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Seminar: Internationale Streitbeilegung Prof. Dr. R.G. Wintersemester 2010 / 2011 Konflikte und Kooperation zwischen internationalen Gerichten 17.01.2011

Konflikte Und Kooperation Zwischen Internationalen Gerichten

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Diese Arbeit ist während meines Studiums der Rechtswissenschaften entstanden. Bewertung: 1,3

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Seminar: Internationale Streitbeilegung

Prof. Dr. R.G.

Wintersemester 2010 / 2011

Konflikte und Kooperation zwischen internationalen Gerichten

17.01.2011

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Inhaltsübersicht

Teil 1: Einleitung 1

A: Internationale Gerichte 1

B: Proliferation 2

I. Gewinn für die Völkerrechtspraxis 2

II. Kritik und entstehende Probleme für die Rechtssicherheit 3

C: Fragmentierung bzw. Diversifizierung des Völkerrechts 4

Konflikte internationaler Gerichte

Teil 2: Zuständigkeitskonflikte 5

A: Arten von Zuständigkeiten 5

I. Ausschließliche Zuständigkeiten 5

II. Nicht-ausschließliche Zuständigkeiten 6

B: Vorliegen von Zuständigkeitskonflikten 6

I. Parteiidentität 6

II. Vertragskonflikte 6

C: Formen von Zuständigkeitskonflikten 6

I. Doppelte Rechtshängigkeit 7

II. Konnexe Verfahren 7

D: Lösung von Zuständigkeitskonflikten 7

I. Vertragsklauseln 8

II. Derogationsregeln 8

1. lex specialis derogat legi generali 9

2. lex prior Regel 9

3. lex posterior derogat legi priori; Art. 30 Abs. 3 WVK 9

III. Allgemeine Rechtsgrundsätze 10

1. Res judicata 10

2. Lis pendens 10

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Teil 3: Auslegungskonflikte 11

A: Voraussetzungen 12

B: Fragmentierung als Grund von Auslegungskonflikten 12

C: Konfliktsituation oder legitime Rechtsentwicklung? 12

D: Lösungsansätze für Auslegungskonflikte 13

I. Hierarchisierung des internationalen Gerichtssystems 13

II. Vorabentscheidungsverfahren 14

III. Gutachtenanfragen 15

IV. Stare decisis 16

Kooperation internationaler Gerichte

Teil 4: Die Begrifflichkeit der Kooperation 16

A: Sinn und Zweck von Kooperation im Allgemeinen 16

B: Völkerrechtliche Kooperation 17

Teil 5: Kooperationsfähigkeit und Kooperationspflicht internationaler Gerichte 17

A: Kooperationsfähigkeit von internationalen Gerichten 17

B: Kooperationspflicht von internationalen Gerichten 19

Teil 6: Kooperationspraxis internationaler Gerichte 21

A: Kommunikation 21

B: Rezeptionspraxis 22

I. Rezeption durch den IGH 22

II. Rezeption durch den ISGH 23

III. Rezeption durch andere Gerichte 23

C: Ursachen von Kooperation internationaler Gerichte 24

I. Autoritätswahrung und -erweiterung 24

II. Weiterentwicklung und Festigung der Völkerrechtsordnung 25

III. Aufnahme des Effizienzgedankens 25

IV. Reziprozität 26

V. Richterliche Sozialisierung 27

Teil 7: Zusammenfassende Betrachtungen 27

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Abkürzungsverzeichnis

AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

AGMR Amerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte

AJICL African Journal of International and Comparative Law

AJIL American Journal of International Law

ASIL American Society of International Law

AVR Archiv des Völkerrechts

Colum. J. Transnat'l L. Columbia Journal of Transnational Law

EGV Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft

EPIL Encyclopedia of Public International Law

EuG Europäisches Gericht erster Instanz

EuGH Europäischer Gerichtshof  

FS Festschrift

GAOR United Nations General Assembly Official Records

GYIL German Yearbook of International Law

ICJ International Court of Justice

ICLQ International and Comparative Law Quarterly

ICTY International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia

IGH Internationaler Gerichtshof  ILC International Law Commission

ILM International Legal Materials

ILR International Law Reports

ISGH Internationaler Seegerichtshof  

ITLOS International Tribunal for the Law of the Sea

JZ Juristenzeitung

Max Planck UNYB Max Planck United Nations Yearbook 

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 NGO Non-Governmental Organization

 NJW Neue Juristische Wochenschrift

 N.Y.U.J. Int'l L. P. New York University Journal of International Law and Politics

PCIJ Permanent Court of International JusticePICT Project on International Courts and Tribunals

R.I.A.A. Reports of International Arbitrary Awards

RdC Recuil des Cours

SEuGH Satzung des Europäischen Gerichtshofes

SRÜ SeerechtsübereinkommenStIGH Ständiger Internationaler Gerichtshof  

UN United Nations

UN-Charta Charta der Vereinten Nationen

WÜD Wiener Diplomatenrechtsübereinkommen

WVK Wiener Vertragsrechtskonvention

ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

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Teil 1: Einleitung

„Some decades ago the slogan was ʻMake love, not warʼ. It could now be ʻGo to court, not to warʼ.”1

 Nachdem zu Beginn der 1990er Jahre eine wichtige Grundlage für ein friedliches Zusammenleben

der Völker geschaffen worden war, wurde es erneut zu einer zentralen Notwendigkeit, eben diese

durch Schaffung unabhängiger, internationaler Gremien zu bewahren und zu schützen. Die

Souveränitätsbestrebungen der Staaten wichen nach und nach einer engeren Zusammenarbeit und

machten es daher auch notwendig, dass allgemeingültige Regelungen erarbeitet wurden, welche als

Basis dieser neuen Ordnung dienen sollten. Zur Durchsetzung war es wiederum notwendig, dass

neue Organe geschaffen wurden, um die Flut der neuen Aufgaben bewältigen zu können. Das führte

zu einem rasanten Anstieg der Zahl internationaler Gerichte. Im Jahr 2004 wurden 22 internationale

Gerichte2 gezählt, dessen Zuständigkeitsbereiche sich teils überschnitten und dies auch heute nochtun. Zwar ist es so, dass fast sämtlichen internationalen Gerichten klar ersichtliche

Zuständigkeitsbereiche zugeordnet sind. Da sich diese aber wiederum auf völkerrechtliche

Übereinkommen beziehen, welche sich in ihren Regelungsbereichen oftmals überschneiden, kann

es bei einigen Konstellationen zu Konflikten der Streitbeilegungsorgane kommen. Anders als in

nationalen Rechtsordnungen besteht zwischen internationalen Gerichten kein

Subordinationsverhältnis, welches der Einheitlichkeit der Rechtsordnung Sorge tragen würde.

Vielmehr sind sämtliche internationale Gerichte autonome Einrichtungen, wobei jedes Gericht für sich dazu befugt ist, rechtsverbindliche Urteile zu fällen. Kommt es nun zu unterschiedlichen

Urteilen zweier Gerichte in dem gleichen oder zwei ähnlich gelagerten Verfahren, so ist das weder 

wünschenswert für das Vertrauen in die internationale Gerichtsbarkeit, noch für die allgemeine

Rechtssicherheit im Völkerrecht.

A: Internationale Gerichte

Internationale Gerichte sind Rechtsprechungsorgane, welchen sich verschiedene Staaten bzw.internationale Organisationen durch Ratifizierung von Verträgen oder durch spezielle

Unterwerfungserklärungen untergeordnet und sich somit verpflichtet haben, Urteile als verbindliche

Entscheidungen anzuerkennen. Ein internationales Gericht muss ein auf Dauer angelegtes Organ

sein, womit Gremien wie Ad-hoc Gerichtshöfe nicht unter diesen Begriff zu zählen sind. Zu der 

Voraussetzung der Verbindlichkeit der Entscheidungen tritt außerdem die Prämisse der 

Endgültigkeit der Entscheidungen. Schlussendlich ist eine gewisse Unabhängigkeit von Nöten, um

1 Guillaume, 44 ICLQ (1995), S. 848 (860)2 Gezählt durch das Project on International Courts and Tribunals (PICT), vgl. http://www.pict-pcti.org

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die gerichtliche Arbeit ordnungsgemäß wahrnehmen zu können. Gerichtsähnlich anmutende

Organe, welche diese Voraussetzungen nicht erfüllen, werden i.d.R. als nichtgerichtliche oder 

sonstige Streitbeilegungsorgane bezeichnet.

Thema der folgenden Arbeit sind ausschließlich solche internationalen Gerichte. Andere

Streitbeilegungsorgane sind nicht Teil dieser Arbeit und werden höchstens zur Veranschaulichungoder zum Vergleich herangezogen.

B: Proliferation

Vor allem seit 1990 begann ein Prozess, der bis in die heutige Zeit anhält und in der Schaffung des

Verwaltungsgerichts EUGöD im Jahre 2004/2005, des Carribbean Court of Justice im Jahre 2005

und des menschenrechtlichen Gerichts African Court on Human and Peoples' Rights im Jahre

2006/2007 gipfelte. Somit ist die Zahl internationaler Gerichte seit der Zählung des PICT aus demJahre 2004 um mutmaßlich weitere zwei, auf 24 internationale Gerichte gestiegen. Das EUGöD, in

seiner Art als internationales Verwaltungsgericht, ist nicht als internationales Gericht, sondern als

Streitbeilegungsorgan sui generis anzusehen3. Diese Entwicklung, die als Proliferation

internationaler Streitbeilegungsorgane bezeichnet wird, ist einer der maßgeblichsten Veränderungen

des Völkerrechts der letzten zwei Jahrzehnte und belegt zugleich, welch starke grundsätzliche

Akzeptanz die internationale Gerichtsbarkeit über diesen Zeitraum erfahren hat.

I. Gewinn für die Völkerrechtspraxis

Die Proliferation internationaler Streibeilegungsorgane ist originär „nur“ eine notwendige Reaktion

auf die fortschreitende Entwicklung des Völkerrechts. Sie ist damit ein Indikator für die positive

Weiterentwicklung des klassischen Völkerrechts und somit ein klarer Gewinn für die internationale

Staatengemeinschaft. Phillip Allot etwa bezeichnete das koordinative Völkerrecht, welches das

Völkerrecht erster Stunde darstellt4, als „[...]the minimal law necessary to enable state-societies to

act as closed systems internally and to act as territory-owners in relation to each other.“5. Von dieser 

Definition ist im Zeitalter des kommunitären Völkerrechts6 abzuweichen. Aus der 

Völkerrechtsordnung ist mehr geworden als nur die Gesamtheit der mindestens notwendigen

Rechtsgrundsätze, um als geschlossenes System funktionieren zu können. Nettesheim spricht gar 

von „[...]ersten Erscheinungen überstaatlich-konstituierter Weltherrschaft.“7.

Im Allgemeinen wird die Proliferation internationaler Gerichte als positive Entwicklung begrüßt.

3 Nunner, Die Kooperation internationaler Gerichte (2009), S. 354 Vgl. etwa Nettesheim, JZ 2002, S. 569 (570)5 Allott, Eunomia: New Order for a New World, 1990, S. 324

6 Vgl. Nettesheim, o. Fn. 4, S. 569 (571)7 Nettesheim, o. Fn. 6

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Vor allem, weil Gerichte in der Vergangenheit teils nicht mehr mit dem immensen Arbeitsaufwand

zurecht kamen, stellt sie eine starke Erleichterung des Arbeitsablaufes dar. War der IGH zur Mitte

des 20. Jahrhunderts noch der einzige internationale Gerichtshof, teilen sich die Kompetenzen nun

auf mutmaßlich 24 internationale Gremien auf.8 Bei einer solchen Anzahl von Entscheidungsträgern

versteht es sich von selbst, dass eine enorme Entlastung des IGH stattgefunden haben muss. Genaudiese Entlastung lässt sich natürlich auch auf alle folgend geschaffenen Gerichte übertragen. Des

Weiteren wurde gewährleistet, dass auch die „neuen“ Akteure des Völkerrechts, wie etwa

Individuen oder NGOs, Zugang zu internationalen Gerichten erhielten und ihre Rechte direkt

durchsetzten konnten. Wichtiges Beispiel ist hier etwa der EGMR.

II. Kritik und entstehende Probleme für die Rechtssicherheit

Durch die Vielzahl von internationalen Gerichten ist es praktisch unmöglich,Zuständigkeitskonflikte zu vermeiden. Vor allem auch die Gründung des ISGH führte zu starker 

Kritik 9, da das Seerecht, als wichtiger Bestandteil des Völkerrechts, nun von eben diesem

abgetrennt und dadurch vom IGH als Hauptrechtsprechungsorgan abgelenkt wurde10. Hinzu kommt,

dass es einem Staat nun freisteht, bei einer seerechtlichen Streitigkeit zwischen drei

Entscheidungsorganen zu wählen, nämlich dem IGH, dem ISGH oder einem Schiedsgericht11, was

die nicht erwünschte Möglichkeit des forum shopping eröffnet. Wie in diesem Beispiel kann es

auch bei zahlreichen anderen völkerrechtlichen Übereinkommen zu Überschneidungen der 

Zuständigkeit kommen, was wiederum zur Gefahr der doppelten Rechtshängigkeit oder dem

Auftreten konnexer Verfahren führen kann12. Resultat daraus wäre, dass es entweder zu einer 

unterschiedlichen Auslegung derselben Rechtsnorm oder zwei sich widersprechenden Urteilen

kommen könnte, was die Glaubwürdigkeit des Völkerrechts in Frage stellen würde. Da die Staaten

sich freiwillig, auf der Stufe der Koordination und Kooperation miteinander verständigen, könnte

eben dieser Glaubwürdigkeitsverlust einige Staaten dazu bewegen, das Problem der mangelnden

Durchsetzbarkeit missbräuchlich zu verwenden, um geltendes Völkerrecht zu brechen.13 Die

Auswirkungen auf das internationale Ansehen und die Akzeptanz des Völkerrechts wären nicht

abzusehen. Lock etwa warnt in einem solchen Falle vor einer drohenden Desintegration des

8 Siehe oben Teil 1, B9 Oda, ICLQ 44 (1996), S. 863 (864): “The creation of a court of judicature in parallel with the International Court of 

Justice, which has been in existence for many years as the principle judicial organ of the United Nations, will proveto have been a great mistake.”

10 So Lock, Das Verhältnis zwischen dem EuGH und internationalen Gerichten (2010), S. 18; Guillaume, 44 ICLQ(1995), S. 848 (855); Oda, RdC 244 (1993), S. 144 ff.

11 Art. 287 Abs. 1 Seerechtsübereinkommen

12 Vgl. unten Teil 2 C13 Spelliscy, 40 Colum. J. Transnat'l L. (2001) S. 153

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Völkerrechts.14

C: Fragmentierung bzw. Diversifizierung des Völkerrechts

Im Allgemeinen versteht man unter einer Fragmentierung eine Aufgliederung einer Sache in

mehrere kleinere Teile. In der Regel ist dies ein negativ zu wertender Prozess, der eine Sache oder einen Prozess zerstört bzw. erschwert. Spricht man im Völkerrecht von Fragmentierung, so definiert

man diese als eine Aufspaltung in Teilrechtsordnungen, welche meist mit Widersprüchen zwischen

diesen einhergeht.15 Fragmentierung ist eine direkte Folge der Proliferation des Völkerrechts. Durch

die ständig wachsende Anzahl an internationalen Gerichten besteht die Gefahr, dass sich mehrere

Subrechtssysteme herausbilden, die sich immer weniger an zentralen, etablierten Instanzen, wie

etwa dem IGH, orientieren, sondern sich bei Entscheidungen immer mehr nur auf ihre direkten

„Nachbarn“ berufen und sich an deren Rechtsetzung orientieren. Folge daraus könnte sein, dassGerichte, welche für die Völkerrechtsordnung von großer Bedeutung sind, immer mehr an Einfluss

verlieren. Da diese Gerichte, allen voran der IGH, einen solch enormen Erfahrungsschatz besitzen,

wäre es eine äußerst negative Entwicklung für das Völkerrecht und die von internationalen

Gerichten gelieferte Rechtsqualität. Ein Vertrauensverlust der Staaten in die internationale

Gerichtsbarkeit wäre sehr wahrscheinlich, wodurch immer weniger Staaten den Weg über die

internationalen Gerichten gehen würden. Folge daraus wäre die Entwicklung, die Lock so treffend

als Desintegration des Völkerrechts bezeichnet.16

Zwischen 2000 und 2006 beschäftigte sich die ILC mit der Fragmentierung des Völkerrechts. 17 

Dem wird besondere Bedeutung beigemessen, da sich die ILC normalerweise nicht mit

vergleichbaren Themen auseinandersetzt.18 Der ursprüngliche Titel “Risks ensuing from

 fragmentation of international law”19 wurde, aufgrund starker Kritik von vielen Seiten20, bereits

zwei Jahre nach Aufnahme der Arbeit in “ Fragmentation of international law: difficulties arising 

diversification and expansion of international law” geändert.21 Die Anwendung positiverer 

Begrifflichkeiten deutet auf einen Wandel, auch hin zur positiven Betrachtung der Fragmentierung.

Immerhin ist die Fragmentierung im Völkerrecht auch ein Indikator für eine Spezialisierung, die es

14 Lock, o. Fn. 1015 Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts, AVR 2008 (46), S. 1 ff. (3)16 Siehe Oben Teil 1, B II17 Vgl. GAOR, Report of the ILC, 61st session (2006), Supplement No.10 (A/61/10), Nr. 233-240, Nr. 241-25118 GAOR, Report of the ILC, 55th session (2000), Supplement No. 10 (A/55/10), Nr.731: “The commission took note

that the last topic, ʻRisks ensuing from fragmentation of international lawʼ, was different from other topics whichthe Commission had so far considered.”

19 Hafner, Risks Ensuing from Fragmentation of International Law, GAOR 55th session, Annex to Supplement No.10(A/55/10) (2000), S.321, 321-339

20 Nunner, o. Fn. 3, S. 5: Kritik übte unter Anderen der Vertreter Finnlands Koskenniemi im Namen der Nordischen

Länder. Er meinte der Titel sei zu negativ.21 Vgl. GAOR, Report of the ILC, 57th session (2002), Supplement No.10 (A/57/10), Nr. 494, 498, 500, 511

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möglich macht, dass einer immer größer werdende Zahl von Staaten, Organisationen und

Individuen die Möglichkeit gegeben wird, sich in verschiedensten Streitigkeiten an ein

internationales Gericht zu wenden. Zeitgleich können diese Verfahren genauer und schneller von

den zu Verfügung stehenden Gerichten bearbeitet werden, sodass ein höchst effektives und

kompetentes Völkerrechtssystem entsteht. Andererseits steigt aber auch die Wahrscheinlichkeit,dass es zu Konflikten zwischen den Gerichten kommt, da durch die fehlende Hierarchisierung im

Völkerrecht keine Instanz an der Spitze des Rechtssystems steht. Daraus folgt, dass die

internationalen Gerichte dazu angehalten sind, horizontal miteinander in Kontakt zu treten und

durch freiwillige Kooperation etwaige Streitigkeiten aus dem Weg zu räumen.

Konflikte internationaler Gerichte

Wie beschrieben, kann es in zahlreichen Konstellationen zu Konflikten zwischen internationalenGerichten kommen. Grundsätzlich muss dabei zwischen Auslegungs- und Zuständigkeitskonflikten

unterschieden werden.

Teil 2: Zuständigkeitskonflikte

Voraussetzung für das Vorliegen eines Zuständigkeitskonfliktes ist das Bestehen einer 

Zuständigkeitskonkurrenz. Eine solche besteht dann, wenn für denselben strittigen Sachverhalt zwei

verschiedene Gerichte zuständig sind und auch angerufen werden. Da internationale Gerichte inkeinem Subordinationsverhältnis stehen, kommt es zu einer direkten Konkurrenz, aus der ein

Konflikt resultieren kann.

A: Arten von Zuständigkeiten

In diesem Punkt ähneln sich Völkerrecht und nationales Recht. In beiden unterscheidet man

nämlich zwischen ausschließlichen Zuständigkeiten und solchen, die nicht-ausschließlich sind.

I. Ausschließliche Zuständigkeiten

Liegen Bestimmungen vor, welche festlegen, dass ein bestimmtes Gericht zuständig ist, so handelt

es sich um eine ausschließliche Zuständigkeit. Vertragsparteien eines Übereinkommens haben dann

keine Wahlmöglichkeiten bzgl. des zu entscheidenden Gerichtes, sodass die Gefahr des forum

shopping nicht entsteht. Treffendes Beispiel für eine ausschließliche Zuständigkeit im

internationalen Recht ist Art. 344 AEUV (ex Art. 292 EGV). Bezugnehmend auf Art. 259 AEUV

(ex Art. 227 EGV) ergibt sich daraus eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten der Europäischen

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Union, bei Streitigkeiten ausschließlich auf die Hilfe von Unionsgerichten zurückzugreifen.

II. Nicht-ausschließliche Zuständigkeiten

Im Gegenteil zu den ausschließlichen Zuständigkeiten, besteht bei nicht-ausschließlichen

Zuständigkeiten ein umfassendes Wahlrecht bzgl. des zu entscheidenden Gerichtes seitens der 

Vertragsparteien. Festgelegt ist dies etwa in Art. 95 UN-Charta, welcher besagt, dass nichtausgeschlossen wird, dass „[...]die Mitglieder der Vereinten Nationen[…] ihre[r] Streitigkeiten

anderen Gerichten zuweisen.“22

B: Vorliegen von Zuständigkeitskonflikten

Ob überhaupt Zuständigleitskonflikte vorliegen, lässt sich anhand bestimmter Kriterien feststellen.

Lock etwa prüft das Vorhandensein von Zuständigkeitskonflikten mit Hilfe von folgenden

Voraussetzungen.23

I. Parteiidentität

Grundlegende Voraussetzung für das Vorliegen eines Zuständigleitskonfliktes ist eine

Parteiidentität. Es ist also erforderlich, dass es sich bei den mutmaßlich in Konflikt stehenden

Verfahren um dieselben Parteien handelt.

II. Vertragskonflikte

Die Basis für die Zuständigkeit eines internationalen Gerichtes ist immer ein völkerrechtliches

Übereinkommen. Daraus schlussfolgert etwa Lock, dass es sich bei Zuständigkeitskonflikten also

eigentlich um Vertragskonflikte handeln muss.24  Zuständigkeitskonflikte entstünden demnach vor 

allem dann, wenn eine Partei mehrere Verträge des gleichen oder eines ähnlichen Sachbereiches

ratifiziert hat. Somit entstehe nämlich die Möglichkeit, zwischen verschiedenen, jeweils in den

unterschiedlichen Verträgen festgelegten Gerichten zu wählen (forum shopping). Die Parteien

müssen also unterschiedliche Übereinkommen ratifiziert haben, welche ähnliche Sachbereiche

 betreffen, wodurch sie die Möglichkeit haben, zwischen mehreren Gerichten zu wählen.

C: Formen von Zuständigkeitskonflikten

Wie im internationalen Zivilverfahrensrecht, existieren auch im Völkerrecht unterschiedliche

Formen von Zuständigkeitskonflikten. Je nach Intensität des auftretenden Zusammenhangs

zwischen zwei Verfahren, kann zwischen doppelter Rechtshängigkeit und konnexen Verfahren

22 Art. 95 UN-Charta

23 Lock, o. Fn. 10, S. 5024 Lock, o. Fn. 23

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differenziert werden.

I. Doppelte Rechtshängigkeit

Doppelte Rechtshängigkeit liegt vor, wenn in einer Streitigkeit mindestens zwei Gerichte zuständig

sind und diese von den Streitparteien parallel angerufen werden. Dabei muss sowohl Identität beiden Streitparteien, als auch bei dem Streitgegenstand bestehen. Anders ausgedrückt handelt es sich

um „[...]dieselbe Streitigkeit von denselben Streitparteien im Rahmen verschiedener 

Streitbeilegungsverfahren[...]“.25 Bei der doppelten Rechtshängigkeit handelt es sich somit um die

intensivere und konfliktreichere Form der Zuständigkeitskonflikte. Es besteht ein großes

Gefahrenpotential bezüglich auftretender und voneinander abweichender Urteile zweier Gerichte.

Das Auftreten solcher divergierender Urteile im gleichen Streitfall gilt es im Völkerrecht zu

vermeiden, um ein ordnungsgemäßes Funktionieren der Rechtsordnung zu gewährleisten. Dafür wurden verschiedenste Lösungsmechanismen entwickelt, welche noch näher erörtert werden.26

II. Konnexe Verfahren

Die Gruppe konnexer Verfahren bildet den weitaus größeren Anteil bei Fällen paralleler Verfahren.27

Bei ihnen handelt es sich um der doppelten Rechtshängigkeit ähnliche Konflikte, allerdings ist die

Intensität des daraus resultierenden Konfliktes stark abgeschwächt. Es wird speziell eine weit

weniger starker Zusammenhang zwischen den anhängigen Verfahren vorausgesetzt. So ist weder 

eine in der doppelten Rechtshängigkeit vorausgesetzte Parteiidentität, noch eine Identität des

Streitgegenstandes notwendig. Vielmehr muss es sich lediglich um in der Sache ähnliche

Streitgegenstände handeln, die dieselben Rechtsfragen aufwerfen. Auch bei unterschiedlichen

Rechtsnormen aus verschiedenen Verträgen kann dass Resultat die gleiche aufgeworfene

Rechtsfrage sein. Dazu kommt es, wenn die beiden Normen den gleichen Regelungszweck 

verfolgen und sich somit inhaltlich decken oder zumindest in einem solchen inhaltlichen

Zusammenhang stehen, dass die Auslegung der einen Norm einer Auslegung der jeweils anderen

gleichkommt.

D: Lösung von Zuständigkeitskonflikten

Eine weitere Voraussetzung für das Bestehen eines Zuständigkeitskonfliktes ist, dass die

Zuständigkeitskonkurrenz nicht bereits im Vorfeld durch Lösungsmechanismen aufgelöst wird. Ist

das nämlich der Fall, wird das Stadium der Konkurrenz niemals überschritten und ein Konflikt kann

25 Finke, Die Parallelität internationaler Streitbeilegungsmechanismen (2004), S. 288

26 Dazu unten Teil 2, D27 So Finke, o. Fn. 25, S. 294

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somit ausgeschlossen werden. Bevor jedoch die konventionellen Lösungsmechanismen Anwendung

finden können, ist eine Auslegung der in Konflikt stehenden Vertragsbestimmungen notwendig. Die

Auslegung bestimmt sich dabei nach den einschlägigen Auslegungsregeln der Art. 31 ff. WVK.

Führt die Auslegung nicht zu einem vernünftigen Ergebnis, sind folgende Lösungsmechanismen

von zentraler Bedeutung.28

I. Vertragsklauseln

Die einfachste Möglichkeit ist es, zunächst im Ursprung der entstandenen Konkurrenz nach einer 

möglichen Lösung des Problems zu suchen. Dabei wird man recht schnell auf die Erkenntnis

stoßen, dass einige internationale Übereinkommen Vertragsklauseln, auch als vertragliche

Kollisionsklauseln bezeichnet, beinhalten, welche sich selbst der entstandenen Probleme annehmen.

Mithilfe solcher Vertragsklauseln sollen regelmäßig Zuständigkeitskonflikte wirksam verhindertwerden, indem sie einem bestimmten Gericht den Vorrang einräumen oder aber bereits das

Zustandekommen paralleler Verfahren verhindern.

Grundsätzlich lässt sich zwischen zwei Konstellationen unterscheiden. Zum einen existieren

Verträge, die sich selbst einen Vorrang gegenüber anderen Verträgen einräumen, wie etwa die

Charta der Vereinen Nationen in ihrem Art. 103, welcher einen Vorrang gegenüber allen

internationalen Übereinkünften statuiert oder auch das Seerechtsübereinkommen in seinem Art. 311

Abs. 1, welches aber nur seinen Vorrang zum Genfer Übereinkommen vom 29. April 1958 über das

Seerecht festlegt. Zum anderen gibt es Verträge, welche sich selbst anderen Verträgen unterordnen,

um Konflikte zu vermeiden, wie etwa der Vertrag der Europäischen Gemeinschaft in seinem Art.

305 Abs. 2.

Allerdings wird kritisiert, dass das Vorhandensein solcher Vertragsklauseln zunehmend die

Anwendung klassischer Derogationsregeln verhindere.29

II. Derogationsregeln

Können mit der Anwendung von Vertragsauslegung sowie Vertragsklauseln keine Problemlösungen

erzielt werden, so kann als nächster Schritt auf Derogationsregeln zurückgegriffen werden. Teils in

die WVK übernommen, teils als Gewohnheitsrecht geltend, existieren drei solcher Regeln, nämlich

der lex specialis, der lex prior und der lex posterior Grundsatz.

28 Auf den Lösungsmechanismus der Hierarchie von Normen im Völkerrecht, welchen Lock zusätzlich anführt,möchte ich hier nicht näher eingehen, da dieser im Völkerrecht relativ schwach ausgeprägt ist und damit nicht

ausreichend Lösungsansätze für die Konfliktverhütung bietet. Näher hierzu: Lock, o. Fn. 10, S. 59 ff.29 So etwa Lock, o. Fn. 10, S. 68; Röben, 62 ZaöRV (2002), S. 61 (67 f.)

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1. lex specialis derogat legi generali

 Nach der lex specialis-Regel, soll die speziellere Norm die allgemeine Norm verdrängen. In der 

Praxis ergeben sich dabei allerdings regelmäßig Probleme, da nicht immer festzustellen ist, welche

 Norm die speziellere ist. Ausnahmen sind dabei solche Fälle, bei denen eindeutig eine Abweichung

von völkerrechtlicher Gewohnheit zu verzeichnen ist, wie etwa dem „self-contained Regime“30

desWÜD. Eine weitere Möglichkeit bieten inter-se Abkommen welche als spezieller gegenüber 

Verträgen angesehen werden.31 Letztlich ist zu sagen, dass die Anwendung des lex specialis

Grundsatzes in der Praxis oftmals eher neue Probleme aufwirft, als dieselben zu lösen. Dabei ist

allerdings zu betonen, dass dieser Fakt nicht per se zur Nichtberücksichtigung führt, sondern dieser 

Grundsatz als Teil des Gewohnheitsrechts unbedingt zu berücksichtigen ist.32

2. lex prior RegelDer Grundsatz der lex prior besagt, dass der frühere Vertrag regelmäßig Vorrang vor dem späteren

haben soll. Wurde dieser Grundsatz im Jahre 1935 noch in Art. 22 der Draft Convention on the Law

of Treaties aufgenommen, kommt ihm heutzutage nicht mehr sehr viel Bedeutung zu.

3. lex posterior derogat legi priori

Der lex posterior Grundsatz ist wohl der bedeutendste der drei Derogationsregeln, als einzige

niedergeschrieben in Art. 30 Abs. 3 WVK. Der lex posterior Grundsatz nennt als Voraussetzung für 

eine Anwendung des früheren Vertrages trotz eines neueren ausdrücklich eine Vereinbarkeit des

früheren Vertrages mit dem späteren. Kommt es also zu einer inhaltlichen Konkurrenz zweier 

aufeinanderfolgender Verträge über denselben Gegenstand, kann diese eindeutig mit der hier 

aufgeführten Derogationsregel gelöst werden. Dabei wird kein bewusstes Handeln der beteiligten

Parteien vorausgesetzt. Im Gegensatz zu Art 59 WVK, dessen Rechtsfolge es ist, dass der komplette

vorherige Vertrag erlischt, wird im Falle des Art. 30 WVK lediglich die kollidierende Norm des

älteren Vertrages ungültig. Davon unangetastet bleiben im letzteren Falle beide Verträge parallel

zueinander bestehen. Eine Folge daraus ist, dass im Falle eines Erlöschens des späteren Vertrages

die früher kollidierende Norm des früheren Vertrages wieder „reaktiviert“ werden und somit keine

Lücke entstehen kann. Genau dies ist bei der Anwendung der Beendigung bzw. Suspendierung

eines Vertrages nach Art. 59 WVK eben nicht möglich. Ein beendeter bzw. suspendierter Vertrag ist

erloschen und kann nicht wieder aufleben.

„Gehören nicht alle Vertragsparteien des früheren Vertrages zu den Vertragsparteien des späteren,

30 Dazu siehe unten Teil 5, A

31 Lock, o. Fn. 10, S. 8632 Vgl. auch Präambel zur WVK 

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[...]“33 so können Vereinbarungen derer, welche Parteien beider Verträge sind, keine Anwendung auf 

 jene finden, die nur Vertragspartei eines Vertrages sind.34 Somit ist also auch in einem solchen Falle

eine Absicherung getroffen worden, die negative Auswirkungen des hier erläuterten Grundsatzes

ausschließt.

III. Allgemeine Rechtsgrundsätze

Schlussendlich werden im Folgenden zwei praxisrelevante allgemeine Rechtsgrundsätze aufgezeigt,

nämlich der res judicata und der lis pendens Grundsatz. Bei diesen beiden Grundsätzen geht es nicht

vordergründig um den Konflikt zweier Verträge, sondern bereits um Kollisionen zweier 

internationaler Gerichte. Ziel ist es also Zuständigkeitskonflikte in Form der doppelten

Rechtshängigkeit zu verhindern.

1. Res judicata

Im Falle des res judicata Grundsatzes ist es im streitigen Sachverhalt bereits zur Entscheidung durch

ein Gericht gekommen. Dieser Grundsatz besagt nun, dass nach einer Entscheidung durch ein

internationales Gericht, die nochmalige Anrufung desselben oder eines zweiten im selben Streitfall

nicht gestattet ist. Man spricht auch von der Finalität von gerichtlichen Entscheidungen.35 Dies leitet

man aus dem allgemeinen völkerrechtlichen Prinzip ab, welches besagt, dass im Völkerrecht keine

Revisionsmöglichkeit bestehe.

Der res judicata Grundsatz ist ein “[...]general principle of international law, [...]”36 i.S.d. Art. 38

Abs. 1 lit. c) IGH-Statut, somit wird seine Anwendbarkeit im Völkerrecht von einer großen Masse

getragen.37

2. Lis pendens

Es kann im Völkerrecht auch zu Fällen kommen, in denen ein zweites Gericht in ein und dem

selben Fall angerufen wird bevor es bei einem der beiden zu einer Entscheidung gekommen ist.

Dann ist eine Anwendung des res judicata Grundsatzes ausgeschlossen, da bei diesem die

Entscheidung eines Gerichtes eine Anwendungsvoraussetzung darstellt.

An dieser Stelle kann der lis pendens Grundsatz greifen. Inhalt dessen ist die Pflicht der 

33 Art. 30 Abs. 4 WVK 34 Grundsatz der verbotenen Drittwirkung von Verträgen, pacta tertiis nec nocent nec prosunt35 Lock, o. Fn. 10, S. 10136 Collier/Lowe, Settlement of Disputes, S. 26137 Etwa Charzow Factory Case (interpretation), Dissenting Oppinion Judge Anzilotti, PCIJ Ser. A, No. 13, S. 23 ff.;

Trail Smelter Case (United States vs. Canada), 15.04.1941, R.I.A.A., vol. III, S. 1905 (1951 ff.); Lowe, AJICL 8(1996), S. 38 (39 f.)

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Unzuständigkeitserklärung desjenigen Gerichtes, welches im Falle doppelter Rechtshängigkeit

später angerufen worden ist.

In der Praxis wird über die Anwendung des lis pendens Grundsatzes kontrovers diskutiert.38 

Grundsätzlich kann aber eher von einer Anwendung dieses Grundsatzes ausgegangen werden, da lis

 pendens im Falle eines Zuständigkeitskonfliktes einen eindeutigen Lösungsmechanismus aufzeigt,mit welchem divergierende Urteile wirksam vermieden werden können. Es dient folglich eindeutig

der Rechtssicherheit.39 Finke leitet eine Pflicht der Anwendung von lis pendens aus der 

Kooperationsverpflichtung internationaler Gerichte ab. Demnach seien internationale Gerichte an

den lis pendens Grundsatz gebunden, weil ein Unberücksichtigtlassen zu einer Hierarchisierung des

internationalen Gerichtssystem führen könne.40 Will man eine entstehende Problematik, in Bezug

auf das Justizverweigerungsverbot, entschärfen, könnte man diesen Grundsatz auch dahingehend

abändern, dass an die Stelle der eigenen Unzuständigkeitserklärung eine kooperativeVerfahrensaussetzung tritt. Dann wäre immerhin einer der größten Kritikpunkte dieser Regelung

umgangen.

Zumindest im Verhältnis zwischen EuGH und EuG ist der Grundsatz der  lis pendens

rechtsverbindlich in der SEuGH im dortigen Art. 54 Abs. 3 festgelegt worden.

Teil 3: Auslegungskonflikte

Unter einem Auslegungskonflikt ist ein Konflikt zu verstehen, welcher durch eine unterschiedlicheAuslegung derselben bzw. unterschiedlicher aber inhaltsgleicher Rechtsnormen entsteht. Als Grund

für diese Problematik wird die Proliferation internationaler Gerichte angesehen. Bei solch

zahlreichen Entscheidungsinstanzen und -verfahren ist es den Gerichten heutzutage kaum noch

möglich, alle Details untereinander abzugleichen.

Man wird bemerken, dass man sich im nationalen Recht nicht so intensiv mit diesem Problem

 befasst. Das liegt vor allem daran, dass nationale Rechtssysteme einer völlig anderen Struktur 

folgen als solche des internationalen Rechts. So besteht im nationalen Recht eine starke

Hierarchisierung, wodurch eventuelle Fehler bzw. Divergenzen immer durch eine übergeordnete

Instanz bereinigt werden können und somit die Entstehung eines direkten Auslegungskonfliktes

unmöglich ist. Im Völkerrecht gibt es eine solche Hierarchisierung nicht. Es mag internationale

Gerichte geben, welche ein höheres Ansehen genießen als andere, dennoch stehen sie alle auf der 

gleichen hierarchischen Ebene.

38 Dazu etwa Finke, o. Fn. 25, S. 344 ff.

39 Finke o. Fn. 25, S. 34640 Finke, o. Fn. 25, S. 347

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A: Voraussetzungen

Bevor man von einem Auslegungskonflikt sprechen kann, muss zumindest ein quasi-gerichtliches

Verfahren bejaht werden können. Von grundlegender Bedeutung ist also, dass der 

Entscheidungsprozess auf einem förmlichen Verfahren beruht, welchem rechtliche Bedeutung

zukommt.41

B: Fragmentierung als Grund von Auslegungskonflikten

Wie schon erwähnt, folgt aus der Fragmentierung der Völkerrechtsordnung, dass die einzelnen

internationalen Gerichte immer schwieriger mit allen anderen kommunizieren können, da es

schlicht eine solche Vielzahl internationaler Entscheidungsorgane gibt. Daraus entsteht die Gefahr 

der steigenden Anzahl von Auslegungskonflikten in den nächsten Jahren. Man kann also soweit

gehen zu sagen, dass Auslegungskonflikte zu einer über die natürliche Fragmentierung der Völkerrechtsordnung hinausgehenden Fragmentierung führen, die die Geschlossenheit des Systems

als Ganzes gefährden könnte. Am Beispiel des bereits angesprochenen SRÜ lässt sich diese

Kontroverse relativ deutlich erkennen. Die gleichzeitige Zuständigkeit dreier voneinander 

unabhängiger, gleichberechtigter Gerichte bzw. Schiedsgerichte erhöht die Gefahr eines

Auslegungskonfliktes in hohem Maße. Gerade die Geschlossenheit des die drei Gerichte

tangierenden Normensystems ist im Seerecht sehr ausgeprägt und mithin Voraussetzung für die über 

die natürliche Fragmentierung hinausgehende Fragmentierung42, welche die wohl stärkste Gefahr 

für die negative Entwicklung des Völkerrechts haben würde. Eine solche Geschlossenheit des

 Normensystems ist allerdings nicht im gesamten Völkerrecht zu verzeichnen. Deshalb kann man

nicht ohne Weiteres von einer Bedrohungslage für das gesamte Völkerrecht ausgehen, sondern eben

nur in den einschlägigen Bereichen dessen. Kommt es etwa zu einer unterschiedlichen Auslegung

zweier inhaltsgleicher Normen, welche aber aufgrund der stark voneinander abweichenden

Regelungsgehalte der zugrunde liegenden Verträge gerechtfertigt ist, besteht kein Grund zur 

Annahme, dass ein Auslegungskonflikt vorliegt. In einem solchen Fall ist die Auslegung im

 jeweiligen Hinblick auf den Zweck des zugrunde liegenden Vertrages geboten und dient dessen

richtiger Umsetzung.43

C: Konfliktsituation oder legitime Rechtsentwicklung?

Es gibt eine weitere Situation, in der man zwischen Auslegungskonflikten und einer gerechtfertigt

abweichenden Auslegung differenzieren kann. Ausschlaggebend für eine solche Unterscheidung ist,

41 Finke, o. Fn. 25, S. 303

42 Finke, o. Fn. 25, S. 305; Shahabuddeen, Consistency in Holdings, in FS Oda, S. 633 (635)43 Vgl. Loizidou v. Turkey, preliminary objections, para 89, ILR 103, S. 622 (648)

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dass zwischen den Auslegungen einer Rechtsnorm oder zweier verschiedener, welche inhaltlich

übereinstimmen, ein gewisser Zeitraum verstrichen ist, anhand dessen eine etwaige

Rechtsentwicklung stattgefunden haben kann.

Weiterer Rechtfertigungsgrund ist also eine Rechtsentwicklung, die eine andere Beurteilung einer 

 Norm, aufgrund unterschiedlicher herrschender Umstände notwendig macht.

D: Lösungsansätze für Auslegungskonflikte

Finke nennt drei Möglichkeiten Auslegungskonflikte zu lösen oder gar zu vermeiden. 44 Diese sind

eine Hierarchisierung des internationalen Gerichtssystems in Anlehnung an die der verschiedenen

nationalen Rechtsordnungen, eine Gutachtenanfrage der Gerichte und den sogenannten stare decisis

Grundsatz des angloamerikanischen Rechtssystems.

I. Hierarchisierung des internationalen Gerichtssystems

Gerade eine Hierarchisierung mit Berufungsgerichten und einer absoluten Revisionsinstanz hätte

zur Folge, dass unterschiedliche Auslegungen durch verschiedenste Gerichte gar nicht mehr 

möglich wären, da eine höhere Instanz die Auslegungen der zuvor tätigen Gerichte regelmäßig

verdrängen würde. So wurde schon oft über eine solche Hierarchisierung, zugegeben teils auch

kontrovers diskutiert, wobei auch angeführt wurde, dass dadurch eine solch nahezu einheitliche

internationale Rechtsordnung entstehen könne, wie sie im nationalen Recht garantiert wird. 45 Zum

einen wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, den IGH als „supreme court of the international

community”46 zu bestimmen, damit dieser die Urteile sämtlicher internationaler Gerichte auf ihre

Richtigkeit hin überprüfen könne.47 Voneinander grundlos abweichende Auslegungen könnten dann

dahingehend berichtigt werden, dass das in den Augen des IGH unrichtig handelnde Gericht sein

Urteil korrigieren müsste. Grund für die Wahl des IGH ist wohl sein Status als ältestes

internationales Gericht überhaupt, woraus auch sein durchweg hohes Ansehen abgeleitet werden

kann. Des Weiteren ist der IGH Hauptrechtsprechungsorgan der UN und das einzige internationale

Gericht mit allumfassender Kompetenz.

Die Übertragung des Status einer Revisionsinstanz an den IGH wäre allerdings nicht gänzlich

unproblematisch. So wären umfassende Vertragsänderungen notwendig um eine solche Möglichkeit

einzuräumen, da das IGH-Statut eine Befugnis dahingehend nicht beinhaltet. Außerdem wäre der 

44 Finke, o. Fn. 25, S. 355 ff.45 So etwa der ehemalige Präsident des IGH Guillaume in einer Ansprache vor der UN-Generalversammlung vom

26.10.2000, siehe: www.icj-cij.org46 Jennings, AJIL 89 (1995), S. 493 (504)

47 Den IGH als „appelate tribunal“ befürwortend u.a. Lauterpacht, Aspects of the Administration of internationalJustice (1991), S. 112

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IGH als Revisionsinstanz nicht mit dem das internationale Gerichtssystem betreffenden Prinzip der 

funktionalen Dezentralisation vereinbar. Diese Unvereinbarkeit umgehend könnte man außerdem in

Betracht ziehen, die etwaige Revisionszuständigkeit des IGH auf Fragen, das allgemeine

Völkerrecht betreffend, zu beschränken.48 Dann wäre der IGH immerhin nur in seinem Subsystem

 befugt als Revisionsinstanz zu fungieren und würde somit grundsätzlich den Anforderungen desVölkerrechts genügen.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass trotz der Funktionsfähigkeit von Revisions- und

Berufungsinstanzen in nationalen Rechtsordnungen zur Verhütung von Auslegungskonflikten eine

Übertragung dieser Praxis auf die internationale Rechtsordnung nicht mit deren System und

 jahrzehntelangen Praxis vereinbart werden kann.49  Allerdings liefert m.E. Abi-Saab einen sehr 

interessanten Ansatz, welcher die Problematik einer absoluten und rechtlich verbindlichen

Revisionsinstanz umgeht. So fordert dieser die Herausbildung eines internationalenGerichtssystems, an dessen Spitze der IGH als „primus inter pares“, zumindest faktisch, steht.50

II. Vorabentscheidungsverfahren

Um eine “increasing number of international courts creating chaos in international law”51 zu

vermeiden, schlägt Guillaume vor, ein Vorabentscheidungsverfahren durch den IGH einzuführen.52 

In Anlehnung an Art. 267 AEUV (ex-Art. 234 EGV) könnte dann ein Ersuchen an den IGH

gerichtet werden, in dem dieser darum gebeten wird ein Gutachten über die vorgelegten

Auslegungsfragen zu erstellen. An dieses Gutachten müssten sich die mit der Entscheidung

  beauftragten Gerichte dann halten, womit das Konfliktpotential innerhalb der Auslegung von

 Normen bzw. Verträgen zum größten Teil gebannt wäre. Zu Problemen führt diesbezüglich Art. 96

UN-Charta. Dieser eröffnet die Möglichkeit eines direkten Anforderns von Gutachten nämlich nur 

der Generalversammlung, dem Sicherheitsrat sowie anderen Organen und Sonderorganisationen der 

Vereinten Nationen mit jeweiliger Ermächtigung durch die Generalversammlung. Selbst ein

indirektes Ersuchen ist damit nicht für alle internationalen Gerichte vorgesehen. Etwa der ISGH ist

somit nicht befugt sich, sei es auf direktem oder auf indirektem Wege, an den IGH zu wenden.

Schwebel will aber das Problem dadurch umgehen, dass Ausschüsse errichtet werden, die etwaige

Anfragen an die Generalversammlung weiterleiten.

"[...]there is room for the argument that even international tribunals that are not United Nations

48 So etwa Finke, o. Fn. 25, S. 35849 So auch Finke, o. Fn. 25, S. 36050 Abi-Saab, N.Y.U. J. Int'l L. P., 31 (1999), S. 919 (929)

51 Guillaume, ICLQ 44 (1996), S. 848 (862)52 Guillaume, o. Fn. 51

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organs such as the International Tribunal for the Law of the Sea [...] might, if they so decide,

request the General Assembly - perhaps through the medium of a special committee established for 

the purpose - to request advisory opinions of the Court"  53 

Folge dessen wäre allerdings, dass nun nicht nur die Generalversammlung darüber zu entscheidenhätte, ob das Vorabentscheidungsersuchen weitergeleitet werde, sondern außerdem noch ein zweiter 

Ausschuss vorab mit dieser Aufgabe betraut wäre. Das wirklich schwerwiegende Problem dabei

wäre allerdings, dass es sich bei diesem Ausschuss um einen solchen nicht-gerichtlicher und somit

 politischer Art handeln würde.54 Entscheidungen, die Einheitlichkeit der Rechtsordnung betreffend,

sind von so zentraler Bedeutung, dass sich keinesfalls politische Organe mit solchen befassen

sollten.55

Da ein solches Vorgehen also nicht sinnvoll erscheint und ein direktes Ersuchen nicht ohneumfassende Rechtsänderung möglich ist, ist die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens

durch den IGH in naher Zukunft nicht zu erwarten.

III. Gutachtenanfragen

Eine andere Möglichkeit sollen Gutachtenanfragen sein, um eine Auslegungseinheitlichkeit gerade

dann sicherzustellen, wenn Gerichte Normen beachten müssen, welche einem „fremden“

Übereinkommen entstammen. Grundsätzlich ist dies nach den Verfahrensregeln der Gerichte des

SRÜ möglich.56 Auch könnten durch ein solches Vorgehen Auslegungskonflikte in einem gewissen

Rahmen verhindert werden. Allerdings entstehen in der Praxis doch einige Probleme, die eine

effektive Anwendung einer Gutachtennachfrage verhindern. Finke führt vor allem an, dass nicht alle

internationalen Gerichte dauerhaft Bestand haben, so etwa ad-hoc Gerichtshöfe oder WTO-Panel.57 

Eine Kontaktaufnahme wäre in diesem Fall unmöglich. Des Weiteren wird angeführt, dass es teils

für Gerichte zeitlich unmöglich sein kann, sich an andere Gerichte zu wenden. Etwa bei dem Erlass

einstweiliger Maßnahmen, müssen Entscheidungen in kürzester Zeit ergehen, sodass kein Raum für 

eine externe Auseinandersetzung mit dem strittigen Thema bleibt.

Diese Methode ist also zwar grundsätzlich geeignet, um Auslegungskonflikte zu verhindern, sie ist

aber nicht in allen Situationen anwendbar und deshalb nicht uneingeschränkt umsetzbar.

53 Schwebel, in seiner Rede vor der Generalversammlung vom 26.10.1999, siehe www.icj-cij.org54 Finke, o. Fn. 25, S. 36255 Finke, o. Fn. 54, So auch Treves, Max Planck UNYB 4 (2000), S. 215 (226) “The intervention of a political body in

a case pending before a court or tribunal may introduce elements which are not consonant with the decision of a caseaccording to international law.”

56 Finke, o. Fn. 25, S. 36357 Finke, o. Fn. 25, S. 364

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IV. Stare decisis

Schlussendlich bietet der stare decisis Grundsatz noch eine Möglichkeit Auslegungskonflikte zu

umgehen, indem er eine Bindungswirkung an vorangegangene Entscheidungen statuiert. Sein

Ursprung liegt in der angloamerikanischen Rechtstradition, während er in kontinentaleuropäischen

Rechtsordnungen sowie im Völkerrecht grundsätzlich nicht anerkannt ist. Allerdings ist trotzdem zuerkennen, dass der stare decisis Grundsatz in der Praxis, mehr oder weniger, Eingang in die meisten

Rechtsordnungen gefunden hat.58 Gerade dem IGH wird solch hohe Bedeutung beigemessen, dass

seine Urteile von vielen Gerichten zitiert werden. Allerdings ist eine solche de facto Befolgung

nicht unumgänglich. Es besteht keinerlei rechtliche Bindungswirkung der Gerichte an die

Beachtung vorangegangener Entscheidungen. Es wird unter anderem versucht eine verpflichtende

Befolgung dieses Grundsatzes mit Art. 38 Abs. 1 lit. d) IGH-Statut zu begründen. Allerdings

 beinhaltet dieser selbst schon einen Vorbehalt mit Verweis auf Art. 59 IGH-Statut, welcher einerechtliche Begründung unmöglich erscheinen lässt. Finke begründet allerdings eine andere

Auffassung sehr plausibel, in der er Art. 38 Abs. 1 lit. d) i.V.m. Art. 59, 62, 63 IGH-Statut so

auslegt, dass Art. 38 Abs. 1 lit. d) i.V.m. Art. 59 IGH-Statut einen völlig anderen Regelungszweck 

verfolgt als eine Bindungswirkung von Präzedenzfällen zu versagen.59

Da es bisher keine Alternativen gibt, um Auslegungskonflikte zu vermeiden, scheint es umso

wichtiger, dass man den stare decisis Grundsatz weiter in das internationale Rechtssystem integriert

und eine Anwendung dessen verpflichtend wird.60

Kooperation internationaler Gerichte

Wie in den aufgeführten Überlegungen zum Ausdruck gekommen ist, machen es die durch die

Proliferation auftretenden Konflikte unbedingt notwendig, dass internationale Gerichte miteinander 

kooperieren. Inwieweit diese dazu überhaupt fähig sind und ob sogar eine Kooperationspflicht

zwischen internationalen Gerichte bestehen kann, wird im folgenden erörtert.

Teil 4: Die Begrifflichkeit der Kooperation

A: Sinn und Zweck von Kooperation im Allgemeinen

Kooperieren zwei oder mehrere Akteure miteinander, dann tun sie dies immer um ein gemeinsames

Ziel zu verfolgen. Grund dafür ist, dass in häufigen Fällen einfach mehrere solcher Akteure

notwendig sind, um den Umfang bestimmter Aufgabenkomplexe ordnungsgemäß wahrnehmen zu

58 Finke, o. Fn. 25, S. 365 f.

59 Siehe dazu genauer: Finke, o. Fn. 25, S. 366 ff.60 So auch Finke, o. Fn. 25, S. 373

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können. Grundsätzlich ist der Begriff der Kooperation wertneutral. Erst das durch die Parteien

verfolgte Ziel bestimmt den Begriff genauer.61 So muss Kooperation nicht zwangsläufig dem

Gemeinwohl oder dem Frieden dienende Ziele verfolgen. Vielmehr sind etwa auch Kartelle,

kriminelle Vereinigungen oder im Einvernehmen mehrerer Staaten geführte Angriffskriege eine

Form der Kooperation.

B: Völkerrechtliche Kooperation

Das Verständnis von Kooperation im Allgemeinen lässt sich leicht auf die Begrifflichkeit der 

völkerrechtlichen Kooperation übertragen. Allerdings sind Parteien völkerrechtlicher Kooperation

nicht irgendwelche Akteure, sondern solche, die sich speziell mit Problemen des Völkerrechts

auseinanderzusetzen haben. Darunter fallen zum einen sämtliche Völkerrechtssubjekte, sowie

internationale Gerichte und andere internationale Streitbeilegungsorgane. Im Grunde kann man

Kooperation als eine Zusammenarbeit zweier oder mehrerer Akteure beschreiben, welche ein

gemeinsames Ziel verfolgen und dabei durch Kommunikation und wechselseitigen Diskurs

zusammenwirken.62  Nunner führt sehr anschaulich aus, dass die Begrifflichkeit der Kooperation

zwischen denen von Interdependenz und Solidarität anzusiedeln sei.63 Ist Interdependenz eine bloße

Abhängigkeit von Staaten so ist Solidarität eine sehr viel weiter reichende Bezeichnung, worunter 

etwa auch eine Berücksichtigung fremder Interessen zu zählen ist. Im Gegensatz zu Kooperation

stehen laut Nunner Isolationismus und Unilateralismus.64

Grundsätzlich lässt sich die Neutralität der Begrifflichkeit der Kooperation auch auf die

völkerrechtliche Kooperation übertragen. Allerdings wird heute allgemein anerkannt, dass das Ziel

der Völkerrechtsordnung die internationale Friedenswahrung ist.65 Davon ausgehend, verliert der 

völkerrechtliche Kooperationsbegriff wiederum seine Neutralität.

Teil 5: Kooperationsfähigkeit und Kooperationspflicht internationaler Gerichte

A: Kooperationsfähigkeit von internationalen Gerichten

Grundsätzlich sind alle Gerichte, ob nun nationale oder internationale, unabhängig von äußeren

Einflüssen. Aber genau diese Eigenschaft, die zu den wesentlichen Merkmalen eines Gerichtes zu

61 Wolfrum, International Law of Cooperation, in: EPIL 9 (1986), S. 193 ff. (193): „The significance and value of cooperation depends upon its goal. […] [C]ooperation as such has no inherent value [...]”

62 Nunner, o. Fn. 3, S. 56; Finke o. Fn. 25, S. 31863 Nunner, o. Fn. 3, S. 57; Wolfrum, o. Fn. 61

64 Nunner, o. Fn. 6365 So auch Finke o. Fn. 25, S. 318

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zählen ist, könnte verhindern, dass diese miteinander in Kooperation treten können. Sobald zwei

Akteure nämlich ein kooperatives Verhältnis miteinander eingehen, geben beide zugleich auch

einen Teil ihrer Unabhängigkeit auf, um das gemeinsame Ziel erreichen zu können.

Beispielfälle, in denen Gerichte ihre Unabhängigkeit über eine Kooperation mit anderen Gerichten

stellten, sind eindrucksvoll im Zusammenhang mit dem LaGrand-Verfahren, sowie im Tadic-Fall zu

finden. In ersterem verneinte der AGMR seine Kooperationsbereitschaft mit der Begründung, er sei

eine „autonomous judicial institution“66, welche seine Unabhängigkeit wohl nicht der allgemeinen

Rechtssicherheit unterzuordnen brauche. Im völligen Gegensatz dazu nimmt Nunner die

gerichtliche Autonomie als Begründung für eine Kooperationsfähigkeit internationaler Gerichte. Er 

führt an, dass Gerichte aufgrund ihrer Unabhängigkeit genügend Handlungsspielraum besitzen um

freiwillig die Entscheidung treffen zu können, ob sie Kooperation mit anderen Gerichten eingehen

möchten oder nicht.67

Im Tadic-Fall ging die Berufungskammer des ICTY sogar so weit zu behaupten: „In international

law, every tribunal is a self contained system [...]“68 Die Bezeichnung der Berufungskammer, jedes

Gericht sei ein  self-contained system, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit an den Begriff des self-

contained regimes angelehnt. Letzteres beinhaltet den Ausschluss der Regelungen des allgemeinen

Völkerrechts für ein bestimmtes Subsystem.69 Überträgt man nun diese Bedeutung auf den Begriff 

des  self-contained system, muss man zu dem Schluss kommen, dass die Berufungskammer des

ICTY letzteres als völlig unabhängiges Organ betrachtet, welches weder mit anderen Gerichten

kooperieren muss noch kann, ohne seine Unabhängigkeit zu verlieren. Eine solche Auffassung ist

natürlich alles andere als förderlich für das internationales Gerichtssystem. Vielmehr birgt es

Gefahren für dessen Einheitlichkeit und letztendlich für seinen zukünftigen Bestand. Finke versucht

mit dem Vergleich der jeweiligen Verhältnisse von Staaten sowie internationalen Organisationen zu

vermitteln. So meint er etwa, dass Staaten bzw. internationale Organisationen, ebenso wie Gerichte,

unabhängige Akteure sind. Allerdings beeinträchtige das keineswegs eine Kooperationsfähigkeit

unter ihnen, wie die Praxis allgemein beweist. Des Weiteren bringt er den Begriff desKooperationsvölkerrechts ins Spiel, in dem alle Akteure dazu angehalten sind, miteinander in

Kooperation zu treten. Davon dürften natürlich auch Gerichte nicht ausgenommen werden.70  Ein

66 AGMR, Advisory Opinion OC-16/99, para. 8567 Nunner, o. Fn. 3, S. 10968 Prosecutor vs. Tadic, Interlocutory Appeal on Jurisdiction, 02.10.1995,para. 11, ILM 36 (1996), S. 32 (39)69 Der Begriff des „self-contained regimes“ geht zurück auf die Urteile des StIGH im Wimbleton-Fall, sowie des IGH

im Teheran Hostages-Fall: StIGH, Urteil vom 28. Juni 1923, The S.S. „Wimbleton“, PCIJ Series A., No. 1 (1923), S.23-24; IGH, Urteil vom 24. Mai 1980, Case concerning the United States Diplomaticand Consular Staff in Teheran

(United States of America v. Iran), ICJ Rep. 1980, 3, §8670 Finke, o. Fn. 25, S. 321

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weiterer Beweis für eine Kooperationsfähigkeit internationaler Gerichte sind die bereits

abgeschlossenen Kooperationsabkommen.71 Allein der Fakt, dass solche bereits geschlossen wurden

und internationale Gerichte nach diesen handeln, beweist, dass eine Kooperation zwischen eben

  jenen Gerichten möglich ist und kann deshalb nicht bestritten werden. Von einer 

Kooperationsfähigkeit internationaler Gerichte ist daher offensichtlich auszugehen.

B: Kooperationspflicht von internationalen Gerichte

Wie soeben gezeigt wurde, ist eine Kooperation zwischen internationale Gerichten grundsätzlich

möglich. Nun soll erörtert werden, ob man eine solche noch „ausbauen“ und sogar eine

Kooperationspflicht begründen kann.

Wie bereits bei der Begründung von Kooperationsfähigkeiten, kann man auch bei denKooperationspflichten einen Vergleich mit Staaten und internationalen Organisationen anstellen.

Im Allgemeinen scheint eine Kooperationsverpflichtung von Staaten relativ unstreitig zu sein.

Grund dafür liegt überwiegend in der UN-Charta, deren Art. 55, 56 eine Pflicht zur 

Zusammenarbeit statuieren. Auch in der Literatur wird größtenteils davon ausgegangen, dass eine

solche besteht.72 Auch aus den Art. 1 und 2 UN-Charta lassen sich Kooperationsverpflichtungen

zwischen Staaten ableiten. So etwa stellt Art. 2 Nr. 3 i.V.m. Art. 33 Abs. 1 UN-Charta eindeutig klar,

dass Staaten zur Beilegung von Streitigkeiten verpflichtet sind dies auf friedliche, sprich

kooperative Weise zu tun. Völlig unumstritten ist also eine Kooperationspflicht zwischen Staaten,

welche sich in einem Konfliktfall befinden, welches auch aus dem allgemeinen anerkannten

Grundsatz gefolgert werden kann, dass Staaten die Pflicht haben, im Konfliktfall

zusammenzuarbeiten.73

Kooperationspflichten von internationalen Organisationen werden hingegen nicht ganz so eindeutig

  bejaht. In jedem Falle bestehen solche aber, wenn in den jeweiligen Gründungsverträgen

dahingehende Bestimmungen getroffen worden sind.74 Außerdem ist es bei internationalen

Organisationen, wie auch bei Staaten, der Fall, dass durch die Globalisierung eine solche Nähe und

Abhängigkeit zwischen diesen entstanden ist, dass für einen geregelten Arbeitsablauf eine

Kooperation unbedingt notwendig geworden ist.75 Ähnlich beschreibt dies auch Blokker:

71 Vgl. Nunner, o. Fn. 3, S.172 f.72 Etwa Tomuschat, Das Recht auf Entwicklung, GYIL 25 (1982), S. 85 ff. (98)73 Finke, o. Fn. 25, S.33074 Siehe auch Seidl-Hohenveldern/Loibl, Das Recht der internationalen Organisationen (2000), S. 101 f. Rn. 0810

75 So auch Finke, o. Fn. 25, S. 327, verweisend auf : Annual overview report of the Administrative Comittee onCoordination for 1999, UN Doc. E/2000/53, 12.05.2000, S.3

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„As for states, it is often no longer possible for international organizations to carry out their 

 functions independently. In carrying out their tasks, international organizations should be aware of,

and take into account, the tasks of organizations that are competent in a neighbouring field.”76 

Zusammenfassend ist zu sagen, dass eine Kooperationspflicht zwischen internationalen

Organisationen nicht so einfach zu bejahen ist. Es kann grundsätzlich davon ausgegangen werden,

dass eine solche förderlich und wünschenswert für die Zusammenarbeit internationaler 

Organisationen ist und auch eine Art Verpflichtung von der allgemeinen Kooperationspflicht

zwischen im Konflikt stehenden Staaten auf internationale Organisationen übertragen werden kann.

Es kann jedoch im Allgemeinen nicht unstreitig von einer solchen Pflicht gesprochen werden.

 Nun kommt es auch zwischen Gerichten regelmäßig zu Konflikten in Form von Zuständigkeits- und

Auslegungskonflikten. Überträgt man nun die Kooperationsverpflichtungen von Staaten und

internationalen Organisationen, die ja nachweislich mindestens bei Konfliktsituationen zu bejahen

sind, auf Konfliktsituationen zwischen internationalen Gerichten, so muss man zumindest für den

Fall von Konflikten zwischen solchen ebenso eine Kooperationspflicht annehmen. Schon allein in

Anbetracht der Auswirkungen von divergierenden Entscheidungen muss man im Konfliktfall von

einer Kooperationspflicht sprechen. Welchen Wert haben internationale Gerichte noch, wenn siezwar „autonomous judicial intstitutions“ i.e.S. darstellen, sich aber Staaten, aufgrund von

Rechtsunsicherheit und Vertrauensverlust, von einer gerichtlichen Konfliktbeilegung abwenden?

Allein aufgrund dessen, dass man nicht die Glaubwürdigkeit des internationalen Gerichtssystems

gefährden darf, muss zumindest eine faktische Kooperationspflicht von internationalen Gerichten

im Konfliktfall bejaht werden. Finke will gar als Konsequenz einer Nichteinhaltung einer solchen

Verpflichtung die Rechtswidrigkeit und somit eine Ungültigkeit der betreffenden Entscheidung

feststellen lassen.77

Eine Kooperationsverpflichtung im Konflikt- bzw. im Konkurrenzfall lässt sich außerdem von den,

als allgemeine Rechtsgrundsätze i.S.d. Art. 38 Abs. 1 lit. c) IGH-Statut anerkannten Prinzipien lis

 pendens und res judicata78, im Falle von Zuständigkeitskonflikten, sowie dem   stare decisis

Grundsatz79, im Falle von Auslegungskonflikten, ableiten, soweit man Letzterem im Völkerrecht

Anerkennung zukommen lassen möchte.

76 Schermers/Blokker, Proliferation of International Organizations, S.3077 Finke, o. Fn. 25, S. 333

78 Siehe Oben Teil 2, D III79 Siehe Oben Teil 3, D

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Teil 6: Kooperationspraxis internationaler Gerichte

 Nachdem nun eine Kooperationsfähigkeit internationaler Gerichte eindeutig bejaht wurde und eine

Kooperationspflicht, aufgrund der Notwendigkeit, auch eher bejaht werden muss, wird im

folgenden Teil näher auf die Kooperationspraxis internationaler Gerichte eingegangen.

A: Kommunikation

Grundvoraussetzung für eine Kooperation zwischen Gerichten ist eine funktionierende

Kommunikation zwischen diesen, auf die nun näher eingegangen wird. Grundlegend kann man

zwischen internationalen Gerichten als Sender und Empfänger unterscheiden.80

Als Sender werden internationale Gerichte dann tätig, wenn sie rechtlich relevantes Material

veröffentlichen bzw. an andere Gerichte übermitteln. Ersteres spielt dabei in der Praxis eine weit

größere Rolle81, da das zu übermittelnde Material allen potentiellen Empfängern zur Verfügung

gestellt wird und nicht einzeln an alle Gerichte übersandt werden muss. In der Praxis geschieht dies

heute, abgesehen von einigen Ausnahmen, vor allem über das Internet.

Andersherum agieren internationale Gerichte als Empfänger, indem sie Verfahrensabläufe oder 

gerichtliche Regelungen übernehmen oder im typischen Fall gerichtliche Entscheidungen

rezipieren.

Dabei kann wiederum zwischen monologischer und dialogischer Kommunikation differenziert

werden. Bezieht sich etwa ein Gericht nur einseitig auf ein anderes, liegt eine monologische

Kommunikation vor. So verhielt es sich teilweise im Verhältnis zwischen IGH und ISGH, wobei

letzterer sich einseitig durch ersteren, vor allem im Hinblick auf interne Regelungen, beeinflussen

ließ82, was dadurch begründet werden kann, dass der ISGH mit Sachbereichen betraut ist, welche

früher dem IGH zukamen. Der Aufbau des noch relativ jungen Gerichtes sollte dadurch erleichtert

werden.

Im Unterschied dazu handelt es sich bei einer dialogischen Kommunikation um eine solche, bei der 

gegenseitig Einfluss aufeinander genommen wird. Sie ist eine weit verbreitete Form der 

zwischengerichtlichen Kommunikation.83 So schlossen etwa der IGH und der ISGH im Oktober 

 bzw. November 2001 eine Vereinbarung, in der sie festlegten, dass ein regelmäßiger Austausch ihrer 

80 So auch Nunner, o. Fn. 3,S. 169 f.81 Nunner, Siehe o. Fn. 80

82 Siehe Nunner, o. Fn. 3, S. 171 Fn. 11-1583 Nunner, o. Fn. 3, S. 172

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 jeweiligen Publikationen stattfinden solle.84 Eine solch weitreichende Bindung aneinander ist aber 

auch im modernen Kooperationsvölkerrecht nicht üblich. Sie zeigt, dass die Entwicklung

dahingehend noch immer fortschreitet und eine immer engere Kooperation zwischen den

internationalen Gerichten zu erwarten ist.

 Nicht nur zwischen den Gerichten in ihrer Form internationaler Organe, sondern auch zwischen den

ihnen angehörenden Richtern kann und muss Kommunikation stattfinden. So finden etwa zwischen

 bestimmten Gerichten regelmäßige Treffen statt, Richter treten während Konferenzen zusammen

oder werden abwechselnd als Redner in die jeweiligen Gerichte bestellt. Eines der bedeutendsten

dieser Treffen stellt wohl das Brandeis Institute for International Judges dar, welches seit dem Jahre

2002 von der Brandeis University veranstaltet wird. Neben diesen offiziellen Treffen finden auch

inoffizielle, private Verabredungen statt, die auch ihren Teil zur allgemeinen zwischengerichtlichen

Kommunikation beitragen.85

Den wohl bedeutendsten Teil bildet die fallbezogene Kommunikation. Bei ihr handelt es sich um

Handlungen internationaler Gerichte oder deren Richtern, welche sich auf einen konkreten Fall

 beziehen, etwa die Bezugnahme auf ein früheres Urteil eines anderen Gerichtes. Des Weiteren kann

man darunter auch Nachfragen zu bestimmten Fällen oder gerichtlichen Regelungen verstehen.

Diese Art der Kommunikation ist deshalb von solch großer Bedeutung, weil es gerade auch bei der 

Auslegung von Völkerrechtsnormen erwünscht ist, dass die Gerichte sich untereinander absprechen,

da ansonsten Konflikte die Folge sein können.

Des Weiteren gibt es mittelbare und unmittelbare und sogar bewusste und unbewusste

Kommunikation.86

B: Rezeptionspraxis

I. Rezeption durch den IGH

Im letzten Jahrhundert ist es beim IGH kaum zu einer Rezeption anderer Gerichtsurteile gekommen.

87 Diese Haltung hat sich in diesem Jahrzehnt grundlegend geändert und einen neuen Weg

zwischengerichtlicher Kooperation eröffnet. Erkennbar wird diese Tatsache vor allem an den

Aussagen der von 2006 bis 2009 amtierenden Präsidentin des IGH Higgins.88 Des Weiteren führt

84 Rao, ITLOS: The First Six Years, Max Planck UNYB 6 (2002), S. 183 (296)85 Näher zur zwischenrichterlichen Kommunikation siehe etwa Nunner, o. Fn. 3, S. 174 ff.86 Dazu näher Nunner, o. Fn. 3, S. 301

87 Brandeis University, Brandeis Institute for International Judges 2003 (2003), S. 1088 Siehe dazu Nunner, o. Fn. 3, S. 309 Fn. 54

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 Nunner das, seiner Meinung nach, „[g]eradezu revolutionär[e] [...]“89, Urteil Genocide Convention

vom 26.02.2007 an, in dem der IGH an über 100 Stellen auf Verfahren des ICTY Bezug nimmt und

ausführlich auf diese eingeht.

II. Rezeption durch den ISGH

Der ISGH hat sich in seiner relativ kurzen Geschichte bereits häufig mit Entscheidungen des IGH

auseinandergesetzt. Dabei wurde die Auffassung des IGH ohne Ausnahmen vertreten, um

Widersprüchlichkeiten aus dem Weg zu gehen und für einen Entscheidungseinklang zu sorgen. 90

III. Rezeption durch andere Gerichte

Auch die Bezugnahme des EGMR auf Urteile des IGH war anfangs nur rudimentär zu erkennen. In

neuerer Zeit lässt sich aber auch dort eine vermehrte Rezeption wahrnehmen, welche die

Rechtsprechung des IGH regelmäßig bejaht und diesem Respekt zukommen lässt. Der EGMR setzt

sich zwar teils von den Ausführungen des IGH ab, allerdings ist dies mit den Besonderheiten des

Systems der EMRK zu begründen und stellt somit keine Abweichung dar. Ferner stütze dies die

Autorität des IGH, indem, durch eine ausdrückliche Nichtabweichung, zum Ausdruck gebracht

würde, dass eine solche einer besonderen Rechtfertigung bedürfe.91 Des Weiteren findet durch den

EGMR eine intensive Rezeption des StIGH, des IAGMR und vor allem auch der beiden

europäischen Gerichte, EuGH und EuG statt.92

Auch die Entscheidungen des IAGMR weisen häufige Bezugnahmen zu Urteilen des IGH auf. Es

erfolgen zahlreich Zitate, was auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit dessen Rechtsprechung

schließen lässt. Selbst Fragen, bei denen bereits eine eigene ständige Rechtsprechung entwickelt

worden ist, werden regelmäßig mit Entscheidungen des IGH unterlegt.93 Eine starke Rezeption ist

auch hinsichtlich des EGMR zu bemerken.94

Seitens des ICTY ist vor allem eine vermehrte Rezeption von Entscheidungen des IGH, StIGH und

des EGMR zu erkennen.95

89 Nunner, o. Fn. 3, S. 30990 Oxman, The “Horizontal” Growth of International Courts and Tribunals, ASIL Proceedings (2002), S. 373 (376)91 Nunner, o. Fn. 3, S. 316 f.92 Nunner, o. Fn. 3, S. 315 ff., 320 ff., 332 ff.93 Nunner, o. Fn. 3, S. 317 f.

94 Nunner, o. Fn. 3, S. 333 f.95 Nunner, o. Fn. 3, S. 312 ff., 335, 336 f.

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Zusammenfassend lässt sich deutlich erkennen, dass vor allem eine Rezeption des IGH und dessen

Vorgänger, dem StIGH, stattfindet. Auch eine gewisse wechselseitige Rezeptionspraxis ist

ersichtlich. In der Vergangenheit hat die Zahl der rezipierten Entscheidungen um ein vielfaches

zugenommen.96  Es ist also davon auszugehen, dass dieser Trend sich in den kommenden Jahren

weiter fortsetzen wird. Zwingende Folge daraus ist die weiter fortschreitende Stärkung desinternationalen Rechtssystems.

C: Ursachen von Kooperation internationaler Gerichte

Wie bereits zu Beginn dieser Arbeit angemerkt, ist als Hauptgrund für das Entstehen von Konflikten

zwischen internationalen Gerichten, die sich immer mehr überschneidenden Jurisdiktionsbereiche

als Folge der Proliferation, anzusehen. Damit kommt es zu zahlreichen Berührungspunkten unter 

den Rechtsprechungsorganen, womit natürlich auch die Notwendigkeit einer Kooperation

einhergeht. Bei dem Eingehen von Kooperation spielen persönliche Erwägungen einzelner 

Gerichte, als auch solche dem Interesse der Allgemeinheit dienende, eine entscheidende Rolle.

I. Autoritätswahrung und -erweiterung

Eine auffällig hohe Anzahl an rezipierten Entscheidungen anderer Gerichte findet sich häufig bei

  jüngeren, noch nicht vollständig etablierten Gerichten. Gut zu erkennen ist das an dem 1979

gegründeten IAGMR, der als relativ junges Gericht die meisten Entscheidungen mit Verweisen auf 

Urteile anderer Gerichte zu verzeichnen hat.97 Sinn und Zweck ist die eigene Etablierung, indem

diese Gerichte sich an den Entscheidungen möglichst anerkannter Gerichte orientieren, um

gleichermaßen von diesen anerkannt zu werden. Weiterhin wird damit natürlich versucht, die eigene

Argumentation zu stärken und dem Urteil mehr Gewicht zu verleihen, womit auch zukünftigen

Urteilen grundsätzlich mehr Akzeptanz entgegen gebracht würde. Im Gegensatz dazu ist zu

erkennen, dass der IGH, das älteste und wohl am meisten respektierte Gericht, kaum auf andere

Urteile verwiesen hat.98 Das kann wiederum darauf zurückgeführt werden, dass mit dem

 Nichtverweisen auf andere Urteile die eigene Autonomie bestärkt werden soll. 99 Durch die steigende

Anzahl der internationalen Entscheidungsträger in der Vergangenheit wurde der IGH nach und nach

seiner ehemaligen „allumfassenden“ Autorität beraubt und hat sich inzwischen unter mutmaßlich 24

96 Nunner, o. Fn. 3, S. 341 ff.97 Nunner, o. Fn. 3, S. 281 Tabelle aa)

98 Nunner, o. Fn. 9799 So auch Nunner, o. Fn. 3, S. 349

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internationalen Gerichten zu behaupten. Um nicht den Anschein einer faktischen Subordination

unter ein anderes Gericht zu suggerieren, wenden Gerichte auch eine verdeckte Rezeption an. Dabei

entsteht der Vorteil, dass sie ihre Entscheidungen auf bereits existierende Entscheidungen stützen

können, ohne dass die betreffenden Instanzen darüber Kenntnis erlangen.

II. Weiterentwicklung und Festigung der Völkerrechtsordnung

Da sich die langfristigen Interessen internationaler Gerichte dahingehend überschneiden, dass

sämtliche internationale Gerichte das Ziel verfolgen, eine Völkerrechtsordnung auf Dauer zu

etablieren und sicherzustellen und Staaten somit im Streitfall den Weg zu internationalen Gerichten

wählen, ist dies als übergeordnetes, allgemeines Ziel zu klassifizieren, was mutmaßlich von allen

internationalen Gerichten getragen wird.100 Somit kann das Rezipieren von Entscheidungen, wie

oben aufgeführt, als Stärkung der eigenen Gerichtsbarkeit aber auch als Stärkung der Stellung des

  jeweils anderen Gerichts und somit, im Ergebnis, als eine generelle Stärkung der gesamten

Völkerrechtsordnung angesehen werden. Damit wird sehr schnell deutlich, dass es sich bei der 

Rezeption anderer Entscheidungen nicht ausschließlich um ein egoistisches, sondern auch

altruistisches Verhalten handelt.

Von besonderer Bedeutung ist dies im Bereich von regional eng zusammenarbeitenden Gerichten,

wie typischerweise den EG-Gerichten, speziell dem EuGH, und dem EGMR. Das Verhältnis ist vonstarker wechselseitiger Inbezugnahme geprägt, was vor allem im Bereich der Auslegung von

Grundrechten verstärkt der Fall ist.101 Diese passiert zwischen beiden Gerichten in den meisten

Fällen parallel, was Auslegungskonflikte höchst effektiv verhindert.

Man kann also erkennen, dass eine Kooperation schon deshalb notwendig ist, da Gerichte sich

selbst diskreditieren würden, wenn sie Konflikten nicht durch Kooperation aus dem Weg gingen.

Immerhin würde durch abweichende Meinungen und ggf. unterschiedliche Auslegungen derselben

oder zumindest inhaltsgleichen Norm die Glaubwürdigkeit des gesamten Rechtssystems in Fragegestellt.

III. Aufnahme des Effizienzgedankens

Eine wichtige Grundlage jedes gerichtlichen Handelns ist Effizienz.102 Wie bereits erwähnt wurde

100Nunner, o. Fn. 3, S. 80, 125 f., 356 f.

101Vgl. Peters, Einführung in die europäische Menschenrechtskonvention (2003), S. 28 ff.102Nunner, o. Fn. 3, S. 123

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überschneiden sich zahlreiche Jurisdiktionsbereiche, woraus oftmals auch Konflikte unter den

internationalen Gerichten entstehen können. Doch aus einer Überschneidung von Zuständigkeiten

müssen nicht zwangsläufig nur negative Schlüsse gezogen werden. So lässt sich aus diesem Fakt

auch ein gewisser Vorteil ziehen. Es entsteht nämlich eine Vielzahl von gerichtlichen

Entscheidungen, welche Gerichten als Quelle eigener Urteilsbegründungen dienen können. Warumsollte schließlich eine Entscheidung einer neuen Begründung unterzogen werden, wenn eine solche

 bereits in einer vorliegenden Entscheidung getätigt wurde? Damit wird es Gerichten ermöglicht,

ihre Urteile so knapp wie möglich zu halten, ohne damit ihren Urteilen Substanz zu entziehen.

Schlussendlich können Urteile schneller gefällt und somit Arbeitsbelastung abgebaut werden, wobei

gleichzeitig das Gerichtssystem in seiner Gesamtheit gestärkt wird.

IV. Reziprozität

Ein gewünschter Effekt, der durch das Rezipieren anderer Entscheidungen erzielt werden soll, ist

die Etablierung des eigenen Gerichts. Dabei wird unter anderem damit gerechnet, dass

Entscheidungen, die sich auf die Urteile bereits etablierter Gerichte berufen, mehr Aufmerksamkeit

zufallen als Urteilen separat arbeitender Gerichte. Somit ist regelmäßige Kooperation und

Kommunikation sehr hilfreich für Einfluss und Status eines Gerichts.103 Aber auch für bereits

etablierte Gerichte, wie den IGH, kann das Rezipieren von Entscheidungen Dritter von Vorteil sein.

So wäre es etwa für andere Gerichte schwieriger, dessen Entscheidungen zu diskreditieren, da eine

Begründung nicht nur von ihm selbst erfolgt, sondern mittelbar auch andere Gerichte in seine

Urteilsbegründung eingebunden wären.104 Ein Musterfall wechselseitiger, reziproker Kooperation

wäre, laut Nunner, das gegenseitige Rezipieren zweier jüngerer, nicht etablierter Gerichte, welche

somit eine Rechtsprechung schaffen würden, die sich von anderen abgrenzt und durch die

gegenseitige Unterstützung schnell an Bedeutung gewinnen würde.105 Damit könnte zwei Gerichten

die Etablierung in das Völkerrechtssystem gelingen, ohne dabei Unterstützung angesehener 

Gerichte zu erhalten.

Eine Form von „reziproker Kooperation“106 ließ sich bereits im Urteil Bosphorus/Ireland107 

nachweisen. Zuvor hatte der EuGH seine Urteile regelmäßig sehr EGMR-freundlich ausfallen

lassen, um „ein freundliches und kooperatives Klima zu schaffen.“108 Im Gegenzug „honorierte“ der 

103Nunner, o. Fn. 3, S. 365104Nunner, o. Fn. 3, S. 366105Nunner, o. Fn. 104106Dazu Nunner, o. Fn. 3, S.366; siehe dort auch Fn. 437

107Vgl. EGMR, Bosphorus/Ireland, 45036/98; NJW 2006, S. 197 ff.108Vgl. Haltern, Rechtsschutz in der dritten Säule der EU, JZ 62 (2007), S. 772 ff. (777)

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EGMR dies in seinem genannten Urteil.109 Daran lässt sich erkennen, dass also durchaus die

Möglichkeit besteht, dass sich Kooperation mit einem anderen Gericht in Zukunft also ebenso für 

das rezipierende Gericht positiv auswirken kann. Würden diese Praxis von allen internationalen

Gerichten angewendet werden, würde ein allumfassendes System internationaler, gerichtlicher 

Kooperation entstehen.

V. Richterliche Sozialisierung

Ein nicht unbedeutender Grund für die Kooperation internationaler Gerichte ist die Zirkulation und

die daraus folgende Sozialisierung der dort ansässigen Richter. 110 Einerseits führt eine solche

Zirkulation offensichtlich zu einer besseren Kommunikation zwischen den einzelnen Richtern,

andererseits werden diese, durch das Arbeiten in verschiedenen Sachbereichen, allumfassend im

Völkerrecht ausgebildet, wodurch wiederum Missverständnisse und Unterschiede in der 

Beurteilung bestimmter Fälle vermieden werden können.111 Ein Beispiel für eine solche verbesserte

Kommunikation und vielleicht auch für ein besseres Verständnis gibt der ehemalige IGH Richter 

Shahabuddeen, der im Tadic Fall112 einen Widerspruch zur IGH Rechtsprechung vermied.113

Ein weiterer Punkt, der dem Verständnis des Völkerrechts als Ganzem Rechnung trägt, ist ,dass

durch die Zirkulation der Richter von einem Gericht zum anderen eine gemeinsame Identität 114 

entsteht, welche das Eskalieren von Konflikten zu verhindern weiß, indem zum einenVerständnisdefizite in den verschiedenen Fachbereichen ausgeräumt werden und zum anderen eine

viel engere zwischenrichterliche Kommunikation stattfinden dürfte.115

Teil 7: Zusammenfassende Betrachtungen

Durch die Proliferation der internationalen Gerichte, welche verstärkt in den letzten zwei

Jahrzehnten stattgefunden hat116, haben sich verschiedenste Neuerungen, sowohl negativer als auch

  positiver Art117, für die Gerichtspraxis ergeben. Vor allem die immer weiter fortschreitende

Spezialisierung des Völkerrechts und damit einhergehend auch die der internationalen Gerichte, hat

109Haltem, o. Fn. 108110Einige nachweislich zirkulierte Richter, siehe Nunner, o. Fn. 3, S. 370, Fn. 464111Nunner, o. Fn. 3, S. 370 f.112ICTY Appeals Chamber, Tadic, IT-94-1-A,Urteil vom 15.07.1999113Dazu näher und andere Beispiele, Nunner, o. Fn. 3, S. 371 ff.114So Martinez, Towards an International Judicial System, Stanford Law Review 56 (2003), S. 429 (436)115So auch Nunner, o. Fn. 3, S. 373

116Siehe Oben Teil 1, B117Siehe Oben Teil 1, B I u. II

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zu einer solchen Proliferation führen müssen. Schon allein der Fakt, dass Grund der Proliferation

internationaler Gerichte eine Spezialisierung ist, lässt erkennen, dass diese nicht gänzlich verhindert

werden kann und darf.

Seit der Gründung des IGH, Mitte des letzten Jahrhunderts, ist die Zahl internationaler Gerichte alsostetig gestiegen. Einhergehend mit dieser Entwicklung, die als Proliferation bezeichnet wird, haben

sich selbstverständlich auch Divergenzen und Konflikte zwischen diesen entwickelt, welche es nach

und nach immer notwendiger werden ließen, dass internationale Gerichte miteinander 

kommunizierten und schließlich auch Kooperation miteinander eingingen.

Bei Konflikten internationaler Gerichte kann man grundsätzlich zwischen Auslegungskonflikten

und Zuständigkeitskonflikten unterscheiden.118

Versteht man unter einem Auslegungskonflikt einen Konflikt, welcher durch die unterschiedlicheAuslegung einer bestimmten Norm, beziehungsweise unterschiedlicher aber inhaltsgleicher Normen

entsteht119, so bezeichnet man einen Konflikt dann als Zuständigkeitskonflikt, wenn zwei oder mehr 

Gerichte in dem gleichen Fall angerufen werden.120

Auslegungskonflikte sind ein typisches Problem des internationalen Rechtssystems. Im Gegensatz

zu nationalen Rechtsordnungen besteht in der internationalen Rechtsordnung kein

Subordinationsverhältnis, wodurch keine übergeordneten Instanzen für eine etwaige Kontrolle

zuständig sind.121 In der internationalen Rechtsordnung stehen sich alle Gerichte auf horizontaler 

Ebene gegenüber, sodass jedes Gericht eine, in gewisser Hinsicht, autonome Einrichtung ist.

Voraussetzung für einen Auslegungskonflikt ist zumindest ein quasi-gerichtliches Verfahren.122 Des

Weiteren kann man nicht von einem Auslegungskonflikt sprechen, wenn das Problem die

Auslegung zweier nur inhaltsgleicher Normen aus unterschiedlichen Verträgen betrifft, welche

durch den unterschiedlichen Regelungsgehalt durchaus eine verschiedene Auslegung zulässt.123 Ein

weiterer Grund, der gegen das Zustandekommen eines Auslegungskonfliktes sprechen kann, ist,

dass zwischen die Auslegung einer bestimmten oder zweier inhaltsgleicher Normen ein größerer 

Zeitabstand getreten ist, welcher eine Rechtsentwicklung nahe legen würde und somit eine

abweichende Auslegung zulässt.124

Bei den Zuständigkeitskonflikten hingegen ist es notwendig, dass eine Parteiidentität besteht. 125 

118Siehe Oben Teils 2 u. 3119Siehe Oben Teil 3120Siehe Oben Teil 2121Siehe Oben Teil 3122Siehe Oben Teil 3, A123Siehe Oben Teil 3, B

124Siehe Oben Teil 3, C125Siehe Oben Teil 2, B I

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Außerdem muss es zunächst zu einer Zuständigkeitskonkurrenz gekommen sein, welche dadurch

entsteht, dass zum Beispiel ein Staat mehrere Verträge mit ähnlichem Regelungsgehalt

unterzeichnet hat, wodurch er wiederum die Möglichkeit hat, unterschiedliche Gerichte in der 

gleichen Streitsache anzurufen.126 Bei den Zuständigkeitskonflikten kann man grundlegend

zwischen zwei Formen unterscheiden, nämlich den konnexen Verfahren und der doppeltenRechtshängigkeit.127 Dabei stellt die Gruppe der konnexen Verfahren den weitaus größeren Teil dar,

sie bilden aber gleichzeitig auch die Gruppe der weniger intensiven Konflikte. 128 Dem gegenüber 

steht die doppelte Rechtshängigkeit von Verfahren. Diese ist zu bejahen wenn mindestens zwei

Gerichte im streitigen Fall zuständig sind und auch angerufen werden. Es muss Identität des

Streitgegenstandes und der Parteien bestehen.129

Spricht man von einer Kooperation zwischen internationalen Gerichten, muss man sich zunächst

darüber klar werden, ob eine solche überhaupt möglich ist. Zunächst scheinen bei einer näherenBetrachtung Probleme zu entstehen, wenn man den Fakt beachtet, dass Gerichte unabhängige

Organe sind, was eine Kooperationsfähigkeit von vornherein ausschließen könnte. Schaut man sich

aber die Praxis genauer an, fällt auf, dass in der Vergangenheit mehrmals Kooperationen zwischen

internationalen Gerichten stattgefunden haben und sogar Kooperationsvereinbarungen geschlossen

worden sind.130 Deshalb braucht man gar nicht näher auf das Problem der Unabhängigkeit eingehen,

obwohl dieses sehr schnell durch einen Vergleich mit der Kooperationsfähigkeit zwischen Staaten

und internationalen Organisationen entkräftet werden kann.131

Geht man nun weiter und möchte eine Pflicht zur Kooperation internationaler Gerichte statuieren,

wird dies nicht so einfach zu begründen sein. Zieht man erneut das Beispiel der Staatenpraxis heran,

wird man zwar bejahen können, dass dort eine Kooperationspflicht besteht, völlig unumstritten ist

eine solche aber auch nur in Bezug auf Konflikte zwischen ihnen.132 Somit ist es erst recht

schwierig eine Kooperationspflicht für internationale Gerichte zu bejahen. Auch hier kann man

davon ausgehen, dass im Konfliktfall eine Art Pflicht zur Kommunikation und Kooperation besteht

und die aufgezeigten Lösungsmechanismen133 Anwendung finden sollten. Vor allem auch die

Mechanismen der  res judicata, der  lis pendens in Zusammenhang mit der Lösung von

Zuständigkeitskonflikten, sowie der  stare decisis Grundsatz, anzuwenden bei Auslegungskonflikten,

statuieren jedoch eine Kooperationspflicht zwischen internationalen Gerichten. Eine rechtlich

126Siehe Oben Teil 2, B II127Siehe Oben Teil 2, C128Siehe Oben Teil 2, C II129Siehe Oben Teil 2, C I130Siehe Oben Teil 5, A131Siehe o. Fn. 130

132Dazu Siehe Oben Teil 5, B133Siehe Oben Teil 2, D; Teil 3, D

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 bindende Verpflichtung zur Kooperation kann jedoch nicht bejaht werden.134

In der Praxis kommunizieren internationale Gerichte als Sender und Empfänger.135 In ihrer Rolle als

Sender stellen sie rechtlich relevantes Material oder auch Informationen über Verfahrensabläufe zur 

Verfügung oder verwerten Genanntes als Empfänger, indem sie etwa Urteile anderer Gerichte

rezipieren.136

Die Kommunikation137

zwischen internationalen Gerichten stellt eineGrundvoraussetzung für eine zwischengerichtliche Kooperation dar.138

Die Rezeption von Urteilen anderer Gerichte hat im letzten Jahrzehnt ebenfalls stark zugenommen.

139 Grundlegend kann man hier zwischen einseitiger und wechselseitiger Rezeption unterscheiden.

Grund für eine Rezeption der Urteile anderer Gerichte ist vor allem die Stärkung oder der Ausbau

der eigenen Integrität.140 Gründe für eine Kooperation zwischen internationalen Gerichten sind

weiterhin die Weiterentwicklung und Festigung der Völkerrechtsordnung, die Effizienz

gerichtlichen Arbeitens, die Reziprozität und die Sozialisierung internationaler Richter.141

Schlussendlich ist zu sagen, dass sich die künftige Entwicklung zwischen internationalen Gerichten

in Zukunft wohl nicht maßgeblich verändern wird. Die Spezialisierung des Völkerrechts und die

Proliferation internationaler Gerichte wird sich in den kommenden Jahren weiter Fortsetzen. Mit

einer solchen weiteren Diversifizierung des Gerichtssystems wird allerdings der Drang nach immer 

engerer Kooperation steigen, sodass Gerichte wohl in Zukunft nicht mehr auf 

Kooperationsverpflichtungen angewiesen sein werden, sondern, wie es auch schon in der 

Vergangenheit stattgefunden hat, selbst die Notwendigkeit erkennen, die in einer Zusammenarbeit

zwischen ihnen liegt. Dadurch könnte in den kommenden Jahrzehnten ein internationales Rechts-

und Gerichtssystem entstehen, welches das Völkerrecht noch kompetenter und geschlossener 

vertritt als dies bisher der Fall gewesen ist.

134Siehe Oben Teil 5, B135Siehe Oben Teil 6, A136Siehe o. Fn. 135137Zu den verschiedenen Arten der Kommunikation siehe o. Fn. 135138Siehe o. Fn. 135139Siehe Oben Teil 6, B

140Siehe Oben Teil 6, C I141Dazu genauer: Oben Teil 6, C I - V

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