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104 Berichte Körper - Bewegung - Sport. Zur Neuorientierung von Körper- und Sportsoziologie Gemeinsame Jahrestagung der Sektion Soziologie des Sports und des Arbeitskreises Soziologie des Körpers der Deutschen Gesellschaft für Soziologie vom 24.-26. Juni 2005 in München „Körper" und » Bewegung" sind zwei Be- griffe, die in der Sportwissenschaft und Sportpädagogik seit vielen Jahren dis- kutiert werden. Auch in anderen Diszi- plinen wie der Geschichte und der So- ziologie stoßen diese Kategorien auf großes Interesse, während der Sport- Begriff hier eher zurückhaltend rezi- piert wurde. Der Historikertag 1998 in Frankfurt/M. hatte erstmals eine eigene „Körpersektion" im Programm und in der Deutschen Gesellschaft für Soziolo- gie (DGS) bildete sich neben der Sek- tion „Soziologie des Sports", die bereits seit über 20 Jahren besteht, ebenfalls 1998 ein eigener Arbeitskreis zur „So- ziologie des Körpers ". Inzwischen liegen Einführungen in die Körper-Thematik sowohl aus histori- scher Sicht von Maren LORENZ (2000) als auch aus soziologischer Sicht von Ro- bert GUGUTZER (2004) vor, wobei der Übergang zwischen den Disziplinen fließend ist. Dies zeigen bereits die grundlegenden Arbeiten zu Körper und Habitus von Norbert ELIAS, Pierre BouR- DIEU und Michel FOUCAULT. Auch die Grenze zwischen „Körper ", „Bewegung" und „Sport" ist kaum eindeutig zu be- stimmen. Trotzdem scheinen Körperge- schichte und -soziologie den Sport weit -gehend aus ihren Untersuchungen aus- zublenden. Um diesen „blinden Fleck" (GUGUTZER) zu überwinden und die Zu- sammenarbeit zu stärken, luden Kurt WEis und Robert GUGUTZER an die Fa- kultät für Sportwissenschaft der TU München. Auf einer gemeinsamen Jah- restagung sollten die DGS- Sektion „So- ziologie des Sports" und der DGS-Ar- beitskreis „Soziologie des Körpers" mit- einander ins Gespräch kommen. Auf dieser Basis sollten dann auch weiter- führende Fragen nach dem Zusammen- hang von Körper, Bewegung, Sport und der modernen Gesellschaft gestellt wer- den. Nicht nur wie die Gesellschaft den sportiven Körperumgang prägt, son- dern auch umgekehrt, wie sportive Be- wegungsformen die Gesellschaft ver- ändern, wurde auf der Tagung disku- tiert. Zur Einführung skizzierte GUGUTZER (TU München) die Entwicklung der ak- tuellen deutschsprachigen Körper- und Sportsoziologie und plädierte für eine stärkere gegenseitige Durchdringung beider Fächer. Es gebe einen gesell -schaftlichen Trend zu einem expressiv -impressiven Sportmodell, das sich nicht mehr wie traditionelle Wettkampfsport- arten am Code Sieg- Niederlage, son- dern an Codes wie Spaß-Langeweile orientiere. Den Kern dieses Modells bil- deten neue sportive Bewegungsformen und körperliche Inszenierungen. Um die alternativen körper- und bewe- gungskulturellen Praktiken zu erfassen, ersetze die Soziologie des Sports ihren „engen" durch einen „weiten" Sportbe- SpW 36. Jg., 2006, Ni. 7

Körper — Bewegung — Sport. Zur Neuorientierung von Körper- und Sportsoziologie

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Berichte

Körper - Bewegung - Sport.Zur Neuorientierung von Körper- und SportsoziologieGemeinsame Jahrestagung der Sektion Soziologie des Sports und desArbeitskreises Soziologie des Körpers der Deutschen Gesellschaft fürSoziologie vom 24.-26. Juni 2005 in München

„Körper" und »Bewegung" sind zwei Be-griffe, die in der Sportwissenschaft undSportpädagogik seit vielen Jahren dis-kutiert werden. Auch in anderen Diszi-plinen wie der Geschichte und der So-ziologie stoßen diese Kategorien aufgroßes Interesse, während der Sport-Begriff hier eher zurückhaltend rezi-piert wurde. Der Historikertag 1998 inFrankfurt/M. hatte erstmals eine eigene„Körpersektion" im Programm und inder Deutschen Gesellschaft für Soziolo-gie (DGS) bildete sich neben der Sek-tion „Soziologie des Sports", die bereitsseit über 20 Jahren besteht, ebenfalls1998 ein eigener Arbeitskreis zur „So-ziologie des Körpers ".

Inzwischen liegen Einführungen indie Körper-Thematik sowohl aus histori-scher Sicht von Maren LORENZ (2000) alsauch aus soziologischer Sicht von Ro-bert GUGUTZER (2004) vor, wobei derÜbergang zwischen den Disziplinenfließend ist. Dies zeigen bereits diegrundlegenden Arbeiten zu Körper undHabitus von Norbert ELIAS, Pierre BouR-DIEU und Michel FOUCAULT. Auch dieGrenze zwischen „Körper", „Bewegung"und „Sport" ist kaum eindeutig zu be-stimmen. Trotzdem scheinen Körperge-schichte und -soziologie den Sport weit

-gehend aus ihren Untersuchungen aus-zublenden. Um diesen „blinden Fleck"(GUGUTZER) zu überwinden und die Zu-sammenarbeit zu stärken, luden Kurt

WEis und Robert GUGUTZER an die Fa-kultät für Sportwissenschaft der TUMünchen. Auf einer gemeinsamen Jah-restagung sollten die DGS-Sektion „So-ziologie des Sports" und der DGS-Ar-beitskreis „Soziologie des Körpers" mit-einander ins Gespräch kommen. Aufdieser Basis sollten dann auch weiter-führende Fragen nach dem Zusammen-hang von Körper, Bewegung, Sport undder modernen Gesellschaft gestellt wer-den. Nicht nur wie die Gesellschaft densportiven Körperumgang prägt, son-dern auch umgekehrt, wie sportive Be-wegungsformen die Gesellschaft ver-ändern, wurde auf der Tagung disku-tiert.

Zur Einführung skizzierte GUGUTZER(TU München) die Entwicklung der ak-tuellen deutschsprachigen Körper- undSportsoziologie und plädierte für einestärkere gegenseitige Durchdringungbeider Fächer. Es gebe einen gesell

-schaftlichen Trend zu einem expressiv-impressiven Sportmodell, das sich nicht

mehr wie traditionelle Wettkampfsport-arten am Code Sieg-Niederlage, son-dern an Codes wie Spaß-Langeweileorientiere. Den Kern dieses Modells bil-deten neue sportive Bewegungsformenund körperliche Inszenierungen. Umdie alternativen körper- und bewe-gungskulturellen Praktiken zu erfassen,ersetze die Soziologie des Sports ihren„engen" durch einen „weiten" Sportbe-

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griff. Der „kulturellen Wende" in denSozial- und Geisteswissenschaften, dieindividuelle Praxis und Erfahrung demabstrakten System und Diskurs vorzie-he, entspreche eine „Körperwende" inden Freizeit- und Sportwelten der post-modernen Gesellschaft. Schließlich wie-sen jüngere Arbeiten vermehrt überden engen Rahmen der Sport- und Kör-persoziologie hinaus und liefertenwichtige Beiträge zur soziologischenZeitdiagnose und Theoriebildung.

WEIS (TU München) sprach im zwei-ten Einführungsvortrag über den „Kör-per als Erlebnisraum und Erfahrungs-welt". Zunächst erinnerte er daran, dasssämtliche Erlebnisse und die daraus ge-wonnenen Erfahrungen körperlicherNatur sind. In den meisten Kulturenwürden dementsprechend körperlicheTechniken genutzt, um zu neuen Erfah-rungen und innerer, religiöser Vervoll-kommnung zu finden. Lediglich in un-serer westlichen, olympischen Sport-kultur werde das Erlebnis- und Erfah

-rungspotenzial des Körpers vernachläs-sigt und statt dessen der Sieg im Wett-kampf in den Mittelpunkt gestellt. Auchdie Sozialwissenschaften hätten dieKörperlichkeit des Menschen aus demBlick verloren und müssten in Zukunftwieder stärker eine Soziologie der Er-fahrungs- und Sinnsuche verfolgen.

Damit war der erste Themenblock„Erfahrung und Wahrnehmung" eröff-net. Gabriele KLEIN, Melanie HALLER undMaren WITTE (Hamburg) stellten ersteErgebnisse des DFG-Projekts „Trans/na-tionale Identität und körperlich -sinn-liche Erfahrung" zu körperlich-sinnli-chen Erfahrungen im Salsa vor. Aus-gangspunkt dieses Projektes ist die The-se, dass körperlich -sinnliche Erfahrun-gen beim Tanzen konstitutiv für die Pro-duktion von Identität seien. Anhandvon qualitativen Interviews in der Salsa-Szene, die subjekt- und diskurstheore-

tisch ausgewertet werden, und Bewe-gungsanalysen soll diese These über-prüft werden.

Gunter GEBAUER (FU Berlin) sprachaus philosophischer Sicht über das„Fliegen - Schweben - Gleiten" in neu-en Sportarten und fernöstlichen Kampf-filmen. Im Gegensatz zur traditionellenDominanz der horizontalen Achse do-miniere neuerdings die Vertikale. Wich-tiger als der feste Stand auf der Erdewerde das Abheben in die Luft. Traum

-artige Erfahrungen triumphierten überden Wirklichkeitssinn, der den traditio-nellen Sport auszeichne. Neue Raum-und Zeitkonzepte würden deutlich, diemit einem neuen, mythologischen Men-schenbild verbunden seien.

Elk FRANKE (HU Berlin) thematisiertedie Erfahrung von Differenzen alsGrundlage reflexiver Leib-Erfahrung.Neben der makrosoziologischen Be-trachtung körper-relevanter Sozialisa-tionsprozesse seien ihre mikrosozio-logischen Bedingungen vernachlässigtworden. Vor dem Hintergrund des Dif-ferenz-Begriffs werde die Besonderheitleiblicher Erfahrung, wie PLESSNER, GEH-

LEN und PIAGET sie verstünden, beson-ders deutlich. Durch eine Analyse derDifferenzerfahrung könne die traditio-nelle und eher ideologische Unterschei-dung zwischen bewusst und unbewusstbzw. sprachlich und nicht-sprachlichabgelöst werden. An ihre Stelle müsseeine gestufte Reflexionstheorie auf derGrundlage von Differenz-Kriterien tre-ten. Damit grenzte sich FRANKE bewusstvon dem theoretischen Ansatz ab, denKLEIN, HALLER und WITTE in ihrem Pro-jekt verfolgen.

Luca CAcctoLO (Oldenburg) eröff-nete am zweiten Tag den Themenblock„Körper und Selbst" mit einem Vortrag„Zur Formung des Selbst im Kletter-sport". Nina DEGELE (Freiburg) erörtertein ihrem Vortrag „Schmerz ist geil!"

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das identitätsstiftende Potenzial desSchmerzes.

Einen kritischen Ton schlug VolkerRTTTNER (DSHS Köln) an. Bei aller Not-wendigkeit von theoretischen Überle-gungen dürfe sich die Sport- und Kör

-persoziologie nicht in praxisfernen Re-flexionen verlieren. Sie müsse politikfä-hig werden und auf die Anfragen derpostmodernen Gesellschaft reagieren,was RITFNER am Beispiel eines gesund

-heitssportlichen Projektes der Deut-schen Sporthochschule Köln (DSHS)mit dem Rheinkreis Neuss illustrierte.

Kai REINHART (Münster) stellte ersteErgebnisse einer empirischen und theo-retischen Studie zur Funktion von Kör

-perkultur und Sport in der DDR vor.Der offizielle DDR-Sport könne im An-schluss an FOUCAULT als Herrschafts-In-strument bezeichnet werden, mit des-sen Hilfe sozialistische Persönlichkeitengeschaffen werden sollten. Viele inoffi-zielle Sport-Szenen hingegen hättenihre Körper- und Bewegungspraxis imSinne einer foucaultschen „Selbst-Sor-ge" genutzt. Auf der Basis von zahlrei-chen Interviews, Fotos und weiterenDokumenten wie Gipfelbüchern undselbstgezeichneten Landkarten verdeut-lichte REINHART den widerständigenCharakter von Bergsteigern, Kletterernund Skatern. Solche und ähnliche Sze-nen könnten als eine Avantgarde begrif-fen werden, die der breiten revolutionä-ren Bewegung in der DDR vorausgin-gen.

Das Anliegen der Veranstalter, Kör-per- und Sportsoziologie miteinanderins Gespräch zu bringen, wurde vonden Teilnehmern geteilt und fand aufder öffentlichen Mitgliederversamm-lung seinen organisatorischen Aus-druck. Es wurde beschlossen, die Sek

-tion „Soziologie des Sports" und den Ar-beitskreis „Soziologie des Körpers" mit

-einander zu vereinen, um für die Zu-

kunft eine effektivere (Zusammen-)Ar-beit zu ermöglichen. Heftig diskutiertwurde, ob neben „Körper" und „Sport"auch der Begriff "Bewegung" in den Na-men der neuen Sektion aufgenommenwerden sollte.

Im letzten Themenblock des Tages„Bewegung und Diskurs" sprach BerndSCHULZE (Münster) über ,,Körperbewe-gungen aus systemtheoretischer Per-spektive", einen Aspekt seiner geradeabgeschlossenen Habilitation. Anknüp-fend an späte Überlegungen LUHMANNSzu Medium und Form könne man zu ei-nem systemtheoretischen Bewegungs-begriff gelangen, der psychischen undsozialen Systemen ähnele. Körperbewe-gung erscheine hier als spezifisches Me-dium der Formbildung, mit dem diestrukturelle Kopplung von psychischen,sozialen und motorischen Systemen ge-linge. Durch gegenseitige Beobachtungbeeinflussten sich Bewegungssystemeund andere gesellschaftliche Teilsyste-me gegenseitig. Daher seien das sport-wissenschaftliche Konzept der Bewe-gung und das systemtheoretische Kon-zept von Gesellschaft anschlussfähigund die Diskurse über Körper, Bewe-gung, Sport und Gesellschaft könntenverknüpft werden.

Zum Abschluss des Tages beobachte-te die Tagungs-Gesellschaft im Halbfi-nale des Confederations Cups eine bra-silianische Mannschaft, die es offen-sichtlich schaffte, den expressiv-impres-siven Code Spaß-Langeweile mit demtraditionellen Code Sieg-Niederlage zuverbinden - und eine redlich bemühtedeutsche Mannschaft.

Noch zum Themenblock des Vorta-ges untersuchte am nächsten MorgenPaula-Irene VILLA (Hannover), wie sichim Tango globale Diskurse und indivi-duelle leibliche Erfahrungen verschrän-ken und zu einer je spezifischen Identi-tätsbildung beitragen. Robert SCHMID

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(FU Berlin) eröffnete anschließend denletzten Themenblock „Habitus und Pra-xis". Er versteht den Körper als Träger,Vollzugsmedium und Produzent sozia-ler Ordnung. Unter dieser Perspektivekönne das Instrumentarium der Sport-soziologie auch außerhalb des Sportszu einer Analyse der körperlichen Seitedes Sozialen genutzt werden.

Thomas ALKMEYER (Oldenburg)sprach zur „Konstitution, Transforma-tion und Performanz von Habitus in Bil

-dungspraktiken". Er betonte, dass nichtnur der Sport, sondern auch alle Lern-und Bildungsprozesse Züge physischenTrainings trügen. Bewusstseinsinhalteund Wissen existierten nicht unabhän-gig von sozialen Praktiken. Schüler undSchülerinnen, deren Habitus bereits„Ankopplungsstellen" für die organi-sierten Bildungspraktiken in der Schulehabe, hätten daher größere Partizipa-tionschancen. ALKEMEYER illustrierte,wie bereits SCHMID vor ihm, seine Ge-danken durch das Beispiel einer Boxen-Halle, die er mit einem Klassenzimmerverglich.

Larissa SCHINDLER (LMU München)erörterte am Beispiel von Demonstra-tionen im Kampfsport, wie die Überset

-zung von leiblichem, sprachlosem Wis-sen in explizites, sprachliches Wissenfunktioniert. Zum Abschluss behandel-te Stefan BEIER (genderWerk Berlin) dieFrage, wie die Selbstkonstruktion undVergesellschaftung von Männern kör-perlich-leiblich vor sich gehen.

Die Tagung bot einen interessantenEinblick in die soziologische Forschungzu Körper, Bewegung und Sport. DieVeranstalter hatten genügend Zeit fürdie kritische Diskussion der Vorträgeeingeplant, so dass eine vertiefendeAuseinandersetzung mit den Ausfüh-rungen möglich war. Erfreulich warauch die hohe Durchmischung von„Nur"- und Sportsoziologen, die half,

den Blick zu erweitern. Die Themenund Thesen der Vorträge bestätigtendie von GUGUTZER eingangs skizziertenEntwicklungslinien der Sport- und Kör-persoziologie. Auch wenn der traditio-nelle Sport in der soziologischen undmedialen Landschaft insgesamt nochüberwiegen mag, wurde auf dieser Ta-gung ein neuer Schwerpunkt deutlich.Die Vorträge wurden bestimmt von, zu-mindest in unserer europäischen Kul-tur, neueren Sportarten und Bewe-gungsformen, wie asiatischen Kampf-künsten oder lateinamerikanischenTänzen. Zu dieser Entwicklung gehörtauch der Aufstieg von „Körper" und„Bewegung" zu zentralen Forschungs-konzepten und -gegenständen. Sport-wissenschaft und Soziologie folgen da-mit der sportlichen Entwicklung, die anden Rändern eines traditionellen Sport-verständnisses ihre größte Dynamikentfaltet. „Körper" und „Bewegung" er-lauben darüber hinaus, den Blick aufkörperliche Praktiken außerhalb desSports zu richten und neues Terrain zuerschließen.

Gleichzeitig muss sich die Forschungder Problematik des Köper-Begriffs be-wusst bleiben. Carolyn W. BYNuM, eineVorreiterin der historischen Körperfor-schung, schrieb 1996 zum „Theater mitdem Körper": „In gewissem Sinne istes natürlich falsch, den ,Körper` zumThema zu machen. ,Der Körper' ist ent-weder überhaupt kein eigenes Thema,oder er umfasst so gut wie alle Themen"(S. 1). Auf der Tagung blieb der Unter

-schied zwischen Körperlichem undNicht-Körperlichem manchmal unklar.Wenn am Ende „Körper" lernen, füh-len, tanzen, kämpfen und keine „Men-schen" mehr, hat der Begriff „Körper"seine analytische Trennschärfe verlo-ren. „Menschen" werden durch ihre„Körper" lediglich ersetzt, ohne dass ih-re Wahrnehmung tatsächlich erweitert

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wird. Genau dafür, um das Wissen überden Menschen und sich selbst zu erwei-tern, hatten sich Denker wie ELIAS,BDURDIEU oder FOUCAULT einst der kör-perlichen Praxis zugewandt. Diskurseüber Körper sind so gesehen immer aufspezifische Menschenbilder bezogen.

Wissenschaftliche Arbeiten zum Kör-per sollten daher genau sagen, von wel-chem Körper-Verständnis sie ausgehen,und wie sie sich im Spannungsfeld vonEssentialismus/Realismus auf der einenSeite und Konstruktivismus/Nomina-lismus auf der anderen Seite einordnen.Besonders in der angloamerikanischenKörpersoziologie und in der Geschlech-terforschung scheint die Gefahr einesüberzogenen Nominalismus zu beste-hen, der alle Materialität diskursiviertund damit scheinbar verschwindenlässt. Eine grundlegende Differenzie-rung des Körper-Begriffs wäre bei-spielsweise durch das in GUGUTZER5

Einführung (2004) vorgeschlageneKonzept der „Zweiheit des Körpers"(vgl. S. 146-155) möglich.

Ein weiteres Problem der aktuellenKörpersoziologie ist die empirischeBasis der theoretischen Entwürfe, dienicht immer überzeugen kann. Hin-weise auf eigene oder sogar bloß vorge-stellte Körpererfahrungen reichen nichtaus. Im Dschungel der Begriffe undTheorien sind solide empirische Faktenunverzichtbar.

„Körper", „Bewegung" und „Sport"bieten - trotz der Problematik einzelnerBegriffe - eine neue, faszinierende Fra-gestellung, die der Sportwissenschaftden Blick über den Tellerrand des tradi-tionellen Sports hinaus eröffnet undprägende Entwicklungen der moder-nen Gesellschaft sichtbar macht. In die-sem Zusammenhang sprach der KölnerSportpädagoge Eckart MEINBERG 2003auf der Tagung „Menschenbilder imSport" in Münster über den „HomoSportivus - Die Geburt eines neuenMenschen". Der Zusammenhang zwi-schen der gesellschaftlichen Konstitu-tion des Körpers und dem Sport istnicht zu übersehen. Wird die These ausder Dissertation des Münsteraner Histo-rikers Frank BECKER (1993) vom „Sport-ler als modernem Menschentyp" (vgl.S. 284-335) ernst genommen, kann dieSportwissenschaft einen wichtigen Bei-trag zum Verständnis der (Post-)Moder-ne leisten. Viele Anregungen könnendabei von dem Tagungsband ausgehen,der im Juli nächsten Jahres unter demvoraussichtlichen Titel "Body turn. ZurSoziologie von Körper, Bewegung undSport" erscheinen soll und neben Vor-trägen der Tagung weitere Aufsätze ver-sammeln wird.

KAI REINHART

(Universität Münster,Institut für Sportwissenschaft)