trinken als„Leistung”, „Kampf” oder „Sport” dar -stellen, dann sind nicht nur metapho-rische Hel dentaten gemeint, sondern

auch für die Betreffenden und ihreUmwelt problematische Selbst de fi -nitionen und Handlungsvollzüge, de -ren Verän de rung zuweilen an sprach-lich unattraktiven Metaphern vonunmännlicher „Abs tinenz” oder „Nüch -ternheit” schei tert.

Metaphernreflexive BeratungBeratung und Prävention sind dannhilfreich, wenn sie Reflexionsprozessein Gang setzen: wenn sie dazu führen,die eigenen Denkmuster zu erkennen,ihre Implikationen zu identifizieren undAlternativen zum bisherigen Verstehenzu entwickeln. Dann können abhängig-keitsfördernde oder gesundheitsschä-digende Konzepte dekonstruiert, ihreUmdeutung ermöglicht oder selbster-mächtigende Bilder entwickelt wer-den. Eine frühe Variante einer solchenmetaphernreflexiven Beratung wurdein Schmitt (2016) vorgestellt und inSchmitt, Heidenreich (in press) weiter-entwickelt. Ihre Vorgehensweise sollhier kurz skizziert werden:

Metaphernanalytisch fundierte Selbst erfahrungDer weitreichende Metaphernbegriffvon Lakoff und Johnson legt es nahe,dass unsere eigenen, unvermeidlichenMetaphern zur Strukturierung – unddamit auch: zur Verzerrung – derWahrnehmung führen. Um sich davonzu distanzieren, sollten professionellHelfende mit Hilfe von Lakoff undJohn son (2017) eigene Texte (Tage -bücher, Briefe, Mails etc.) auf ihreMetaphern untersuchen.

Validieren der Metaphern der Klient*innenFür den Beginn einer Beratung wirdvorgeschlagen, die Metaphern derKlient*innen wertschät-zend zu spie-geln und ihre Implikationen zu entwi-ckeln. Dieses Validieren sollte sensibelsein für die Bilder, die für die Beratungselbst gebraucht werden (wird sie alsBelehrung, Beichte, Kampf o. ä. ge -fasst?) wie für die Bilder, in denen dieKlient*innen sich selbst und ihr Prob -lem konstruieren. Dieser Prozess ent-wickelt eine situative passende Ar -beitsbeziehung. In der Arbeit mit rau-chenden Jugendlichen heißt dies, erstzu verstehen, wie sie das Rauchen ver-

Literatur:

Demjén, Z.; Semino, E. (2017): Using meta-phor in healthcare: Physical health. In:Demjén, Z.; Semino, E. (Hg.): The RoutledgeHandbook of Metaphor and Language.Abingdon: Taylor and Francis.

Gahleitner, S.B.; Pauls, H. (2019): KlinischeSozialarbeit [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 17.01.2019. Verfügbar unter:https://www.socialnet.de/lexikon/Klinische-Sozialarbeit (23.03.2019)

Kuntz, B.; Zeiher, J.; Starker, A.; Lampert, T.(2018): Tabak: Zahlen und Fakten zumKonsum. In: DHS Jahrbuch Sucht 2018.Lengerich: Pabst.

Lakoff, G.; Johnson, M. (2017): Leben inMetaphern (übersetzt von Astrid Hilden -brand). Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. 9. Auflage. (Orig. 1980: Metaphors we live by.Chicago: The University of Chicago Press)

Ohlbrecht, H.; Meyer T. (2018): QualitativeMethoden in der Gesundheitspsychologie und Gesundheitsforschung. In: Mey G.; Mruck K. (Hg.): Handbuch QualitativeForschung in der Psychologie. SpringerReference Psychologie. Springer, Wiesbaden,https://doi.org/10.1007/978-3-658-18387-5_65-1

Rademaker, A. L. (2018): Agency undGesundheit in jugendlichen Lebenswelten.Herausforderungen für die Kinder- undJugendhilfe. Weinheim: Beltz Juventa.

Schmitt, R. (2009): Metaphernanalyse amBeispiel des problematischen Alkohol -konsums. In: Gahleitner, S. B.; Hahn, G. (Hg.):Klinische Sozialarbeit. Forschung aus derPraxis, Forschung für die Praxis, S. 152–163.Bonn: Psychiatrie-Verlag.

Schmitt, R. (2016): Arbeiten in und mitMetaphern: eine konzeptionelle Anregung.In: Resonanzen, Band 4 Nr. 1, S. 25–44. Volltextabrufbar unter: https://www.resonanzen-jour-nal.org/ index.php/resonanzen/article/view/383(25.04.2019)

Schmitt, R. (2017): Systematische Metaphern -analyse als Methode der qualitativenSozialforschung. Wiesbaden: Springer VS.

Schmitt, R.; Heidenreich, T. (in press):Metaphern in Psychotherapie und Beratung.Eine metaphernreflexive Perspektive.Weinheim: Beltz.

Schmitt, R.; Köhler, B. (2006): KognitiveLinguistik, Metaphernanalyse und dieAlltagspsychologie des Tabakkonsums. In: Psychologie und Gesellschaftskritik, Jg. 30, Heft 3/4, S. 39–64. Verfügbar unter:https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/hand-le/document/28812/ssoar-psychges-2006-34-schmitt_et_al-kognitive_linguistik.pdf(25.04.2019)

Schmitt, R.; Schröder, J.; Pfaller, L. (2018):Systematische Metaphernanalyse. Eine Einführung. Wiesbaden, Springer VS.

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Thema

13Klinische Sozialarbeit 15 (3) | 2019

stehen: als Lernen und Können, alsFreiheitskampf, als Geben und Neh -men, als Nahrung etc. Die Metaphorikdes Freiheitskampfs könnte ein Hin -weis sein, dass die Beratungs bezie -hung ebenfalls durch Kämpfe umAbgrenzung strukturiert sein könnten.

Arbeiten innerhalb der Metaphorik der Klient*innenNach der Sicherung des Verstehensund der Arbeitsbeziehung können ineinem zweiten Schritt die Schatten -seiten der metaphorischen Konstrukteelaboriert werden: Wenn beispielswei-se die Rituale des Trinkens sozialesGeben und Nehmen bedeuten („einenausgeben”), dann ist Nichttrinken einVerweigern von Zugehörigkeit undeine empfindliche Störung der sozia-len Bindung. Wie können Geben undNehmen auf eine andere Weise entwi-ckelt werden? In unserem Beispiel desRauchens: Die positiv empfundenenKonstruktionen, dass Rauchen Aner -kennung durch Könnerschaft in derpeergroup verschafft, verweist auf den

Mangel, in anderen Feldern der Le -benswelt Anerkennung zu bekommen.

Umdeutung von MetaphernIn Interviewbeispielen ließ sich zeigen,dass eine spezifische Form der Um -deutung in der Lebenswelt vorkommt(Schmitt, 2002b): So gebrauchen trin-kende Männer oft eine Metaphorik desKampfs („Kampftrinker“, „einen Kas -ten Bier niedermachen“, Alkohol als„Nachschub“). In Interviews mit absti-nent lebenden Männern lässt sich dasgleiche Denkbild in der Abstinenz fin-den, die nun als männlich-kämpferi-sche Höchstleistung und „täglicherKampf" geschildert wird. Diese Um -deutung der Situation, vorher alsTrinker ein Held, nun als Abstinenterebenfalls ein Held zu sein, taugt alspraktischer wie theoretischer Hinweis:Metaphorische Konzepte können alsetablierte Deutungsmuster nicht ein-fach „dekonstruiert“ werden, da sie fürdie Subjekte funktional sind. In diesemSinn kann Beratung bewirken, dassmetaphorische Deutungsmuster weni-

ger selbst- und fremdschädigend ge -nutzt, sondern konstruktiv gewendetwerden und dass im besten Fall refle-xive Distanz zu ihnen entsteht. Im obi-gen Beispiel folgte die Metaphorik derAbstinenten ebenfalls des „Kampfs“ge gen das Verlangen.

Anbieten von neuen MetaphernNicht ausgeschlossen, aber problema-tisch scheint das Anbieten neuerMetaphern, das in der Praxis das Risikodes manipulierenden Über stül pensfremder Konzepte birgt. Samm lungenangeblich hilfreicher Meta phern solltendaher skeptisch betrachtet werden;zudem dürften sich lehrbuchartig gelis-tete Metaphern durch ihre Wieder -holung verbrauchen. Schmitt und Hei -denreich (in press) ge hen davon aus,dass metaphorische Sche mata – ganzim Sinne von Piaget – sich im Verlaufeeines Lebens aufbauen und ihre Ver -änderung nur da gelingt, wenn eineIrritation die bisherigen Schemata wei-ter entwickeln kann (bei Piaget: eineAkkommo da tion).

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MASTER KLINISCHE SOZIALARBEITBerufsbegleitender postgradualer Masterstudiengang

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Thema

14 Klinische Sozialarbeit 15 (3) | 2019

K inder, die mit einem psychischerkrankten Elternteil aufwach-sen, sind häufig be son deren

Herausforderungen im All tag ausge-setzt und haben ein erhöhtes Risiko,selbst im Jugend- oder Er wa ch se nen -alter psychisch zu erkranken (Ra sic 2014;Weissmann 2016). Sie stellen dahereine wichtige Zielgruppe für präventi-ve und gesundheitsfördernde Maß -nahmen dar. Es existiert eine Viel zahlan Interventionen, auch im deutsch - sprachigen Raum, die sowohl auseiner Risiko- als auch einer Re silienz -perspektive die Kinder und ihre Fa -milien adressieren (Übersicht bei Lenz2014). Wenngleich der Fokus auf derKrankheitsprävention für diese Ziel -gruppe definitiv eine relevante Le gi ti -mation hat, soll in diesem Beitrag einealternative Perspektive eingenommenwerden: Und zwar vom Störungs- oderKrankheitsfokus hin zu Gesund heits -theorien in den Familien ergo ihre sub-jektive Sichtweise psychischer Ge -sund heit. Laienpers pek tiven auf Ge -sundheit sind für die praktische Arbeithoch relevant, da diese Perspektiven inKonkurrenz mit den Perspektiven derExpert*innen stehen und Ge sund -heitsverhalten maßgeblich beeinflus-sen können (Faltermaier 2016). Hierzusollen Eindrücke aus ei ner qualitativenInterviewstudie dargestellt werden,mit Blick auf die Fra gestellung:Welche Theorien haben Kinder undihre psychisch erkrankten Eltern überpsychische Gesundheit und derenAufrechterhaltung?

HintergrundIm Rahmen eines vom Bundesminis -terium für Bildung und Forschunggeförderten Projektes (NePP: „Needsfor Primary Prevention in Families withMentally Ill Parents“, Förderkenn zei -chen 01El1424b) wurde durch die

Katholische Hochschule NRW (Abtei -lung Paderborn) eine qualitative Inter -view studie in Familien mit psychischerkranktem Elternteil durchgeführt.Das Projekt ist Teil eines deutschland-weiten Forschungsverbunds zur Ge -sund heitskompetenz (HLCA: „HealthLiteracy in Childhood and Aldo les -cence“) (www.hlca-consortium.de, Za -mo ra et al. 2015). Die hier dargestell-ten Ergebnisse basieren auf einem Teilder Auswertung, weitere Resultatesind bereits an anderen Stellen publi-ziert (z.B. Wahl 2017, Wahl 2018).

MethodikEs wurden problemzentrierte leitfa-dengestützte Interviews (Witzel 2000)in 18 Familien durchgeführt. Hierbeiwur den 23 Erwachsene (17 erkrankteElternteile, 5 Partner*innen, 1 Groß -eltern teil) und 23 Kinder im häuslichenUmfeld befragt. Die Rekrutierung er -folg te in Zusammenarbeit mit einerpsychiatrischen Klinik. Die Kinder wa -ren zwischen 7 und 16 Jahren alt undlebten mit dem erkrankten Elternteil ineinem Haushalt. Das Diagnoses pek -trum der Eltern umfasste Depres sio -nen, Angsterkrankungen, Persönlich -keits störungen und Abhängig keits er -kran kungen. Die transkribierten Inter -views wurden computergestützt mit-tels qualitativer Inhaltsanalyse (Schrei -er 2012) ausgewertet, eine ausführli-che Darstellung der Vorgehensweisefindet sich bei Wahl et al. 2018. ImFolgenden werden Äußerungen dar-gestellt, die der Kategorie „Gesund -heits förderung“ zugeordnet wurdenund primär Antworten auf die Frage„Was kann man tun, um psychischgesund zu bleiben/damit es einem gutgeht/damit man glücklich ist?“.

ErgebnisseAuf die Frage „Was kann man tun, umpsychisch gesund zu bleiben“ wurde

von den Befragten häufig mit einemPräventionsfokus (Vermeidung von X)geantwortet. So wurden verschiedeneMaßnahmen angesprochen, die eineErkrankung oder Wiedererkrankung(Primär-, Sekundär-, Tertiärprävention)verhindern könnten, beispielsweisestrukturelle Bedingungen im Beruf,aber auch Verhaltens- oder Denk wei -sen auf der individuellen Ebene (Ver -hältnis-/Verhaltensprävention): „[...] vielleicht kriegen die [Anm. der Autoren: psychisch erkranktenEltern] dann auch mehrUrlaubstage [...] dann müsstendie auch nicht so oft krank sein.” (Mutter, 31 Jahre)

„Allgemein kann man versuchen, nicht in Situationen zu geraten, die einen verunsichern, die innerenStress auslösen, ‘ne?“ (Ehemann, 44 Jahre)

„[...] du musst jetzt von Anfang an anders denken und das lernen,damit du nicht irgendwann soendest wie sie halt“ (Tochter, 13 Jahre)

Aber die befragten Kinder und Er wach -senen berichteten auch einige Ideenauf verschiedenen Ebenen, wie psy-chische Gesundheit herbeizuführenund aufrechterhalten werden könnte(über einen reinen Präventionsfokushinaus):

Umgang mit Problemen/Schwierigkeiten „Vielleicht, ähm, von Anfang an mitseinen Problemen offener umge-hen.“ (Ehe frau, 41 Jahre)

„Ich glaube, auf sich selber so ‘nbisschen achten und sich selberauf seine eigenen BedürfnisseRücksicht ähm zu nehmen“ (Tochter, 14 Jahre)

Selbstwirksamkeit/Selbstbewusstsein „[...] dass man sich im Alltag ver-sucht, soweit das möglich ist, ein-fach Auf gaben, ähm, vorzunehmen

Patricia Graf und Albert Lenz

Subjektive Gesundheitstheorien in Fami -lien mit psychisch erkranktem ElternteilImpressionen aus einer qualitativen Interviewstudie

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Thema

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und zu erledigen, ähm, die manauch schaffen kann, die man sichzutraut.“ (Ehe mann, 44 Jahre)

„Ja, und ansonsten versuchen wirihn [Sohn] einfach zu stärken, dasser Selbstbewusstsein hat..[...] Undähm, ja, an solchen Stellen einfachmal im mer auch zwischendurchloben.“ (Mut ter, 38 Jahre)

Soziales „Ähm, da würde ich jetzt sagen,ähm, dass man auch nicht so vielhauen soll und so und ja, so einfachnett zueinander, dann kann manauch besser leben.“ (Tochter, 8 Jahre)

„Dass man in der Gesellschaft integriert ist, dass man Freunde hat,dass man auch Unternehmungenmacht mit anderen Familien,Freunden, wie auch immer, ähm,dass man da einfach integriert ist so im normalen Le ben.“ (Ehemann, 44 Jahre)

„Ja, vielleicht dass man gute Freunde hat und nicht so komischeFreunde hat, die man eigentlich garnicht mag.“ (Tochter, 13 Jahre)

„Ähm, wenn ich halt bei meinen Freunden bin zum Beispiel oderirgendwas Schönes mit meinerFamilie unternehme, dann ist mandoch glücklich.“ (Tochter, 10 Jahre)

„Hm, ja, immer helfen und hilfs- bereit sein.“ (Tochter, 10 Jahre)

Gesunder Lebensstil „Ähm Obst essen“ (Sohn, 11 Jahre) „Gesünder leben. Weniger Zigaretten, weniger Koffein.“ (Ehefrau, 41 Jahre) „Das tut gut, draußen zu sein, sich zu bewegen.“ (Mutter, 38 Jahre) „Vielleicht auch oft draußen sein, damit man frische Luft kriegt“ (Tochter, 10 Jahre)

Aktivitäten „Sich was kaufen.“ (Sohn, 11 Jahre) „Basteln, was malen.“ (Sohn, 8 Jahre) „... kann man auch ganz, äh, auchmal Fantasie freien Lauf lassen und auch Kreativität einsetzen, finde ich.“ (Toch ter, 10 Jahre)

„Wenn wir dann noch was anderes zusammen spielen können, zumBeispiel draußen in der Sandburg[...] bauen könnten.“ (Sohn, 8 Jahre)

ZusammenfassungSowohl die Kinder als auch die Er -wachsenen aus den befragten Fa -milien berichten verschiedene Ideendazu, was aus ihrer Sicht für die psy-chische Gesundheit förderlich ist. Hier -bei lassen sich die Aussagen grob denEbenen „Umgang mit Proble men“,„Selbstwirksamkeit/Selbst bewusst -sein“, „Soziales“, „Gesunder Lebens -stil“ und „Aktivitäten“ zuordnen. Häu -fig finden sich auf die Frage nach För -derung der psychischen Gesundheitaber auch Antworten mit deutlicheremBezug zur Krankheitsprävention als zurGesundheitsförderung. Dies lässt dieVermutung zu, dass die Familien hiernicht differenzieren, sondern ähnlicheStrategien sowohl für die Vermeidungpsychischer Erkrankung als auch fürdie Stärkung psychischer Gesundheitals hilfreich annehmen.

Einordnung der ErgebnisseDie Dimensionen, auf denen von einerelterlichen psychischen Erkrankungbetroffene Familien Ideen zur psy-chischen Gesundheit äußern, lassensich grob den Komponenten des bio-psychosozialen Modells von Ge sund -heit und Krankheit (Egger 2008) zuord-nen. Die biologische Dimension findetsich in der Kategorie „Gesunder Le -bens stil“ wieder. Die Familien mit glie -der sehen einen Zusammenhang zwi-schen Ernährung, Bewegung, gesund-heitsschädigenden Verhaltensweisenwie Rauchen und psychischem Wohl -befinden. Auch der psychischen Di -men sion wird von den Familien Rele -vanz beigemessen, dahingehend, dass„Umgang mit Problemen“ und „Selbst -wirk samkeit/Selbst bewusst sein“ eineBedeutung für das psychische Wohl -befinden zugeschrieben wird.

Beson ders häufig wird von den Be -frag ten aber die soziale Dimension alsre levant für die psychische Ge sund -heit erachtet, sowohl von Kin dern alsauch Er wachsenen. Die sub jek tivenGe sund heitstheorien der Fa milienneh men also Bezug zu allen Kom po -nenten des biopsychosozialen Mo -dells. Inwiefern die benannten Ver hal -tensweisen im Alltag der Fa mi lien tat-sächlich Rele vanz haben oder umge-setzt werden, bleibt jedoch un klar.

Bedeutung für die PraxisFür die Klinische Sozialarbeit lässt sichhieraus ableiten, dass einerseits denBetroffenen verschiedene Facettenpsychischer Gesundheit durchaus ge -läufig sind. Psychoedukation solltedaher auch alle Dimensionen des bio-psychosozialen Modells umfassen, umfür die Betroffenen anschlussfähig zusein. Bei der Fokussierung auf eineKomponente, beispielsweise nur psy-chische Faktoren, bestünde die Gefahr,dass aufgrund einer empfundenenWidersprüchlichkeit eine Integration indas subjektive Gesundheitsmodellnicht gelingt.

Literatur:

Egger, J.W. (2008): Grundlagen der„Psychosomatik“ – Zur Anwendung despsychosozialen Krankheitsmodells in derPraxis. Psychologische Medizin, 19(2), 12–22.

Faltermaier, T. (2016): Laienperspektiven aufGesundheit und Krankheit. In: Richter, M.;Hurrelmann, K. (Hrsg.): Soziologie vonGesundheit und Krankheit. Wiesbaden:Springer, S. 229–241.

Lenz, A. (2014): Kinder psychisch krankerEltern. Göttingen: Hogrefe.

Rasic, D.; Hajek, T.; Alda, M.; Uher, R. (2014):Risk of mental illness in offspring of parentswith schizophrenia, bipolar disorder, andmajor depressive disorder: a meta-analysisof family high-risk studies. In: Schizophreniabulletin, Volume 40, Issue 1, S. 28–38.

Schreier, M. (2012): Qualitative content analysis in practice. Sage Publications

Wahl, P.; Otto, C.; Lenz, A. (2017): „… dannwürde ich traurig werden, weil alle übermeinen Papa reden“ – Die Rolle desStigmas in Familien mit psychisch erkrank-tem Elternteil. In: Das Gesundheitswesen,79. Jg., Heft 12, S. 987–992.

Wahl, P.; Otto, C.; Lenz, A. (2018):Beeinflussende Faktoren bei derInanspruchnahme von Hilfen – Hinweise auseiner qualitativen Interviewstudie in Familienmit psychisch erkranktem Elternteil. Prä ven -tion und Gesundheitsförderung, online first:https://doi.org/10.1007/s11553-018-0675-9

Weissman, M. M.; Wickramaratne, P.;Gameroff, M. J.; Warner, V.; Pilowsky, D.;Kohad, R. G.; Verdeli, H.; Skipper, J.; Talati, A.(2016): Offspring of Depressed Parents: 30Years Later. In: American Journal of Psychiatry,Volume 173, Issue 10, S. 1024–1032.

Witzel, A. (2000): The Problem-CenteredInterview. In: Forum: Qualitative SocialResearch, Volume 1, Number 1, Artikel 22.

Zamora, P.; Pinheiro, P.; Okan, O.; Bitzer, E.-M.; Jordan, S.; Bittlingmeyer, U.H.; Kessl, F.;Lenz, A.; Wasem, J.; Jochimsen, M.A.; Bauer,U. (2015): „Health Literacy” im Kindes- undJungendalter – Struktur und Gegenstandeines neuen interdisziplinären Forschungs -verbunds (HLCA-Forschungsverbund). In: Prävention und Gesundheitsförderung, 10. Jg., Heft 2, S. 167–172.

Page 16: KLINISCHE SOZIALARBEIT

Rezension

Agency, vielleicht am besten übersetztmit „Handlungsfähigkeit“, findet in der

Diskussion um die Theorie und Praxis derSozialen Arbeit zunehmend Beachtung.Anna Lena Rademaker, die zum Thema„Agen cy und Gesundheit“ bereits eine Dis -sertation vorlegte, erweitert diese Schrift mitdem Anspruch, in ihrem nun vorliegendenBuch „stärker noch den Gegenstand ge -sundheitsbezogener Sozialer Arbeit und Im -plikation für ihre Praxis“ (S. 9) auszuarbeiten. Die Studie ist in 2 Teile gegliedert. Im erstenTeil widmet sich die Autorin einer „Be stim -mung gesundheitsbezogener So zia ler Ar -beit, ihrer Handlungsbereiche, -felder undKonzepte“ (S. 9) im Kontext der Kin der- undJugendhilfe und diskutiert die noch nichtgänzlich zufriedenstellend be wältigte He -rausforderung, „Gesundheit und damitauch Gesundheitsförderung als konstituti-ven Bestandteil“ (S. 14) der Kin der- und Ju -gendhilfe umzusetzen. Der zweite Teil prä-sentiert die Ergebnisse einer quan ti ta tivenUntersuchung von 482 Ju gend lichen im Al -ter von 14 bis 17 Jahren so wie eine qualita-tive Analyse, die auf Grup pen dis kus sionenmit ausgewählten Jugendlichen basiert.

In den Kapiteln 3 bis 7 des ersten Teils führtdie Autorin in Zugänge zu Gesundheit undGesundheitsförderung sowie Sozialer Ar -beit und gesundheitsorientierter SozialerArbeit ein und verortet diese Zu sam men -hänge im Bereich der Kinder- und Jugend -hilfe. Zwar sind die hier dargestelltenSachverhalte bereits hinlänglich be kannt,doch gelingt es der Autorin, sie pointiertunter Einbezug der vorhandenen Fach -literatur mit Blick auf Kinder und Jugend -liche zu veranschaulichen und damit insbe-sondere Studierenden, die sich der gesund-heitsorientierten Sozialen Arbeit nähernwollen, eine gute Ausgangsbasis zu liefern.Kapitel 3 („Agency und Gesundheit injugendlichen Lebenswelten – Herausfor de -run gen für die Soziale Arbeit“) eröffnet dieDiskussion um Agency und argumentiert,dass die Herausforderung der SozialenArbeit darin besteht, „junge Menschen zumehr Selbstbestimmung und Autonomieüber ihr Leben und ihre Gesundheit imAlltag zu befähigen“ (S. 14). Kapitel 4 („Ent -wicklungslinien von Sozialer Arbeit undGesundheit“) führt die Lebensweltorien tie -rung als theoretisches Konstrukt zur Bear -beitung, Wiederherstellung und Befähi -gung subjektiver Lebens- und Gesund heits -welten ein, wobei diese Lebensweltorien -tierung als Folie dient, um ein Verständnisgesundheitsorientierter Sozialer Arbeit indiesem Handlungsfeld zu erzeugen. Da -rüber hinaus dient diese Sys te ma tisierung

der Hinführung zum Begriff der Agency imKontext gesundheitsbezogener Sozialer Ar -beit, die „reale Handlungs op tio nen derMenschen [beschreibt], sich für oder gegenein Handeln zu entscheiden und […] dieseOp tionen in Relation zu dem situativenKon text, in dem sie sich befinden“ (S. 27),zu betrachten. Eine wichtige Voraus set zung,um Agency zu ermöglichen, ist demnachdie Verwirklichung von Partizipation. DieAu torin entwickelt nachvollziehbar und ge -lungen eine theoretische Bestimmung ge -sundheitsbezogener Agen cy in der So zia lenArbeit und leitet von der Theorie zur Praxisgesundheitsbezogener Sozialer Ar beit über.Kapitel 5 („Gesund heits för derung in derKin der- und Jugend hilfe“) führt aus, wieGesundheitsförderung in der Kinder- undJu gendhilfe zu gestalten ist und welchemAk teursverständnis „die Kinder- und Ju -gend hilfe in ihrer Praxis auf der Mikro-, Me -so- und Makroebene gezielt nachkommen“(S. 49) sollte, um gesundheitsbezogeneAgency zu verwirklichen. In Kapitel 6 („Ge - sundheit in der Lebensphase Jugend“) hebtdie Autorin im Rekurs auf aktuelle Stu diendie Besonderheit dieser Lebens pha se in Be -zug auf Entwicklungs aufgaben und Ge -sund heit hervor und stellt in Kapitel 7 („Sub -jektorientierte Alltags konstruk tio nen vonGesundheit“) unterschiedliche theoretischeund empirische Zugänge vor, die „zur Ana -lyse von Alltags konstruktionen von Ge sund -heit und Krank heit“ (S. 109) die nen kön nen.

Der zweite Teil ist einer umfassendenErhebung gewidmet, die die Autorin mittelsFragebogen (N=482) unter 14- bis 17-jähri-gen Jugendlichen durchführte und derenErgeb nisse mit anderen Studien (beispiels-weise KiGGS, HBSC) verglichen und ten-denziell bestätigt werden (Kapitel 9). Kerns -tück der Untersuchung ist ein Haupt kompo -nen tenmodell „Bio psychosoziale Gesund -heit“, das der Autorin die Möglichkeit gibt,gesundheitliche Ungleichheit „insbesonde-re im Zusammenhang mit lebensweltlicheinflussnehmenden Indikatoren“ (S. 168) zurekonstruieren. Die Elemente dieser Haupt -kom po nentenstruktur sind:1) subjektives alltägliches (habituelles) Wohlbefinden, 2) Lebens freude und Lebenszufriedenheit,3) körperliche Erkrankungen, 4) das Stimmungsniveau, 5) körperliches Wohlbefinden und 6) Gefühle von Einsamkeit und Zu kunfts sorgen (vgl. S. 169). Aufbauend auf den Ergebnissen der Er he -bung identifiziert die Autorin 3 Ge sund heits -typen, die sich „statistisch be trachtet maxi-mal in ihrer eigenen Einschät zung biopsy-

chosozialer Gesundheit zwischen einanderund minimal untereinander“ (S. 253) un ter -scheiden, und bringt diese Typen (Typ I: funk-tional-leistungsorientiert, Typ II ausgleichs-balanceorientiert und Typ III reaktiv-ausglei-chend, S. 253 ff.) in einem weiteren Un ter -suchungsschritt in Form typenhomogenerGrup pendiskussion (N=12) zusammen.

Das abschließende Kapitel 11 enthält Über -legungen zur Förderung gesundheitsbezo-gener Agency in jugendlichen Lebens- undGesundheitswelten mit Blick auf die Eta -blie rung einer gesundheitsfördernden Pra -xis in der Kinder- und Jugendhilfe und for-dert, dass „Sozialarbeiter*innen mit demAnliegen konfrontiert [werden], Gesundheitals Thema jugendlichen Alltags explizit inihre Handlungspraxis zu integrieren“(S. 288). Es sei geboten, so Anna Lena Ra -de maker, „Gesundheitsförderung als PraxisSozialer Arbeit und insbesondere der Kin -der- und Jugendhilfe zu etablieren“ (S. 290).Dies bedürfe einer „Kultur innerhalb derSozialen Arbeit, die Gesund heits för de rungjunger Menschen als Praxis ihrer Arbeit ver-steht“ (ebd.). Damit ist auch das Plädoyerverbunden, ein solches Ver ständnis imRahmen von Studium, Qua li fi kation undWeiterbildung bei Nachwuchs wissen schaft -ler*innen und -praktiker*innen zu erzeugen.Anna Lena Rademaker hat eine Ge sund -heitsstudie vorgelegt, deren Ein bet tung indie Debatten um eine gesundheitsbezoge-ne Soziale Arbeit im Allgemeinen und in dieKinder- und Jugendhilfe im Be sonderen ge -lungen ist. Hervorzuheben ist die metho-disch sehr anspruchsvolle, um fangreicheund erhellende Verknüpfung quantitativerund qualitativer Forschungs methoden, de -ren Ergebnisse durch zahlreiche Grafikenanschaulich aufbereitet wurden. Leider sinddie Grafiken aufgrund des klein gehaltenenSchriftbildes mitunter schwer für den Le -sen den zu erfassen.

Kritisch zu bemerken wäre in Anna LenaRademakers Fachbuch lediglich das Fehleneiner eindeutigen begrifflichen Klärung des„Agency“-Konzepts, das von anderen Fach -disziplinen angeregt wurde und hier ohnespezifische Konturierung für die SozialeArbeit erscheint. Eine klare Position der Au -torin zum Begriff „Agency“ innerhalb derSozialen Arbeit wäre hilfreich gewesen.

Katarina Prchal

16 Klinische Sozialarbeit 15 (3) | 2019

Gesundheitsbezogene Agency in jugendlichen Lebenswelten Ein Plädoyer für eine Kultur der Gesundheitsförderung als Praxis der Sozialen Arbeit

Rademaker, Anna Lena (2018): Agency und Gesundheit in jugendli-chen Lebenswelten – Heraus for derun -gen für die Kinder- und Jugendhilfe.Weinheim, Basel: Beltz Juventa.