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Monika Wolting (Wrocław) Die Natur im Werk Marie Luise Kaschnitz´ „Es wäre fesselnd, zu untersuchen, inwieweit und in welche Richtung hin sich unser Gefühl für die Natur in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat. (...) Natur wäre in jedem Fall im weitesten Sinne zu verstehen, also auch der Baum im Großstadthof, der Ölfleck auf dem Pflaster der Vorstadt, Regen, Wolken, Wind. Der Daseinsempfindung, die ersetzt wird durch die Empfindung der Bewegung und der Rolle, die den Elementen, den Landschaftsformen und den Pflanzen und Tieren in der modernen Literatur noch eingeräumt wird, wäre nachzugehen, auch der Frage, ob die systematische Verwandlung der Naturkräfte in menschengelenkte Energie, also der Natur in eine Ernährungsfabrik, überhaupt schon wirklich zur Kenntnis genommen wird.“ 1 Auf diese Art wird bereits die erste Frage aufgeworfen: Wie versteht Marie Luise Kaschnitz den Begriff Natur? Hier kommt die studierte Biologin zum Vorschein, so wird sie schon von der Ausbildung her die Natur eher im weiteren Sinne verwenden. Natur gilt nicht nur als das, was sich aus eigenen Kräften ohne fremdes Zutun entwickelt 2 , sondern als all umfassender Ursprung des Kosmos und des Seins überhaupt. Auch „Angst“ und „Geborgenheit“ sind für die Literatin naturbedingt. Die Menschen unterliegen ständig den Kräften der Natur, zehren davon und, wie das vor allem aus ihren früheren Werken herauszulesen ist, stellen zum Teil ihr Abbild dar. In ihrem Essay schreibt sie weiter: „Vielleicht käme man (bei der Untersuchung, MW) dahin, zu erkennen, daß eigentliche Betrachtung der Natur ein Anliegen des 19. Jahrhunderts war und daß an ihre Stelle ein Gefühl für das Magische der Naturvorgänge getreten ist: das nach ganz anderen Ausdrucksmitteln verlangt: Etwa nach Zeichen und Bildern, die anscheinend ohne Zusammenhang, mit der Wirklichkeit doch einen Eindruck vermitteln, der unserem eigenen Wirklichkeitsgefühl entspricht.“ 3 Dies schrieb 1955 Marie Luise Kaschnitz in ihrem Römischen Tagebuch „Engelsbrücke“, also nach der von vielen Wissenschaftlern vorgenommenen Abwandlung von Motiven wie Geschichte, Mythen und eben Natur. 4 Kaschnitz sieht eher eine Entwicklung in der Form des Sehens, und das bezieht sie nicht unbedingt auf die Ernüchterung durch den Zweiten Weltkrieg, sondern auf den Einbruch einer neuen Sichtweise vieler Elemente der Kultur, die sich zu Beginn der Moderne vollzog. Die Dinge wurden nicht mehr einer direkten Beschreibung unterzogen, sondern kamen durch den Dichter selbst zur Sprache. Diesen Vorgang macht sie zum Thema eines kurzen Textes „Das rechte Hinschauen“, sie beschreibt die ihr geschenkte Blume in der Tradition des 19. Jhs. mit allen Details um die „Geheimnisse“ ihrer „Lebensgesetze“ in ihrer „Struktur“ zu erkennen und wahrzunehmen. 5 Die Erfahrungen mit der Landschaft um Königsberg eröffneten für Marie Luise Kaschnitz neue Möglichkeiten für das literarische Schreiben. In Orte schrieb sie: „Ostpreußen, die kargste Gegend, und wie dort die Natur die allermächtigste Wirkung auf mich ausgeübt hat.

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Kaschnitz' Verhältnis zur Natur

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Monika Wolting (Wrocław)

Die Natur im Werk Marie Luise Kaschnitz´

„Es wäre fesselnd, zu untersuchen, inwieweit und in welche Richtung hin sich unser Gefühl für die Natur in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat. (...) Natur wäre in jedem Fall im weitesten Sinne zu verstehen, also auch der Baum im Großstadthof, der Ölfleck auf dem Pflaster der Vorstadt, Regen, Wolken, Wind. Der Daseinsempfindung, die ersetzt wird durch die Empfindung der Bewegung und der Rolle, die den Elementen, den Landschaftsformen und den Pflanzen und Tieren in der modernen Literatur noch eingeräumt wird, wäre nachzugehen, auch der Frage, ob die systematische Verwandlung der Naturkräfte in menschengelenkte Energie, also der Natur in eine Ernährungsfabrik, überhaupt schon wirklich zur Kenntnis genommen wird.“1 Auf diese Art wird bereits die erste Frage aufgeworfen: Wie versteht Marie Luise Kaschnitz den Begriff Natur? Hier kommt die studierte Biologin zum Vorschein, so wird sie schon von der Ausbildung her die Natur eher im weiteren Sinne verwenden. Natur gilt nicht nur als das, was sich aus eigenen Kräften ohne fremdes Zutun entwickelt2, sondern als all umfassender Ursprung des Kosmos und des Seins überhaupt. Auch „Angst“ und „Geborgenheit“ sind für die Literatin naturbedingt. Die Menschen unterliegen ständig den Kräften der Natur, zehren davon und, wie das vor allem aus ihren früheren Werken herauszulesen ist, stellen zum Teil ihr Abbild dar. In ihrem Essay schreibt sie weiter: „Vielleicht käme man (bei der Untersuchung, MW) dahin, zu erkennen, daß eigentliche Betrachtung der Natur ein Anliegen des 19. Jahrhunderts war und daß an ihre Stelle ein Gefühl für das Magische der Naturvorgänge getreten ist: das nach ganz anderen Ausdrucksmitteln verlangt: Etwa nach Zeichen und Bildern, die anscheinend ohne Zusammenhang, mit der Wirklichkeit doch einen Eindruck vermitteln, der unserem eigenen Wirklichkeitsgefühl entspricht.“3 Dies schrieb 1955 Marie Luise Kaschnitz in ihrem Römischen Tagebuch „Engelsbrücke“, also nach der von vielen Wissenschaftlern vorgenommenen Abwandlung von Motiven wie Geschichte, Mythen und eben Natur.4

Kaschnitz sieht eher eine Entwicklung in der Form des Sehens, und das bezieht sie nicht unbedingt auf die Ernüchterung durch den Zweiten Weltkrieg, sondern auf den Einbruch einer neuen Sichtweise vieler Elemente der Kultur, die sich zu Beginn der Moderne vollzog. Die Dinge wurden nicht mehr einer direkten Beschreibung unterzogen, sondern kamen durch den Dichter selbst zur Sprache. Diesen Vorgang macht sie zum Thema eines kurzen Textes „Das rechte Hinschauen“, sie beschreibt die ihr geschenkte Blume in der Tradition des 19. Jhs. mit allen Details um die „Geheimnisse“ ihrer „Lebensgesetze“ in ihrer „Struktur“ zu erkennen und wahrzunehmen.5

Die Erfahrungen mit der Landschaft um Königsberg eröffneten für Marie Luise Kaschnitz neue Möglichkeiten für das literarische Schreiben. In Orte schrieb sie: „Ostpreußen, die kargste Gegend, und wie dort die Natur die allermächtigste Wirkung auf mich ausgeübt hat.

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Nicht im Sinne einer Schwärmerei übrigens, sondern in dem des Feststellenmüssens.“6 Aus dieser Vertrautheit mit weiten, offenen Landschaften resultiert das Gedicht Licht des Ostens (1932). Hier wird die Weite des Landes, die Wildnis der zum Teil noch von Menschen nicht berührten Natur betont: „Lange scheint es, daß ich dich verlor / Licht des Ostens, windumwehtes Land. / Lange, daß ich über Wald und Moor / Graue Kraniche im Flug erkannt.“7

Die Einsamkeit, die Dunkelheit, das Fehlen des Lichts, die Mühe der Arbeit auf dieser kargen Erde, das natürliche Fließen der Flüsse stand für Marie Luise Kaschnitz in einem Kontrast zu ihren früheren Erfahrungen in „den süßen Ländern und den dunklen Meeren“ im Süden, aus der Zeit wo sie sich länger in Rom und Athen aufhielte. Aus diesem Gegensatz entstand bei ihr das Erlebnis des Anderen, des Fremden: „Die schönen Früchte kannst du nicht mehr fassen / Der reichen Küste Gabe, Öl und Wein / Du bist derselben nicht, der so verlassen / Nun bilde ich dich und du bist schon mein. / Du glaubst dich noch ein Gast am fremden Herde / Und draußen doch im Wolkenzug und Licht / Stirbt und erneut und wandelt sich die Erde / Und wandelte auch dich und läßt dich nicht.“8

Der letzte Vers betont die entstandene Bindung zwischen Kaschnitz und diesem Land, der Landschaft um Königsberg. Die Natur wird sie noch lange Jahre begleiten und wird sich in ihrem Werk widerspiegeln. Der Einfluss dieses Aufenthalts klingt noch einmal in dem Abschiedsgedicht Abschied vom Osten an. Hier wird noch einmal die Rolle der östlichen Landschaft für ihr Werk deutlich, wie auch für ihre Lebenseinstellung, die sich noch in späten Essays vernehmen lässt. Es ist eine Literatur, die die Natur, in diesem Fall die Landschaft personifiziert. Das Land übernimmt Rolle einer wirkenden, tätigen Person, es ist das Lyrische-Ich dieses Gedichts, das einen direkten und bewusst formulierten Einfluss auf die Reisende – auf das Du ausübt. „Ich schenke dir ein Hauch der Frühe / Die Traumgebilde dunkler Zeit / Die tiefe Lust bestandener Mühe / Den hohen Mut der Einsamkeit. / Du wirst dich meiner oft entsinnen / Wo Winde über Ebenen fliehen / Wo große Ströme meerwärts rinnen / Und Segel mit den Strömen ziehen / Und Wolken formen mein Gesicht / Zieh hin, du wirst nicht wiederkehren / Vergessen aber wirst du nicht.“9

Wie vorausschauend Marie Luise Kaschnitz die prägende Rolle der Königsberger Jahre und zum anderen den weiteren Verlauf ihres Lebens einschätzte, ist aus ihrem Werk (z.B. das Märchen Der alte Garten) und ihrer Biographie zu entnehmen. Sie ist tatsächlich nie mehr nach Königsberg zurückgekehrt.

Aus den vorangestellten Textbeispielen wird deutlich, dass es sich bei Marie Luise Kaschnitz nicht um eine Form der Verherrlichung der Natur handelt, sondern dass die Beschäftigung mit ihr aus bestimmten Erlebnissen, Erfahrungen resultierte und sich in einem ständigen Wandeln und Dazulernen befand. Jahre später spricht die Schriftstellerin jedoch von dem „Verlust des engen Naturverhältnisses“ aus der Königsberger Zeit: „Während der vorangegangenen ostpreußischen Jahre (...) war ich von der Natur bis zur Besessenheit angerührt worden, diese Besessenheit hatte mich auch zu Courbet hingeführt, aber sie war vorüber. Die Politik, als Schicksal, der Mensch im Räderwerk historischer Ereignisse, der

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Mensch überhaupt – die Courbet-Biographie bildet einen Wendepunkt in meiner künstlerischen und menschlichen Entwicklung.“10 Das starke Interesse an den Menschen evozierte in ihr eine neue Auffassung der Natur, die Natur nicht als Selbstzweck der Schöpfung, sondern im Dienste des Menschen, als Garten, als Landschaft für Spaziergänge, als Arbeitsfeld. Die Mythologisierung und Utopiesierung der Natur lässt sich in ihrem späteren Werk nicht mehr nachweisen. Die Frage nach dem Verhältnis Mensch – Natur bleibt aber für sie nach wie vor aktuell. Dazu äußert sie in den 70er Jahren in einem Essay ihre Verbitterung über die Einstellung ihrer Zeitgenossen zur Natur.

Kaschnitz schreibt: „Leute, die sich für die Landschaft begeisterten, ihre Reize schilderten und das Glücksgefühl hervorhoben, das sie ihr verdankten, galten schon um die Mitte unseres Jahrhunderts als weltfremde Schwärmer, als Spitzweg-Sonderlinge, bestenfalls als Gesundheitsapostel.“11 Auch die Zuordnung aller Kulturmenschen, die sich in ihrem Werk der Natur zugewendet haben, zur Blut-und-Boden-Richtung bedeutete einen Verlust für die Entwicklung der deutschen Kultur, auch der Alltagskultur nach 1945. Es wird auch deutlich an anderen Schriftstellern, wie z.B. Hermann Hesse, der „Gartenzwerg“ genannt, lange Jahre für die deutsche Literaturgeschichte von geringem Interesse war. Aus der „Umwertung der Werte“ Ende der 60er und Anfang der 70er resultiert folgende Äußerung: „(...) daß jetzt die alte Natur den Namen Umwelt bekommen hat, zeigt, daß sie uns wieder angeht, nicht für sich da ist, sondern um uns herum, zu unserem Gedeih und Verderb.“12 Es wird damit offenbar, dass für Kaschnitz die Frage der Natur in ihrem Werk und Leben immer präsent war. Sie hat sich der Botschaft, die die Natur immer beständig verkündet, von dem Gedeihen und Verderben, oder um mit Goethe zu sprechen, von dem „Stirb und Werde“, nie abgewendet.

In dem Essay Von der Natur bezeichnet Marie Luise Kaschnitz die Natur als „Sinnbild eines seliges Lebens“13. Der Mensch leistet ihr gegenüber oft Widerstand, will sie zerstören, vernichten, um nicht in das „selige Gesicht“ zu schauen. „Fremd und feindlich erscheint dem Leidenden die Gelassenheit der Natur“. Die „wunderbare“ und zugleich „schreckliche Unberührtheit, mit der sich hart neben den Leiden und Ängsten der Menschen das Naturgeschehen vollzieht“14, kommt dem zuschauenden Menschen befremdlich und abstoßend vor, er findet in der Natur keine Linderung seiner Qualen und Leiden. Aber durch das dauerhafte Dasein der Natur und ihre unbekümmerte Existenz gibt sie andererseits einen Halt und ein Beispiel.

Die Natur bei Kaschnitz beinhaltet eine Dichotomie in sich: Sie ist „wunderbar“ und „schrecklich" zugleich, verbreitet sowohl heilende als auch zerstörerische Kräfte. Die Natur führt ihre Existenz neben der Existenz des Menschen. Der Mensch fühlt sich von ihr nicht im seinen Leiden aufgefangen, er kann von ihr keine Hilfestellung erwarten. Aus dieser grundlegenden Enttäuschung, auch in den Gesetzen der Natur keinen Trost gefunden zu haben, entstand das Gedicht unter dem schon im oben genannten Essay anklingenden Titel: Gelassene Natur (1944): „Was kümmert dich, Natur, / Des Menschen Los? / Du hegst und achtest nur / Die Frucht in deinem Schoß / Nicht stören deine Ruh / Der Lärm der Schlacht; / Nicht weinst und wachest du / Mit dem der wacht“15

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Derselbe Gedanke wird noch einmal in dem Text Von der Natur angedeutet: „Nur dem Werden gilt das menschliche Bemühen, wie einen Mantel schlägt sie das Nicht-Wissen um die zukünftige Frucht.“16 Die Natur verfügt über eigene Gesetze, führt die eigene Bestimmung aus. Der Schrecken der Ausgewogenheit, der Gelassenheit, das Fehlen des Raumes für Freude und Schmerz, das zyklische Geschehen, das Fehlen von Ausnahmen sind weitere Vorwürfe, die der Natur gemacht werden. Kaschnitz´ Gedanken bleiben jedoch sowohl in diesem Text als auch in dem Gedicht Gelassene Natur nicht einseitig: Die Autorin, bzw. das lyrische Ich preisen die Gesetzmäßigkeit der Natur, ihre starke Bindung an den Menschen. Die Erde nimmt jeden Leichnam in sich auf, „gleichviel (...) wer wen erschlagen hat.“ Das ist jene Gesetzmäßigkeit der Natur, die trostspendend wirkt. Die Kräfte des Vergessens, des schnellen Heilens der Wunden, werden in beiden Texten gewürdigt. „Aber morgen schon ist alles wie anders! Trost über Trost weht von dem jungen Baum, von den zarten Halmen der Acker, von den Wasserschleiern des Baches in das entmutigte Herz.“17 Das Geschehen in der Natur ist für den Menschen „das ergreifende Zeugnis dafür, daß das Leben weitergeht, ruhig atmend, unschuldig und stark.“18 Und er, der Mensch ist ein unzertrennlicher Teil der Natur, sie gebiert und sie vernichtet und „der Mensch ist ein Teil der Schöpfung, unterliegt ihrem Gesetz.“19 Zu ihrem Gesetz gehört, so Kaschnitz weiter in ihrem Essay, das Vernichten, das Bringen des Todes und wieder die Aufnahme in die Erde. Als Beispiel dieser vernichtenden Kraft fügt sie das Bild eines verwildernden Gartens an: „Kein Inferno der Phantasie kann die Qualen wiedergeben, denen in einem verwilderten Garten die von ihresgleichen umklammerten und erstickten Gewächse preisgegeben sind.“20 Eine ähnliche Darstellung befindet sich im Essay Das Gesicht der Heimat. Hier wird die Gewalt der wilden Natur über den von Menschen Hand angelegten Garten deutlich: „Die Fortschritte, welche die Zerstörung und der Verfall in einem unbehüteten Garten machen, treten nicht unmittelbar in Erscheinung. Erst wenn man eine ganze Weile umhergegangen ist, entdeckt man die Spuren der furchtbaren und vergeblichen Anstrengung, mit der sich die edleren Gewächse gegen die wuchernde Natur aufrecht zu halten versuchen. Denn nun hilft ihnen niemand mehr, sich aus der tödlichen Umklammerung der zähen Ranken zu befreien, niemand schützt ihre Wurzeln vor dem nagenden Zahn der Mäuse.“21 In dieser Beschreibung fällt eine Abgrenzung der wilden, wuchernden Natur von den „edlen Pflanzen“ auf, die des Gärtners Hand gepflanzt hatte. Diese Ausdifferenzierung ist für das Spätwerk seit den 50er Jahren) von größter Bedeutung.

Kaschnitz plädiert für die Bejahung der Natur, für die Bereitschaft, die „Erscheinungen des Kosmos´ hinzunehmen“. Dies schafft ihrer Meinung nach, aus den Menschen die „Kinder der Natur“, die an den „ewigen Rhythmen von Tag und Nacht, Frühling und Herbst, Ebbe und Flut“22 Teil nehmen dürfen.

In die so verstandene Welt fügt Marie Luise Kaschnitz das Phänomen der „unsterblichen Seele“ ein, „die Vernunft, die sich der Natur entzieht, in der (der Vernunft) kein Platz für das Unbewußte, Dumpfe, Ungerade, Geschwungene, Wilde“23 findet. Die unsterbliche Seele, die Vernunft, stellen für Kaschnitz das zweite dem Menschen inhärente Element dar. Sie macht deutlich, dass dies in dem Menschen genauso wie die „Erinnerung an

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den Mutterschoß der Natur“ angelegt ist. Für die Vernunft sind die Gesetze der Natur, die Gesetze vom „Werden und Vergehen“ „undeutlich“, „sklavisch“ und „stupide“. Sie verlangt nach einer „Klarheit, Helligkeit, Einsicht“.24 Kaschnitz schreibt weiter in Form eines Manifestes: „Endlich soll der Geist herrschen, der die Leiden des Menschen verringert“. Diesen Geist verortet sie in das Reich Gottes. Aus diesem Gedanken könnte man das Urbild des Gartens ableiten. Die Natur wurde durch die Idee und mathematische Ausführung eines Gartenplans gezähmt. Im Paradiesgarten herrscht Geometrie, Symmetrie, Vernunft und in seiner Mitte wächst der Baum der Erkenntnis. Die einzige Überwindung der schönen wie zugleich schrecklichen Natur sieht die Autorin in dem „noch immer gebeugten Haupt des Menschen, der weiß und doch leidet, der aufbegehrt und sich endlich doch hingibt an das Ganze des Seins“. In der Verbindung von Natur und Gott will Kaschnitz nach Erlösung für den Menschen suchen. Der Paradiesgarten verbindet diese beiden Prinzipien und stellt Einklang zwischen ihnen her. Die Natur verwandelt sich unter der Hand Gottes, des ersten Gärtners, in ein wohlgeordnetes, lichtes Gebilde. Im Frühwerk der Schriftstellerin wird die Natur in ihrem ungezähmten, wilden, übermächtigen Wesen dargestellt. Das spätere Werk verzichtet weitgehend auf die Schilderung dieser Begeisterung über die Natur, es ist eher eine vom Menschen geformte und gebildete Natur, wo nicht nur die Gesetze der Natur herrschen, sondern auch die Gesetze der Vernunft sichtbar werden. Dazu gehören Parkanlagen und Gärten.

Das Spektrum der Beschäftigung mit dem Gartenmotiv ist bei Marie Luise Kaschnitz umfangreich. Die Bedeutung des Motivs für ihr Schreiben wird auch an der folgenden Aufzählung einige Beispiele ihrer Werke sichtbar: Es tritt auf im Roman Elissa (1937), im Märchen Der alte Garten (1939), im lyrischen Werk z.B. Spiel der Wünsche (1929), Hochsommer (1935), Die Winde (1937), Heimat (1950), Hiroschima (1957), Sog der Wolken (1970), in den Erzählungen Der Gärtner (1948-1955), Gewisse Gärten (1963), Adam und Eva (1983) sowie in mehreren Essays und autobiographischen Prosafragmenten, die sie im Laufe ihres gesamten schriftstellerischen Lebens niederschrieb.

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1 Kaschnitz, Gesammelte Werke. Frankfurt am Main 1981-1982, II, S. 257.2 Vgl.: Das neue Taschenlexikon, Bertelsmann 1992, S, 45.3 Kaschnitz, GW II, S. 257.4 Vgl.: Kirchner, Doris: Doppelbödige Wirklichkeit. Magischer Realismus und nicht-faschistische Literatur. Tübingen 1993, S. 47.5 Kaschnitz, GW II, S. 256.6 Kaschnitz, GW III, S. 466.7 Kaschnitz, GW V, S. 69.8 Kaschnitz, GW V, S. 63.9 Kaschnitz, GW. V, S. 68.10 Kirchner, S. 6511 Kaschnitz, GW III, S. 826.12 Kaschnitz, GW III, S. 826.13 Kaschnitz, GW VII, S. 16. 14 Kaschnitz, GW VII, S. 15.15 Kaschnitz, GW V, S. 124.16 Kaschnitz, GW VII, S. 15.17 Kaschnitz, GW VII, S. 15.18 Kaschnitz, GW VII, S. 15.19 Kaschnitz, GW VII, S. 18.20 Kaschnitz, GW VII, S. 17.21 Kaschnitz, GW VII, S. 381. 22 Kaschnitz, GW VII, S. 19.23 Kaschnitz, GW VII, S. 19.24 Vgl.: Kaschnitz, GW VII, S. 19.