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1 Bruno Schönfelder Kommunikation, Erfolgsmedien und Funktionssystembildung gemäß Luhmann Lecture Notes, nicht abschließend redigiert, Redaktionsstand 15. 11. 2015, keine Zitation oh- ne Zustimmung des Verfassers 1. Wir nehmen einen für die Volkswirtschaftslehre eher untypischen Einstieg, nämlich über die Kommunikationstheorie. 1 Es ist ein Grundgedanke von Luhmann, dass sich eine brauchbare Gesellschaftstheorie nur gewinnen lässt, indem man Kommunikations-, Evoluti- ons- und Systemtheorie zu einem Ganzen zusammenfügt. Nun es gibt in jedem dieser drei Bereiche ein vielfältiges Theorieangebot es gibt nicht etwa „die“ Systemtheorie, sondern zahlreiche Systemtheorien, und ganz ebenso verhält es sich mit Evolution und Kommunikati- on und die Zusammenfügung dieser drei Elemente geht nicht, indem man nach Belieben etwas aus diesen großen Töpfen herausgreift, sondern man muss eine ganz bestimmte Theorie nehmen oder genauer gesagt überhaupt erst formulieren, damit man die drei in einer wissen- schaftlich akzeptablen Weise zusammenfügen kann. So unterscheidet sich die luhmannsche Kommunikationstheorie deutlich von den meisten anderen Theorieangeboten in diesem Be- reich und genau dasselbe gilt für seine System- und seine Evolutionstheorie. Die Zusammen- führung vollzieht sich so, dass es Systeme sind, die evoluieren ( - und nicht irgendetwas ande- res, wenn auch die Frage offen bleibt, ob etwas, was kein System ist, vielleicht ebenfalls zu evoluieren fähig ist). Im Fall der Gesellschaftstheorie sind es nicht irgendwelche Systeme, die evoluieren, sondern soziale Systeme. Soziale Systeme bestehen aus Kommunikationen und dadurch kann man sie von anderen Systemen unterscheiden, beispielsweise von Bewusst- seinssystemen. Solange ein Gedanke nicht ausgesprochen wird oder sonst wie anderen mitge- 1 Von allen Arten der Kommunikation, die der Luhmannsche Kommunikationsbegriff umfasst, wird in der Volkswirtschaftslehre nur das Zahlen näher auf seinen kommunikativen Gehalt hin analysiert (eingehender ist dies erst in der sog. Informationsökonomik geschehen, die sich seit den 1970er Jahren entwickelt hat.). Sonstige Kommunikationen spielen in der Volkswirtschaftslehre nur eine marginale Rolle, was nicht selten mit den Bon- mots Talk is cheap und Actions speak louder than words gerechtfertigt wird. Die Wertlehre befasst sich zwar mit dem Zahlen Wert ist revealed preference aber anders als bei Luhmann wird das Zahlen eben nicht als Kom- munikation aufgefasst, sondern als action, als Handlung, und die gilt der Wertlehre als Gegenstück zur Kommu- nikation. Verwendet man hingegen den luhmannschen Kommunikationsbegriff, dann erfasst die Wertlehre das Zahlen durchaus als Kommunikation und besteht hier kein wirklicher Gegensatz. Nun soll hier nicht behauptet werden, dass die beiden den Volkswirten ans Herz gewachsene Bonmots einfach völlig daneben gehen, sondern es geht hier nur darum, dass die Vernachlässigung so gut wie aller anderen Kommunikationen zur Folge hat, dass ein großer Teil des Soziallebens vom Bildschirm verschwindet. Mit Luhmann wäre zu vermuten, dass es dieser Teil des Soziallebens ist, ohne dessen Mitberücksichtigung langfristige Veränderungen der Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur (u. a. der Wirtschaftsordnung) unverständlich bleiben.

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Bruno Schönfelder

Kommunikation, Erfolgsmedien und Funktionssystembildung gemäß Luhmann

Lecture Notes, nicht abschließend redigiert, Redaktionsstand 15. 11. 2015, keine Zitation oh-

ne Zustimmung des Verfassers

1. Wir nehmen einen – für die Volkswirtschaftslehre eher untypischen – Einstieg, nämlich

über die Kommunikationstheorie.1 Es ist ein Grundgedanke von Luhmann, dass sich eine

brauchbare Gesellschaftstheorie nur gewinnen lässt, indem man Kommunikations-, Evoluti-

ons- und Systemtheorie zu einem Ganzen zusammenfügt. Nun es gibt in jedem dieser drei

Bereiche ein vielfältiges Theorieangebot – es gibt nicht etwa „die“ Systemtheorie, sondern

zahlreiche Systemtheorien, und ganz ebenso verhält es sich mit Evolution und Kommunikati-

on – und die Zusammenfügung dieser drei Elemente geht nicht, indem man nach Belieben

etwas aus diesen großen Töpfen herausgreift, sondern man muss eine ganz bestimmte Theorie

nehmen oder genauer gesagt überhaupt erst formulieren, damit man die drei in einer wissen-

schaftlich akzeptablen Weise zusammenfügen kann. So unterscheidet sich die luhmannsche

Kommunikationstheorie deutlich von den meisten anderen Theorieangeboten in diesem Be-

reich und genau dasselbe gilt für seine System- und seine Evolutionstheorie. Die Zusammen-

führung vollzieht sich so, dass es Systeme sind, die evoluieren ( - und nicht irgendetwas ande-

res, wenn auch die Frage offen bleibt, ob etwas, was kein System ist, vielleicht ebenfalls zu

evoluieren fähig ist). Im Fall der Gesellschaftstheorie sind es nicht irgendwelche Systeme, die

evoluieren, sondern soziale Systeme. Soziale Systeme bestehen aus Kommunikationen und

dadurch kann man sie von anderen Systemen unterscheiden, beispielsweise von Bewusst-

seinssystemen. Solange ein Gedanke nicht ausgesprochen wird oder sonst wie anderen mitge-

1 Von allen Arten der Kommunikation, die der Luhmannsche Kommunikationsbegriff umfasst, wird in der

Volkswirtschaftslehre nur das Zahlen näher auf seinen kommunikativen Gehalt hin analysiert (eingehender ist

dies erst in der sog. Informationsökonomik geschehen, die sich seit den 1970er Jahren entwickelt hat.). Sonstige

Kommunikationen spielen in der Volkswirtschaftslehre nur eine marginale Rolle, was nicht selten mit den Bon-

mots Talk is cheap und Actions speak louder than words gerechtfertigt wird. Die Wertlehre befasst sich zwar mit

dem Zahlen – Wert ist revealed preference – aber anders als bei Luhmann wird das Zahlen eben nicht als Kom-

munikation aufgefasst, sondern als action, als Handlung, und die gilt der Wertlehre als Gegenstück zur Kommu-

nikation. Verwendet man hingegen den luhmannschen Kommunikationsbegriff, dann erfasst die Wertlehre das

Zahlen durchaus als Kommunikation und besteht hier kein wirklicher Gegensatz. Nun soll hier nicht behauptet

werden, dass die beiden den Volkswirten ans Herz gewachsene Bonmots einfach völlig daneben gehen, sondern

es geht hier nur darum, dass die Vernachlässigung so gut wie aller anderen Kommunikationen zur Folge hat,

dass ein großer Teil des Soziallebens vom Bildschirm verschwindet. Mit Luhmann wäre zu vermuten, dass es

dieser Teil des Soziallebens ist, ohne dessen Mitberücksichtigung langfristige Veränderungen der Gesellschafts-

und Wirtschaftsstruktur (u. a. der Wirtschaftsordnung) unverständlich bleiben.

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teilt wird (und sei es durch „Körpersprache“), befindet er sich nur im Bewusstseinssystem und

noch nicht im Sozialsystem. Die Gesellschaft ist das umfassendste Sozialsystem, das alle an-

deren umgreift. Wenn von System die Rede ist, dann ist dies im Sinne der neueren Sys-

temtheorie gemeint. Demnach ist für Systembildung entscheidend, dass eine Grenze zur Um-

welt gebildet wird. Die Bildung und Aufrechterhaltung dieser Grenze ist die grundlegende

Leistung, die das System vollbringen muss. Wenn es die nicht mehr zu erbringen vermag,

verschwindet es. In der luhmannschen Variante der Systemtheorie ist es das System selbst,

das die Grenze erzeugt. Es grenzt sich selbst aus. Die Grenzbestimmung obliegt also nicht

einer dritten Instanz. Solange es eine dritte Instanz gibt, die die Grenzbestimmung übernimmt,

liegt kein System vor, sondern irgendetwas anderes. In Luhmannscher Terminologie: Opera-

tive Schließung ist Definitionsmerkmal des Systems. Beispiel: Das Recht ist erst dann ein

System, wenn es selbst und nach seinen Maßstäben entscheidet, welche Vorgänge einer recht-

lichen Beurteilung unterworfen werden und welche nicht. Die Wirtschaft ist dann ein System,

wenn sie selbst nach ihren eigenen Maßstäben entscheidet, wie viel für eine bestimmte Leis-

tung gezahlt wird, wenn also die Preisbildung frei und nicht Angelegenheit der Politik ist oder

man zumindest einen Handel zu einem von der Politik fixierten Preis ablehnen kann.2 Diese

Beispiele illustrieren zugleich, dass die Grenzbildung bei derartigen Funktionssystemen im

Bereich der sozialen Systeme sehr viel heikler ist als etwa bei lebenden Systemen, die sich

beispielsweise durch die Bildung einer Haut abgrenzen. Die sieht man auf den ersten Blick

und nicht minder offensichtlich ist, dass es sich dabei um das Erzeugnis des biologischen Sys-

tems, des Organismus, handeln und die Haut nicht von einer dritten Instanz geliefert wurde.

Bei Sozialsystemen mag der Grenzverlauf oft unklar sein (er ist es aber keineswegs immer:

wer mit wem in eine Liebesbeziehung verwickelt und wer nicht dazu gehört, ist meist recht

2 Ein Mindestlohn nimmt den Arbeitsmarkt noch nicht aus der Wirtschaft heraus, weil kein Arbeitgeber ver-

pflichtet ist, zu diesem Lohn einzustellen. Ein Mindestlohn hat zur Konsequenz, dass bestimmte Arbeitskräfte

arbeitslos bleiben und damit aus der Wirtschaft herausfallen. Sie werden nämlich zahlungsunfähig, sofern sie

nicht durch einen politischen Eingriff, beispielsweise eine Arbeitslosenunterstützung, mit Zahlungsmitteln aus-

gestattet werden und dadurch wieder Zugang zur Wirtschaft gewinnen. Das EEG nimmt die erneuerbaren Ener-

gien aus der Wirtschaft heraus, weil es die Netzbetreiber einem Anschluss- und Abnahmezwang unterwirft. Sie

dürfen den ihnen angebotenen EE-Strom nicht ablehnen. Eine Mietenregulierung nimmt Schlichtwohnungen nur

dann aus dem Bereich der Wirtschaft heraus, wenn zusätzlich noch eine sog. Wohnraumbewirtschaftung betrie-

ben wird, also ein Vermietungszwang existiert und man diese Wohnungen nicht einfach leer stehen lassen, ab-

reißen, „luxusmodernisieren“ oder in Eigentumswohnungen verwandeln darf. Die Folge ist dann allerdings, dass

der Mietwohnungsbau für gewöhnliche Sterbliche weitgehend eingestellt wird. Daran sieht man dann auch, dass

dieses Angebot von der Wirtschaft nicht mehr erbracht wird – und dass es eben wirklich aus der Wirtschaft her-

ausgefallen ist. Diese Beispiele illustrieren, dass bei der Wirtschaft die Selbstabgrenzung des Systems oft in

einer gut nachvollziehbaren und sehr einsichtigen Weise funktioniert – und die politische Kommunikation eben

dies auffallend häufig ignoriert. So wird über den Mindestlohn meist so gesprochen, als hätte er keine Auswir-

kungen auf die Arbeitslosigkeit – und ganz ähnlich verhält es sich mit der Diskussion über die Errichtung zusätz-

licher Schranken für Mieterhöhungen. In allen diesen Fällen verhält sich das Politiksystem destruktiv gegenüber

dem Wirtschaftssystem und dies hat zur Folge, dass letzteres schrumpft. Nach einiger Zeit schlägt dies auf das

Politiksystem zurück, indem die Steuereinnahmen schrumpfen. Dann muss auch das Politiksystem schrumpfen.

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einfach festzustellen. Im Fall von Liebesbeziehungen ist es auch unmittelbar einsichtig, dass

ihre Abgrenzung von der Umwelt eine Leistung des Interaktionssystems selbst ist). Das tut

der Systemhaftigkeit des Systems wenig Abbruch, solange eine Klärung dieser Frage erfor-

derlichenfalls mit den Mitteln des Systems nachgeliefert werden kann. Die Grenze filtert und

reduziert die Einwirkungen der Umwelt auf das System.3 Indem sie nur bestimmte Umwelt-

einflüsse durchlässt und andere abweist, erzeugt die Grenze im System Spielräume für Eigen-

determination, eine systeminterne Unbestimmtheit, einen systeminternen Freiheitsspielraum.

Diese systeminterne Unbestimmtheit kann dann für Strukturbildung im System genutzt wer-

den. Durch diese Strukturbildung kann sich das System dazu befähigen, mit den Außenein-

flüssen, die die Grenze zu passieren vermögen, wesentlich mehr anzufangen, ihnen gegenüber

wesentlich größere Sensibilität aufzubringen, als ohne diese Strukturbildung möglich gewesen

wäre. Insofern geht Schließung mit Öffnung einher. Das System weist einen Teil der Außen-

einflüsse ab, um sich den verbleibenden umso intensiver widmen zu können.

Ein an sich nicht neuer, aber wohl erst von Luhmann in den Mittelpunkt der Gesellschaftsthe-

orie gerückter Gedanke verweist darauf, dass die Kommunikationsmöglichkeiten, über die

eine Gesellschaft verfügt, einen prägenden Einfluss auf die Denkweise der Leute ausüben.

Die Veränderungen der Denkweise, die eine Veränderung der verfügbaren Kommunikations-

medien nach sich zieht, üben auch selbst wieder einen Einfluss auf die Gesellschaftsentwick-

lung aus. 4 Hier gibt es also ein Steigerungsverhältnis, eine Abweichungsverstärkung oder in

3 Wie so oft eignet sich auch hier das System einer Liebesbeziehung besonders gut als Lieferant von Anschau-

ungsmaterial. Wenn einer in eine Liebesbeziehung verwickelt ist, prallen intime Annäherungsversuche Dritter an

dieser Grenze meist wirkungslos ab. Die Grenze mag für sie unsichtbar bleiben, weil sie das zweite Mitglied der

Liebesbeziehung vielleicht niemals zu Gesicht bekommen, aber sie erweist sich für sie dennoch als undurch-

dringlich. 4 Den Historikern ist dies natürlich seit langem bekannt und man begegnet derartigen Argumenten in der Ge-

schichtsschreibung häufig. So hat man beispielsweise oft hervorgehoben, dass die heute als Renaissance bekann-

te Wiederentdeckung verschollenen antiken Gedanken- und Kulturgutes keineswegs die erste Bewegung ihrer

Art war, sondern vielmehr die dritte (nach einer ersten Renaissance im 9. und einer zweiten im 12. Jahrhundert).

In allen drei Fällen suchte man nach verschollenen Schriften aus der Antike und fand auch recht viel. Die dritte

Renaissance hat jedoch viel mehr und viel raschere Wirkung als die ersten zwei, weil viel von den wiedergefun-

denen Schriften gedruckt wurde. Die zwei vorhergehenden Renaissancen hatten wenig daran geändert, dass etwa

ein Philosophiestudium im Wesentlichen im Auswendiglernen eines und nur eines Aristoteles-Textes bestand

und analog ein Medizinstudium im Auswendiglernen des Buches, das der römische Arzt Galen geschrieben

hatte, ein Theologiestudium im Auswendiglernen einiger Texte von Augustinus und Thomas von Aquin. Nur

diese wenigen Texte standen in genügender Anzahl zur Verfügung. Ein anderes beliebtes Beispiel ist die heraus-

gehobene Rolle des Klerus in der mittelalterlichen Gesellschaft, die damit zu tun hatte, dass der Klerus zwei

entscheidende kommunikative Vorteile hatte. Der erste bestand darin, dass der Klerus einen großen Teil der des

Lebens und Schreibens kundigen Population stellte. Auf dem Land war der Pfarrer oft der einzige, der das konn-

te. Zweitens konnte der Klerus Latein und damit die einzige Sprache, in der überregionale Kommunikation über-

haupt möglich war. Die anderen Sprachen existierten nur in der Vorform von Regionaldialekten, die sich so stark

voneinander unterschieden, dass die durch sie erschlossenen Kommunikationsmöglichkeiten sehr bescheiden

waren. Nur so ist es verständlich, dass der Versuch einer Reichsbildung auf die Unterstützung des Klerus ange-

wiesen war und am Klerus scheiterte. Auch die Auswirkungen auf die Denkweise hat man hervorgehoben: Der

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Sprache der Kybernetik eine „positives Feed-back“. Die zwei wichtigsten Veränderungen, die

es hinsichtlich der Kommunikationsmöglichkeiten seit der Jungsteinzeit gegeben hat, waren

erstens die Entstehung der Schrift und zweitens die Erfindung des Buchdrucks. Beide Vor-

gänge hatten viel mehr Wirkungen als man sich gemeinhin klarmacht. Die Wirkung des

Buchdrucks bestand nicht zuletzt darin, dass die Veränderungen, die Schriftlichkeit herbei-

führte, erst durch den Buchdruck breite Bevölkerungsschichten erreichten. Bis dahin lebte die

überwiegende Mehrheit der Leute noch in einer fast ausschließlich oralen Kultur. Wir können

uns in die Denk- und Kommunikationsweise von Menschen, die in einer oralen Kultur sozia-

lisiert wurden, heute nicht mehr einfühlen, aber es gibt genügend Untersuchungen, die uns

davon eine Vorstellung verschaffen.

Eine der revolutionären Wirkung der Schriftlichkeit besteht darin, dass sie Autoritäten

erschüttert. Was schriftlich niedergelegt ist, verschwindet im Unterschied zu einer mündli-

chen Rede nicht gleich wieder. Letztere verhallt und nachher kann sich kaum mehr einer an

jedes Wort erinnern. Nach relativ kurzer Zeit ist die Erinnerung soweit verblasst, dass auch

Leute mit gutem Gedächtnis sehr unterschiedlicher Meinung darüber sein können, was eigent-

lich gesagt wurde. Wenn die Rede hingegen schriftlich niedergelegt wird, kann man die heu-

tigen Äußerungen des großen Führers mit früheren vergleichen. Findet man bei dem Ver-

gleich Kehrwendungen und Widersprüche, dürfte die Autorität des großen Führers schrump-

fen. Offenbar ist der große Führer nicht so weitblickend und weise wie sein Propagandaminis-

ter behauptet. Derartige Konsistenzprüfungen sind in großem Maßstab überhaupt nur dann

möglich, wenn vieles schriftlich niedergelegt und zugänglich ist. Bei einer mündlichen Äuße-

rung kann man immer behaupten, man habe wegen des Zeitdrucks nicht sorgfältig formuliert

und sich eben missverständlich ausgedrückt. Oder der andere hat eben nicht gut genug zuge-

hört. Schriftlichkeit erzeugt neue Standards der Formuliergenauigkeit. Nach der Erfindung der

Schrift und der Verbreitung von Kenntnissen des Lesens und Schreibens in der Oberschicht

hatte die Oberschicht über Tausende von Jahren hinweg einen gewaltigen Wissensvorsprung

gegenüber der Masse des Volkes, weil sie auf Schrift und schriftlich verfügbare Kommunika-

tionen zurückgreifen konnte, die fast allen gewöhnlichen Sterblichen unzugänglich waren.

Erst durch die Erfindung und nachfolgende Rationalisierung des Buchdrucks wurden Bücher

soweit verbilligt, dass es sich für breitere Schichten lohnte, das Lesen zu lernen. Zuvor be-

Klerus der römischen Kirche interessierte sich stark für juristische Fragen und tradierte das römische Recht. Der

der griechischen Kirche tat dies nicht und sie hatte auch wenig Grund dazu, weil seine Abhängigkeit von Kaiser

außer Frage stand und er daher nicht versucht war, sich bei der Beanspruchung von Selbständigkeit auf Recht zu

berufen. Dies ist eine Tradition, die in Russland bis heute fortwirkt und sich im Zarenreich (durch eine förmliche

„Verstaatlichung“ der russischen Orthodoxie) sogar noch stark ausgebaut wurde. Dies führte zu einer starken

Entwicklung des Rechtsdenkens im Bereich der römischen Kirche und zu einem Verfall des Rechtsdenkens im

Bereich der griechischen. Schon im Hochmittelalter gab es hier einen markanten Ost-West-Gegensatz.

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stand für die meisten nicht genügend Gelegenheit zur Ausübung dieser Kunst, so dass sie

rasch wieder vergessen wurde. Eine Konsequenz daraus war, dass die alten Eliten (Adel,

Geistlichkeit) in West- und Mitteleuropa ab dem 16. Jahrhundert relativ rasch an Autorität

verloren. Eine Gesellschaftsordnung, die primär auf Stratifikation (Hierarchie) beruht, wird

damit zu einem nicht mehr akzeptablen Anachronismus, wohingegen sie sich in einer Zeit, in

der die Eliten lesen und schreiben konnten, das Volk hingegen nicht, geradezu naturwüchsig

ergab.

Diese historische Betrachtung lädt dazu ein, über die gesellschaftlichen Veränderungen nachzudenken,

die die Entwicklung elektronischer Kommunikationsmöglichkeiten und der Computertechnik hervor-

rufen könnte. Ob sie ähnlich dramatisch ausfallen werden, wie diejenigen, die die Erfindung des

Buchdrucks bewirkte, ist alles andere als sicher und eine Sache der Spekulation. Der Hochschullehrer

kann ein Stück der mitunter behaupteten digitalen Demenz verifizieren: die nach der Erfindung des

Buchdrucks durch die Lektüre umfangreicher „philosophischer“ Texte entwickelte Fähigkeit, lange

und komplizierte Argumentationsketten aufzubauen, nachzuvollziehen und auf ihre Schlüssigkeit zu

prüfen – eine Fähigkeit, die für das wissenschaftliche Denken essentiell ist - , ist im Rückzug, seitdem

viele Gymnasiasten und Studenten nur mehr recht selten komplette (Sach-)Bücher lesen, sondern

stattdessen elektronisch nach geeignet erscheinenden Textstellen suchen, die irgendwo in den Weiten

des Internets per Suchmaschine gefunden werden und durch einen Zufall (oder mit Nachhilfe) in der

meist riesigen Zahl von Fundstellen nicht erst weit hinten auftaucht. Die sozialen Auswirkungen dieser

Entwicklung könnten sich allerdings darauf beschränken, dass der Kreis der für wissenschaftliche

Ausbildung empfänglichen Leute schrumpft, aber solange eine ausreichende Zahl übrig bleibt, die

immer noch lange Texte durcharbeiten und verfassen können, wäre das nicht so schlimm. Es ist also

nicht sicher, dass wir uns über diese digitale Demenz beunruhigen müssen, sondern es könnte es sich

dabei nur um eine Bestätigung der dem Ökonomen vertrauten Erkenntnis handelt, dass „Fortschritt“

nie ohne Verluste zu haben ist: „There is no free lunch“. Und man mag sich damit trösten, dass es

auch beim Übergang von der oralen zur literalen Kultur keineswegs nur Zuwächse gab, sondern auch

Verluste. Oft wird behauptet, eine Auswirkung des Internets bestehe darin, dass es für Autokraten

schwieriger werde, die Kommunikation zu kontrollieren. Aber das ist keineswegs sicher. Von einem

Siegeszug der Demokratie kann seit den späten 1990er Jahren weltweit gewiss nicht die Rede sein.

Das Argument übersieht wohl auch, dass sich Internetkommunikation hervorragend überwachen lässt,

viel leichter als die heimliche Weitergabe von Schriftgut. Wer ins Internet geht, geht in den Kontroll-

raum. Ferner gibt es kühne Prophezeiungen, dass nach den Edelleuten und Klerikern (die ihre Autori-

tät nach der Erfindung des Buchdrucks allmählich verloren) nunmehr die Wissenschaftler und die

wissenschaftliche ausgebildeten Experten an der Reihe seien, also Leute, die ihre Autorität auf wissen-

schaftliche Erkenntnis gründen. Die Computertechnik schafft, so meint man, für den Laien neue Mög-

lichkeiten, das (vorgebliche?) Expertenwissen zu überprüfen und die wissenschaftlichen Belege zu

finden, auf die sich dieses Wissen zu stützen behauptet und gegebenenfalls auch die gegenteilige Evi-

denz. Wenn dem wirklich so wäre und dies beispielsweise die Mediziner beträfe, wären die Konse-

quenzen ganz gewiss gravierend. Die gesetzliche Krankenversicherung würde wohl zahlungsunfähig

werden, wenn die Leute erfahren, dass sie sich nur deswegen über Wasser halten kann, weil sie ihnen

viele Möglichkeiten der Medizin vorenthält. Das Beispiel zeigt zugleich, wie spekulativ derartige

Prognosen bislang noch sind. Der Umstand, dass man sich mit Hilfe der Computertechnik leicht Zu-

gang zu einer Unzahl von Texten verschaffen kann, verschärft das auch zuvor schon bedeutsame Prob-

lem, wie man zwischen relevanten, vertrauenswürdigen, wichtigen und den vielen anderen Texten

unterscheiden kann, also wie man die Spreu im Weizen findet. Und das Expertenwissen besteht dann

noch mehr als früher gerade in dieser Fähigkeit. Um diese Fähigkeit zu erwerben, muss man viele

wissenschaftliche und auf Wissenschaftlich prätendierende Texte gründlich gelesen und durch diese

Schulung gewissermaßen eine Spürnase dafür entwickelt haben, was wichtig sein könnte und was

nicht. Und genau das ist eine Fähigkeit, die sich durch digitale Demenz zu verknappen scheint.

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1.2. Ein Grundgedanke von Luhmanns Gesellschaftstheorie ist mithin, dass sich grundlegende

Veränderungen der Gesellschaft durch bestimmte Veränderungen in der Kommunikations-

technik und der mit ihnen einhergehenden Verlagerung und Neugestaltung von Kommunika-

tionsproblemen erklären lassen. Der Begriff Kommunikation wird hierbei weiter gefasst als

dies der „Volksmund“ für gewöhnlich tut. Eingeschlossen sind die schriftliche Kommunikati-

on (das Schreiben und Lesen von Texten) und das Zahlen. „Wir halten fest, dass die Gesell-

schaft ein auf der Basis von Kommunikation operativ geschlossenes Sozialsystem ist und dass

deshalb ihre Evolution den Problemen der Autopoiesis von Kommunikation folgt, die ihrer-

seits durch die Evolution selbst laufend verändert werden.“5 Diese Aussage ist einsichtig: Oh-

ne Sprache ist Kommunikation offenkundig nur sehr eingeschränkt möglich, und die Sprache

ist selbst ein Produkt der Kommunikation – sie ist von niemandem erfunden worden und ver-

mutlich auch nicht vom Himmel gefallen. Bei dieser Autopoiesis der Kommunikation handelt

es sich um ein Phänomen, das zunächst am Beispiel des Verstandes oder Bewussteins ent-

deckt wurde – der wichtigste Meilenstein in der Philosophiegeschichte ist hier Kants Kritik

der Reinen Vernunft, aber gemäß Luhmann war diese Einsicht bereits im Thomismus ange-

legt - und bis zum heutigen Tag meist so diskutiert wird, als wäre es ein Spezifikum des Be-

wussteins. Jede Vorstellung, die in einem menschlichen Bewusstsein auftaucht, steht offenbar

vor dem Hintergrund früher vorhandener Vorstellungen und könnte sich ohne einen solchen

Hintergrund gar nicht formieren. Sonst wäre auch kein Lernen möglich, bei dem es doch im-

mer darum geht, dass man erfährt, dass sich etwas anders verhält als man es sich bislang vor-

gestellt hat. Die neue Vorstellung gewinnt also ihre Konturen nur durch den Bezug auf frühe-

re, und sei es in der Negation. Analog verhält es sich – und das ist bei Luhmann ein zentraler

Gedanke, mit dem er quer zur Tradition steht – mit Kommunikation.

1.3. Angesichts dieser Beschreibung des Autopoiesiskonzepts mag sich mancher Leser fragen,

wie ein autopoietisches System jemals anfangen kann. Muss es nicht gewissermaßen von

ewig her sein, wenn es immer nur unter Verwendung eigener Produkte eigene Produkte er-

zeugen kann? Die Antwort darauf ist, dass ein autopoietisches System anfangen kann, wenn

ausreichend „Stoff“ vorliegt, der sich dazu eignet, rückwirkend in „hauseigene“ Produktion

umgedeutet zu werden, obwohl er tatsächlich einem anderen Zweck diente und von einem

anderen System produziert wurde. Das neue autopoietische System erfindet sich dann sozusa-

gen eine eigene Geschichte – vorausgesetzt, es findet genügend vor, was sich dafür eignet, um

5 Die Gesellschaft der Gesellschaft (weiterhin die Gesellschaft) S. 205

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diese Geschichte erzählen und sie plausibel machen zu können.6 Solange das nicht geht, kann

es nicht anfangen. Das Funktionssystem Recht fing an, indem es Normen in Recht umdeutete

(wegen der Unterscheidungen Normen/Recht siehe weiter unten), die bei Streitentscheidun-

gen eine Rolle gespielt hatten. Wenn solche Streitentscheidungen in ausreichender Menge

stattfinden und sie einen Bezug auf Normen aufwiesen, konnte man diese Normen nachträg-

lich in Recht umdeuten.

1.4. Ein grundlegendes Kommunikationsproblem besteht darin, dass Schriftlichkeit zwar ei-

nerseits die Reichweite von Kommunikationsversuchen dramatisch erhöht – wenn ich schrei-

be, kann ich im Prinzip viel mehr Leute erreichen, als wenn ich nur rede, Schriftlichkeit er-

möglicht mithin den Aufbau einer Vielzahl interaktionsferner, nicht an Interaktion gebunde-

ner Sozialbeziehungen – aber zugleich wird die Wahrscheinlichkeit, dass mein Kommuni-

kationsversuch angenommen wird, sehr viel geringer. Wenn ich rede, können mich zwar nur

die Anwesenden hören, aber die Rede eines Anwesenden, mit dem er sich in Interaktion be-

findet, einfach völlig zu ignorieren, wäre eine Unhöflichkeit, die sich Pennäler gegenüber

ihren Lehrern leisten, aber Erwachsene eher selten. Aber nicht nur das Ignorieren ist unhöf-

lich, sondern auch heftiger Widerspruch. In der Interaktion übergeht man so manches mit

Schweigen, was in anonymer schriftlicher Kommunikation nicht hingenommen würde. Selbst

in der Wissenschaft, die doch geradezu vom Meinungsstreit lebt, kommt es auf Konferenzen

und Vortragsveranstaltungen nur relativ selten vor, dass der Redner auf heftigen Widerspruch

stößt, wohingegen dies in der schriftlichen Kommunikation, in Zeitschriften und Büchern,

fortwährend passiert. In der persönlichen Interaktion hält man sich eher zurück, und zwar

selbst dann, wenn man den Vortrag des Kollegen für völligen Schwachsinn hält. Hätte der

6 Ein Beispiel von Luhmann mag dies illustrieren: Wenn sich in einer Gesellschaft Stratifizierung durchsetzt und

ein Adel konsolidiert, entstehen auch Genealogien und Ahnenreihen der führenden Adelsfamilien, die bis zu den

Göttern zurückreichen können (oder zu Halbgöttern!). Die Plausibilisierung erfolgt über mündlich tradierte Be-

richte über Groß- und Heldentaten, die über mutmaßliche Ahnen im Umlauf sind und die diesen Genealogien

Glaubwürdigkeit verschaffen. So konnte man glauben, dass es sich tatsächlich kraft Abstammung um eine be-

sonders edle Sorte Mensch handelt, die zu einer herausgehobenen Stellung berufen ist. Erst spät wurden diese

Berichte aufgezeichnet und dann oft als Werke eines Autors ausgegeben, der möglicherweise nie gelebt oder

nicht geschrieben hat. Nachtrag: Der Trick einer nachträglich erfundenen Genealogie ist auch in der Moderne

noch viel zur Anwendung gekommen. So beschäftigten die Kommunisten nach ihrer Machtergreifung Scharen

von „Historikern“, die die Geschichte in ein Epos der Leiden und Heldentaten der Arbeiterbewegung (und ihrer

Vorläufer) und der Niedertracht der herrschenden Klasse(n) umschrieben. Material dafür ließ sich finden – in der

Geschichte findet sich fast immer Material – und alles Weitere ist eine Frage der Proportionierung und selektiver

Auslassungen und Heraushebungen. Die modernen Wiederanwendungen des Tricks haben aber bei weitem nicht

so gut funktioniert wie die frühen Anwendungen in Antike und Mittelalter. Dies illustriert, dass notwendige

Voraussetzungen für Autopoiesis nicht einfach nach Wunsch herbeigeschafft werden können. Kaum ein DDR-

Bürger nahm es Honecker oder Mielke ab, dass er ein Held sei. Während die Leute in den frühen Hochkulturen

sich oft noch durch die Schrift als solche beeindrucken ließen, war es der DDR-Bürger gewohnt, Geschriebenes

zu lesen, und wusste daher mit Wilhelm Busch: „Und klingt die Mär auch wunderbar: Nicht alles, was geschrie-

ben ist, ist wahr.“

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Kollege stattdessen nur geschrieben, würde das Geschriebene vermutlich gar nicht erst gele-

sen. Dass es völlig normal geworden ist, Geschriebenes gar nicht erst zu lesen, liegt an der

massenhaften Vermehrung des Schriftgutes, also an der Erfindung des Buchdrucks und seiner

nachfolgenden Kommerzialisierung. Letzteres ist eine wichtige Einschränkung, wurde doch

der Buchdruck sowohl in Europa (im 15. Jahrhundert) als auch in China (nicht sehr viel spä-

ter) erfunden, aber in China war diese Erfindung wenig folgenreich (und wurde bis ins 19.

Jahrhundert nicht viel gedruckt), wohingegen in Europa beispielsweise die Reformation ohne

vorherige Erfindung des Buchdrucks so nicht zu denken ist (Luther war ein Bestsellerautor).

Der Unterschied lag darin, dass in China der Staat den Buchdruck an sich zog und private

verlegerische Tätigkeit unterband. Infolgedessen wurde nur das gedruckt, was dem Herrscher

und seiner Beamtenschaft für diese Verwendung geeignet erschien und das waren vorwiegend

Verhaltensanweisungen an die des Lesens kundigen Untertanen. In Europa übernahm ein be-

reits ziemlich stark entwickelter Markt umgehend die neue Technik. Zahlreiche unternehme-

risch tätige Verleger wetteiferten mit ihren Druckerzeugnissen um die Gunst des Kunden und

Lesers und damit ums Geschäft. Das führte dazu, dass das Angebot an Büchern rasch zunahm

und schon im 16. Jahrhundert viele Privatbibliotheken entstanden.

Dieser chinesisch-europäische Vergleich lädt zu seiner Verlängerung in die neuere

Geschichte ein, war es doch ein Merkmal der kommunistischen Herrschaft, dass sie vor allem

auf ihrem Höhepunkt fast alle Druck- und Vervielfältigungsmöglichkeiten ihres Landes unter

Kontrolle nahm und in aller Regel verstaatlichte, die Grenzen strikt kontrollierte und Aus-

landsreisen und –kontakte der eigenen Bevölkerung fast vollständig unterband. Infolgedessen

konnte das Regime fast das komplette in Zirkulation befindliche Schriftgut kontrollieren und

dafür sorgen, dass nur ihr Genehmes verfügbar war. Auf diese Weise erreichte sie eine Kon-

trolle der schriftlichen Kommunikation, wie sie in Europa seit der Erfindung des Buchdrucks

nicht mehr gelungen war. Die kommunistische Herrschaft wurde schwächer, sobald es ihr

nicht mehr gelang, die Kommunikation mit dem Ausland nahezu vollständig zu unterdrücken.

Deswegen blieb sie in den Randzonen (SBZ/DDR) stets relativ fragil, wohingegen es in Russ-

land erst ab den 1970er Jahren (infolge des Wohnungsbauprogramms, durch das die Bevölke-

rung allmählich aus den Massenquartieren herauskam, und durch die allmählich zunehmende

Verbreitung von Radioapparaten, die Kurzwelle empfangen konnten) dazu kam, dass eine

nennenswerte Zahl von Leuten Westsender hörten.

1.5. Im West-, Mittel- und Südeuropa gab es mithin schon im 16. Jahrhundert soviel an Ge-

schriebenem und Gedrucktem, dass im Druck selbst keine Garantie mehr für die Wahrneh-

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mung durch Leser oder gar einen weitergehenden Kommunikationserfolg lag, nämlich einer

Annahme der Kommunikation durch ihren „Empfänger“. Generell gilt, dass Schriftlichkeit

die Wahrscheinlichkeit einer Annahme (eines Ja) herabsetzt. Es fehlen die in der Interaktion

gegebenen Möglichkeiten, bei ersichtlichen Zweifeln des Gesprächspartners „nachzulegen“,

zusätzliche Überzeugungsmittel einzusetzen. Es fehlt auch die unmittelbare Authentizität und

Multimedialität der Interaktion, die es erlaubt, den Gesprächspartner zu sehen, zu hören, zu

riechen und eventuell sogar mehr oder minder zart zu betasten. In der Interaktion hat man also

eine Vielzahl von Sinneswahrnehmungen zur Verfügung, die man zur Überprüfung einsetzen

kann. Schriftlichkeit erzeugt viele Möglichkeiten der Überprüfung und eröffnet zugleich an-

dere, die mit der Methode des Textvergleichs arbeiten. Dies führt dann aber zugleich zu einer

vermehrten Informationserzeugung „Mehr Information bedeutet normalerweise weniger Ak-

zeptanz.“7. Wie groß die Annahmechancen einer Kommunikation sind, hat deswegen große

Bedeutung, weil eine Kommunikation, die keine Annahmechancen haben, meist unterbleibt.

Beispiel: Wenn eine oder einer so gut wie sicher ist, dass ihre oder seine Liebe nicht erwidert

wird, so verzichtet sie oder er auf eine Liebeserklärung und versucht statt dessen, mit dem

Problem irgendwie anders zurecht zu kommen. Selbst wenn eine solche aussichtslose Kom-

munikation unternommen wird, wird sei meist nicht zum Ausgangspunkt einer folgenreichen

Systembildung. Es kommt vermutlich zu einem Konflikt, und der endet heutzutage meist mit

dem Abbruch der Interaktion. Um folgenreich zu sein und zum Ausgangspunkt weitreichen-

der Systembildung werden zu können, kommt es mithin darauf an, ob Kommunikationen mit

Mitteln unterlegt werden können, die die Wahrscheinlichkeit einer Annahme steigern. Des-

wegen gewannen bestimmte, bereits vor der Erfindung des Buchdrucks vorhandene Evoluti-

onsergebnisse, die Luhmann Erfolgsmedien nennt, seither eine zuvor ungeahnte Bedeutung

und Entwicklung. Das Erfolgsmedium heißt so, weil seine Benutzung die Erfolgswahrschein-

lichkeit eines Kommunikationsversuches erheblich steigert und es relativ unwahrscheinlich

macht, dass der Versuch abgelehnt oder ignoriert wird.

2. Erfolgsmedien

2.1. Das Paradebeispiel eines Erfolgsmediums (andere Bezeichnung: symbolisch generalisier-

tes Kommunikationsmedium) ist das Geld. Wer Geld besitzt, kann mit der Annahme von

Kommunikationen rechnen, die sonst mit großer Wahrscheinlichkeit abgelehnt würde. Wenn

einer mir sagte, dass er gern mein Auto hätte, so würde ich ihn normalerweise zurückweisen.

Seine Annahmechancen wären so gering, dass die Mitteilung höchstwahrscheinlich unterblie-

7 Die Gesellschaft S. 316.

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10

be. Wenn er mir hingegen Geld bietet und die Summe stimmt, wird die Annahme plötzlich

sehr wahrscheinlich. „Die Sprache selbst kann … allein aus sich heraus nur einen geringen

Teil des linguistisch Möglichen realisieren. Alles andere würde einem Entmutigungseffekt

zum Opfer fallen, gäbe es nicht Zusatzeinrichtungen anderer Art. Symbolisch generalisierte

Medien transformieren auf wunderbare Weise Nein-Wahrscheinlichkeiten in Ja-

Wahrscheinlichkeiten – zum Beispiel: indem sie es ermöglichen, für Güter oder Dienstleis-

tungen, die man erhalten möchte, Bezahlung anzubieten. Sie sind symbolisch insofern, als sie

Kommunikation benutzen, um das an sich unwahrscheinliche Passen herzustellen. Sie sind

zugleich aber auch diabolisch insofern, als sie, indem sie das erreichen, neue Differenzen er-

zeugen. … Wer zahlen kann, bekommt, was er begehrt; wer nicht zahlen kann, bekommt es

nicht.“8

Außer Eigentum/Geld haben sich gemäß Luhmann noch fünf weitere Erfolgsmedien

herausgebildet. Dies sind Wahrheit, Liebe, Kunst, Macht/Recht sowie in einem gewissen Sin-

ne Werte. Der Gebrauch dieser Erfolgsmedien verschafft den Menschen der modernen Ge-

sellschaft typischerweise Erfolgsaussichten bei der Durchsetzung von Anliegen, die als Zu-

mutungen abgelehnt würden, wenn sie nicht in diesem Verbund daherkämen.

In der primär stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft wurden solche Kommunika-

tionserfolge vor allem durch Rollenkumulationen ermöglicht. Der Edelmann und Hausherr

war reich, hatte viele Freunde bzw. Bekannte, die seine Freunde sein wollten, er verfügte über

wirksame Waffen und gut trainierte Bewaffnete, war militärisch erfahren und übte Gerichts-

gewalt über seine „Schutzbefohlenen“ aus. Er konnte mit Ressourcen oder Verbindungen

aushelfen oder dies auch ablehnen. Deswegen empfahl es sich für die gewöhnlichen Sterbli-

chen und seine „Schutzbefohlenen“ nicht, seine Kommunikationen zu ignorieren oder gar

zurückzuweisen. Man musste ihnen zu Aufmerksamkeit und Annahme raten. Wer über keine

derartige Ressourcen verfügte, wurde weit weniger beachtet.9 Davon kann man sich auch heu-

te noch überzeugen, indem man nach historischen Quellen sucht, die uns über das Leben der

gewöhnlichen Volkes berichten. Da findet sich nämlich fast nichts. In England, aber auch in

einigen anderen Regionen Westeuropas kam es schon im Spätmittelalter bzw. in der frühen

Neuzeit sukzessive zur Abkoppelung eines Teils dieser Rollen, zu einem Abbau der Rollen-

kumulation in den Händen des Adels. Mit dem Abbau der Rollenkumulation ging ein Autori-

tätsschwund einher – die Autorität zur Durchsetzung ungewöhnlicher Anliegen wurde ausge-

8 Die Gesellschaft S. 320. 9 Der Leser mag sich wundern, ob es nicht damals und heute genau dieselben Attribute waren, die man zum

Erfolg braucht. Der Unterschied ist, dass es in der stratifizierten Gesellschaft auf die Kumulation ankam. Auch

ein reicher Jude befand sich im europäischen Mittelalter in einer wenig beneidenswerten Lage. Sein Reichtum

verschaffe ihm weder Sicherheit noch Macht.

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höhlt. An die Stelle der Rollenkumulation traten die Erfolgsmedien, die in dieser veränderten

Situation nicht zuletzt auch den Aufbau interaktionsferner Sozialbeziehungen zu befördern

vermochten. Man beachte, dass es sich um einen Prozess wechselseitiger Ermöglichung han-

delt und keine einseitige Kausalbeziehung vorliegt: Ein Abbau von Rollenkumulationen wird

möglich, weil Erfolgsmedien sich weiterentwickelt haben, und der Abbau der Rollekumulati-

on wiederum erzeugt einen Bedarf nach einer Weiterentwicklung von Erfolgsmedien, schafft

zugleich aber auch Möglichkeiten für diese Weiterentwicklung, indem sie Blockaden besei-

tigt, die die Rollenkumulation erzeugt hatte. Beispielsweise wird das Erfolgsmedium Geld

gestärkt, wenn der wirtschaftliche Austausch zwischen den Angehörigen verschiedener Häu-

sern auf breitere Grundlagen gestellt und nicht mehr ausschließlich oder weit überwiegend

über die Spitze des jeweiligen Hauses kanalisiert wird. Derartige Beziehungen wechselseitiger

Ermöglichung sind für soziale Evolution typisch.

2.2. Der Ökonom hat eine besonders enge Beziehung zum Erfolgsmedium Eigentum/Geld.

Der Ausgangspunkt für seine Entstehung liegt bei einem Problem, das in der Theorie der Ei-

gentumsrechte breit erörtert wurde, nämlich beim Zugriff eines Individuums auf eine Res-

source, an der auch andere Interesse haben könnten. Warum sollten diese anderen stillhalten

und dem Individuum die Nutzung dieser Ressource überlassen? Höchstwahrscheinlich sind

die anderen Interessenten in der Mehrheit und damit in der Übermacht. Das Problem wird

gelöst durch Eigentum. Der Eigentümer kommuniziert den anderen Interessenten seine Eigen-

tümerposition und wenn (!) das Institut des Eigentums akzeptiert ist, nehmen sie diese Kom-

munikation an und halten still.10 Bekanntlich steigt der Nutzen, den einer aus seinem Eigen-

tum ziehen kann, durch die Entwicklung des Geldwesens erheblich an, ist er doch dann nicht

mehr auf Naturaltausch angewiesen und seinen Umständlichkeiten und Schwierigkeiten aus-

gesetzt. Trotz dieser schier offenkundigen Vorteile musste sich das Geld historisch gegen

starke soziale Widerstände durchsetzen, die bis ins 20. Jahrhundert währten. Luther wetterte

gegen das Geld, ebenso tat dies Marx. Zum Erfolgsmedium, das einer mit ihm unterlegten

Kommunikation mit beträchtlicher Wahrscheinlichkeit zum Erfolg verhilft, wurde das Geld

nicht auf Anhieb bei seinem ersten Auftritt in der Geschichte, sondern erst, nachdem sich eine

ausreichende Zahl von Verwendungsmöglichkeiten für Geld etabliert hatten. Die Kommunis-

ten haben dies rückgängig zu machen versucht, indem sie viele Verwendungsmöglichkeiten

10 In der marxistischen Tradition hat man dies gern so ausgedrückt, dass Eigentum keine Beziehung zwischen

einem Individuum und einer Sache sei, sondern ein „gesellschaftliches Verhältnis“, und diese Einsicht als spezi-

fisch marxistisch ausgegeben (und zum Ausgangspunkt einer Kritik des „bürgerlichen“ Sachenrechts auszubauen

versucht). Dieser Originalitätsanspruch ist unberechtigt.

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wieder wegnahmen oder an schwer zu erfüllende zusätzliche Bedingungen knüpften. Dement-

sprechend hat das „eigene“ Geld (im Unterschied zum „Westgeld“) in vielen kommunisti-

schen Volkswirtschaften den Charakter des Erfolgsmediums zum Teil eingebüßt. Anders als

in der Geschichte, in der sich erst im Laufe einer langen Entwicklung die erforderliche Zahl

von Verwendungsmöglichkeiten etablierten, um das Geld auf den Thron eines Erfolgsmedi-

ums zu heben, stellte sich dieser Zustand nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft in

allen einigermaßen entwickelten postkommunistischen Ländern rasch wieder ein. Dies illus-

triert, dass die Kommunisten die Evolution nur teilweise rückgängig machen konnten.

2.3. In einer jeden auch nur einigermaßen entwickelten Marktwirtschaft springt die Eleganz

und schier unglaubliche Zuverlässigkeit ins Auge, mit der das Geld die Rolle eines Erfolgs-

mediums zu bekleiden vermag. Es regeneriert sich mühelos und im Handumdrehen: Einge-

nommenes Geld kann sofort wieder ausgegeben werden, d. h. ein zweiter Kommunikationser-

folg kann unverzüglich an den ersten anschließen. Wie mühselig und problembehaftet ist

demgegenüber der Weg der Erfolgsmedien Liebe oder Kunst. Beide kranken an einer prekä-

ren und unsicheren Systembildungsfähigkeit: Ob eine Liebeserklärung zum Auftakt für die

vom Erklärenden erhofften Sozialsystembildung wird, ist ziemlich unsicher, und selbst wenn

es zu gelingen scheint, hat das System eine eher geringe Lebenserwartung. Und „art apprecia-

tion“ ist recht oft nur als Resultat eines mühseligen und in der Mehrzahl der Fälle wenig er-

folgreichen Prozesses sogenannter Kunst- und Musikerziehung zu haben. Die Schwierigkei-

ten sind so groß, dass man sich fragen mag, ob die Bezeichnung Erfolgsmedium im Fall von

Liebe oder Kunst überhaupt passt. Dass sie berechtigt ist, kann man im Fall der Liebe daran

erkennen, dass sich die meisten von uns trotz der hohen Risiken von Liebeserklärungen

mehrmals in ihrem Leben mit ihnen versuchen und erst in relativ fortgeschrittenem Alter

davon endgültig ablassen. Offenbar sehen sie die reelle Möglichkeit eines Erfolges, der mit

anderen Mitteln unerreichbar bleibt – und der im Bereich der Systembildung liegt, und es das

Risiko Wert erscheinen lässt, selbst wenn das System kurzlebig ist und die Liebesbeziehung

rasch wieder zu Ende geht.

2.4. Noch schlechter steht es um das Systembildungspotential des Erfolgsmediums Werte.

Dass sie dennoch ein Erfolgsmedium sind, erkennt man an ihrer vielfältigen Verwendung in

Politik und Massenmedien und zwar insbesondere in denen, die sich an ein breites Publikum

wenden und keine gehobenen intellektuellen Ansprüche stellen, nämlich das Fernsehen und

die Boulevardpresse. Das Fernsehen kann heute geradezu als die zentrale moralische Anstalt

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der Nation gelten. Was die Verwendung von Werten in der Politik anbetrifft, so kann man

zwischen den Politikern der Mitte einerseits, die (außer im Wahlkampf) eher sachorientiert

argumentieren und den Radikalen andererseits unterscheiden. Je radikaler eine politische

Gruppe, umso stärker ist die Orientierung auf Werte und Moral. Politiker und populäre Mas-

semedien haben das Problem, dass sie ein eher desinteressiertes und in der Sachproblematik

unkundiges Publikum erreichen müssen und dabei hilft der Bezug auf Werte. Das geringe

Systembildungspotential des Erfolgsmedium Wert liegt daran, dass Werte aus der Sicht von

Handlungssituationen stets in der Form des Wertkonflikts gegeben sind und sowohl ein Su-

perwert (eine Zentralcodierung) als auch eine Wertehierarchie (eine transitive, reflexive und

vollständige Ordnung der Werte) fehlt, die es ermöglichen könnten, den Konflikt zu entschei-

den. Deswegen haben Werte keine Bindungswirkung. Sie verpflichten zu nichts. „Werte sind

... nichts anderes als eine hochmobile Gesichtspunktmenge. Sie gleichen ... Ballons, deren

Hüllen man aufbewahrt, um sie bei Gelegenheit aufzublasen, besonders bei Festlichkeiten. ...

Sie explizieren ... keine Anwendungsbedingungen ... sie stehen unter Abwägungsvorbehalt, so

dass erst im Einzelfall bestimmt werden kann, was zu ihrer Realisierung geschehen kann ...

Anders als Wahrheiten werden Werte im Kommunikationsprozess nicht durch Behauptungen

eingeführt, die dann bestritten und geprüft werden könnten, sondern durch Unterstellungen ...

Werte werden ... durch Anspielung aktualisiert und eben darin besteht ihre Unbezweifelbar-

keit. Wenn das nicht mehr funktioniert, müssen sie aufgegeben werden.“11 Beispiele für die-

sen Vorgang lassen sich leicht finden. Man denke an die früher sehr relevanten Werte der

Keuschheit und Demut. Mit denen funktioniert es heute nicht mehr und dementsprechend sind

sie aus der Kommunikation so gut wie verschwunden. Sogar der Pfarrer hütet sich davor, sie

in den Mund zu nehmen. Das war in meiner Jugendzeit noch anders. Da sprach man noch

recht unbefangen von christlicher Demut.12

2.5. Ganz anders verhält es sich mit dem Erfolgsmedium Macht. Macht kommt ins Spiel,

wenn „das Handeln Alters in einer Entscheidung über das Handeln Egos besteht, deren Befol-

gung verlangt wird: in einem Befehl, einer Weisung, eventuell in einer Suggestion, die durch

mögliche Sanktionen gedeckt ist.“13 Macht beruht auf der Fähigkeit des Alter, Sanktionen zu

11 Die Gesellschaft S. 342-3. 12 Auch in dieser Beziehung mag ein Ost-West-Gegensatz auffallen. In der Orthodoxie gilt traditionell superbia

(Hochmut) als einer der schwersten Sünden und ist die Demut damit eine der wichtigsten Tugenden. Dies ist in

der römischen Kirche wohl nie in diesem Maße der Fall gewesen. Schon Goethe konnte daher ganz unbefangen

sagen: „Nur ein Lump ist bescheiden.“ Demut verträgt sich allemal nicht sonderlich gut mit der Höchstwert-

schätzung des Individuums, die für den westlichen Individualismus typisch ist und wohl zu den wichtigsten

ideologischen Voraussetzungen der Marktwirtschaft gehört. 13 Die Gesellschaft S. 355.

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verhängen, die für Ego unangenehmer sind als das Befolgen der Weisung. Bei diesen Sankti-

onen kann es sich um den Entzug von Vorteilen handeln. Wenn das nicht reicht, bleibt der

Einsatz physischer Gewalt, was aber nur dann gut funktioniert, wenn Alter erkennbar überle-

gene physische Gewalt besitzt. Gemäß dieser Definition von Macht kann ein Arbeitgeber

durchaus Macht besitzen, aber in aller Regel nicht sehr viel, weil die maximale Sanktion die

Entlassung ist, also der Entzug der speziellen Vorteile, die für den Arbeitnehmer mit diesem

speziellen Arbeitsplatz verbunden sind. Wenn es sich um eine ganz gewöhnliche Arbeit han-

delt und nicht mehr als ein gewöhnlicher Lohn gezahlt wird, so dass der Arbeitnehmer nach

seiner Entlassung recht schnell eine ebenso gute Arbeit finden kann, ist die Macht der Arbeit-

gebers sehr gering. Der Arbeitsmarkt erzeugt in einer Wirtschaft mit vielen Privatunterneh-

mern, die untereinander um (leistungsstarke) Arbeitskräfte konkurrieren entgegen einer gän-

gigen Wahrnehmung also in der Regel kein sonderlich ausgeprägtes Machtverhältnis (so dass

es auch nicht eines Aufbaus von „Gegenmacht“ gegen die „Macht“ der Arbeitgeber bedarf).

Analogien zwischen Markt und Macht sind irreführend.

Machtkommunikation gilt wegen ihrer Konfliktnähe als gefährlich, weshalb Sozia-

lutopien davon träumen, ohne Macht auszukommen. „Das hieße jedoch auf wichtige Ord-

nungsmöglichkeiten zu verzichten, nämlich auf all das, was über konditionierte Willkür an

langen Handlungsketten organisiert werden kann.“ Freiwilliger Tausch kann nicht bestimmen,

„was der Empfänger mit dem Empfangenen tut“14, Macht kann dies hingegen. Zwar mag der

Geber sich vor einem Tausch eine bestimmte Verwendung zusagen lassen, aber um die Erfül-

lung dieser Zusage auch nach der Übergabe noch erzwingen zu können, braucht er den Rück-

griff auf Machtmittel. Sozialordnungen, die auf diese Ordnungsmöglichkeit verzichten, blei-

ben in einem niedrigen Entwicklungsstadium stecken, sofern sie nicht ganz zerfallen.

Nach diesem Lobpreis der Macht dürfen wir nicht versäumen, auf die Grenzen dieses

Erfolgsmediums aufmerksam zu machen. „Das Kommunikationsmedium Macht hat nicht die

gleiche technische Präzision und … Integrationskraft wie das Geld.“15 Ein Problem mit dem

Einsatz von Machtmitteln ist, dass der Machtinhaber durch ihn nicht das bekommt, was er

eigentlich will. Betrachten wir das Beispiel eines Arbeitnehmers, dem sein Job bedeutende

Vorteile verschafft, die er mit der Entlassung verlieren würde. Wenn der Arbeitgeber sein

Machtmittel gebraucht und ihn entlässt, bekommt er ganz bestimmt nicht das, was er eigent-

lich will, nämlich die Leistung des Arbeitnehmers.16 Deswegen vermag Macht nur dann viel,

14 Die Gesellschaft S. 357. 15 Soziale Systeme S. 626. 16 Ein historisches Beispiel illustriert die geringe Eignung des Machtmediums als Motivationsmittel für Arbeits-

leistung auf sehr drastische Weise: Die Kommunisten reduzierten die Wirksamkeit des Geldes als Erfolgsmedi-

um auf dem Arbeitsmarkt drastisch, indem sie die Konsumgüterversorgung ausdünnten und damit Verwendung

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wenn sie so gut sichtbar gemacht werden kann, dass es ihres tatsächlichen Einsatzes nur mehr

selten bedarf. Ein Beispiel von Luhmann: Ein Polizeichef, der Unruhen befürchtet, ist gut

beraten, rechtzeitig vor dem möglichen Ausbruch der Unruhen überlegene Polizeikräfte sicht-

bar an allen bedrohten Punkten in Stellung zu bringen. Dann werden sich die Unruhestifter

vermutlich still verziehen und wird der tatsächliche Machteinsatz gar nicht erst erforderlich

werden. Wenn er erforderlich wird, dann ist das eigentliche Ziel, nämlich die Wahrung der

öffentlichen Ordnung bereits verfehlt worden. Dieses Beispiel illustriert zugleich auch die

wohl wichtigste Grenze der Anwendbarkeit von Macht. Diese liegt in der hohen Informati-

onsabhängigkeit von Macht. Macht kann nur dann wirksam zum Einsatz gebracht werden,

wenn der Machthaber vor der Erteilung eines Befehls genau weiß, was er will, und nachher

zweifelsfrei feststellen kann, ob das Gewünschte geschehen ist. Außerdem sollte er möglichen

Ungehorsam so gut voraussehen, dass er den Machtunterworfenen durch Sichtbarmachung

überlegener Macht von der Zwecklosigkeit ungehorsamer Handlungen überzeugt. Sofern die

erforderlichen Informationen nicht verlässlich sind und nicht in ausreichendem Tempo be-

schafft werden können, helfen selbst die fürchtlichsten Machtmittel und Strafen dem Macht-

haber nur sehr begrenzt weiter. Derartige Grenzen der Anwendbarkeit von Macht werden

zwar auch in westlichen Ländern von der Politik nur zu oft ignoriert – man erlässt viele Vor-

schriften, die sich mit den dafür zur Verfügung stehenden Mitteln nicht durchsetzen lassen - ,

aber die kommunistischen Länder gingen darin noch viel weiter. Sie nahmen sich vor, die

Wirtschaft in erster Linie mit dem Erfolgsmedium Macht zu ordnen, wohingegen das Geld

nur hilfs- und ergänzungsweise zum Einsatz kommen sollte. Darin lag eine extreme Überdeh-

nung des Machtgebrauchs. Dies erwies sich nach der kommunistischen Machtergreifung rasch

als ein Problem, für das sich keine gute Lösung finden ließ.

2.6. Das allgemeine Dilemma jeglicher Sozialplanung, ob es nun der Staat ist, der plant, oder

die Leitung eines Unternehmens oder irgendeiner anderen Organisation, tritt hier in extremer

von Geld für den Kauf von Konsumgütern erschwerten, und hatten dann ein notorisches Problem mit der Ar-

beitsdisziplin, das sich in Zeiten einer sehr schlechten Versorgungslage zum massenhaften Bummelstreik zu-

spitzte. Stalin versuchte dagegen mit strafrechtlichen Mitteln anzugehen, also einem erweiterten Einsatz des

Machtmediums: „From January 1939 through June 1940, additional laws were passed that punished twenty-

minutes tardiness and levied criminal punishment for lateness, low-quality production, and drunkenness. Alt-

hough these measures were later interpreted as necessitated by the impending war, they were not motivated by

the wartime emergency. Workers were obliged to work a seven-day week and were not allowed to leave an en-

terprise on their own volition. These criminal laws were not a mere formality; in 1940, 3,3 million workers were

accused of violations. Of these, 1,8 million were sentenced to six months of corrective labor without interruption

of their normal work, and 322 000 were sentenced to prison terms of two to four months … Although these

measures remained formally in force for more than a decade, they had to be abandoned. If enforced, massive

numbers of workers had to be arrested. If not enforced they were ignored.” Gregory: The Political Economy of

Stalinism S. 107-9. Es waren so viele Fälle, weil die Aufseher und Kontrolleure oft mit den Arbeitern sympathi-

sierten und Disziplinverstöße nicht anzeigten. Deswegen genügte es nicht, mit den Strafen zu drohen.

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Zuspitzung hervor. Wenn A in der finsteren Innerlichkeit seines Bewusstseins plant, den B zu

ermorden, und es ihm gelingt, der Kommunikation mit B soweit auszuweichen, dass der B

keinen Verdacht schöpft, mag seine Planung erfolgreich sein und zum Ziel führen. Wenn aber

ein großes Sozialsystem geplant werden soll, kommt der Chefplaner nicht umhin, sein Pla-

nungsvorhaben in die Kommunikation innerhalb des Sozialsystems einzugeben und dabei viel

über seine Absichten zu verraten. Er braucht Helfer, um seinen Plan aufzustellen und die Er-

füllung zu kontrollieren. Sobald die Planung in dem Sozialsystem vollzogen werden muss,

das Planungsobjekt ist, kann sie in diesem System beobachtet werden. Jegliche Planung muss

von einer stark simplifizierenden Beobachtung der Komplexität des Systems ausgehen, so

dass genügend Komplexität übrig bleibt, die in der Planung nicht berücksichtigt werden kann.

Jegliche Planung mobilisiert Widerstand gegen ihren eigenen Vollzug – es gibt immer Leute,

die sich benachteiligt oder nicht ausreichend stark privilegiert fühlen – und diese Leute kön-

nen die in der Planung nicht berücksichtigten Variablen in einer Weise manipulieren, die

ihnen zum Vorzug gereicht und die Absichten des Planers unterläuft. Planung bezieht sich auf

Zukunft, so dass auch die Reaktion auf Geplantwerden Zeit hat sich vorzubereiten – und das

umso besser, je weiter Planung in die Zukunft auszugreifen versucht.17 Insbesondere wird die

Information manipuliert, die als Planungsgrundlage dient und anhand derer Planerfüllung ge-

messen wird. Der Planer mag nun zwar versuchen, auch dies einzuplanen und darauf plane-

risch zu reagieren, aber auch diese Reaktion kann im System wieder beobachtet werden und

zu entsprechenden Ausweichreaktionen führen. Etc. etc. Wir sehen den unendlichen Regress,

der sich hier auftut, und die Unlösbarkeit des Problems. Deswegen „können Planungen nicht

den Zustand bestimmen, in welchen das System durch die Planung gerät“18, sondern dieser

stellt sich als Überraschung ein.

Die Informationsabhängigkeit von Machtausübung impliziert, dass sie von der Ver-

fügbarkeit von Informationsquellen abhängig ist, die selbst nicht machtabhängig sind und

deshalb keine Veranlassung haben, Informationen im Hinblick auf die gerade aktuelle Macht-

ausübung zu frisieren. Wenn die Leitung eines Konzerns die Leistung des Managers einer

Tochtergesellschaft zu beurteilen versucht, könnte sie sich beispielsweise mit Hilfe der Ana-

lysen über ihre informieren, die bei einer anderen Organisation, beispielsweise einer Bank

angestellte Analytiker gefertigt haben – sofern diese Analytiker beispielsweise Zugriff auf

Insiderinformationen besitzen und deswegen nicht auf die vom Management der Tochterge-

17 Aus dieser Überlegung folgt auch, dass der Versuch, eine Organisation planmäßig umzubauen (beispielsweise

ein Unternehmen zu sanieren) am ehesten dann Erfolge verspricht, wenn es schnell geht, so schnell, dass die

Betroffenen keine Zeit haben haben, um sich vorzubereiten und den Veränderungsversuch zu unterlaufen. 18 Die Gesellschaft S. 430.

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sellschaft selbst produzierten Informationen angewiesen sind. Dann wäre dies eine unabhän-

gige Informationsquelle. Aber je weiter ein Machthaber seinen planerischen Zugriff ausdehnt,

umso weniger an derartigen unabhängigen Informationsquellen bleibt übrig. Mangels ausrei-

chender Information verfehlt die Machtausübung dann ihre Ziele und erweist sich der Macht-

haber als schwach. „Es gibt mithin immanente Gründe des Mediums Macht, sich nicht zum

Universalmedium der Gesellschaftsbeherrschung aufzuschwingen, sondern auf Spezifikation

der eigenen Universalkompetenz zu bestehen.“19 Der Machthaber wird stärker, wenn er darauf

bestehen kann, dass er sich um viele Vorgänge und Gesellschaftsbereiche nicht zu kümmern

beabsichtigt und sie sich selbst überlässt.

2.7. Nach dieser Analyse der Erfolgsmedien überrascht es nicht mehr sonderlich, dass ihre

Wirksamkeit von einer „Neutralisierung moralischer Zumutungen“20 abhängt und die Er-

folgsmedien gewissermaßen auf einer Ebene „höherer Amoralität“ angesiedelt sind. Damit

Geld bestmöglich als Erfolgsmedium funktioniert, sollte gewährleistet sein, dass es den Ver-

käufer einer Ware im Regelfall nicht interessiert, wie es verdient wurde und ob es ein mora-

lisch einwandfreier Gelderwerb war. Und wenn der Machthaber auf jede mit moralischen Ar-

gumenten an ihn herangetragene Forderung nach Machteinsatz reagieren müsste, wäre das

Medium bald verschlissen. Liebe fragt nicht danach und macht sich nicht davon abhängig, ob

der/die Geliebte ein moralisch einwandfreies Leben führt. Stattdessen stehen andere Gesichts-

punkte im Vordergrund.

Eine Ansiedlung der Erfolgsmedien im moralisch neutralen Bereich ist ferner auch

deswegen erforderlich, weil sonst der Unterschied zwischen ihnen verschwimmen würde.

Einige der Erfolgsmedien vermögen „operativ geschlossene“ Funktionssysteme bilden, aber

das können sie nur deswegen, weil man sie deutlich von anderen unterscheiden kann. So soll-

ten beispielsweise moralisch verankerte innerfamiliäre Solidaritäts- und Hilfspflichten weder

für die Entscheidung eines Hoheitsträgers relevant sind (ein Polizist sollte einen Verkehrssün-

der nicht milder behandeln, weil er mit ihm verwandt sind) noch sollten sie einen Anspruch

auf Bevorzugung bei der Auftragsvergabe oder Einstellung durch ein Unternehmen begrün-

den (der Unternehmer sollte sich dazu nicht verpflichtet fühlen, Verwandte bevorzugt einzu-

stellen, obwohl sie für den Job nicht sonderlich taugen). Je mehr derartige Moralvorstellun-

gen in den Vordergrund treten, desto stärker beeinträchtigt dies die Leistungsfähigkeit der

Funktionssysteme. Außerdem würde bei einer moralischen Aufladung der Medien auch die

Motivationslast zu einem beträchtlichen Teil auf die Moral übergehen – und das Erfolgsmedi-

19 Die Gesellschaft S. 358. 20 Die Gesellschaft S. 371.

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um entsprechend geschwächt. Das wäre ein gravierendes Problem, weil die Moral als Motiva-

tionsinstrument sehr unzuverlässig ist und schon immer war. Moralische Ansprüche motivie-

ren in aller Regel weit weniger verlässlich zur Erbringung einer bestimmten Leistung als bei-

spielsweise die Aussicht, dafür eine Bezahlung zu erhalten.21

3. Theorie der Wirtschaftsordnung

Über diese Analyse der Erfolgsmedien sind wir auf einem aus der Sicht der Volkswirtschafts-

theorie ungewohntem Wege in die Nähe eines Gedankens gelangt sind, der in der volkswirt-

schaftlichen Analyse der Wirtschaftsordnungen traditionell in den Vordergrund gerückt wur-

de. In der hat man den Gegensatz zwischen Zentralverwaltungswirtschaft einerseits und

Markt- oder Verkehrswirtschaft andererseits meist darauf zurückgeführt, dass eine wirtschaft-

liche Transaktion grundsätzlich auf zweierlei Art abgewickelt können. Dies könne entweder

auf der Basis der Gleichberechtigung und Freiwilligkeit geschehen, als ein durch Geld er-

leichterter Tausch, oder aber auf der Basis von Befehl und Gehorsam. Die Argumentation

wurde dann typischerweise so weitergeführt worden, dass es in jeder realen Wirtschaftsord-

nung natürlich beides gebe, aber es müsse so etwas wie eine Entscheidung über das Primat

einer dieser beiden Prinzipien vorliegen. Je nachdem, wie diese getroffen werde, befinde man

sich entweder in der Marktwirtschaft oder in der Befehlswirtschaft. Diese Gedankenführung

hatte beträchtliche Plausibilität für sich, solange es die Sowjetunion und ein sozialistisches

Lager gab. Seitdem diese Konfrontation zweier Lager mit dem Sieg des Westens endete, ach-

tet man stärker auf die Probleme dieser Gedankenkonstruktion, die gemäß der heute vorherr-

schenden Auffassung vorwiegend wirtschaftshistorische Relevanz hat, wohingegen man in

den seltenen Fällen, in denen man auch heute noch eine Gesamtdarstellung der Theorie der

Wirtschaftsordnung versucht, oft anderen Unterscheidungen den Vorzug gibt oder die Frage

des Leitkriteriums umgeht, beispielsweise indem man mit Hilfe einer (im Prinzip beliebig

veränderbaren) Mehrzahl von Kriterien so etwas wie eine Clusterbildung durchführt und dann

etwas ratlos beispielsweise vor dem Problem steht, ob es so etwas wie eine spezifische islami-

sche Wirtschaftsordnung gibt oder eine lateinamerikanische Variante des Kapitalismus22. Dies

21 Diesen Gesichtspunkt hat die Volkswirtschaftslehre schon seit ihren Anfängen betont. In neuerer Zeit hat er

aber auch für Politik und Recht eine zunehmende Bedeutung erlangt. Dies betrifft beispielsweise ein Argument,

mit dem eine Überlegenheit rechtlich geregelter staatlicher Sozialhilfe über private Wohltätigkeit behauptet wird.

Wenn ein Bedürftiger einen mit Hilfe der Gerichte (also mit Hilfe der Staatsmacht) durchsetzbaren Anspruch

gegen eine Sozialbehörde hat ist er besser daran als wenn er auf private Wohltätigkeit hoffen muss. Letztere mag

verfügbar sein oder auch nicht. Sie erweist sich in aller Regel als eine reichlich unzuverlässige Quelle des Le-

bensunterhalts. 22 Vgl. Gregory Paul: Comparing Economic Systems in the 21st Century. Mason 2004.

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ist ein aus theoretischer Sicht wenig befriedigendes Vorgehen. Die luhmannsche Analyse der

Erfolgsmedien führt zu so etwas wie einer Rehabilitation der traditionellen Unterscheidung,

die aber zugleich eine bedeutungsvolle Verwandlung erfährt.

Die traditionelle Unterscheidung zwischen Befehl und Tausch stieß auf das Problem,

dass in jeder höher entwickelten Gesellschaft beides vorkommt und zwar sehr häufig. Jedes

marktwirtschaftliche Unternehmen ist in sich eine Befehlswirtschaft. Um Marktwirtschaft und

Befehlswirtschaft unter diesen Umständen überhaupt noch unterscheiden zu können, verweist

man traditionell darauf, dass die Koordination zwischen den befehlswirtschaftlichen Klum-

pen, die gewissermaßen in der Suppe der Marktwirtschaft herumschwimmen, vom Markt er-

ledigt werde. Letztere sei infolgedessen das übergeordnete Element. Wenn man auf das offi-

zielle Selbstverständnis der kommunistischen Befehlswirtschaft abstellt, scheint damit ein

schlüssiges Unterscheidungskriterium gewonnen. Die 1952 offiziell aus der Taufe gehobene

sog. politische Ökonomie des Sozialismus lehrte, dass die Koordination zwischen den sozia-

listischen Unternehmen in erster Linie Sache staatlicher Planung, d.h. der Befehle der Partei-

führung und der Wirtschaftsverwaltung sei. Aber an diese offizielle Version konnte man als

Wirtschaftswissenschaftler nur schwer glauben, ließ es sich doch leicht zeigen, dass die von

den Planungsbehörden eingesetzten Planungsinstrumente wie z. B. die sog. Materialbilanzie-

rung bei weitem nicht die erforderliche Leistungsfähigkeit hatten, um die ihnen zugemutete

Koordinationsleistung zu erbringen. Wie sie tatsächlich erbracht wurde, blieb zwar mysteriös,

aber es bestanden doch starke Zweifel daran, ob der Befehl in der Wirklichkeit der sog. Be-

fehlswirtschaft einen so klaren Primat hatte, dass man hieran die Unterscheidung zwischen

den beiden Systemen festmachen konnte. Und so mochte man schließlich zweifeln, ob der

Dichotomie von Tausch und Befehl für reale Wirtschaftsordnungen überhaupt der zentrale

Stellenwert zukommt, dem ihm die Theorie der Wirtschaftsordnung traditionell zugesteht. An

dieser Stelle kommt uns die luhmannsche Analyse der Erfolgsmedien zu Hilfe und rettet uns

aus der Verlegenheit.

Das ist auch nötig, weil ein anderer Ausweg, den manche Ökonomen gesucht haben,

zumindest gemäß Luhmann nicht gangbar ist. So hat man versucht, den Unterschied zwischen

kommunistischen und westlichen Volkswirtschaften am Fehlen von Konkurrenz festzuma-

chen: Westliche Marktwirtschaften haben offene Märkte, kommunistische haben geschlosse-

ne, die oft von Monopolen und Kartellen „beherrscht“ werden. Mit dieser Betrachtung würde

Konkurrenz zum systembildenden Faktor erhoben, was sich aber gemäß Luhmann im Rah-

men einer Theorie der Sozialsysteme nicht halten lässt.23 Sozialsysteme werden nämlich

23 Vgl. Soziale Systeme S. 524.

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durch Kommunikation gebildet und Konkurrenten kommunizieren eher wenig miteinander –

und wenn doch, dann vorwiegend in der Form eines Konflikts. Konflikte sind zwar durchaus

Sozialsysteme und zwar sogar sehr wichtige, aber sie bilden keine Funktions-, sondern Inter-

aktionssysteme, die einen Hang zur Selbstzerstörung haben. Zwar kann es für die Entwick-

lungs- und Überlebensfähigkeit eines Funktionssystems eine große Rolle spielen, ob in sei-

nem Schoß eine ausreichende Zahl konfliktärer Interaktionssysteme entsteht, aber die Bil-

dung eines Funktionssystems können wir so nicht erklären. Dieser Gedanke ist gerade im Fall

der Wirtschaft einleuchtend. Eine Marktwirtschaft ohne Konkurrenz wäre ein unerfreulicher,

schwer erträglicher Zustand.24 Luhmann vergleicht die Konkurrenz deswegen mit einem Im-

munsystem, weil es ebenso wie das Immunsystem Krankheiten bekämpft und die Überlebens-

aussichten eines Schwerkranken oft von der Stärke seines Immunsystems abhängt.25 Die

Wirtschaftspolitik der Kommunisten lief so gesehen darauf hinaus, dass sie dieses Immunsys-

tem zerstörten, indem sie auf nahezu allen Märkten künstliche Monopole errichteten. Die Un-

erträglichkeit dieses Zustandes erzeugte dann einen Bedarf nach laufenden politischen Ein-

griffen in diese Märkte, also nach Ausnutzung des Machtmediums zur Verbesserung des

Wirtschaftsergebnisses. Damit sind wir zurück bei der Unterscheidung Tausch – Befehl, aber

nicht in einer Weise, die es erlaubt, den Unterschied der Wirtschaftsordnungen Befehlswirt-

schaft versus Marktwirtschaft in einem Über- und Unterordnungsverhältnis dieser beiden Er-

folgsmedien zu suchen. Er muss – wie noch näher zu erläutern ist - stattdessen in dem Diffe-

renzierungsprinzip gesucht werden, das gesamtgesellschaftlich (und nicht nur in der Wirt-

schaft) das Primat hat, nämlich ob es sich um funktionale oder hierarchische Differenzierung

handelt. Mit anderen Worten: Es ist falsch, die kommunistischen Ordnungen vorwiegend als

Wirtschaftsordnungen aufzufassen. Es geht um eine andere Gesellschaftsordnung und zwar in

einem Sinne, der das ökonomische Gesellschaftsverständnis sprengt, das für die liberale wie

auch für die marxistische Tradition charakteristisch ist.

In einer primär hierarchisch differenzierten Gesellschaft können die Erfolgsmedien zwar als

Medien bereits vorliegen, aber sie wirken entweder noch gar nicht systembildend oder nur in

einem relativ beschränkten Umfang. Herrschaft ist in einem solchen primär stratifikatorisch

24 Das war auch im 19. Jahrhundert schon klar – und deswegen verlegten sich die Marxisten und andere Sozialis-

ten darauf zu behaupten, dass der Wettbewerb durch Konzentration mit der Zeit „unvermeidlich“ und auf Nim-

merwiedersehen verschwinden werde. Wenn das erst einmal geschehen sei, sei die Zeit reif für den Sozialismus.

Hätten sie damit recht gehabt, dann wäre dies in der Tat ein sehr schlüssiges Argument. Aus heutiger Sicht ist

klar, dass das Gegenteil eingetreten ist. 25 Soziale Systeme S. 524. Wettbewerb auf und um Märkte ist gemäß Luhmann das systeminterne Immunsystem

des Funktionssystems Wirtschaft. Eine ähnliche Rolle spielt der Wettbewerb um wissenschaftliche Anerkennung

innerhalb der Wissenschaft und der Wettbewerb um Ämter in der Politik, aber in allen drei Fällen nur unter einer

ganzen Batterie von Voraussetzungen, die die zulässigen Methoden der Austragung des Wettbewerbs beschrän-

ken.

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differenzierten Sozialsystem etwas radikal anderes als Politik und Staat in einem primär funk-

tional differenzierten – und es wäre irreführend, diese beiden Herrschaftsformen als eng mit-

einander verwandte Ausprägungen des Mediums Befehl aufzufassen. Das ist den politischen

Wissenschaften an sich bekannt – die betonen seit langem, dass es dramatische Unterschiede

zwischen der Art und Weise gibt, wie absolutistische Monarchien, kommunistische Diktatu-

ren und repräsentative Demokratien regiert werden, aber diese Erkenntnisse sind in die Theo-

rie der Wirtschaftsordnung kaum eingearbeitet worden, obwohl ihre Väter an sich schon ver-

standen, dass es sich bei der kommunistische Wirtschaft nicht nur und nicht einmal primär um

eine Wirtschaftsordnung handelt, sondern um eine komplette Gesellschaftsordnung.

4. Erfolgsmedien und Differenzierungsformen

4. 1. Dass sich Erfolgsmedien bilden, bedeutet noch längst nicht, dass sie die Differenzie-

rungsform der Gesellschaft bestimmen können. Das können sie erst, wenn eine Vielzahl von

unwahrscheinlichen Voraussetzungen erfüllt ist, also als Ergebnis einer „Normalisierung des

Unwahrscheinlichen“, wie Luhmann die Erfüllung solcher Voraussetzungen nennt. Eine der

hierbei zu überwindenden Schwierigkeiten kann man daran erkennen, dass auch in primär

funktional differenzierten Gesellschaften wie der unseren nur ein recht kleiner Bruchteil aller

Kommunikationen Erfolgsmedien benutzt oder auf sie Bezug nimmt. Kommunikation, die

ohne Benutzung von Erfolgsmedien auskommt, dominiert im Leben so gut wie jedes Indivi-

duums. Ein Kaufmann mag von früh bis spät an sein Geschäft denken, aber das betrifft sein

Bewusstsein, in dem bekanntlich gleichzeitig vieles andere passieren kann. Für die Kommu-

nikationen, an denen er beteiligt ist, dürfte dies eher nicht gelten. Dass auch in letzteren die

Vornahme von Zahlungen und Besprechungen, bei auf Zahlungsmitteleingänge und –

ausgänge Bezug nehmen, das Übergewicht gegenüber allen anderen Kommunikationen ha-

ben, an denen er sich beteiligt, dürfte allenfalls in kurzen Lebensphasen zutreffen. Damit die

Erfolgsmedien benutzende Kommunikation trotzdem zu der eigentlich wichtigen, die Gesell-

schaft strukturierenden Kommunikation aufsteigen kann – und das ist impliziert, wenn wir das

Wort von der primär funktional differenzierten Gesellschaft in den Mund nehmen – dürfen sie

nicht zu selten vorkommen. Sehr selten vorkommende Kommunikationen können keine sozia-

lisierenden Effekte auslösen. Sie können keine Erwartungen erzeugen, die über eine kleine

Teilmenge aller Interaktionssysteme hinaus soziale Bedeutung erlangen. Ein das Erfolgsme-

dium Liebe betreffendes Beispiel mag dies illustrieren: Wenn Liebebeziehungen eine gesell-

schaftliche Randerscheinung sein und fast nur als schwer zu bestrafender (z.B. Steinigung)

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Ehebruch vorkommen können, weil die Töchter von ihren Eltern in jungen Jahren nach Ge-

sichtspunkten verheiratet werden, die mit Liebe nichts zu tun haben, mag es zwar den einen

oder anderen Dichter geben (Ovid), der sich mit der Semantik der Liebe befasst, aber das inte-

ressiert dann allenfalls einen kleinen Teil der Oberschicht. „Zur Ausdifferenzierung symbo-

lisch generalisierter Kommunikationsmedien kann es daher nur in hinreichend großen, kom-

plexen Gesellschaften kommen. Sie setzen ... nicht nur den Sprachcode als Struktur ihres Be-

zugsproblems voraus, sondern für das Ingangkommen ihrer Ausdifferenzierung Schrift und

für ihre Vollentwicklung, wie wir zeigen wollen auch den Buchdruck.“26 Erst wenn Liebesge-

dichte und –romane gedruckt und preisgünstig zugänglich gemacht werden, ist es vorstellbar,

dass sie von einer größeren Zahl von jungen Leuten gelesen werden und ihre Vorstellungen

zu prägen beginnen27 – und erst als weitere Folge dieser Entwicklung kann sich eine Trivialli-

teratur entwickeln, die derartige Vorstellungen popularisiert und auch künstlerisch weniger

empfänglichen Individuen zugänglich macht. Heute lernen wir schon früh aus dem Fernsehen,

was Liebe ist, und können uns daher sogar der Illusion hingeben, dass sie aus unserem tiefsten

Inneren, aus der Psyche, kommt und verkennen, wie sehr sie ein „Kulturprodukt“ (d. h. ein

Resultat soziokultureller Evolution) ist.

4.2. Sozialsysteme strukturieren sich gemäß Luhmann durch die Bildung von Erwartungen

und Erwartungserwartungen. Erwartungen können enttäuscht werden. Wenn es sich um Er-

wartungen handelt, die auf ziemlich unsicheres Geschehen gerichtet sind, bedarf es bestimm-

ter Vorkehrungen, um sie vor dem ihnen normalerweise drohenden raschen Zerfall zu bewah-

ren. Hier springen gemäß Luhmann zwei mögliche und voneinander zu unterscheidende Ver-

fahren der Enttäuschungsabwicklung ein. Das erste besteht darin, dass die Erwartung als än-

derungsbereit ausgewiesen wird – änderungsbereit, sofern ausreichende Gründe für eine Än-

derung vorliegen. Dies ist das typische Muster wissenschaftlicher Theorien. Sie richten sich

regelmäßig auf ziemlich unsichere Tatbestände und kompensieren diese Unsicherheit, indem

26 Die Gesellschaft S. 322. 27 Eine anschauliche Darstellung, wie das vor sich ging, liefert Puškins (von Čajkovski veroperter und nur in

dieser Form außerhalb Russland bekannter) Versroman Evgenij Onegin. Die Edeldame Tatjana bildet sich ihre

Vorstellung von Liebe durch die Lektüre englischer Liebesromane . Die so geschaffenen Vorstellungen kristalli-

sieren sich dann an Onegin an. Dieses Beispiel ist hier mit Bedacht gewählt, weil es einen Grundgedanken von

Luhmann illustriert, der so nicht unbedingt den gängigen Vorstellungen entspricht. Gefühle kommen demnach

nicht einfach aus unserem tiefsten Inneren heraus, sondern unser Gefühlserleben ist in hohem Maße sozial, d.h.

durch Kommunikation, bedingt und verändert sich dementsprechend im Laufe der Zeit und der Geschichte. Die

Darstellung von Liebe durch Puškin ist übrigens alles andere als singulär. Ganz ähnlich geht es diesbezüglich bei

Flauberts Madame Bovary zu. Emma bildet sich ihre Vorstellung von Liebe ebenfalls durch die Lektüre von

Romanen, offenbar vor allem den Schriften des englischen Romantikers Sir Walter Scott. Ein bezeichnender

Unterschied ist indes, dass Emma keine Edeldame ist, sondern eine – allerdings in ungewöhnlichen Verhältnis-

sen heranwachsende – Bauerstochter. Frankreich war eben viel weiter als Russland.

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sie sich lernbereit geben. Eine Theorie gilt dann als wahr, weil vorläufig noch nicht genügend

Evidenz gefunden wurde, um sie als widerlegt ad acta legen zu müssen. Mit dieser Argumen-

tationsfigur rechtfertigen Wissenschaftler typischerweise ihr Treiben. Das zweite Verfahren

der Enttäuschungsabwicklung besteht gerade darin, dass man die Lernbereitschaft verweigert.

Diese Weigerung erzeugt den Unterschied zwischen Sein und Sollen. Der Mörder ist nicht

überführt und bestraft worden, aber das ist kein Grund, um die Erwartung aufzugeben, dass

Mörder bestraft werden. Eine solche auf das Sollen gerichtete Erwartung, die sich selbst als

nicht änderungsbereit einrichtet, nennt Luhmann eine normative Erwartung. Normative Er-

wartungen können ziemlich viele Enttäuschungen überleben, aber die Enttäuschung darf nicht

zum Normalfall werden. Ist der einzelne beispielsweise im Alltag fortwährend mit Mord und

Totschlag konfrontiert, ohne dass dies in einer nennenswerten Zahl von Fällen geahndet wird,

wird sich ein Lernen nicht vermeiden lassen. Wer in einer solchen Situation leben muss, wird

dann beispielsweise lernen, dass Mord- und Totschlag zwar innerhalb des eigenen Clans oder

einer anderen relativ kleinen Gemeinschaft unzulässig sind, unter Fernstehenden oder Frem-

den aber durchaus normal und unter Umständen sogar ein Gebot der Klugheit, wenn nicht der

Moral ist, nämlich um die eigenen Leute, denen man moralisch verpflichtet ist, vor den von

Fremden ausgehenden Gefahren zu schützen. Die normative Erwartung wird dann entspre-

chend abgeändert.

Es ist leicht einsehbar, dass jedes Sozialsystem normative Erwartungen benötigt und

ausbildet, wenn auch in sehr unterschiedlicher Reichweite und Größenordnung. Die Unter-

scheidung zwischen den zwei Verfahren der Enttäuschungsabwicklung erlangt erst dann zent-

rale Bedeutung, wenn Erwartungen auf ziemlich unsichere Sachverhalte gerichtet werden und

diese Unsicherheit aus dem Sozialleben selbst kommt. In archaischen Gesellschaften gab es

zwar auch viel Unsicherheit, aber diese dürfte zumeist hauptsächlich von der sie umgebenden

Natur ausgegangen sind, wohingegen das Sozialleben einen festen Rhythmus hatte und in

einer sehr berechenbaren Weise ablief.28 Auch eine solche Gesellschaft wird normative Er-

wartungen nötig haben, beispielsweise für die Abwicklung bestimmter Konflikte29, die auch

28 Dieser Gedanke findet sich auch schon bei Hayek: The Constitution of Liberty. Chicago 1960 S. 151: „Com-

pared with the laws of a society that cultivates individual freedom, the rules of conduct of a primitive society are

relatively concrete. … In them the expression of the factual knowledge that certain effects will be produced by a

particular procedure and the demand that this procedure be followed in appropriate conditions are still undiffer-

entiated. To give only one illustration: the rules which the Bantu observes when he moves between the fourteen

huts of his village along strictly prescribed lines according to his age, sex, or status greatly restrict his choice …

The ‘compulsion of custom’ becomes an obstacle only when …” 29 Die Streitbeilegungsverfahren archaischer Gesellschaften entsprechen dieser noch wenig ausgeprägten Unter-

scheidung zwischen normativen und kognitiven (lernbereiten) Erwartungen. Ihnen kommt es gar nicht in erster

Linie darauf an, die Norm zu sanieren und normative Erwartungen entgegen den faktischen Verhältnissen Res-

pekt zu verschaffen. Vielmehr bestätigten sie eher die faktischen Machtverhältnisse. Der Schwache, dessen nor-

mative Erwartungen enttäuscht wurden, kann sich von ihnen nicht sonderlich viel versprechen. Es scheint, dass

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sie nicht vermeiden kann, aber das Volumen und die Komplexität der normativen Erwartun-

gen im eigentlichen Sinne dürfte sich verglichen mit späteren Gesellschaften in einem eher

bescheidenem Rahmen halten. Auf jeden Fall unterscheiden sich die normativen Erwartun-

gen, die sich in unterschiedlichen und unterschiedlich komplexen Gesellschaften entwickeln

und behaupten können, dramatisch voneinander. Cicero konnte noch schreiben Ubi societas

ibi ius und damit ein Gleichheitszeichen zwischen Recht und normativen Erwartungen und

Erwartungserwartungen jeglicher Art setzen, aber aus moderner Sicht macht diese Gleichset-

zung wenig Sinn und empfiehlt es sich stattdessen, innerhalb der riesigen und vielgestaltigen

Menge der normativen Erwartungen eine wesentlich kleinere Teilmenge herauszuheben, für

die die Bezeichnung Recht reserviert wird. Gemäß Luhmann besitzt nur das Recht in diesem

engeren Sinne das Potential, sich zu einem autopoetischen Funktionssystem zu verselbständi-

gen. Damit eine normative Erwartung (Erwartungserwartung) als Recht qualifizierbar ist,

muss gemäß Luhmann hinzukommen, dass in dem Sozialsystem, in dem diese Erwartung

anerkannt wird, zusätzlich zu einem Konsens hinsichtlich des normativen Stils der Erwartung

auch noch Konsens für das Austragen von Konflikten und hinsichtlich der Bereitschaft zu

Sanktionen unterstellt wird. Wenn einer sich in seiner normativen Erwartung enttäuscht sieht

und dann in rechtlich geregelten Formen seinen „Kampf ums Recht“30 führt, so muss auch

dieses Verhalten zumindest im Prinzip noch gesellschaftlich akzeptiert sein.31 Dass dies keine

Selbstverständlichkeit ist, lehrt beispielsweise ein Blick nach Japan, wo es auch heute noch

verpönt ist, vor Gericht zu ziehen – wer das tut, hat versagt; nur wer einen Weg findet, um

eine Klage beim Gericht zu vermeiden, ist ein Ehrenmann – oder auch in die ehemaligen

kommunistischen Länder, in denen der Weg aufs Gericht zwar bei vielen Zivilsachen unprob-

lematisch war, aber auf dem Gericht von Kläger erwartet wurde, dass er sich mit dem Beklag-

ten gewissermaßen versöhnte und zu einem Kompromiss bereit war, bei dem er eigene

Rechtspositionen „freiwillig“ aufgab32. Ganz ähnlich verhielt es sich in archaischen Gesell-

die Kritik-Selbstkritik-Rituale der Kommunisten diese Gepflogenheiten reproduzierten. Wer den Machtkampf

verloren hatte, musste Selbstkritik üben – und das nützte ihm dann oft trotzdem nicht viel. 30 So die bekannte Formulierung von Jhering, einem der einflussreichsten deutschen Juristen des 19. Jahrhun-

derts, der 1872 einem Vortrag mit diesem Titel hielt und damit einiges Aufsehen erregte. In dem führte er aus:

„Unsere gewöhnlich herrschende Vorstellung pflegt den Begriff des Rechts an die Vorstellung des Friedens, der

Ordnung zu knüpfen, und diese Vorstellung ist in der Tat nach einer Seite hin vollkommen berechtigt. Sie ist

ebenso berechtigt ... wie die Vorstellung des Eigentums als Mittel des Genusses. Aber dieser Seite entspricht

eine andere. Beim Eigenthum ist die Kehrseite des Genusses die Arbeit, und beim Rechte ist die Kehrseite des

Friedens und der Ruhe der Kampf ... Wir brauchen ja nur einen Blick zu werfen auf die Welt, die uns umgibt,

um zu sehen, wie das Recht ein unausgesetzter Kampf ist. ... ich glaube, dass wir mit Unrecht diesen Kampf

geringschätzen würden, dass er eine ethische, ja sogar eine poetische Bedeutung beanspruchen kann.“ Jhering

sieht sich mithin durchaus in der Lage, diesem Kampf etwas Positives abzugewinnen, wie es gemäß Luhmann

auch nötig ist, damit überhaupt von Recht gesprochen werden kann. 31 Man mag an der Klugheit eines solches Kampfes Zweifel hegen, aber nicht an seiner Berechtigung. 32 Siehe Schönfelder: Spätsozialismus Kap. 8.

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schaften, aber auch in ländlichen Regionen Westeuropas bis ins 18. Jahrhundert. Aus dieser

engeren Eingrenzung von Recht ergibt sich, dass zwar wohl in fast jedem auf längere Frist

bestehenden Sozialsystem rudimentär und in geringer Dosis Recht entsteht, aber die Entwick-

lung eines umfangreichen und komplexen Rechtsstoffes ein sehr voraussetzungsreiches Phä-

nomen darstellt.

4. 3. Eine wichtige und viel diskutierte Problematik der modernen Gesellschaft betrifft die

Trennung der Codewerte und das Unterlaufen dieser Trennung. Der Unterscheidung zwischen

Funktionssystemen entspricht eine Unterscheidung zwischen Entscheidungen, die nach dem

Rechtscode des Rechtssystems (gerecht/ungerecht) ablaufen, von anderen, die nach dem

Machtcode des Politiksystems (Regierung/Opposition), nach dem Zahlen/Nichtzahlen-Code

der Wirtschaft usw. entschieden werden. Das bekannteste Beispiel für ein Unterlaufen ist

Korruption. Wenn die Justiz korrupt ist, entscheidet der bestochene Richter nicht nach den

Programmen des Rechtssystems, sondern danach, wer ihn besser schmiert. Der Code des

Wirtschaftssystems kommt dann im Recht zur Anwendung – und man weiß nicht mehr, in

welchem Funktionssystem man sich befindet. Die Grenzen verschwimmen – und Grenzbil-

dung ist doch gerade das Wesen der Systembildung! Wenn jemand, der nicht zahlen kann und

keinen vom Rechtssystem gedeckten Anspruch hat, eine Ressource erhält, weil er Beziehun-

gen zu den herrschenden Politikern unterhält, wohingegen ein anderer, der zahlungswillig und

–fähig wäre, leer ausgeht, wird eine Entscheidung, die in einer hochkomplexen Gesellschaft

nach dem Code des Wirtschaftssystems getroffen werden sollte, damit die Komplexität auf-

rechterhalten werden kann, stattdessen nach dem Code des Politiksystems getroffen. Die pri-

mär funktional differenzierte Gesellschaft lebt von der Unterscheidung zwischen den Codes.

Kommt es zu ihrer Vermischung, schwächt dies die Funktionstüchtigkeit der Funktionssyste-

me und können sie im Extremfall sogar zerstört werden.

Beispielsweise ist die Wirtschaft darauf angewiesen, dass meist zweifelsfrei festgestellt

werden kann, was in wessen Eigentum steht. Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass ein Ei-

gentümerwechsel stattfinden kann. Wenn das Rechtssystem oder die Politik korrupt ist, sind

solche Feststellungen erschwert oder gar unmöglich. Beispiel: Statt ein Grundstück zu kaufen,

kann man dann auch den Beamten auf dem Grundbuchamt bestechen, dass er einen Eigentü-

merwechsel einträgt. Wenn man dagegen klagt, lässt ein bestochener Justizbeamter die Akte

verschwinden. Wenn sie unerwarteterweise wieder gefunden wird, kommt die Sache vor ei-

nem bestochenen Richter, der alles für rechtens hält und keinen Fehler erkennen will. Wenn

einer mit solchen Vorfällen rechnen muss und befürchtet, sein Grundstück durch derartige

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Manipulationen wieder zu verlieren, wird er für dieses Grundstück nicht viel zu zahlen wil-

lens sein. Damit wird der Grundstücksverkehr beeinträchtigt und reduziert. Im Extremfall

kann es zum Zusammenbruch des Grundstücksmarktes und weiterer damit zusammenhängen-

der Märkte kommen, was dann allerdings verheerende Konsequenzen nach sich zöge.

Wenn solche Vermischungen unterschiedlicher Codes eintreten und beispielsweise Kor-

ruption aufgedeckt wird, ertönt häufig der Ruf nach Anstand, Moral, Ethik, Ethikcodes usw.

So hat auch die Bergakademie eine Ethikkommission, die in Fällen von Plagiat, Fälschung

von Ergebnissen experimenteller Forschung usw. tätig werden soll. Jede wissenschaftliche

Gesellschaft ist heute gehalten, sich einen sog. Ethikcode zu geben. In der Tat würde die

Funktionsfähigkeit des Wissenschaftssystems beeinträchtigt, wenn Fälschungen und Plagiate

unter Wissenschaftlern zu einer häufigen Erscheinung würden. Das Vertrauen in die Wissen-

schaft würde beeinträchtigt und das hätte gravierende Konsequenzen für ihre Finanzierung.

In der Realität zeigt sich allerdings meist, dass sich mit solchen Ethikcodes etc. nicht sonder-

lich viel erreichen lässt. Diese Beobachtung führt dann oft zu einem Lamento über morali-

schen Verfall und die Verworfenheit der heutigen Gesellschaft. Derartige moralische Empö-

rung kann wiederum zu dem Jungbrunnen werden, aus dem sich der Rechts- und Linkspopu-

lismus labt. Damit sind Verfallslinien angedeutet. Das Kernstück populistischer Diskurse ist

ein Protest gegen die moralische Verworfenheit der politischen, wirtschaftlichen, wissen-

schaftlichen etc. Eliten, unter denen das „gute“ Volk leidet. Um dies zu erkennen, braucht

man nur die Schriften von Lenin zur Hand zu nehmen.33 Im Hinblick auf solche Gefahren

muss man sich wünschen, dass die Erwartungen an das Steuerungspotential von Moral zu-

rückgenommen werden.

Derartige Probleme bedürfen nicht so sehr einer Bearbeitung durch Ethiker, sondern

durch ein Funktionssystem, weil nur letzteres die nötige Leistungsfähigkeit erreichen kann.

Das einzige in Frage kommende Funktionssystem, das Bestechlichkeit relativ wirksam be-

kämpfen kann, ist das Recht. Dies setzt allerdings voraus, das es korruptionsfrei gehandhabt

werden kann – die Justiz also nicht oder nur wenig korrupt ist. Es setzt weiter voraus, dass das

Rechtssystem als ein vom Politiksystem getrenntes Funktionssystem ausdifferenziert ist. In

den meisten Ländern dieser Welt ist dies nicht oder nur partiell der Fall. Dies führt gemäß

Luhmann zu einer stark herabgesetzten Funktionstüchtigkeit der Wirtschafts- und des Politik-

systems. Diese beiden Systeme sind im Unterschied zum Rechtssystem heute in fast allen

Ländern als zumindest einigermaßen voneinander getrennte Funktionssysteme ausdifferen-

ziert (eine Ausnahme ist beispielsweise Nordkorea). Die Funktionsstörungen, die sich in

33 Obwohl es in der Einleitung das Gegenteil zu sein vorgibt, lesen sich viele Kapitel des Hauptwerks von Marx

(Das Kapital) wie eine moralisch inspirierte Anklageschrift gegen das Bürgertum und den „Kapitalismus“.

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ihnen einstellen, weil der Beitrag eines ausdifferenzierten Rechtssystems fehlt, sind eine zent-

rale Ursache für Entwicklungsprobleme und die schier unüberwindlichen Schwierigkeiten,

auf die Lösungsversuche zu stoßen pflegen. Wenn beispielsweise Korruption nicht wirksam

bekämpft werden kann, wird die Trennung zwischen Wirtschafts- und Politiksystem unscharf

und dies führt oft dazu, dass die beiden Systeme sich im Wege stehen und sich wechselseitig

destruieren. Ein bekanntes Beispiel aus der Entwicklungspolitik: Einer der wichtigsten Grün-

de dafür, Geschäfte legal und nicht auf dem Schwarzmarkt abzuwickeln, ist der Schutz des

Gesetzes, den der Kaufmann bei legaler Abwicklung genießt. Wenn dieser Schutz wenig wert

ist, weil die Justiz politisiert oder korrupt ist und vor allem die Günstlinge des Herrschers

schützt, beeinträchtigt dies zunächst einmal die Geschäfte. Viele Geschäfte, die bei einem

stärkeren Recht zustande kämen, unterbleiben. Aber die Wirtschaft schlägt zurück: Wenn

auch legale Unternehmen nicht unter dem Schutz des Gesetzes steht, gehen viele in den wirt-

schaftlichen Untergrund und hören auf, ihre Steuern (in vollem Umfang) zu bezahlen. Dann

fehlen dem Staat die Einnahmen und sieht sich die Politik ebenfalls in ihren Möglichkeiten

reduziert. So destruieren sich Wirtschaft und Politik wechselseitig.

Der Fall der Korruption ist ein Beispiel für ein allgemeineres Problem des Macht-

codes. Der häufige und gewissermaßen routinemäßige Einsatz des Machtcodes ist, wie oben

dargelegt, nur dann erträglich, wenn die hinter ihm stehende Sanktionsdrohung nur selten

wahrgemacht werden muss. Mit Luhmann mag man dies als ein Kommunikationsproblem des

Machthabers auffassen. „Die Machtpraxis erfordert also eine ständige Reflexion des Nichtge-

brauchs der Machtmittel, ein ständiges Balancieren zwischen Zeigen von Stärke und Vermei-

den des Vollzugs der Sanktionen. Man muss drohen, ohne zu drohen…“34 Damit das gelingt,

muss die Machtüberlegenheit des Machtinhabers offenkundig sein. Stünde sie in Frage, wür-

den sich die Mächtigeren unter den Untertanen mitunter auflehnen und es auf Kraftproben

ankommen lassen. Die Konsequenz daraus war historisch die Durchsetzung des staatlichen

Gewaltmonopols, die in vielen Ländern Westeuropas (aber nicht überall) in der frühen Neu-

zeit in Gang kam und im 18. Jahrhundert schon weit fortgeschritten war. In vielen Drittwelt-

ländern ist dies hingegen bis heute nicht gelungen. Diese Durchsetzung des staatlichen Ge-

waltmonopols wirft dann aber die Frage auf, wer oder was uns dann vor einem Missbrauch

der damit entstandenen Machtposition schützen kann. Eine Gegenmacht, die man im Fall von

Machtmissbrauch anrufen könnte, ist dann gerade nicht mehr vorhanden.35

34 Die Gesellschaft S. 387. 35 Im Mittelalter konnte einer, der sich vom König ungerecht behandelt führte, u. U. versuchen, für seine Anlie-

gen die Unterstützung eines mächtigen (über eine bewaffnete Gefolgschaft verfügenden) Edelmannes zu gewin-

nen. Wenn ihm dies gelang, mochte der König seine Entscheidung überdenken, weil er sich mit dem Edelmann

nicht anlegen wollte. Stattdessen konnte es aber auch zum Kampf kommen.

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Die traditionellen Antworten auf diese Frage sind die Bindung der Macht an das Recht,

die Gewaltenteilung und mitunter auch der Föderalismus – und vielleicht alle drei Rezepte auf

einmal. Aber unter welchen Umständen funktioniert das? Wir mögen dieses Funktionieren für

normal halten, aber in den meisten Ländern funktioniert es nicht und hat es auch nie funktio-

niert – und das zeigt, dass es sich auch hier um eine Normalisierung des Unwahrscheinlichen

handelt. Es liegt auf der Hand, dass es ohne Bindung der Macht an das Recht nicht geht, aber

es ist alles andere als klar, wie man diese Bindung herstellen und verbindlich machen kann.

Dass es einer solchen Bindung bedarf, bedeutet in der Terminologie der luhmannschen Theo-

rie der Erfolgsmedien, dass der Machtcode einer Zweitkodierung durch das Recht bedarf. Zu

dem binären Code machthabend/machtlos (in der Demokratie Regierung/Opposition) muss

der binäre Code gerecht/ungerecht hinzutreten. Bindung an das Recht bedeutet dann, dass die

Macht nicht auf ungerechte, d. h. vom Recht nicht gedeckte, Weise eingesetzt werden darf.

Daraus folgt gemäß Luhmann, dass auf der Basis des Machtcodes nicht nur ein, sondern zwei

Funktionssysteme ausdifferenziert werden müssen, obwohl Macht und Recht gewissermaßen

in einer symbiotischen Beziehung stehen. Diese symbiotische Beziehung ergibt sich daraus,

dass Recht nur dann etwas bedeutet, wenn die Chance seiner Durchsetzung besteht, zu der es

eben der Fähigkeit zum Einsatz überlegener Machtmittel bedarf, und andererseits die Macht

größere soziale Akzeptanz gewinnt d.h. auf weniger Widerstände stößt, wenn sie im Einklang

mit dem Recht ausgeübt wird. Aber gerade diese Symbiose setzt voraus, dass Politik und

Recht Bereiche sehr unterschiedlicher Qualität sind. Bei den Richtern sollte es nicht um Poli-

tiker handeln, die Roben übergezogen haben. Die Differenzierung zu unterschiedlichen Funk-

tionssystemen wird durch einen unterschiedlichen Operationstyp ermöglicht. Der Unterschied

liegt im Modus der Enttäuschungsabwicklung. Beim Recht geht es um normative Erwartun-

gen, wohingegen die Politik auf Enttäuschung durch Lernen reagiert. Ein bestimmtes politi-

sches Ziel ist mit den Maßnahmen, die man ergriffen hat, nicht erreicht worden. Dann ergreift

man andere und neue. Oder man gibt das Ziel auf, weil man gelernt hat, dass es sich mit ver-

tretbarem Aufwand nicht erreichen lässt oder es seine politische Bedeutung verloren hat.

Diese Unterscheidung zwischen lernbereit und lernunwillig führt zu der zwischen

Zweck- und Konditionalprogrammen. Mit Zweckprogrammierung ist gemeint, dass der Ent-

scheidungsträger ein bestimmtes Ziel verfolgt und seine Mittel so wählt, dass sie nach seinem

momentanen Wissensstand für die Erreichung der Zwecke geeignet erscheinen. Meist stellt

sich heraus, dass sich der Entscheidungsträger dabei zumindest zum Teil geirrt hat. Dann

muss er „nachsteuern“. Wer einen Zweck verfolgen will und nicht allwissend ist, muss lernbe-

reit sein. Wer beharrlich immerzu dieselben Mittel einsetzt, obwohl sich längst gezeigt hat,

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dass sie für die Erreichung des angestrebten Zwecks ungeeignet sind, macht sich lächerlich.

Wenn es dem Recht um die Pflege normativer, nicht lernbereiter Erwartungen geht, kann es

nicht auf bestimmte Zwecke hinarbeiten. Der nicht lernbereiten Enttäuschungsabwicklung

entspricht der Programmtypus des Konditionalprogramms. Konditionalprogramme lassen sich

als Wenn-Dann-Sätze formulieren. Z. B.: Wenn der A als Eigentümer des Grundstücks Y im

Grundbuch steht, dann ist er das auch (Glauben des Grundbuchs). Wenn der C dem D etwas

stiehlt, wird er dafür bestraft. Wenn der Studierende des Masterstudiengangs BWL 120 LP in

den von der PO vorgesehenen Modulen erwirbt, erhält er den Master of Science. Konditional-

programme gewähren Sicherheit und sie können das nur, weil sie konditioniert sind. In einer

unsicheren Welt kann es keine unkonditionierten Sicherheiten geben. Alle Garantien müssen

unter Bedingungen gestellt werden. Niemand kann eine Garantie ausstellen, dass ein be-

stimmter Zweck tatsächlich erreicht werden wird. Das Rechtssystem kann sich mithin dann

und nur dann als ein vom Politiksystem zu unterscheidendes Funktionssystem ausdifferenzie-

ren, wenn es faktisch (nicht unbedingt bewusst und intentional) von der Unterschiedlichkeit

dieser Programmtypen ausgeht. Nur das ermöglicht Sicherheit im Recht. Wenn das Recht

nicht mehr Sicherheit gewährt als die Politik mit ihren Zweckprogrammen, ist es kaum ein-

sichtig, weshalb man viel Aufwand um das Betreiben eines Rechtssystems und einer Justiz

treiben sollte. Diejenigen, die diesen Zusammenhang verwischen und einer aktivistischen,

sozialgestaltenden Rechtssprechung das Wort reden, werfen sich regelmäßig in die Pose eines

„ruchlosen“ Erkenntnisoptimisten36, der sowohl der Politik als auch der Justiz viel mehr Wis-

sen zutraut als man realistischerweise unterstellen kann.

Diese Überlegung führt Luhmann zu einer Kritik der in der rechtstheoretischen Litera-

tur nicht selten erhobenen Forderung nach einer folgenorientierten Rechtssprechung. „Juris-

ten, die sich für eine folgenorientierte Entscheidungspraxis einsetzen … leiden hier unter

schier unbegreiflichen Illusionen. Für die Entscheidungen zählen denn auch nicht die wirkli-

chen Folgen, sondern nur die, die der Jurist … bewirken oder verhindern möchte“ und erläu-

tert dies weiter mit einem Vergleich mit dem Geld, dessen Verwendung sich auch nicht pla-

nen lässt: „Wer zahlt, kann nicht voraussehen, was der Empfänger mit dem Geld anfängt, und

wenn dies unter besonderen Umständen doch faktisch oder auch rechtlich unter Kontrolle

bleibt, ist spätestens der nächste Empfänger unberechenbar. Auch bei den Konditionalpro-

grammen des Rechts reicht die Sichttiefe nicht viel weiter.“37 Tatsächlich käme der Richter

(und ebenso der Anwalt und Staatsanwalt) nicht durch den richterlichen Alltag, wenn Rechts-

36 Die Formel des „ruchlosen Optimismus“ stammt von Nietzsche und meint einen Optimismus, der von sich

wissen muss oder zumindest wissen könnte, dass er der Grundlage entbehrt. 37 Die Gesellschaft S. 391.

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sprechung nicht faktisch vorwiegend auf Normanwendung hinausliefe, also auf die Anwen-

dung von Konditionalprogrammen. Würde der Richter ernstlich die Folgen seiner Entschei-

dung erforschen, könnte er sein Pensum niemals bewältigen, und es verwundert nicht, dass

Richter, die es trotzdem versuchen, zum Ärgernis für ihre Kollegen werden, die dann die un-

erledigten Fälle übernehmen müssen.38 Trotzdem ist ein Selbstbildnis des Rechts, das diese

Tatsache verwischt, nicht harmlos. Es gefährdet die operative Schließung des Rechtssystems.

Anders als ein lebendes System, dessen Grenzen beispielsweise durch eine Haut markiert

sind, oder auch anders als manches (nicht jedes) Interaktionssystem, dessen Grenzen schlicht

durch Anwesenheit und Abwesenheit markiert werden (wer noch nie in dieser Vorlesung war,

ist offenkundig nicht Mitglied des hier stattfindenden Sozialsystems), können die meisten

Sozialsysteme ihre Grenzen nur über eine Reflexion ihrer Identität39 und über eine spezifische

Operationsweise bestimmen. In Ländern wie Deutschland funktioniert im Fall des Rechtssys-

tems letzteres, weil man im Rechtssystem in der Regel nur dann Erfolg hat, wenn man einen

Volljuristen an seiner Seite hat, und dieser Volljuristen sich durch ein langes Studium, das er

ernsthaft betreiben musste, um das Staatsexamen bestehen zu können usw. eine bestimmte

Denkweise angewöhnt hat.40 Sie ist ihm zur zweiten Natur geworden, die er kaum mehr able-

gen kann, auch wenn er selbst in seinem Bewusstsein mit dieser Rolle gewisse Probleme hat.

Wenn in einer solchen Situation irreführende Selbstbildnisse des Rechtssystems zirkulieren,

mag dies erträglich sein. Sehr viel riskanter ist dies in Ländern, in denen die Juraausbildung

dürftig und der Alltag der Rechtsberufe von zweifelhaften Geschäften (beispielsweise Kor-

ruptionsgeschäften) geprägt ist. Dort mag ein Selbstbildnis des Rechtssystems, das den Unter-

schied zur Politik verwischt, substantiell dazu beitragen, dass die operative Schließung des

Rechtssystems unterbleibt. Operative Schließung ist aber Voraussetzung für eine eigenständi-

ge Evolution. Mit Evolution ist bei Luhmann nicht einfach Wandel gemeint und es geht auch

nicht um den Unterschied zwischen langsamem und raschem Wandel. Als Evolution ist Wan-

del gemäß Luhmann nur dann qualifizierbar, wenn sich die drei Vorgänge Variation, Selekti-

on und Restabilisierung deutlich voneinander unterscheiden lassen. Vor allem der Begriff der

Restabilisierung gewinnt eigentlich erst durch die Einbeziehung der Systemtheorie in die Evo-

lutionstheorie klare Konturen, stellt sich doch die Frage, was restabilisiert wird, und das ist

38 Es mag einige kleinere Rechtsgebiete geben, bei denen es sich anders verhält. So mag ein Sozialrichter, der

einen Streit um die Gewährung von Sozialhilfe oder ALG 2 entscheidet, die Illusion hegen zu wissen, was der

„Hilfebedürftige“ braucht und sich als vermeintlicher Wohltäter gerieren. Das kommt vor. 39 oder um es luhmannisch zu sagen: über ein „re-entry“ der Unterscheidung zwischen System und Umwelt in

sich selbst auf der Seite des Systems. 40 Die hier vorgetragene Theorie setzt sich damit in einen diametralen Gegensatz zu der Aufsatzsammlung R.

Posner: Overcoming Law. Cambridge 1995 und insbesondere mit den zwei zentralen Aufsätzen 1 und 2.

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gemäß Luhmann jeweils ein System. Um die Systemstabilität geht es bei dieser Restabilisie-

rung.

4.4. Die Entwicklung der modernen Gesellschaft hat mitnichten zur Folge, dass alle Funkti-

onssysteme, auf deren operativer Verselbständigung sie beruht, in der Folgezeit ungefähr im

selben Maße anschwellen und sich gewissermaßen ein „faustischer“ Totalaufstieg der

Menschheit vollzieht. Tatsächlich entwickeln sie sich sehr unterschiedlich stark, manche

stagnieren, andere wachsen. In Europa - und nur dort - wurde die Entwicklung zur modernen

Gesellschaft durch wichtige Vorläufe im Recht (damals noch kein System, aber ein Thema

der Kommunikation!) vorbereitet. Es wuchs ab dem 12. Jahrhundert stark an und bewegte

sich in Richtung auf eine Ausdifferenzierung als operativ geschlossenes Funktionssystem.

Abgeschlossen wurde dieser Vorgang durch die US-Verfassung und ihre Auslegung durch

Chief Justice Marshall (die der in der englischen Debatte des 18. Jahrhunderts angelegten

Unterscheidung zwischen illegal und unconstitutional erstmals völlig klare Konturen verlieh).

Nach diesen Vorentwicklungen war es vor allem das Wirtschaftssystem, dessen außeror-

dentlich starke und relativ frühzeitige Expansion den Durchbruch zur modernen Gesellschaft

ermöglichte. In der Folge und „gleichsam auf Empfehlung“ des Wirtschaftssystems expan-

dierten dann auch Wissenschaft und Politik stark und bildeten Konkurrenzstrukturen wie eine

Parteikonkurrenz aus, die wirtschaftlicher Konkurrenz nachempfunden ist und die Leistungen

der wirtschaftlichen Konkurrenz in andere Bereiche zu übertragen versuchen. Diese Neuerung

war im frühen 19. Jahrhundert noch außerhalb des Bereichs des Vorstellbaren. Die Abgeord-

neten der damaligen Parlamente verstanden sich nicht in erster Linie als Angehöriger einer

bestimmten Partei. Die Parteien waren lockere Verbindungen, die noch nicht den Charakter

einer Organisation angenommen (und beispielsweise verbindliche Mitgliedschaften und Par-

teistatuten) hatten. Die Parteidemokratie im eigentlichen Sinne ist ein Kind des 20. Jahrhun-

derts. Die Führungsrolle der Wirtschaft bei der Herausbildung der modernen Gesellschaft hat

vor allem im 19. Jahrhundert vielfach zu dem Missverständnis geführt, die moderne Gesell-

schaft sei vor allem als Wirtschaftsordnung zu begreifen. Dieses Missverständnis liegt noch

dem Marxismus zugrunde. Diese Sicht war aber auch im 19. Jahrhundert nicht adäquat und

hat eher mit Schwierigkeiten im Begreifen der neuen Ordnung zu tun als mit deren Natur.

4.5. Zur heutigen Kritik an der funktional differenzierten Gesellschaft

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Der klassische Sozialismus ist so offenkundig gescheitert, dass er heute in den meisten Natio-

nen nur mehr von Randgruppen ernsthaft vertreten wird. Was hingegen fortlebt, ist ein ausge-

prägtes Unverständnis für die Tatsache der funktionalen Differenzierung und der damit ein-

hergehende Versuch, Formeln zu finden, die die Leistungen unterschiedlicher Funktionssys-

teme übergreifen und letztere mit Hilfe dieser Formeln gewissermaßen wieder zu einem Gan-

zen zu vereinigen, auf ein gemeinsames Ziel hinzulenken. Eine solche Formel, die von Hum-

boldt (einem Liberalen!41) herkommt und bis heute eine Rolle spielt, ist die des Kulturstaates.

Sie erhebt den Anspruch, die zwei Funktionssysteme Politik und Erziehungssystem zu einem

großen Ganzen zusammenzuschließen. Die praktische Folge ist ein ständiges Hineinregieren

der Politik in das Erziehungssystem, das seine Funktionstüchtigkeit als Erziehungssystem42

deutlich reduziert und dabei die politischen Ziele, in dessen Namen diese Eingriffe erfolgen,

doch fortwährend verfehlt. Diese Formel diente historisch zunächst der Abgrenzung gegen-

über dem revolutionären Frankreich (und seiner vermeintlichen Kulturlosigkeit, für die man

als Beleg die Entweihung der Kirchen, den Albernheiten der Revolutionsfeste, Robespierres

Bemühungen als „Religionsstifter“ u. ä. heranziehen mochte). Ein anderer Klammerbegriff,

der ebenfalls im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts geprägt wurde, war der der staatlich

geordneten Wirtschaft43. Er suggerierte die Zusammenfügung von Politik und Wirtschaft zu

einem Ganzen. Die Beliebtheit der Begriffe der Nationalökonomie und Volkswirtschaftslehre

in Deutschland (im Unterschied zur englischen Politischen Ökonomie) verdankt sich ähnli-

chen Vorstellungen. Die Abgrenzung erfolgte in diesem Fall nicht gegen Frankreich, sondern

gegen den englischen Liberalismus. „Was in der Polemik ganz gut klang, erwies sich in der

Realität dann aber doch als akademische Fehlspekulation“.44 Heute sollte es eigentlich offen-

kundig sein, dass es in der Realität weder eine nationale Ökonomie gibt noch die Wirtschaft

eines bestimmten Volkes, sondern nur die Weltwirtschaft, und dass der Versuch irgendeines

Nationalstaates, und seien es die USA als der bei weitem größte Nationalstaat, die Weltwirt-

schaft zu ordnen, wenig erfolgversprechend ist. Diejenigen, die dennoch an der Vorstellung

einer staatlich geordneten Wirtschaft festhalten wollen, rufen deswegen nach einer Weltregie-

rung oder schwärmen für Großgebilde wie die EU. Neueren Datums ist die Vorstellung der

ökologischen Wirtschaft, bei der die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Ökologie, nämlich

41 Damit hat er allerdings einen Salto mortale vollzog! Zunächst hatte er die Meinung vertreten, das Schul- und

Hochschulwesen solle vorwiegend von nichtstaatlichen Subjekten getragen werden. Erst unter dem Eindruck

der Niederlage gegen Napoleon änderte er seine Meinung und zwar deswegen, weil er glaubte, dass Deutschland

sich ohne starke staatliche Bildungsbemühungen nicht gegenüber Frankreich würde behaupten können. 42 Erziehungssystem und nicht etwa Bildungssystem – Bildung deutet Luhmann als eine simplifizierende Selbst-

beschreibung des Erziehungssystems und als eine Formel, die an Hypertrophie und Überanstrengung krankt und

dies in alltäglichen Niederlagen zu spüren bekommt. 43 List sprach vom „Nationalen System der Politischen Ökonomie“. 44 Luhmann: Soziale Systeme S. 629.

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das Sich-häuslich-einrichten-in-der-Welt, als Wunschbild mitschwingt, was allerdings nur

selten explizit gemacht wird, weil dann der illusionäre Charakter des Wunsches für viele of-

fenkundig würde. Auch hier richtet man an die Politik die Erwartung, den Wunsch Wirklich-

keit werden zu lassen. Luhmann vermutet, dass die moderne Gesellschaft besser mit sich

selbst zu Recht käme, wenn sie dem Faktum der funktionalen Differenzierung und der Unver-

fügbarkeit einer übergreifenden Formel ins Auge sähe. Dann könnte sie sich den Konsequen-

zen aus dieser Lage eher stellen.45

45 An diesen luhmannschen Gedanken anknüpfend könnte man die Aufnahme sogenannter Staatsziele in Verfas-

sungstexte (wie im Fall der sächsischen Verfassung geschehen) kritisch diskutieren, obwohl diese Staatsziele

nach der herrschenden Meinung der Juristen keine rechtliche Bedeutung haben (aber warum stehen sie dann

überhaupt in einem Rechtstext? Das lässt sich nicht ohne weiteres begreifen.).