Konzeption Von Armut

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  • 7/26/2019 Konzeption Von Armut

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    ORTRUD LESSMANN

    Konzeption und Erfassung von Armut

  • 7/26/2019 Konzeption Von Armut

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    Volkswirtschaftliche Schriften

    Begrndet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broermann

    Heft 552

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    Konzeption und Erfassung

    von ArmutVergleich des Lebenslage-Ansatzes

    mit Sens Capability-Ansatz

    Von

    Ortrud Lemann

    Duncker & Humblot Berlin

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    Die Fakultt II fr Informatik, Wirtschafts- und Rechtswissenschaftender Carl von Ossietzky Universitt Oldenburg hat diese Arbeit

    im Jahre 2005 als Dissertation angenommen.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

    der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

    sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Alle Rechte vorbehalten 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

    Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, BerlinPrinted in Germany

    ISSN 0505-9372ISBN 978-3-428-12226-4

    Gedruckt auf alterungsbestndigem (surefreiem) Papierentsprechend ISO 9706

    Internet: http://www.duncker-humblot.de

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    Meinen Kindern Tobias und Pauline,die mir Armut und Reichtum zugleich bescheren

    Meinem Mann Ulf Teubel,der mir den Luxus wissenschaftlicher Arbeit gnnt

    Meinen Eltern Oki und Friedrich Lemann,die mir manche Mglichkeiten erffnet haben

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    Vorwort

    Die vorliegende Arbeit ist ber einen langen Zeitraum entstanden. Die Ab-sicht, eine Doktorarbeit zu verfassen, lag bereits der Ttigkeit als wissenschaft-liche Mitarbeiterin bei Herrn Professor Dr. Hans Wiesmeth an der TU Dresdenzu Grunde. Das Thema habe ich allerdings erst nach der Geburt meines Sohnesgefunden. Es hat mich lange begleitet. Etwa seit Beginn des Jahres 2001 habeich mich intensiv der Dissertation widmen knnen.

    Mein Dank gilt zunchst meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. UdoEbert von der Universitt Oldenburg, der mich als externe Doktorandin ange-nommen hat und immer ein offenes Ohr fr mich hatte. In den langen Diskus-sionen mit ihm haben meine Gedankengnge an Przision gewonnen. MeinemZweitgutachter Herrn Professor Dr. Wolfgang Voges vom Zentrum fr Sozial-politik der Universitt Bremen gilt ebenfalls mein herzlicher Dank fr dieUntersttzung in den letzten dreieinhalb Jahren. Er hat mein Verstndnissowohl der soziologischen Aspekte wie auch der praktischen Anwendungvertieft.

    Ermutigung sowie kompetente Kritik bezglich des philosophischen Hinter-grunds habe ich von Herrn Professor Dr. Volker Peckhaus (Universitt Pader-born) und Herrn Dr. Thomas Uebel (Universitt Manchester) erfahren. Des

    Weiteren mchte ich mich bei Herrn Professor Dr. Hans-Peter Weikard (Uni-versitt Wageningen) bedanken fr die Begleitung des Promotionsvorhabensvon den ersten Ideen bis hin zum Korrekturlesen. Fr das Gegenlesen einesTeils der Dissertation sowie fr manchen Ratschlag mchte ich mich bei HerrnProfessor Dr. Jrgen Volkert (FH Pforzheim) bedanken. Auf das Werk vonAmartya Sen hat mich zuerst William Kingsmill (DFID) aufmerksam gemacht,wofr ich ihm sehr dankbar bin.

    Schlielich mchte ich die Doktorandenseminare an den Universitten Dres-den, Oldenburg und Bremen erwhnen, die dafr gesorgt haben, dass ich nichtvom Kurs abgekommen bin. Insbesondere sei Herrn Professor Dr. JohannesBrcker (jetzt Universitt Kiel) fr seine freundliche Erlaubnis gedankt, anseinem Doktorandenseminar in Dresden teilzunehmen, das mein Verstndnis

    fr wissenschaftliches Arbeiten geprgt hat.Fr ihre finanzielle Untersttzung im Jahr 2002 bedanke ich mich bei der

    Heinz Neumller Stiftung, Oldenburg.

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    Vorwort8

    Ohne die beruhigende Gewissheit, dass meine Kinder im Kindertagesheim

    Spitzbergenweg in Hamburg gut aufgehoben waren und sind, htte ich dieArbeit nicht schreiben knnen, darum an dieser Stelle ein herzlicher Dank analle Erzieherinnen und die Leitung des Kindertagesheims!

    Fr Geduld, Aufmunterung, Finanzierung und praktische Untersttzung be-danke ich mich herzlich bei meinem Mann Dr. Ulf Teubel.

    Hamburg im Mai 2006 Ortrud Lemann

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    Inhaltsverzeichnis

    1. Einleitung ..................... ...................... ...................... ...................... ...................... ...... 13

    2. Armutsmessung: eine Einfhrung ..............................................................................21

    2.1 Absolute versus relative Auffassung von Armut..................................................23

    2.2 Methoden zur Festsetzung der Armutsgrenze ..................... ....................... .......... 26

    2.3 Armutsmae.........................................................................................................312.3.1 Die klassischen Armutsmae und ihre Kritik ...................... ....................... .31

    2.3.2 Axiomatik der modernen Armutsmae........................................................32

    2.3.3 Drei exemplarische Armutsmae.................................................................37

    2.4 Armutsordnungen.................................................................................................41

    2.4.1 Armutsordnungen: Variation der Armutsgrenze..........................................42

    2.4.2 Armutsordnungen: zustzlich Variation der Armutsmae...........................47

    2.5 Anstze zur multidimensionalen Armutsmessung................................................49

    2.5.1 quivalenzskalen ........................................................................................50

    2.5.2 Sequentielle Armutsdominanz.....................................................................51

    2.5.3 Schematische Einteilung und Definition multidimensionaler Armutsmae 52

    2.5.4 Zur Identifikation der Armen im multidimensionalen Fall..........................55

    2.5.5 Multidimensionale Axiomatik und Armutsordnungen ................................57

    3. Der Lebenslage-Ansatz ..............................................................................................60

    3.1 Der Lebenslage-Ansatz nach Neurath..................................................................62

    3.1.1 Motivation und Kontext...............................................................................62

    3.1.2 Zentrale Begriffe und Struktur des Ansatzes...............................................65

    3.1.3 Diskussion .................... ...................... ....................... ...................... ............ 76

    3.1.4 Aussagen zu Armut .....................................................................................78

    3.1.5 Operationalisierung .....................................................................................81

    3.2 Exkurs: Die Beitrge Nelsons und Grellings........................................................85

    3.2.1 Die Theorie des wahren Interesses von Nelson ...................... ..................... 86

    3.2.2 Der Lebenslage-Ansatz nach Grelling.........................................................903.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser..................................................................93

    3.3.1 Motivation und Kontext...............................................................................93

    3.3.2 Zentrale Begriffe und Struktur des Ansatzes...............................................94

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    Inhaltsverzeichnis10

    3.3.3 Diskussion ..................... ....................... ...................... ....................... .......... 99

    3.3.4 Aussagen zu Armut ...................................................................................109

    3.3.5 Operationalisierung ...................................................................................111

    3.4 Zusammenfassung: Zwei Lebenslage-Anstze ................................... ............... 123

    4. Der Ansatz von Sen..................................................................................................126

    4.1 Motivation und Kontext ...................... ...................... ...................... ................... 126

    4.1.1 Das Wissenschaftsbild Sens ......................................................................127

    4.1.2 Kritik an vorhandenen Theorien als Ausgangspunkt.. ....................... ........ 128

    4.1.3 Zusammenfassung.................... ...................... ...................... ..................... 136

    4.2 Zentrale Begriffe und Struktur des Ansatzes......................................................137

    4.2.1 Verwirklichungsmglichkeiten und Funktionen........................... ............. 137

    4.2.2 Formale Darstellung..................... ...................... ...................... ................. 1384.2.3 Basis fr interpersonelle Vergleiche..........................................................139

    4.2.4 Freiheit im Ansatz der Verwirklichungsmglichkeiten ........................ ..... 142

    Exkurs: Sens Begriff von Freiheit ......................................................................143

    4.3 Diskussion..........................................................................................................145

    4.3.1 Freiheit und Wohlergehen.................... ...................... ....................... ........ 146

    4.3.2 Freiheit und Menschenbild .................... ...................... ....................... ....... 150

    4.3.3 Nussbaums Fhigkeiten-Ansatz.................................................................155

    4.3.4 Gegenberstellung der Anstze von Sen und Nussbaum...................... ..... 158

    4.3.5 Zusammenfassende Einschtzung .............................................................165

    4.4 Aussagen zu Armut............................................................................................166

    4.4.1 Absolute oder relative Armut? ........................ ....................... ................... 166

    4.4.2 Dualismus im Ansatz der Verwirklichungsmglichkeiten....................... ..168

    4.4.3 Liste minimaler Funktionen.......................................................................173

    4.4.4 Zur wechselseitigen Beziehung zwischen Einkommen und

    Verwirklichungsmglichkeiten .................... ...................... ....................... 175

    4.5 Operationalisierung des Ansatzes ......................................................................176

    4.5.1 Auswahl der Dimensionen.........................................................................177

    4.5.2 Mgliche Datenquellen..............................................................................186

    4.5.3 Vorgehen beim Vergleich..........................................................................189

    4.5.4 Methoden...................................................................................................194

    5. Vergleich der Anstze .................... ...................... ...................... ...................... ........ 204

    5.1 Der theoretische Kontext der Anstze im Vergleich... ....................... ................ 205

    5.1.1 Die Lebenslage-Anstze im Kontext....................... ...................... ............ 206

    5.1.1.1 Der selbstgewhlte Kontext ..................... ...................... ................ 206

    5.1.1.2 Rezeption...................... ...................... ....................... .................... 210

    5.1.2 Sen im Kontext..........................................................................................218

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    Inhaltsverzeichnis 11

    5.1.2.1 Der selbstgewhlte Kontext ....................... ....................... ............. 218

    5.1.2.2 Rezeption........................ ....................... ...................... .................. 2225.1.3 Zusammenfassender Vergleich des Kontexts ...................... ...................... 226

    5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich......................................................229

    5.2.1 Parallelen in der Struktur...........................................................................230

    5.2.2 Zentrale Begriffe .......................................................................................239

    5.2.3 Zusammenfassender Vergleich von Struktur und Begrifflichkeit

    der Anstze................................................................................................256

    5.3 Konzeption von Armut.......................................................................................266

    5.3.1 Absolute und relative Armut .....................................................................267

    5.3.2 Dualismus in beiden Anstzen...................................................................270

    5.3.3 Armut als Erfllungslcke?....................................................................273

    5.3.4 Zusammenfassung ...................... ...................... ...................... ................... 2755.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung ..................... ....................... ...... 276

    5.4.1 Auswahl der Dimensionen.........................................................................277

    5.4.2 Zur Rolle von Indikatoren .........................................................................287

    5.4.3 Zur Auswahlmenge....................................................................................294

    5.4.4 Zusammenfassung ...................... ...................... ...................... ................... 301

    5.5 Armutsmessung..................................................................................................303

    5.5.1 Dimensionen fr die Armutsmessung........................................................303

    5.5.2 Struktur der Anstze und Armutsmessung....................................... .......... 307

    5.5.3 Zusammenfassung ...................... ...................... ...................... ................... 313

    6. Ergebnisse und Perspektiven....................................................................................315

    6.1 Ergebnisse des Vergleichs..................................................................................315

    6.2 Ausblick...................... ...................... ...................... ...................... ..................... 323

    Literaturverzeichnis......................................................................................................328

    Personen- und Sachregister ..........................................................................................354

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    Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen und Listen

    Abbildung 1: Dominanz erster Ordnung Armutsinzidenzkurve ...................... ............43Abbildung 2: Dominanz zweiter Ordnung Armutsdefizitkurve................................... 44Abbildung 3: Dominanz dritter Ordnung Armutsstrkekurve ...................... ...............46Abbildung 4: Schema zur Einteilung von Armutsmaen, die mehrere Dimensionen

    bercksichtigen....... ...................... ...................... ...................... ................54Abbildung 5: Schnittmenge und Vereinigungsmenge zur Identifikation der Armen......56

    Abbildung 6: Schema zur Einordnung der Kategorie Wohlergehen.............................136Abbildung 7: Armut als Fehlen minimaler Verwirklichungsmglichkeiten......... ........172Abbildung 8: Begrenzung des Bereichs der Auswahlmenge............... ........................ .297

    Tabelle 1: Eigenschaften einiger Armutsmae...............................................................40Tabelle 2: Datenquellen und Konzepte fr Wohlergehen........................................ .....186Tabelle 3: Empirische Arbeiten I..................................................................................202Tabelle 4: Empirische Arbeiten II .................... ...................... ...................... ................203Tabelle 5: Zu vergleichende Begriffe...........................................................................240Tabelle 6: Begriffe mit hnlicher Bedeutung .................... ....................... .................... 257Tabelle 7: Vergleich der Struktur der Anstze ....................... ...................... ................258Tabelle 8: Vergleich der Beispiele fr Dimensionen von Neurath und Sen.................282Tabelle 9: Gegenberstellung von Nussbaums und Nahnsens Dimensionen ...............284

    Liste 1: Leitfaden fr die Analyse der uns heute interessierenden Lebenslagen ..........113Liste 2: Weissers Gliederung der Gesellschaft nach Schichten......... ........................ ...114Liste 3: Dimensionen sozialer Lagen .................... ....................... ...................... ..........121Liste 4: Nussbaums Liste zentraler funktionaler Fhigkeiten............................. ..........181Liste 5: Alkires favorisierte Liste letzter Grnde fr Handlungen ......................... ......182Liste 6: Desais Liste mit Verwirklichungsmglichkeiten

    (grundlegende Funktionen) ..................... ....................... ...................... ............183

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    1. Einleitung

    Der Lebenslage-Ansatz und der Capability-Ansatz legen beide eine Kon-zeption fr Wohlergehen und Armut vor. Ihre Konzeptionen sind dadurchgekennzeichnet, dass sie Wohlergehen und Armut nicht nur an einer Gre sei es das Einkommen oder sei es der Nutzen festmachen, wie es in derWohlfahrtskonomie blich ist. Die Lebenslage bzw. das Capability set sindmultidimensional. Zudem entwickeln beide Anstze die Vorstellung, Wohler-gehen sei von der Handlungsfreiheit, die ein Mensch geniet, abhngig, undfassen Armut daher als eingeschrnkte Handlungsfreiheit auf. Die hnlichkeitzwischen beiden ist einigen Wissenschaftlern1 bereits aufgefallen, aber eineUntersuchung darber, wie weit die hnlichkeit geht, liegt bislang noch nichtvor. Diese Lcke wird mit dieser Arbeit geschlossen.

    Im Blick steht allerdings nicht nur die Konzeption von Armut in beiden An-stzen, sondern auch die Vorschlge zur Erfassung von Armut. Konzeption undErfassung von Armut bedingen sich gegenseitig. Um Armut erfassen messen

    zu knnen, bedarf es einer Definition, was unter Armut zu verstehen ist.Zugleich steht hinter der Suche nach einer Konzeption und Definition vonArmut bei den Anstzen die Auffassung, dass Armut ein Problem ist, das es zu

    bekmpfen gilt. Um diesen Kampf erfolgreich zu fhren, muss das Ziel nichtnur klar definiert sein, sondern sich auch erfassen lassen. Die Erfassung vonArmut ist gleichsam schon bei der Konzeption mitgedacht. Wie gro ist dieArmut? Wer ist betroffen? In welchen Formen tritt Armut auf? Ist die Armutgestiegen oder gesunken? Armut zu erfassen, heit, solcherlei Fragen zu

    beantworten. Die genaue Formulierung der Fragen obliegt indes der Konzepti-on von Armut.

    Mit ihrer Konzeption von Armut schlieen die Anstze an ein Verstndnisvon Armut an, das wir im Alltag verwenden: Armut erschpft sich nicht darin,wenig Geld zu haben. Generell sagen wir, jemand sei arm dran, wenn ihmetwas Schlimmes zugestoen ist. Arm nennen wir denjenigen, der seineArbeit verloren hat, ebenso wie denjenigen, der von seinem Partner verlassenwurde oder krank geworden ist. Wir wissen, dass unser Leben viele Aspektehat, die unser Wohlergehen ausmachen, und man daher genau hinschauen

    ___________1Hinweise auf die hnlichkeit der beiden Anstze finden sich bei Leibfried/Voges

    (1992), Schulz-Nieswandt (1995), Engelhardt (1998), Nemeth (1999), Rosner (2001),Sell (2002) und Uebel (2004). Vgl. auch Kapitel 5.

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    1. Einleitung14

    muss. Die befriedigende und gut bezahlte Arbeit kann mit berstunden und

    einem langen Fahrtweg verbunden sein. Die gnstige und schne Wohnungmitten in der Stadt ist fr ein kinderloses Paar gut, sobald jedoch Nachwuchsda ist, ist sie zu klein und fehlen die Spielpltze, Kindergrten, Schulen, rzteu. . in der Nhe. Wir wgen ab und beurteilen die Lage des anderen in ihrerGesamtheit. Als arm bezeichnen wir in der Umgangssprache insbesondereauch diejenigen, die nicht die Perspektive haben, aus ihrer Situation herauszu-kommen, wie z. B. eine Familie mit mehreren Kindern, von denen eines aneiner chronischen Krankheit leidet, und die in einem Viertel wohnt, wo zwarGroeltern und Arbeitsstelle in der Nhe sind, aber weder Kindergrten nochweiterfhrende Schule. Die knappen Finanzen, die Pflege besonders deskranken Kindes, die geringen Betreuungs- und Bildungsangebote fr dieKinder sowie die Schwierigkeiten eines Stellen- und Ortswechsels wirken

    zusammen und lassen jegliche Vernderung der Situation schwierig bis unmg-lich erscheinen. Im Alltagsverstndnis von Armut lassen sich also beide Ele-mente wiederfinden, welche die Konzeption von Armut in den hier betrachte-ten Anstzen kennzeichnen: die Multidimensionalitt und die Bercksichtigungder Handlungsfreiheit. Und dies gilt keinesfalls nur fr das Verstndnis vonArmut in Industrielndern. Bspw. haben die Sdafrikaner im Kampf gegen dasApartheidregime wirtschaftliche Einbuen in Kauf genommen.

    Die Armutsmessung greift dennoch fast ausschlielich auf das Einkommenzur Bestimmung von Armut zurck. Dafr lassen sich verschiedene Grndeanfhren: Erstens zielt jegliche Messung auf Quantifizierung dessen ab, wasgemessen werden soll. Diese Aufgabe ist leichter in Bezug auf nur eine als aufmehrere Gren zu bewerkstelligen und leichter bei Gren, die ohnehin schon

    in quantifizierter Form vorliegen. Zweitens wird Armut teilweise auf Geld-mangel zurckgefhrt in der Annahme, man knne sich mit Geld alles kaufen,was fr ein (gutes) Leben wichtig ist. Drittens gibt es bislang nur wenigeVersuche, Armut multidimensional zu konzipieren. Eine solche Konzeption istaber eine notwendige Voraussetzung, um Messkonzepte erstellen zu knnen.

    Diese Arbeit stellt zwei entsprechende Anstze vor und vergleicht sie ein-schlielich ihrer Vorschlge zur Erfassung multidimensionaler Armut. DerLebenslage-Ansatz hat in Deutschland seit den 90er Jahren des 20. Jahrhun-derts eine Renaissance erfahren, indem er zunchst als Grundlage fr dieSozialberichterstattung propagiert wurde und schlielich dem ersten Armuts-und Reichtumsbericht der Bundesregierung Deutschlands (BMA 2001a, b)zugrunde gelegt wurde. ber die Grenzen Deutschlands hinaus ist der Lebens-

    lage-Ansatz kaum bekannt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass demBegriff Lebenslage sehr unterschiedliche Bedeutungen zugesprochen wer-den. Dies ist nicht erst seit der Wiederentdeckung des Ansatzes so, sondernliegt in der Entwicklung des Lebenslage-Ansatzes begrndet: Otto Neurath hatden Begriff der Lebenslage zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Friedrich

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    1. Einleitung 15

    Engels aufgenommen und darunter die Lebensbedingungen eines Menschen

    oder einer Gesellschaft verstanden. Kurt Grelling hat den Begriff bernommenund Gerhard Weisser darauf aufmerksam gemacht, ihn aber gleichzeitig neuinterpretiert als Menge der mglichen Lebensbedingungen, unter denen jederMensch zu whlen habe, um seine Interessen zu befriedigen. Gerhard Weisserhat diese Auffassung in den 50er bis 70er Jahren des 20. Jahrhunderts weiter-entwickelt und die griffige Definition der Lebenslage als Spielraum fr dieBefriedigung von Interessen geprgt. berlagert wird die Bedeutung desBegriffs gem des Lebenslage-Ansatzes zudem von der umgangssprachlichenBedeutung und von der Bedeutung im soziologischen Kontext von Lebensla-gen, Lebenslufen und Lebensstilen (Berger/Hradil 1990).

    Amartya Sen arbeitet an dem Capability-Ansatz, den ich im Folgenden alsAnsatz der Verwirklichungsmglichkeiten bezeichnen werde, seit Beginn der

    80er Jahre des letzten Jahrhunderts bis heute. Ausgehend von einer Kritiksowohl an der Wohlfahrtskonomie als auch an den Ideen von Rawls und

    Nozick sucht er einerseits das, was Wohlergehen ausmacht, besser und direkterzu erfassen mit seiner Kategorie der Funktionen (functionings) und andererseitsauch der Freiheit und ihrem Prozesscharakter eine Rolle einzurumen, indem ereine Menge an Verwirklichungsmglichkeiten konzipiert. Bezglich SensTerminologie existiert wie beim Lebenslage-Ansatz eine gewisse Unstim-migkeit, weil der Unterschied zwischen Funktionen und Verwirklichungsmg-lichkeiten (capabilities) nicht immer deutlich ist und Sen selber seine Begriffemit der Zeit verndert hat. Sen bietet in Grundzgen auch eine Formalisierungseines Ansatzes. Zudem hat er den Ansatz stets auch angewandt. So hat er ander Entwicklung des Human Development Index (HDI) und des Human Pover-

    ty Index (HPI) fr das United Nations Development Program (UNDP) mitge-arbeitet und ist von der Weltbank zu Vortrgen eingeladen worden. Seine Ideenhaben groes Aufsehen erregt und werden lebhaft in der ganzen Welt disku-tiert.2

    Wie bereits erwhnt, haben die beiden Anstze nicht nur gemeinsam, dasssie Armut bzw. allgemeiner Wohlergehen multidimensional konzipieren,sondern sie enthalten beide die Vorstellung einer Auswahlmenge die Weissertreffend als Spielraum umschreibt und Sen als Menge an Verwirklichungs-mglichkeiten (capability-set) bezeichnet. Der Vergleich der Anstze auf ihrehnlichkeit ist das erste Ziel der Arbeit. Dabei lsst sich die allgemeine Frage,wie hnlich sich die Anstze sind, in Bezug auf die Terminologie zuspitzen:Sind die Begriffe austauschbar? Meinen Neurath und Weisser mit Lebensla-

    ge dasselbe wie Sen mit Verwirklichungsmglichkeiten? In Bezug auf dieStruktur lauten die Fragen: Stimmen die Dimensionen beider Anstze berein?Fgen sie die Auswahlmenge an derselben Stelle in ihre Struktur ein?

    ___________2Dies wird in Abschnitt 5.1.2 ausfhrlich dargestellt.

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    1. Einleitung16

    Falls sich die Vermutung besttigt, dass die Anstze sich in ihrer Konzepti-

    on hneln, ist die daran anschlieende Vermutung zu berprfen, dass sie sichauch in den Anwendungen, bei der Erfassung von Armut, hneln. Denn daszweite Ziel der Arbeit ist es, Wege zu skizzieren, wie sich die Konzeptionmultidimensionaler Armut in die Erfassung derselben umsetzen lsst. Wie

    bereits oben angedeutet, steht die Konzeption von Armut in engem Zusam-menhang mit ihrer Erfassung, so dass einer Konzeption, die sich nicht auch frdie Armutsmessung eignet, etwas entscheidendes fehlt. Der Vergleich derAnstze erstreckt sich daher auch auf die Operationalisierung im weitestenSinne und konzentriert sich besonders auf die Anwendung bei der Erfassungvon Armut. Eine wichtige Voraussetzung fr den Vergleich der Anstzehinsichtlich ihrer Anwendung auf die Armutsmessung stellt dabei die Kenntnisder Theorie zur Erfassung von Armut dar.

    Die Arbeit nhert sich den Anstzen mit Hilfe von Originaltexten, d. h. unterBezugnahme auf Texte jener Autoren, die den jeweiligen Ansatz entwickelthaben. Daher hier eine Bemerkung zur Zitierweise: Falls ich es nicht ausdrck-lich anders erwhne, bernehme ich die Hervorhebungen aus dem Original.

    Der Vergleich der Anstze stellt sie zunchst einander gegenber, um ihreStrken und Schwchen vor dem Hintergrund des jeweils anderen Ansatzes zuidentifizieren. Der Vergleich mndet jedoch nicht in die Empfehlung einesAnsatzes als berzeugendste Konzeption, sondern untersucht, inwieweit einAnsatz in Einzelpunkten berzeugender als der andere ist und ob sich dieAnstze ergnzen. Ebenso wenig mndet die Gegenberstellung der Anstze

    bezglich ihrer Anwendung in der Empfehlung einer Methode. Vielmehr ist dieArbeit in dem Interesse geschrieben worden, Probleme bei der Konzeption und

    Erfassung multidimensionaler Armut aufzuzeigen und Lsungen dafr zuskizzieren und gegeneinander abzuwgen.

    Die Ergebnisse der Arbeit drften fr die Einschtzung der deutschen Ar-mutsberichterstattung im internationalen Vergleich von Bedeutung sein. hneltdas ihr zugrunde liegende Konzept des Lebenslage-Ansatzes der Konzeptionvon Sen, so knnen die empirischen Studien zu beiden Anstzen verglichenwerden und so die Methoden in beide Richtungen bertragen.

    Skizze des weiteren Vorgehens

    Bevor die hier im Mittelpunkt stehenden multidimensionalen Anstze vorge-stellt werden, fhrt Kapitel 2 in die Theorie der Armutsmessung ein. Bislangwird Armut meist als Einkommensarmut gemessen. Die grundlegendenSchwierigkeiten der Erfassung von Armut sind bereits an der Messung vonEinkommensarmut abzulesen: ber die Definition von Armut herrscht allesandere als Einigkeit, aber die verschiedenen Definitionen lassen sich im Spek-

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    1. Einleitung 17

    trum zwischen absoluter und relativer Auffassung von Armut ansiedeln. Die

    Messung von Einkommensarmut lsst sich in zwei Schritte, nmlich die Identi-fikation der Armen und die Aggregation der Armut, einteilen. Der erste Schritt

    beinhaltet die Festlegung einer Armutsgrenze und der zweite die Auswahl einesArmutsmaes. Beiden Schritten haftet eine gewisse Willkr an, so dass dieFrage nach der Robustheit von Armutsmessungen gegenber Vernderungender Armutsgrenze bzw. des Armutsmaes entsteht. Eine Mglichkeit, dieRobustheit zu untersuchen, ist die Erstellung von Armutsordnungen. All dieseberlegungen beziehen sich auf die Erfassung von Armut anhand des Ein-kommens und belegen eindrucksvoll, wie viel zu beachten ist, selbst wennArmut nur anhand einer Dimension gemessen wird. Bemerkenswert ist ferner,dass sowohl die Einteilung der Armutsmessung in zwei Schritte als auch derAnsto zur axiomatischen Charakterisierung von Armutsmaen von Sen

    gekommen ist, er also mit den Problemen der Messung von Einkommensarmutbestens vertraut ist.

    In den letzten zehn Jahren ist nicht nur der Ruf nach multidimensionalerArmutsmessung lauter geworden, sondern es sind auch verstrkt Anstrengun-gen zur Entwicklung multidimensionaler Messkonzepte unternommen worden.Das Kapitel 2 endet mit der Vorstellung dieser Konzepte und definiert, wasunter einem multidimensionalen Armutsma zu verstehen ist. Es schafftdamit eine Grundlage zur Einschtzung der Vorschlge zur Armutsmessung,die aus den in der Arbeit betrachteten Anstzen entstanden sind, wie sie inKapitel 5 vorgenommen wird.

    Nach dieser Vorarbeit wird im Kapitel 3 der Lebenslage-Ansatz und im Ka-pitel 4 der Ansatz der Verwirklichungsmglichkeiten von Sen vorgestellt. In

    diesen beiden Kapiteln werden die Anstze je fr sich dargestellt, also ohneBezug auf den jeweils anderen. Ziel ist hierbei, jeweils ihre eigene Logikaufzuspren, sie aus sich selbst und ihrem Kontext heraus zu begreifen undihren spezifischen Beitrag zur Armutsmessung (zur Konzeption von Armut undzur Anwendung fr die Messung) herauszuarbeiten. Dem Kapitel 5 ist vorbe-halten, die beiden Anstzen in Beziehung zueinander zu setzen und sie zuvergleichen. Um den Vergleich zu erleichtern, sind die Kapitel 3 und 4 gleichgegliedert in folgende fnf Abschnitte: Motivation und Kontext, zentraleBegriffe und Struktur, Diskussion, Aussagen zu Armut sowie Operationalisie-rung.

    Im ersten Abschnitt ber Motivation und Kontext wird jeweils der histori-sche Platz des Ansatzes kurz skizziert, die Themen, die den Autor des Ansatzes

    beschftigt haben, und das Bild von Wissenschaft und dem Verhltnis vonWissenschaft zu Politik, das sich in seinen Schriften finden lsst.

    Der zweite Abschnitt ber die zentralen Begriffe und die Struktur des An-satzes arbeitet den Kern des jeweiligen Ansatzes heraus. Die zentralen Begrif-

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    1. Einleitung18

    fe zeigen, fr welche Themen der Ansatz eine Begrifflichkeit entwickelt hat

    (und fr welche nicht). In der Struktur der Anstze spiegelt sich wider, welcheZusammenhnge als wichtig erachtet werden (und welche nicht). Dabei be-schrnkt sich der zweite Abschnitt in den Kapiteln 3 und 4 darauf, die innereLogik der Anstze nachzuzeichnen. Die kritische Diskussion ist dem folgendenAbschnitt vorbehalten und die Gegenberstellung mit dem jeweils anderenAnsatz dem Kapitel 5.

    Die Diskussion des Ansatzes im dritten Abschnitt enthlt erstens die Diskus-sion von Unstimmigkeiten, die bei der Vorstellung der zentralen Begriffe undder Struktur zutage getreten sind. Zweitens wird so vorhanden die Diskus-sion des jeweiligen Ansatzes in der Literatur wiedergegeben und drittens diedaraus entstandene Weiterentwicklung des Ansatzes kurz skizziert.

    In einem vierten Abschnitt sind jeweils alle Aussagen des Ansatzes gesam-melt, die sich speziell auf Armut beziehen. Dabei wird deutlich, dass die An-stze sich nicht auf die Konzeption von Armut beschrnken, sondern Wohler-gehen im Allgemeinen konzipieren und Armut als einen wichtigen Spezialfall ansehen. Diesbezglich treffen sie sowohl Aussagen zur relativenoder absoluten Natur von Armut und Gerechtigkeit, als auch Aussagen zumVerhltnis von Individuum und Gesellschaft bei der Festlegung von Standards.

    Neben diesen eher abstrakten Gedanken finden sich auch berlegungen zurFestlegung von Armutsgrenzen und zur Frage, welche Dimensionen neben demEinkommen fr die Erfassung von Armut von Bedeutung sind. Kurzum: DieserAbschnitt ist eine Zusammenstellung all dessen, was die Anstze zu Armutaussagen.

    Auch der fnfte Abschnitt in der Vorstellung der Anstze ist sehr breit ange-legt. In ihm sind sehr unterschiedliche Ausfhrungen im Zusammenhang mitder Operationalisierung des jeweiligen Ansatzes zu finden. Der Begriff derOperationalisierung wird dabei weit gefasst: Beginnend mit grundstzlichenberlegungen der Autoren der Anstze, ob eine Anwendung berhaupt wn-schenswert ist, ob sie eher qualitativer oder quantitativer Natur sein soll undwelche Rolle die Mathematik dabei spielt, befasst sich der Abschnitt mitkonzeptionellen berlegungen zur Anwendung der Anstze, wie z. B. mit derAuswahl der Dimensionen, der Aggregation ber mehrere Dimensionen sowieder Systematisierung verschiedener Methoden und Datenquellen. Schlielich

    bietet dieser Abschnitt auch einen berblick ber empirische Studien, die sichauf den jeweiligen Ansatz berufen und daher als Operationalisierung desselben

    betrachtet werden knnen.

    Wie die Arbeit zeigt, verbergen sich hinter dem Lebenslage-Ansatz zwei,wenn nicht drei Anstze. Daher werden im Kapitel 3 die Anstze von Neurathund Weisser in Unterabschnitten getrennt vorgestellt und zwischen beiden ineinem Exkurs die Ideen von Nelson und der Ansatz von Grelling kurz skizziert.

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    1. Einleitung 19

    Der recht bekannte Lebenslage-Ansatz von Nahnsen wird hingegen als eine

    Weiterentwicklung des Weisserschen Ansatzes aufgefasst und daher im Ab-schnitt zur Diskussion von Weissers Ansatz erlutert.

    Wie bereits erwhnt, stellt das Kapitel 4 den Ansatz der Verwirklichungs-mglichkeiten von Sen vor. Seine Auseinandersetzung mit dem Utilitarismusund anderen Gerechtigkeitstheorien wird im Abschnitt 4.1 zu Motivation undKontext wiedergegeben, denn sie gehrt m. E. nicht zum Kern seines Ansatzes,sondern stellt nur einen wichtigen Hintergrund dar fr die Entwicklungseiner Gedanken. Zum Kern seines Ansatzes gehrt indes sein Freiheitsbegriff,der allerdings weil Sen ihn bereits vor und parallel zu seinen Arbeiten zumAnsatz der Verwirklichungsmglichkeiten entwickelt hat in einem Exkurstiefergehend betrachtet wird. Der Ansatz von Nussbaum, der ebenfalls unterdem Namen Capability-Ansatz bekannt ist, weist etliche Unterschiede zu

    Sens Ansatz auf, weshalb m. E. zwischen beiden strker differenziert werdensollte, als es meist der Fall ist. Hier wird Nussbaums Ansatz im Abschnitt 4.3ber die Diskussion des Senschen Ansatzes vorgestellt, ihre berlegungenflieen jedoch auch in den Abschnitt 4.4 zu Armut und den Abschnitt 4.5 zurOperationalisierung des Ansatzes ein.

    Kapitel 5 vergleicht die Lebenslage-Anstze von Neurath, Grelling undWeisser mit dem Ansatz von Sen und geht teilweise auch auf die Ideen von

    Nahnsen und Nussbaum sowie auf die verschiedenen Vorschlge zur Operatio-nalisierung ein. Es folgt dabei einer etwas anderen Gliederung als die Vor-stellung der Anstze in den vorigen Kapiteln, weil der Schwerpunkt auf demVergleich der Anstze bezglich der Konzeption und Erfassung von Armutliegt.

    Zunchst wird im Abschnitt 5.1 der theoretische im Gegensatz zum politi-schen und zeitgeschichtlichen Kontext erlutert, in welchem die Anstzestehen. Zum einen ist darunter der selbstgewhlte Kontext zu verstehen, in dendie Autoren ihre Anstze gestellt haben und der bereits bei der Vorstellung derAnstze unter der berschrift Motivation und Kontext angedeutet wird. Zumanderen geht es um den Kontext, in welchem sie wahrgenommen und diskutiertwurden und werden, was teilweise schon unter der berschrift Diskussion

    bei der Vorstellung der Anstze erwhnt wird. Die Errterung im Kapitel 5geht allerdings ber die entsprechenden Stellen in vorigen Kapiteln hinaus,weil sie den Kontext der Lebenslage-Anstze gebndelt jenem des Ansatzesder Verwirklichungsmglichkeiten gegenber stellt und dabei auch Themenge-

    biete aufgreift, die in keinem direkten Zusammenhang zur Armutsmessung

    stehen und daher vorher nicht erwhnt worden sind. Nach der Gegenberstel-lung fasst ein Vergleich des Kontexts die (wenigen) Gemeinsamkeiten und diedeutlichen Unterschiede darin zusammen. Es zeigt sich, dass Armut zu dengemeinsamen Themen der Anstze zhlt, aber von unterschiedlicher Warte ausangegangen wird.

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    1. Einleitung20

    Im Abschnitt 5.2 werden die Anstze in ihrer Struktur und ihre zentralen

    Begriffe verglichen. Dieser Abschnitt stellt gewissermaen den Kern desVergleichs dar. Er steht in enger Verbindung zu den jeweiligen AbschnittenZentrale Begriffe und Struktur des Ansatzes in den Kapiteln 3 und 4, be-trachtet allerdings zuerst die Parallelen in der Struktur, um dann durch dendetaillierten Vergleich der Begrifflichkeit die hnlichkeit in der Struktur derAnstze zu besttigen oder zu widerlegen. Der abschlieende Schritt desVergleichs besteht darin, ein Schema zu entwickeln, mit dessen Hilfe sich diehnlichkeiten und Unterschiede der Anstze zusammenfassend darstellenlassen.

    Die grundlegenden Erwgungen der Anstze zur Konzeption speziell vonArmut werden in Kapitel 5 von konkreten berlegungen zur Erfassung vonArmut getrennt behandelt. Abschnitt 5.3 vergleicht die Anstze auf ihre

    relative bzw. absolute Auffassung von Armut hin und daraufhin, ob und wiesie den Widerspruch zwischen objektivistischer und subjektivistischer Ausrich-tung auflsen. Bevor die konkreten Ideen zur Armutsmessung verglichenwerden, nimmt Abschnitt 5.4 die allgemeinen Probleme der Operationalisie-rung und ihre Lsung in den Anstzen unter die Lupe. Ein Problem, das allenmultidimensionalen Anstzen gemein ist, ist die Auswahl relevanter Dimensio-nen. Verschiedene Kriterien sind im Zusammenhang mit den Lebenslage-Anstzen und dem Capability-Ansatz vorgeschlagen worden. Ein weiteresallgemeines Problem multidimensionaler Anstze ist die Rolle von Indikatoren.Ein Problem speziell dieser beiden Anstze besteht darin, die Idee der Aus-wahlmenge anwendbar zu machen.

    Abschnitt 5.5 widmet sich dann der Anwendung der Anstze auf die Ar-

    mutsmessung. Zunchst werden noch einmal die allgemeinen Probleme derAuswahl von Dimensionen und der Rolle des Einkommens als Indikatorerrtert und die Anstze daraufhin befragt, ob sie in der Armutsmessung einenSonderfall diesbezglich sehen. Dann stellt der Abschnitt die Definition multi-dimensionaler Armutsmae aus Kapitel 2 der schematischen Einteilung der

    behandelten Anstze in Abschnitt 5.2 gegenber und diskutiert, welche Metho-den fr die Armutsmessung mit Hilfe dieser Anstze in Frage kommen undwelche Rolle die Datengrundlage spielt.

    Die Ergebnisse des Vergleichs und die Perspektiven, die sich daraus fr dieweitere Forschung und Verwendung der Anstze ergeben, fasst Kapitel 6zusammen. Insbesondere werden die Strken und Schwchen der Anstzeeingeschtzt und Anregungen fr die weitere Entwicklung und Verwendungderselben gegeben. Ferner wird auf weiteren Forschungsbedarf hingewiesen.

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    2. Armutsmessung: eine Einfhrung

    Dieses Kapitel fhrt in die (Theorie der) Armutsmessung3 ein. Nach Sen(1976a) lsst sich die Armutsmessung in zwei Schritte einteilen: Identifikationder Armen und Aggregation der Armut in der Gesellschaft. Zur Identifikationder Armen dient eine Armutsgrenze, welche die Bevlkerung in Arme und

    Nichtarme einteilt. Ist die Armutsgrenze gegeben, so versucht ein Armutsma,die Armut in der Gesamtgesellschaft in einer Kennziffer zu erfassen. DieArmutsmae unterscheiden sich dahingehend, welche verschiedenen Aspekteder Armut Anzahl der Armen, Ausma und Verteilung der individuellenArmut sie erfassen und wie sie erfasst werden. In der Regel wird Armut dabeianhand des Einkommens gemessen.

    Insgesamt orientiert sich die Gliederung des Kapitels an diesen beidenSchritten der Armutsmessung, doch zuvor (Abschnitt 2.1) sollen kurz dieAuffassungen skizziert werden, welche die Pole darstellen, zwischen denen dieverschiedenen Definitionen von Armut sich einordnen lassen: die absolute unddie relative Auffassung von Armut. Zu welcher Auffassung eine Definition vonArmut neigt, zeigt sich vor allem bei der Festlegung der Armutsgrenze (Ab-schnitt 2.2). Doch auch einige Eigenschaften der Armutsmae (Abschnitt 2.3)stehen fr eine relative bzw. absolute Auffassung von Armut. Die weit entwi-ckelte Axiomatik, welche die Eigenschaften der Armutsmae systematischerfasst, wird indes meist gar nicht ausgenutzt: In der Praxis stellt die Anzahlder Armen im Verhltnis zur Gesamtbevlkerung (die Armutsquote) immernoch das am hufigsten verwendete Armutsma dar. Als ein Grund dafr lsstsich anfhren, dass die Axiomatik nicht dazu fhrt, ein ideales Armutsmazu identifizieren, sondern eher die Vor- und Nachteile einzelner Mae auf-weist. Zudem ist auch die Entscheidung fr eine Armutsgrenze mit einergewissen Willkr behaftet. Daher suchen Armutsordnungen nach berein-stimmungen in der Beurteilung von Einkommensverteilungen fr verschiedeneArmutsgrenzen (Abschnitt 2.4.1) oder verschiedene Armutsmae (Abschnitt2.4.2). Ein Grundproblem bleibt jedoch auch bei diesen Anstzen zur Beurtei-lung von Armut ber Dominanzordnungen: Sie beruhen nur auf der Einkom-mensverteilung.

    ___________3Eine kurze Einfhrung in die Armutsmessung findet man bei Quibria (1991) und

    Blackwood/Lynch (1994). Einen guten berblick in Hinsicht auf die Anwendungbesonders in Entwicklungslndern geben Sautter/Serries (1993) sowie Ravallion (1994).In die Theorie fhrt Seidl (1988) ein.

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    2. Armutsmessung: eine Einfhrung22

    Die Definition von Armut nur ber die Einkommensverteilung wird jedoch

    schon seit langem kritisiert und einhellig gefordert, Armut als multidimensio-nales Phnomen zu definieren. Einen ersten Schritt in diese Richtung stellendie quivalenzskalen (Abschnitt 2.5.1) dar, mit denen der Lebensstandard vonHaushalten verschiedener Gre und Zusammensetzung vergleichbar gemachtwerden soll. Weil jedoch der Festlegung auf eine quivalenzskala ebenso wieder Festlegung auf eine Armutsgrenze Willkr anhaftet, sucht die sequentielleDominanz (Abschnitt 2.5.2) nach bereinstimmungen in der Beurteilung vonEinkommensverteilungen ber verschiedene quivalenzskalen. Es ist jedochfraglich, ob damit das Problem der Multidimensionalitt umfassend gelst ist.Daher stelle ich in Abschnitt 2.5.3 ein Schema vor, mit dem sich multidimensi-onale Anstze klassifizieren und Fragen zur Definition multidimensionalerArmutsmae systematisch erfassen lassen. In Abschnitt 2.5.4 werden die

    Probleme diskutiert, die sich im multidimensionalen Fall fr die Identifikationder Armen ergeben. Der Abschnitt 2.5.5 erlutert, inwieweit eine bertragungder Axiomatik sowie eine Anwendung der Methode der stochastischen Domi-nanz auf den multidimensionalen Fall mglich ist.

    Bevor ich mit dem eigentlichen Kapitel beginne, mchte ich noch auf einigegrundlegende Probleme bei der Einkommensmessung aufmerksam machen,denn das Einkommen ist fr die Armutsmessung eine zentrale Gre, selbstwenn man zu mehreren Dimensionen bergeht.

    Den Daten zum Einkommen haften mehrere Probleme an4: Erstens sind ei-nige Komponenten des Einkommens schwierig zu erfassen. Bei Sachleistungen(z. B. Fahrkarten), ffentlichen Gtern (z. B. Infrastruktur) und Eigenprodukti-on stellt sich die Frage, wie diese monetr zu bewerten sind und in das Ein-

    kommen einflieen. Zweitens ist die zeitliche Abgrenzung gerade in bezug aufArmutsmessung von Bedeutung. Das jhrliche Einkommen spiegelt nicht diesaisonalen Schwankungen wider, die zu zeitweiser Armut fhren. Auf eineWoche oder gar auf einen Tag bezogene Angaben sind aber unbefriedigend,weil sie berhaupt keinen (erwnschten oder erzwungenen) Ausgleich zulas-sen. In diesem Zusammenhang stellt sich drittens die Frage, inwieweit dasVermgen mit einbezogen werden soll und kann. Viertens vertreten einigeAutoren5 die Ansicht, es sei besser die Ausgaben als das Einkommen zumessen, weil dies einige der Probleme lst: Das Einkommen kann saisonaleSchwankungen aufweisen, die bei den Ausgaben ausgeglichen werden. Dochfr die Ausgaben gilt, dass in der Regel keine Daten vorhanden sind. Sie

    ___________4Diese Probleme beschreibt bspw. Ruggels (1990) ausfhrlicher.5Vgl. bspw. Quibria (1991), Blackwood/Lynch (1994) oder Jorgenson (1998).

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    2.1 Absolute versus relative Auffassung von Armut 23

    mssten durch umfassende empirische Studien erhoben werden und werden

    eventuell durch die Studie selbst beeinflusst.6

    2.1 Absolute versus relative Auffassung von Armut

    In der Armutsmessung gibt es zwei gegenstzliche Grundberzeugungen,die ich als absolute und relative Auffassung von Armut bezeichnen mchte. Siesind als Pole zu verstehen, zwischen denen die verschiedenen Definitionen vonArmut eingeordnet werden knnen. In der Regel wird nur von absoluter undrelativer Armutsgrenze (s. u.) gesprochen, ich meine jedoch, dass sich dieAuffassung auch auf die Armutsmessung auswirkt und somit die Wahl desArmutsmaes bestimmt. Die hier aufgefhrten Aussagen sind als pointierte

    Versionen der Auffassungen zu betrachten.Die Vertreter der absoluten Auffassung von Armut haben den Kampf um

    Leben und Tod vor Augen, daher lsst sich Armut im absoluten Sinne folgen-dermaen definieren:

    Arm ist, wer nicht ber die Dinge verfgt, die zum berleben notwendig sind.

    Anders gesagt: Wer verhungert, ist arm. Wer durch mangelnde Hygiene le-bensbedrohlich erkrankt, ist arm. Es sind solche Flle, bei denen sich kaumbestreiten lsst, dass Armut vorliegt, die als kraftvolle Argumente fr dieseAuffassung vorgebracht werden (z. B. Sen 1983a). Die Vertreter der absolutenAuffassung sehen Armut als einen Zustand an, der sich qualitativ stark von

    Nicht-Armut unterscheidet. Insofern stellt die Armutsgrenze nach der absolutenAuffassung prinzipiell etwas dar, das sich nicht beliebig festlegen oder ver-

    schieben lsst. Der Unterschreitung der Armutsgrenze wird ein groes Gewichtbeigemessen, weil an dieser Grenze ein absoluter Verlust einsetzt, auch wenndie Unterschreitung der Grenze relativ geringfgig ist (Bourguignon/Fields1997, S. 157). Wenn mir z. B. ein Cent zum Kauf von Schuhen fehlt, ist dieScham, keine Schuhe zu besitzen, genau so gro wie in dem Fall, wenn mir 20Euro dafr fehlen.

    Problematisch an dieser Auffassung ist, dass sie mit der berzeugendenFestlegung einer absoluten Grenze steht und fllt. Die lebensnotwendigenDinge oder zumindest die Kriterien dafr sollen bestimmt werden fr alleOrte, fr alle Zeiten und fr alle Menschen. Doch die Menschen 7unterscheidensich in ihrem Geschlecht, ihrer Gre, ihrem Gewicht und ihrem Alter. Sie

    ___________6 Wer die tglichen Ausgaben festhalten muss, wird sich ihrer mehr bewusst und

    verndert deshalb eventuell sein Verhalten.7 In meiner Arbeit benutze ich die Begriffe Mensch, Person und Individuum

    synonym.

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    2. Armutsmessung: eine Einfhrung24

    leben in unterschiedlichen Klimazonen, gehen unterschiedlichen Arbeiten nach

    und verfgen ber verschiedenste Technik. Nicht zuletzt gehren sie unter-schiedlichen Kulturen an und die Gesellschaften, in denen sie leben, sindunterschiedlich strukturiert. Tatschlich ist es noch nicht einmal mglich,einheitlich fr alle ein Minimum an Nhrstoffen zu bestimmen8und daraus eineZusammenstellung der lebensnotwendigen Lebensmittel abzuleiten. Schwieri-ger noch drfte dieses Unterfangen in anderen Bereichen lebensnotwendigerDinge sein wie Kleidung und Behausung, da in diesen Bereichen kulturelleUnterschiede noch augenflliger sind. Vllig unmglich erscheint die Festle-gung eines absoluten Bedarfs an gesellschaftlicher Anerkennung.

    Die relative Auffassung geht daher davon aus, dass Armut nur mit Bezugauf das gesellschaftliche Umfeld definiert werden kann:

    Arm ist, wer sich den in der Gesellschaft herrschenden minimalen Lebensstandardnicht leisten kann.

    Der minimale Lebensstandard lsst sich ebenso wenig eindeutig festlegenwie die lebensnotwendigen Dinge, aber es ist ein Standard, der nur fr einen

    bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit Gltigkeit beansprucht. Damit stelltsich aber zugleich die Frage, ob Armut eine besondere Qualitt aufweist und inwelchem Verhltnis sie zu sozialer Ungleichheit steht.9Es fllt schwer, Armutim Sinne der relativen Auffassung als eigenstndiges Phnomen zu definieren.Die Willkr bei der Festlegung einer Armutsgrenze wird von dieser Auffas-sung zwar zutreffend entlarvt, aber durch die Variation der Armutsgrenze nichtwirklich gelindert. Die Notwendigkeit und Bedeutung einer Armutsgrenze frdie relative Auffassung von Armut ist nicht offensichtlich. Hingegen legt siegroen Wert auf die Feststellung, dass die Schwere der Armut zunimmt, jermer eine Person ist (Bourguignon/Fields 1997, S. 157), dass es im Beispielvon oben eben doch wichtig ist, ob mir nur ein Cent oder gar 20 Euro zumKauf der Schuhe fehlen.

    Die Beschrnkung der Gltigkeit einer Armutsgrenze auf ein bestimmtesgesellschaftliches Umfeld gert der relativen Auffassung von Armut zur Falle,wenn es um einen Vergleich der Armut in mehreren Lndern oder zu unter-schiedlichen Zeiten geht, denn fr einen solchen Vergleich braucht man eineneinheitlichen Mastab. Einheitliche Kriterien fr die Ermittlung einer relativenArmutsgrenze lsen das Problem der Vergleichbarkeit nicht wirklich, weilzunchst die Vergleichbarkeit der betrachteten Gesellschaften gesichert seinmuss. Vertreter der relativen Auffassung mssen sich daher fragen lassen, wiesie sich abgrenzen zum extremen Relativismus, der keinen Mastab zur

    ___________8Siehe hierzu: WHO (1985).9Siehe hierzu den Streit zwischen Sen (1983a, 1985) und Townsend (1985).

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    2.1 Absolute versus relative Auffassung von Armut 25

    Bewertung liefern kann und droht in Subjektivismus zu verfallen (Nussbaum

    1992).

    Der Unterschied zwischen absoluter und relativer Auffassung in der Ar-

    mutsmessung zeigt sich am deutlichsten bei der Festlegung der Armutsgrenze:

    Eine absolute Armutsgrenze beansprucht Gltigkeit ber die untersuchte

    Gesellschaft hinaus und lsst sich ohne Kenntnis der genauen gesellschaftli-

    chen Umstnde festlegen. Eine relative Armutsgrenze hingegen bezieht sich

    auf die jeweilige Gesellschaft, erhebt also weder den Anspruch, auch auf

    andere Gesellschaften angewandt werden zu knnen, noch lsst sie sich ohne

    genaue Kenntnis der gesellschaftlichen Umstnde ermitteln. Ist die Armuts-

    grenze einmal festgelegt, gibt es kein Kriterium, an dem man erkennen kann,

    ob es sich um eine absolute oder eine relative Armutsgrenze handelt. Aller-

    dings unterscheiden sie sich typischerweise in der Anpassung an Vernderun-

    gen im Zeitablauf: Die relative Armutsgrenze steigt schneller als die absolute(Ruggels 1990, Gustafsson 1995, Foster 1998).

    Die Auswahl eines Armutsmaes10

    ist nicht so deutlich von der Grundber-

    zeugung geprgt. Dennoch lassen sich m. E. bestimmte Tendenzen feststellen:

    Wer eine absolute Auffassung von Armut in der Armutsmessung verfolgt, wird

    der Anzahl der Armen ein groes Gewicht beimessen und sich generell auf die

    Betrachtung derer beschrnken, die unter die Armutsgrenze fallen (Bourgu-

    ignon/Fields 1997). Dem relativen Ansatz hingegen entspricht es, die Un-

    gleichheit in der Gesamtbevlkerung im Auge zu behalten, indem ein progres-

    siver Transfer auch dann positiv gewertet wird, wenn er zur Verarmung einer

    vorher nicht armen Person fhrt. Den Schwerpunkt legt der relative Ansatz auf

    die Messung des Ausmaes und der Verteilung der individuellen Armut. Eine

    besondere Bedeutung kommt in dieser Frage der Ausprgung des Transferaxi-oms (vgl. Abschnitt 2.3.2) zu: Die schwache Ausprgung des Transferaxioms,

    welche nur Transfers innerhalb der Gruppe der Armen betrachtet, entspricht

    der absoluten Auffassung in der Armutsmessung, whrend die starke Auspr-

    gung des Transferaxioms, bei der auch Transfers zugelassen sind, durch welche

    die Anzahl der Armen verndert wird, also die Stetigkeit des Armutsmaes

    an der Armutsgrenze vorausgesetzt wird (Donaldson/Weymark 1986, s. u.)

    der relativen Auffassung entspricht.

    ___________10Es existieren auch die Begriffe absolutes und relatives Armutsma. Diese Begriffe

    sind definiert bei Blackorby/Donaldson (1980), Donaldson/Weymark (1986), Fos-ter/Shorrocks (1991) und Zheng (1994). Sie hngen nicht zusammen mit der absolutenbzw. relativen Auffassung von Armut.

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    2. Armutsmessung: eine Einfhrung26

    2.2 Methoden zur Festsetzung der Armutsgrenze

    Der erste Schritt der Armutsmessung besteht wie gesagt in der Identifikationder Armen mittels einer Armutsgrenze. Im Anschluss werden die gngigstenMethoden zur Festlegung einer Armutsgrenze mit ihren Vor- und Nachteilenvorgestellt. Bei der absoluten Armutsgrenze kann sowohl zwischen der direk-ten Methode und der Einkommensmethode unterschieden werden, als auchzwischen verschiedenen Arten, wie die Deckung der Grundbedrfnisse be-stimmt wird. Noch grer ist die Methodenvielfalt bei Armutsgrenzen, welcheder relativen Auffassung von Armut entspringen: Sowohl die subjektiveArmutsgrenze, als auch die Grenze, welche relative Benachteiligung misst, wiedie relative Armutsgrenze, definieren Armut im Verhltnis zum vorherrschen-den Lebensstandard in der Gesellschaft. Offizielle Armutsgrenzen lassen sich

    nicht eindeutig zuordnen. Zweifelsohne prgen offizielle Armutsgrenzen aberdas Verstndnis von Armut in einer Gesellschaft. Insgesamt wird deutlich, dassneben der Grundeinstellung auch praktische Probleme wie die Datenverfgbar-keit bzw. der Aufwand bei der Beschaffung von Daten eine groe Rolle bei derWahl der Methode spielen. Im Ergebnis erscheint jede Armutsgrenze willkr-lich, weil sie scharf zwischen arm und nicht arm trennt.

    Direkte Methode versus Einkommensmethode

    Die Armutsgrenze11lsst sich entweder direkt festlegen, indem man all dieDinge auflistet, ber die jeder verfgen sollte. Wer ber etwas aus dieser Listenicht verfgt, ist folglich arm. Oder man legt eine Armutsgrenze im Einkom-mensbereich fest, kalkuliert also das Einkommen, das ntig ist, um all dieDinge aus der Liste zu kaufen.12Die direkte Methode konstatiert, dass jemandber etwas aus der Liste nicht verfgt und deklariert diesen Menschen als arm,unabhngig davon, ob er es sich nicht leisten kann oder nicht leisten will.Hingegen erlaubt die Einkommensmethode Abweichungen vom Durch-schnittsgeschmack, indem sie lediglich feststellt, ob sich jemand alles, wasaufgelistet ist, leisten kann. Liegen regionale Preisschwankungen vor, so ist dieEinkommensmethode fragwrdig, weil das Einkommen dann nicht berallausreichend fr das Gterbndel sein knnte. Die direkte Methode bietet denweiteren Vorteil, dass sie andere Einkommensquellen wie Sachleistungen undEigenproduktion erfasst (s. o.) und nicht die Schwankungen des Einkommens,

    ___________11Einen guten berblick ber die Methoden zur Festsetzung der Armutsgrenze ge-ben Callan/Nolan (1991). Das Problem wird auch in Quibria (1991) und Black-wood/Lynch (1994) diskutiert.

    12Zu Definition und Diskussion von direkter versus Einkommensmethode vgl. Sen(1979a) und Callan/Nolan (1991).

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    2.2 Methoden zur Festsetzung der Armutsgrenze 27

    sondern der Versorgung wiedergibt. Doch macht die Anwendung der direkten

    Methode aufwendige empirische Studien erforderlich, um entsprechende Datenzu erheben. Die Anwendung der Einkommensmethode hat den Vorzug, aufDaten zu basieren, die meist bereits existieren.

    Direkte Methode und Einkommensmethode spielen bei der Festlegung einerabsoluten Armutsgrenze eine Rolle. Hier wird die Festlegung der absolutenArmutsgrenze jedoch nur fr die meist verwendete Einkommensmethodegeschildert. Verwendet man statt Angaben ber das Einkommen Daten zu denAusgaben, so werden zumindest die saisonalen Schwankungen des Einkom-mens geglttet.

    Absolute Armutsgrenze

    Diese Methode versucht die Kosten zu ermitteln, die entstehen, wenn dieGrundbedrfnisse (hier: Nahrung, Kleidung und Behausung) gerade gedecktwerden. Rowntree13, der als einer der ersten Armutsmessungen durchgefhrthat, wandte diese Methode an. Er hat zunchst einen Ernhrungsplan entwi-ckelt, der ausreichend Nhrstoffe bietet, sich an den herrschenden Gewohnhei-ten orientiert und relativ kostengnstig ist, und dann die Bestandteile desErnhrungsplanes mit Marktpreisen bewertet. Bei der Kleidung ging Rowntreeentsprechend vor. Schlielich fgte er eine Pauschale fr Heizkosten und dietatschlich anfallenden Wohnungskosten hinzu.

    Auch Orshansky verwendete diese Methode zur Bestimmung der US-amerikanischen Armutsgrenze 1966. Nach der Ermittlung der Kosten fr

    Lebensmittel multipliziert sie diese mit dem Kehrwert des durchschnittlichenAusgabenanteils fr Lebensmittel und bercksichtigt auf diese Weise dieKosten fr andere Grundbedrfnisse (Callan/Nolan 1991). An diesem Vorge-hen ist kritisiert14worden, dass es zirkulr ist, insofern die Bedrfnisse anhandder vorherrschenden Konsumgewohnheiten bestimmt werden. Zudem hat

    bereits Engel beobachtet, dass der Ausgabenanteil fr Lebensmittel mit stei-gendem Einkommen abnimmt, also bei Armen besonders hoch ist.15

    Ausgehend von dieser Beobachtung Engels wird der Ausgabenanteil frLebensmittel noch auf eine andere, direkte Weise zur Bestimmung der Armuts-grenze genutzt. Dazu legt man einen Hchstwert fr den Anteil an Ausgaben

    ___________13Vgl. zur Arbeit von Rowntree die Ausfhrungen in Townsend (1979).14Mit der Methode von Orshansky und der Kritik daran setzen sich Ruggels (1990)

    und Foster (1998) auseinander.15Dies ist das so genannte Engelsche Gesetz, vgl. bspw. Herberg (1985, S. 100).

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    2. Armutsmessung: eine Einfhrung28

    fr Lebensmittel am Einkommen fest. Das Einkommen, bei dem dieser

    Hchstwert (in der Regel) erreicht ist, dient als Armutsgrenze.16

    Allen diesen Methoden gemeinsam ist zum einen der Versuch, einen Wa-renkorb mit lebensnotwendigen Dingen zusammenzustellen und dann dieArmutsgrenze so zu setzen, dass mit dem entsprechenden Einkommen dieseDinge erworben werden knnen, und zum anderen die Vorstellung, dass die sohergeleitete Armutsgrenze ber einen lngeren Zeitraum konstant ist.17Daherwird eine solche Armutsgrenze auch oft als absolute Armutsgrenze bezeich-net.

    Subjektive Armutsgrenze

    Problematisch an den obigen Methoden ist auch, dass Experten darberbestimmen, was lebensnotwendig ist, ohne jedoch zu einem einheitlichenErgebnis zu kommen. Aus dem Zweifel an der Objektivitt und Kompetenz derExperten heraus wuchs die Idee, die Bevlkerung selbst zu befragen. Insbeson-dere einige Wissenschaftler, die in Leyden lehren oder lehrten, haben verschie-dene Fragebgen entwickelt, um eine Armutsgrenze zu bestimmen (Cal-lan/Nolan 1991). Die ausgeklgelste Variante, die auch Leyden-Armutsgrenzegenannt wird, bittet die Befragten darum, jeweils das Einkommen anzugeben,das sie fr sich selbst als sehr schlecht/schlecht/unzureichend/ausreichend/gut/sehr gut ansehen. Von diesen Angaben wird eine Armutsgrenze unter bestimm-ten Annahmen abgeleitet (Hagenaars/Van Praag 1985).

    Diese Methode entspricht eher der relativen Auffassung, nimmt sie doch

    expliziten Bezug auf die Gesellschaft, fr die die Armutsgrenze ermitteltwerden soll. Leider haften ihr die Probleme aller Umfragen an: Erstens istfraglich, inwieweit Interviewer und Interviewter dasselbe Verstndnis von denFragen haben; zweitens reprsentiert die Gruppe der Befragten die Gesellschaftnur unvollstndig; und drittens hat sich ein Zusammenhang zwischen demEinkommen und den Antworten der Befragten gezeigt.

    ___________16 Diese Methode wird in Kanada genutzt, vgl. Hagenaars/Van Praag (1985) und

    Callan/Nolan (1991).17Die amerikanische Armutsgrenze von Orshansky ist gerade deshalb problematisch,

    weil sie das Konsummuster der 60er Jahre zugrunde legt, vgl. Ruggels (1990).

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    2.2 Methoden zur Festsetzung der Armutsgrenze 29

    Relative Benachteiligung

    Auch Townsend18 hat eine groe Umfrage zur Bestimmung einer Armuts-grenze durchgefhrt. Allerdings hat er nicht direkt nach einer Einkommens-grenze gefragt, sondern hat die These aufgestellt, dass es eine Einkommens-schwelle gibt, unterhalb derer die Teilnahme an dem in der Gesellschaftblichen Lebensstil nicht mehr mglich ist. Arm ist in Townsends Augen ebenderjenige, der relativ benachteiligt (relatively deprived) ist, d. h. sein Lebennicht in der Weise fhren kann, die in der Gesellschaft blich ist. Die relativeBenachteiligung kann vollstndig sein oder partiell, also nur gewisse Bereichedes Lebensstils betreffen. Sie kann temporr oder langfristig sein. Indem er dieAnzahl an Bereichen relativer Benachteiligung dem Einkommen gegenber-stellt, ermittelt Townsend schlielich die Einkommensschwelle, die als Ar-mutsgrenze zu verstehen ist. Mit diesem Vorgehen kommt Townsend demKern der relativen Auffassung, dass Armut durch das Nicht-Erreichen desvorherrschenden Lebensstandards gekennzeichnet ist, von allen relativenAnstzen am nchsten.

    Problematisch an Townsends Arbeit ist erstens die These einer Einkom-mensschwelle. Seine Methode, die Einkommensschwelle zu bestimmen, wurdeheftig kritisiert, und in spteren Untersuchungen (vor allem Desai/Shah 1988)konnte die Existenz einer Einkommensschwelle nicht nachgewiesen werden.Zweitens ist die Definition eines in der Gesellschaft blichen (minimalen)Lebensstils auerordentlich schwierig. Townsend (1979, S. 46ff) selbst unter-scheidet drei verschiedene Formen relativer Benachteiligung: a) objektive, b)normative (oder allgemein anerkannte) und c) subjektive Benachteiligung, und

    er merkt an, dass der bergang zwischen normativer und subjektiver Benach-teiligung flieend ist. Zudem erwhnt Townsend auch, dass es verschiedeneregionale Abgrenzungen gibt, fr die jeweils etwas anderes als minimalerStandard gilt (Townsend 1974, S. 27). Insofern ist es nicht verwunderlich, dassseine Definition eines minimalen Lebensstils kritisiert wurde. Man muss jedochanerkennen, dass Townsend versucht, die Definition der Armut zu erweiternund sie in Zusammenhang mit relativer Benachteiligung in verschiedenenBereichen des Lebens bringt, also einen Schritt in Richtung Multidimensionali-tt tut. Seine gro angelegte empirische Studie stellt eine Pionierleistung dar.

    ___________18Kurz zusammengefasst findet sich seine Theorie in Townsend (1974), seine groe

    Studie schildert er detailliert in Townsend (1979).

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    2. Armutsmessung: eine Einfhrung30

    Relative Armutsgrenze

    Unter einer relativen Armutsgrenze im engeren Sinne versteht man eine Ar-mutsgrenze, die explizit Bezug nimmt auf die Einkommensverteilung innerhalbder Gesellschaft (zuerst bei Fuchs 1967). Entweder wird die Armutsgrenze

    proportional zum Medianeinkommen19 oder zum Durchschnittseinkommendefiniert. Diese Methode hat den Vorteil, dass keine weiteren Daten zu erhebensind. Sie wird daher gerne angewandt. Mehr noch als bei den anderen Metho-den zur Festsetzung der Armutsgrenze wird hier die Willkr deutlich, mit derdie Armutsgrenze festgelegt wird: Soll sie bei 40, 50 oder 60 Prozent desMedian- oder des Durchschnittseinkommens liegen? Man kann diese Entschei-dung nicht begrnden. Auerdem fragt man sich bei dieser Methode, ob dieArmutsmessung nicht nur ein Teil der Ungleichheitsmessung ist.20Implizit geht

    diese Methode davon aus, dass die Einkommensverteilung einen guten Indika-tor fr das gesellschaftliche Umfeld darstellt. Armut wird deshalb eindimensio-nal definiert.

    Offizielle Armutsgrenze

    In der Empirie greift man oft auch auf sogenannte offizielle oder politischeArmutsgrenzen zurck, wie bspw. den Mindestlohn, die Sozialhilfestze oderdas Mindesteinkommen. Diese Armutsgrenzen sind mit unterschiedlichenMethoden hergeleitet worden, haben jedoch gemeinsam, dass sie dem politi-schen Prozess entspringen. Bei ihrer Bestimmung haben nicht nur methodischeberlegungen Einfluss genommen, sondern auch politische, wie z. B. die Hhedes Budgets zur Armutsbekmpfung, der Wunsch von Politikern, Erfolge beider Armutsbekmpfung aufzuweisen, die Gre bestimmter Interessengruppenin der Whlerschaft usw. Dieser politische Einfluss wiegt umso schwerer, alsdass Armut meist gemessen wird, um entweder den Erfolg einer Politik ein-schtzen zu knnen oder Empfehlungen fr politische Manahmen herauszuar-

    beiten.

    ___________19Definition: Die eine Hlfte der Bevlkerung hat ein greres, die andere Hlfte ein

    geringeres Einkommen als dasMedianeinkommen.20Kritisch uert sich Sen (1983a) dazu.

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    2.3 Armutsmae 31

    2.3 Armutsmae

    Ist die Armutsgrenze festgelegt, kann man zur Frage bergehen, wie dasAusma der gesamtgesellschaftlichen Armut erfasst werden kann. Armutsma-e21versuchen auf diese Frage zu antworten.

    Hierbei gehen die vorgestellten Armutsmae von der Annahme einer homo-genen Bevlkerung aus. D. h. es wird angenommen, dass jedem Individuum iein Einkommen iy zugeordnet werden kann und sich die Individuen nurhinsichtlich des Einkommens unterscheiden. Dabei bezeichnet n die Greeiner Bevlkerung mit der Einkommensverteilung ),,,( 21 nyyyy K= . Dieindividuellen Einkommen iy seien aufsteigend geordnet: 21 yy nyy ...3 .Die Armutsgrenze wird mitzbezeichnet.

    2.3.1 Die klassischen Armutsmae und ihre Kritik

    Das klassische Armutsma schlechthin ist die Armutsquote, d. h. der Anteilder Armen an der Bevlkerung. Bezeichnet man die Anzahl der Armen mit

    )(zqq= , so lsst sich die Armutsquote H (head-count ratio) wie folgtschreiben:

    n

    qH=

    Die Armutsquote wurde bereit von Rowntree22 als Armutsma verwendetund wird heute noch in vielen empirischen Studien eingesetzt. So wichtig

    jedoch die Information ber die Anzahl der Armen im Verhltnis zur Gesamt-bevlkerung vor allem im Sinne des absoluten Ansatzes in der Armutsmessungist, so wenig aussagekrftig ist die Armutsquote hinsichtlich anderer Aspekteder Armut. Zum Beispiel kann ein regressiver Transfer, d. h. ein Einkommens-transfer von einem Armen zu einem reicheren Individuum nicht zu einerErhhung der Armutsquote fhren (Sen 1979a, S. 295). Entweder liegen dieEinkommen von Geber und Empfnger des Transfers vorher und nachher unterder Armutsgrenze, so dass sich die Armutsquote nicht ndert, oder das Ein-kommen des Empfngers wird durch den Transfer ber die Armutsgrenzegehoben, so dass die Armut sogar abnimmt.

    ___________21 Eine bersicht zu Armutsmaen bieten Foster (1984), Seidl (1988) und Zheng

    (1997), sowie Gs/Marggraf/Schiller (1995,1996) und Scheurle (1996). Zhengs Aufsatzist nicht nur recht aktuell und umfassend, sondern auch sehr gut gegliedert und klarverstndlich. Daher lehne ich mich bei der Darstellung an seinen Aufsatz an.

    22Vgl. die Ausfhrungen von Townsend (1979) zu Rowntrees Vorgehen.

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    2. Armutsmessung: eine Einfhrung32

    Das zweite Armutsma, das als klassisch (Sen 1979a, S. 294) bezeichnet

    werden kann, ist die aggregierte Einkommenslcke der Armen. Sie gibt an, wieviel Geld ntig wre, um allen Armen ein Einkommen in Hhe der Armuts-grenze zu sichern, und beleuchtet damit einen zweiten Aspekt der Armut. Wirddie aggregierte Einkommenslcke auf das Produkt von Armutsgrenze undAnzahl der Armen bezogen, ergibt sich die Armutsintensitt I (income gapratio), die angibt, wie viel Einkommen (gemessen in Prozent der Armutsgren-ze) den Armen durchschnittlich zur Erreichung der Armutsgrenze fehlt hierauch ausgedrckt im Verhltnis des Durchschnittseinkommens der Armen zur Armutsgrenze:

    zqz

    yz

    I

    q

    ii

    =

    == 1

    )(1

    Die Armutsintensitt ist als Armutsma insofern unbefriedigend, als dass sieeine Zunahme der Armut anzeigen kann, wenn das Einkommen eines Armenansteigt, so dass er ber die Armutsgrenze gehoben wird. Ohne dass sich anden Einkommen der verbleibenden Armen etwas gendert hat, kann die durch-schnittliche Einkommenslcke zunehmen (Ravallion 1994, S. 46).

    Es bietet sich an, einfach Armutsquote und Armutsintensitt zu kombinierenzur ArmutslckeP(poverty gap):

    nz

    yz

    IHP

    q

    ii

    ===1

    )(

    Dieses Ma erfasst sowohl die Anzahl der Armen als auch die Hhe derEinkommenslcke, aber es erfasst nicht einen dritten, relativen Aspekt, nmlichdie Verteilung der Armut. Die Armutslcke reagiert nicht auf eine Verschlech-terung der Situation fr einige Arme, solange diese Verschlechterung durcheine Umverteilung innerhalb der Gruppe der Armen entstanden ist. Auf derSuche nach einem Armutsma, das alle drei Aspekte der Armut erfasst, fhrteSen (1976a) die axiomatische Herangehensweise in die Armutsmessung einund schuf damit die Grundlage fr eine Flle von Beitrgen zur Armutsmes-sung.

    2.3.2 Axiomatik der modernen Armutsmae

    Axiome sind nichts anderes als Anforderungen, die an ein Armutsma ge-stellt werden. Sie formulieren explizit bestimmte Eigenschaften, die fr einArmutsma wnschenswert sein knnen. In einigen Fllen lsst sich nachwei-sen, dass nur ein einziges Armutsma existiert, das eine bestimmte Kombina-tion von Axiomen erfllt. Man sagt dann, das Armutsma sei durch die Axio-

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    2.3 Armutsmae 33

    me charakterisiert.23 Gewisse Axiome lassen sich nicht kombinieren, andere

    hingegen ergeben kombiniert ein weiteres Axiom.24 Einige Axiome stellenlediglich strkere Anforderungen als andere. Aus der Flle der vorgeschlage-nen Axiome stelle ich hier nur einige vor, die Zheng (1997) als grundlegendeAxiome beschrieben hat in dem Sinne, dass sie mglichst unabhngig vonein-ander sind und von den meisten Forschern akzeptiert werden.

    Im Folgenden bezeichnet ),( zyP ein Armutsma und ),( zyD die Gruppeder Armen in Abhngigkeit der Einkommensverteilung yund der Armutsgrenzez.

    Fokusaxiom25

    Seien y0 und y1 zwei Einkommensverteilungen mit 10 ii yy = fr alle

    ),(),( 10 zyDzyDi = , dann gilt: ),(),( 10 zyPzyP = .

    Das heit, solange sich nur die Einkommensverteilung der Nichtarmen n-dert, soll dies keine Auswirkungen auf das Ausma der Armut haben. Dies istwnschenswert fr ein Armutsma vor allem aus Sicht des absoluten Ansatzes.Die Tatsache, zur Gruppe der Armen zu gehren, erhlt dadurch Gewicht, undein Vergleich der Situation eines Armen mit der Situation von Nichtarmen wirdverhindert. Jedoch kann die Anzahl der Nichtarmen bzw. der Gesamtbevlke-rung nach wie vor Einfluss auf das Armutsma haben.

    Stetigkeitsaxiom

    ),( zyP ist eine stetige Funktion der Einkommensverteilung y fr jede be-

    liebige Armutsgrenze z.

    Die Stetigkeit des Armutsmaes bedeutet, dass es keinen Sprung macht beieiner geringfgigen Vernderung eines Einkommens.

    Es ist umstritten, ob Stetigkeit auch an der Armutsgrenze wnschenswert frein Armutsma ist. Einerseits ist es in Anbetracht der Willkr, die der Armuts-grenze anhaftet, gut, wenn das Armutsma stetig ist, so dass der bergang vonArmut zu Nichtarmut stetig ist. Stetigkeit ist somit eine Eigenschaft, die der

    ___________23Z. B. hat Sen (1976a) sein Armutsma charakterisiert, allerdings hat er dafr eini-

    ge Axiome eingefhrt, die spter kritisiert wurden, weil sie willkrlich erscheinen.24 Vgl. hierzu den Aufsatz von Donaldson/Weymark (1986), der insbesondere die

    Rolle der Stetigkeit bei der Kombination von Axiomen hervorhebt.25Das Fokusaxiom wurde von Sen (1976a) eingefhrt.

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    2. Armutsmessung: eine Einfhrung34

    relativen Auffassung von Armut entspricht, weil sie die Bedeutung, die das

    berschreiten der Armutsgrenze gem der absoluten Auffassung besitzt,herunterspielt. Andererseits ist Unstetigkeit an der Armutsgrenze ein Aus-druck fr den Wert, den man der Tatsache, dass jemand arm ist, beimisst, unddeshalb wnschenswert fr Anhnger der absoluten Auffassung.26

    Replikationsinvarianzaxiom

    ),(),( zyPzyP k = , falls )()( ynkyn k = und ),...,,(mal43421

    =k

    k yyyyy fr eine

    beliebige ganze Zahl k.

    Das Replikationsinvarianzaxiom wurde aus der Ungleichheitsmessung ber-nommen.27 Es ermglicht den Vergleich von Einkommensverteilungen unter-schiedlicher Gre, denn jedes Paar von Einkommensverteilungen lsst sichauf dieselbe Gre replizieren.

    Symmetrieaxiom28

    ),(),( 0 zyPzyP = , falls 0y ausydurch eine Permutation29hervorgeht.

    Dieses Axiom besagt, dass nur die Hhe des Einkommens eines Indivi-duums entscheidend ist, nicht der Name oder sonst eine Eigenschaft. Es ermg-licht, mit geordneten Einkommensverteilungen zu arbeiten (wie das hier

    geschieht, s. S. 31), und ist weitgehend unumstritten.

    Schwaches Monotonieaxiom

    Seien 0y und 1y zwei Einkommensverteilungen fr die gilt: es gibt ein1010 :),(),( jj yyzyDzyDj .

    ___________26Vgl. Bourguignon/Fields (1990, 1997), die zeigen, dass die Einfhrung einer Un-

    stetigkeitsstelle an der Armutsgrenze Auswirkungen auf die Armutsbekmpfungsstrate-

    gie hat, die durch das Armutsma nahegelegt wird.27Chakravarty (1983a) fhrte dieses Axiom in die Armutsmessung ein.28Manchmal wird es auch Anonymittsaxiom genannt.29Eine Permutation liegt vor, falls gilty0=yM, wobeiMeine Permutationsmatrix ist,

    also ein Matrix, deren Elemente nur aus 0 und 1 bestehen und deren Reihen und Spaltensich zu eins summieren.

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    2.3 Armutsmae 35

    Wenn also die Anzahl der Armen konstant bleibt, sich nur das Einkommen

    eines Armen erhht und die Einkommen aller anderen sich nicht ndern, solldas Armutsma eine Verringerung der Armut anzeigen. Das Monotonieaxiomwurde von Sen (1976a) bei der Errterung der klassischen Armutsmae einge-fhrt. Die Armutsquote ist nmlich insofern unbefriedigend, als dass sie diesesAxiom nicht erfllt, was die Armutsintensitt hingegen tut. Der Grundgedankedieses Axioms ist, dass es wichtig ist, wiearm jemand ist. Dies ist der Kern derrelativen Auffassung, nach der die Armut relativ zur Gesellschaft gesehenwerden muss (Bourguignon/Fields 1997). Die relative Auffassung liegt auchden nchsten beiden Axiomen zugrunde, die explizit relative Betrachtungen inForm von Vergleichen anstellen.

    Schwaches Transferaxiom

    Seien 0y und 1y zwei Einkommensverteilungen fr die gilt: 10 ii yy = fr

    alle ji und ki und 0110 kkjj yyyy >>> ,0110kkjj yyyy = fr

    ),(),( 10 zyDzyDk und ),(),( 10 zyDzyD = . Dann gilt: ),( 0 zyP

    ),( 1 zyP> .

    Auch dieses Axiom hat Sen (1976a) eingefhrt. Es betrachtet einen progres-siven Transfer, d. h. einen Transfer von einem reicheren Individuum zu einemarmen, und fordert, dass das Armutsma eine Verringerung der Armut durchden Transfer anzeigen soll. Das hier eingefhrte Transferaxiom heit

    schwach, weil es keine Vernderung der Anzahl der Armen zulsst. Es istdaher mit der absoluten Auffassung von Armut vereinbar, die dem berschrei-ten der Armutsgrenze einen besonderen Wert beimisst (s. o.). Einige Autoren 30fordern ein starkes Transferaxiom, das auch dann noch eine Abnahme derArmut durch einen progressiven Transfer feststellt, wenn der Geber durch denTransfer arm wird (die Armutsgrenze berschreitet). Dies entspricht eher derrelativen Auffassung von Armut, denn der Abnahme der Ungleichheit durchden progressiven Transfer wird mehr Gewicht beigemessen, als der Zunahmeder Anzahl der Armen.

    Donaldson und Weymark (1986) haben gezeigt, dass ein stetiges Armuts-ma, welches das schwache Transferaxiom erfllt, auch das starke Transfer-axiom erfllt.

    ___________30Insbesondere Thon (1979, 1981) diskutiert diesen Punkt. Siehe auch Foster (1984)

    und die Zusammenfassung der Diskussion bei Zheng (1997).

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    2. Armutsmessung: eine Einfhrung36

    Transfersensitivittsaxiom

    Seien 1y und 2y zwei Einkommensverteilungen, die aus der Einkommens-

    verteilung 0y durch einen Transfer des Betrags hervorgegangen sind, wo-

    bei in 1y der Betrag von i zu einem Individuum mit dem Einkommen

    hyi +0 und in 2y von j zu einem Individuum mit dem Einkommen hyj +

    0

    transferiert worden ist und gilt: 00 ij yyz >> und ),(),(10 zyDzyD =

    ),( 2 zyD= . Dann gilt: ),(),(),(),( 0201 zyPzyPzyPzyP > .

    Hier werden zwei regressive Transfers d. h. Umverteilungen von einemarmen Individuum zu einem reicheren des gleichen Betrags verglichen und

    gefordert, dass derjenige regressive Transfer eine strkere Zunahme der Armutzur Folge hat, in dem ein rmerer Armer der Geber ist. Je rmer ein Individuumist, desto strker fllt eine Verschlechterung seiner Situation ins Gewicht. 31

    Zerlegbarkeitsaxiom32

    Sei y eine Einkommensverteilung, die in m Untergruppen j=1,2,....,m mit

    den Einkommensverteilungen )(jy und den Bevlkerungsanteilenn

    nj un-

    terteilt ist. Dann gilt: ),(),( )(

    1

    zyPn

    nzyP j

    m

    j

    j

    =

    = .

    ___________31 Diese Form der Transfersensitivitt wurde von Kakwani (1980) eingefhrt.

    Daneben gibt es noch eine hnliche, anders spezifizierte Form, die von Foster/Shorrocks(1987, 1988b, c) eingefhrt wurde. Sie betrachtet den Ausgleich eines regressiven durcheinen progressiven Transfer, so dass Varianz und Durchschnittseinkommen der Armenunverndert bleiben. Siehe auch Funote 43 zur Defnition eines FACT. Kakwanischlgt noch ein weiteres Transfersensitivittsaxiom vor, das auf dem Rang der Ein-kommen der beteiligten Individuen basiert. Vgl. dazu Foster (1984, S. 229) oder Seidl(1988).

    32Das Zerlegbarkeitsaxiom (Decomposability) wurde von Foster/Greer/Thorbecke(1984) eingefhrt. Eine schwchere Anforderung ist die Untergruppenmonotonie. Siebesagt, dass eine Vernderung der gemessenen Armut einer Untergruppe eine gleichge-richtete Vernderung der insgesamt gemessenen Armut zufolge haben soll, gegebendass die Gre der Untergruppe unverndert ist und sich in der anderen Untergruppe dieArmut nicht ndert. Foster/Shorrocks (1991) diskutieren den Zusammenhang zwischender Untergruppenmonotonie und der Zerlegbarkeit. Sie zeigen, dass ein Armutsma,welches stetig ist und das Axiom der Untergruppenmonotonie erfllt, dargestellt werdenkann als Transformation eines zerlegbaren Armutsmaes. Dies ist fr alle angefhrtenMae (siehe Tabelle 1) mglich. Daher sehe ich hier davon ab, Untergruppenmonotonieformal einzufhren, die Zheng (1997) zu seinen Basisaxiomen zhlt, sondern fhredirekt das Zerlegbarkeitsaxiom ein.

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    2.3 Armutsmae 37

    Ein Armutsma soll die Armut als Summe der Armut verschiedener Bevl-

    kerungsgruppen gewichtet mit ihrem Bevlkerungsanteil messen. Dies istvor allem aus praktischen Erwgungen wnschenswert, denn so lsst sichleichter analysieren, welche Bevlkerungsgruppen besonders von Armut

    betroffen sind und wie welche Bevlkerungsgruppen auf eine politische Ma-nahme reagieren. In diesem Sinne ist es damit mglich, nach den Ursachen derArmut zu forschen. Allerdings wird somit ausgeschlossen, dass es wechselsei-tige Wirkungen zwischen den Gruppen gibt, weil bspw. sich der Abstandzwischen den Gruppen verringert und eine Gruppe ihre Situation relativ zueiner anderen Gruppe beurteilt, wie Sen (1992a, S. 106) bemerkt. Daherzweifelt er an, ob die Eigenschaft der Zerlegbarkeit immer wnschenswert ist.

    2.3.3 Drei exemplarische Armutsmae

    Nach Zheng (1997) knnen Armutsmae in drei Gruppen eingeteilt werden:die Gruppe der Senschen Armutsmae, d. h. derjenigen Mae, die auf demArmutsma von Sen basieren, die Gruppe der ethischen Armutsmae und dieGruppe der zerlegbaren Armutsmae. Ich mchte hier fr jede dieser Gruppenstellvertretend je ein Ma vorstellen. Am Ende des Abschnitts befindet sichTabelle 1, die neben diesen exemplarischen noch weitere Armutsmae dieserGruppen mit ihren Eigenschaften auffhrt und einen berblick ermglicht.

    Das Sen-Ma

    Das Sen-Ma ist nicht nur ein Beispiel fr diese Gruppe, sondern der Aus-gangspunkt fr sie. Das Ma ist wie folgt definiert:

    =

    ++

    =q

    iiSEN iqyz

    nzqzyP

    1

    )1)(()1(

    2),( .

    Sen aggregiert also die gewichteten individuellen Einkommenslcken undnormalisiert sie dann, wobei der Rang eines Individuums als Gewicht fungiert.(Der rmste hat den hchsten Rang und somit das hchste Gewicht.) DieGewichtung mit dem Rang entspricht dem Vorgehen bei der Berechnung desGini-Koeffizienten, so dass sich das Sen-Ma fr groe Bevlkerungen auchschreiben lsst als:

    += )(fr)1( ynGIIHP pSEN .

    Gpbezeichnet dabei den Gini-Koeffizienten fr die Einkommensverteilungder Armen.

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    2. Armutsmessung: eine Einfhrung38

    Das Sen-Ma erfllt das Fokus-, das schwache Monotonie- und Transfer-

    axiom, es verstt jedoch gegen das Stetigkeits-, das Transfersensitivitts- unddas Zerlegbarkeitsaxiom. Die Varianten des Sen-Maes33 behalten den Rangals Gewichtung bei und erfassen auf diese Weise den Verteilungsaspekt derArmut. Alle Mae dieser Gruppe erfllen daher das schwache Monotonie- unddas schwache Transferaxiom, lassen sich aber nicht zerlegen.

    Das Ma von Blackorby und Donaldson

    Blackorby und Donaldson (1980) fhrten zusammen mit ihrem Ma auchden Begriff ethische Armutsmae34