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ISSN 1016-0744 ISSN 1975-0617 Koreanische Kunst und Kultur Jahrgang 4, Nr. 3 Herbst 2009 1.400 Jahre alte buddhistische Relikte entdeckt

Koreana Autumn 2009 (German)

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Koreana Autumn 2009 (German)

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K o r e a n a r t & C u l t u r e vol. 24, no. 2 Summer 2009

ISSn 1016-0744ISSn 1975-0617

koreanische kunst und kultur Jahrgang 4, nr. 3 Herbst 2009

1.400 Jahre altebuddhistische Relikte entdeckt

vol. 24, no. 2 Sum

mer 2009

Jahrgang 4, nr. 3 H

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KOREANISCHER SCHÖNHEITSSINN

Begaenmo

egaenmo, dekorative Abschlussstücke an den rechten und linken

Enden des traditionellen koreanischen Kopfkissens, sind bei den

großen und weichen westlichen Kopfkissen nicht zu finden. Die

traditionellen koreanischen Kopfkissen wurden meistens mit getrock-

neten Körnen wie roten Bohnen oder grünen Mungobohnen, oder mit

Reisschalen, Buchweizenschalen, getrockneten Blumenblättern usw.

gefüllt. Im Vergleich zu den westlichen Kissen haben die koreanischen

also eine härtere Füllung und weisen meistens eine runde Wurstform

oder eine viereckige Backsteinform auf. Begaenmo

heißt das seitliche Abschlussstück des Kissens, das

je nach der Grundform des Kissens rund oder

viereckig ist. Zur Dekoration des Begaenmo

wurden verschiedene Materialien verwendet:

Najonchim, Abschlussstücke mit Perlmutt,

Hwagakchim, Abschlussstücke geschmückt mit

hauchdünnen, bemalten Ochsenhornstücken, oder Suchim,

Abschlussstücke aus besticktem Stoff. Am weitesten verbreitet – vom

Königshof bis in die Stuben des einfachen Volkes – waren Suchim.

Die Koreaner, die durch das Verzieren von Kleidungsstücken und Bet-

twäsche ihre Wünsche nach Gesundheit und Glück zum Ausdruck

brachten, ließen auch in die Begaenmo-Stickereien ihre ganze Sorgfalt

fließen, wobei die Stickereimotive je nach dem Geschlecht des Kopfkis-

senbenutzers unterschiedlich waren. Begaenmo auf Kopfkissen für

Frauen wiesen meistens Blumenmotive wie Pfingstrosen, Orchideen,

Lotusblumen, Pflaumenbaumblüten oder Schmetterlinge auf, während

die auf Kopfkissen für Männer Kiefern oder die Vier Huldvollen Pflanzen

(Japanische Pflaume, Orchidee, Chrysantheme und Bambus) zeigten. Auf

die Begaenmo eines frisch verheirateten Paares wurde ein Paar Chine-

sischer Wundervögel mit sieben Jungen gestickt, die eheliche Harmonie

und Fruchtbarkeit symbolisierten. Außerdem finden sich auch die zehn

Symbole der Langlebigkeit, also Kranich, Hirsch, Kiefer, Schildkröte,

das Kraut der Ewigen Jugend, Felsen, Berg, Wasser, Sonne und Wolken,

sowie chinesische Schriftzeichen, die Freude und Glück anziehen sollten.

Die Frauen dachten beim Sticken an den Geliebten, nach dem sie

sich sehnten, oder baten um Gesundheit für ihren Mann oder ihre

Familie. Da die Begaenmo mit solch besonderen Emotionen verbunden

waren, wurden sie auch gelegentlich zum Stoff der Poesie. So hat

zum Beispiel Seo Jeong-ju (1915-2000), ein repäsentativer moderner

Dichter Koreas, in seinem Gedicht Mein Geliebter schläft folgende

Zeile geschrieben: „Mein Geliebter schläft und ich bin ein

fliegender Kranich, der weiß in die Kissenenden

gestickt wurde.“

Das oben abgebildete Begaenmo auf dem ein

Kranichpaar in Blau und Rot zu sehen ist, ist ein

Begaenmo mit höfischen Motiven der Langle-

bigkeit. Das umlaufende Zickzackmuster soll

Unheil oder Unglück vertreiben und Glück anziehen.

Diese kunstvolle Handarbeit gehört zur Sammlung von Huh Dong-hwa

(83), Direktor des Koreanischen Stickereimuseums (Museum of Korean

Embroidery). Huh sagt, dass man die Stickereien, die am Königshof ver-

wendet wurden, anhand des typischen Palast-Moschusduftes erkennen

kann. Im Oktober findet im Stickereimuseum, das im Seouler Stadtbezirk

Nonhyeon-dong liegt, eine Begaenmo-Ausstellung statt. Gezeigt werden

über hundert Begaenmo, darunter Begaenmo aus den Königspalästen

und aus Bürgerhäusern, die Huh im Laufe mehrerer Jahrzehnte gesam-

melt hat. Das Begaenmo wird als „Kunst auf 10x10cm“ neu beleuchtet,

die die Koreaner von heute die Gedankenwelt und Geschicklichkeit der

Menschen von einst nachempfinden lässt.

B

© The Museum of Korean Embroidery

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Vor kurzem wurden im Rahmen des Restaurierungsprojekts der Steinpagode im Tempel Mireuk-sa ein goldenes Sari-Reliquiar in Krugform mit einem zweiten Krug im Inneren sowie weitere Relikte gefunden.

© Seo Heun-kang

8 DerTempelMireuk-saunddieSteinpagodedesTempelsMireuk-sa KimBongGon

16 BuddhistischeSari-RelikteausderSteinpagodedesTempelsMireuk-sa

LeeKwang-Pyo

26 Mireuk-saunddieSagevonSeodong ChoHeungWook

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32 FOKUS

Wiedereröffnung des Myeongdong Kunsttheaters | Kim Moon-hwan

40 INTERvIEw Kang Sue Jin

Kang Sue Jin: Die Balletttänzerin mit den schönsten Füßen der Welt | Chung Sang-Young

46 KUNSTHANDwERKER Sohn Dae-Hyun

Otchil: Lackschicht auf Lackschicht verbindet sich zu tiefem Glanz Otchil-Meister Sohn Dae-Hyun | Park Hyun Sook

52 MEISTERwERKE

Kim Hong-do: Studium und Vergnügungen des einfachen Volkes von Joseon | Jin Jun-hyun

56 KUNSTKRITIK

Rückblick auf 30 Jahre Seoul Theater Festival | Gu Hee-seo

62 KOREA ENTDECKEN John walker

Kinderbuch mit einem Herz für die Natur | Hwang Sun-Ae

66 AUF DER wELTBÜHNE Younghi Pagh-Paan

Komponistin Younghi Pagh-Paan: Durch Musik zum „breiten Lächeln“ Kang Unsu

70 UNTERwEGS Jangheung

Jangheung: Stadt der Literaturliebhaber | Kim Hyungyoon

78 KÜCHE

Toransuppe - ein gesundes Chuseok-Festtagsgericht | Shim Young Soon

82 BLICK AUS DER FERNE

Eine Wiedervereinigung im Kleinen und Stillen | Marc Ziemec

84 LEBEN

Eine neue Art der Reise für Stadtbewohner – Leben in einem traditionellen Hanok - Haus auf dem Land | Charles La Shure

89 REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR

Kim Jung-hyuk Kim Jung-hyuk: Eine Erzählung, die von einer neuen Ethik träumt Shin Soojeong

Die Bibliothek der Musikinstrumente | Übersetzung: Ahn, In-kyoung, Anneliese Stern-Ko

IMPRESSUM HerausgeberThe Korea Foundation2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu, Seoul 137-863, Korea PRÄSIDENT Yim Sung-joonREDAKTIONSDIREKTOR Hahn Young-heeCHEFREDAKTEURIN Ahn In-kyoungKORREKTURLESERIN Anneliese Stern-KoREDAKTIONSBEIRAT Cho Sung-taek,Han Kyung-koo, Han Myung-hee, Jung Joong-hun, Kim Hwa-young, Kim Moon-hwan, Kim Youngna LAYOUT & DESIGN Kim’s Communication Associate REDAKTIONSMITGLIEDER Lim Sun-kunPHOTO DIRECTOR Kim Sam KUNSTDIREKTOR Lee Duk-limDESIGNER Han Su-hee, Kim Su-hye Herausgabezweck: ideell

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Die Meinungen der Autoren decken sich nicht notwendigerweise mit denen der Herausgeber von Koreana oder denen der Korea Foundation.

Koreana ist als Vierteljahresmagazin beim Ministerium für Kultur und Tourismus registriert (Reg. Nr. Ba-1033 vom 8.8.1997) und erscheint auch auf Englisch, Chinesisch, Französisch, Spanisch, Arabisch, Japanisch und Russisch.

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Der innere und der äußere Krug des goldenen Reliquiars, in dem Sari aufbewahrt wurden, spiegeln das hohe Niveau des Metallkunst-handwerks der Baekje-Zeit wider.

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Während der Ausgrabung im Rahmen des Restaurierungsprojekts der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa, dem Nationalschatz Nr. 11, wurde ein Sari-Reliquiar aus dem 7. Jahrhundert gefunden. Erfahren Sie mehr über die Ausgrabungsarbeiten, die für die archäologische Forschung über die Baekje-Zeit wertvolles Mate-rial liefern, und das Geheimnis der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa, die quasi als Zeitkapsel fungierte.

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DerTempelMireuk-saunddieSteinpagodedesTempelsMireuk-sa

Der Mireuk-sa ist der repräsentativste Tempel des Baekje-Reichs und zugleich der größte Tempel aus dem Zeitalter der Drei Königreiche (57 v.Chr.-668 n.Chr.) auf der koreanischen Halbinsel. Die Steinpagode in dieser Tempelanlage ist in ar-chitekturgeschichtlicher Hinsicht ein Monument von besonderer Bedeutung. Erfahren Sie mehr über die Geschichte des Tempels Mireuk-sa, den Stand der Restaurierungsarbeiten und die vielseitigen Diskussionen bezüglich der Restauration.

Kim Bong Gon Leiter des National Research Institute of Cultural Heritage

Fotos: National Research Institute of Cultural Heritage, Seo Heun-kang

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Im Januar 2009 kamen historische Relikte vom Wert eines Nationalschatzes ans Tageslicht, die rund 1.400 Jahre von

der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa gehütet wurden. Seit-dem zieht nicht nur der Schatz an sich, sondern auch der Tem-pel Mireuk-sa, in dem sich die Pagode befindet, erneut große Aufmerksamkeit von Wissenschaft und Medien auf sich. In der Pagode lag auch eine goldene Einschreinungstafel (Bongangi), die genaue Informationen über die dort aufbewahrten Sari (kristallartige, perlenförmige Überreste, die sich manchmal nach der Feuerbestattung bedeutender Mönche in der Asche finden) enthält und die das Jahr 639 als Gründungsjahr des Tempels angibt, so dass die bislang geschätzte Datierung des Tempels auf das 7. Jahrhundert jetzt eindeutig belegt wird. Das beweist zudem, dass die in der Tempelanlage gemachten Dachendziegel-Funde mit Lotusdekor ebenso aus dem 7. Jahr-hundert stammen.

Die Geschichte des TempelsDer Tempel Mireuk-sa ist ein Reichstempel, der mit der Bitte um Heil und Wohlergehen des Reiches von König Mu (reg. 600-641), dem 30. Herrscher des Baekje-Königreichs, mit viel Hingabe und Einsatz erbaut wurde. Auf Grund seines ähnlichen Charakters könnte man ihn zwar mit dem Tem-pel Hwangnyong-sa aus dem Silla-Reich vergleichen, jedoch

besitzt der Mireuk-sa eine deutlich größere Grundfläche, die von einem überdachten Korridorgang eingerahmt ist, was die Größe dieses Haupttempels des Baekje-Reiches erahnen lässt.Aus den Ausgrabungsfunden wie dem Bronzeschmuck in Form des mythischen Wundervogels Bonghwang und den Dachendziegeln mit Arabeskenmuster, die aus dem Vereinig-ten Silla-Reich (676-935) stammen, ist zu schließen, dass der Tempel auch nach dem Untergang von Baekje zur Zeit des Vereinigten Silla-Reichs noch im Mittelpunkt des religiösen Lebens der Zeit stand. In der darauf folgenden Goryeo-Zeit (918-1392) wurde er renoviert und weiterhin als buddhis-tischer Tempel genutzt: In der Tempelanlage wurden die für das Goryeo-Reich repräsentative Krönung am Ende des Hauptfirstes (Mangsae) und verschiedene Arten von blau-grü-nem Seladon-Porzellan (Cheongja) ausgegraben, die belegen, dass der Mireuk-sa auch noch zur Goryeo-Zeit als buddhis-tischer Tempel diente.Jedoch unterdrückten die Herrscher der Joseon-Zeit (1392-1910) den Buddhismus und propagier-ten den Konfuzianismus a l s s t a a t s p o l i t i s c h e Herrschaftsideologie, so dass in Joseon

Die einzigartige Struktur des Tempels Mireuk-sa umfasste drei parallel angeordnete Höfe und drei Innentore, die nach Süden zum Haupthof führten. (Illustration: Baek Keum-lim)

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der buddhistischen Architektur im Vergleich zur Architektur von Palästen und Verwaltungseinrichtungen keine so große Bedeutung mehr zukam. Funde aus der Joseon-Zeit wurden lediglich um den nördlichen Teil der Mönchsdormitorien ausgegraben, woraus sich schließen lässt, dass der Umfang der Tempelanlage zur Joseon-Zeit stark reduziert gewesen sein muss. Gang Hu-jin, ein Gelehrter zur Zeit des Joseon-Königs Yeongjo (reg. 1724-1776), erwähnte 1738 in seiner Schrif-tensammlung Wayurok, dass die Pagode des Tempels Mireuk-sa, die auf dem Grenzrain zwischen zwei Reisfeldern stand, vor rund 100 Jahren vom Blitz getroffen und daher halb zerstört worden war. In Wissenschaftskreisen herrscht die Auffassung vor, dass der Tempel vor oder nach der Invasion der Japaner (1592-1598) zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert geschlossen wurde.Danach zerfiel der Tempel und die Gebäude wie die Steinpa-gode verwandelten sich in Ruinen. Fotos, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschossen wurden, zeigen die halb eingestürzte Pagode inmitten von Reisfeldern. Im August 1974 legte dann ein Ausgrabungsteam der Universität Wonkwang die Ost-Pagode wieder frei und ab 1980 führte das Buyeo Nationale Forschungsinstitut für den Erhalt des Kulturerbes (Buyeo Na-tional Research Institute of Cultural Heritage) im Rahmen des

archäologischen Projekts zur Erforschung der Baekje-Kultur 17 Jahre lang umfassende Ausgrabungs- und Forschungsar-beiten in der gesamten Tempelanlage durch. Nach den For-schungsergebnissen existierte ursprünglich zwischen der Ost- und West-Pagode eine Holzpagode. Die drei Pagoden standen auf einer geraden, von Ost nach West verlaufenden Linie, wobei jeder Pagode im Norden eine Haupthalle (Geumdang: Goldene Halle), in der sich die Buddhastatuen befanden, zu-geordnet war. Die gesamte Tempelanlage steht als Historische Stätte Nr. 150 und die Steinpagoden als Nationalschatz Nr. 11 unter Schutz.

Einzigartige StrukturDer Tempel Mireuk-sa liegt nach Süden gerichtet zwischen zwei langgezogenen Kämmen des Gebirges Yonghwa-san. Beim Bau der Tempelanlage wurde zuerst im Norden des Innenhof-Tors und der Vorlesungshalle ein doppelschichtiges Steinfundament geschaffen. Die Anlage besteht aus einem Eingangsbereich, einem von einem überdachten Korridorgang umgebenen viereckigen Hof, der sich zwischen dem Süd- und Mitteltor befindet, und aus dem dahinter liegenden Hauptbereich,

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der sich in die drei Höfe Ost-, West- und Mittelhof unterteilt. In den drei Höfen befinden sich jeweils eine Pagode und eine Haupthalle, wobei die Höfe in der für das Baekje-Reich ty-pischen Struktur auf einer Linie parallel zueinander angelegt sind. Allerdings gab es nur eine Vorlesungshalle, und zwar nördlich des Mittelhofs. Der Ost- und Westhof waren nach Norden hin offen, um einen freien Zugang zur Vorlesungs-halle zu ermöglichen. Im Mittelhof stand eine Holzpagode, während sich im Ost- und Westhof jeweils eine Steinpagode

befand.Die Struktur des Hauptbereichs mit den drei parallel lie-

genden Höfen, die der Tempel Mireuk-sa aufweist, ist eine für einen buddhistischen Tempel beispiellose und

ungewöhnliche Anordnung. Eine mögliche Interpreta-tion dafür basiert auf dem Inhalt einer buddhistischen

Sutra, in der es heißt, dass der Maitreya, der Buddha der Zukunft, der im Tushita-Himmel (Paradies der 33 Goitheiten) lebt, in der zukünftigen Welt durch

drei Predigten alle empfindsamen Wesen retten wird. Das heißt, der geistige Hintergrund des Baus des Tempels Mireuk-sa wurzelt im Maitreya-Kult, der

damals in ganz Nordostasien in voller Blüte stand. In einem ähnlichen Zusammenhang ist die Anordnung von

drei Buddhastatuen in der Halle Mireuk-jeon, der Maitreya-Halle des Tempels Geumsan-sa in Gimje zu verstehen.

In der Samguksagi, der Chronik der Drei Königreiche, heißt es in Bezug auf den Tempel Mireuk-sa, dass drei Hallen mit einer Buddhasta-

tue und drei Pagoden für die Aufbewahrung von Sari, die sich jeweils in einem von einem Kor-

1 Flaggenstangenpfosten (Schatz Nr. 236) am Eingang der Tempelstätte Mireuk-sa. Die Flaggen des Tempels wurden an diesen beiden Steinsäulen rechts und links des Eingangs befestigt.

2 In der Tempelanlage Mireuk-sa wurden Dachziegel mit Lotusmuster und dekorative Dachendziegel vom Hauptfirst (Mangsae) gefunden.

3 Eine digitale Rekonstruktion der Steinpa-gode des Tempels Mireuk-sa. © Park Jin-ho

4 Die Steinpagode vor Beginn der Restaurie-rungsarbeiten.

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ridorgang umgebenen Hof befinden, errichtet wurden. Durch die Ausgrabung wurden tatsächlich ein Tempelgrundstück, das durch Korridorgänge in drei Höfe eingeteilt ist, und ein Teich entdeckt, was die Glaubwürdigkeit der Aufzeichnung belegt. Ein Tempel ist ein religiöses Bauwerk, das die Weltanschauung des Buddhismus verkörpert, und der Tempel Mireuk-sa ist ein Bauwerk, das in seiner Struktur vor allem die Lehre des Bud-dhas Maitreya in beispielloser Weise widerspiegelt.

Architekturgeschichtliche BedeutungIm Tempel Mireuk-sa in Iksan befand sich ursprünglich im

Ost- und Westhof jeweils eine Steinpagode. In den 1990er Jahren wurde anhand des steinernen Fundaments der Pa-goden-Spitze, das sich an der untersten Stelle des obersten Pagodenteils befindet, ermittelt, dass die Pagode im Osthof neunstöckig war, und die Pagode nach dieser Urform rekon-struiert. Die Pagode im Westhof, von der nur noch die ersten sechs Stockwerke erhalten waren, befindet sich derzeit im Rah-men der jüngsten Ausgrabungen in der Restaurierung, bei der die eingangs genannten Relikte entdeckt wurden.Eine Pagode ist eine Variante des Stupas, eines Bauwerkes, das ursprünglich in Indien für die Aufbewahrung der Sari, der

Der Tempel Mireuk-sa ist ein Reichstempel, der mit der Bitte um Heil und Wohlergehen des Reiches von König Mu (reg. 600-641), dem 30. Herrscher des Baekje-Königreichs, mit viel Hingabe und Einsatz erbaut wurde. Daraus lässt sich schließen, dass zweifelsoh-ne die zur damaligen Zeit herausragendsten Handwerksmeister für den Bau eingesetzt wurden. Baekje verfügte über ausgezeich-nete architektonische Techniken, die sogar die Tempelarchitektur der benachbarten Königreiche Silla und Japan stark beeinflusste.

1 Foto der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa im Joseongojeokdobo, einem illustrierten Buch über die historischen Stätten Koreas, das von der japanischen Kolonialregierung in Korea herausgegeben wurde.

2 Plan für die Restaurierung der gesamten Anlage des Tempels Hwangnyong-sa.

3 Die Tempelanlage Mireuk-sa von einem nahe gelegenen Berggipfel aus gesehen.

4 Es wurden eine Reihe von Vorschlägen für die Restau-rierung der West-Pagode des Tempels Mireuk-sa vorge-bracht, darunter auch der Vorschlag, die Steinpagode bis zum dritten Stock zu restaurieren und den Rest instand-zusetzen (links), oder die Pagode wieder so aufzubauen, wie sie zum Zeitpunkt der Zerlegung aussah (rechts).

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Überreste des feuerbestatteten Siddhartha Gautama (Sanskrit: Buddha), angelegt wurde. Stupas wurden aus Ziegelsteinen erbaut und weisen eine Form wie die des Großen Stupas von Sanchi auf, des ältesten Stupas in Indien, die wie eine auf den Kopf gestellte Schüssel aussieht. Der indische Stupa entwi-ckelte sich nach der Einführung des Buddhismus in China zu einer Holzpagode in Form eines mehrstöckigen Pavillons, ein Baustil, der damals in China weit verbreitet war.Nachdem sich der Buddhismus via das Königreich Goguryeo (37 v. Chr. – 668 n. Chr.) auf der koreanischen Halbinsel verbreitet hatte, wurden auch hier Holzpagoden gefertigt. So wurden z.B. in der Tempelstätte Cheongamnisaji im nordkoreanischen Pjöngjang Spuren eines pagodenartigen Holzpavillons ent-deckt. Allerdings wurden auf der koreanischen Halbinsel nach und nach fast nur noch Pagoden aus Granit gebaut, das ein leicht zu beschaffendes Material war. Die Steinpagoden im Mireuk-sa besitzen als frühe Beispiele für den Übergang von der Holz- zur Steinpagode einen hohen architekturgeschicht-lichen Wert. Während bei einer Holzpagode viele sorgfältig gefertigte Teilelemente zusammengesetzt werden, legt man bei einer Steinpagode die Steine lediglich aufeinander, da die Verarbeitung von Stein notwendigerweise schwieriger als die von Holz ist. Bei genauer Betrachtung der Pagoden des Tem-pels Mireuk-sa ist allerdings zu erkennen, dass hier die einzel-nen Steine in einer Art und Weise aneinandergefügt wurden, die normalerweise für Holzpagoden typisch ist. Auf Grund der materialbedingten hohen Anfälligkeit für Feuer und verschie-dener Fälle, in denen Holzpagoden das Opfer der Flammen wurden, setzten sich in China Pagoden aus Ziegelstein durch und auf der koreanischen Halbinsel Pagoden aus Stein. Jedoch wurde die Tradition der Holzpagode in Japan, wo Holz ein relativ leicht zu beschaffendes Material war, weitergepflegt.Zu Anfang der Einführung des Buddhismus besaßen die Holz-pagoden je nach Pavillonform mehrere Stockwerke. Auch die Steinpagode des Tempels Mireuk-sa war ursprünglich eine

hohe Turmkonstruktion, deren erhalten gebliebener Teil mit den sechs Stockwerken allein insgesamt fast 14,2m hoch ist. Das Geummaji, eine 1756 (im 32. Jahr der Herrschaft von König Yeongjo) herausgegebene Chronik des Kreises Iksan-gun, die alte Verwaltungseinheit der heutigen Stadt Iksan in der Provinz Jeollabuk-do, berichtet, dass die Steinpagode des Mireuk-sa eine Höhe von über 10 Jang, also rund über 30m, aufwies, was sie zur größten und bedeutendsten Steinpagode der ganzen ostasiatischen Region machte. Sie ist unter den bis heute erhaltenen Steinpagoden die Pagode mit dem größten Umfang. Wenn man ein solch monumentales Bauwerk aus Stein errichten will, bedarf es einer entsprechend entwickelten Steinverarbeitungs- sowie Bautechnik. Die Existenz der Stein-pagode des Tempels Mireuk-sa belegt daher die hohe Fertigkeit der Baekje-Handwerksmeister in beiden Bereichen des Stein-pagodenbaus.Der Tempel Mireuk-sa ist ein Reichstempel, der mit der Bitte um Heil und Wohlergehen des Reiches von König Mu mit viel Hingabe und Einsatz erbaut wurde. Daraus lässt sich schließen, dass zweifelsohne die zur damaligen Zeit herausragendsten Handwerksmeister für den Bau eingesetzt wurden. Baekje verfügte über ausgezeichnete architektonische Techniken, die sogar die Tempelarchitektur der benachbarten Königreiche Silla und Japan stark beeinflusste. Laut Überlieferung wurde z.B. die neunstöckige Holzpagode im Tempel Hwangnyong-sa im Jahre 645 von Meister Abiji aus Baekje gefertigt, der für diese Arbeit nach Silla eingeladen wurde. Als die Holzpagode im Tempel Hwangnyong-sa gebaut wurde, war der Tempel Mireuk-sa, an dessen Bau Abiji mit großer Wahrscheinlichkeit beteiligt war, bereits fertiggestellt. Laut der Samguksagi hat König Jinpyeong von Silla den Bau des Tempels Mireuk-sa durch die Entsendung von Handwerkern unterstützt, was ver-muten lässt, dass im architektonischen Bereich ein Austausch zwischen Baekje und Silla bestand und es wahrscheinlich ist, dass der Bau des Mireuk-sa als bedeutender Anlass für diese

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Zusammenarbeit diente.In der Chronik Nihonshoki, den ältesten historischen Auf-zeichnungen Japans, wird berichtet, dass der Buddhismus zu Anfang des 6. Jahrhunderts über Baekje nach Japan kam. Laut dieser Chronik wurden im Jahr 588 (das 35. Regierungsjahr des Baekje-Königs Wideok) auf Bitte von Soga Umako, einem Herrscher aus dem Soga-Clan in der Region Yamato, Hand-werksmeister wie Bauhandwerker, Dachziegelhersteller und Maler von Baekje nach Japan gesandt, die 599 den Asukadera, den ersten buddhistischen Tempel Japans, bauten. Bei den Ausgrabungsarbeiten des Asukadera wurden Dachendziegel mit Lotusdekor entdeckt, die runde, aber auch spitze Blüt-enenden aufweisen und durch die im Vergleich zu den Blüten äußerst kleinen Fruchtknoten in der Mitte gekennzeichnet sind. Es ist eine besondere Endziegelform, die Ende des 6. Jahr-hunderts in der Gegend von Gongju, der ersten Hauptstadt des Baekje-Reiches, nicht zu finden war, wohl aber in der Gegend von Buyeo, der späteren Baekje-Hauptstadt.Baekjes Einfluss auf die japanische Tempelarchitektur ist auch am Shitennoji, dem Tempel der Vier Himmelskönige, zu sehen, bei dem auf der Nord-Süd-Achse Mitteltor, Pagode, Haupthalle und Vorlesungshalle linear angeordnet sind, d.h. der Tempel weist die für Baekje typische Tempelanlagenstruk-tur nach dem Prinzip Eine-Pagode-eine-Haupthalle auf.

Zerlegung und RestaurationDie halb eingefallene Steinpagode des Tempels Mireuk-sa, die ihre einstige Pracht zu den Zeiten des Baekje-Königs Mu längst verloren hatte, wurde 1915 während der japanischen Kolonial-herrschaft erneuert. Damals wurden jedoch nur Notausbesse-rungen vorgenommen, indem die eingebrochenen Stellen mit Mörtel stabilisiert wurden, um den totalen Zusammenbruch zu verhindern. Nach und nach zerfielen die ausgebesserten Stellen wieder, verschmutzten und färbten sich schwarz. 1978 und 1989 wurden Untersuchungen über die West-Pagode

durchgeführt und zugleich ein Rekonstruierungsplan für die Ost-Pagode erstellt, wobei nach einer genauen Sicherheitsprü-fung beschlossen wurde die West-Pagode zu zerlegen, um sie zu rekonstruieren. Seit dem Jahr 2001 wird das Projekt vom Nationalen Forschungsinstitut für den Erhalt des Kulturerbes (National Research Institute of Cultural Heritage) geleitet, das derzeit die West-Pagode vom podiumartigen Unterbau bis zum sechsten Stockwerk freigelegt hat.Bei der Ausgrabung des zweiten Stockwerks wurden zwischen den Stützhölzern historische Relikte wie z.B. Scherben eines kleinen Krugs mit einer Inschrift aus der Zeit des Vereinigten Silla-Reichs und Dachziegel aus dem Jahr 1317 des Goryeo-Reichs sowie Münzen des 18. Jahrhunderts, also aus der Späten Joseon-Zeit, entdeckt. Die Funde verraten, dass die Pagode bereits mehrmals restauriert wurde.Es wurde festgestellt, dass die Steinsäule, i.e. ein Stützelement, das der Mittelsäule einer Holzpagode entspricht, vom Boden bis zum sechsten Stockwerk reicht. Bei der Zerlegung wurde auch offenbar, dass beim Bau eine einzigartige Technik einge-setzt wurde: Auf jeden neuen Stock wurde eine rund 5cm dicke Lehmschicht aufgetragen, die als eine Art Polster zwischen den schweren Steinen wirkte und half, die Steine in einer genau horizontalen Lage anzuordnen.Am 14. Januar 2009 wurden an der untersten Stelle der Stein-säule, wo sich eine Sari-Kammer befindet, ein Sari-Reliquiar in Krugform sowie andere unversehrte Schätze entdeckt, die Ant-worten auf viele Fragen wie z.B. die Frage nach dem Zeitpunkt des Tempelbaus lieferten.Derzeit wird der untere Teil des Unterbaus freigelegt und laut Plan sollen die Ausgrabungsarbeiten bis Jahresende beendet werden. Die Restaurierungsarbeiten an der Pagode sollen bis 2014 abgeschlossen werden. Über die konkrete Methode der Restaurierung wurde lange diskutiert. Es wurden verschiedene Vorschläge vorgelegt, so z.B. die Vorschläge, die neunstöckige Urform zu rekonstruieren oder aber die Pagode nur bis zum

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6. Stock, also bis zur Form vor der Zerlegung, zu restaurieren. Aus Gründen der Authentizität, der strukturellen Sicherheit und unzureichender Dokumente bezüglich der Urform einigte man sich auf den letzten Vorschlag, also die Restaurierung bis zum 6. Stock.

Verschiedene RestaurierungsmaßnahmenDie Internationale Studienzentrale für die Erhaltung und Restaurierung von Kulturgut (ICCROM; International Centre for the Study of the Preservation and Restoration of Cultural Property) der UNESCO, die ihren Hauptsitz in Rom hat, legt fest, dass eine komplette Restaurierung nur in besonderen Aus-nahmefällen und beschränkt durchgeführt werden darf. Das heißt, dass Kulturgüter nur dann komplett restauriert werden können, wenn sie durch höhere Gewalt wie Krieg oder Brand beschädigt wurden. Allerdings ist das Restaurieren auch in diesen Fällen im Prinzip verboten, wenn die Wiederherstel-lung mangels entsprechender Aufzeichnungen nur anhand von Mutmaßungen über die ursprüngliche Form bzw. Struktur des Kulturgutes erfolgen kann. Der Tempel Mireuk-sa ist ein Kulturgut, das durch höhere Gewalt wie Blitzschlag und Brand beschädigt wurde, es liegen jedoch nicht ausreichend Aufzeich-nungen bezüglich seiner Urform vor. Daher könnte die Wie-derherstellung der Tempelanlage lediglich in folgender Art und Weise erfolgen:Erstens könnte man anstatt einer realen Erneuerung der Bauten die ursprüngliche Gestalt der Tempelanlage durch eine virtuelle Rekonstruktion mittels Computergrafik wiederherstel-len. Diese Alternative ist vorteilhaft, da Restaurierungskosten gespart werden können und Instandhaltungsmaßnahmen entfallen, jedoch hat sie den großen Nachteil, dass ihr Ergebnis im Vergleich zu einem tatsächlichen Restaurierungsprojekt Re-alitätsnähe entbehrt.Die zweite Möglichkeit wäre die Erneuerung von lediglich einzelnen Teilen der Tempelanlage wie z.B. vom podiumarti-

gen Unterbau der Gebäude, anstatt einer umfassenden Restau-rierung der Bauten. So kann man bei einem Kulturgut mit unzureichenden historischen Belegen eine auf Mutmaßungen basierende Restaurierung umgehen, aber trotzdem die alte Grundform wie z.B. den podiumartigen Unterbau wahren. Im Falle des Tempels Mireuk-sa wurde durch die Ausgrabung der Unterbau der Tempelbauten freigelegt, der so gut erhalten ist, dass beschädigte Teile auch ohne entsprechende historische Belege wiederhergestellt werden können. Diese Methode der Wahrung der Kulturgüter ist vorteilhaft, weil eine Beschädi-gung archäologischer Funde vermieden werden kann.Als dritte Möglichkeit kommt die Wiederherstellung von Bauten in lediglich bestimmen Teilen der Anlage in Frage. Es ist eine Alternative, die die Probleme bezüglich der Restaurie-rungskosten der Gesamtanlage sowie der Kosten für die nach-folgende Instandhaltung in Betracht zieht.Viertens könnte eine Erneuerung durchgeführt werden, die alle Bauten innerhalb der Tempelanlage umfasst. Dafür müssten im Vorfeld das Problem der unzureichenden historischen Belege gelöst und zugleich auch ausreichende finanzielle Mittel gesichert werden. Hinzu kommen weitere Probleme wie z.B., dass ein solches Restaurierungsprojekt auch die unversehrt er-haltenen Teile des historischen Kulturgutes beschädigt und die spätere Instandhaltung bzw. Nutzung mit großem finanziellen Aufwand verbunden ist.Um eine Beschädigung der erhaltenen architektonischen Über-reste zu vermeiden, könnte man die Relikte an ihrem jetzigen Standort belassen und den Tempel an einem anderen Ort wie-deraufbauen. Das ist eine Lösung, wie sie etwa in Ägypten beim Bau des Assuan-Staudamms angewendet wurde, wo historische Anlagen versetzt wurden, um sie vor dem Versinken im Wasser zu retten.Für die Restaurierung des Tempels Mireuk-sa sind die genannten Probleme sorgfältig zu bedenken und eine rationale Lösung zu finden.

1 Die Einzelsteine, in die die Pagode zerlegt wurde, wurden sorgfältig katalogisiert und aufbewahrt.

2 Eine Querschnittansicht der Steinpagode zeigt, dass die Steinsäule im Zentrum, die dem zentralen Stütz-pfosten einer Holzpagode entspricht, vom Boden bis in den sechsten Stock reicht.

3 Eine Darstellung der Struktur der Tempelanlage Mireuk-sa aus Mireuksa, 1996 vom Buyeo Nationalen Forschungsinstitut für den Erhalt des Kulturerbes veröffentlicht.

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Osthof

Steinerne Ost-Pagode

Steinerne West-Pagode

Holzpagode im Mittelhof

Westhof Mittelhof

Vorlesungshalle

Westl. Flaggen-stangenpfosten

Östl. Flaggen-stangenpfosten2

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BuddhistischeSari-RelikteausderSteinpagodedesTempelsMireuk-sa„Solch perfekt erhaltenen Funde antiker Sari-Handwerkskunst sind sehr selten.” - so die allgemeine Bewertung der Ausgrabungsstücke aus der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa. Erfahren Sie mehr über das goldene Sari-Reliquiar, das Aufschluss über die Entwicklung des Kunsthandwerks von Baekje gibt, und andere Funde, die den Alltag der Ein-wohner von Baekje sowie ihre geistige Welt widerspiegeln.

Lee Kwang-Pyo Kulturredakteur der Tageszeitung Dong-A Ilbo

Fotos: National Research Institute of Cultural Heritage, Seo Heun-kang

Das goldene Sari-Reliquiar besticht durch seine Formschönheit und hervorragende kunsthandwerkliche Verarbeitung.

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1 Verschiedenfarbige Glasperlen fanden sich im inneren Krug des goldenen Sari-Reliquiars.

2 Das Sari-Reliquiar und andere Relikte wurden in der Sari-Kammer im zentralen Stützstein der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa gefunden.

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14. Januar 2009, Ausgrabungsstätte der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa (Nationalschatz Nr. 11) aus der

Baekje-Zeit in Giyang-ri, Geumma-myeon, Iksan-si in der Provinz Jeollabuk-do. Das Ausgrabungsteam des Nationalen Forschungsinstituts für den Erhalt des Kulturerbes (National Research Institute of Cultural Heritage), das die akute Ein-sturzgefahr der Pagode festgestellt hatte, nahm im Oktober 2001 das jetzt bereits acht Jahre laufende Ausgrabungsprojekt in Angriff. Die Zerlegung der Pagode begann beim obersten sechsten Stockwerk, von wo aus man sich bis Januar 2009 Stufe für Stufe bis zum Turmkörper des ersten Stockwerks und bis zum Unterbau vorgearbeitet hatte. Die Ausgrabung bzw. Zerlegung der Pagode ist eine stets von Anspannung geprägte Arbeit, die vor allem beim ersten Stockwerk äußerst hohe Aufmerksamkeit und Vorsicht erfordert. Denn nach buddhis-tischer Tradition wurden in den Pagoden wertvolle Artefakte wie z.B. Sari-Reliquien eingeschreint. Bis dahin wurden sie meist im Unterbau oder im ersten bzw. zweiten Stockwerk des Turmkörpers gefunden, d.h. je mehr man sich dem Boden nähert, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, wichtige Relikte zu entdecken. Daher war das Ausgrabungsteam voller angespannter Erwartung.

Die Entdeckung des JahrhundertsAußerdem ist die Steinpagode des Tempels Mireuk-sa keine herkömmliche Pagode. Es handelt sich vielmehr um die noch erhaltene älteste und zugleich größte traditionelle Steinpa-gode Koreas. Es ist auch ein Bauwerk, das das Geheimnis des verschwundenen Tempels Mireuk-sa aus der Zeit von König Mu (reg. 600-641), des Herrschers des Baekje-Reiches, hütet. Außerdem stellt die Pagode mit ihrem im Stil einer Holzpa-gode gehaltenen Struktur in achitektonischer Hinsicht den Übergang von der Holz- zur Steinpagode und damit die Ent-wicklung der koreanischen Steinpagode dar. Der Turmkörper besteht aus einem Tor und Säulen, über denen ein Querstein liegt, so dass die gesamte Struktur an die eines normalen Hau-ses aus Holz erinnert. Dass mit Steinen eine Pagode in der für Holzbauten üblichen Konstruktionsweise gebaut wurde, verrät das durchaus hohe Geschick und die fortgeschrittene Technik der Steinmetze von Baekje. Die Tatsache, dass es sich bei dieser Pagode um ein historisches Relikt handelt, das einen wichtigen Schlüssel für verschiedene Fragen und Geheimnisse darstellt, steigerte die Erwartungen des Ausgrabungsteams umso mehr.Die Zerlegung der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa war von Anfang an ein schwieriges und hohe Sorgfalt erforderndes Unterfangen. Man hatte sich für die Zerlegung der Pagode entschieden, weil es ein steinernes Bauwerk im Konstruktions-

stil eines hölzernen ist, was es notwendigerweise anfälliger für den Zerfall macht. Eine solche Pagode besteht nämlich aus mehreren Säulen, einem Steintor und Quersteinen, d.h. sie setzt sich aus viel mehr Einzelelementen zusammen als eine herkömmliche Steinpagode. Je mehr Steine man aber verwendet, desto instabiler wird das Bauwerk. Gerät auch nur ein Stein aus seinem ursprünglichen Gefüge, kann dies eine Kettenreaktion in Gang setzen, die das gesamte Bauwerk gefährdet, das demzufolge instabil wird oder sogar einstürzt. Daher kann ein Turm bzw. eine Pagode aus möglichst wenigen Steinen die Stabilität am besten wahren. Die Steinpagode des Tempels Mireuk-sa wurde allerdings noch im Stil der Holz-pagoden gefertigt, so dass viel Material verwendet wurde, was eine erhöhte Einsturzgefahr mit sich brachte.Solche Bedenken wurden Wirklichkeit. Die Tempelanlage Mireuk-sa umfasste eine Holzpagode in der Mitte, an deren rech-ten und linken Seite sich jeweils eine Steinpagode befanden. Die Holzpagode und steinerne Ost-Pagode wurden bereits vor der Joseon-Zeit (1392-1910) zerstört und nur die West-Pagode blieb erhalten. Aber auch diese Pagode blieb nicht unversehrt: Das ursprünglich neunstöckige Bauwerk verlor die obersten drei Stockwerke völlig und brach auch an drei Seiten des er-halten gebliebenen Teils zum großen Teil ein.Die Pagode wurde acht Jahre lang zerlegt. Als dann endlich das erste Stockwerk an die Reihe kam, begann unter den Fachleu-ten die Diskussion über die Art und Weise der Wiederherstel-lung. Noch am selben Tag legte das Ausgrabungsteam den un-

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teren Teil des Stützsteins, der sich am podiumartigen Unterbau im ersten Stockwerk befand, frei. Der Stützstein ist ein großer Stein, der die Mittelsäule im Inneren stützt.Mit einem Kran wurde der Stein, der auf dem Stützstein lag, vorsichtig gehoben. Plötzlich war ein aufgeregter Schrei zu hören: Aus der Sari-Kammer in der Mitte des Stützsteins strahlte es goldgelb heraus. Wie vorausgesagt, fand sich dort ein Sari-Reliquiar-Set. Auf einer grünen Glasplatte, die den Boden der Kammer bedeckte, befanden sich Sari-Relikte. Es war der Moment, in dem ein 1.400 Jahre altes Sari-Reliquiar mit allen Bestandteilen ans Tageslicht gebracht wurde, das als Ausdruck des innigsten Wunsches nach Wohlergehen der Baekje-Dynastie und Prosperität des Tempels Mireuk-sa angefertigt und hier eingeschreint worden war. Zu dem an diesem Tag gehobenen Schatz gehören rund 500 Relikte wie ein goldenes Sari-Reliquiar in Krugform, eine goldene Ein-schreinungstafel, sechs Sari-Behälter aus Silber, zwei Dolche, die wahrscheinlich als Schmuck gedient haben, eine goldene Pinzette, silberner Kronenschmuck, dünne Goldplättchen mit der Liste der Donatoren und verschiedene Arten von Perlen. Anhand der Goldtafel konnte man feststellen, dass der Fund aus dem Jahre 639 stammt.Das Nationale Forschungsinstitut für den Erhalt des Kultur-erbes (National Research Institute of Cultural Heritage) ließ das goldene Sari-Reliquiar röntgen und entdeckte im Reliquiar einen kleineren Sari-Krug. Aus diesem kleinen Krug kamen 12 Sari (kristallartige Überreste, die sich manchmal nach der

Feuerbestattung bedeutender Mönche in der Asche finden), Perlen und Scherben des Glasbehälters, in dem sich die Sari-Stücke befanden. Die Pagode und der Fund datieren auf das frühe 7. Jahrhundert. In der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa wurden insgesamt 683 historische Relikte 19 verschiedener Arten entdeckt.

Die Bedeutung der Sari-Einschreinung„Sari“ ist die koreanische Aussprache der chinesischen Zeichen, die das Wort „Sarira“ aus dem mittelindischen Di-alekt Pali bezeichnen. Gebeinüberreste oder kristallisierte Überreste der Einäscherung von Buddhas Körper werden Jinsin-Sari („Überreste des echten Körpers“) genannt, während heilige Objekte wie Sutren als Beopsin-Sari („Überreste der Lehre“) bezeichnet werden.Unter einer Pagode versteht man ursprünglich das Grab von Buddha Shakyamuni, in dem seine Gebeine (Sari) aufbewahrt wurden. Daher weisen die ersten indischen Pagoden, also die ältesten Stupas auf dem heiligen Berg Sanchi, die Halbkugel-form eines Grabhügels auf.Etwa 200 Jahre nach dem Tod von Buddha Siddhartha Gau-tama bemühte sich Ashoka, der Herrscher der altindischen Maurya-Dynastie (reg. 273-232 v. Chr.), möglichst vielen Menschen die buddhistische Lehre zu übermitteln. Ashoka, ein tiefgläubiger Buddhist und Wohltäter des Buddhismus, verteilte die Überreste Buddhas, die in acht Stupas aufbe-wahrt wurden, auf 84.000 Stupas in ganz Indien. Durch die Verbreitung der Reliquien im ganzen Land erhoffte er, mehr Menschen für die Lehre Buddhas gewinnen zu können. Einige dieser Buddha-Reliquien fanden sogar den Weg über China bis nach Korea, wo sich die Stupa zur Pagode weiterentwickelte.Mit der zunehmenden Blüte des Buddhismus wurden auch weiterhin Pagoden errichtet. Allerdings gab es keine echten Buddha-Sari mehr. Daher wurden in den Pagoden statt Sari Sutren mit den buddhistischen Lehren und Perlen, die Sari ähneln, eingeschreint. Generell wurde am Stützstein oder am Turmkörper im Unterbau eine kleine Kammer zur Ein-schreinung der Sari oder der symbolischen Gegenstände des Buddhismus eingerichtet. So entwickelte sich die Pagode vom Grab des Buddha Siddhartha Gautama zum Symbol des Bud-dhismus und Objekt der Verehrung.Der kleine Raum, in den die Sari bzw. die heiligen Gegenstände eingeschreint wurden, heißt Sarigong („Sari-Kammer“). Das Einschreinungsritual wird als Sarijangeom („Verehrung der Sari“) bezeichnet, während man die dabei verwendeten Uten-silien, also das Sari-Reliqiar-Set, als Sarijangeomgu (wörtl.: „Utensilien zur Glorifizierung der Sari“) nennt.

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Mit einem Kran wurde der Stein, der auf dem Stützstein lag, vorsichtig gehoben. Plötzlich war ein aufgeregter Schrei zu hören: Aus der Sari-Kammer in der Mitte des Stützsteins strahlte es goldgelb heraus. Wie vorausgesagt, lag dort ein Sari-Reliquiar-Set.

1 Silberne Kronenornamente, eine goldene Pinzette und andere goldene Objekte waren ebenfalls in der Steinpagode eingeschreint.

2 Das goldene Reliqiar wird vorsichtig aus der Sari-Kammer der Steinpagode gehoben.

3 Eine genaue Analyse mit hochtechnologischen Geräten sorgt dafür, dass bei den Ausgrabungsarbeiten keins der Relikte beschädigt wird.

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Die traditionellen koreanischen Sari-Reliquiar-Sets lassen erkennen, dass die Sari meist drei bis vier Mal umhüllt und erst dann eingeschreint wurden. Zuerst kamen die Sari in eine Sari-Flasche, die wiederum in einen Sari-Behälter (oder eine Sari-Schatulle) gesetzt wurde. Dieser Behälter wurde in einen etwas größeren Behälter eingefügt. Der große Behälter (oder die große Sari-Schatulle) wurde danach in der Sari-Kammer (Sarigong) eingeschreint. Als Sari-Flasche wurden grüne Glasflaschen oder transparente Kristallflaschen verwendet. Grün symbolisiert die unendliche Lebenskraft der Lehre Bud-dhas.Die Sari-Behälter (oder die Sari-Schatullen), in die die Sari-Flasche hineingestellt wurde, sind runde bzw. viereckige Be-hälter mit einer sechs- bzw. achteckigen Säulenform oder der Form eines traditionellen Pavillons, die aus verschiedenen Ma-terialien wie Gold, Silber und Bronze hergestellt wurden.

Höhepunkt des Kunsthandwerks von BaekjeAus der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa kamen sehr un-terschiedliche Sari-Reliquiar-Bestandteile (19 Arten) hervor, was nur sehr selten vorkommt. Von den 683 Relikten sind ohne Zweifel das goldene Sari-Reliquiar und die goldene Ein-schreinungstafel von größtem Interesse.Vor allem kann das goldene Sari-Reliquiar wegen seiner gestalterischen Schönheit und besonderen Herstellungstechnik als Höhepunkt des Kunsthandwerks von Baekje bezeichnet werden. Es hat die Form eines Deckelkrugs, der 13cm hoch und an den Schultern 7,7cm breit ist, wobei der Knauf auf dem Deckel einer spitz zulaufenden Kugel ähnelt. Die Oberfläche ist mit Ran-kenmustern und vielen kleinen Kreisen exquisit-prächtig dekoriert. Der Krugkörper kann in der Mitte in zwei Teile auseinan-dergenommen werden. Die geschwungene Silhouette des Gefäßes vom Deckel über den langen Hals und die Schulter bis hin zum Körper wirkt adrett und elegant zugleich. Die sublime Formschönheit und der Ober-flächendekor dieses Reliquiars zeugen vom hohen Niveau des Kunsthandwerks im

Baekje-Reich des 7. Jahrhunderts. Solche krugförmigen Sari-Behälter aus Metall finden sich nur selten.In diesem goldenen Sari-Reliquiar befand sich ein weiteres Rel-iquiar aus Gold, d.h. ein Sari-Reliquiar-Set besteht aus einem Außen- und einem Innenbehälter. Der goldene Innenbehäl-ter ist 5,9cm hoch und an der Schulter 2,6cm breit. Er ähnelt angefangen vom Deckel mit spitzem Kugelknauf bis hin zum Dekor stark dem Außenbehälter. Jedoch besteht der Körper aus einem durchgehenden Teil und kann nicht auseinan-dergenommen werden.Im Innenbehälter entdeckte man 12 Sari-Stücke, Perlen und eine zerbrochene Sari-Flasche aus braunem Glas. Dieser Fund weist damit die typische dreifache Ineinanderschichtung des Sari-Reliquiar-Set aus gläserner Sari-Flasche, Innenbehälter und Außenbehälter auf. Es wurde bedauert, dass die Sari-Flasche zerbrochen war. Zwar kann man es noch nicht als endgültige Tatsache annehmen, aber angesichts des starken buddhistischen Glaubens zur Baekje-Zeit wird die Meinung vorgebracht, dass die Sari-Stücke in der Flasche Überreste des Buddhas Shakyamuni sind.Es wurde auch silberner Schmuck für Beamtenhüte gefunden, der eine für die Baekje-Zeit typische Form aufweist und vor allem durch seine unaufdringliche, vornehme Verarbeitung hervorsticht. Die elegante Goldpinzette und die Glasperlen in verschiedenen Formen und Farben wie blau oder jadegrün gehören ebenfalls zum Fund, der das Kunsthandwerk von Baekje im 7. Jahrhundert präsentiert. Archäologen und Kunst-geschichtler waren sich, nachdem sie das Sari-Reliquiar-Set in Augenschein genommen hatten, einig, dass „der Fund nicht im

1 Eine goldene Einschreinungstafel liefert Hintergrundinformationen über den Bau des Tempels Mireuk-sa. Die Inschrift ist in chinesischen Schriftzeichen gehalten, die mit rotem Lack bestrichen wurden, um die Schrift hervorzuhe-ben.

2 Frisch ausgegrabene Glasperlen. Diese Funde zeugen von der hohen Qua-lität der Glaserzeugnisse aus dem Königreich Baekje.

3 Ein Goldplättchen mit einer Inschrift, die als Donator Jiyul angibt, einen Beamten mit dem Rang „Deoksol“ (vierter von 16 Beamtenrängen am Baekje-Königshof).

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geringsten dem goldbronzenen Räuchergefäß, das als edelstes Kunstwerk der Baekje-Zeit gilt, nachsteht.“ Durch die diesma-lige Ausgrabung wurde die Kunstgeschichte von Baekje neu geschrieben.

Alltag im Baekje-ReichWährend das goldene Sari-Reliquiar in Krugform die Ent-wicklung des Kunsthandwerks von Baekje darstellt, stehen der silberne Schmuck für Beamtenhüte, die kleinen Goldplättchen und die goldene Einschreinungstafel für den Alltag der Men-schen in Baekje sowie ihre Gedankenwelt und sind daher in anderer Hinsicht von Interesse.Zuvor waren bereits zehn silberne Ornamente für Beamten-hüte aus der Baekje-Zeit entdeckt worden, deren Herstellungs-zeitpunkt jedoch unklar ist. Allerdings kann man bei den zwei silbernen Ornamenten aus der Steinpagode des Mireuk-sa den Zeitpunkt der Fertigung ungefähr errechnen. Ein genaues Herstellungsjahr ist zwar schwer anzugeben, aber sie wurden zumindest genau im Jahr 639 in die Pagode eingeschreint.Es ist die vorherrschende Meinung, dass die silbernen Hutor-namente ausschließlich für hochrangige Beamte der Baekje-Zeit gedacht waren. Warum aber hat man dann diesen Schmuck, der mit dem Buddhismus nichts zu tun hat, zusam-men mit dem Sari-Reliquiar in die Pagode eingeschreint? Lee Han-sang, Spezialist für die Ausgrabung von Gräbern aus alter Zeit und Professor an der Universität Daejeon, hat die interes-sante Interpretation vorgebracht, dass ein hochrangiger Beam-te des Baekje-Reichs, der im Jahr 639 an der buddhistischen Einschreinungszeremonie in die Steinpagode des Mireuk-sa teilnahm, den wertvollsten Gegenstand, den er bei sich trug, als Opfergabe spendete. Der Beamte, der von den beiden ge-fundenen Hutornamenten das mit den fünf Blütenknospen geopfert hatte, war nach dieser Interpretation ein hochrangiger Beamter, der mindestens zum Rang Eunsol (dritter Rang unter insgesamt 16 Rängen) gehörte, und der, der den Schmuck mit den drei Knospen getragen hatte, ein Beamter von niedrigerem Rang. Denn je höher der Rang, desto höher die Zahl der Blü-

tenknospen und desto prächtiger der Schmuck. Noch ist es zu früh, definitive Schlüsse zu ziehen, jedoch wird dieser silberne Hutschmuck aus der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa als wichtiges Forschungsmaterial dienen, das nicht nur Aufschluss über die Entwicklung und Besonderheiten solcher Ornamente gibt, sondern auch über deren Besitzer und die buddhistischen Opfergebräuche der Baekje-Zeit.Unter den Funden aus der Steinpagode gibt es auch 18 kleine Goldplättchen. Allgemeinen Vermutungen nach handelt es sich um eine Art Münzen, die die Bewohner von Baekje zum Zahlungsverkehr nutzten, was daher großes Interesse auf sich zieht. Auf einem Goldplättchen fand sich ein Satz, der angibt, wer der Donator war: „Jiyul, ein Beamter des Rangs Deoksol (vierter Rang unter insgesamt sechzehn Rängen) aus der Ver-waltungseinheit Jungbu der Hauptstadt, spendet ein Ryang Gold (Ryang: alte Maßeinheit).” Laut Son Hwan-il, Experte für alte Schriften und Forschungsprofessor an der Universität Kyonggi, sind die Goldplättchen Spenden, die die Teilnehmer der Sari-Einschreinung dem Tempel Mireuk-sa überreichten; die Bezeichnung „ein Ryang Gold“ belegt, dass es sich bei die-sen Goldplättchen tatsächlich um Münzen handelte. Professor Lee von der Universität Daejeon ist ähnlicher Meinung und findet die Annahme gerechtfertigt, dass die kleinen Gold-plättchen die Funktion von Geld hatten.Die goldene Einschreinungstafel ist ein weiterer interessanter Fund, der zum Verständnis von Schrift und Schreibtradition von Baekje im 7. Jahrhundert beiträgt. Auf diese goldene Tafel von 15,5cm Breite und 10,5cm Höhe sind chinesische Schrift-zeichen eingraviert, die mit roter Farbe bestrichen wurden, was sie besonders deutlich hervorhebt. Die Inschrift, die Informa-tionen über den Hintergrund des Tempelbaus und der Dona-torin liefert, sorgte bei der Entdeckung für entsprechend große Aufregung.Professor Son meint, dass der Schriftstil der Goldtafel der chi-nesischen Schreibtradition der nördlichen Dynastien folgte. Er entdeckte auch ein Schriftzeichen, das in der ursprünglichen Inschrift nicht existierte, sondern nachträglich hinzugefügt

1 Diese goldene Pinzette gehört ebenfalls zu den eingeschreinten Artefakten.

2 Das goldene Sari-Reliquiar, die goldene Einschreinungstafel und andere Relikte aus der Steinpagode stellen für Wissenschaftler und Archäologen einen wahren Schatz buddhistischer Artefakte dar.

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wurde. Auf der Rückseite der Tafel standen ursprünglich die vier Zeichen jin-yong-seon-geun (盡用善根: „für eine tugend-hafte Tat alles einsetzen“); zwischen yong (用) und seon (善) wurde das Schriftzeichen cha (此) eingefügt, das etwa „dies“ bedeutet. Professor Son erklärt: „Das Zeichen cha (此) hatten die Menschen von Baekje damals vergessen; es wurde nach-träglich hinzugefügt und bezieht sich demonstrativ auf den Tempelbau und die Einschreinung. Diese Ergänzung war not-wendig, weil das hinzugefügte Zeichen das Handlungsobjekt verdeutlichte.”Die Sari-Funde aus der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa spiegeln, wie erwähnt, verschiedene Aspekte von Leben und Gesellschaft von Baekje wider wie die Tradition der Orna-mente für Beamtenhüte, die Opfergebräuche bei Sari-Ein-schreinungen und die Schreibtradition. Die historischen Geheimnisse, die in den einzelnen Relikten verborgen sind, üben eine große Anziehungskraft auf uns aus.

Die Sari-Funde sind auch deshalb von immenser Bedeutung, weil sie nicht nur buddhistisch-religiöse Gebete der Menschen von Baekje enthalten, sondern auch als Symbole dienten, mit-tels derer der Herrschaftsanspruch der Baekje-Dynastie nach innen und außen propagiert wurde. Viele Experten geben als Beleg dafür die folgende Textstelle der goldenen Ein-schreinungstafel an:„Lass die Königin stets Opfer darbringen und diese Tugend in alle Ewigkeit fortsetzen, so dass diese Wohltat als Quelle dafür wirken möge, dass das Leben Seiner Königlichen Majestät (Daewang Pyeha: 大王陛下) so stark und unerschütterlich wie die Berge und seine Herrschaft so ewig wie Himmel und Erde seien, damit er das Dharma (die wahre Lehre) nach oben und die Aufklärung der Menschen nach unten verbreitet.”Die Bezeichnung „Daewang Pyeha“ weist darauf hin, dass sich die Macht des Baekje-Königs nach innen und nach außen ver-stärkt hatte. Darüber hinaus wollte man durch diese Bezeich-nung den Status des Königs von Baekje gleich hinter dem des Kaisers von China hervorheben. Bedenkt man die zur damali-gen Zeit enge Verbindung zwischen Politik und Buddhismus, dann dürfte diese Interpretation höchstwahrscheinlich stim-men. Das Sari-Reliquiar-Set aus der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa besitzt, wie erläutert, politische, gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung und ist daher für die Forschung der Geschichte von Baekje ein sehr wertvolles Material.

Das Geheimnis der Steinpagode von Wanggung-riNicht weit von der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa befin-det sich die fünfstöckige Steinpagode von Wanggung-ri, Iksan (Nationalschatz Nr. 289). 1965 wurden bei der zu Restau-rierungszwecken begonnenen Zerlegung der Pagode Sari-Reliquiare wie Sari-Flasche, Sari-Schatulle und eine Goldtafel mit Sutra-Inschrift entdeckt, die gemeinsam als Nationalschatz Nr. 123 unter Schutz stehen. Über das Alter der Pagode und

der Relikte gingen die Meinungen auseinander. Die Ansicht, dass sie um das 9. Jahrhundert während des Vereinigten Silla-Reichs (676-935) oder zu Anfang der Goryeo-Zeit (918-1392) gefertigt wurden, wurde zwar am stärksten vertreten, aber es gab auch Stimmen, die auf die Baekje-Zeit verwiesen.Die jüngste Entdeckung der Sari-Funde in der Steinpagode des Mireuk-sa stellt jetzt die Theorie, dass die fünfstöckige Pagode von Wanggung-ri auf den Übergang vom Vereinigten Silla-Reich zum Goryeo-Reich datieren soll, in Frage und hat die Diskussion über das Alter der Pagode erneut angefacht.Der Kurator des Museums der Universität Dongguk, Han Jeong-ho, der schon immer davon überzeugt war, dass die Sari-Funde der fünfstöckigen Steinpagode aus dem Baekje-Reich stammen, hat die Ansicht vorgebracht, dass auch die Pagode selbst ein Relikt von Baekje sei. Er nennt als Beleg die hohe Ähnlichkeit von Form und Stil des Lotusdekors und der kleinen Kreismuster der Sari-Funde aus der Steinpagode von Wanggung-ri und denen aus der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa sowie die identische Struktur des podiumartigen Unterbaus der beiden Pagoden (kreuzförmige, durchgehende Struktur um den Stützstein).Auf diese Behauptung reagieren die meisten Wissenschaftler und Fachleute jedoch sehr vorsichtig. Ein Künstler der bud-dhistischen Bildhauerei merkt z.B. an: „Die Ähnlichkeit des Dekors der Sari-Funde aus den beiden Pagoden ist zwar eine äußerst interessante Entdeckung, aber die Buddhastatue, die neben den Sari-Funden in der Pagode von Wanggung-ri ent-deckt wurde, stammt aus dem 9. bzw. 10. Jahrhundert, also aus der Späten Baekje-Zeit oder aus dem Vereinigten Silla-Reich, weshalb man nicht einfach den Schluss ziehen kann, dass die Pagode von Wanggung-ri und ihre Sari-Relikte aus Baekje stammen.“Mit der Öffnung der Zeitkapsel namens Steinpagode des Tem-pels Mireuk-sa wurde die alte Diskussion in der Wissenschaft erneut in Gang gebracht und es scheint, als ob sie noch ge-raume Zeit anhalten wird.

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Unter den historischen Fundstücken der Ausgrabung erregte die goldene Einschreinungstafel die größte Aufmerksamkeit von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Auf dieser Tafel sind nämlich Hinter-grund des Tempelbaus und der Name der Donatorin eingraviert. Im Folgenden stellen wir Ihnen die Sage zum Bau des Tempels Mireuk-sa und die darauf basierenden Interpretationen zu den neuen Entdeckungen der Ausgrabung vor.

Cho Heung Wook Professor für Koreanistik, Kookmin University

Fotos: National Research Institute of Cultural Heritage, Seo Heun-kang

Nach der Sage über den Bau des Tempels Mireuk-sa befanden sich der Baekje-König Mu und seine Gemahlin auf dem Weg zum Tempel Saja-sa, als ihnen inmitten eines Teiches am Fuß des Berges Yonghwa-san plötzlich die Mireuk-Trias erschienen. Es heißt, dass Prinzessin Seonhwa auf Grund dieser Vision König Mu darum bat, an dieser Stelle einen Tempel zu errichten. (Illustration: Baek Keum-lim)

Mireuk-saunddieSagevonSeodong

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S eodongyo (Das Lied von Seodong) ist ein Hyangga (Vers-form aus der Silla- und Frühen Goryeo-Zeit, die in Ko-

reanisch mit modifizierten chinesischen Zeichen geschrieben wurde), das dem jungen Seodong zugeschrieben wird, dem späteren 30. König von Baekje, der als König Mu (reg. 600-641) regierte. Es heißt, dass König Mu, der in seiner Kind-heit Seodong genannt wurde, das Lied sang, als er in die Silla-Hauptstadt (das heutige Gyeongju) einzog, um so das Herz der dritten Königstochter, Prinzessin Seonhwa, zu gewinnen.

Das Seodongyo erregt neue AufmerksmakeitIm Samgugyusa, den Memorabilia der Drei Königreiche, kann man feststellen, dass die Seodong-Sage, in der das Lied Seodongyo vorkommt, zugleich auch die Gründungssage des Tempels Mireuk-sa in Iksan in der Provinz Jeollabuk-do ist. Im Schlussteil der Seodong-Sage wird nämlich von König Mu,

der Prinzessin Seonhwa geheiratet hatte, erzählt, wie er zusam-men mit seiner Gemahlin auf dem Weg zum Tempel Saja-sa am Teich am Fuße des Berges Yonghwa-san den Mireuk-Trias (Maitreya, also Mireuk-Buddha, und zwei flankierenden Bod-hisattwas) begegnete und auf Wunsch von Königin Seonhwa dort den Tempel Mireuk-sa erbauen ließ. Das Lied Seodongyo ist daher als Lied bekannt, das von der die Grenze von zwei Reichen überschreitenden Liebe von König Mu und Prinzessin Seonhwa erzählt, und der Tempel Mireuk-sa entsprechend als ein Bauwerk, das auf Wunsch der Königin Seonhwa nach ihrer Vermählung mit König Mu vom König errichtet wurde.Vor kurzem wurde aber während der Ausgrabung bzw. Zer-legung der Steinpagode des Tempels Mireuk-sa eine goldene Einschreinungstafel entdeckt, deren Inhalt angibt, dass ent-gegen dem bisherigen allgemeinen Glauben eine Frau aus der Familie Sataek die Gemahlin von König Mu war. Daher ist es

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1 Der Abschnitt über König Mu im Samgugyusa, den Memorabilia der Drei Königreiche, enthält auch die Seodong-Sage und das Seo-dongyo, das Lied von Seodong, das das Werben König Mus um Herz und Hand von Prinzessin Seonhwa beschreibt. (© Cul-tural Heritage Administration)

2 Die steinerne Ost-Pagode des Tempels Mireuk-sa, die im Jahr 1993 wiederaufgebaut wurde.

notwendig, anhand dieses Fundes das Lied Seodongyo und die Gründung des Tempels erneut zu betrachten.

Seodongyo und die Seodong-SageSeodongyo, das Liebeslied des Baekje-Königs Mu und der Silla-Prinzessin Seonhwa, wird in Band zwei des Samgugyusa er-wähnt, und zwar im Kapitel mit den „Fantastischen und über-menschlichen Geschichten“ unter „König Mu“. Die Erzählung über König Mu, die auch das Seodongyo beinhaltet, lautet wie folgt:König Mu, der 30. König des Baekje-Reichs, hieß mit Namen Jang. Seine verwitwete Mutter lebte im südlichen Teil der Hauptstadt in einem Haus an einem Teich und gebar durch Vereinigung mit dem Drachen, der in dem Teich lebte, Jang. Als kleines Kind wurde Jang „Seodong“ genannt und war über-aus begabt. Man nannte ihn Seodong, „Lichtwurzelknabe“, weil er stets Lichtwurzeln (Dioscorea batatas) sammelte, um sie zu verkaufen. (Seodong setzt sich zusammen aus ‚seo (薯)’, der koreanischen Aussprache für das chinesische Schriftzeichen für Lichtwurzel, und ‚dong (童)’, ‚Kind’.) Als er hörte, dass die dritte Tochter König Jinpyeongs von Silla ein wunderschönes Mädchen sei, ließ er sich den Kopf scheren und zog in die Hauptstadt des Silla-Reichs. Seodong verteilte Lichtwurzeln an die Kinder, so dass er sich rasch mit ihnen anfreundete und diese ihm nachliefen. Er dichtete das Lied Seodongyo und brachte es den Kindern bei.Das Lied, das die Kinder herumsangen, verbreitete sich schnell in der ganzen Stadt und gelangte schließlich auch bis zum

Palast des Königs. Die Höflinge berichteten dem König davon und rieten ihm, seine Tochter fernab des Hofes in die Verban-nung zu schicken. Zum Abschied schenkte die Königin ihrer Tochter reichlich Gold zur Begleichung ihrer Reisekosten. Kurz bevor die Prinzessin den Ort ihrer Verbannung erreichte, erschien Seodong, der sich vor ihr verbeugte und anbot, sie zu begleiten. Die Prinzessin wusste zwar nicht, woher dieser Mann gekommen war, sie vertraute ihm jedoch und mochte ihn. So wurde Seodong zum Leibwächter der Prinzessin, die sich in ihn verliebte und eines Tages in seinen Armen ein-schlief. Erst dann erfuhr sie den Namen dieses Mannes und erkannte, dass das Lied letztendlich Wahrheit geworden war.Die Prinzessin zog mit Seodong nach Baekje, zeigte ihm das Gold, das sie von ihrer Mutter erhalten hatte, und begann, Pläne für die gemeinsame Zukunft zu schmieden. Seodong aber lachte nur laut und fragte: „Was soll das sein?“ Darauf antwortete die Prinzessin: „Das ist Gold, mit dem wir hundert Jahre lang ein reiches Leben führen können.“ Darauf entgeg-nete Seodong: „An der Stelle, wo ich seit meiner Kindheit Licht-wurzeln gesammelt habe, gibt es Gold wie Erde.“ Die Prin-zessin sprach daraufhin voller Staunen: „Das muss der größte Schatz unter dem Himmel sein! Wenn Ihr Euch noch daran erinnert, wo das Gold liegt, dann lasst doch davon an meine Eltern im königlichen Palast schicken. Was meint Ihr?“ „Ein-verstanden.“ Seodong machte sich ans Graben und schaufelte einen ganzen Berg Gold aus. Dann ging er zu Jimyeong Beopsa, dem Oberpriester im Tempel Saja-sa am Berg Yonghwa-san, um sich nach Transportmöglichkeiten zu erkundigen. Der

Seodongyo soll ein Liebeslied sein, das vom die Grenze von zwei Reichen überschreitenden Werben von König Mu um Prinzessin Seonhwa aus dem Silla-Reich erzählt. Und der Tempel Mireuk-sa war bisher als ein Bauwerk, das auf Wunsch der Königin Seonhwa nach ihrer Vermählung mit König Mu vom König errichtet wurde, bekannt. Widerspricht nun der Inhalt der frisch ausgegrabenen goldenen Einschreinungstafel dieser Erkenntnis? Das muss nicht unbedingt der Fall sein.

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Mönch antwortete: „Bringt das Gold hierher. Ich werde es mit Hilfe meiner übernatürlichen Kräfte verschicken.“ Das Gold wurde vor den Tempel gebracht und die Prinzessin legte noch einen erklärenden Brief an ihre Eltern bei. Jimyeong Beopsa beschwor seine magischen Kräfte und brachte tatsächlich das Gold von einem Tag auf den anderen zum Königshof des Silla-Reichs. König Jinpyeong war verwundert über die mysteriösen Kräfte hinter diesem Geschehen. Fortan brachte er Seodong noch mehr Respekt entgegen und sandte ihm häufig Gruß-schreiben. So gewann Seodong das Herz des Volkes und bes-tieg schließlich als König Mu den Thron von Baekje.Eines Tages, als König Mu sich mit seiner Gemahlin zum Tem-pel Saja-sa aufgemacht hatte und am großen Teich am Fuße des Berges Yonghwa-san vorbeikam, erschienen mitten im Teich die Mireuk-Trias (Maitreya, also Mireuk-Buddha und zwei flankierende Bodhisattwas). Der König ließ die Sänfte anhalten und verbeugte sich tief vor der Trias. Die Königin bat darauf ihren Gemahl: „Lasst hier einen großen Tempel errichten. Es ist mein Wunsch.“ Und der König be-schloss, ihren Wunsch zu erfüllen. Der König beriet sich mit Jimyeong Beopsa über die notwendigen Auffüllarbeiten des Teichs. In einer einzigen Nacht zerkleinerte der Oberpriester mit seinen magischen Kräften einen ganzen Berg und füllte den Teich zu einer ebenen Fläche auf. Es wurden Statuen der Mireuk-Trias gefertigt, drei Höfe mit jeweils einer Halle und einer Pagode und der Halle zugehörigem Gebäude angelegt und der Tempel Mireuk-sa genannt. Silla-König Jinpyeong schickte viele Hand-werksmeister, die beim Bau des Tempels halfen. Der Tempel ist bis heute erhalten geblieben.Die Erzählung von König Mu besteht aus zwei Teilen: einmal der Geschichte von Seodong und dann der Gründungsge-schichte des Tempels Mireuk-sa. Mit anderen Worten: Sie umfasst die Seodong-Sage, die von Seodongs jungen Jahren, seiner Werbung um Prinzessin Seonhwa, seiner Heirat und Thronbesteigung handelt, und die Gründungssage des Tem-pels Mireuk-sa, die den Ursprung des Tempels erklärt.Betrachtet man die Geschichte jedoch genauer, wird der un-terschiedliche Charakter der Seodong-Sage und der Grün-dungssage deutlich. Die Seodong-Sage ist eine eher fiktionale, fantasiereiche Erzählung als eine Aufzeichnung historischer Tatsachen. Die Taten von Seodong stimmen nämlich zum

großen Teil nicht mit den über König Mu überlieferten historischen Fakten überein. Selbst Mönch Iryeon, der Ver-fasser der Memorabilia der Drei Königreiche, erwähnt, dass der Baekje-König Mu der Sohn von Baekje-König Beop (reg. um 599) ist. Laut der Seodong-Sage soll er aber Sohn einer Witwe sein, weshalb die Wahrheit in Bezug auf seine Herkunft ungeklärt bleibt. Im Gegensatz dazu basiert die Gründungssage des Tempels Mireuk-sa auf der historischen Tatsache, dass König Mu der Stifter des Tempels ist.Die Seodong-Sage entwickelte sich aus verschiedenen im Volk mündlich tradierten Stoffen. Daher weist sie, die das Leben von Seodong angefangen von seiner Geburt bis zur Thron-besteigung erzählt, thematische Ähnlichkeiten mit verschie-denen überlieferten Volkserzählungen auf. Die Geschichte von Seodongs Geburt, der aus der Vereinigung seiner Mutter mit

einem Teichdrachen hervorgeht, greift das typische Volksmotiv der Geburt von Helden mit über-natürlichen Kräften auf, die meist durch den Verkehr zwischen einem Menschen und einem nicht-mensch-lichen Wesen gezeugt werden. Auch der Teil über die Entdeckung der Goldmine, die Seodong beim Sam-meln von Lichtwurzeln zufällig gefunden hat und durch die er das Vertrauen des Volks gewinnt und schließlich den Thron besteigt, ist inhaltlich mit dem Märchen vom Köhler und der Goldmine iden-tisch. In dieser Geschichte wird die jüngste Tochter nach einem Streit mit dem Vater verstoßen und trifft auf einen Köhler, der schließlich viel Gold entdeckt, so dass das Paar reich wird. Daher besitzt die Seodong-Sage, die nicht als Aufzeichnung historischer Tat-sachen verstanden werden kann, stark den Charakter einer mündlich

tradierten Volkserzählung.Dieser Charakter ist auch am Inhalt des Liedes Seodongyo zu erkennen. Das Seodongyo ist laut der Seodong-Sage ein Lied, dessen Text König Mu erfunden und verbreitet hat, um Prinzessin Seonhwa für sich zu gewinnen. Das Seodongyo, das Seodong den Kindern beibrachte, ist in Hyangchal niederge-schrieben. Unter „Hyangchal“ versteht man ein archaisches Schriftsystem, mit dem die gesprochene koreanische Sprache der Zeit, als es noch kein eigenes koreanisches Alphabet gab, mit Hilfe von Lautung und Bedeutung der chinesischen Zeichen wiedergegeben wurde. Die eigentliche Bedeutung von Hyangchal-Texten ist daher schwer zu entschlüsseln. Eine

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genaue Interpretation des Liedes Seodongyo ist schwierig, aber eine allgemeine Wiedergabe liest sich wie folgt:

Prinzessin SeonhwaHat heimlich geheiratet,Nachts fällt sie in die ArmeVon Sodeong

Das Lied, das von der heimlichen Beziehung zwischen Prinzes-sin Seonhwa und Seodong handelt, ist ein Kinderlied mit dem Charakter eines Minyo (koreanisches Volkslied). Der Text des Seodongyo ist nicht viel anders als die Volks- oder Kinderrei-me, die heute gesungen werden, und deren Texte etwa lauten: „Der so und so hat sich heimlich in die so und so verliebt!” Aufgrund dieses Charakters konnten es die Kinder im Silla-Reich einfach nachsingen. Der Text des Seodongyo, der zum Erwerb der Liebe der Prinzessin Seonhwa verfasst wurde, ge-hört zu den typischen Liebesgedichten, die eine großen Teil der Liedtexte der Volkslieder ausmachen. Dank dieses Volkslied-charakters verbreitete sich das Seodongyo sehr rasch im Volk und gelangte schließlich in den königlichen Palast.

Neue ErkenntnisseDer aus dem Baekje-Reich stammende Tempel Mireuk-sa in Iksan in der Provinz Jeollabuk-do gilt als größter Tempel aus dem Zeitalter der Drei Königreiche (57. v.Chr.-668 n.Chr.) auf der koreanischen Halbinsel. Wie die Stelle über König Mu in den Memorabilia der Drei Königreiche überliefert, wurde der Tempel auf Wunsch der Gemahlin König Mus gegründet. Diese Gemahlin ist in der Geschichte Prinzessin Seonhwa.Allerdings wurde vor kurzem die Steinpagode des Tempels Mireuk-sa zerlegt, wobei historische Relikte gefunden wurden, die neue Erkenntnisse über die Tempelgründung liefern. Das Nationale Forschungsinstitut für den Erhalt des Kulturerbes (National Research Institute of Cultural Heritage), das seit 2001 ein Projekt zur Zerlegung und Restaurierung der Stein-pagode durchführt, ist im Januar 2009 während der Zerlegung des ersten Stockwerks der Pagode auf einen Schatz gestoßen,

zu dem u.a. ein goldenes Sari-Reliquiar und eine goldene

Einschreinungstafel gehören.Große Aufmerksamkeit erregte dabei

vor allem die Inschrift der Goldtafel. Da-nach wurde nämlich der Bau des Tempels

bzw. die Sari-Einschreinung in die Steinpagode von einer Kön-igin aus der Familie Sataek in die Wege geleitet, was bislang unbekannt war. Dies stimmt mit der bisherigen Annahme, dass der Stifter des Tempels Mireuk-sa die Gattin von König Mu, also Prinzessin Seonhwa, war, nicht überein. Hier die rel-evante Stelle über die Gründung des Tempels:Die Königin unseres Baekje-Reichs, die Tochter von Sataek Jeokdeok, eines Jwapyeong-Beamten (Beamter ersten und damit höchsten Ranges), hat lange Zeit alles für ein gutes Karma erbracht, so dass sie in diesem Leben reichlich belohnt wird, alle Menschen tröstend leitet und so zu einer Säule des Buddhismus wurde. Mit freudiger Bereitschaft hat sie ein großes Weihopfer erbracht, indem sie den Tempel erbauen und am 29. Tag des ersten Monats des Jahres des Erdschweins die Sari einschreinen ließ.Laut dieser Inschrift wurden im ersten Monat des 40. Regie-

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1 Der äußere Krug des Sari-Reliquiars besteht aus einem oberen und einen unteren Teil, die voneinander getrennt werden können.

2 Scharen von interessierten Besuchern stehen Schlange vor dem Mireuksa Museum in Iksan, Provinz Jeollabuk-do, wo einen Monat lang eine Sonde-rausstellung mit den buddhistischen Relikten, die im Tempel Mireuk-sa ausgegraben worden waren, stattfand.

3 Gungnamji in Buyeo, Provinz Chungcheongnam-do, wird in einer Aufzeich-nung über König Mus Geburt erwähnt, die sich im Samgugyusa, den Memo-rabilia der Drei Königreiche, findet. © Kown Tae-kyun

rungsjahrs von König Mu, also des Jahres des Erdschweins (Jahr 639), in die West-Pagode des Tempels Mireuk-sa die Sari eingeschreint, wobei diese Zeremonie von der damaligen Königin, i.e. der Tochter von Sataek Jeokdeok, ausgerich-tet wurde. Die Sataek gehörten Ende der Baekje-Zeit zu den „acht mächtigen Familienclans des Reiches“. Die Existenz dieses Clans bestätigt das Denkmal Sataekjijeok-bi, das Sa-taek Jijeok, der als Jwapyeong, als höchstrangiger Beamter am Baekje-Hof diente, am Ende seines Lebens anfertigen ließ. Das Monument enthält eine Klage über die Vergänglichkeit von Ehre und Zeit auf der irdischen Welt. Die Goldtafel weist also darauf hin, dass die damalige Königin, die den Tempel Mireuk-sa stiftete, aus der Familie Sataek stammte, und damit nicht Prinzessin Seonhwa die Wohltäterin des Tempels war.Das heißt jedoch nicht, dass die Inschrift die Beziehung zwischen König Mu und Prinzessin Seonhwa negiert. Sie verweist lediglich auf die Königin aus der Familie Sataek als Gründerin des Tempels, beweist aber nicht, dass Prinzessin Seonhwa nicht die Frau von König Mu war. Anders ausge-drückt: Die Inschrift der Einschreinungstafel widerspricht nicht der Seodong-Sage. Zieht man die Ansicht in Betracht, dass König Mu mehrere Frauen gehabt haben könnte, dann kann die Liebesgeschichte von König Mu und Prinzessin Seonhwa ohne Weiteres als Teil der Seodong-Sage anerkannt werden. Man kann es so verstehen, dass mit der eigentlichen Gründung des Tempels Mireuk-sa lediglich die Königin der damaligen Zeit, also Sataek, zu tun hatte.

Die Gründungssage des Tempels Mireuk-saDie Inschrift der goldenen Einschreinungstafel weist, wie ge-sagt, darauf hin, dass die Königin, die den Bau initiierte, aus der Familie Sataek stammt. Damit widersprechen sich die In-halte des Samgugyusa und der Goldtafel.Allerdings wird dieser scheinbare Widerspruch verständlich, wenn man die Memorabilia der Drei Königreiche , das Samgugyusa, genauer analysiert. Wie bereits erwähnt, besteht die Geschichte von König Mu aus zwei Sagen, der Seodong-

Sage und der Gründungssage des Tempels Mireuk-sa, wobei die Seodong-Sage fiktionären Charakter hat und die Gründ-ungssage auf historischen Ereignissen basiert. Beide Teile fügen sich auf natürliche Weise aneinander.Generell wurden Gründungssagen bzw. -legenden von bud-dhistischen Tempeln verbreitet, um durch die Darstellung des Tempels als Heiligtum die Verbreitung des buddhistischen Glaubens und die Konvertierung zum Buddhismus zu be-fördern. Daher basieren solche Sagen meist auf unglaublichen Geschichten über die Ereignisse in Zusammenhang mit der Standortbestimmung der Tempel. Die Gründungssage des Tempels Mireuk-sa, laut der König Mu und seine Königin sa-hen, wie aus dem Teich die Mireuk-Trias erschienen, und aus diesem Anlass den Tempel errichteten, gehört ebenfalls in den Bereich solch sagenhafter Gründunggeschichten.Gründungssagen von Tempeln integrieren auch oft die im Volk verbreiteten Sagenmotive, um die göttlich-übernatürliche Kraft des Tempels hervorzuheben. Deshalb schließt sich die Seodong-Sage die Gründungssage des Tempels Mireuk-sa an. Die Seodong-Sage wird nämlich durch die Gestalt des Jimyeong Beopsa, des zur damaligen Zeit höchsten buddhistischen Priesters, in Verbindung mit der Gründungssage gebracht. Da die Liebesgeschichte von König Mu und Prinzessin Seonhwa im Volk allgemein verbreitet war, haben die buddhistischen Mönche sie vielleicht mit der Gründungssage des Tempels verknüpft, um die Hintergründe der Tempelgründung noch wirksamer zu erklären.Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Seodong-Sage über die Liebe zwischen Seodong bzw. König Mu und Prinzes-sin Seonhwa kommt als überlieferter Volkserzählung, und der Gründungssage des Tempel Mireuk-sa, die den Bau des Tempels durch König Mu thematisiert, als historischer Tat-sache Bedeutung zu. Die im Volk bekannte Seodong-Sage war ursprünglich eine von der Gründungssage unabhängige Geschichte, wurde aber mit ihr verknüpft und hat sie be-reichert.

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FOKUS

Das Seouler Myeongdong Kunsttheater konnte dank einer außergewöhnlichen „Kampagne zur Wiedereröffnung des Theaters“, die von Seiten der Kultur-kreise initiiert wurde, seine Tore wieder öffnen. Dieses neue Kulturzentrum besitzt eine lange Geschichte, die bis in die 1930er Jahre zurückreicht. Hier ein Rückblick auf die Vergangenheit und eine Beleuchtung des Neuanfangs.

Kim Moon-hwan Professor an der Seoul National University, Theaterkritiker

Fotos: Myeongdong Kunsttheater

as Myeongdong Theater, das einst-mals auf dem teuersten Grund-stück in ganz Korea stand, wurde

restauriert. Es ist kein Kino, sondern ein Theater ausschließlich für Theaterauffüh-rungen. Während der japanischen Besat-zungszeit befand sich in diesem Gebäude ab 1934 das Meijija Theater, ein Licht-spielhaus. Bei den Restaurationsarbeiten hat man unter großen Anstrengungen die Barockstil-Fassade des ursprünglichen, noch existierenden Gebäudes so gut wie möglich erhalten. Das alte Meijija Thea-ter war in Besitz des Japaners Ishibashi Ryosuke, der ein Architektenbüro betrieb. 1939 kaufte Ishibashi auch das Danseong-sa auf, benannte es in „Daeryuk Theater“ um und führte es als reines Lichtspiel-haus. Ishibashi galt damals als der König der Theaterkreise von Gyeongseong. (Die Japaner hatten Seoul in Gyeongseong bzw. Geijyo umbenannt.)

Hintergrund der „Kampagne zur Wiedereröffnung des Theaters“In der Joseon-Zeit nannte man den

Seouler Innenstadtbezirk Myeong-dong „Myeongnyebang“. Da sich dort das Jang-akwon, das königliche Musikinstitut, das die traditionelle Musik pflegte, befand, hatte die Gegend einen besonderen Bezug zu Kunst im breiten Sinne. Unter der japanischen Kolonialherrschaft wurde Myeong-dong „Meijichyo“ genannt, wovon sich auch der Name „Meijija Theater“ her-leitet. Die Japanische Legation stand dort, wo sich heute das Shinsegae Kaufhaus befindet. Um die Gesandtschaft entstand ein modernes Geschäftsviertel, das sich zu dem heutigen Handelsmekka entwi-ckelte. Heutzutage finden sich in Myeong-dong Einzelhändler v.a. der mittleren Preiskategorien, aber das Viertel ist bei japanischen Touristen immer noch am beliebtesten. Weil Myeong-dong stets ein Ort mit reichlichem Publikumsverkehr war, zog es natürlich auch Künstler im weiten Sinne an.Das Meijija Theater wurde von 1945, als Korea von der japanischen Kolonialherr-schaft befreit wurde, bis 1961 von der Stadtregierung Seoul als Öffentliches

Auditorium genutzt und beherbergte von 1957 bis 1973 auch das Koreanische Nationaltheater. Das heißt, das Gebäude wurde von 1957 bis 1961 für zwei unter-schiedliche Funktionen genutzt, bis 1961 das Öffentliche Auditorium in das neu errichtete Bürgerzentrum umziehen konnte. Mit dem anschließenden Umbau zum Nationaltheater im Jahr 1962 wurde die Zahl der Plätze von 1.178 auf 820 reduziert. Mit der jüngsten Restaurierung wurde aus dem Theater ein mittelgroßes Theater mit 552 Plätzen. Als das Nationaltheater 1973 in den Neu-bau in Jangchung-dong umzog, mietete das damalige Ministerium für Kultur und

Wiedereröffnung des Myeongdong Kunsttheaters

DDas Myeongdong Kunsttheater hat nach einer umfassenden Renovierung wieder seine Pforten geöffnet.

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Information das Gebäude vom Amt für Regierungsverwaltung und nutzte es unter dem Namen „Myeongdong Kunsttheater“ als Miettheater. Aber das Gebäude wurde 1976 von Daehan Investment & Finance und Daehan Investment Trust Co. Ltd. gekauft und in ein Bürogebäude umfunkti-oniert, was das Ende als Theater bedeute-te. Als im November 1994 bekannt wurde, dass die Daehan Merchant Banking Cor-poration das Gebäude in ein 10-stöckiges Firmengebäude verwandeln wollte, riefen die koreanischen Kulturkreise, darunter die Theaterkreise, die „Kampagne zur Wiedereröffnung des Theaters“ ins Leben.

Als sich dann durch die Konkurserklärung der Daehan Merchant Banking Corpora-tion die Gelegenheit bot, das Grundstück zu kaufen, gelang es dem Myeongdong-Händlerverband, den Zuschlag bei den öffentlichen Versteigerungen zu verhin-dern, so dass schließlich die Regierung das Grundstück im Dezember 2003 erwerben konnte. Nach 5-jährigen Bauar-beiten wurde das Gebäude im Mai 2009 als „Myeongdong Kunsttheater“ neu geboren. Das Gebäude hat eine Reihe von Erstauf-führungen erlebt: die erste Opernauffüh-rung, die erste Orchesteraufführung und die erste Aufführung der Koreanischen Nationaltheatertruppe, die aus dem

Zusammenschluss der beiden dem Natio-naltheater eigenen Truppen hervorgegan-gen ist. Im Jahr 1962 wurden die Nationale Operntruppe, die Nationale Gukgeug-Truppe (die heutige Nationale Changgeuk-Truppe) und die Nationale Tanztruppe gebildet, die auf der Bühne des Myeong-dong Theaters alle das höchste Niveau der Aufführungskunst präsentierten. Auch standen höchst populäre Sänger wie Hyeon In und Yoon Bok-hee hier auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Darüber hinaus war das Theater auch Schauplatz der Aktivitäten der sog. Dongingeukhoe, Zusammenschlüsse von Theaterfreunden, die aus den Theater-AGs der Universitäten

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stammten und in den 1960er Jahren das Rückgrat des koreanischen Theaters bil-deten. Sagte nicht einst der Schriftsteller Lee Bong-gu, der sich selbst einmal als „Fürst von Myeong-dong“ bezeichnete, dass die ganze Kultur Koreas hier kon-zentriert ist?Auf diese Weise fungierte Myeong-dong lange Zeit als Zentrum der koreanischen Kunst, besonders der Darstellenden Kunst. Vor allem entwickelte sich vieles rund ums Theater, so dass es durchaus Sinn macht, die historischen Hintergrün-de des Myeongdong Kunsttheaters unter dem Aspekt der verschiedenen Auffüh-rungen der einzelnen Theatertruppen wie der Koreanischen Nationaltheatertruppe

zusammenfassend darzustellen.

Anfänge des NationaltheatersNach der Befreiung Koreas von der japa-nischen Kolonialherrschaft am 15. August 1945 wies die koreanische Theaterwelt, wie alle anderen Bereiche auch, eine ide-ologische Teilung in links und rechts auf. Aber nach drei Jahren, mit der Gründung der Republik Korea im Jahr 1948, gingen die sozialistisch gesinnten Schauspieler in den Norden oder tauchten unter, so dass das Chaos im Theaterbereich erst einmal unter Kontrolle war. Im Dezember 1948 übernahm das Ministerium für Kultur und Bildung vom Amt für Information die Kompetenz zur Erteilung von Genehmi-

gungen für Vorführungen, und das Gesetz für die Gründung des Nationaltheaters wurde ausgearbeitet. Im Oktober 1949 wurde eine Kommission zur Leitung des Nationaltheaters ins Leben gerufen und der erste Leiter ernannt. Das Bumingwan Gebäude (1.997 Plätze; das heutige City Council Gebäude in Seoul, Jung-gu, Tae-pyeong-ro) wurde zum Sitz des Theaters bestimmt. Die Eröffnungszeremonie des Nationaltheaters fand 1950 statt. Danach wurden hier verschiedene Vorführungen auf die Bühne gebracht wie Wonsul-lang, ein neu geschaffenes Drama, Malli jangseong, eine traditionelle koreanische Oper, Chunhyangjeon, Die Geschichte der Chunghyang, eine neue geschaffene Oper,

1 Das Myeongdong Kunsttheater beherbergte früher das Koreanische National-theater.

2~3 Am 5. Juni 2009 wurde das neue Myeongdong Kunsttheater in einer feier-lichen Zeremonie neu eröffnet.

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Noeu, ein übersetztes Drama, usw. Der Ausbruch des Koreakriegs im Juni 1950 setzte dann den hohen Erwartungen ans Theater ein Ende und zwang das National-theater zur Flucht nach Busan. Im Okto-ber 1951 schlug der Direktor des Theaters vor, das Nationaltheater in Busan neu zu eröffnen, aber sein Vorschlag wurde abgelehnt und er reichte seinen Rücktritt ein. Die Regierung beschloss im Mai 1952, das Nationaltheater in Daegu zu lassen, bis die Rückkehr nach Seoul möglich würde, und bereitete die Erröffnungsvor-stellung im Daegu Kulturtheater, dem

vorübergehenden Sitz des Nationalthea-ters, vor. Vier Jahre später, im Juni 1957, kehrte das Nationaltheater wieder nach Seoul zurück, wo es das Gebäude des heutigen Myeongdong Kunsttheaters gemeinsam mit der Regierung der Stadt Seoul nutzte und die Nationaltheatertruppe gründete. Die Truppe war jedoch im Zusammen-hang des Konflikts zwischen den Vertre-tern des traditionell-orthodoxen Theaters und denen des auf das breite Publikum ausgerichteten Theaters wieder entzweit. Erst im Mai 1959 wurden zwei Truppen, nämlich die Shinyeop- und die Mingeuk-Truppe, als eigene Truppen des Natio-naltheaters eingegliedert. Damit ergab sich zwar eine Situation, die „mit zwei Familien unter einem Dach“ verglichen werden kann, aber die Aktivitäten dieser „Vereinigung der Gegensätze“ kamen gut beim Publikum an. Dahinter stand natür-lich auch, dass zu dieser Zeit der Film sich bereits großer Beliebtheit bei den Massen erfreute und das Publikum die Gesichter der Schauspieler, die es zum Teil bereits von der Kinoleinwand her kannte, einmal in natura sehen wollte. Es geht zwar zu weit, von Populismus zu sprechen, aber es wurden eine Reihe von Aufführungen wie Wilhelm Tell oder Schuld und Sühne

auf die Bühne gebracht, die in künstle-rischer Hinsicht etwas zu wünschen übrig ließen.Am 19. April 1960 kam es zur Studen-tenrevolution, die sich gegen die lange Herrschaft der autoritären Regierung von Präsident Syngman Rhee, der als erster Präsident der Republik Korea von 1948 bis 1960 regierte, richtete. Dieser Wind der Revolution wehte auch im Nationaltheater und fußte hauptsächlich auf der Kritik, dass die Leitung des Theaters zu eng mit der Regierung zusammenarbeitete. Es wurde die Einführung eines „Prinzips

der Armeslänge“ verlangt, nach dem die Regierung Unterstützung leisten, sich aber nicht in die kreativen Aktivitäten des Theaters einmischen sollte. Auch wurde stark betont, dass man das Nationalthe-ater nicht mit einem profitorientierten kommerziellen Theater verwechseln sollte. Unter diesen unsicheren Umstän-den, in denen sich solche Forderungen weder in der Regierungspolitik noch im Budget niederschlagen konnten, brach am 16. Mai 1961 die Militärrevolution aus.Der erste Minister für Kultur und Infor-mation unter der neuen Revolutions-regierung war in der ausgeschiedenen Regierung Direktor des Amtes für Infor-mation gewesen und hatte in der Straße Eulji-ro zwei Jahre lang ein kleines The-ater (Wongaksa) geleitet. Auch hatte er persönlich großes Interesse an Kunst. Unter seiner Führung wurde im Okto-ber 1961 das Nationalteater wieder dem Ministerium für Kunst und Information unterstellt. Am 7. November 1961 wurde das neue Bürgerzentrum eröffnet und das Theater konnte nach vier Jahren das ganze Gebäude für sich beanspruchen. Das bot Anlass zu umfassenden Restau-rierungsarbeiten an dem altmodischen und unbequemen Theatergebäude, um das man sich 15 Jahre lang nicht geküm-

mert hatte. Nach einer Generalüberho-lung von Zuschauerplätzen, Bühne, Heiz- und Kühlsystem, Toiletten, Lobby usw. präsentierte sich das Nationaltheater als „sauberes, nicht zu kaltes und nicht zu heißes“ Theater, das als Myeongdong Nationaltheater bekannt wurde. Im Zuge dieser Neuerungen wurde die Nationale Theatertruppe umorganisiert und die Operntruppe des Nationaltheaters, die Nationale Gukgeuk-Truppe (die heutige Nationale Changgeuk-Truppe) und die Nationale Tanztruppe (traditionell kore-anischer und moderner Tanz) als eigene

Spezialtruppen gegründet.

Wiedereröffnung in den 1960er Jah-renVom 22. März bis Ende April 1962 wurde fast einen Monat lang ein Kunstfestival zur Feier der Wiedereröffnung des Myeong-dong Nationaltheaters veranstaltet. Auf dem Spielplan standen u.a. Daechunhy-angjeon (Die Geschichte der Chunhyang), eine koreanische Oper, Prinz Hodong, eine neu geschaffene Oper, und das Drama Hymne an die Jugend. Obwohl an dieser Veranstaltung die oben genannten vier Truppen, das KBS Orchester und der KBS Chor (KBS: öffentlich-rechtliche Rund-funk- und Fernsehanstalt Koreas) teil-nahmen, zog das Festival in einem Monat nicht mehr als rund 13.000 Besucher an. Zählt man nur die zahlenden Besucher, kommt man auf lediglich 100 Personen pro Aufführung. Nachdem das ganze Bud-get aufgebraucht worden war, konnte das Theater nur noch durch die Vermietung seiner Räumlichkeiten überleben. Auch wechselte innerhalb von zwei Jahren fünf Mal der Direktor, was die Verwaltungs-probleme nur weiter verschärfte. Die Lage wendete sich zum Besseren, als sechs Theatergruppen zusammenkamen, um ab dem 22. April 1964 den 400. Geburts-

Das Myeongdong Kunsttheater ist eine ausschließlich auf Theater spezialisierte Einrichtung, deren Räumlichkeiten nicht vermietet werden. Die meisten Aufführungen werden selbst produziert und das Theater wird als sog. „Produzierendes Theater“ geführt, ob-wohl es keine eigene Schauspieltruppe besitzt. Damit stellt es ein völlig neues Experiment in der Geschichte der öffentlichen Thea-ter des Landes dar.

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tag von Shakespeare zu feiern. Jede der Truppen führte einen Monat lang einige der besten Shakespeare-Stücke auf, wobei die Nationale Theatertruppe mit Der Kaufmann von Venedig den Anfang machte. Dieses Festival zog mit 37.000 Gästen die höchste Besucherzahl nach dem Ende des Koreakriegs an. Leider war dieser Erfolg nur von kurzer Dauer. 1966 wurde das Budget des Myeongdong Nationaltheaters auf die Hälfte der bean-tragten Summe reduziert und trotz der Proteste aus Kunst- und Kulturkreisen wurden auch im Ergänzungshaushalt wei-tere Gelder verweigert, so dass man die Vorführungstage von 80 auf 30 pro Jahr kürzen musste. In dieser Situation war man folgerichtig auf die Vermietung der Räumlichkeiten angewiesen. Ironischer-weise konnte das koreanische Theater nur durch die Mitglieder der Dongingeuk-

hoe, der Zusammenschlüsse von Thea-terfreunden, überleben, die meist aus den Theater-AGs der Universitäten stammten, und seit den 1960er Jahren frischen Wind ins Theatergeschehen und auch auf die Bühne des Myeongdong Nationaltheaters brachten. Das Theaterstück Und trotz-dem geht der Vorhang hoch, das im März 1968 zum 60. Jubiläum des Singeuk, des „Neuen Theaters“, auf die Bühne gebracht wurde, ist denn auch mehr als nur der Titel eines Theaterstücks: Es steht für den unbeugsamen Willen des korea-nischen Theaters, das kurz vor dem Ende stand. Ein Zeitungsartikel fängt die Stim-mung der Zeit wie folgt ein:

„Das Myeongdong Nationaltheater, die einzige Bühne der Darstellenden Kunst in Korea, befindet sich in einer derma-ßen traurigen Situation, dass es sich

gezwungen sieht, für zwei Monate im Jahr, im Winter und im Sommer, die Türen zu schließen. (...) Das National-theater, dessen Betrieb durch staatliche Budgetzuweisungen zur Förderung der Darstellenden Künste und zur Heran-ziehung der nationalen Kunst ermög-licht wird, wird im Vergleich zu anderen staatlich geförderten Einrichtungen am stiefmütterlichsten behandelt. Das The-ater hat kein eigenes Heizungs- oder Kühlsystem, ja nicht mal einen eigenen Notfall-Generator. Als es bei einer Auf-führung der Lustigen Weiber von Windsor durch die Gwangjang Theatertruppe zu einem Stromausfall kam, mussten die Schauspieler die Vorführung bei Kerzen-licht fortsetzen. Vor kurzem gab es einen weiteren Stromausfall während der Oper Chunhyangjeon. Dass sich auch auslän-dische Gäste im Publikum befanden und

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die Zuschauer 50 Minuten lang warten mussten, zeigt die Peinlichkeit der Situati-on.“ ( aus der Dong-A ilbo vom 20.12.1966)

Die Veränderungen in der koreanischen Theaterwelt wurden nicht zuletzt durch den Besuch des südkoreanischen Geheimdienstchefs in Nordkorea ausge-löst. Die Tatsache, dass Nordkorea große Kulturräume wie das Mansudae Theater in Pjöngjang aufzuweisen hatte, machte der Regierung bewusst, dass es im Süden an Einrichtungen einer vergleichbaren Größenordnung fehlte. Deswegen wurde auf die Schnelle in Jangchung-dong das Volkskulturzentrum gebaut, ein Komplex, zu dem auch ein Gebäude für das Natio-naltheater gehörte. Am 12. Oktober 1967 wurde der erste Spatenstich getan. Das Problem war, dass man zur Finanzie-rung dieses Bauprojekts beschloss, das

Myeongdong Nationaltheater zu verkau-fen. Die Theaterkreise waren von diesen plötzlichen Veränderungen verwirrt, die weniger kulturell als politisch motiviert zu sein schienen. Geplant waren „ein Unter-geschoss, drei Obergeschosse, 1.500 Plätze, 130 Logenplätze. Die Logen wer-den jeweils mit einer Toilette und einem Raum mit kleinen Erfrischungen ausge-stattet. Die rund 1.322㎡ große Bühne wird mit einem automatischen System

zum Rotieren sowie zur Bewegung nach oben und unten bzw. von rechts nach links versehen. Geplant sind weiterhin ein Orchestergraben für 100 Personen und auch Anlagen für TV-Übertragungen.“ In Theaterkreisen fragte man zweifelnd, ob diese Pläne zur realen Situation des koreanischen Theaters passten. Auch befürchtete man, dass die Theaterbran-che, die gerade erst etwas festeren Boden unter die Füße bekommen hatte, durch solche Maßnahmen nicht völlig in ihren Aktivitäten gelähmt werden würde. Das Myeongdong Nationaltheater wurde vier Mal zur öffentlichen Versteigerung ausgeschrieben, jedes Mal ohne Erfolg. 1970 entschied sich die Regierung dann, die Innenräume teilweise zu renovieren, das Gebäude in „Kunsttheater“ umzu-benennen und zu vermieten. Das Nati-onaltheater zog am 26. August 1973 in

das neue Gebäude in Jangchung-dong um. Das alte Myeongdong Nationaltheater schloss 1975 seine Türen, wurde dem Amt für Regie-rungsverwaltung zurückgegeben und schließlich im November 1976 verkauft.

Neuer Start als „Produzie-rendes Theater“Die Neueröffnung des Gebäudes als Myeongdong Kunsttheater wurde nach all den wechselvollen und strapaziösen Zeiten von der gesamten koreanischen Gemeinde der Darstellenden Künstler Koreas begrüßt, für die es eine Art Heimat ist. Es ist eine willkommene Nach-richt nicht nur für die Veteranen der Theaterbranche und das Publi-

kum aus den 1970er und 80er Jahren, sondern auch für die Gesamtheit der koreanischen Kunst- und Kulturkreise.Bei den Restaurierungsarbeiten war man bemüht, die Fassade des Gebäudes in ihrer ursprünglichen Form wiederherzu-stellen, weshalb man z.B. eine 3mm dicke Farbschicht entfernte, während man das Innengebäude in modernem Stil umge-staltete. Dadurch wurde versucht, die historische Aura zu wahren und gleich-

Bei der Renovierung des Myeongdong Kunstthea-ters war man darauf bedacht, den ursprünglichen Charakter der Fassade zu erhalten, während das Innengebäude in einen erstklassigen Vorstellungs-raum umgewandelt wurde.

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zeitig die Funktionalität als Aufführungs-raum zu optimieren. Das Myeongdong Theater, das mit einem Untergeschoss, fünf Obergeschossen und 558 Sitzplätzen als ein modernes Theater wiedergeboren wurde, verfügt über eine 12m lange und 7m breite Proszeniumsbühne, vor der die Sitzreihen hufeisenförmig angeord-net sind. Ein Mitarbeiter des Theaters erklärte, dass die maximale Entfernung zwischen Bühne und Sitzplatz im ersten Stock 13,5m und im zweiten Stock 16m betrage. Man sagt, dass die ideale Entfer-nung bis zum Bühnenset 20m (maximal 22m) beträgt und in einer Entfernung von 15m Gesichtausdruck und Gesten der Schauspieler auf der Bühne gut wahr-genommen werden können. Bedenkt man dies, dann verfügt das neue Theater über optimale Vorführungsbedingungen, die ein hohes Maß an Interaktivität und Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Bühne und Publikum schaffen. Durch die Verteilung der 552 Sitzplätze auf drei Stufen wurde sichergestellt, dass jeder

einzelne Zuschauer einen idealen Blick auf das Büh-nengeschehen hat. Das Hufeisen aus Sitzreihen und Balkonen scheint zudem die Bühne zu umar-men und schafft so eine Atmosphäre besonderer, spürbarer Nähe zwischen Schauspielern und Zuschauern. Was genauso viel Interesse wie das Innen-design erregt, ist der künftige Manage-mentplan des Theaters. Bislang haben die öffentlichen Theater in Korea ihre Einnah-men erzielt, indem sie die Räumlichkeiten vermietet oder sich auf die Präsentation von Gastspielen aus dem In- und Ausland konzentriert haben. Selbst bei im Hause produzierten Stücken handelte es sich oft um Gemeinschaftsprojekte mit anderen Theatertruppen. Im Gegensatz dazu soll das Myeongdong Kunsttheater als eine ausschließlich auf Theater spezialisier-te Einrichtung betrieben werden, deren Räumlichkeiten nicht vermietet werden. Die meisten Aufführungen werden selbst

produziert und das Theater wird als sog. „Produzierendes Theater“ geführt.

Innovativer AnsatzGoo Ja-heung, der neue Direktor des Theaters, der selbst lange Zeit für die Projektplanung privater Theatergruppen und öffentlicher Theaterinstitutionen zuständig war, ist der Meinung, dass das Aufkommen eines Theaters, das ohne eigene Theatertruppe nur als ein Produ-zierendes Theater betrieben wird, eine völlig neue Herangehensweise für die öffentlichen Theater in Korea aufzeigt und für die gesamte Theaterindustrie einen Wendepunkt darstellen und einen Para-digmenwandel in der Form des Manage-ments mit sich bringen wird. Früher

Szenen aus Ein glücklicher Tag im Hause des Jinsa Maeng, einer bekannten koreanischen Satire, die zum ersten Mal 1969 aufgeführt wurde, als das Gebäude noch das Koreanische Nationaltheater beherbergte. Das Stück war das erste, das auf die Bühne des neuen Myeongdong Kunsttheaters gebracht wurde, wo es vor 40 Jahren seine Uraufführung erlebt hatte.

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wurden einzelne Gruppen, Künstler oder Stücke gefördert und die Theatersäle zu niedrigen Preisen vermietet, damit sie für die Theatertruppen erschwinglich blieben. Aber jetzt möchte man diese zerstückelte Form der Unterstützung hinter sich las-sen und mit dem Theater als Mittelpunkt ein sicheres Produktionsumfeld schaffen. Dadurch versucht man, die Theaterbran-che direkt und indirekt zu fördern und das Fundament für die Entwicklung des kore-anischen Theaters zu legen. Mit anderen Worten: Das Myeongdong Kunsttheater bietet als Produzierendes Theater Unter-stützungen für unterschiedliche Zusam-menarbeitsformen der Regisseure, Büh-nenschriftsteller, Schauspieler und Mitar-beiter. Außerdem wird für Stücke, die für

private Truppen nur schwer zu produzie-ren sind, eine umfassende Unterstützung angeboten, die Räumlichkeiten, Arbeits-kräfte und Technik einschließt, damit die Theaterbranche einen neuen Anreiz und auch eine neue Gelegenheit zur Entwick-lung erhält und das Publikum die Chance, eine breitere Palette von Darstellenden Künsten auf der Bühne zu genießen. Goo weist darauf hin, dass das neue National-theater in Tokio, das Vidy Theater in der Schweiz und das Théatre National de la Colline in Frankreich Beispiele für eine ähnliche Managementweise sind. Die Vorstellungsserie zur feierlichen Wie-dereröffnung ist schon am Laufen, aber auch die Pläne für 2010 ziehen bereits erwartungsvolle Blicke auf sich. Dazu gehört das „Projekt zum Entdecken und Produzieren neuer Dramen“, bei dem verschiedene Dramen vom Drehbuch bis zur Aufführung gefördert werden; die „Einladungsserie von erfolgreichen Büh-nenstücken“, in deren Rahmen man von Publikum und Jury hoch bewertete, her-vorragende Stücke und Problemstücke zeigt, an denen man die Strömungen der koreanischen Theaterbranche und ihr Anliegen ablesen kann; „Hervorragende Produzenten - hervorragende Theater-stücke“, bei dem erfahrene Schauspieler berühmte Theaterstücke aus dem In- und Ausland präsentieren. Im Rahmen des Projekts „Serie der Landschaften

des modernen koreanischen Theaters“, bei dem die bedeutendsten Werke der modernen koreanischen Theaterge-schichte bis 2000 nach Erscheinungsjahr geordnet sind, liegt der Fokus auf Stü-cken, die zu Zeiten des Myeongdong Nati-onaltheaters und des Öffentlichen Audito-riums aufgeführt wurden. Dieses Projekt, das Stücken, die schon als Theaterfos-silien gelten, neues Leben einhaucht, wird etwa drei Jahre lang laufen. Auch ist ein Projekt mit dem Titel „Projekt: Erweite-rung der Fantasie“ in Vorbereitung, das Nachwuchs-Produzenten und -Künstler, die wegen der Realitäten der Theater-branche nicht leicht aus den kleinen The-atern hinauswachen können, ermutigen soll und ihnen die Gelegenheit gibt, ihre Kreativität zu entfalten und ihr Talent auf der mittelgroßen Bühne des Myeongdong Kunsttheaters zu erproben. Auch sind kontinuierliche Bemühungen geplant, Dramen aus Mittel- und Südamerika, dem Mittleren Osten, Afrika usw., die in Korea relativ wenig bekannt sind, ausfindig zu machen und auf die Bühne zu bringen. Der Lenkungsausschuss des Myeong-dong Kunsttheaters wählt unter den Stücken, die von den Mitarbeitern des Kunsttheaters eingereicht werden, die Werke aus, die dann tasächlich auf die Bühne gebracht werden, wobei die Zahl der Bewerbungen die Zahl der Stücke für den jeweiligen Spielplan zwei bis drei Mal überschreitet. Bei diesem Auswahlver-fahren und der Erstellung des Spielplans werden auch die Ratschläge des Publi-kums und die Meinungen von Experten aus dem In- und Ausland berücksichtigt. Besonders erfolgreiche Theaterstücke sollen dabei ins ständige Repertoire des Theaters aufgenommen und bestän-dig neu aufgeführt werden. Damit will man die Möglichkeit eines koreanischen Repertoiresystems austesten. Viele hoffen darauf, dass durch das Myeongdong Kunsttheater, das mit der Unterstützung der Regierung in Form einer Stiftungskörperschaft wiederbelebt wurde, ein neuer Aufschwung in der kore-anischen Theaterbranche erzielt werden kann.

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Kang Sue Jin

INTERVIEW

wei Füße, die wirklich schrecklich aussehen: Die Zehen sind verbogen, die Nägel eingedrückt, die Haut von Horn-haut und Wunden übersät. Auf den ersten Blick sehen sie

wie Baumwurzeln aus, die Menschenfüßen ähneln. Diese häss-lichen Füße, die an Picassos Werke erinnern, gehören der welt-bekannten Balletttänzerin Kang Sue Jin. Es sind die Füße einer Perfektionistin, die täglich über zehn Stunden übt und die mehr als 250 Ballettschuhe pro Jahr verschleißt. Es sind aber auch die Füße eines Schwans, der die Erdanziehungskraft besiegt und voller Grazie hoch in die Lüfte springt. Manche sagen, dass es die schönsten Füße der Welt sind. Der koreanische Dichter Ko Un gesteht ganz offen: „Als ich das Foto von ihren Füßen sah, klopfte mein Herz so heftig, dass ich es eine ganze Weile mit beiden Händen drücken und beruhigen musste. So fühlt es sich also an, wenn man wirklich bewegt ist, dachte ich.“

Eine besondere WürdigungAm Abend des 7. Juli 2007 fand im Stuttgarter Staatstheater eine besondere Aufführung statt. Das Ballettstück Romeo und Julia wurde vom renommierten Stuttgarter Staatsballett aufgeführt. Als nach der Aufführung die Primaballerina, die die Rolle der Julia getanzt hatte, vor den Vorhang trat, erhoben sich alle 1.500 Zuschauer von ihren Plätzen und brachten ihr eine stehende Ovation dar. Ein Vorhang, auf dem „Kang Sue Jin“ stand, wurde heruntergelassen und die 70 Mitglieder des Stuttgarter Balletts ehrten sie der Reihe nach mit jeweils sieben Rosen. Der Theater-saal füllte sich erneut mit brausendem Applaus.Es war die Jubiläumsaufführung der Ersten Solotänzerin des Stuttgarter Balletts, die auch den Status eines lebenslangen Mitglieds besitzt, zur Würdigung ihrer 20 Jahre am Stuttgarter

Staatstheater: Sie tanzt seit 1986 in Stuttgart, wo sie mit 19 als jüngste Tänzerin ins Corps de ballet aufgenommen wurde. Es ist selten, dass eine Balletttruppe der Weltklasse, die dieses Jahr ihr 400. Jubiläum feiert, für eins ihrer Mitglieder eine Ehrenauffüh-rung ausrichtet. Kang erhielt im März 2007 den Titel einer Kam-mertänzerin, den das Stuttgarter Ballett in 50 Jahren lediglich vier Mitgliedern verliehen hatte.Im September 2007 wurde sie zudem mit dem John Cranko-Preis geehrt, der an Personen verliehen wird, die sich in besonde-rer Weise um den herausragenden Choreografen John Cranko (1927-1973), der das Stuttgarter Ballett auf Weltniveau brachte, und sein Werk verdient gemacht haben. Das Staatstheater Stutt-gart begründete seine Entscheidung wie folgt: „Wir bezeugen Kang Sue Jin, die sich mit ihrer besonderen Interpretation und einem herausragenden künstlerischen Gehalt um das repräsen-tative Werk von John Cranko verdient gemacht hat, mit diesem Preis unsere Ehre.“ Damit wurde ihr Stellenwert als beste Tänze-rin in Bezug auf das Werk von John Cranko offiziell anerkannt.

Beginn der Legende vom Eisernen SchmetterlingAuf der Rückseite des glänzenden Erfolgs verbirgt sich das Leben einer Balletttänzerin, für die Schmerzen zum Alltag gehören, und die schweigend ihren dornigen, einsamen Weg geht, was man auch an ihren „schönen Füßen“ erkennen kann. Kangs Ballettle-ben nahm seinen schicksalhaften Anfang im Jahr 1979 in ihrem ersten Schuljahr an der Sunhwa Arts Middle School.Eines Tages fragte der Lehrer während des Unterrichts, wer vielleicht Ballett machen wollte, und sie hob ihre Hand. Und das war der Anfang. Damals lernte sie eigentlich traditionellen koreanischen Tanz. Beim koreanischen Tanz lernt man, die

Z

Die koreanische Balletttänzerin Kang Sue Jin, die dieses Jahr ihr Heimatland besuchte, um am Seongnam Dance Festival 2009 teilzunehmen, ist eine weltweit profilierte Tänzerin, der auch die Auszeichnung „Lebenslanges Mitglied des Stuttgarter Balletts“ verliehen wurde. Die begabte Tänzerin mit ihrer außerordentlichen Fähigkeit zur Charakterdarstellung wird auch „Eiserner Schmetterling“ genannt. Der Spitzname sagt alles über ihre glänzenden Sprünge auf der Bühne und die Unerbittlichkeit, mit der sie an sich arbeitet, aus.

Chung Sang-Young Leiter der Kulturabteilung der Tageszeitung The Hankyoreh | Fotos: Gundel Kilian

Die Balletttänzerin mit den

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Kang Sue Jin in Romeo und Julia. 1993 erhielt sie die Hauptrolle in diesem Stück des Stuttgarter Balletts.

schönsten Füßen der Welt

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Knochen nach innen zu biegen, aber beim Ballett muss man sie nach außen richten. Sie musste daher durch Übungen ihre Kno-chenstruktur verändern. Schon nach anderthalb Jahren gewann sie den ersten Preis bei einem Ballettwettbewerb, den die Ewha Womans University veranstaltete. 1982, in ihrem ersten Jahr an der Sunhwa Arts High School, fiel sie der damals zu einem Besuch in Korea weilenden Marika Besobrasova auf, der Direk-torin der königlichen Ballettakademie in Monaco (Académie de Danse Classique Princess Grace). Sie bekam die Gelegenheit, an dieser Akademie zu studieren. Da war sie erst 15 Jahre alt.Im Internat in Monaco wurde um neun Uhr abends das Licht ausgeschaltet. Aber Kang Sue Jin wartete bis elf Uhr, wenn das Aufsichtspersonal seinen letzten Rundgang beendet hatte, schlich sich dann in das einen Stockwerk höher gelegene Tanzstudio und übte dort im Mondschein und im Licht, das aus dem weit entfernt gelegenen Königsschloss ins Studio strömte, bis in die frühen Morgenstunden. Denn sie musste an ihre Mitschülerinnen aufschließen, die ihr weit voraus waren. Im Jahr 1985, kurz vor Abschluss der Ballettschule, gewann sie als erste Tänzerin aus Asien den ersten Preis beim internationalen Tanzwettbewerb Prix de Lausanne in der Schweiz. Im folgenden Jahr klopfte sie an die Tür des Stuttgarter Balletts, das alle Ballettbereiche wie klas-sisches, neoklassisches sowie modernes Ballett anbietet. Damit begann die Legende vom „Eisernen Schmetterling“.

Krise im Jahr 2000 und NeubeginnAuf dem Weg zur besten Balletttänzerin der Welt lernte sie, den Schmerz als Freund anzunehmen.„Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, tut es mir irgendwo weh. Wenn ich an einem Tag mal nichts spüre, überlege ich, ob ich vielleicht nicht fleißig genug trainiert habe. Weil der Schmerz beim Balletttanzen ein täglicher Begleiter ist, betrachte ich ihn als Freund. Leiden ist für mich gewöhnlich geworden.“Im Jahr 2000, als sie Risse im Fußgelenk bekam und ein Jahr pausieren musste, geriet sie in eine Krise. Sie verschwieg ihre Schmerzen und setzte Training und Aufführungen fort, so dass der Arzt schließlich anordnete, vorübergehend mit dem Bal-lett aufzuhören. Lange Zeit wurde sie von der quälenden Sorge geplagt, ob sie jemals wieder tanzen können würde. Eines Tages rief Reid Anderson, der Intendant des Stuttgarter Balletts, an

und sagte: „Sue Jin, mach dir keine Sorgen. Wir werden auf dich warten, auch wenn es dauern wird.“ „Du schaffst es!” - auf diese Worte ihres Kollegen Tunchi Shockman (49) hin biss sie die Zähne zusammen. Die Tänzerin, die aus Liebe zum Tanz nicht aufs Bal-lett verzichten konnte, machte 2002 nicht nur ein erfolgreiches Comeback, sondern sah sogar ihren Traum, ein lebenslanges Mitglied des Stuttgarter Balletts zu werden, wahr werden, und heiratete ihren Kollegen Tunchi Shockman.

Was bedeutet das Ballett für Kang Sue Jin? „In einem Wort: Bal-lett ist mein Leben. Ich kann mir ein Leben ohne Ballett nicht vorstellen. Das hat sich nicht geändert, seitdem ich vor 24 Jahren in Stuttgart angenommen wurde. Es gibt nichts Wichtigeres als jeden Tag zu üben und auf der Bühne zu tanzen. Talent macht meiner Meinung nach nur 1% aus, die restlichen 99% bestehen aus Training,“ - so die Perfektionistin, die rigoros übt. Nach wie vor sagt sie ohne Zweifel: „Um ein herausragender Balletttänzer zu werden, muss man natürlich über Talent, Körperkraft usw. verfügen, aber ohne unermüdliches Training und Geduld erreicht man nichts.“

1 Kang Sue Jin porträtiert die liebliche und reinherzige Tatjana in Onegin.

2 Obwohl sie die 40 bereits überschritten hat, tanzt Kang Sue Jin, die Kammer-tänzerin des Stuttgarter Ballets, die Rolle der jugendlichen Julia immer noch mit höchster Perfektion.

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„Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, tut es mir irgendwo weh. Wenn ich an einem Tag mal nichts spüre, überlege ich, ob ich vielleicht nicht fleißig genug trainiert habe. Weil der Schmerz beim Balletttanzen ein täglicher Begleiter ist, betrachte ich ihn als Freund.“

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Selbst wenn sie keine Aufführungen hat, steht sie auch heute noch morgens um sechs Uhr auf und übt sechs bis acht Stunden. In ihren jungen Jahren trainierte sie vor Aufführungen gele-gentlich bis zu 19 Stunden am Tag. Manchmal musste sie ihre Ballettschuhe, die bei anderen Tänzern normalerweise zwei bis drei Wochen halten, viermal am Tag wechseln. Die für die Ballett-schuhe Zuständige bat sie sogar einmal, mit den Ballettschuhen sparsamer umzugehen.Das eiserne Training brachte der Ballerina gespaltene Zehen, Blasen und Eiterpusteln, die zu ertragen waren. Einmal tanzte sie bei einer Vorstellung sogar mit einem rohem Fleischstück, das hautähnlich beschaffen war, in den Ballettschuhen, weil die Wun-den an den Füßen gar zu schlimm waren. Zurückblickend sagt sie, dass damals zwar während der ganzen Vorstellung das Blut des rohen Fleisches heraussickerte, aber dass es einfach keine Alternative gegeben habe. Auf diese Weise sind ihre „schönen Füße“, deren Knochen verbogen sind und an deren Zehengelen-ken die Hornhaut wie Knorren gewachsen ist, entstanden.Tanzkritiker Jang Kwang-yeol beschrieb Kang Sue Jin einmal fol-gendermaßen: „Manche Ballerinos vermieden es, neben der Per-fektionistin Kang aufzutreten, und manchmal ging es soweit, dass einige beim Training körperlich völlig erschöpft waren. Sie ist eine Tänzerin, die ihrem Körper unerbittlich das Letzte abverlangt und

als Resultat auf der Bühne voller Perfektion und Leichtigkeit hin und her fliegt.“

Außerordentliche Fähigkeit zur CharakterdarstellungKang Sue Jin ist eine profilierte Balletttänzerin, die mit ihrem außerordentlichen künstlerischen Talent und ihrer hervorra-genden Ausdrucksfähigkeit das Publikum begeistert. Tanzkritiker Jang, der sie lange Zeit beobachtete, nannte als Grund dafür ihre präzise Technik, die Resultat langen Trainings ist, und ihre außer-ordentliche Fähigkeit zur Darstellung eigener Charaktere.Kang tanzte in den letzten 20 Jahren die großen Frauenrollen der berühmten Handlungsballette wie Dornröschen, Die Zauberflöte und Romeo und Julia und trat in mehr als 80 schwierigen Bal-lettstücken wie Carmen und Die Wolken auf. Das sind schwie-rige Ballettwerke von hohem Niveau, entwickelt von weltweit namhaften Choreografen wie John Cranko (1927-1973), Maurice Béjart (1927-2007), Jiøí Kylián (geb. 1947), John Neumeier (geb. 1972), William Forsythe (geb. 1949), Hans van Manen (geb.1932), Christopher Wheeldon (geb. 1973), Nacho Duato (geb.1957) und Renato Zanella (geb. 1961). Aber jedes Mal wurde sie von der Kri-tikerwelt und den Zuschauern mit Lob überschüttet.In der Kameliendame interpretierte sie die begehrenswerte Kur-tisane Marguerite, die unter unerfüllter Liebe leidet, indem sie sie

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1 Eine Szene aus der Kameliendame, in der Kang die Kurtisane Marguerite spielt, deren Charakter sie auf ihre eigene Art und Weise interpretiert.

2 Eine Szene aus Dornröschen

3 Dances at a Gathering

in Züge ihres eigenen Charakters kleidete. In Onegin verwandelte sie sich auf natürliche Weise in die tugendhafte und liebreizende Tatjana. In Romeo und Julia tanzte sie mit über 40 die Hauptrolle der jugendlichen Julia und erhielt die positive Bewertung, den Charakter perfekt interpretiert zu haben. „Egal ob man in den Dreißigern, Vierzigern oder Fünfzigern ist – wenn man sich völlig in der Rolle verliert, kann man sich in eine 13- oder 14-Jährige oder auch in eine 70-Jährige verwandeln.“Im vergangenen April, als sie Korea besuchte, um am Seongnam Dance Festival 2009 teilzunehmen, bekannte sie sich unverhohlen zu ihrer Leidenschaft: „Ich möchte tanzen, so lange mein Körper es mir erlaubt.“ Im Juni war sie mit Romeo und Julia auf einer

Tournee durch Spanien und tanzte auch auf der Bühne in Stutt-gart Onegin. Auch mit ihren über 40 Jahren, was für einen Bal-letttänzer über 60 bedeuten kann, befindet sich ihr Tanz noch auf dem Höhepunkt.Kang Sue Jin sagt: „Mit der Zeit lerne ich mehr über mich selbst. Auf der Bühne bin ich immer noch nervös, aber dort fühle ich mich frei. Für mich ist weder die Vergangenheit noch die Zukunft wichtig. Einzig wichtig ist, heute fleißig zu trainieren und mein Bestes zu geben. Mein einziges Ziel ist, heute besser auf der Bühne zu tanzen als gestern.“ Der kraftvolle Flug des Eisernen Schmetterlings hält weiter an.

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Unter „Otchil“ versteht man das Lackieren mit Lack, der durch Anritzen des Lackbaums gewonnen wird. Ein „Otchil-Meister“ ist entsprechend eine Person, die die dazu notwendigen handwerklichen Techniken und Fähigkeiten besitzt. Das Lackieren erfordert äußerste Konzentration und Feingefühl. Otchil-Meister Sohn Dae-Hyun sagt, dass er erst nach zwölf Jahren Lackiererfahrung richtig lackieren konnte.

Park Hyun Sook Freiberufliche Schriftstellerin | Fotos: Ahn Hong-beom

KUNSTHANDWERKER

Otchil: Lackschicht auf Lackschicht verbindet sich zu tiefem Glanz

Sohn Dae-Hyun Otchil-Meister

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enn man auf Haushaltsgegen-stände oder Möbel den Saft des Lackbaums streicht und trocknen

lässt, erhält man eine tiefe und herrliche Farbe, einen einzigartigen Duft und eine sanfte Textur. Dies ist der Grund, warum Otchil als zum Kunsthandwerk gehörig betrachtet wird, das den Gegenständen eine dekorative Seite verleihen und deren Wert erhöhen soll. Auch ist der praktische Wert hoch, weil der Lack für Fäulnis- und Hitzebeständigkeit sowie Wasser-festigkeit sorgt. Man sagt, dass die höl-zernen Druckstöcke der buddhistischen Schriftensammlung Tripitaka Koreana, die während der Goryeo-Zeit von 1236 bis 1251 hergestellt wurde und zum Welt-kulturerbe zählt, durch fortgeschrittene Techniken des Holztrocknens, geschickte Holzgravurmethoden, ein wissenschaft-lich fundiertes, natürliches Belüftungssys-tem der Lagerstätten und darüber hinaus Otchil bis zum heutigen Tag in so gutem Zustand bewahrt werden konnte. Heut-zutage versiegelt man auch Autos und Schiffe mit Otchil.

2000 Jahre alte Otchil-TraditionLackarbeiten haben in den Ländern Osta-siens wie Korea, China und Japan eine mehrere tausend Jahre alte und jeweils distinktive Tradition: Kennzeichen der chinesischen Lackkunst ist die Schnitz-lacktechnik, bei der die Lackschicht dick aufgetragen und später Muster in die Oberfläche geschnitzt werden. In Japan entwickelte sich die Kunst des Streubildes (jap. Makie), bei der

man auf die Lackoberfläche Gold- oder Silberpulver streute oder Gold- oder Sil-berfolien aufklebte. In Korea bevorzugte man Lackwaren mit dekorativen Mustern oder Motiven aus Perlmutt-Intarsien. Die Funde aus Daho-ri, Kreis Changwon-gun im südlichen Teil der Provinz Gyeong-sang-do, die aus der Zeit vor und nach Christus stammen, belegen, dass die Geschichte der koreanischen Lackkunst schon über 2000 Jahre alt ist, wobei der Höhepunkt in der Goryeo-Zeit (918-1392) anzusiedeln ist, als Najeonchilgi, Lack-arbeiten mit Perlmutt-Intarsien, und die figurativen Techniken von höchstem Niveau waren. Im Donggukmunheonbigo (Quellenbezogene Zusammenstellung der Dokumente über Korea, 1770) ist zu lesen, dass König Munjong im 11. Jahrhundert Perlmutt-Lackarbeiten als Geschenk ins chinesische Liao-Reich schickte, was darauf schließen lässt, dass schon damals die Herstellungstechnik ein hohes Niveau erreicht hatte und Najeonchilgi als kore-anische Spezialprodukte angesehen wur-den. Im Jahre 1123 bewertete Xu Jing, ein Abgesandter aus Song-China, nach sei-nem Besuch in Gaeseong in seinem Rei-sebericht Gaoli tujing (Illustrierter Bericht über Goryeo) koreanische Perlmutt-Lackarbeiten als „von exquisiter Technik und hohem Wert.“In der Joseon-Zeit (1392-1910) unterteilte man die Manufakturen in Manufakturen in der Hauptstadt, in denen speziell Arti-

kel für den Königspalast und für Regierungsbedarf produziert

W

1 Sohn Dae-Hyun poliert sorgfältig ein neues Werk. Nach dem Anbringen der Perlmutt-Intarsien werden mehrere Schichten Lack aufgestrichen; die trockene Oberfläche wird dann mit Kohle oder Kristallen geglättet, um das Muster zum Vorschein kommen zu lassen. Noch verbliebene Lackreste werden mit einem Messer entfernt.

2 Dieses Schatullen-Set ist das erste Werk Sohns, das auf einer Kunsthand-werksmesse mit einem Preis ausgezeichnet wurde. Das exquisit gerarbei-tete Chrysanthemen- und Schnörkelmuster wurde aus Schildpattstücken gearbeitet und dann mit mehreren Lackschichten überzogen. 2

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wurden, und Manufakturen in der Provinz, die die Provinzverwaltungen versorgten; darüber hinaus wurden die Funktionen je nach Werkmaterial unterschieden und so die Spezialisierung gefördert. Die Kunsthandwerksmeister in diesen Manufakturen verfügten über die hoch-entwickeltesten Techniken und übten auch auf die privat arbeitenden Meister großen Einfluss aus. In den Manufak-turen der Hauptstadt galten als wichtigste Handwerksmeister Holzarbeiter, Bambus-holzarbeiter und Otchil-Meister, was den hohen Stellenwert des Lackkunsthand-werks belegt. Meister Jeon Seong-gyu, der sich in der Späten Joseon-Zeit als Adoptivsohn einer Hofdame im Königspalast um den könig-lichen Erbschatz kümmerte, restaurierte den Lack dieser wertvollen Stücke und führte die Handwerkskunst der haupt-städtischen Manufakturen weiter. Er bil-dete auch Schüler aus. Unter ihnen galten Min Jong-tae, Kim Bong-ryong und Kim Tae-hui als die drei besten Otchil-Meister ihrer Zeit, deren Geschick entsprechend ausgezeichnet war. Otchil-Meister Sohn Dae-Hyun (60), Träger des Wichtigen Immateriellen Kulurgutes der Stadt Seoul Nr. 1, war der beste Schüler von Min Jong-tae.

Drei Generationen traditionelles Kunsthandwerk1996, ein Jahr vor seinem Tod, desig-

nierte Meister Min Jong-tae unter seinen unzähligen Schülern Sohn Dae-Hyun zu seinem Nachfolger und vererbte ihm wenige Monate vor seinem Ableben sei-nen Künstlernamen Sugok. „Sugok“, was „Tal des Lebens“ bedeutet, war auch der Name von Meister Jeon Seong-gyu, des Lehrers von Min Jong-tae. Meister Min Jong-tae wählte, wie es auch bereits sein eigener Lehrer getan hatte, einen einzigen Schüler aus, der den Geist des Sugok bewahren sollte. Meister Sugok Sohn Dae-Hyun wurde 1999 zum Träger des Immateriellen Kulturgutes der Stadt Seoul ernannt. „Mein Meister sagte mir immer, dass ich auch auf die Dinge, die nicht zu sehen sind, achten sollte. Denn auch die unteren Lackschichten sind wichtig. Es gibt grund-sätzlich ca. 20 Lackierschritte wie erste Lackierung (erstes Aufstreichen des Lacks), weitere Lackierungen (mehrma-liges Aufstreichen des Lacks), Aufstrei-chen von Be (Aufstrich einer Mischung aus Lack und dünnem Reisleim in einem Verhältnis von 50:50 und einem Hanftuch, damit das Holz nicht splittert oder sich verformt) und Aufstreichen von Tobun (Aufstrich einer Mischung aus Lack, Erde und Wasser im Verhältnis von 50:40:10). Wenn man noch ein Muster aus Perlmutt hinzufügt, kommen weitere 20 Schritte dazu. Das bedeutet, dass man seine ganze Sorgfalt in über 45 Arbeitsschritte fließen lassen muss, um eine Perlmutt-Lackar-

beit herzustellen. Die Grundschritte bean-spruchen in der Regel etwa sechs Monate. Für manche Stücke braucht man aber bis zur Fertigstellung über zehn Jahre. Die Lackkunst verlangt viel Konzentration und Ausdauer.Wenn man denkt, dass die momentane Lackschicht sowieso nur eine von vielen ist und daher einen Moment nachlässig ist, ist die Lackarbeit schon misslungen. Mein Meister sagte immer: Wenn es bei jedem Einzelschritt auch nur ein bisschen an Sorgfalt mangelt, hält ein Kunsthand-werksstück, das eigentlich 100 Jahre überdauern sollte, nicht einmal 50 Jahre. Der aufrechte Geist des wahren Meisters, ein Kunstwerk zu schaffen, das auch nach Tausenden von Jahren seinen herrlichen Glanz nicht verliert, nennen wir Sugok-Geist. Sugok kommt z.B. in einer Gebets-schnurschatulle aus der Goryeo-Zeit zum Ausdruck, deren Chrysanthemen- und Arabesken-Perlmuttintarsien auch nach über tausend Jahren nichts von ihrem exquisiten Glanz verloren haben.“

Lebenslange ArbeitSohn Dae-Hyun kann einen Tag im Sep-tember des Jahres, als er 16 wurde, nie vergessen: Es war der Tag, als der Glanz des Lackes ihn völlig in seinen Bann schlug. Sohn kam 1949 in Janghyeon in der Provinz Hwanghae-do im heutigen Nordkorea auf die Welt. Die Mutter floh während des Koreakriegs (1950-1953) mit

1 Ein Lack-Tabletttisch und ein Tee-Set. Der Golddekor im Inneren der Teeschalen sorgt für einen Hauch von Eleganz. Lackkunst-Produkte sind nicht nur ästhetisch, sondern auch praktisch, da der Lack feuch-tigkeits-, hitze- und fäulnisbeständig ist.

2 Für die Herstellung dieses sublimen Musters wurde eine traditionelle Lackiertechnik aus der Goryeo-Zeit verwendet; Schildpatt wurde in feine, transparente Scheiben geschnitten und auf der Rückseite mit roter und gelber Farbe bestrichen, so dass die Farbe nach außen durchschimmert. Diese Technik ist charakteristisch für die korea-nische Lackkunst.

„Wenn man denkt, dass die momentane Lackschicht sowieso nur eine von vielen ist und daher einen Moment nachlässig ist, ist die Lackarbeit schon misslungen. Mein Meister sagte mir immer, dass ich auch auf die Dinge, die nicht zu sehen sind, achten sollte. Denn auch die unteren Lackschichten sind wichtig.“

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dem Baby auf dem Rücken in den Süden; sein Vater war schon vor seiner Geburt umgekommen. Nur mit der Mutter in einer fremden Gegend Fuß zu fassen war nicht leicht. Der junge Sohn Dae-Hyun stellte sich gleich nach seinem Grund-schulabschluss dem Ernst des Lebens: Er begann bei einer Handelsfirma in Seoul als Laufbursche zu arbeiten. Im gleichen Gebäude wie die Handelsfirma befand sich auch eine Otchil-Werkstatt.Als er zufällig einmal in die Werkstatt kam, um sich umzuschauen, faszinierten ihn die exquisiten Lackwaren dermaßen, dass er in jeder freien Minute zwischen seinen Botengängen in der Werkstatt erschien und zu lernen begann, indem er den Kunsthandwerkern über die Schulter schaute. Je mehr er lernte, desto neugie-riger wurde er. In dieser Werkstatt hörte er von den Handwerkern über die drei besten Otchil-Meister und suchte ohne weitere Überlegung Meister Min Jong-tae auf. Aber der Meister würdigte ihn, der nur aus Begeisterung gekommen war, am Anfang keines einzigen Blickes. Wie eine Keramik, die im Brennofen bei über tausend Grad gebrannt wird, oder Holzge-schirr, das nach dem Lackieren mehrere Tage trocknen muss, bis der Lack völlig getrocknet ist, und weitere zwei Jahre braucht, um seinen Glanz zu finden, so musste auch Sohn eine Testphase hin-ter sich bringen. Nachdem der Meister gesehen hatte, wie er sechs Monate lang fleißig und ohne Murren allerlei Handlangerarbeiten in der Werkstatt gemacht hatte, wurde Sohn als Lehrling angenommen. Sohn Dae-Hyun vergleicht die fundamentalen Techniken der Lack-kunst mit denen der Kalligraphie, bei der es darauf ankommt, genau die richtige Menge Tusche auf den Pinsel zu geben, um ein Zeichen in einem Zug zu schreiben und so Perfektion zu erreichen. Nimmt man zu wenig Tusche, muss man das Schreiben unterbrechen und den Pinsel nochmals in die Tusche tunken, was den Schriftfluss unterbricht. Hat man zu viel Tusche auf dem Pinsel wird die Schrift stumpf und verliert ihren natürlichen Schwung. Sohn Dae-Hyun sagt, dass bei

der Lackkunst dieselben Schwierigkeiten bestehen. Bei der Lackkunst ist das wichtigste Instrument der Gwiyal, eine Art Pinsel, mit dem der Lack aufgetragen wird. Anders als normale Pinsel wird der Gwiyal aus Menschenhaar oder dem Haar der Pferdemähne hergestellt. Dabei werden die Haare in unterschiedlicher Dicke, Länge und Breite gebündelt und fest in ein hölzernes Gehäuse gepresst. Sie werden dann an am Ende ähnlich wie beim Bleistiftspitzen gestutzt. Beim kor-rekten Lackieren kommt es wie bei der Kalligraphie darauf an, die richtige Menge Lack auf dem Gwiyal zu haben, die dann gleichmäßig in einem Zug aufgetragen wird. Sohn Dae-Hyun sagt, dass es etwa

zwölf Jahre Übung gebraucht habe, bis er das notwendige Gefühl für die jeweils richtige Lackmenge entwickelt und die entsprechende Selbstsicherheit gewon-nen habe. Die Anordnung seines Meisters, auf das zu achten, was man nicht sehen kann, wurde für den Lehrling ein Maß-stab, an den er sich wie an ein Gebot hielt. Selbst bei der kleinsten Unzufriedenheit mit einem Pinselstrich begann er ohne zu zögern von Neuem. Er sei nie in die Ver-suchung geraten, etwas zu überarbeiten oder auszubessern.Min Jong-tae war auch ein Meister der Perlmuttintarsienkunst Najeon. „Najeon“ bedeutet im Koreanischen „Perlmutt“. Es bezeichnet aber auch die Technik, unter-

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schiedlich gemusterte Perlmuttstücke von Turbanschnecken oder Seeohren-schalen auf einen Gegenstand zu kleben, wobei eine abschließende Lackschicht über die Permuttdekoration aufgetragen wird (Najeonchilgi). Bei der traditionellen Perlmuttintarsien-Lackkunst schaf-fen Dinge, die wie Sonne und Mond nur schwer koexistieren können, eine Harmo-nie: der Perlmutt, der die Schönheit des Meers in sich birgt, und der Saft des Lack-baums, der die Weisheit der Berge in sich bewahrt. Das Kunstvolle des Perlmutts und das Praktische des Lacks verbinden sich in perfekter Symbiose. Das Najeonchilgi-Kunsthandwerk von Min Jong-tae wurde an seinen Schüler weitergegeben und gewann noch mehr Aufmerksamkeit. Die von Sohn Dae-Hyun geschaffenen Meisterwerke der Lack-kunst gewannen breite Anerkennung, als er 1984 bei der Donga Kunsthandwerk-Ausstellung mit einem Preis ausgezeich-net wurde. Danach nahm er über acht Mal an der jährlich stattfindenden Aus-stellung für traditionelles koreanisches Kunsthandwerk (Korea Annual Traditional Handicraft Art Exhibition) teil und erhielt viele verschiedene Preise. 1992 wurde er auf dieser Ausstellung mit dem Preis des Ministerpräsidenten geehrt, was ihm schließlich allgemeine Berühmtheit brachte. Die Lackkunst-Meisterwerke von Sohn folgen zwar der traditionellen Her-stellungstechnik und bleiben auch dem kunsthandwerklichen Stil seines Lehrers Min Jong-tae treu, dessen bildliche Ästhe-tik majestätisch und detailliert zugleich war, aber die Modernität in seinen Wer-

ken, die sich durch seine neue Inter-pretation der Formen ergibt, wird hoch bewertet. Zahlreiche von Sohns Meister-werken wurden als Geschenke an hohe Staatsgäste gegeben. So schenkte zum Beispiel der ehemalige Präsident Kim Dae-jung dem japanischen Kaiser einen Schmuckkasten mit einem doppelten Hui-Zeichen (喜, Glück) und Königin Elisabeth II. erhielt bei ihrem Koreabesuch im Jahr 1999 einen Schmuckkasten mit den zehn Symbolen der Langlebigkeit (Sonne, Berg, Wasser, Felsen, Kiefer, Wolke, Kraut der Ewigen Jugend, Schildkröte, Kranich und Hirsch). Im Ho Am Kunstmuseum und im Nationalen Volksmuseum werden die Kunstwerke vom Meister Min Jong-tae und seines Schülers Sohn Dae-Hyun zusammen ausgestellt.

HerstellungsschritteDer Lack, der beim Otchil verwendet wird, lässt sich sich grob in Rohlack und raffinierten Lack unterteilen. Wenn nur die Verunreinigungen aus dem Harz herausgefiltert werden, erhält man Rohlack. Erhitzt man den Rohlack unter ständigem Rühren auf 40°C, lässt ihn ausdunsten und filtert ihn dann noch ein-mal, erhält man sog. raffinierten Lack. Mischt man das Raffinat mit Eisenoxid, entsteht Schwarzlack; gibt man aus der Natur gewonnene Pigmente wie Zinnober oder Auripigment hinzu, wird der farbige Lack Chaechil (彩漆) genannt. Die Lackie-rungsschritte auf Holzuntergrund sind wie folgt: Zuerst werden Knoten oder Ritze im Holz mit einer Mischung aus feinem Sägemehl, Rohlack und Klebreisleim

Diese mit den zehn Symbolen der Langlebigkeit dekorierte Schmuckschatulle wurde 1999 Königin Elisabeth II. bei ihrem Staatsbesuch in Korea überreicht.

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1 In einem ersten Herstellungsschritt werden Rohlack und Reisleim zu gleichen Teilen mit einem Spatel vermischt.

2 Diese Mischung wird gleichmäßig auf die höl-zerne Grundform gestrichen, die zur Erhöhung der Beständigkeit mit einem Stück Hanfstoff überzogen wurde.

3 Eine erste Schicht aus raffiniertem Lack wird angebracht. Hierbei ist die korrekte Lackmenge entscheidend, da der Lack gleichmäßig und in einem Zug aufgetragen werden muss.

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ausgefüllt und die Oberfläche des Baek-gol (Holzgegenstand, der als Untergrund dient) geglättet. Danach streicht man eine Schicht aus dünnflüssigen Rohlack auf. Über diese Schicht kommt eine Rohlack-Klebreisleim-Mischung (50:50), auf die ein Hanftuch geklebt wird. Mit einer Mixtur aus Erde, Muschelpulver, Holzkohlepul-ver und Lack füllt man die Vertiefungen des Stoffes aus und glättet das Ganze mit einem Schleifstein. Danach wird das lackierte Teil in einem Trockenlager mit 60~80% Luftfeuchtigkeit und 18~25°C Temperatur getrocknet. Der Prozess des Lackierens mit der Erde-Lack-Mischung und des Trocknens wird zwei bis vier mal wiederholt, wobei man jedes Mal nach dem Trocknen prüft, ob es Verunreini-gungen im Stoff gibt oder Staubpartikel in den Lack geraten sind. Ist das der Fall, schmiergelt man das Teil unzählige Male ab, wischt den Staub weg und lackiert es noch einmal. Anschließend streicht man die erste Schicht des raffinierten Lacks auf, lässt sie trocknen, schmier-gelt noch einmal ab, streicht die mittlere Lackschicht auf, lässt diese trocknen und wiederholt das Ganze, bis man zur letzten und obersten Lackschicht kommt. Auf den fertigen Oberlack wird Perlmutt aufge-klebt. Danach folgen wieder ca. 20 sorg-fältige Lackier- und Trocken-Durchgänge, bis das Meisterwerk der Perlmuttintar-sien-Lackkunst vollendet ist. Bis die letzte Schicht endgültig getrocknet ist, steht der Meister unter ständiger Anspannung. „In dem Moment, in dem ich die Tür zum Trockenlager öffne, erstarre ich immer vor Ehrfurcht. Ich wasche mir davor immer die Hände und rücke meine Kleider zurecht. Ich habe auch ein biss-chen Angst, ob ich den richtigen Farbton getroffen habe oder ob nicht vielleicht ein Partikel auf dem Lack klebt. Der Grad der Vollendung des Kunstwerks entspricht genau der Menge des Schweißes, den der

Meister schwitzt.“ Hört man diese Erklärungen des Mei-sters, dann kommt einem die Kunst des Lackierens wie eine ungemein schwere Übung in Selbstdisziplin und Ausdauer vor. Aber Sohn Dae-Hyun sagt, dass er seine Wahl niemals bereut habe. Auch als es ihm finanziell nicht gut ging, hat er nie daran gedacht, umzusatteln, und sich weiter nur auf das Lackieren konzentriert. Seine Frau stand immer hinter ihm. Sie

war ihm stets eine stützende Kraft und ging sogar soweit, für ihn die Goldringe, die die Kinder an ihrem ersten Geburtstag bekommen hatten, zu Pulver für seine Arbeit zu zerreiben. Otchil-Meister Sohn Dae-Hyun erzählt mit einer Stimme, die nach Otchil duftet, wie schön es ist, wenn man sein Herz mit Menschen teilt, die wie er selbst ihr Herz an den schönen Glanz des Otchil verloren haben.

4 Sohn streicht die abschließende Lackschicht auf. Ein einziges Staubpartikelchen auf der Oberfläche bedeutet nochmaliges Abschleifen und Lackieren, denn nur so kann perfekter Glanz erzielt werden.

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MEISTERWERKE

im Hong-do (1745-1806), der auch als Danwon bekannt ist, ist ein repräsentativer virtuoser Maler der Späten Joseon-Zeit. Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Anfang des

19. Jahrhunderts, zu der Zeit von Kim Hong-do, befand sich das Joseon-Reich in einer politisch und wirtschaftlich stabilen Lage und genoss seine Prosperität. Joseon war eigentlich ein Agrar-staat, aber zu dieser Zeit wurde der Handel zum Beispiel mit dem chinesischen Quing-Reich oder dem vom Tokugawa-Bakufu regierten Japan lebhafter und die Gesellschaft kam stärker in Bewegung. Dazu waren die koreanischen Herrscher der Zeit wie die Könige Yeongjo und Jeongjo kulturell gebildete Persön-lichkeiten, die sich in der Kunst, darunter auch der Malerei, gut auskannten und auch wussten, wie man die Kunst genießt. Daher waren damals im Bereich der Malerei neben Kim Hong-do viele begabte Künstler wie Jeong Seo, Kang Se-hwang, Shim Sa-jeong, Shin Yun-bok, Jo Yeong-seok und Yi In-sang aktiv. Unter diesen renommierten Malern stand Kim Hong-do im Mittelpunkt.

Friedliche GenrebilderUnter der Herrschaft von König Jeongjo wurden verschiedene Kunstbereiche gefördert, wobei der König unter den Malern Kim Hong-do die größte Wertschätzung zukommen ließ. Kim fertigte nicht nur mehrere Porträts des Königs an, sondern malte auch verschiedene Bilder für den König und dessen Gefolgsleute. Im Jahr 1776, als Jeongjo den Thron bestieg, konnten sich auf der anderen Seite des Pazifischen Ozeans die amerikanischen Kolo-nien von der britischen Herrschaft befreien. Einige Jahre später kam es in Europa zur Französischen Revolution (1789). Doch für Ostasien waren diese enormen Veränderungen nur Geschichten aus einer fernen Welt. Unabhängig von der Situation im Westen genossen Korea, Japan und China unter ihren mächtigen Herr-

scherhäusern eine Zeit der Prosperität.Kim Hong-do war ein wahrhaft großer Künstler. Sein Talent beschränkte sich nicht auf bestimmte Gebiete der Malerei, son-dern erstreckte sich auf alle Genres. So galt er in allen Bereichen der asiatischen Malkunst, die sich mit größerer Diversität als die europäische Malerei der Zeit entwickelt hatte, als Großmei-ster, seien es Landschaftsbilder, Darstellungen von Menschen, Blumen-Vögel-Bilder oder Tierbilder. Unter seinen Bildern, die verschiedene Themen mit verschiedensten Techniken aufweisen, waren vor allem die Genrebilder besonders beliebt. Genrebilder wurden im Joseon des 18. Jahrhunderts am häufigsten gemalt. Diese Sittenbilder halten das Alltagsleben der Menschen ver-schiedener Schichten und Berufe des 18. Jahrhunderts realistisch fest. Mit ihrer realistischen Darstellungsweise bildeten sie eine besondere Gattung der asiatischen Malkunst, die normalerweise im Vergleich zur westlichen Malerei eher ideell und philosophisch geprägt war. Die Realitätstreue und wirklichkeitsnahe Darstel-lung der Genrebilder faszinierten die Menschen, die an die im Vergleich zur westlichen Malerei weniger realistischen Darstel-lungen gewöhnt waren. Im 18 Jahrhundert gab es zwar viele aus-gezeichnete Genrebilder-Maler, aber keiner war erfolgreicher als Kim Hong-do.Zu der Zeit herrschten in der westlichen Kunstwelt der Klassizis-mus und die Romantik. Zu Zeitgenossen von Kim Hong-do gehö-ren der Franzose Jacques-Louis David (1748-1825) und der Spa-nier Francisco de Goya (1746-1828). David ist als repräsentativer Maler des Klassizismus bekannt, der während der Französischen Revolution künstlerisch aktiv war. Sein Werk Der Tod des Marat, das Charakteristik und Tragik der Zeit zum Ausdruck bringt, gilt als ein Meisterwerk der westlichen Genrebilder. Der spanische Hofmaler Goya zeigte als Romantiker eine viel umfassendere und

Kim Hong-do

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Die Werke aus dem Pungsokdocheop, dem Genrebilderalbum von Kim Hong-do, gelten als die repräsentativsten Genrebilder aus der Joseon-Zeit des 18. Jahrhunderts. Sehen wir uns zwei Bilder aus diesem 25 Blätter umfassenden Album an, das das tägliche Leben der Koreaner vor 200 Jahren wie Arbeit, Spiele oder Gebräuche darstellt: Seodang (Schulraum) und Ssireum (Ringkampf).Jin Jun-hyun Kurator, Seoul National University Museum

Fotos: National Museum of Korea

Studium und Vergnügungen des einfachen Volkes von Joseon

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Ssireum (Ringkampf) ist ein bekanntes Werk aus Kim Hong-dos Genrebilderalbum Pungsokdocheop. Obwohl Ringkämpfer und Zuschauer aus der Hand und ohne vorherige Skizzen gezeichnet wurden, wirkt die Bildkomposition besonders ausgewogen und durchdacht.

Kim Hong-doStudium und Vergnügungen des einfachen Volkes von Joseon

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Die Maltechnik des Genrebilderalbums ist erstaunlich: Kim Hong-do brachte die Figuren in natürlicher Weise ohne vorherige Skiz-zen mit geraden und groben Linien aufs Papier. Aber das fertige Bild wirkt so, als ob er die Gesamtbildkomposition vorher genau geplant und beabsichtigt hätte.

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verschiedenartigere Kunstwelt als David, wobei er auch realis-tische Genrebilder malte, die die Realität des Spanien seiner Zeit wiedergaben.Doch anders als die beiden Künstler aus dem Westen malte Kim Hong-do friedliche und herzerwärmende Szenen. Er stellte statt Gewalt, Konflikt, geistiger Verwirrung und Chaos prächtig-elegante und verschiedene fröhliche Gruppenszenen dar, die die blühende Prosperität der Späten Joseon-Zeit widerspie-geln. Seine Themenvielfalt ist umfassend und reicht von Bildern prachtvoller, eleganter Veranstaltungen am Königshof und hochrangiger Beamter bis hin zu Bildern, die einen liebevollen Blick auf das bescheidene Alltagsleben des kleinen Mannes der Zeit werfen. Das Genrebilderalbum Pungsokdocheop, das hier vorgestellt wird, ist eine repräsentative Sammlung von Bildern der letztgenannten Art. Die 25 Blätter dieses Albums beschrei-ben wahrheitsgetreu den Alltag des normalen Volkes. Durch das Pungsokdocheop können die Koreaner von heute mit einem leichten Lächeln das Leben ihrer Vorfahren vor 200 Jahren nach-vollziehen: Kleidung, Häuser und Straßen von damals mögen zwar anders aussehen, aber sie können sich doch selbst in den Darstellungen entdecken.

Bildungswirklichkeit vor 200 JahrenSeondang (Schulraum) zeigt eine Unterrichtsszene aus der Joseon-Zeit vor 200 Jahren. Schon seit früher Zeit hatten die Koreaner großes Interesse an Bildung, so dass die Eltern lieber Not litten als an der Bildung ihrer Kinder zu sparen. Ziel war zwar auch, durch Bildung ein hoher Beamter zu werden und dadurch gesellschaftlichen Aufstieg und wirtschaftliche Vorteile zu erlan-gen, aber man war sich auch bewusst, dass Bildung absolut uner-lässlich war, um ein Mensch zu werden, der den moralischen und philosophischen Maßstäben der Gesellschaft der Zeit entsprach. Seodang zeigt eine Unterrichtsszene, wie sie in der Joseon-Zeit auf grundlegendster Bildungsebene auf dem Land oder in einem kleinen Stadtviertel zu finden war.Im Schulraum sitzen ein alter Lehrer und neun Schüler auf dem Boden. Der Lehrer sitzt auf die Schüler blickend hinter seinem Tisch, vor ihm hocken die Schüler im Halbkreis in zwei Reihen einander gegenüber. Ein Schüler hockt weinend direkt vor dem Lehrertisch und wischt sich mit der Hand die Tränen aus den

Augen. Hinter ihm liegt ein offenes Schulbuch. Nebem dem Tisch des Lehrers ist auf dem Boden eine Rute zu sehen. Der arme Junge macht weinend mit seiner rechten Hand den Knoten an der Schnur, mit der die Hose an den Knöcheln festgebunden ist, auf, um seine Wade freizumachen. Der Kopf des Schülers, der viel-leicht ein Erst- oder Zweitklässler ist, wird höchstwahrscheinlich voller Gedanken über die anstehenden schmerzhaften Schläge auf die Waden sein. Die Mitschüler teilen sich in zwei Gruppen: diejenigen, denen der Junge Leid tut, und diejenigen, die sich über ihn amüsieren. Die Schüler links oben auf dem Bild haben Mitleid mit ihm. Einer flüstert ihm hinter vorgehaltener Hand die Antwort auf die Frage des Lehrers zu und ein anderer schiebt ihm sein Buch hin, damit er ablesen kann. Die Mitschüler auf der rechten Seite sehen einfach zu, vielleicht auch, weil sie etwas weiter ent-fernt von dem unglücklichen Jungen sitzen. Aber sie haben den Mund wie zu einem Lachen verzogen.Der Junge, der auf der rechten Seite dem Lehrer am nächsten sitzt, trägt einen Gat, einen zylinderförmigen Herrenhut. Der Altersunterschied zwischen dem Schüler mit dem Gat und dem weinenden Schüler scheint sehr groß zu sein. In der Joseon-Zeit war es in den Dorfschulen üblich, dass – in heutigen Begriffen ausgedrückt – Schüler verschiedener Jahrgänge von der Grund- bis zur Mittelschule gemeinsam unterrichtet wurden. Der Lehrer richtete sich nach dem Niveau der einzelnen Schüler. Für die Grundschulbildung könnte diese Methode effektiver sein als das heutige nach Alter gestufte Klassensystem. Jedenfalls spiegelt das Bild eine Seite des besonderen Bildungseifers der Koreaner wider, bei denen weltweit die Rate der Schüler, die nach der Rei-feprüfung studieren, am höchsten ist.

Ringkämpfer und ZuschauerDer koreanische Ringkampf Ssireum ist eine traditionelle Sport-art, die sich vom westlichen Ringkampf unterscheidet. Und im Unterschied zum Taekwondo, einer weiteren repräsentativen koreanischen Sportart, ist Ssireum ein friedlicher Wettkampf. In einem großen Kreis kämpfen zwei Ringer in vorgeschriebener Wettkampfkluft miteinander, wobei sie ihre Kraft und Technik messen und derjenige, der mit der Hüfte den Boden berührt, verliert. Auch auf dem Bild von Kim Hong-do halten die beiden Männer einander gepackt und messen ihre Kräfte. Der Mann

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Seodang (Schulraum) aus dem Genrebilderalbum zeigt eine Szene aus einer Schule auf dem Land, wie sie vor 200 Jahren in der Joseon-Zeit zu sehen war.

mit dem Rücken zum Betrachter hat gerade ein Bein seines Gegners gepackt und versucht, ihn auf den Boden zu werfen. Dieser stemmt jedoch sein anderes Bein kräftig gegen den Boden und hält sein Gegenüber fest umklammert, um nicht zu fallen. Seine Stirn ist gerunzelt und auch sein Gegner hat den Mund fest zugepresst und gibt sein Bestes. Einer von den beiden wird im nächsten Moment umfallen. Die Schuhe der Kämpfenden stehen rechts neben ihnen ordentlich aufgereiht.Auch die verschiedenen Gestalten des Zuschauerkreises verdie-nen Beachtung. Die beiden Männer rechts unten, die den Ringern am nächsten sitzen, sind auf die anstehende Entscheidung so gespannt, dass ihnen der Mund vor Erwartung offen steht. Auch die anderen Zuschauer oben links, die Hüte tragen oder ihren Hut abgesetzt haben, sich einen Fächer vor den Mund halten oder sich mit der Hand auf den Boden stützen, konzentrieren sich auf den Wettkampf. Es besteht die Vermutung, dass der Mann oben links, der seine Knie mit den Armen umschlungen hält, der nächste Kämpfer sein wird, da er seine Schuhe ausgezogen hat. Unter

den Zuschauern, die gespannt den Kampf verfolgen, steht ein Außenseiter. Es ist ein Junge, der auf einem Holztablett, das er mit einem Band um den Hals befestigt hat, Yeot (traditionelles koreanisches Tof-fee) anbietet. Er interessiert sich gar nicht für den Wettkampf. Er wünscht sich nur, möglichst viel Yeot verkaufen zu können. Aber leider sind alle völlig in den Ring-kampf vertieft und fast keiner kümmert sich um den Yeot-Verkäufer. Nur ein klei-ner Junge mit Zopf, der unten in der Mitte mit dem Rücken zum Betrachter sitzt und wahrscheinlich Yeot mag, blickt auf den Verkäufer.

KompositionDie Bilder des Genrebilderalbums von Kim Hong-do weisen eine Gemeinsamkeit hinsichtlich der Komposition auf: Sie alle haben keinen Hintergrund und auf einem leeren weißen Blatt ist nur das Haupt-

thema dargestellt. Das hat nicht nur mit der Beschränktheit des Zeichenblattes zu tun, sondern ist auch eine effektive Darstel-lungsweise, bei der der Fokus nur auf das Thema gelegt wird. Wie effektiv Kim das kleine Blatt genutzt hat, ist bei genauer Betrach-tung der Komposition beider Bilder zu erkennen. Kim Hong-do erstellte eine detaillierte Komposition, die den Betrachter unbe-wusst dazu bringt, sich in die Darstellung zu verlieren und einzu-fühlen. Aber dabei hinterlässt der Meister keinerlei Spuren von Künstlichkeit.Auch die Maltechnik des Genrebilderalbums ist erstaunlich: Kim Hong-do brachte die Figuren in natürlicher Weise ohne vorherige Skizzen mit geraden und groben Linien aufs Papier. Aber das fertige Bild wirkt so, als ob er die Gesamtbildkomposition vorher genau geplant und beabsichtigt hätte. Ein Maler, der voller Natür-lichkeit und Leichtigkeit perfekte Kompositionen kreierte – das war Kim Hong-do. Sein Genrebilderalbum Pungsokdocheop, das er mit Ende Dreißig malte, ist eine der koreanischen Genrebilder-Sammlungen von großer kunsthistorischer Bedeutung.

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Rückblick auf 30 Jahre Seoul Theater Festsival

KUNSTKRITIK

Oh Hyeon-gyeong, der bereits bei einer Aufführung im Jah-re 1984 die Rolle des Vaters in Spring Day spielte, ist jetzt in einem ähnlichen Alter wie der Bühnencharakter, den er verkörpert.

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as Seoul Theater Festival, das im Jahr 1977 unter dem Namen Korea Theater Festival startete, ist das älteste und repräsentativste Theaterfestival in Korea. Organisator war

ursprünglich das National Theater, aber mit der Gründung der Seoul Theater Association übernahm diese Vereinigung die Aus-richtung des Festivals.Das Jahr 2009 ist das 33. Jubiläumsjahr des Seoul Theater Festi-val unter seiner gegenwärtigen Bezeichnung. Die Seoul Theater Association erklärte dieses Jahr - die drei Jahre als Seoul Per-forming Arts Festival nicht mitgerechnet - zum 30-jährigen Jubi-läumsjahr des Seoul Theater Festival und bereitete aus diesem Anlass ein Festival völlig neuer Art vor.

Reinterpretation der MeisterwerkeIm Jahr 1977, als das Festival ins Leben gerufen wurde, begann die koreanische Regierung damit, sich im Rahmen ihrer Kultur-politik für die Förderung der Darstellenden Künste einzusetzen. Ein Jahr davor war das Korea Music Festival initiiert worden und darauf folgten das Theater- und das Tanzfestival. Der ursprüng-liche Zweck des Theaterfestivals war die Unterstützung von neuen Theaterstücken und -gruppen. Das Seoul Theater Festival war ursprünglich nur für neue Theaterstücke gedacht und im Budget kam der Unterstützung für das Honorar der Theater-schriftsteller immer oberste Priorität zu, weil der Gründungs-zweck der Theatervereinigung eben in der Entwicklung und Förderung neuer Theaterstücke lag. Das Festival wurde bislang in Form eines Wettbewerbs gestaltet. Dabei wurden im ersten Jahr nur Theatertruppen ausgezeichnet, ab dem zweiten Jahr wurden Gruppen- und Einzelpreise verliehen. Es gab auch beson-dere Jahre wie das Jahr 1988, in dem man unter dem Titel Seoul Olympic Arts Festival ausländische Truppen einlud und korea-nische Erfolgsstücke vorführte, aber der grundlegende Rahmen des Seoul Theater Festival als Festival zur Entwicklung und Auf-führung neuer Theaterstücke wurde beibehalten.In diesem Jahr wurden vom 16. April bis zum 24. Mai insgesamt zehn Bühnenstücke aufgeführt, darunter neun von den insge-samt 290 Werken, die in den letzten 30 Jahren auf der Festival-Bühne gespielt wurden, und ein Eröffnungstheaterstück. Die Aufführungen fanden in der Main Hall und der Small Hall des Arko Arts Theater in Daehak-ro sowie im Towol Theater und im

Jayu Theater des Seoul Arts Center in Seocho-dong statt. Im Gegensatz zur Vergangenheit, in der das Festival meistens in den beiden Sälen des Arko Arts Theaters stattfand, wurden dieses Jahr verschiedene Bühnen gewählt.Das diesjährige Seoul Theater Festival stand unter der Zielvorga-be, mit neun ausgewählten repräsentativen Dramen mit jeweils einer neuen Theatertruppe, einer neuen Bearbeitung und neuen Schauspielern eine neue Bühne, die dem derzeitigen Zeitalter entspricht, zu schaffen. Die meisten Werke waren Theaterstücke, die die Situation des jeweiligen Zeitalters reflektieren, und in denen die diesbezügliche Meinung des Autors relativ stark zum Ausdruck kommt. Die Stücke wurden mit starkem Engagement und großer Leidenschaft auf die Bühne gebracht, weshalb das Festival beim Publikum auf ein in der Theatergeschichte bislang nur selten erlebtes hohes Interesse traf und auch in Bezug auf Organisation und Besucherzahl einen Erfolg erzielte.In Korea ist es oft der Fall, dass neue Theaterstücke nach ihrer Uraufführung nicht mehr zu sehen sind. Mittlerweile gibt es zwar mehr Theatergruppen und theaterbezogene Aktivitäten und auch Versuche der Wiederaufführung, d.h. es ist ein gewisser Enthu-siasmus zu spüren, die Theaterstücke mit neuer Interpretation wieder auf die Bühne zu bringen, doch ist es äußerst selten, dass man eine so große Anzahl von bearbeiteten Werken auf der Bühne ein und desselben Festivals wieder aufführt.In dieser Hinsicht ist das Ziel „Neugestaltung der Meisterwerke“ des 30. Jubiläums des Seoul Theater Festival und die erfolgreiche Verwirklichung des Ziels von besonderer Bedeutung. Welchen Erfolg erzielte das Festival? Und inwieweit wurde das wesentliche Ziel der „neuen Präsentation“ erreicht?

Spring DayLee Gang-baeks Theaterstück Spring Day (22. - 28. April, Main Hall, Arco Arts Theater) wurde durch den Regisseur Yi Seong Yeol und die Theatertruppe Baeksukwangbu Theater Company neu geboren. Dieses Werk wurde 1984 beim 8. Korea Theater Festival von der Sungjwa Theater Company unter Leitung von Kwon Oh-il uraufgeführt und 1997 zum Internationalen Theaterfestival ein-geladen, wo es von der Bipa Theater Company unter Leitung von Kim Cheol-ri auf die Bühne gebracht wurde. Dieses Jahr wurde

Das Seoul Theater Festival, das dieses Jahr sein 30. Jubiläum feiert, reinterpretierte unter dem Thema „Neugestaltung der Meisterwerke“ die repräsentativsten Theaterstücke, die bisher auf der Festival-Bühne aufgeführt worden waren. Ein Theaterkritiker, der von Anfang an jedes Jahr im Publikum saß, analysiert mit einem Rückblick auf die Vergangenheit die Bedeutung des diesjährigen Seoul Theater Festival.Gu Hee-seo Theaterkritiker | Fotos: The National Theater of Korea

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Spring Day damit bereits zum dritten Mal gespielt, wobei es von einer neuen Theatertruppe und einem neuen Regisseur, also mit einer völligen Neubesetzung, präsentiert wurde. Dieses Stück, das sich in seiner Struktur an Erzählung und Mythos anlehnt, stellt die politische Lage Koreas in den 1980er Jahren meta-phorisch dar. Bei der Uraufführung verbarg man die politischen Elemente und verlieh der Bühne einen lyrischen und poetischen Anstrich. Aber bei Kim Cheol-ris Spring Day im Jahr 1997 wurde solche Metaphorik gestrichen und die Konflikt-Konstellation zwischen dem Vater, der die patriarchalische Gesellschaft ver-tritt, und dem Sohn, der für die neue Generation steht, wurde als Hauptachse herausgearbeitet. Die Schauspieler Oh Hyeon-gyeong und Kim In-tae, die 1984 bzw. 1997 den Vater spielten, dominierten mit ihrer starken Präsenz die Theaterbühne.Yi Seong Yeol brachte Oh Hyeon-gyeong, der in der Uraufführung die Vaterrolle gespielt hatte, wieder auf die Bühne und versuchte eine neue Interpretation, die über die ersten beiden erfolgreichen Aufführungen hinausging. Er stellte die Stimme des Schaupiel-veteranen Oh Hyeon-gyeong, der mittlerweile tatsächlich etwa so alt wie der Vater im Theaterstück ist, in den Mittelpunkt, und füllte die Bühne mit dunklen Farben und dicken Linien. Der Machtkon-flikt in der Politik, den der Autor des Stücks wohl ursprünglich darstellen wollte, fordert jetzt eine neue Interpretation. Yi Seong Yeols Spring Day hat gezeigt, dass eine solche Neuinterpretation möglich sein kann.

Bulga BulgaBulga Bulga (9. - 15. Mai, Main Hall, Arco Arts Theater), geschrie-

ben von Lee Hyun-hwa, wurde nach mehreren gescheiterten Bewerbungen für die Teilnahme am Seoul Theater Festival schließlich im Jahr 1987 beim 11. Theaterfestival auf die Bühne gebracht. Das Theaterstück, bei dem der Übungsraum des The-aters, die Bühne und der Publikumsraum ein offenes Ganzes bilden, verknüpft die Wiederholung der historischen Krisen, die Wiederholung der Theaterproben und die darin wiederholten Rollentexte zu einem Ganzen. Bei der Uraufführung war noch zu spüren, dass man bei der Darbietung, etwas gehetzt wirkend, nur an Form und Bedeutung von „bulgabulga“, das entweder als „Das geht nicht, das geht nicht“ oder als „Notgedrungen akzep-tiert“ interpretiert werden kann, festhielt, aber die Neuinterpre-tation durch denselben Regisseur, Chae Yun Il, war wesentlich gelassener. Die auf langjährige Erfahrung gründende Gelas-senheit von Lee Ho-jae, der bei der Uraufführung die Rolle des älteren Schauspielers und diesmal die des Regisseurs spielte, und von Kim In-tae, der erstmals die Rolle des älteren Schauspie-lers übernahm, vermittelte den Mitschauspielern anscheinend ein Gefühl der Sicherheit.

The Family’s Start on a WayKim Ui-gyeongs Theaterstück The Family’s Start on a Way (18. - 23. Mai, Main Hall, Arco Arts Theater) handelt von Leben und Kunst des bekannten koreanischen Malers Lee Jung-seob. Das Werk unter der Regie von Lee Yun-taek gewann im Jahr 1991 beim 15. Seoul Theater Festival den ersten Preis und im fol-genden Jahr fand die Wiederaufführung statt. Es wurde auch in New York und Los Angeles gezeigt. Die Aufführungen von 1991

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1 The Family’s Start on a Way erzählt die Lebensgeschichte des Malers Lee Jung-seob.

2 Das Bühnenbild von Let the Sunshine into the Haunted House verdeutlichte die Handlung und das Gesamtthema des Stückes.

3 Beautiful Soul Mate spielt vor dem Hintergrund der Militär-herrschaft während der Goryeo-Zeit.

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und 1992 gewannen durch die poetische Vorstellungskraft und das dramatische Talent Lee Yun-taeks an Verfeinerung. Es ist ein Werk der Dastellenden Künste, das z.B. durch Klang- und Rhyth-mus-Untermalung der Dialoge, durch die aktive Verwendung der Bilder des Malers und durch die effektive Nutzung der Musik einen Augen- und Ohrenschmaus bot. Im Jahr 2001 nahm das Seoul Metropolitan Theater mit diesem Werk, neu bearbeitet von Ki Kuk-seo, am BeSeTo (Beijing-Seoul-Tokyo) Theatre Festival in Japan teil. Das Stück, das die traditionelle koreanische Musik und traditionelle Bewegungen in hohem Maße aufgenom-men hatte, erzielte bei den japanischen Zuschauern und Kritikern eine positive Resonanz. Die neue Version von The Family‘s Start on a Way der Seoul Factory Company unter der Leitung von Lim Hyung Taek, die bei dem diesjährigen Festival auf der Bühne zu sehen war, blieb in Bezug auf Tiefe der dramatischen Interpre-tation und eindrucksvolle Charakterdarstellung leider etwas hinter den Erwartungen zurück. Es war auch schade, dass die Interpretation des Bühnencharakters durch den neuen Hauptdar-steller Jeong Bo Seok an die der früheren Darsteller der Hauptrolle, Kim Kap Soo und Gang Sin-gu, erinnerte.

A Song Like ThisJeong Bok-geuns Theaterstück A Song Like This (29. April – 6. Mai, Small Hall, Arco Arts Theater) wurde im Jahr 1994

im Rahmen des Seoul Theater Festival aufgeführt. Der Regis-seur war Shim Jae-chan von der Jeonmang Theater Company, die Hauptrollen spielten Park Seung-tae, Kang Sin-il und Sol Kyung-gu. Das Stück handelt von der Tragödie unseres Zeitalters: Eine Frau versucht, ihren Mann zu schützen, schickt ihn aber im Endeffekt in den Tod; ihr Versuch, zum Wohle ihres Sohnes zu handeln, treibt diesen ebenfalls in den Tod, aber trotz alledem erwacht die Frau nicht aus ihren Illusionen. Das Theaterstück übt anhand der unglaublich puren Lebensphilosophie einer Frau hef-

tige Kritik an den Ideologien des jetzigen Zeitalters. Schau-spieler und Regisseur sprachen durch ihre ernsthafte und klare Art, in der sie diese Kritik zum Ausdruck brachten,

das Publikum besonders an. Die neue Version von A Song Like This, in der Lee Hye-gyeong,

eine Veteranin der National Drama Company, als Hauptdarstellerin

neben jungen Schauspielern der Golmokil Company wie Kim Yeong-pil und Kim Ju-wan

auftrat, fokussierte aber eher auf das Alltägliche als auf den Konflikt zwischen Ideologien oder eine aufklärende symbolische Darstellung, so dass der Standpunkt oder der Charakter der Hauptfigur Kim Yeong-ok nicht stark genug betont wurden.

Let the Sunshine into the Haunted HouseLet the Sunshine into the Haunted House (7. – 17. Mai, Jayu Theater, Seoul Arts Center) von Lee Hae-je wurde

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von der Inhyeok Theater Company gespielt und von Lee Gi-do geleitet - derselben Theatergruppe und demselben Regisseur wie bei seiner Uraufführung. Es wurde im Jahr 1999 im Studio Theater des Dongsoong Art Center zum ersten Mal aufgeführt, weiterhin 2000 beim Seoul Theater Festival und 2004 im LG Art Center. 2005 wurde es zur Frankfurter Buchmesse, auf der Korea Gastland war, eingeladen. Seit der Uraufführung gehört das Stück zu den erfolgreichsten koreanischen Theaterproduktionen, die von Kritikern und Publikum gleichermaßen mit Applaus bedacht wurden. Die Familiengeschichte, die auf dem traditionellen kore-anischen Glauben an Hausgötter basiert und bislang von Schau-spielern wie Oh Dal-su, Park Yong-su und Kim Byeong-chun gespielt worden war, wurde diesmal von einer neuen Schauspiel-truppe gespielt, abgesehen von Han Myeong-gu, der seit 2004 die Rolle des Pabuksungi spielt, und Jeon Guk-hyang, die ebenfalls seit 2004 in der Rolle der Samsinhalmeoni, der für Empfängnis, Geburt und Wachstum zuständigen Hausgöttin, zu sehen ist. Neu bei der diesmaligen Aufführung waren die Theaterbühne und die Besetzung. Die Raumnutzung der neuen Bühne war im Vergleich zu den vorangegangenen Aufführungen effektiver. Was die The-

aterbesucher dabei am meisten überzeugte, war, dass man das Jayu Theater des Seoul Arts Center nutzte, sowie der Anblick der davon ausgehenden Hochstraße sowie der Weg zur Hochstraße. Das Bühnenbild, bei dem am Anfang Straße und Haus zusammen zu sehen waren, aber dann die Straße verschwand und das Haus szenisch hervortrat, ließen die Erzählart des Stückes und die Thematik noch lebendiger zum Ausdruck kommen. Zudem wirkte die schauspielerische Darbietung der neuen Truppe selbstsicher-entspannt.

Why Did Simcheong Throw Herself into the Indang Sea Twice?Why Did Simcheong Throw Herself into the Indang Sea Twice? von Oh Tae Suk (24. April - 10. Mai, Daehangno Arts Theater) wurde nach seiner Uraufführung im Jahr 1990 von der Mokhwa Repertory Company im Chungdol Theater, weiterhin im Seoul Arts Center, im Aroongguji Theater, im KB Haneul Youth Theater des Koreanischen Nationaltheaters und auch in der California State University Northridge in den USA im Rahmen der Interna-tional Conference for World Theater and Drama 2005 aufgeführt.

Das diesjährige Seoul Theater Festival stand unter der Zielvorgabe, mit neun ausgewählten repräsentativen Dramen mit einer jeweils neuen Theatertruppe, einer neuen Bearbeitung und neuen Schauspielern eine neue Bühne, die dem derzeitigen Zeitalter entspricht, zu schaffen. Das Festival traf beim Publikum auf ein in der Theatergeschichte bislang nur selten erlebtes hohes Interesse und erzielte auch in Bezug auf Organisation und Besucherzahl einen Erfolg.

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Theaterregisseur Oh Tae Suk und die Theatertruppe Mokhwa Repertory Company schufen nach wiederholter Bearbeitung des Stücks eine völlig neue Darbietung. Wahrscheinlich ist es das Theaterstück, das unter den auf dem diesjährigen Theater-festival vertretenen Werken am häufigsten aufgeführt wurde. Die pietätvolle Tochter Simcheong, die sich in der zugrunde liegenden Volkserzählung zur Rettung ihres blinden Vaters opfert und ins Indang-Meer springt, stürzt sich in der Neben-handlung der Theaterinszenierung zusammen mit dem Mee-reskönig Yongwang (Drachenkönig) nochmals ins Meer, um die Menschen, die unter der erstickenden Gefühllosigkeit der heutigen Welt leiden, zu retten. In Bezug auf Handlung, Cha-rakter der Hauptfigur, und zeitgemäße Dialogeinschübe wurde zwar vieles verändert, aber die Bühnenatmosphäre mit ihrem Durcheinander aus Pappkartons und Bastelwerken ist gleich geblieben. Die Schauspieler werden zwar immer jünger, aber dies verleiht der Bühne auch immer wieder neue Dynamik.Beim diesjährigen Festival gab es viele Elemente, die das Augenmerk auf sich zogen: Die faszinierende Schauspiel-kunst der Hauptdarstellerinnen von Picasso´s Women, dem Eröffnungsstück des Festivals; die aktive Bühnenkunst des Stücks The Sound of Organ, der zweite Teil des aus drei Folgen bestehenden Theaterwerks Tangwang (Kohlenmine) von Yun Jo-byeong, das die tragischen Geschichte einer Bergmann-Familie erzählt; die tiefsinnige Interpretation von Hans & Gre-tel durch den Schauspieler Man Myeong-ryeol und die neue Vitalität des Theaterstücks Beautiful Soul Mate, die durch den Einsatz mehrerer Jungschauspieler erreicht wurde.

Zur innovativen Weiterentwicklung Die vorgestellten Theaterstücke sind alles Werke, bei denen der allgemein gegen die koreanische Gesellschaft gerichte-te Tenor stark zum Ausdruck kam. Die Autoren waren sehr darum bemüht, die gesellschaftspolitische Lage der Zeit mit Sensibilität und Nachdruck zu thematisieren. Man darf auch nicht vergessen, dass es außer den neun ausgewählten The-aterstücken noch viele weitere gibt, die in der 30-jährigen Geschichte des Theaterfestivals eine wichtige Rolle spielten, große Aufmerksamkeit auf sich zogen und es wert sind, wieder auf die Bühne gebracht zu werden.Die für die Bearbeitung Zuständigen haben versucht, in den Herangehens- und Ausdrucksweisen neue Lösungen aufzu-zeigen, die den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen von heute Rechnung tragen. Es war auch zu sehen, dass es in Bezug auf verschiedene Faktoren wie Bühnenkunst, Bühnen-raumnutzung, Beleuchtung, Kostüme und Musik der Grad der technischen Verfeinerung angehoben wurde. Aber in Bezug auf die Intensität der Interpretation und der daraus resultierenden Neuartigkeit der Darstellungsweise der Meisterwerke wäre noch etwas mehr zu wünschen gewesen.Im 30. Jahr des Bestehens des Theaterfestivals werden auch Stimmen laut, die dazu aufrufen, einmal über die ausschließ-liche Fokussierung des Festivals auf neue Theaterstücke nachzudenken. Es wäre zu wünschen, dass das Seoul Theater Festival 2009, das sich nach 30 Jahren in einem völlig neuen Gewand präsentierte, als entscheidende Gelegenheit zur inno-vativen Weiterentwicklung wahrgenommen wird.

1 A Song Like This nutzt die naive Lebensphilosophie einer Frau, um Kritik an den Ideolo-gien unseres Zeitalters zu üben.

2 The Sound of Organ erforscht die tragische Lebensgeschichte einer Bergmann-Familie.

3 Why Did Simcheong Throw Herself into the Indang Sea Twice? ist eine fürs zeitgenös-sische Publikum adaptierte Reinterpretation von Simcheong-jeon, der alten korea-nischen Volkserzählung von der pietätvollen Tochter Simcheong.2

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62 Koreana | Herbst 200962 Koreana | Summer 2009

John Walker, ein erfolgreicher Geschäftsmann aus Australien, der in Korea Wurzeln geschlagen hat, kann nun seinem Lebenslauf „Kinderbuchautor“ hinzufügen. In seinem Buch Die Abenteuer des Ba-bykragenbären Ura (Ura’s World) hat er den in Korea heimischen Kragenbären (auch als „Mondbär“ bekannt), der vom Aussterben bedroht ist, als Hauptdarsteller gewählt.

Hwang Sun-Ae Freiberufliche Schriftstellerin | Fotos: Ahn Hong-beom

Kinderbuch mit einem Herz für die Natur

KOREA ENTDECKEN

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m Kindertag, dem 5. Mai 2009, wurde ein neues Buch für Kinder von 5-7 Jahren veröffentlicht: Die Abenteuer des Babykragenbären Ura erschien auf Englisch und Koreanisch. Vor allem aber zieht der Lebenslauf des

Autors besonderes Interesse auf sich: John Walker ist Präsident von Macquarie Korea Infrastructure Fund, der größten ausländischen Investmentfirma in Korea. Durch sein Buch, das von der koreanischen Landschaft und vom koreanischen Dangun-Gründungsmythos inspiriert wurde, vermittelt der Autor durch die Aben-teuer des Mondbären Ura die Liebe zur Natur und wertvolle Lehren.

Korea – ein Land voller EnergieJohn Walker lebt schon seit dem Jahr 2000 in Korea. Es war fast ein Zufall, dass er nach Korea kam. Als Macquarie, die größte Investmentfirma Australiens, beschloss, ins Ausland vorzustoßen, machte Walker während einer Geschäftsreise zur Erkundung des Marktpotentials einen Stoppover in Korea. Gleich bei seiner Ankunft auf dem Flughafen spürte er, dass Korea ein energiegeladenes und dyna-misches Land ist. Da er das Geschäftspotential positiv beurteilte, besorgte er sich gleich ein Haus und begann mit den Arbeiten für die Einrichtung einer Zweigstelle. Am Anfang hatte er nicht einmal ein Büro und erledigte alles per Telefon und mit Hilfe von vier Mitarbeitern. Heute kümmern sich über 300 Mitarbeiter um die 13 Geschäftsbereiche von Macquarie Korea Infrastructure Fund wie Aktieninvestition, M&A, private Infrastruktur-Investitionen usw. Am Anfang, als John Walker im wohlhabenden Seouler Stadtviertel Gangnam auf der Südseite des Han-Flusses lebte, hatte er den Eindruck, dass Seoul eine reiche und glanzvolle Stadt sei, da alle Menschen auf den Straßen sehr schick ange-zogen waren und europäische Autos fuhren. Mit der Zeit empfand er jedoch die Diversität und Komplexität des Lebens der Koreaner reizvoller: Am Lebensstil der Menschen, die von verschiedenen Religionen wie Schamanismus, Buddhismus, Konfuzianismus und Christentum beeinflusst ist, entdeckte er eine faszinierende Harmonie von Tradition und Moderne. Aber auf der anderen Seite war es für ihn schwer, sich an die koreanische Küche zu gewöhnen, und er hatte auch mit Pro-blemen aufgrund der kulturellen Unterschiede zu kämpfen. Ein Beispiel: Einmal kam es zu Konflikten unter seinen Mitarbeitern, als er seiner Sekretärin einen höheren Titel gab als einem seiner leitenden Angestellten, denn er wusste nicht, dass man in Korea auf die Titel-Hierarchie so großen Wert legte. Er zog aus dieser Erfahrung eine Lehre und bemühte sich auf seine eigene Art,

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John Walker, CEO einer australischen Investment-firma, mit seiner koreanischen Ehefrau. Sein Buch Die Abenteuer des Babykragenbären Ura wurde zum Teil durch das Engage-ment seiner Frau für den Tierschutz inspiriert.

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die Kluft zwischen beiden Kulturen zu verkleinern. Er ver-suchte, die koreanische Kultur zu akzeptieren, während er sich gleichzeitig darum bemühte, eine offene und innova-tive Arbeitsplatz-Kultur einzuführen, in der die Kommuni-kation in beide Richtungen möglich ist. Das diesbezügliche Ergebnis ist zufriedenstellend: Die Grundrichtung der Firma Macquarie, die Kreativität und Teamwork betont, wurde mit der koreanischen Kultur, in der Fleiß, Respekt und Firmenloyalität besonders groß geschrieben werden, verbunden und so eine Arbeitsatmosphäre geschaffen, in der alle Mitarbeiter glücklich und zufrieden sind.

Natur in der StadtZu Beginn seines Lebens in Seoul reiste John Walker immer auf die Insel Jeju-do, wenn er der Stadt entfliehen wollte. Diese Paradies-Insel mit ihrer herrlichen Natur schenkte ihm neue Kraft und Trost. Aber im Laufe der Zeit wurde er gewahr, dass man auch in der Nähe, mitten in der Stadt Seoul, Natur finden kann. Als die Firma Macqua-rie sich als Partner am Bau eines Tunnels durch den Berg Umyeon-san im Süden von Seoul beteiligte, entdeckte er eine Wanderroute, auf der man die Natur des Berges genießen konnte. John Walker lebt jetzt auf der nördlichen Seite des Han-Flusses im Viertel Seongbuk-dong am Fuße des Berges Bugak-san, von wo aus er innerhalb von zehn Minuten den nächsten Wanderpfad erreichen kann. Aber nicht nur das: Auch von seinem Büro aus ist er innerhalb von 15 Minuten in der Natur. Walker sagt, dass Seoul, das von Natur umgeben ist und gleichzeitig Natur umschließt, eine besondere Stadt sei. In anderen Großstädten wie zum Beispiel Peking, Sydney oder Los Angeles sei ein solches Umfeld kaum zu finden. Im Laufe der Zeit hat John Walker auch herausgefun-den, dass Berge im Leben der Koreaner eine besondere Bedeutung haben. „Die Koreaner gehen in die Berge, wenn sie sich ausruhen oder einen klaren Kopf bekom-men wollen. Ich finde, dass Berge in der Natur Koreas und im Leben der Koreaner eine ganz besondere Bedeutung haben. Während meines Aufenthaltes hier habe ich vom Berggeist Sansillyeong gehört, den ich sehr interessant finde. So etwas macht die koreanische Kultur einzig-

artig. Das Leben der Koreaner scheint immer in einen kulturellen Kontext eingebettet zu sein. Die Kultur ist ein distinktives Wertvorstellungssystem. Vielen Westlern fehlt ein solcher kultureller Kontext. Die kulturellen Traditi-onen, die einst fest in ihrem Leben verwurzelt waren, sind fast alle vergessen. Aber die Koreaner erwähnen immer wieder uralt Überliefertes, warum welche Speisen gut sind, warum die Berge gut sind usw. Es ist schwer konkret zu beschreiben, aber ich glaube, die Koreaner geben allen Sachen einen Grund oder eine Bedeutung. Ich hoffe, dass sie diese Tradition nicht vergessen.“ Der deutsche Soziolo-ge Max Weber diagnostizierte, dass die westlichen Gesell-schaften im Prozess der Modernisierung der Zivilisation „entzaubert“ wurden. Aber John Walker scheint Korea immer noch positiv als „verzaubert“ zu empfinden. Korea befindet sich immer noch auf dem Weg zur Moder-nisierung und treibt verschiedene Entwicklungsprojekte an. Die Entwicklung kann auf die Natur sowohl einen posi-tiven als auch einen negativen Effekt haben. John Walker findet, dass sich in der jüngsten Zeit das Umweltbewusst-sein der Koreaner erhöht hat. „Allen ist die Wichtigkeit der Natur bewusst geworden. Auch die Natur in Seoul wird immer besser. Durch Parks, Spazierwege und die Vernet-zung der Fußgängerwege entwickelt sich Seoul, obwohl es eine Riesenmetropole ist, zu einer Stadt, in der die Menschen auch auf Erde treten können. Dies ist eine sehr positive Entwicklung. Durch die Verbesserung des natür-lichen Umfelds wird Seoul einen neuen Aufschwung erle-ben. Je grüner die Stadt wird, desto mehr Touristen wer-den Seoul aufsuchen, und wenn die Touristenzahl steigt, werden auch mehr Unternehmer nach Seoul kommen.“John Walker findet, dass gesellschaftliche Faktoren und Geschäft eng miteinander verknüpft sind. Eine Verbes-serung der Umwelt erhöhe nicht nur die Lebensqualität, sondern sei auch in wirtschaftlicher Hinsicht von großer Bedeutung. Die Stadt Gangneung hat unter den Städten, die er besuchte, einen besonders starken Eindruck auf ihn gemacht. Gangneung, das am Ostmeer vor einer impo-santen Bergkulisse gelegen ist und über ausgezeichnete natürliche Gegebenheiten verfügt, besitzt als einzige wirt-schaftliche Basis den Fremdenverkehr. Damit könnte es

„Die Koreaner erwähnen immer wieder uralt Überliefertes, warum welche Speisen gut sind, warum die Berge gut sind usw. Es ist schwer konkret zu beschreiben, aber ich glaube, die Koreaner geben allen Sachen einen Grund oder eine Bedeutung. Ich hoffe, dass sie diese Tradition nicht vergessen.“

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als Modell für die koreanischen Städte der Zukunft dienen, da die Dienstleistungs- und die Tourismusindustrie in Korea in Zukunft zu den wichtigsten konkurrenzfähigen Industrien des Landes gehören werden. John Walker bewertet die Gesamtentwicklungsrichtung und vor allem die schnelle Entwicklung von grünen Städ-ten, grüner Energie und die diesbezüglichen Politiken sehr hoch. Aber er meint, dass auch das Denken und das Naturverständnis des Einzelnen genau so wichtig seien. „Die Natur sollte ein Teil von uns selbst sein. Sie sollte in das System, das wir Leben nennen, integriert werden und stets Berücksichtigung finden.“ Auch ist er der Ansicht, dass wir den Wert der Existenz der Natur noch tiefer verstehen müssen und uns Gedanken darüber machen sollten, wie wir mit der Natur koexistieren können.

Die Abenteuer des Babykragenbären UraLaut Animal Asia, einer Tierschutzorganisation mit Haupt-sitz in Hongkong, werden in Korea immer noch über 1.300 Kragenbären auf Bärenfarmen gezüchtet. Und das, obwohl die koreanische Regierung 1992 gesetzlich verboten hat, Galle von lebenden Bären abzuzapfen. Früher gab es viele Kragenbären in Korea, aber durch die steigende Nachfrage nach Bärengalle, die medizinisch wirksam sein soll, ist der Kragenbär vom Aussterben bedroht. Laut Walker leben in Korea nur noch 16 Kragenbären frei in der Natur. John Walker entwickelte großes Interesse und Zuneigung für den Kragenbären, da seine koreanische Frau als Frei-

willige bei einer Tierschutzorganisation arbeitet. Die Idee, ein Buch mit einem Kragenbären als Hauptdarsteller zu schreiben, kam während der aktuellen Wirtschaftskrise auf. John Walker ist der Meinung, dass man in schwierigen Zeiten auch wieder mehr Zeit finden kann, sein Leben zu überdenken. Während eines Gesprächs mit seiner Frau über die Lage der Kragenbären und die Ansichten der Menschen über die Natur kam ihm die Idee zu diesem Buch. Aber er wollte kein Buch mit einer direkten und ernsten Botschaft schreiben, sondern ein unterhaltsames Buch mit herzerwärmenden Lehren. Die Abenteuer des Babykragenbären Ura wurden zum Teil vom koreanischen Gründungsmythos Dangun inspiriert, in dem der Sohn des Himmelsgottes auf die Erde herabsteigt und eine Menschenfrau heiratet, die zuvor eine Bärin war. Der aus dieser Vereinigung hervorgegangene Sohn ist Dangun, der erste Koreaner und Gründervater des kore-anischen Reiches. Bevor er den Dangun-Mythos kennen lernte, hatte John Walker immer gedacht, dass der Tiger Korea repräsentiere. Aber nun ist er der Meinung, dass der furchteinflößende und energievolle Tiger und der starke und geduldige Bär gemeinsam am besten für die Koreaner stehen. In seinem Buch rettet ein Mensch, der in seiner Kindheit selbst von einem Kragenbären gerettet worden war, einen jungen Kragenbären. Diese Geschich-te zeigt die Freundschaft zwischen Mensch und Tier und auch, wie Mensch und Tier koexistieren können. Walker plant eine vierbändige Serie vor dem Hintergrund der vier Jahreszeiten. Teil zwei der Abenteuer des Baby-kragenbären Ura soll vor Weihnachten erscheinen. Der Autor, der als Kind davon träumte, Tierarzt zu werden, kann nun durch seine Phantasiewelt mit den Tieren kom-munizieren. John Walker, der als beschäftigter Geschäfts-mann seine Freizeit dafür nutzt, ein Kinderbuch heraus-zubringen, ist schon eine sehr besondere Person, dessen Leben Aufmerksamkeit verdient. Bezüglich der Bildung in Korea vertritt er die Ansicht, dass man sich von der rein wissensorientierten Bildung lösen und statt dessen die Zeit kreativ und selbstbestimmt nutzen sollte, um so ein aufregendes Leben zu führen. Das ist ein Ratschlag, den man ernst nehmen und in die Tat umsetzen sollte.

John Walkers Haus liegt in der Nähe des Gebirges Bugak-san; bis zum nächsten Wanderweg sind es nur zehn Minuten zu Fuß. Walker ist der Meinung, dass Projekte zur Verbesserung der Umwelt Seoul als Stadt einen weiteren Sprung nach vorne ma-chen lassen werden.

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1 Younghi Pagh-Paan ist Professorin für Komposition an der Hochschule für Künste Bremen (Foto: Gang Tae-uk).

2 Das Koreanische Nationalorchester bei der Aufführung von Younghi Pagh-Paans Komposition Das Universum atmet, es wächst und schwindet (für Orchester mit traditionellen koreanischen Instrumenten) (2007). (Foto: The National Orchestra Company of Korea)

AUF DER WELTBÜHNE

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Herbst 2009 | Koreana 6767 Koreana | Autumn 200967 Koreana | Autumn 2009

agh-Paan (geb. 1945) ist eine Kultur-Botschafterin, die durch ihren Namen der modernen westlichen Musikwelt Korea vorstellt. Sie trägt eine Art unsichtbaren Rosenkranz bei sich: Sie rollt quasi die einzelnen Noten auf den fünf Zeilen des Notenpapiers mit demselben Geist wie jemand, der auf der Suche nach der

Wahrheit ist, die Perlen des Rosenkranzes rollt.

Logische WahrheitssucherinTief in ihrem Herzen ist der Ort der unaufhörlichen Selbstreflexion und der wahren Liebe zum Nächsten bzw. zum Dritten, dem Objekt des Teilens: Sie ist dankbar dafür, dass sie in der Lage ist, ihren Dank für ihre Existenz mit anderen teilen zu können und teilt unermüdlich ihre Kenntnisse mit den Studenten. Um mit Musikern zu kommunizieren und sich mit Musikfreunden zu treffen, ist sie im Osten und Westen ununterbrochen mit Zug, Flugzeug oder Bahn unterwegs. Sie umkreist die runde Erde.„Meine Musik verlässt sich nicht auf Intuition, sondern basiert auf einer kompletten, rationalen Struktur, sprich, auf der Logik. Innerhalb der Naturgesetze existiert das Prinzip der organischen Organisation. Das heißt, die Natur selbst bietet uns schon eine logische Struktur an. Das hat auch viel mit dem Respekt gegenüber allen Lebewesen zu tun, etwas, wonach ich auch in meiner Musik strebe, und dieser Geist steht im weiten Sinne auch im Zusammenhang mit der Politik.“Pagh-Paans Musik wird schon seit 30 Jahren in Europa gespielt. Im Jahr 1994 wurde sie zur Pro-fessorin für Komposition an der Hochschule für Künste Bremen ernannt. Sie war die erste Frau, die im deutschsprachigen Raum als Komponistin Professorin wurde. Dr. Nikolas Schalz, Mussik-

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Younghi Pagh-Paan ist eine koreanische Komponistin der Moderne, die eine eigentümliche Musikwelt, die von einer Kom-bination aus östlicher und westlicher Kultur und Tradition geprägt ist, schuf. Sie ist schon seit 30 Jahren auf der europä-ischen Bühne tätig und wird „der zweite Isang Yun“ genannt. Ihre musikalisch-kreative Welt befindet sich zurzeit in einem weiteren Aufschwung zu noch höheren Dimensionen.

Kang Unsu Komponistin, promovierte Musikwissenschaftlerin | Fotos: Ahn Hong-beom

Komponistin Younghi Pagh-Paan:Durch Musik zum „breiten Lächeln“

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wissenschaftler sowie emeritierter Professor der Hochschule für Künste Bremen, lobt Younghi Pagh-Paan wie folgt: „Für die Stelle bewarben sich viele weltweit renommierte Komponisten, aber alle stimmten für Pagh-Paan. Sie beeindruckte alle Prüfer mit der festen Logik, die sie in Bezug auf ihre Musikwelt vertrat.“

Klänge des HerzensPagh-Paan, geboren im Jahr 1945, als Korea von der japanischen Kolonialherrschaft befreit wurde, machte ihren M.A. an der Seoul National University. 1974 wurde sie zur DAAD-Stipendiatin gewählt und begann vergleichsweise spät mit ihrem Auslandsstu-dium. Sie war die erste Koreanerin, die in zwei Fächern gleichzei-tig – in Komposition und Musiktheorie – ihr Diplom machte, und zwar unter Professor Klaus Huber an der Hochschule für Musik in Freiburg.Im Jahr 1978 gewann sie mit ihrem Werk für Klarinette und Streichtrio Man-Nam (Treffen) den ersten Preis beim Komponis-tenseminar in Boswil in der Schweiz und setzte frühzeitig einen Fuß in den Kreis der modernen Musik. Die erfolgreiche Auffüh-rung ihres Orchesterwerkes Sori (Töne) bei den Donaueschinger Musiktagen 1980 führte zu einem Vertrag mit dem Musikverlag Ricordi, der auch heute noch ihre Musik aufnimmt und publiziert.Sori war eigentlich ihre Diplomarbeit. Damals herrschte in Korea im Zuge der Demokratisierungs- und Widerstandsbe-wegung in Gwangju Aufruhr und die deutschen Medien zeigten die ungeschnittenen Filmszenen der brutalen Niederschlagung des Gwangju-Aufstandes gegen die damalige Diktatur (18. Mai 1980). Sori, das den Aufschrei der Koreaner gegen die Diktatur mit typisch koreanischem Gefühl musikalisch zum Ausdruck brachte, genoss großen Erfolg auf der Weltbühne. Bereits kurz nach dem Studienabschluss machte sich Pagh Younghi, wie sie eigentlich heißt, als Younghi Pagh-Paan in der europäischen

Komponistenwelt einen Namen. Sie wurde immer wieder zu welt-bekannten Musikfestivals, die die Traumbühnen für viele Kom-ponisten sind, eingeladen und mit Preisen ausgezeichnet - eine Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält.NUN (Schnee, 1979), Madi (Knoten, 1981), PYON-KYONG (Kling-steine, 1982), NO-UL (Roter Himmel 1884/85), NIM (Geliebte, 1986/87), HWANG-TO (Gelbe Erde, 1988/89), MA-UM (Herz, 1990/91), NE MA-UM (Mein Herz, 1996), SOWON (Wunsch, 1995/95), GO-UN NIM (Lobpreisung, 1997/98) und sowon...borira (Wunsch, ich hätte gern..., 1998) usw.: Wie ihre repräsentativsten Werke zeigen, gibt sie ihren Werken koreanische Titel und zeich-net die Töne ihres Herzens auf die fünf Notenzeilen. Ihr Körper und ihre Seele, die keinen Moment von der drückenden Verpflich-tung, neue Auftragswerke vollenden zu müssen, befreit werden können, ihre Sehnsucht nach der Heimat, die sie nur aus weiter Ferne betrachten kann, und ihr schwer zu verwirklichender Wunsch, ihrer Mutter, die neun Kinder allein großzog, die gebüh-rende kindliche Pietät zu bezeugen: Dies alles konnte sie nur auf die fünf Notenzeilen zeichnen.

In der Sphäre des „breiten Lächelns“Sie nennt sich Youn-ghi Pagh-Paan, eine Eigenkombination aus dem Künstler-namen

Vielleicht wollte sich Younghi Pagh durch den Namen „Paan“ (breites Lächeln), den sie sich gab, selbst hypnotisie-ren: „Am Ende werde ich ein breites Lächeln zeigen können.“ In den 30 Jahren, den sie diesen Namen nun schon verwendet, hat sie durch ihre Musik ein großes und weites Land gezeichnet, genau wie die von ihr stets tief verehrte Schriftstellerin Park Kyong-Ni mit ihrer Familiensaga Toji (Land).

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Der weltbekannte Komponist Klaus Huber ist der wichtigste Mensch in Leben und Karriere von Younghi Pagh-Paan. Als ihr Lehrer und Ehemann unterstützt er ihre hingebungsvollen Bemühungen zu komponieren, mit den Musikern zu kommunizieren und Studenten zu lehren. (Foto: Nikolai Wolff)

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„Paan“ und ihrem eigentlichen Namen „Pagh Younghi“. „Paan“ (破顔) bedeutet ursprünglich „breites Lächeln“, aber nachdem der Philosoph Kim Young-Oak ihrem Namen eine neue Bedeu-tung schenkte, indem er für die gleiche Aussprache andere chinesische Zeichen mit der Bedeutung „die Bipa (koreanische Mandoline) neben dem Schreibtisch“ benutzte, verwendet sie ihren Namen mit der neuen Bedeutung. Im Gegensatz zu ihrem selbst erfundenen Künstlernamen ist es nicht leicht, auf ihrem Gesicht ein breites Lächeln zu entdecken. Was ihre Musik betrifft, so ist es noch schwieriger. Ihre Musik enthält die unendliche Tiefe des Lebens und ist so tiefsinnig, dass sie sogar als „Han-Musik“ bekannt ist. Han gilt als typisch koreanisches, schwer zu beschreibendes Gefühl des verhaltenen Grolls oder Leidens.Europäer, die sie etwas näher kennen, sagen, dass sie nach Deutschland kam, um zu überleben. Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre, als sie mit dem Komponieren begann, wurde in Korea hart für die Demokratisierung des Landes gekämpft. In ihrer Kindheit erlebte sie den Koreakrieg (1950-1953) und als sie studierte, herrschten politische Unruhen. Daher könnte man ihre Entscheidung für Deutschland auch so interpretieren, dass ihr innerer Drang nach Befreiung von der Armut, nach künstlerischer Freiheit und nach Emanzipation als Frau zur Flucht in die west-liche Welt führte. Vielleicht wollte sich Pagh Younghi durch ihre Namensgebung mit Blick auf die Zukunft selbst hypnotisieren: „Am Ende werde ich ein breites Lächeln zeigen können.“ Wie breit ist das Lächeln, das sie bis heute zeigen kann? Sie hat durch ihre Musik ein großes und weites Land gezeichnet, genau wie die von ihr stets

tief verehrte Schriftstellerin Park Kyong-Ni mit ihrer Familiensaga Toji (Land). Der tiefe

künstlerische Umfang von Younghi Pagh-Paan, die lange Zeit ihr eigenes Land bestellte, hat jetzt eine ureigene neue Kunst-

welt geschaffen, die die europäische

und fernöstliche Kultur zusammenbringt.

Nach MondschattenAm 21. Juli 2006 wurde in der Staatsoper Stuttgart Pagh-Paans Oper Mondschatten uraufgeführt. Durch die erfolgreiche Auf-führung beim ISCM (International Society for Contemporary Music) World New Music Festival 2006 erreichte sie einen großen Wendepunkt in ihrer Musikwelt. Ihre Oper nach dem Stoff von Sophokles König Ödipus ist der Schlüssel zum Verständnis von Pagh-Paans Thema „Fremdheit“. Der Musikkritiker Max Nyffeler erklärt ihre Musik wie folgt: „Der plötzliche Wandel in ihrer Musik, der sich nach der Oper Mondschatten aus dem Jahr 2006 zeigte, erstaunte uns alle. Ihre Musik handelt von dem Eigenen und dem Fremden. Die koreanische Musikwelt in ihren Werken ist etwas Geistiges, das über Stoff oder Techniken hinausgeht.“Wie sieht ihre geistige Welt aus, die sie in ihrer ersten Bühnen-musik Mondschatten präsentierte? Sie bat den koreanischen Philosophen Han Byung-Chul um Teile des Librettos und schaffte es, die taoistische Philosophie in ihre Werke einzubetten. Sie sublimierte schwierige Themen wie Leben und Tod des Men-schen sowie Sünde und Vertreibung, die zu Beginn der 6. Szene in „Nicht geboren zu sein: Höheres denkt kein Geist!“vorkommen, auf ihre eigene Art und Weise. „Wem verglich ich wohl Welt und Menschen Leben? Dem Mondschatten der, wenn er im Tautropf berührt des Wasservogels Schnabel.“ Die Botschaft des 90-minü-tigen Werkes, das mit diesem Satz endet, ist: ein Leben der Kon-templation nach der asiatischen Denkweise.Nach Mondschatten wurde sie tief bewegt von der Briefesamm-lung von Thomas Choi Yang-up (1821-1861), des zweiten Priesters in der Geschichte des koreanischen Katholizismus, und begann, Kirchenmusik zu schreiben. Zu den Werken gehören Bleibt in mir und ich in euch (2007), Vide Domine, vide afflictionem nostram (Sieh, Herr, sieh unsere Bedrängnis, 2007) und In luce ambule-mus (Im Lichte wollen wir wandeln, 2007).Es war für niemanden vorhersehbar, dass Pagh-Paan noch kurz vor der Emeritierung die bislang begangenen Wege der Musik verlassen und einen neuen Pfad in Richtung Welt des Lichts ein-schlagen würde; die Komponistin selbst ist sehr erfreut darüber. Als ich von ihrem Traum erfuhr, einen Beitrag für ihr Heimatland

leisten zu wollen, sah ich, wie gut ihr selbst gegebener Name zu ihr passt. „Ich möchte gern die Kinder-

chöre landesweit unterstützen, so dass man überall bis ins kleinste Dorf das Singen der Kinder hören kann.“

Ihr bescheidenes Aussehen und ihr Lächeln - wir warten auf den Tag, an dem

sie in Korea in Harmonie mit den Kindern in ein breites Lächeln ausbricht.

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© Nikolai Wolff

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UNTERWEGS

Han Seung-won, der repräsentativste Schriftsteller von Jang-heung, auf einem Spaziergang entlang der Meta Sequoia Straße im Dorf Pyeonghwa (Friedensdorf) in Jangheung.

JangheungStadt der LiteraturliebhaberJangheung war und ist ein sich langsam entwickelnder Ort, eine Slowcity, in der die Zeit gemächlicher als anderswo vergeht. Die in Korea einzige „Literatur-Tourismus-Zone“ Jangheung ist - wie die Bezeichnung schon verrät - eine Stadt, die Literatur als regionales Spezialprodukt fördert.

Kim Hyungyoon Essayist | Fotos: Ahn Hong-beom

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er Hof des Tempels Borim-sa in Jangheung war sauber und still. In der klaren Sonne des Frühsom-

mermorgens bildete das kräftige Grün der üppigen Bäume und Büsche mit dem hel-len Weiß des Lehmbodens einen harmo-nischen Kontrast. Über diese Landschaft strich ein sanfter Wind, der dem Windspiel einen tiefen Klang entlockte.

Der tausend Jahre alte Tempel Borim-saSchon auf den ersten Blick gefiel mir der Tempel, der inmitten einer von Berg-kämmen umrahmten Talsenke liegt. Die für einen Tempel typische kontemplative Stille bezauberte mich, der ich gerade erst meine Alltagswelt verlassen hatte, sofort. Der Tempel, der im Jahre 860, in der Zeit des Vereinigten Silla-Reichs (676-935), errichtet wurde, besitzt eine über tausend Jahre alte Geschichte. Die eiserne Buddha-Statue in der Halle Dae-jeokgwangjeon (Halle des Großen Lichts mit dem Vairocana Buddha), die sich im südwestlichen Teil des Innenhofes befin-det, die zwei dreistufigen Steinpagoden und die Steinlaterne, die vor dieser Halle

ihren Platz haben, sind Zeugen der ural-ten Geschichte des Tempels, der im Krieg niedergebrannt wurde und neu erbaut werden musste. Vor allem strahlen die Pagoden und die Laterne die würdevoll tiefe Schönheit aus, die nur steinernen Gegenständen eigen ist, die lange Zeit im Freien Regen und Wind ausgesetzt waren.Wenn man vom Haupttor Ilju-mun aus durch das Sacheonwang-mun, das Tor der vier Himmelskönige, geht, gelangt man in den Innenhof des Tempels. In der Mitte des großen Hofes, wo sich links die Halle Daejeokgwangjeon und rechts die Halle Daeungbojeon befinden, entspringt eine Quelle, aus der eiskaltes klares Grundwasser sprudelt. Die fließenden Linien der sanft geschwungenen Dächer der beiden Hallen sind auch im Ziegeldach des Brunnens, das die Quelle überdeckt, zu finden. Deshalb erscheint der Innenhof um so klarer und stiller. Während um den Brunnen und an der Einfriedung meist kleine Gewächse wie Rosen, Rispen-Rosen, stachelspitzige Azaleen, Strauch-pfingstrosen, japanische Faserbananen und Kreppmyrten wachsen, stehen große Bäume wie silberne Magnolien, japa-

nische Nusseiben, japanische Ahorne, Gingkos, japanische Rotkiefern und man-dschurische Tannen am Rande des Hofes. Der lange, enge Hinterhof zwischen der Halle Daeungbojeon und dem dahinter liegenden Meditationsraum und den kleineren Andachtsräumen enstpricht einem für ein traditionelles koreanisches Hanok-Haus typischen Hof: Es ist ein Raum, wo Bäume und Blumen weitest-gehend unberührt von menschlichen Ein-griffen wie in der Natur wachsen. Wenn man ruhig auf der mit Moos bedeckten Steintreppe sitzt, kann man die Bienen hören, deren Summen wie das Geräusch der sich langsam drehenden Erde ist.Auch in Jangheung leben nicht wenige Frauen aus verschiedenen asiatischen Ländern, die nach Korea geheiratet haben. Ich war neugierig, wie Jangheung in den Augen dieser ausländischen Mitbürger wirkt und sprach daher mit Frau Yamazaki Naoko aus Japan, die vor dreizehn Jahren frisch verheiratet nach Korea zog. Sie gab als Lieblingsort in ihrer zweiten Heimat Jangheung den Tempel Borim-sa an. Sie ist zwar keine Buddhi-stin, meinte aber, dass sie in diesem alten

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Tempel eine starke Kraft spüren könne, die innere Ruhe erzeuge.

Die Slowcity-BewegungJangheung ist eine gebirgige Gegend. Über 66 Prozent der 618km² Gesamt-fläche besteht aus Bergen. Angefangen von Yuchi-myeon, wo sich der Tempel Borim-sa befindet, erstreckt sich ein Bergkamm auf den nächsten bis tief in Richtung Süden zur Küste. Zwischen den steilen mit dichtem Wald bestandenen Bergen liegen überall zerstreut kleine Dörfer, hinter denen sich steile Berghän-ge erheben, während sich vor den Weilern kleine Ebenen erstrecken. In den steilen Felsen leben Eulen, die Uhuart Bubo bubo kiautschensis sowie die Falkenart Falco peregrinus japonensis, die Täler sind ein Zuhause für Rehe, Wasserrehe und Wild-schweine.Vor kurzem hat Cittaslow International Yuchi-myeon als Slowcity anerkannt. Die Slowcity-Bewegung, die 1999 in der italie-nischen Stadt Orvieto ihren Anfang nahm, ist eine Bewegung für eine praktische Lebensweise, die sich den Schutz von Natur und Tradition zum Ziel gesetzt hat.

Eigentlich ist nicht nur Yuchi-myeon, son-dern die gesamte Gegend von Jangheung eine Slowcity, wo die Zeit langsamer als anderswo vergeht. In dieser Gegend leben die Einwohner seit Urzeiten von Reisan-bau und Ackerbau. Nebenbei sammeln sie auch in den Wäldern Pilze und züch-ten Bienen, Kühe oder Schweine. Daran hat sich nichts geändert. Die Häuser mit den weit nach unten führenden Dach-vorsprüngen bewahren nach wie vor die typische Atmosphäre der traditionellen Hanok-Häuser und die alten, niedrigen Steinmauern, die die sich windenden Gassen der Dörfer begrenzen, sind von besonderer Vertrautheit und Schönheit.In Korea setzte in den 1970er Jahren die Industrialisierung ein. Auf Böden, auf denen früher Getreide angebaut wurde, wurden Fabriken errichtet und die Bauern zogen in die Städte. Auch Jangheung wurde von vielen jungen Bewohnern verlassen, die in den Städten

nach Arbeit suchten. Die Einwohnerzahl von Jangheung, die einst 140.000 betrug, schrumpfte auf 43.000. Schließlich gab es in Jangheung genau so viele Menschen wie Vieh. Allerdings war diese ländliche Gegend insgesamt so abgelegen, dass sie von der hochmütigen Welle der Indus-trialisierung verschont blieb. Dem ist zu verdanken, dass man sich auch heute dort noch keine Sorgen wegen des Maschi-nenlärms der Städte oder verschmutzter Luft zu machen braucht. Man kann in der Natur ein von den negativen Erschei-nungen der modernen Zivilisation unbe-rührtes Leben genießen.Jedoch kann man kaum sagen, dass diese gebirgige Gegend so sicher ist, wie ihre Natur auf den ersten Blick nahelegt. Chemische Dünger und Pestizide haben die Gesundheit des Bodens geschädigt und das Ökosystem beeinträchtigt. Zurzeit wird man sich dieser Probleme immer stärker bewusst und denkt darüber nach.

1 Sitzende eiserne Buddhastatue (Nationalschatz Nr. 117) im Daejeokgwangjeon (Halle des Großen Lichts mit dem Vairocana Buddha) des Tempels Borim-sa

2 Der Gipfel des Berges Cheongwan-san, wo natürliche Felsformationen einen spektakulären Anblick bieten

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Die Verbreitung verschiedener Methoden der organisch-biologischen Landwirt-schaft wurde befördert und auch der Schutz vom Aussterben bedrohter Insek-tenarten wie der Riesenkäfer Allomyrina dichotoma und Lucanus maculifemoratus sowie des Pillenwälzers Gymnopleurus mopsus wurde verstärkt. Es gibt sogar viele Einwohner, die Erdwürmer züchten und aussetzen, um so zur Kräftigung des Bodens beizutragen.Yuchi-myeon, das zu den zehn unterge-ordneten administrativen Einheiten Eup (über 20.000 Einwohner) und Myeon (über 6.000 Einwohner) gehört, die den Kreis Jangheung-gun bilden, befindet sich am äußersten Nordrand des Kreises. Yuchi-myeon ist neben dem Tempel Borim-sa auch für den Jangheung-Damm bekannt. Dank des riesigen Wasserreservoirs am oberen Lauf des Flusses Tamjin-gang, das nach zehnjährigem Bau im Juni 2006 fertiggestellt wurde, können die Einwoh-

ner des südwestlichen Teils der Provinz Jeollanam-do, zu dem auch der Kreis Jangheung-gun gehört, jetzt unbesorgt Wasser zum Trinken und für die Landwirt-schaft verwenden.Aus diesem künstlichen See mit einer Fläche von 10,3km² und einem Einzugs-gebiet von etwa 193km² ragen mehrere Bergspitzen heraus, die eine einzigartig bezaubernde Landschaft bilden. Aller-dings ist in diesem klaren, tiefen See eine traurige Geschichte verborgen. Die rund 20 Dörfer in dieser Gegend, in der sich seit der Vorgeschichte Menschen angesiedelt hatten, verschwanden im vergangen Jahr unter der Wasseroberfläche und die 2.200 Einwohner mussten ihre Heimatorte ver-lassen.

Partisanen-Drama und Bauernauf-standEtwa ein halbes Jahrhundert vor dem Partisanen-Drama brach der Bauernauf-

stand, einer der großen Mahlströme der koreanischen Geschichte, aus. Im Februar 1894 griffen die Bauern in Gobu, einem weit im Norden von Jangheung gele-genem Ort, mit Rechen und Stöcken die Regierungsbehörde des Ortes an. Diese Revolte, mit der die Bauern der Korrupti-on der Beamten ein Ende setzen wollten, entfachte den Donghak-Bauernaufstand. Es war eine Bewegung der Bauern, in deren Mittelpunkt die Anhänger der „Öst-lichen Lehre“, i.e. Donghak, standen, einer in Korea aufgekommenen modernen religiösen Lehre, die auf dem Gedanken der Gleichberechtigung der Menschen basierte. Die Rebellion in einem kleinen Dorf, die von den Streitkräften der Regie-rung unterdrückt wurde, verwandelte sich schnell in einen großen Aufstand, der das ganze Land in Unruhe versetzte. Da es der Regierung nicht gelang, die Aufständischen mit eigener Kraft nie-derzuschlagen, rief sie die japanischen Truppen zur Hilfe. Die Bauerntruppen, die mit den Streitkräften der Regierung in einem beständigem Tauziehen von Sieg und Niederlage gelegen hatten,

1 Pfad entlang einer Steinmauer im Dorf Gisan in Anyang-myeon

2 Die Stupa von Meister Bojo im Tempel Borim-sa (Schatz Nr. 157); die Stupa ist mit Reliefs der Vier Himmlischen Könige geschmückt.

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konnten sich gegen die Japaner, die die Regierungstruppen mit Gewehren und Kanonen unterstützten, nicht mehr vertei-digen und gingen in kurzer Zeit zugrunde. Während des fast ein Jahr lang andau-erenden Kampfes hatten die Bauerntrup-pen ihre sämtlichen Führer verloren und erwarteten nur noch die Niederlage. Die letzte Schlacht fand in Jangheung statt. Die Bühne war die südlich des Flusses Tamjin-gang gelegene Ebene.In den historischen Aufzeichnungen aus der Zeit heißt es, dass sich rund 30.000 Bauern versammelten. Nie zuvor und nie wieder kamen in dieser Gegend an einem Ort so viele Menschen gleichzeitig zusam-men. In Jangheung lebten damals im Vergleich zu den Nachbargebieten beson-ders viele Donghak-Anhänger. Außerdem waren Korruption und Tyrannei der hab-gierigen Beamten hier am schlimmsten. Daher wurde dieses Dorf im Bergtal zum Schauplatz der letzten Schlacht der gescheiterten Revolution. Die Regierungs-truppen und ihre japanischen Unterstüt-zungstruppen bereiteten den aufstän-dischen Bauern ein tragisches Ende. Bei Sonnenuntergang war das Ufer des Flusses mit unzähligen Leichen bedeckt, das Blut der Opfer floss ins Wasser und färbte den Tamjin-gang, den man seit ewi-gen Zeiten nur blaugrün gekannt hatte, rot. Aber das war noch nicht alles: Auch nach der Schlacht verfolgten die verein-ten Truppen aus Regierungsstreitkräften und Japanern die noch übrig gebliebenen Bauerngruppen und deren Helfershelfer erbarmungslos bis zum bitteren Ende.Da der Kampf so heftig und unbarm-herzig gewesen war, entstand zwischen den Nachkommen der Beamten und der Yangban, der adligen Oberschicht, die auf der Seite der Regierung gestanden hatten, und denen der Bauern eine unüberwind-bar tiefe Kluft. Der Fluss Tamjin-gang hatte sich wieder blaugrün gefärbt, aber

das Blut voller Groll, das damals dort vergossen wurde, floss in den Adern der Hinterbliebenen und Nachfahren weiter. Zurückblickend kann man sagen, dass der Partisanenkampf, der etwa ein halbes Jahrhundert nach dem Bauernaufstand ausbrach, sozusagen von der Erinnerung an das Blutbad von Jangheung entfacht wurde und erneutes Blutvergießen zur Folge hatte. Die so entstan-dene innere Kluft wirkte bei jedem wichtigen Anlass in dieser kleinen Gemeinschaft als Mechanismus, der die Gemüter entzweite. Seit diesen tragischen Ereignissen sind nun schon über hundert Jahre vergangen, neue Generationen sind herange-wachsen und die Erinnerungen an das Geschehene verblasst. Dennoch gibt es in Jangheung nicht wenige, die glauben, dass der alte Konflikt immer noch nicht bereinigt sei. Sie meinen aber, dass sich jetzt die Stim-mung verbreitet habe, die Vergangenheit zu vergessen, und deshalb wird hier und da immer wieder von „Versöhnung“ oder „Vergebung“ gesprochen.

Literaturpark und LiteraturmuseumDer Fluss Tamjin-gang fließt aus dem Norden in die Region Jangheung, ver-breitert sich beim Jangheung-Damm und fließt dann ruhig und gelassen in Richtung Süden durch Jangheung-eup, die geschäf-tigste Ortschaft im Kreis Jangheung-gun. Hier hat der Fluss eine Breite von rund 100m und ist so tief, dass das Wasser bis an die Kehle eines Erwachsenen reicht. Die Japanerin Yamazaki Naoko nannte als zweiten Lieblingsort nach dem Tempel Borim-sa das Ufer des Tamjin-gang an dieser Stelle.Ich übernachtete in Jangheung zwei Nächte und begab mich jeden Tag in der Morgenfrühe ans Ufer. Karpfen, so dick

wie der Oberschenkel eines Erwach-senen, sprangen aus dem Wasser und drehten ihre gelben Körper. Dorfein-wohner, die früh wach geworden waren, spazierten oder joggten durch die Nebel-schwaden am Flussaufer. Es gab auch viele Silberreiher. Auf den kleinen Stau-mauern im Fluss oder in der Nähe von Schilffeldern konnte man sie beobachten, wie sie tief in Gedanken versunken im Wasser standen, dann plötzlich sanft aufflogen und am Himmel eine Runde drehten. Ich war von dieser friedlichen Landschaft bezaubert.Der Fluss Tamjin-gang, der Jangheung-eup durchquert, stößt an den Fuß des Berges Eokbul-san, biegt dort in Richtung Südwesten ab und fließt in den Nachbar-kreis Gangjin-gun. Von dort aus liegt vor ihm noch eine Strecke von 51,5km bis zur Südküste, die er ruhig dahinfließt. Aber viele Bewohner von Jangheung meinen,

Vor dem Arbeitszimmer des Schriftstellers Han Seung-won, das nicht weit vom Strand entfernt ist, befindet sich noch ein schlicht-stilvolles, kleines Gebäude. Die Kreisbehörde von Jangheung-gun hat es dem Schriftsteller zur Verfügung gestellt. Es soll als Ort dienen, wo er sich mit Literaturliebhabern unterhalten und auch Vorträge halten kann.

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dass der Tamjin-gang keineswegs nur ein ruhiger Fluss sei. Der Fluss berge nämlich die Erinnerungen an die traurigen Ereig-nisse in der Geschichte Koreas wie den Donghak-Bauernaufstand und den Korea-krieg, die er wie Tränen mit sich führe. Es ist ein Fluss der Tränen der armen, einfachen Bauern, die seit vielen Generati-onen hier lebten und denen nur die Land-wirtschaft blieb, auch wenn der Ackerbo-den nicht ausreichte; ein Fluss der bitteren Tränen, die diese Bauern während langer Dürren oder Hungersnöte und wegen der Misshandlung und Despotie von Seiten der Feudalherren und Beamten vergossen;

ein Fluss der Blutströme derer, die an die Fesseln der Geschichte gekettet waren. Der über 70-jährige Han Seung-won, Sohn eines Donghak-Anhängers dieses Ortes, erklärt, dass seine Erzählungen in der Geschichte des mühevollen und dornigen Lebens der Menschen von Jangheung wurzeln.Han Seung-won wohnt im Dorf Yulsan in Anyang-myeon, das nicht weit vom Strand liegt. Im Wohnhaus verbringt meist seine Frau die Zeit, die auf dem Berg hinter dem Haus Teeblätter sammelt und eigenhän-dig aufbereitet, während sich Han selbst den größten Teil seiner Zeit in seinem

Arbeitszimmer aufhält, das sich in einem vom Wohnhaus etwas entfernt liegenden Gebäude befindet. Davor steht ein wei-teres, schlicht-stilvolles, kleines Gebäude. Die Kreisbehörde von Jangheung-gun hat es dem Schriftsteller zur Verfügung gestellt. Es soll als Ort dienen, wo er sich mit Literaturliebhabern unterhalten und auch Vorträge halten kann.Jangheung-gun ist der einzige Kreis in Korea, der zur „Literatur-Tourismus-Zone“ erklärt wurde. Das heißt, dass Jangheung Literatur als regionales Spe-zialprodukt fördert. Daher stehen hier Geburtshäuser von Schriftstellern unter Schutz und werden renoviert, es wurden Literaturwege angelegt und am Berg Cheongwan-san, der als schönster Berg der Gegend gilt, wurde ein Literaturpark mit einem Literaturmuseum eingerichtet.Die Literatur von Jangheung wurde von Baek Kwang-hong, einem Dichter des 16. Jahrhunderts, und Wi Baek-kyu, einem Gelehrten der Pragmatischen Lehre des 18. Jahrhunderts, der viele Bauerngedichte schrieb, weitergegeben. Jangheung hat im Vergleich zur Gesamt-einwohnerzahl einen sehr hohen Anteil an Literaten: Derzeit gibt es etwa 80 Dichter bzw. Schriftsteller. Darunter auch nam-hafte Schriftsteller wie Song Ki-sook, Lee Seung-woo und Han Seung-won. Jang-heung stellt diese drei Schriftsteller und den 2008 verstorbenen Lee Chung-jun als die vier repräsentativsten Literaten vor und macht damit allgemein bekannt, dass Janheung eine Wiege der koreanischen Literatur ist.Song Ki-sook und Han Seung-won haben Romane geschrieben, die vom Donghak-Bauernaufstand handeln. Ihre litera-rischen Welten ähneln sich in dem Punkt, dass beide mit scharfen Augen die Wider-sprüche der Gesellschaft betrachten, die sich Leben der koreanischen Bauern widerspiegelten. Lee Chung-jun hat sich mehr für das Stadtleben interessiert und ist in die Details der Unterdrückung des Menschen und der Reaktionen des Indivi-duums darauf gegangen. Lee Seung-woo, der etwa 20 Jahre jünger als die anderen drei Schriftsteller ist, gilt als Schriftsteller,

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der ontologische Fragestellungen des Menschen thematisiert. Der französische Literatur-Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio bezeichnete ihn einmal als einen der aussichtsreichsten kore-anischen Kandidaten für den Literatur-Nobelpreis.Im Literaturpark am Berg Cheongwan-san sind den langen Spazierwegen ent-lang große Steintafeln aufgestellt, die die Essenz der repräsentativsten literarischen Werke Koreas präsentieren, und die Auto-ren vorstellen. Die Spazierwege sind so angelegt, dass die koreanische Literatur während des Rundgangs dem Besucher quasi wie von selbst ins Gedächtnis hinein-spaziert. Im Literaturmuseum werden die Welten der Literaturwerke der aus Jang-heung stammenden Schriftsteller vorge-stellt. Es gibt auch eine Bibliothek, in der man die Werke gleich suchen und lesen kann, sowie mehrere Seminarräume.

Der neue Name „Jeongnamjin“Nach Jangheung gibt es keine Zugverbin-dung, weshalb der Bus das einzige öffent-liche Verkehrsmittel ist, das das Gebiet mit der Außenwelt verbindet. Obwohl Jangheung ans Südmeer grenzt, gibt es nur Schiffe, die bis zu den nahe gelegenen Inseln fahren, aber keine, die weite Stre-cken zurücklegen. Das Meer ist hier wie

der Fluss Tamjin-gang äußerst ruhig. Die Halbinsel Goheung, eine lange breite Landzunge, fungiert nämlich wie ein Wel-lenbrecher. Das Meer liefert daher auch nicht viele Meeresprodukte. Trotzdem ist es reich an Aalen (Muraenesox cinereus) und Kraken und bei Ebbe finden sich viele verschiedene Muscheln im riesigen Watt.Zieht man auf der Landkarte von der Stadt-mitte Seouls in Richtung Süden eine gerade Linie, stößt man auf Jangheung. Daher bezeichnen die Beamten der Kreisbehörde von Jangheung-gun ihren Strand auch als „Jeongnamjin“, als „Strand der sich gera-deaus in Richtung Süden befindet“. Dieser Name wurde von „Jeongdongjin“, „Strand, der sich geradeaus in Richtung Osten befin-det“, abgeleitet, einem Gebiet in der Provinz Gangwon-do, das ein beliebtes Touristenziel ist. Dahinter steht der Wunsch, dass der Strand von Jangheung genauso viele Aus-wärtige anziehen möge wie Jeongdongjin. Es ist tatsächlich zu erwarten, dass die Zahl der Besucher in Jangheung in Zukunft steigen wird.Jeder Besucher wird hier am Strand, so wie ich, von der gelassenen und fried-lichen Landschaft fasziniert werden. Es ist ein idealer Ort, um über Vergangenes zu reflektieren und in sich selbst zu versen-ken. Solche Orte gibt es nicht viele auf der Welt.

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1 Das Alte Haus von Jonjae in Bangchon-ri, Gwansan-eup (Wichtiges Folkloregut Nr. 161) ist das Geburtshaus von Wi Baek-gyu, auch als Jonjae bekannt, einem Pionier der Silhak-Lehre des Praktischen Wissens. Im Außenhof befindet sich ein Teich.

2 Eine steinerne Totemfigur im Dorf der Traditio-nellen Kultur in Bangchon-ri, Gwansan-eup

3 Nampo, in Yongsan-myeon, Jangheung-gun, wurde als Drehort des Films Festival (1996) bekannt, der auf einem Roman des in Jang-heung geborenen Schriftstellers Lee Chung-jun basiert.

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KÜCHE

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Toransuppe ein gesundes Chuseok-FesttagsgerichtToransuppe aus Toran der neuen Ernte (Toran: Taro, Colocasia antiquorum var. esculenta) und Song-pyeon (gefüllte, halbmondförmige Reiskuchen) aus Reis der neuen Ernte, sind Spezialitäten, die man an Chuseok (Erntedankfest; der 15. Tag des achten Mondmonats) genießen kann. Für die Suppe gibt es zwei Zubereitungsmöglichkeiten: leicht dickflüssig mit viel Wildsesampulver oder als klare Brühe. Hier wird die klare Toransuppe mit vielen verschiedenen Meeresfrüchten vorgestellt.

Shim Young Soon Leiterin des Shim Young-soon Korean Food Research Institute, Autorin des Buches Best Tastes of Korean Food

Fotos: Ahn Hong-beom

oransuppe ist ein repräsentatives Gericht, das an den Chuseok-Feiertagen gern in Seoul und der

umgebenden Provinz Gyeonggi-do geges-sen wird. Es empfiehlt sich, an Chuseok, wenn mehr fettige Speisen als an anderen Tagen gegessen werden, ein Tarogericht zu servieren, weil Taro Magen und Darm anregt und bei Verdauungsstörungen hilft. In der Provinz Jeolla-do wird Taro zu Toransuppe, „Torantang“ gekocht und in verschiedenen Städten der Regi-on Yeongnam (Provinz Gyeongsang-do) gehört Torantang auch als Opfergabe auf die Ahnenverehrungstafel. In der koreanischen Küche ist „Tang“ zwar ein gehobenes Wort für „Kuk“ (Suppe), aber man muss die beiden Begriffe kon-zeptuell differenzieren: Im Gegensatz zur Kuk, die bei einer Mahlzeit zusammen mit Reis und verschiedenen Beilagen serviert wird, ist Tang ein eigenständiges Gericht.

Toran: Merkmale und Geschichte Toran bzw. Taro wird vorwiegend in tropischen und subtropischen Gebieten angebaut und gedeiht in feuchten Niede-

rungen. Die Pflanze wird ca 80-120 cm groß. Nur die Knollen, die den dicksten Teil der Pflanze bilden, werden geerntet und sind als Taro bekannt. Die dicken, ovalen Blätter, die rund 30-50cm lang und 25-30cm breit sind, werden von den Kin-dern auf dem Land, wenn sie vom Regen überrascht werden, zum Spaß auch als Schirme verwendet. Der botanische Name der Taropflanze oder CoCoyam ist Caocasia. Die Bezeich-nung stammt aus dem Arabischen und ist eine Zusammensetzung aus Colon (Pflan-ze) und Casein (Schmuck, Dekoration). Sie erklärt sich daher, dass die Wurzeln gegessen wurden und die Blumen als Schmuckwerk dienten. Als Herkunftsort dieser Pflanze vermu-tet man die Region von Nordindien über Burma, Malaiische Halbinsel, Südchina bis zu den tropischen Regionen Süd-ostasiens. In der Vergangenheit wurde in Korea Taro in der südlichen Region des Landes um die Stadt Jinju angebaut. Heutzutage wird auch in Gwangju, Icheon und Gimpo in der Provinz Gyeonggi-do sowie in Gwangju in der Provinz Süd-

Jeolla-do Taro kultiviert. Es lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, wann die Taropflanze nach Korea gekommen ist und ab wann sie geges-sen wurde. Nachweisbar ist lediglich, dass Taro schon seit der Goryeo-Zeit (918-1392) als Zutat verwendet wurde, da er in verschiedenen historischen Auf-zeichnungen der Zeit wie im Hyangyak-gugeupbang (Kompilation der Volksme-dizin und Arzneimittel für Notfälle, 1236) genannt wird.

Inhaltsstoffe und WirkungTaro wurde schon seit alters her als Heilmittel genutzt, da er die Körperhitze senkt, Magen und Darm auf Trab bringt, Entzündungen lindert und auch gegen Schmerzen wirkt. Taro ist ein alkalisches Nahrungsmittel, das eine hauptsäch-lich fleischzentrierte Ernährung ausgleicht und auch eine ausgezeichnete diu-retische Wirkung besitzt. Da Taro viel Melatonin, ein natürliches schlaf-

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Die Zutaten für Torantang (links), eine herzhafte, klare Taro-Suppe (links außen).

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förderndes Mittel, enthält, hilft er auch bei Schlafstörungen. Der klebrig-schleimige Saft des Taro, die Muzine, bestehen aus Eiweiß und Zucker. Die Muzine stärken die Funktion von Leber und Nieren. Auch haben sie eine Antioxydanswirkung, kurbeln die Verdau-ung von Eiweiß an und aktivieren so das Zellwachstum. Außerdem verlangsamen die Muzine die Kohlenhydrataufnahme und verhindern dadurch, dass der Körper zu viel Fett speichert. Taro wirkt auch vor-beugend oder heilend bei durch übermä-ßigen Genuss von Alkohol oder Speisen verursachten Magenbeschwerden oder Durchfall. Taro enthält hauptsächlich Kohlenhy-drate, vor allem Stärke, wobei Dextrin und Zucker für den süßen Eigengeschmack sorgen. Weitere Inhaltsstoffe sind Prote-ine, Fette, Balaststoffe, Kohlenhydrate, Mineralstoffe wie Phosphor, Salz, Calcium und Kalium, sowie Vitamine wie Vitamin C, B1, B2 usw. Seetang erhöht die medi-

zinische Wirkung des Taro. Im Seetang sind Stoffe wie Algin und Jod enthalten, die verhindern, dass Calciumoxalat und andere schädliche Stoffe vom Körper aufgenommen werden. Auch entfer-nen sie unangenehme Gerüche. Zudem macht der Geschmack des Seetangs den Geschmack des Taros noch aromatischer.

Stängel und BlätterTaro ist leicht zu kultivieren. Wenn man die Setzlinge im Frühjahr pflanzt, kann man die Knollen, wenn das Wetter kälter wird, ernten. Ungeschält lassen sich die Taroknollen auch gut lagern. Auch die Stängel und Blätter des Taro wurden seit alter Zeit geschält, getrocknet und aufbe-wahrt, um sie im Winter, wenn es kaum Gemüse gab, als Zutat zu verwenden. Die getrockneten Tarostängel wurden bei Bedarf in Wasser eingeweicht, gekocht und entweder mit verschiedenen Gewür-zen gebraten oder als Zutat für Yukgae-jang (scharfe Rindfleischsuppe mit Gemü-

Taro ist ein alkalisches Nahrungsmittel, das eine hauptsächlich fleischzentrierte Ernährung ausgleicht und bei Verdauungsproble-men hilft. Deswegen empfiehlt es sich, auf der Chuseok-Tafel, die mit vielen fettreichen Speisen gedeckt ist, auch ein Torangericht zu servieren.

Die breiten, dicken Blätter der Taropflanze kann man essen, wenn man sie klein schneidet und leicht in Öl brät.

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se) oder Chueotang (scharfe Schmerlen-suppe) verwendet. Aus frischen Tarostän-geln werden auch Gemüsebeilagen zube-reitet. Die großen und dicken Taroblätter kann man in Streifen schneiden und wie die Stängel mit Gewürzen gebraten essen; oder aber man brät sie leicht in in Öl und wickelt Reis in die Blätter ein.

ZubereitungBeim Schälen der Taroknollen empfiehlt es sich, Schutzhandschuhe zu tragen, da es bei direktem Hautkontakt zu Allergien kommen kann. In solchen Fällen sollte man die Hände mit Salzwasser waschen, was die allergische Reaktion schnell lindert.Wie bereits erwähnt, enthält Taro Cal-ciumoxalat (Homogentisinsäure und Oxalsäure mit Calcium), was ihm sei-nen besonderen, leicht stechenden Geschmack verleiht. Im ersten Zuberei-tungsschritt sollte man die Taroknollen

in Wasser, das man beim Reiswaschen gewinnt, kochen, denn die Phospholi-pide und das Eiweiß, die im Reis-wasser enthalten sind, beseitigen das Calciumoxalat und auch die Neben-gerüche. Eine andere Methode ist, die Taroknollen mit Gewürzen wie Zwiebeln, Lauch, Knoblauch usw. zu kochen, was den starken Eigengeruch ebenfalls verrin-gern hilft. Der besondere Reiz von Torantang besteht darin, die Suppe zu gleichen Teilen aus Brühe und Zutaten zuzubereiten und beim Essen die Zutaten aus der Brühe zu fischen und getrennt zu essen. In den meisten Fällen wird Torantang mit Wild-sesampulver etwas dickflüssiger gekocht, da der Wildsesam den eigenartigen Geruch des Toran abmildert. Hier wird die klare Toransuppe mit vielen verschie-denen Meeresfrüchten vorgestellt.

Zubereitung von Torantang

Zutaten

300g Taro, 3 große Garnelen, 1 Seegurke, 1 Seeohr, 1/4 Bam-

bussprosse, 5 getrocknete Jujuben, 5 Kastanien, 2 Shiitake-Pilze, 2

frische Chili, Zwiebel, Lauch, Knoblauch, Cheongjang (leichte Soja-

soße), Sojasoße, Suppenbrühe (gekocht mit einem Stück getrockne-

tem Seetang, getrockneten Krabben und Anschovis), Sesamöl

Zubereitung

1 Die Taroknollen mit einer angemessenen Menge von Zwiebeln,

Lauch und Knoblauch kochen, in kaltem Wasser abspülen und in

mundgerechte Stücke schneiden. Danach in 1TL Cheongjang, 1TL

Sojasoße, 1/2 Becher (118,3ml) Suppenbrühe und 1/4TL Sesamöl

schmoren.

2 Die Garnelen mit Schale leicht kochen, schälen und in mundge-

rechte Stücke schneiden. Die vorgequollene Seegurke in mund-

gerechte Stücke, das Seeohr in etwas dickere Stücke schneiden.

Diese Zutaten mit Sojasoße, Salz, etwas Zwiebelsaft und Knob-

lauchsaft in Öl braten.

3 Die Bambussprosse in dünne, 4cm große Stücke, die Shiitake-

Pilze in dickere Stücke schneiden und zusammen mit den gevier-

telten Chilischoten, Zwiebeln und Knoblauchsaft leicht in Öl braten.

4 Die Kastanien kochen und schälen, die Jujuben entkernen und

halbieren.

5 Wenn die Suppenbrühe im Topf kocht, alle vorbereiteten Zutaten

hineingeben, leicht aufkochen und mit Cheongju (Reiswein), Salz

und Sojasoße abschmecken.

Meeresfrüchte und Gemüse werden getrennt in Öl gebraten; anschließend kommen Zwiebel- und Knoblauchsaft hinzu.

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Eine Wiedervereinigung im Kleinen und Stillen

Marc Ziemek Ehemaliger Repräsentant der Konrad-Adenduer-Stiftung in Seoul

Über kurz oder lang wird die koreanische Halbinsel Frieden und Versöhnung erfahren und Koreaner aus dem Süden und Norden werden dann wieder als ein Volk vereint sein. Be-

reits jetzt vollzieht sich aber von der breiten Öffentlichkeit fast unbemerkt in Südkorea schon eine Wiedervereinigung im Kleinen und Stillen.Während sich das allgemeine Interesse eher auf die Aktivitäten von Pjöngjang konzentriert, haben sich bereits mehr als 15.000 nordkoreanische Flüchtlinge in Südkorea landesweit nieder-gelassen. Deren erfolgreiche Integration stellt einen wichtigen Schritt in Richtung einer zukünf-tigen friedlichen Wiedervereinigung dar. Gleichermaßen ist dieser Integrationsprozess auch eine Herausforderung, eine Chance und ein langer Lernprozess für alle Beteiligten. Seit der ersten Flüchtlingswelle Anfang der 1990er Jahre ist die Anzahl der nordkoreanischen Zuwanderer dra-matisch angestiegen. Während es am Anfang weniger als 100 pro Jahr waren, ist ihre Anzahl über die Jahre um ein Vielfaches stetig angestiegen. Sieht man dies im Verhältnis zu der insgesamt 49 Millionen Menschen umfassenden Gesamtbevölkerung Südkoreas, so ist die Zahl der nordkorea-nischen Flüchtlinge aber „noch“ relativ gering. Die meisten von ihnen leben zudem ein isoliertes und unbemerktes Leben am Rande der Gesellschaft. Viele Südkoreaner sind sich dieser Situation gar nicht bewusst, während ein großer Teil aber einfach auch nur indifferent gegenüber der all-gemeinen Wiedervereinigungsdiskussion ist. Dies betrifft vor allem die jüngeren Generationen, welche das ehemals geeinte Korea nur aus Geschichtsbüchern kennen.Ich kann mich noch sehr gut an meine ersten Begegnungen mit nordkoreanischen Flüchtlingen im staatlichen Auffang- und Integrationslager Hanawon erinnern. Diese Begegnungen prägten mein Engagement und meine Arbeit der letzten drei Jahre für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Südkorea maßgeblich. Im Sommer 2006 wurde ich eingeladen, in Hanawon vor nordkorea-nischen Flüchtlingen über die deutschen Wiedervereinigungserfahrungen zu sprechen. Der Be-such dieser Institution stimmte mich zum einen traurig, motivierte mich aber gleichzeitig auch. Innerhalb von zwei Monaten erhalten hier die Neuankömmlinge eine erste psychologische und ärztliche Betreuung sowie relevante Schulungen, welche ihnen das Leben in Südkorea erleichtern sollen. Viele der Flüchtlinge wirken zunächst noch verunsichert und eingeschüchtert und wissen nicht so recht, was sie hier in der Demokratie und Freiheit erwarten wird.Zweifellos stellt die Integration nordkoreanischer Flüchtlinge eine große Herausforderung für die südkoreanische Gesellschaft dar. Zwar werden auch jetzt schon die Neuankömmlinge willkommen geheißen und von der südkoreanischen Regierung unterstützt, aber mehr als ein halbes Jahrhundert Trennung und mangelnder Informationsaustausch über den 38. Breitengrad hinweg fordern ihren Tribut. Vorurteile, Missverständnisse und Desinteresse sind die Folge und stellen eine große Hürde für die Integration dar. Ganz anders als im deutschen Fall, wo Familien durch Medien, Briefverkehr und Besuchspro-gramme auf beiden Seiten informiert waren, wissen Nord- und Südkoreaner relativ wenig über den jeweils anderen. Zudem standen sich West- und Ostdeutsche auch niemals in einer kriege-rischen Auseinandersetzung gegenüber, was die koreanische Teilung noch extremer macht. In

BLICK AUS DER FERNE

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den letzten Jahren konnten zwar viele Nordkoreaner über südkoreanische Fernsehserien oder auch durch Hörensagen einiges über das Leben im Süden erfahren, aber ein klares und vor allem realistisches Bild vom Leben in Südkorea haben die wenigsten Flüchtlinge. Und auch Südkore-aner haben in der Regel keine Möglichkeit, sich ein klares Bild über den Alltag in Nordkorea zu machen. Zwar gab es bis vor kurzem noch - und vielleicht auch bald wieder - die Möglichkeit touristische Grenzgebiete, wie das Keumgang Gebirge oder Kaesong Stadt zu besuchen, dies er-laubte aber weder einen tatsächlichen Austausch mit Nordkoreanern noch irgendwelche grund-legenden Einblicke in die Alltagsgeschehnisse. Die jahrzehntelange Trennung führte zudem dazu, dass fast alle persönlichen und familiären Kontakte verstorben sind. Umso wichtiger ist es daher, dass vor allem die jüngeren Generationen für die Situation der Teilung sensibilisiert werden.Die größte Herausforderung für nordkoreanische Immigranten in Südkorea stellt die Anpassung an das neue politische und wirtschaftliche Umfeld dar. Ihre bisherige Sozialisation, ihr anderer Bildungshintergrund, ihre meist unzureichenden Kenntnisse neuer Technologien und auch Artikulationsprobleme sind schwer überwindbare Hürden. Vielen Neuankömmlingen fehlt es zudem an der nötigen Eigeninitiative und Motivation sowie der Fähigkeit, einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden und diesen auch zu halten. Leider sind besonders die jüngeren Nordkore-aner, welche etwa 20 Prozent aller Flüchtlinge ausmachen, hiervon stark betroffen. Ein weiterer Faktor, welcher die soziale Integration und hierdurch auch die soziale Mobilität in der Gesell-schaft behindert, ist Bildung. Vermutlich spielt in keiner anderen Gesellschaft der Welt Bildung, neben dem sozialen Netzwerk, eine so große Rolle für den persönlichen und beruflichen Erfolg wie in Südkorea. Hiervon sind vor allem auch Randgruppen wie die nordkoreanischen Flücht-linge betroffen, von denen viele noch nicht mal ihre Ausbildung in Nordkorea beendet oder aber mehrere Jahre auf der Flucht verbracht haben. Diese Umstände sowie die Unfähigkeit, außer-schulische Bildungsangebote finanzieren zu können, um hierdurch konkurrenzfähig im korea-nischen Bildungssystem bleiben zu können, erschweren gerade die Integration nordkoreanischer Studenten und Schüler in Südkorea.Auf der Suche nach geeigneten Maßnahmen, eine möglichst nachhaltige Integration nordkore-anischer Flüchtlinge in Südkorea zu gewährleisten, initiierte ich in den letzten Jahren eine Reihe von Programmen. Hierzu zählten Motivations- und Integrationsworkshops für Nordkoreaner, Annäherungsworkshops in Schulen zusammen mit nordkoreanischen Flüchtlingen und vor allem die Mentorenprogramme für nord- und südkoreanische Studenten. Besonders diese letzt-genannten Programme liegen mir besonders am Herzen, da sie zum einen dort ansetzen, wo die Hilfe tatsächlich gebraucht wird, und zum anderen, weil die persönlichen Schicksale dieser jun-gen Menschen sehr bewegend sind. Das Mentorenprogramm, welches ich als Repräsentant der Konrad-Adenauer-Stiftung zusam-men mit einer koreanischen Partnerorganisation durchführte, hat das Ziel, nordkoreanische Ju-gendliche besser in die südkoreanische Gesellschaft zu integrieren. Südkoreanische Universitäts-studenten partizipieren dabei unentgeltlich in diesem Programm und stehen nach einer ersten Einweisung ihren nordkoreanischen Altersgenossen als Mentoren nicht nur bei akademischen Fragestellungen zur Seite, sondern führen diese vor allem auch in die südkoreanische Gesell-schaft ein. Sie kümmern sich persönlich um ihre Schützlinge wie ein älterer Bruder oder eine ältere Schwester. Mittlerweile wurden bereits mehr als 200 Paare gebildet und zahlreichen nordkoreanischen Stu-denten wurde die Integration in die südkoreanische Gesellschaft ermöglicht oder aber erleichtert. Im Kleinen und Stillen wurde so ein wesentlicher Beitrag dazu geleistet, die Wiedervereinigung weiter voranzutreiben. Hoffen lässt auch das selbstlose und positive Engagement der südko-reanischen Studenten, dass eine zukünftige Wiedervereinigung doch reibungsloser verlaufen könnte, als viele derzeit annehmen.

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LEBEN

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Die Gäste können den wunderbaren Ausblick genießen, der sich aus dem Fenster der großen Holzfußboden-diele in den Herrengemächern des Anwesens von Yun Jeung in Nonsan, Provinz Chungcheongnam-do, bietet.

Eine neue Art der Reise für Stadtbewohner – Leben in einem traditionellen Hanok - Haus auf dem Land

Es ist Frühsommer und das Konzert der Regentropfen, die von dem mit den tradi-tionellen Giwa-Dachziegeln gedeckten Dach fallen, beginnt. Ich öffne die mit Papier bespannte Schiebetür und lausche dem klaren und eleganten Klang der Tropfen, die

vom Dachvorsprung in den Garten fallen. Irgendwo draußen singt ein Kuckuck und fügt den Tönen der Wassertropfen eine einsame, aber zarte Melodie hinzu. Aus dem Schornstein steigt weißer Rauch auf und das in der Feuerstelle brennende Feuerholz beginnt über die traditi-onelle Fußbodenheizung Ondol den Boden zu wärmen. Wo bin ich? Ich bin in einem kleinen gemütlichen Zimmer eines alten traditionellen Hauses. Es ist zwar nur ein Tag, aber ich bin dabei, das Leben in einem alten Hanok-Haus zu erfahren.

Hanok-Häuser: Wahrer stolzer AbstammungDie motivierende Kraft, die die alten Hanok-Häuser inmitten des rasanten Wachstums und der Modernisierung der koreanischen Gesellschaft standhalten lässt, ist die konfuzianische Kultur. Eine der Kardinaltugenden des Konfuzianismus ist das Prinzip der kindlichen Pietät. Selbstverständlich ist Respekt gegenüber den Eltern eine universale Tugend, doch in Korea dauert die intergenerationale Beziehung auch nach dem Tod der Eltern noch weiter an. Die Pflicht, die Vorfahren durch Zeremonien zu verehren, wird jeweils vom ersten Sohn auf den ersten Sohn übertragen. Die Familie des ersten Sohns, die die traditionelle Pflicht übernom-men hat, nennt man Jongga (Stammfamilie). Viele der Hanok-Häuser, die heute noch existie-ren, sind Häuser von solchen Stammfamilien.In der Joseon-Zeit (1392-1910) besaßen die Stammfamilien viel Land, das sie verpachteten, so dass sie sich mit den Pachteinnahmen große Anwesen leisten und ihren Ahnenverehrungs-pflichten nachkommen konnten. Aber infolge der Bodenreform Mitte des 20. Jahrhunderts verloren die Stammfamilien ihre wichtigste Einkommensquelle und fielen auseinander. Einige machten sich auf die Suche nach einem neuen Leben und zogen in die Großstädte wie Seoul,

E

Unter den Koreanern von heute erfreuen sich neuartige Reiseprogramme immer größerer Beliebtheit, bei denen man in alten Hanok-Häusern (traditionelles ko-reanisches Haus), vor allem in traditionellen Stammfamilien-Häusern (Haus der Familie des ersten Sohnes in direkter Abstammungslinie) übernachtet. Häuser, die die Struktur traditioneller Hanok-Häuser aufweisen, sind zwar auch in Seoul leicht zu finden, doch es gibt nicht viele Hanok-Häuser, die auch tatsächlich noch bewohnt sind. Um traditionelle Häuser, die noch wahrhaft Leben atmen, kennen zu lernen, muss man Seoul verlassen und in die Provinz-Kleinstädte oder aufs Land fahren.

Charles La Shure Professor, Graduate School of Interpretation and Translation, Hankuk University of Foreign Studies

Fotos: Ahn Hong-beom

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andere blieben in ihren Heimatorten, wo ihre Familien und Häu-ser jedoch den einstigen Glanz verloren.Zurzeit setzt sich die Regierung für die Wiederbelebung dieses wertvollen Erbes ein und unterstützt die Rückkehr der ver-sprengten Nachkommen in ihre Heimatorte. Sie empfangen heute Gäste in ihren Häusern, ermöglichen diesen, das Leben in einem traditionellen Hanok-Haus zu erfahren, und bieten auch Kulturprogramme an, durch die die Besucher traditionelle Spiele, Gerichte und Lebensweisen kennen lernen können.

Eleganter ReizDie Koreanische Tourismuszentrale KTO (Korea Tourism Organi-zation) stellt auf ihrer koreanischen Webseite Informationen über solche Hanok-Häuser bereit. 39 von landesweit 68 traditionellen Stammfamilien-Häusern befinden sich in der Provinz Gyeong-sangbuk-do. Das geht darauf zurück, dass in dieser Region die konfuzianische Kultur immer noch sehr stark respektiert wird. Viele Hanok-Häuser in Gyeongsangbuk-do bieten diverse Kultur-programme an wie traditionelles Frühstück, Lernen der traditio-

nellen Teezeremonie Dado, Anprobieren der traditionellen korea-nischen Tracht Hanbok, Töpfern, verschiedene traditionelle Spiele usw. In manchen Häusern wird auch die Gelegenheit geboten, bei den Ahnenverehrungszeremonien zuzusehen, was Einblick in diverse Aspekte der traditionellen Kultur der Stammfamilie gibt wie überlieferte Gerichte und Kleidung, Architektur u.ä. Einige Familien nutzen auch die noch weitgehend erhaltene natürliche Umgebung der Häuser und haben Naturerlebnisprogramme aufgestellt, die Kindern die Gelegenheit schenken, Pflanzen, Tiere und Insekten zu beobachten, die in den Großstädten nicht zu sehen sind.Die Zahl der Koreaner, die die Attraktivität der alten Hanok-Häu-ser entdeckt haben, steigt jährlich an. Der größte Reiz, den die Stadtbewohner in einem Hanok-Aufenthalt sehen, liegt darin, der erstickenden und komplizierten Stadt zu entfliehen und in einen Raum zurückzukehren, in der Natur und Zeit noch ursprüng-lich sind. Nach einer Umfrage, die das Architecture and Urban Research Institute im Mai 2008 landesweit unter 1.007 erwach-senen Männern und Frauen durchführte, nannten 35,5 % der

Nach einer Umfrage, die das Architecture and Urban Research Institute im Mai 2008 landesweit unter 1.007 erwachsenen Männern und Frauen durchführte, nannten 35,5 % der Befragten als Antwort auf die Frage, warum sie in einem Hanok-Haus wohnen wollen, „naturnahes Leben“, 27,0 % „gut für die Gesundheit“ und 23,5 % „ein Gefühl der Geborgenheit“. Warum ist das Leben in einem Hanok-Haus erstrebenswert und worin liegt der Reiz?

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Befragten als Antwort auf die Frage, warum sie in einem Hanok-Haus wohnen wollen, „naturnahes Leben“, 27,0 % „gut für die Gesundheit“ und 23,5 % „ein Gefühl der Geborgenheit“.Ein Besucher, der im Hanok-Haus von Lee Man-hyeon, eines Gelehrten der Joseon-Zeit, in der Stadt Andong übernachtete, war sehr zufrieden: „Nach einem Aufenthalt mit einmaliger Über-nachtung in einem ruhigen Hanok-Haus ist mein Kopf, in dem Durcheinander geherrscht hatte, wieder ganz klar geworden und ich fühle mich erfrischt.“Aber es gibt auch Besucher, die aus einem anderen Grund solch traditionelle Häuser besuchen. Zwei Frauen in den Dreißigern, die sich im Hanok-Haus von Kwon Cheol-yeon, eines Wissenschaft-lers der Joseon-Zeit, in der Stadt Chunyang, Provinz Gyeongsang-buk-do, aufhielten, hatten sich nach der Aufgabe ihrer Stellen zu einer zehntägigen Kulturreise zu traditionellen Hanok-Häusern aufgemacht, wobei sie hofften, etwas zu entdecken, was sie bis dahin in ihrem Alltagsleben verpasst hatten. Manche gründen auch Clubs fürs Lernen und Erleben traditioneller koreanischer Kultur und besuchen in ihrer Freizeit mit den Clubmitgliedern bedeutende kulturelle und historische Stätten im ganzen Land. Die Mitglieder eines anderen Clubs hielten sich in Hanok-Häu-sern im Dorf Gunja, das für sein reiches Kulturerbe bekannt ist und zur Stadt Andong gehört, auf und besuchten Veranstaltungen traditioneller Musik und Tänze.Doch die meisten Besucher sind Familien mit Kindern. Ein Ehe-paar, das mit seinen Kindern das Hanok-Dorf in der Stadt Jeonju, Provinz Jeollabuk-do, besuchte, sparte nicht mit Lob über das dortige Lernerlebnisprogramm: „Man kann hier viel unter-nehmen. Mit geringem Kostenaufwand kann die ganze Familie selbst Bibimbap (Reis, gemischt mit verschiedenen Gemüsen, Fleisch, Ei und Chilipaste) und Ssuktteok (Beifuß-Reiskuchen) zubereiten lernen, und wenn man sich vorher anmeldet, kann man auch traditionelle Etikette oder Handwerkskunst lernen. Es war eine wertvolle Erfahrung, durch die meine Kinder die Schön-heit und den Wert der Tradition, die sie bis dahin nur von den Bildern in den Schulbüchern kannten, selbst erleben konnten.“ Auch das Paar, das mit seinem Sohn einen Tag im Hanok-Haus des Joseon-Gelehrten Yoon Jeung in der Stadt Nonsan, Provinz Chungcheongnam-do, verbrachte, bedankte sich für die schöne Erfahrung: „Löwenzahn, viele Wildblumen, deren Namen wir nicht kannten, der kleine schöne Garten, den man vom Zimmer aus sehen konnte, die geometrischen Muster der Holzgittertüren, und unser Sohn, der sich das alles neugierig ansah... Es war eine wunderschöne Zeit, in der wir einen Schritt in Richtung auf eine

schöne Welt getan haben.“Die Besonderheit der alten Hanok-Häuser liegt darin, dass sie nicht nur zum Anschauen sind. Sie sind lebendige Museen und Wohnstätten, in denen die Nachfahren der einstigen Erbauer leben. Diese Nachfahren trinken mit den Besuchern Tee und tei-len auch bereitwillig mit jedem ihre Traditionen und Erfahrungen. An einem Frühsommerabend, als das Geräusch der vom Dach fallenden Regentropfen zu hören war, begann Herr Kwon, über sein Haus zu erzählen. Er ist der Urenkel von Kwon Cheol-yeon, eines Wissenschaftlers der Joseon-Zeit, der das Haus erbaute. Deswegen wird das Haus „Kwon-Cheol-yeon-Haus“ oder „Kwon-Jinsa-Haus“ (Jinsa: Beamtentitel der Joseon-Zeit) genannt. Nach der Bodenreform verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der Familie und Kwon zog bereits in jungen Jahren aus Ausbil-dungsgründen nach Seoul. Die Tradition der Ahnenverehrung wurde zwar weitergeführt, doch das Hanok-Haus stand 16 Jahre lang leer.Eines Tages machte die Regierung Kwon einen besonderen Vor-schlag: Wenn er bereit sei, auf den Familienstammsitz zurückzu-ziehen und das Anwesen für Personen, die etwas über das Leben

1 Vorratskrüge mit fermentierten Soßen und Pasten werden an einem sonnigen Fleckchen hinter den Frauengemächern des Anwesens von Yun Jeung aufbewahrt. Die Geheimrezepte der Familie wurden von Generation zu Generation weitergegeben.

2 Gäste im Seonbichon, dem Dorf der Gelehrten in Yeongju, Provinz Gyeong-sangbuk-do, hängen nach dem Färben mit Naturfarben ihre selbst gefertig-ten Werke auf. Seonbichon ist ein Kultur- und Geschichtsthemenpark mit 12 traditionellen Hanok-Häusern, die man rekonstruiert hat.

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in einem traditionellen Hanok-Haus erfahren möchten, zu öffnen, dann würde die Regierung die notwendigen Renovierungsarbeiten unterstützen. Er nahm den Vorschlag an und empfängt nun schon im dritten Jahr Gäste in seinem Haus. Im ersten Jahr gab es nur etwa 50 Besucher, doch im zweiten Jahr schnellte die Zahl auf 200 hoch. Im laufenden dritten Jahr erwartet er noch mehr Besucher.Kwon überlegt sich oft, warum so viele Koreaner alte Hanok-Häuser reizvoll finden. Er ist der Meinung, dass es den Koreanern bewusst geworden ist, dass heutzutage die traditionellen Werte der koreanischen Gesellschaft, insbesondere die konfuzianischen Werte wie kindliche Pietät, infolge der rasanten Industrialisie-rung allmählich am Verschwinden begriffen sind. Er erklärt das steigende Interesse der Koreaner an Erlebnisprogrammen in alten Hanok-Häusern wie folgt: „Plötzlich wird einem bei der Kin-dererziehung die Wichtigkeit der Betonung der kindlichen Pietät bewusst. Dieser Gedanke basiert grundlegend auf dem Geist des Konfuzianismus. Die Regierung und die Medien streichen zurzeit immer wieder die Kultur der traditionellen Hanok-Häuser heraus und ich glaube, dies hat dazu beigetragen, das Interesse der Koreaner zu wecken.“Herr Lee, der Hausherr des Lee-Man-hyeon-Hauses, das auch „Chiam-Haus“ genannt wird, vertritt eine ähnliche Meinung wie Kwon über die traditionellen konfuzianischen Werte. Das Haus von Lee Man-hyeon befindet sich in der Stadtmitte von Andong. Da die Stadt Andong bereits seit langem bei Reisenden, die sich für traditionelle Kultur interessieren, sehr beliebt ist, zieht das Haus auch Jahr für Jahr zahlreiche Besucher an. Es ist zwar erst drei Jahre her, dass die Regierung die Renovierung des Hauses unterstützte, aber im Jahresdurchschnitt besuchen bereits 5.000 Kulturinteressierte das Haus. Lee nennt fünf Gründe für die Beliebtheit der alten Hanok-Häuser: das über den einfachen Tou-rismus hinausgehende Interesse der Reisenden für Kultur; der Wunsch der Eltern, ihren Kindern etwas Besonderes, was sie in den Großstädten nicht lernen können, näher bringen zu wollen; das Mehr an freier Zeit durch die Einführung der Fünftagewo-che; die Diversität der traditionellen Hanok-Häuser (keins soll dem anderen genau gleichen) und das allgemeine Interesse der Koreaner an traditioneller Kultur wie der konfuzianischen Kultur, die dazu beitrug, dass die alten Hanok-Häuser von Generation zu Generation bis heute aufrechterhalten werden konnten.Lee fügt noch hinzu, dass das derzeitige Interesse für alte Hanok-Häuser nur die Spitze des Eisbergs sei: „Bislang interessierte man sich nur für das Äußere des Hauses, aber künftig werden die Besucher darüber hinaus versuchen, das Leben, das dieses Haus prägt, also die Kultur, kennen zu lernen und zu verstehen.“ Er ist davon überzeugt, dass dann die traditionellen Häuser nicht nur als Relikte vergangener Zeiten, sondern auch als eine Form lebendiger traditioneller Kultur breite Beliebtheit bei den Men-schen von heute erlangen werden.

Durch die Vergangenheit in die ZukunftLee betont die Wichtigkeit der konfuzianischen Werte in der

gegenwärtigen Gesellschaft. Er erklärt dabei vor allem die Grund-idee von „Daedong (die große Solidarität)“ und „In (Humanität)“, die auf dem Gedanken basieren, dass alle Menschen gemeinsam glücklich leben und die Interessen der Gemeinschaft Vorrang vor den Interessen des Einzelnen haben sollen. „Das sind Werte, ohne die es nach Meinung der Zukunftsforscher im 21. und 22. Jahrhundert keine glückliche Welt geben kann.“ Er zeigt auf die Holztafel an der Wand, auf der das Familienmotto „Donhu-Gapung (Aufrichtigkeit)“ eingraviert ist, und erklärt: „Aufrichtig-keit ist das Motto meiner Familie, das von Generation zu Gene-ration weitergegeben wird.“ Er ist stolz auf seinen Urgroßvater, der, als die armen Pächter unter Nahrungsmittelknappheit litten, seine Vorratskammern öffnete und die Mahlzeiten der Familie auf zwei pro Tag beschränkte.Wie es für alle Kulturen der Fall sein dürfte, so besteht auch in Korea heutzutage der Konflikt zwischen dem Streben nach einer neuen Zukunft und dem Bewahren überlieferter Traditionen. Die moderne koreanische Geschichte war eine Geschichte fortge-setzten Leidens: Während der 35-jährigen Kolonialherrschaft (1910-1945) versuchte Japan, die Identität der Koreaner zu zer-stören und die koreanische Kultur zu japanisieren; danach brach der Koreakrieg (1950-1953) aus, der die koreanische Halbinsel verwüstete und nun schon über ein halbes Jahrhundert Volk und Land ideologisch in Nord und Süd teilt. Trotz der extremen Armut nach dem Koreakrieg schaffte es Südkorea, auf derzeit Platz 13. unter den Wirtschaftsmächten der Welt aufzusteigen. Dieses unglaubliche Wirtschaftswachstum ist auch als „das Wunder vom Han-Fluss“ bekannt.Aber solch drastische Entwicklungen werden auch immer von Gefahren begleitet. So besteht die Gefahr, dass die Beziehung zur Vergangenheit verloren geht. Weil die Erinnerung an die Ver-gangenheit vor allem schmerzhaft war, empfanden die Koreaner ihren Verlust nicht als negativ. Doch es gibt gewiss Dinge aus der Vergangenheit der Koreaner, die geschützt werden können und müssen, und die hilfreich dafür sein werden, den neuen Weg in die Zukunft zu ebnen. Diese Erkenntnis bewegte die Regio-nalregierungen dazu, die Kultur der traditionellen Hanok- und Stammfamilienhäuser zu fördern.Selbstverständlich lassen sich nicht alle Beweggründe für den Besuch der Hanok-Häuser philosophisch erklären. Aber die Tatsache, dass die meisten Besucher Familien mit Kindern sind, sagt etwas über diese Gründe aus; nämlich, dass sich die Eltern der Tatsache bewusst sind, dass die Hanok-Häuser Werte in sich bergen, die man der nächsten Generation vermitteln sollte. Vielen ist insgeheim klar geworden, dass das Streben nach der Zukunft mit Verständnis und Respekt gegenüber der Tradition in Einklang gebracht werden muss. Einerseits gibt es zwar viele Elemente der Vergangenheit, die überwunden werden müssen, doch ande-rerseits gibt es auch viele traditionelle Werte wie die von Lee und Kwon geschätzten, menschlichen Werte, die geschützt und gepflegt werden müssen. Die alten Hanok-Häuser der Stammfa-milien sind ganz deutlich Teil solch wertvoller Traditionen.

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Kim Jung-hyuk

Kim Jung-hyuk (geb. 1971) ist ein Schriftsteller, der eine

neue Sphäre erkundet, die in den figurenorientierten,

koreanischen Erzählungen schwer zu finden ist. In sei-

nem ersten Erzählband Pinguin-Nachrichten legte er

eine manische Leidenschaft für Objekte an den Tag und

in seinem zweiten Erzählband rekonstruiert er die uns

gewohnte Art und Weise der Bemühungen, dem Leben

einen Sinn zu geben.

© LIM Jong-jin

Reisen

in die

koreanische

Literatur

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90 Koreana | Herbst 2009

Kim Jung-hyukEine Erzählung,

die von einer neuen Ethik träumt

Erst im neuen Millennium veröffentlichte der im Jahr 1971 geborene Schriftsteller Kim Jung-hyuk

seinen ersten Erzählband Pinguin-Nachrichten. Sei-ne schriftstellerische Karriere begann also keineswegs früher als die etwa gleichaltriger Schriftsteller wie KIM Young-ha, Kim Yeon-su, Kim Kyung-uk, Lee Eung-jun, oder Kim Jong-kwang. Nach Erscheinen seines ersten Erzählbands im Jahr 2006 veröffentlichte er 2008 seinen zweiten Erzählband, Die Bibliothek der Musik-instrumente, und begann, sich als ein repräsentativer Schriftsteller des neuen Jahrtausends zu profilieren. Die Auszeichnung mit dem Kim Yu-jeong Literaturpreis im Jahr 2008 ist als ein erstes Signal dafür zu sehen.Kim Jung-hyuks Erzählungen sind eigentlich keine typisch koreanischen. Vielmehr gehören sie bezüglich des Inhalts und der Form zu einem in Korea bisher unbekannten Typ. In seinem Debütwerk Pinguin-Nachrichten wird vor dem Hintergrund des Alltags eines langweilig gewordenen Krieges in der Zukunft eine Untergrundbefreiungsarmee geschildert und so die andere Seite dieses Alltags ans Licht gebracht. Diese Science-Fiction-Erzählung speist sich aus dem endlosen Verlangen nach Wahrheit. In der Erzählung Bus ohne Fahrtziel - Remix: Ppaengdeoks Mutter, die hübsche war, die die Erzählung von Ppaengdeoks Mutter, die hübsche war von dem früh verstorbenen Schriftsteller Kim So-jin neu schreibt, wird – wie aus dem Untertitel ersichtlich ist – die Remix-Technik in der Musik auf die

Erzählung angewandt. Kims Liebe zu den Objekten wie Landkarten, Schreibmaschinen, Fahrräder oder Tonträ-ger, die früher oder später mit dem Aufkommen einer neuen Maschinenzivilisation hinter dem Vorhang der Geschichte verschwinden werden, ist ebenfalls unty-pisch für koreanische Erzählungen.Seine manische Neigung zu den Objekten, die sich in fast allen seinen Werken einschließlich Museum der nutzlosen Dinge, Eskimo, hier ist das Ende, Graues Monster, Bananen-AG und Vierhundert-Meter-Ma-rathon finden lässt, gehört zu einer neuen Sphäre, die in den figurenorientierten koreanischen Erzählungen schwer zu finden ist. Die koreanische Epik hat erst mit Kims Erzählungen die Phase der einfachen Zivilisations-kritik überschritten und begonnen, quasi mit allen Sin-nen einen neuen Bereich für die Erzählungen im Zeital-ter der technischen Reproduzierbarkeit zu erkunden.Dem Erzähler von Die Bibliothek der Musikinstru-mente fällt der Satz „Es ist einfach jämmerlich, als ein Niemand zu sterben“ ein, als sein Körper beim Zusam-menprall mit einem Auto in die Luft geschleudert wird. Dieser Satz ist der entscheidende Auslöser für eine Wende in seinem Leben. Er gibt seine Stelle in der Fir-ma auf und fängt an, notorisch zu trinken. Denn: „Um nicht als ein Niemand zu sterben, musste ich zwar ir-gendetwas machen, aber ich wusste nicht, wo ich damit anfangen sollte.“Es ist ein purer Zufall, dass er sich beim Vorbeigehen

Shin Soojeong Professorin für Kreatives Schreiben, Myongji University

CRITIQUE

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Herbst 2009 | Koreana 91

an einem Musikinstrumentengeschäft entschließt, seiner Freundin, die eine private Geigenschule leitet, eine hochwertige Geige zu schenken. Dass er am Ende dieses Zufalls als Aushilfe im Instrumentengeschäft Musica arbeitet, ist vielleicht eine Unvermeidbarkeit. Er überschreitet den Moment, in dem er noch in sein gewohntes Leben hätte zurückkehren können. Die Art und Weise des Lebens, die ihm noch bleibt, kann nicht durch die Maßstäbe anderer Menschen oder durch die allgemeine Vorstellung umgeworfen werden. Er muss etwas tun, um aus eigener Kraft zu verhindern, dass er stirbt, ohne dass aus ihm etwas geworden ist.Die Erzählung empfiehlt uns unmerklich das, was wir als selbstverständlich annehmen und glauben, Vorstel-lungen, Moralgebote und ästhetische Empfindungen, die wir ohne jedes Bedenken als Wahrheit akzeptieren, einmal zu überdenken. Dies zeigt sich zum Beispiel durch den geistreichen Hinweis auf die Irrationalität der Einteilung der Instrumente in Saiten-, Schlag- und Rohrinstrumente. Der Erzähler bringt seine Überein-stimmung mit der Meinung des Besitzers von Musica, dass die gängige Klassifikation der Instrumente pro-blematisch sei, zum Ausdruck, und sagt, dass das „Rohr-“ des Rohrinstruments das Mittel zur Tonerzeugung sei, während das Saiteninstrument durch Vibrieren der Saiten Töne erzeuge, und dass daher bei der Klassifka-tion für Saiteninstrumente wohl ein anderes Kriterium gelte als für Rohrinstrumente. Er fügt hinzu, dass das „Schlag-“ in Schlaginstrument „Schlagen“ bedeutet und dass also für das Schlaginstrument wieder ein anderes Kriterium zu Grunde gelegt werde als für Saiten- und Rohrinstrumente. Der Erzähler hebt sozusagen hervor, dass die Instrumentenklassifikation, die wir für allge-mein verständlich, übersichtlich und logisch halten, in Wirklichkeit willkürlich und beliebig ist.Interessant ist, dass die Art und Weise der Klassifikation in der Episode über Instrumente nicht auf den musi-kalischen Bereich beschränkt ist. Kim sagt, dass sich diese unscheinbare und belanglose „diffuse Klassifika-tionsmethode“ auch bei den Fragen, die den „Sinn und

Zweck“ unseres Lebens bestimmen, in ähnlicher Form wieder findet. „Um nicht als ein Niemand zu sterben“, ist es notwendig, die Art und Weise, wie wir den Zweck unseres Lebens zu erfüllen versuchen, neu zu gestalten. Hierin liegt auch der Grund dafür, dass sich der Erzäh-ler der Aufzeichnung von Klängen dermaßen hingibt, dass er darüber selbst Schlafen und Essen vernachlässigt. Die Musikinstrumente sind im Grunde genommen nicht mehr als Mittel fürs Musizieren. Wenn wir dieser abhängigen Variable an sich eine eigene existentielle Bedeutung beimessen, könnte alle Musik, die wir bis-lang kannten, verschwinden und etwas, was fremd und neu ist, auftauchen. Natürlich ist diese Methode nicht für alle sinnvoll. Für manche ist sie absurd, z.B. für die Freundin des Erzählers. Sie verlässt ihn, als er sich mit der Aufzeichnung der Instrumentenklänge beschäftigt. Niemand kann Sinn und Zweck des Lebens bestim-men. Eines ist sicher: Jeder versucht, Sinn und Zweck des Lebens, die er selbst gesetzt hat, zu erfüllen, so wie jedes Instrument seinen eigenen Klang hat. Wenn man dies nicht akzeptiert, ist es von vornherein unmöglich „nicht als ein Niemand zu sterben.“Durch seine Erzählung Die Bibliothek der Musikinstru-mente stellt Kim Jung-hyuk sich die Art und Weise des Lebens vor, durch die jedes der verschiedenen Musik-instrumente Sinn für seine Existenz haben kann. Der Erzähler, der durch die Funktion „Instrumentenklang-Jukebox“ die „sprachlich nicht schlüssige“ „Instrumen-tenbibliothek“ betreibt, hat – so der Autor – den höchs-ten Genuss des Lebens. Vielleicht ist die von Kim Jung-hyuk erträumte Lebensweise nicht die beste, der alle Zustimmung entgegenbringen können. Vor allem wird Kim nicht darauf bestehen. Aber fest steht, dass Die Bibliothek der Musikinstrumente, von der er träumt, über Paradoxa und geistreiche Pointen hinausgeht und als die zentrale Ethik in unserem Leben fungiert, das Tag für Tag mehr Uniformität annimmt. Für Kim Jung-hyuk ist das Erzählen nichts anderes als das Sich-Vorstellen einer Sphäre, die wir nicht hatten.

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Fragrance of Korea

Die Vierteljahresschrift Koreana der Korea Foundation stellt seit ihrer ersten Ausgabe im Jahr 1987 die tra-ditionelle Kultur Koreas und die verschiedenen Seiten der modernen Kultur und Kunst des Landes vor und trägt dazu bei, die Kenntnisse über Korea im Ausland zu erweitern und Interesse dafür zu wecken. Zu diesem Zweck wird für jede Ausgabe je-weils ein bestimmtes Thema gewählt und intensiv behandelt. Weitere Artikel behandeln aktuelle Kulturereignisse, Persönlichkeiten aus dem Kunst- und Kulturleben, Lebensstile Koreas, Natur und Ökologie sowie Literatur.

(Alte Ausgaben sind für US$7 pro Heft zuzüglich Luftpostgebühren lieferbar.)

Korea Focus wird in Form eines monatlichen Web-Magazins (www.koreafocus.or.kr) und einer Vierteljahres-schrift veröffentlicht und enthält Artikel aus den wichtigsten Tageszeitungen, Wochenmagazinen und wissen-schaftlichen Zeitschriften, die das Verständnis der verschiedenen Aspekte der koreanischen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur und der wichtigsten internationalen Themen erhöhen sollen. Seit der ersten Publikati-on 1993 trägt Korea Focus dazu bei, in bedeutenden Forschungsinstituten und Universitäten vieler Länder das Fach Koreanistik mit Informationen zu unterstützen und in der internationalen Gemeinschaft das Interesse sowie die Kenntnisse in Bezug auf die koreanische Gesellschaft zu fördern.

(Alte Ausgaben sind für US$5 pro Heft zuzüglich Luftpostgebühren lieferbar.)

Korean Cultural Heritage ist eine vierbändige Serie in englischer Sprache, in der Artikel der bisherigen Ko-reana-Ausgaben nach Kategorien zusammengestellt sind, um die verschiedenen Bereiche systematisch und vertieft vorzustellen. Die Serie bietet fachliche Artikel mit anschaulichem Bildmaterial. (Band 1: Traditionelle Kunst, Band 2: Geisteswelt und Religion, Band 3: Darstellende Kunst, Band 4: Traditionelle Lebensformen)

Preis pro Band: US$40 (zuzüglich Versandgebühren)

Fragrance of Korea: The Ancient Gilt-Bronze Incense Burner of Baekje ist eine englische Ausgabe über das goldbronzene Weihrauchgefäß von Baekje (Nationales Kulturgut Nr. 287), das in seiner Form und Schönheit als Höhepunkt der alten ostasiatischen Metallkunst bewertet wird. Diese Ausgabe besteht aus Abbildungen und Illustrationen auf 110 Seiten und drei kurzen Aufsätzen auf insgesamt 30 Seiten: „Kunstge-schichtliche Bedeutung des goldbronzenen Weihrauchgefäßes von Baekje“, „Kulturelle Dynamik und Viel-fältigkeit: Vom Duftrauchbrenner Boshanlu bis zum goldbronzenen Weihrauchgefäß von Baekje“ und „Der Standort eines buddhistischen Tempels in Neungsan-ri, Buyeo“.

Preis pro Heft: US$25 (zuzüglich Versandgebühren)

Koreana

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1 Jahr 2 Jahre 3 Jahre Korea 18.000 Won 36.000 Won 54.000 Won Japan, Hongkong, Taiwan und China US$33 US$60 US$81 sonstige Länder US$37 US$68 US$93

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1 Jahr 2 Jahre 3 Jahre Korea 18.000 Won 36.000 Won 54.000 Won Japan, Hongkong, Taiwan und China US$28 US$52 US$71sonstige Länder US$32 US$60 US$81

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