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Kraftfahrzeugführung ||

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Thomas Jiirgensohn· Klaus-Peter Timpe (Hrsg.)

Kraftfahrzeugfiihrung

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Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH

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Thomas Jürgensohn· Klaus-Peter Timpe (Hrsg.)

Kraftfahrzeugführung

Mit 132 Abbildungen und 30 Tabellen

, Springer

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Herausgeber

Dr.-Ing. Thomas Jürgensohn TU Berlin ISS-Fahrzeugtechnik, TIB 13 Gustav-Meyer-Allee 25 13355 Berlin [email protected]

Prof. Dr. rer.nat.habil. Klaus-Peter Timpe TU Berlin Jebensstraße 1

10623 Berlin [email protected]

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Jürgensohn, Thomas: Kraftfahrzeugführung 1 Thomas Jfugensohn ; Klaus-Peter Timpe. - Berlin ; Heidelberg ; New York ; Barcelona; Hongkong ; London ; Mailand ; Paris; Singapur ; Tokio: Springer, 2001

ISBN 978-3-642-62639-5 ISBN 978-3-642-56721-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-642-56721-6 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder Vervielfaltigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfaltigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutsch­land vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Stratbestimmungen des Urheberrechts­gesetzes.

http://www.springer.de

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2001 Ursprünglich erschienen bei Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 2001 Softcover reprint ofthe hardcover 1st edition 2001

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Sollte in diesem Werk direkt oder indirekt auf Gesetze, Vorschriften oder Richtlinien (z.B. DIN, VDI,

VDE) Bezug genommen oder aus ihnen zitiert worden sein, so kann der Verlag keine Gewähr für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität übernehmen. Es empfiehlt sich, gegebenenfalls für die eigenen Arbeiten die vollständigen Vorschriften oder Richtlinien in der jeweils gültigen Fassung hinzuzuziehen.

Einbandgestaltung: medio Technologies AG Berlin Satz: Karl-Heinz Keller, TU Berlin Gedruckt auf säurefreiem Papier SPIN: 10832865 68/3020 Rw - 5 43210 -

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Hans-Peter Willumeit 31.12.1937 -16.07.2000

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Vorwort

1m Sommer 2000 verstarb vollig unerwartet Prof. Dr. Willumeit, Leiter des Fach­gebiets Kraftfahrwesen am Institut fUr Fahrzeugtechnik der Technischen Universi­tat Berlin. Prof. Willumeit war einer der wenigen Ingenieure in Deutschland, die sich mit der besonderen Problematik des Zusammenspiels von Fahrer, Fahrzeug und Verkehr wissenschaftlich auseinander gesetzt haben. Sehr friih erkannte er, dass diese Problematik nur im interdisziplinaren Dialog gelost werden kann. Des­halb suchte er von Anfang an den Kontakt zu seinen Kollegen aus den Humanwis­senschaften an der TU und war Initiator und Mitbegriinder einer Reihe von inter­disziplinar orientierten Forschungseinrichtungen. Aus der Tradition der ingenieur­orientierten FlugfUhrung kommend, war es besonders die Modellierung des Fah­rerverhaltens, die ihn interessierte. Er offnete sich dabei sehr bald den in der psy­chologischen Forschung griindenden Zugangsweisen und pragte dadurch das Ge­biet der KraftfahrzeugfUhrung entscheidend mit. Anfanglich als zweiter For­schungsschwerpunkt neben der Kraftfahrzeugdynamik begonnen, wurde die Kraft­fahrzeugfUhrung in den letzten Jahren zum zentralen Thema der wissenschaftli­chen Tatigkeit Hans-Peter Willumeits.

Anliegen der Herausgeber ist es, mit diesem Buch und mit der gleichzeitig ins Leben gerufenen Willumeit-Stiftung die so jah unterbrochenen Forschungsaktivi­tiiten in seinem Sinne weiter zu fUhren. Fast aIle Autoren haben mit Prof. Willu­me it - oft tiber viele Jahre - wissenschaftlich zusammen gearbeitet. Ihnen sei fUr ihre fast durchweg spontane Zusage fur eine Mitwirkung an diesem Band gedankt. Besonderer Dank gilt femer den Firmen DaimlerChrysler AG, BMW Group, Hella KG Hueck & Co, Magneti Marelli GmbH, der Firma Bosch sowie dem Verein Deutscher Ingenieure, die mit groBztigigen Spenden die Herausgabe dieses Buches ermoglichten.

Die Thematik der "FahrzeugfUhrung" umfasst in diesem Band aIle Aspekte der Kraftfahrzeugtechnik, die nicht isoliert von den Erfordemissen, Eigenschaften und Grenzen des menschlichen Fahrers betrachtet werden konnen. Dies geht tiber das Spezialgebiet "Fahrermodellierung" von Prof. Willumeit weit hinaus und beinhal­tet u.a. Probleme der Ergonomie, Fragen nach einer kognitionswissenschaftlich unterstiitzten Cockpitgestaltung sowie Untersuchungsergebnisse zur Automatisie­rung oder Bewertung von Fahrzeugen. Wir sind tiberzeugt, mit dieser themati­schen Akzentuierung der von Prof. Willumeit vertretenen Auffassung von Kraft­fahrzeugfUhrung in ihrer vieWiltigen thematischen Auffacherung zu entsprechen. Verbunden sind damit der Wunsch und die Hoffnung, dass die von ihm angesto­Benen, vorbereiteten und begonnenen Forschungsarbeiten weitergefUhrt und aus­gebaut werden. Die Erinnerung an den Kollegen, Freund und Wissenschaftler Hans-Peter Willumeit wird damit fUr lange Zeit fortwirken und seine Tatigkeit in unserer Erinnerung bleiben.

Berlin, im Sommer 2001 Thomas Jiirgensohn Klaus-Peter Timpe

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Autorenverzeichn is

Suat Akyol, Dipl.-Ing.

Rheinisch-Westfalische Technische Hochschule Aachen

Ahomstrasse 55, 0-52072 Aachen

E-Mail: [email protected]

Guido Beier

Akzeptanz und Verhaltensanalyse, OaimlerChrysler AG

Oaimlerstr.l43, 0-12274 Berlin

E-Mail: [email protected]

Klaus Bengler, Dr.

MMIlNutzerforschung, BMW Group

0-80788 Miinchen

E-Mail: [email protected]

Norbert Boemak

Akzeptanz und Verhaltensanalyse, OaimlerChrysler AG

Oaimlerstr.143, 0-12274 Berlin

E-Mail: [email protected]

Heiner Bubb, Prof. Dr. rer. nat.

Lehrstuhl fUr Ergonomie, Technische Universitiit Miinchen

BoltzmannstraBe 15,0-85747 Garching E-Mail: [email protected] WWW: http://www.ergonomie.tum.de

Gunter Debus, Prof. Dr.

Institut fUr Psychologie, Rheinisch-Westflilische Technische Hochschule Aachen

Jiigerstr. 17/19,0-52066 Aachen

E-Mail: [email protected]

Gundi Dinse, M.A.

Institut fUr Mobilitiitsforschung, BMW Group

Charlottenstr. 43, 0-10117 Berlin

E-Mail:

WWW:

[email protected]

http://www.ifmo.de/

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X Autorenverzeichnis

Christoph Fankhauser, Dipl.-Ing.

NVH-Vorentwicklung, MAGNA Steyr Engineering, Steyr-Daimler-Puch

Fahrzeugtechnik AG & Co KG

Liebenauer HauptstraBe 317, A-8041 Graz

E-Mail: [email protected]

WWW: http://www.magnasteyr.com

Berthold Farber, Prof. Dr.

Institut fUr Arbeitswissenschaft, Universitiit der Bundeswehr Miinchen

D-85577 Neubiberg

E-Mail: [email protected]

Peter Frank, Dipl.-Ing.

Forschung und Technologie 1, DaimlerCbrysler AG

HPC G202, D-70546 Stuttgart

E-Mail: [email protected]

Hans-Gerhard Giesa, Dipl.-Ing.

Fachgebiet Mensch-Maschine-Systeme, Technische Universitiit Berlin

Sekr. J 2-1, Jebensstr. I, D-10623 Berlin

E-Mail:

WWW:

[email protected]

http://www.mms.tu-beriin.de/MMS/

Udo von Garrel

Institut fUr Systemdynamik und Flugmechanik, Universitiit der Bundeswehr Miinchen

D-85577 Neubiberg

E-Mail: [email protected]

WWW: http://www.unibw-muenchen.de

Rudolf Haller, Dr.

BMW Group

D-80788 Miinchen

E-Mail: [email protected]

Walter Hell, Dr.

Institut fUr Mobilitiitsforschung, BMW Group

Charlottenstr. 43, D-101l7 Berlin

E-Mail: [email protected] WWW: http://www.ifmo.de/

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Autorenverzeichnis XI

Marita Irmscher, Dr.-Ing.

D-MC/P0202 (Vehicle Pre-Programs & Concepts Engineering), Ford Werke AG Spessartstr., D-50725 Kaln E-Mail: [email protected]

Thomas Jiirgensohn, Dr.-Ing.

AgeLab, Massachusetts Institute of Technology I Amherst Str., Room E40-29 I Cambridge, 02142-1309 MA

USA

E-Mail: [email protected];[email protected]

Raphael M. Jung, Dipl.-Ing.

Peter-Vischer-Str.6, D-12157 Berlin

E-Mail: [email protected]

Harald Kolrep, Dr. phil.

Ahomallee 6, D-12587 Berlin E-Mail: [email protected] WWW: http://www.Kolrep-Rometsch.de

Karl-Friedrich Kraiss, Prof. Dr.-Ing.

Lehrstuhl fUr Technische Informatik, Rheinisch-Westfalische Technische Hochschule Aachen Ahomstrasse 55, D-520n Aachen

E-Mail: [email protected]

WWW: http://www.techinfo.rwth-aachen.de

Hans-Peter KrUger, Prof. Dr.

Interdisziplinares Zentrum flir Verkehrswissenschaften (Center for Traffic Sciences), Psychologisches Institut, Universitat Wiirzburg Rantgenring II, D-97070 Wiirzburg E-Mail: [email protected]

Lars Libuda, Dipl.-Ing.

Rheinisch-WesWilische Technische Hochschule Aachen

Ahomstrasse 55, D-520n Aachen

E-Mail: [email protected]

Alexandra Neukum, Dipl. Psych.

Interdisziplinares Zentrum flir Verkehrswissenschaften (Center for Traffic Sciences),

Psychologisches Institut, Universitat Wiirzburg

Rantgenring II, D-97070 Wiirzburg E-Mail: [email protected]

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XII Autorenverzeichnis

Reiner Onken, Prof. Dr.-Ing.

Institut fiir Systemdynamik und Flugmechanik, Universitiit der Bundeswehr Miinchen

D-85577 Neubiberg

E-Mail:

WWW:

[email protected]

http://www.unibw-muenchen.de

Hans-Jorg Otto

Institut fiir Systemdynamik und Flugmechanik, Universitiit der Bundeswehr Miinchen

D-85577 Neubiberg

E-Mail: [email protected]

WWW: http://www.unibw-muenchen.de

Werner Reichelt, Dr.-Ing.

Forschung und Technologie 1, Leiter Mensch-Maschine-Interaktion, DaimlerChrysler AG

HPC 0202, D-70546 Stuttgart

E-Mail: [email protected]

Gotz Renner, Dr.

Akzeptanz und Verhaltensanalyse, DaimlerChrysler AG

Daimlerstr.143, D-12274 Berlin

E-Mail: [email protected]

Matthias Rotting, Dr.-Ing.

Liberty Mutual Research Center for Safety and Health 71 Frankland Road, USA-Hopkinton, MA 01746

E-Mail: [email protected]

WWW: http://www.roetting.de

Kay Schattenberg, Dipl. Psych.

Forschung und Techno1ogie, DaimlerChrysler AG

Mercedesstr. 136, D-70322 Stuttgart

E-Mail: [email protected]

Katharina Seifert, Dipl. Psych.

Fachgebiet Mensch-Maschine-Systeme, Technische Universitiit Berlin

Sekr. J 2-1, Jebensstr. I, D-10623 Berlin

E-Mail:

WWW:

[email protected]

http://www.mms.tu-berlin.de/MMS/

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Autorenverzeichnis XIII

Klaus-Peter Timpe, Prof. Dr.

Fachgebiet Mensch-Maschine-Systeme, Technische Universitiit Berlin

Sekr. J 2-1, Jebensstr. I, D-10623 Berlin E-Mail: [email protected]

WWW: http://www.mms.tu-berlin.de/MMS/

Alf Zimmer, Prof. Dr.

Lehrstuhl fUr Experimentelle Angewandte Psycho logie, Universitiit Regensburg

D-93040 Regensburg E-Mail: [email protected] WWW: http://www-zimmer.psychologie.uni-regensburg.de

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In haltsverzeich n is

Hans-Peter Wiliumeit: Versuch einer Wiirdigung Thomas Jiirgensohn, Klaus-Peter Timpe, Raphael Jung, Marita Irmscher ...................... 1

Der Wissenschaftler und Lehrer ....................................................................................... 2 Der ideale Professor .......................................................................................................... 5 Der zweite Vater ............................................................................................................... 6 Der engagierte Lehrer ....................................................................................................... 7

1 Fahrzeugrdhrung: Anmerkungen zum Thema Klaus-Peter Timpe ............................................................................................................ 9

1.1 Vorbemerkung: Fahrzeugfiihrung an der TU Berlin ............................................... 9 1.2 Fahrzeugfiihrung als Tiitigkeit im Mensch-Maschine-System ............................. 10 1.3 Zur menschlichen Informationsverarbeitung bei der Fahrzeugfiihrung ................ 16 1.4 Einige Schlussfolgerungen fur die Interaktionsgestaltung .................................... 22 1.5 Ausblick. ................................................................................................................ 25

Teil I Assistenzsysteme

2 Fahrer-Assistenz versus Fahrer-Bevormundung: Wie erreicht man, dass der Fahrer Herr der Situation bleibt? Rudolf Haller .................................................................................................................. 31

2.1 Einleitung .............................................................................................................. 31 2.2 Formen der Fahrerassistenz ................................................................................... 31 2.3 Situationen - mehr als nur Datensatze .................................................................. 33 2.4 Komplemation statt Automation? ......................................................................... 35 2.5 Antworten zur Rollenverteilung Fahrer-Fahrerassistenz ...................................... 36 2.6 Fragen an die Forschung ....................................................................................... 37

3 Wie intelligent darflmuss ein Auto sein? Anmerkungen aus ingenieurpsychologischer Sicht AlfZimmer ..................................................................................................................... 39

3.1 Von der direkten Lenkung zur assistierten Regeiung ........................................... 39 3.2 Informationsverarbeitung und F ehlhandlungen .................................................... 44 3.3 Konsequenzen fur die Gestaltung von Assistenzsystemen .................................. .47 3.4 Schlussfolgerungen ............................................................................................... 53

4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen - psychologische Gestaltungskonzepte Berthold Farber ............................................................................................................... 57

4.1 Die Notwendigkeit von Navigationssystemen ...................................................... 57 4.2 Kognitive Karten ................................................................................................... 58 4.3 Erste Ansatze - Synergien aus der Luftfahrt ......................................................... 59 4.4 Bakengestiitzte Systeme ........................................................................................ 61

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XVI Inhaltsverzeichnis

4.5 Ort und Art der Darstellung ................................................................................... 63 4.6 Stand und Zukunft von Navigationssystemen ....................................................... 65 4.7 Navigation durch Routenanfrage bei einer Leitstelle ............................................ 68

5 Fahrerassistenzsysteme im Entwicklungsprozess Peter Frank und Werner Reiche1t.. .................................................................................. 71

5.1 Einleitung .............................................................................................................. 71 5.2 Defizitanalysen ...................................................................................................... 72 5.3 Klassisfikation von Fahrerassistenzsystemen ....................................................... 74 5.4 Ideenfindung, Ideenbewertung und Akzeptanzabschatzung ................................ 76 5.5 Methoden und Tools zur Sicherstellung der Gebrauchssicherheit von

Fahrerassistenzsystemen in Fahrerhand ................................................................ 77 5.6 Zukiinftige Entwicklungen bei Fahrerassistenzsystemen ..................................... 78

Teil II Fahrermodelle

6 Adaptive Modellierung des Fahrerverhaltens - Ein Kernelement fiir die kognitive Kooperation bei zukiinftiger Fahrerassistenz Reiner Onken, Hans-Jorg Otto und Udo von Garre1 ...................................................... 81

6.1 Einleitung .............................................................................................................. 81 6.2 Kognitive Kooperation - Das besondere Potenzial der

kognitiven Automation .......................................................................................... 82 6.3 Adaptive Modellierung des Fahrzeugfiihrungsverhaltens ..................................... 85 6.4 Ergebnisse ............................................................................................................. 89 6.5 Schlussfolgerungen ............................................................................................... 92

7 Nichtformale Konstrukte in quantitativen Fahrermodellen Thomas Jiirgensohn ........................................................................................................ 95

7.1 Einleitung .............................................................................................................. 95 7.2 Modellbildung von Motiven ................................................................................ 101 7.3 Motive in quantitativen Modellen ....................................................................... 108 7.4 Grundregeln der formalen Modellbildung mit Berucksichtigung von Motiven. 113

8 Modellierung von Individualitiit und Motivation im Fahrerverhalten Marita Irmscher ............................................................................................................. 119

8.1 Einleitung ............................................................................................................ 119 8.2 Individuelles Fahrerverhalten .............................................................................. 120 8.3 Fuzzy-Modellierung ............................................................................................ 123 8.4 Ein Modell des individuellen Fahrerverhaltens .................................................. 124 8.5 Simulationsergebnisse ......................................................................................... 130 8.6 Zusammenfassung ............................................................................................... 132

Teil III Multimodale Interaktion

9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme Suat Akyol, Lars Libuda und Karl-Friedrich Kraiss .................................................... 137

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Inhaltsverzeichnis XVII

9.1 Einleitung ............................................................................................................ 137 9.2 Multimodalitat und Adaptivitat in MMI ............................................................. 138 9.3 Konzept einer multimodalen und adaptiven Benutzungsoberflache fur

Bord-Dialogsysteme ............................................................................................ 144 9.4 Gesteneingabe ..................................................................................................... 146 9.5 Spracheingabe mit adaptivem Fehlermanagement.. ............................................ 148 9.6 Evaluation ............................................................................................................ 150 9.7 Zusammenfassung ............................................................................................... 152

10 Haptik im Kraftfahrzeug Heiner Bubb .................................................................................................................. 155

10.1 Der Informationsfluss im Mensch-Maschine-Regelkreis ................................... 155 10.2 Klarung des Begriffs "Haptik" ............................................................................ 156 10.3 Haptische Ruckmeldung bei sekundaren Bedienelementen ................................ 159 10.4 Haptik bei primaren Stellteilen ............................................................................ 164

11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte zur Steuerung technischer Systeme wiihrend der Fahrt im Kraftfahrzeug: Evaluationsbefunde zur Systemweiterentwicklung mit paralleler Sprachbedienung Kay Schattenberg und Gunter Debus ........................................................................... 177

11.1 Anzeige- und Bedienkonzepte ............................................................................. 177 11.2 Schnittstelle fUr multimodale Interaktion ............................................................ 181 11.3 Integriertes System und multimodale Interaktion ............................................... 190

12 Aspekte der multimodalen Bedienung und Anzeige im Automobil Klaus Bengler ............................................................................................................... 195

12.1 Einleitung ............................................................................................................ 195 12.2 Multimodale Mensch-Maschine-Interaktion ....................................................... 196 12.3 Technologische Aspekte ...................................................................................... 196 12.4 Multimodalitat im Automobil ............................................................................. 196 12.5 Verringerte Ablenkung durch sequentielle Multimodalitat ................................ 200 12.6 Zusammenfassung ............................................................................................... 203

13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug Katharina Seifert, Matthias Rotting und Raphael Jung ................................................ 207

13.1 Einfuhrung ........................................................................................................... 207 13.2 Definition von Augen- und Blickbewegungen .................................................... 207 13.3 Bedingungen fur die Interpretation von Blickbewegungsparametem ................ 208 13.4 Aussageebenen der Analyse von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug .............. 210 13.5 Messverfahren ..................................................................................................... 213 13.6 Spezifische Bedingungen im Kraftfahrzeug ....................................................... 216 13.7 Bestimmung der physiologischen Kosten ........................................................... 221 13.8 Resumee .............................................................................................................. 225

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XVIII Inhaltsverzeichnis

Teil IV Systembewertung

14 Subjektive Bewertung von Zittervorgingen als Grundlage fUr die Voraussimulation Harald Kolrep und Christoph Fankhauser .................................................................... 231

14.1 Einfiihrung ........................................................................................................... 231 14.2 Zittem in Kraftfahrzeugen ................................................................................... 231 14.3 Untersuchung der Folgen von Zittem ................................................................. 232 14.4 Zusarnmenhang subjektiver Bewertung mit objektiven Zitterparametem .......... 232 14.5 Psychophysische Untersuchung des Zittems ...................................................... 239 14.6 Komfortsimulation auf der Basis der Kundenbediirfnisse .................................. 241

15 Bewertung von Handlingeigenschaften - zur methodischen und inhaltlichen Kritik des korrelativen Forschungsansatzes Hans-Peter KrUger und Alexandra Neukum ................................................................. 245

15.1 Grundfrage und Forschungsstand ........................................................................ 245 15.2 Zum Verstlindnis von Korrelation und Regression ............................................. 246 15.3 Der korrelative Ansatz in der Handlingforschung .............................................. 248 15.4 Die Bereichsabhlingigkeit der Priifung ............................................................... 253 15.5 Individuelle Rangreihen der Varianten und ihre Konsequenzen ........................ 255 15.6 Zusarnmenfassende Forderungen an einen korrelativen Ansatz ......................... 256 15.7 Von der Ergebnis- zur Prozessanalyse ................................................................ 257 15.8 Zusarnmenfassung ............................................................................................... 261

16 Sinn und Sinnlichkeit - psychologische Beitrige zur Fahrzeuggestaltung und -bewertung Guido Beier, Norbert Boemak und G6tz Renner. ......................................................... 263

16.1 Bedeutung der Psychologie fur die Fahrzeugforschung ..................................... 263 16.2 Die sinnliche Wahmehmung als Deterrninante der Fahrzeugakzeptanz ............. 268 16.3 Die kundenorientierte Entwicklung von Assistenzsystemen .............................. 277

Teil V Verkehr

17 Der Verkehr in Ballungsriumen im Jahre 2020: Perspektiven auf Basis einer Delphistudie aus dem Jahr 2000 Gundi Dinse, Hans-Gerhard Giesa und Walter Hell .................................................... 287

17.1 Einleitung ............................................................................................................ 287 17.2 Methodik Delphi-Studie ...................................................................................... 291 17.3 Ergebnisse zur Methode ...................................................................................... 294 17.4 Zukiinftige Entwicklung des Verkehrs in deutschen Ballungsraumen

aus Sicht der Experten ......................................................................................... 297 17.5 Ausblick. .............................................................................................................. 303

Sachregister ......................................................................................................................... 307

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Hans-Peter Willumeit: Versuch einer WUrdigung

Thomas Jiirgensohn und Klaus-Peter Timpe

Versucht man aus Mitarbeiter- oder Kollegensicht ein typisches Merkmal zu nen­nen, das die Zusammenarbeit mit Prof. Willumeit auszeichnete, dann ist es ein durch tiefe Emotionalitat gepragtes Verhaltnis zu ihm. Prof. Willumeit hatte ein starkes Bediirfnis nach Harmonie, gleichzeitig aber einen der Studentenbewegung der 60er Jahre verpflichteten Kampfgeist und Gerechtigkeitssinn. Er war ein fast militanter Gegner engstimiger Biirokratie und kampfte auf diesem Feld oft mit Leidenschaft und Ausdauer. Aussagen wie "das ist nicht erlaubt", "das haben wir schon immer so gemacht" oder "das haben wir noch nie so gemacht" reizten sei­nen Widerspruchsgeist und spomten ihn zur unbedingten Durchsetzung seiner Ziele an. So bissig er Gegenmeinungen bekampfen konnte, so freundlich, ja herz­lich war er zu denjenigen, die auf seiner Wellenlange lagen und die mit ihm an der Erfullung seiner wissenschaftlichen Ziele arbeiteten. Besonders in den letzten Jah­ren fuhrte er seine Mitarbeiter wie ein altersweiser Patriarch - im besten Sinne des Wortes.

Dieses Wesen im sozialen Vmgang spiegelte sich auch in seinem Verstandnis von Wissenschaft wider. Bar jeglicher Verknocherung und des Wissens urn den "wahren" Weg war er ein praktizierender Wissenschaftspluralist. Er suchte stets das Neue und war aufgeschlossen gegeniiber allen Ideen, von denen er glaubte, sie konnten die Forschung in seinen Gebieten bereichem. Aus diesem wissenschaftli­chen Liberalismus resultierte letztlich auch seine mit den Jahren erfolgte Abkehr von den reinen ingenieurwissenschaftlichen Themen und damit die Hinwendung zu der interdisziplinar gepragten Beschaftigung mit dem Autofahrer in seiner Wechselwirkung mit dem Fahrzeug und dem Verkehr. Dabei blieb er durch und durch Ingenieur und suchte wissenschaftliche Erkenntnisse nicht urn ihrer Selbst willen, sondem deren praktische Anwendung. Er bewahrte sich immer eine notige wissenschaftliche Vnbekiimmertheit und die Begeisterung fur unbekannte Gebie­te, die moglicherweise niitzlich fur eine geplante Anwendung sein konnten.

Nur aus dieser Offenheit waren die vielen engen Kontakte mit ahnlich denken­den Humanwissenschaftlem an der TV Berlin moglich. Prof. Willumeit war Mit­initiator und Grunder mehrerer interdisziplinar orientierter Forschungseimichtun­gen an der TV Berlin, zuletzt des Zentrums Mensch-Maschine-Systeme, das er jahrelang als stellvertretender Sprecher des Leitungsgremiums pragend mit form­teo Diesem Zentrum, in dem Vertreter der Human- und Ingenieurwissenschaften sowie der Informatik im interdisziplinaren Diskurs zusammenarbeiten, galt in den letzten Jahren seine ganze Hingabe. Hier fand er Ansprechpartner fur seine Fragen nach dem We sen des Autofahrens. "Welche Informationen benotigt der Autofah­rer? Warum fahrt er so, wie er fahrt?" Die Diskussionen erwiesen sich oft als miihselig und wegen des unterschiedlichen Hintergrundwissens und Wissen­schaftsverstiindnisses manches Mal weniger fruchtbar als er wiinschte. Aber Prof.

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2 Hans-Peter Willumeit: Versuch einer Wiirdigung

Willumeit blieb aus seinem Ingenieurverstandnis heraus hartnackig bei seinem Fragen und der Diskussion und trug damit dazu bei, ein neues, interdisziplinares Gemeinsames zu schaff en. Das vorliegende Buch kann in seinem breit gefacherten Inhalt als postume Frucht seiner Bemiihungen angesehen werden. Er harte sicher­lich gerne als Herausgeber mitgearbeitet.

Will man das Wirken und die Verdienste von Prof. Willumeit wiirdigend zu­sammenfassen, dann muss dies auf der eben angedeuteten metawissenschaftlichen Ebene des Wissenschaftsmanagements geschehen. Sein besonderes Talent, For­schung zu initiieren, seine Mitarbeiter zu fOrdern und Wissenschaftler unterschied­licher Fachrichtungen zusammen zu bringen, waren wegweisend. Eine Wiirdigung gelingt nicht durch bloBes Aufziihlen von Daten und Fakten, sondern bedarf einer Kommentierung. Es werden deshalb nach einer Darstellung seines Werdegangs als Wissenschaftler und Lehrer sehr personlich gepragte Schilderungen aus Mitarbei­tersicht folgen mit dem Zie1, den Menschen Hans-Peter Willumeit plastisch wer­den zu lassen.

Der Wissenschaftler und Lehrer

Hans-Peter Willumeit war ein echter Berliner. Geboren 1937 in Berlin, blieb er bis auf drei Jahre seiner Geburtsstadt treu. Nach einer durch Krieg und Nachkriegs­jahre gepragten Kindheit beginnt er als begeisterter Motorradfahrer 1956 das Stu­dium des theoretischen Maschinenbaus an der Technischen Universitat Berlin. Motorrad und Theorie wird er spater als Professor wissenschaftlich verkniipfen. Nach 16 Semestern kann er sein Studium mit "sehr gut" beenden und beginnt nach einem kleinen Ausflug an das Heinrich-Hertz-Institut in Berlin die Tatigkeit als einer der ersten wissenschaftlichen Mitarbeiter von Prof. Fiala am Institut fUr Fahrzeugtechnik, seiner spateren Wirkungsstelle als Professor. Sein eigentliches Spezialgebiet ist damals die Fahrzeugdynamik, und seine Promotion 1970 behan­de1t ein Thema aus dem Gebiet der Modellierung von Reifenverhalten. Aber noch als Assistent kiimmert er sich urn die Betreuung von Promovenden aus sehr unter­schiedlichen Fachrichtungen. Er zeichnet sich aus als ein Mitarbeiter, der den Inhalt der Institutsarbeit aktiv pragt. Das auBert sich auch in der Art, wie er mit Ernst und Freude die Studierenden ausbildete.

Bei den vielfaltigen Kontakten mit seinen Kollegen und den zahlreichen indust­riegefOrderten Promovenden wird wahrscheinlich der Keirn fUr das Interesse an seinem spateren Hauptgebiet, der Fahrermodellierung, gelegt. Prof. Fiala ist einer der ersten, die sich in Deutschland diesem Grenzgebiet der Fahrzeugtechnik wid­men. Hier wird von Franz Wallner, Freund, Studien- Assistent- und spater Promo­tionskollege von Hans-Peter Willumeit, der erste Fahrsimulator an einer Universi­tat in Deutschland aufgebaut. Damit werden Fragen untersucht wie beispielsweise die Lenkbarkeit eines Fahrzeugs oder die Auswirkung von Ermiidung auf das Fah­rerverhalten.

Nach der Promotion folgt Hans-Peter Willumeit bald Prof. Fiala zum VW­Konzern nach Wolfsburg in die dortige Forschung. Er ist maBgeblich bei der Ent­wicklung eines Fahrzeugkonzeptes beteiligt, in dem zum ersten Mal die Sicherheit des Fahrzeugs konsequent in den Vordergrund geriickt wurde. Seine theoretischen

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Der Wissenschaftler und Lehrer 3

Fahigkeiten kann er dort gut bei der Berechnung der Kraftfahrzeugdynamik ein­setzen. Drei Jahre spater folgt er 1973 einem Ruf als Professor fur das Fach Fahr­zeugdynamik an sein "altes" Institut an der Technischen Universitat Berlin.

Die reine Technik wird Hans-Peter Willumeit aber schnell zu eng und so initi­iert er immer neue Forschungsthemen. Er nennt sein Fachgebiet selbst "Kraftfahr­we sen" und will damit das tiber die Kraftfahrzeugtechnik Hinausgehende auch im Namen deutlich machen. Er beteiligt sich mit seinem Kollegen Prof. Appel an dem Projekt Unicar, beschiiftigt sich mit Problemen der Motortechnik, mit Fragen der Dynamik von Motorradem und schlieBlich mit dem Fahrer als Bediener des Kraftfahrzeuges. Er nimmt die Ideen von Prof. Fiala wieder auf und lasst mehrere Generationen von Fahrsimulatoren bauen, arbeitet mit der chemischen Industrie bei der Erforschung der Auswirkungen von Schlafmitteln auf das Fahrerverhalten zusammen, setzt EEG-Messmethoden zur Objektivierung von Fahrerzustanden ein und versucht diese am Fahrsimulator zu validieren. Hier entstehen die ersten Kon­takte zu Nichtingenieuren wie Medizinem und Psychologen.

Noch ist es aber ein Herantasten an das, was er selbst spater unter Kraftfahr­zeugfUhrung versteht. Erst urn 1980 beginnt die Forschung in dies em Gebiet, das sich 20 Jahre spater zu seiner Altersleidenschaft entwickelte. Auslosendes Mo­ment war wahrscheinlich - wie in der Folge sehr oft - die richtige Wahl der Mit­arbeiter. Ein Ingenieur, Ulrich Kramer, und eine Psycho login, Gabi Rohr, arbeiten in einem Projekt zur Untersuchung und Modellierung der Informationsverarbei­tung beim Fahren zusammen. Aus dieser fruchtbaren Zusammenarbeit entwickeln sich dann sehr schnell Kontakte zu anderen Gruppen in der TU Berlin und damber hinaus, in denen ahnliche Fragestellungen behandelt oder ahnliche Untersu­chungsmethoden angewandt werden. So kommen Kontakte zu dem Institut fUr Luft- und Raumfahrt, zur Bionik und nicht zuletzt zum Institut fUr Psychologie zustande. Diese laufen zunachst auf der Ebene der wissenschaftlichen Mitarbeiter ab, werden aber 1983 auf Initiative von Prof. Willumeit in einen inneruniversita­ren Forschungsschwerpunkt "Mensch-Maschine-Systeme" umgewandelt. Gemein­samer Schwerpunkt der Untersuchungen ist die Belastung und Beanspruchung bei der visuellen Informationsaufnahme und die damit verbundenen Probleme der Messtechnik zur Messung von Gehimaktivitaten und Augenbewegungen. Ais treibende Kraft der Gruppe entwickelt sich sehr bald neben der Fahrzeugtechnik mit Prof. Willumeit die Psychologie unter der Leitung von Prof. Eyferth. Diese beiden sind es dann auch, die die Einrichtung eines Sonderforschungsbereichs der DFG und parallel eines fachtibergreifenden universitaren Zentrums vorantreiben. In beiden sollen Fragen der Mensch-Maschine-Systemtechnik in noch groBerer Breite der beteiligten Fachgebiete untersucht werden. Hinzu kommen beispiels­weise die Arbeitswissenschaften, die Prozesstechnik und die Energietechnik.

Die Einrichtung des Sonderforschungsbereiches wird zwar nicht genehmigt, aber als Mitglied des Akademischen Senats der TU Berlin gelingt es Prof. Willu­me it mit seinen Kollegen, das "Zentrum Mensch-Maschine-Systeme (ZMMS)" ins Leben zu rufen. Er ist V orsitzender der Berufungskommission der parallel zum ZMMS initiierten Professur fUr Mensch-Maschine-Systeme und bis zu seinem Tode stellvertretender V orsitzender des Leitungsgremiums des ZMMS. Dieses Zentrum wird fortan zum Mittelpunkt seines wissenschaftlichen Engagements. Er

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4 Hans-Peter Willumeit: Versuch einer Wiirdigung

ermutigt Mitarbeiter,ebenfalls aktiv daran Teil zu haben, er initiiert Tagungen und fordert die Entwicklung des Zentrums, wo er nur kann.

Obwohl in einem Buch "KraftfahrzeugfUhrung" natiirlich die Darstellung der Aktivitiiten von Hans-Peter Willumeit aus diesem Bereich im Vordergrund stehen sollen, wiirde ein vollig falsches Bild entstehen, wenn seine zahlreichen wissen­schaftlichen Arbeiten in anderen Gebieten nicht wenigsten erwiihnt wiirden. Eines dieser Gebiete ist die Modellbildung der dynamischen Eigenschaften eines Motor­rades. Hier konnte er sein Hobby des Motorradfahrens und seine Vorliebe flir theoretische Hcher der Mechanik kombinieren. Ebenfalls treu blieb er der Thema­tik seiner Doktorarbeit, der Reifendynamik. Weltweit groBtes Renommee erhielt er aber mit seinem Lehrbuchfiir Kraftfahrzeugdynamik, das unter anderem auch auf chinesisch und koreanisch erschienen ist. Diese Verbreitung im ostasiatischen Raum wurde maBgeblich gefOrdert einerseits durch Kontakte mit ehemaligen Promovenden, die in ihren Heimatliindem se1bst Professuren iibemehmen konn­ten, und andererseits durch seine vie1en Reisen als Gastprofessor nach China und Indien. Fiir sein Engagement in Peking wird ihm 1999 yom Beijing Institute of Technology der Titel eines Ehrenprofessors verliehen.

In einer Darstellung des wissenschaftlichen Werdegangs darf ebenfalls eine Be­trachtung iiber den Lehrer Willumeit nicht fehlen. Prof. Willumeit selbst hat Wis­senschaft und Lehre nie strikt getrennt. Er gestaltete seine V orlesungen immer wieder anders, immer die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse einbeziehend - bewusst nicht "vorlesend", sondem fesselnd erziihlend. Angeregt durch die Zusammenarbeit mit Psychologen im Zentrum Mensch-Maschine-Systeme Iud er beispielsweise mehrmals Assistenten aus der Psychologie ein, in der Vorlesung flir Kraftfahrzeugtechniker iiber typische psychologische Fragen wie Handlungs­theorie oder Workload zu berichten.

Fiir seine Studenten hatte Prof. Willumeit immer Zeit - auch wenn sie ibn stun­denlang mit Fragen be1agerten. Er war stolz darauf, dass sie ibn mochten und dass er in Studentenbeurteilungen immer sehr gut beurteilt wurde. Er liebte und verstand es, junge Leute zum wissenschaftlichen Arbeiten anzuregen und sie zu betreuen. Beredtes Zeichen sind mehr als 50 von ihm betreute Doktorarbeiten. Als beratender Mentor trug er auch wesentlich zum Entstehen und Festigen des Zent­rums Mensch-Maschine-Systeme bei, das sich wiihrend seiner Startphase vorwie­gend aus jungen Wissenschaftlem zusammensetzte.

Prof. Willumeit war bei den Studenten beliebt - obwohl er keine Riicksicht auf die Schwierigkeit des Stoffes nahm. Dem Vorwurf, dass er mit seinem schwieri­gen Stoff Studenten abschrecken wiirde, trat er mit dem Hinweis entgegen, dass es darauf ankomme, "richtig" auszubilden und nicht viele Studenten durchzuschleu­sen. Er war ein entschiedener Gegner eines kurzen Studiums. Seine ihm seitens der Universitiit auferlegte Pflicht, Langzeitstudenten zum Abschluss ihres Studi­urns zu "iiberreden", handelte er gewohnlich mit einer kurzen, offiziellen Ermah­nung ab und redete dem De1inquenten dann in einem anschlieBenden personlichen Gespriich zu, solange zu studieren, wie er es flir richtig hielt. "Was sie wahrend des Studiums nicht lemen, werden Sie spiiter entweder gar nicht oder nur mit Miihe nachholen konnen".

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Der ideale Professor 5

Sein Ziel war eine Lehre, die nicht als reine Wissensverrnittlung Fakten behan­delt, sondem das innere Verstiindnis, die logischen Zusammenhiinge und die we­sentlichen Gedankengeriiste mitteilen will. Der Lehrer sollte bei ihm AnstoB zum Selbstlemen geben, und nicht alleinige Quelle des Wissens sein. Konsequenter­weise gestaltete er noch zwei Semester vor seinem Tod seine Vorlesung "Fahr­zeugdynamik" in eine von den Studenten selbst ausgearbeitete, von ihm nur korri­gierte und kommentierte Lehrveranstaltung urn. Parallel dazu versuchte er als Dekan des Fachbereichs Fahrzeugtechnik, seine progressiven Ideen des selbstver­antwortlichen Lemens allgemein im ganzen Aufbau des Studiums umzusetzen. Viele seiner Ansichten waren seinen Kollegen zu progressiv, aber es blieb ein gehOriges StUck seiner Vorstellungen ubrig. Seinen letzten Erfolg hat er leider nicht mehr selbst erleben durfen.

Der ideale Professor

Thomas Jiirgensohn

Mein erster Eindruck von Prof. Willumeit war der eines freundlich liichelnden Herm, der mir nach zwei Minuten Unterredung einen Vertrag als studentischer Mitarbeiter aushiindigte. Ich suchte 1986 als Student der Elektrotechnik einen Job und hatte zufallig von der Bibliothek kommend einen Anschlag flir eine freie Stelle gesehen. Es wurde ein Regelungs- und Systemtechniker gesucht, der in einem Projekt zur mathematischen Modellbildung des Fahrerverhaltens mithelfen sollte. Ich war der einzige Bewerber und weiB noch wie heute, was me in erster Gedanke nach Verlassen des Besprechungszimmers war: "Der ideale Professor!" Dabei hatte ich nicht viel in den zwei Minuten kennen lemen konnen. Das Urteil "ideal" habe ich dann spiiter naturlich relativiert, aber es blieb immer der Eindruck von Herzlichkeit und vor allem Menschlichkeit jenseits von sonst allzu bekannten Professorenalluren.

Das Themengebiet der Fahrerrnodellierung fand ich damals ziemlich langwei­lig, weil zuwenig technisch. Was ist schon am Fahrer interessant? Die wirklich interessanten Fragen liegen doch in der Entwicklung modemer Technik. Ich hiitte mir damals niemals triiumen lassen, dass diese als Job gedachte Tiitigkeit Anfang einer langjiihrigen Zusammenarbeit mit Prof. Willumeit sein sollte. Aber so ist das wahrscheinlich immer: man bleibt hiingen. Aber nur dann, wenn die Rahmenbe­dingungen stimmen. Und die wurden von Prof. Willumeit in meinen Augen in hervorragender Weise geliefert. Neben der immer gesicherten Weiterfinanzierung meiner divers en Vertriige war es einerseits die weitgehende Freiheit in der For­schung, den die Mitarbeiter hatten und andererseits die Fiihigkeit, andere flir das jeweilige Themengebiet zu interessieren.

Prof. Willumeit war immer offen flir Anregungen seiner Mitarbeiter und konnte sich mit einer flir mich immer wieder verbluffenden Schnelligkeit in neue Gebiete einarbeiten. Ich erinnere mich noch sehr genau an eine Priisentation zur Einrich-

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6 Hans-Peter Willumeit: Versuch einer Wiirdigung

tung einer DFG-Forschergruppe, in der er einen von Mitarbeitem ausgearbeiteten Forschungsvorhaben vor einer Gutachterkommision darlegen musste. Uns war allen klar, dass ihm eigentlich viel zu wenig Zeit fur die Vorbereitung zur Verfu­gung stand. Umso iiberraschter und geradezu fasziniert waren wir, wie er dann die Thematik so iiberzeugend und klar vortrug, wie es keiner der Autoren hiitte tun konnen.

Eine der Haupttugenden von Prof. Willumeit war seine Begeisterungsfahigkeit fur Neues, Unbekanntes. Alles war willkommen, wenn es fur das groBe Ziel, die Modellbildung des Autofahrers, eingesetzt werden konnte. Viele sahen dies als Schwiiche, als Fehlen einer Wissenschaftlichkeit an. Auch ich war anfangs nicht immer von allen seinen Ideen iiberzeugt. Heute denke ich, dass dies genau der richtige Weg war, aus den immer schmaler werdenden Gleisen diszipliniir wissen­schaftlicher Forschung zu entfliehen. Diszipliniibergreifende Forschung erfordert eine groBe Offenheit gegeniiber Unbekanntem und den Mut, auch mitunter neb en die Wissenschaft zu treten und als bloB denkender Mensch zu handeln. Hans-Peter Willumeit war einer der wenigen, der diese Grenzen iiberschritten und damit Neu­es geschaffen hat.

Aus der personlichen Sicht eines Mitarbeiters war Hans-Peter Willumeit mehr als nur Chef, sondem zusiitzlich beratender Freund - auch in auBeruniversitiiren Angelegenheiten. Dieses Buch solI auch dazu dienen, den unterbrochenen Dialog in einer bestimmten Weise wieder aufleben zu lassen und dem Wunsch nach Dank Ausdruck zu verleihen.

Der zweite Vater

Raphael Jung

Es war mein erstes Semester im Hauptstudium Verkehrswesen und ich hatte mich gerade fur den Schwerpunkt Fahrzeugtechnik entschieden, als ich in das Institut fur Fahrzeugtechnik zur ersten Vorlesung "Dynamik der Kraftfahrzeuge" bei Prof. Willumeit kam. Nach der Frustration eines miiBig fesselnden Grundstudiums hatte ich die echte Hoffnung, nun mit interessanteren Inhalten als bisher konfrontiert zu werden. Ich sollte nicht enttiiuscht werden. Der freundlich liichelnde Herr gestalte­te die Vorlesung so interessant, dass ich nicht wusste, ob ich mehr von seiner personlichen Art oder von der Priisentation der Inhalte gefesselt sein sollte.

Schon bald wurde mir eine besondere Eigenschaft von Prof. Willumeit klar. Er hatte die Fiihigkeit mit vollig unterschiedlichen Menschen faktisch ohne Anlauf­zeiten in deren Sprache und auf deren intellektuellem Niveau zu kommunizieren. Unabhiingig davon, ob es sich urn Studenten, Werkstattmitarbeiter, Verwaltungs­beamte, Wissenschaftler oder einen der zahlreichen Besucher aus der Industrie handelte, traf er meist den richtigen Ton und gab einem dabei das Gefuhl, ernst genommen zu werden.

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Der engagierte Lehrer 7

Nicht zuletzt fiir dieses Gefiihl war Prof. Willumeit bei den Studenten beliebt, deren Meinungen er aktiv einforderte und die er stets zur Neugier aufforderte. Dabei zeigte sich, dass er selbst haufig geistig junger und beweglicher war als viele der Studenten. Er forderte seine Studenten unermudlich auf, sich nicht von den Medien verriickt machen zu lassen, wenn es beispielsweise urn Jobaussichten ging, sondem nach dem eigenen Intellekt und der eigenen Meinung zu entscheiden und zu handeln.

Ich hatte viele Jahre das Gluck, in verschiedensten Projekten am Fachgebiet Kraftfahrwesen mitarbeiten zu durfen und empfand Prof. Willumeit immer starker als wissenschaftlichen Vater, der mir mit konstruktiven Auseinandersetzungen, Gute und unermudlicher Forderung half, meinen Weg zu finden. Er erkannte mei­ne verschiedenen wissenschaftlichen Neigungen und begeisterte mich flir die Probleme in Mensch-Maschine-Systemen. Seine menschliche, stets groBziigige und unkomplizierte Art lieB eine tiefe Verbundenheit in mir wachsen. An der Vielfliltigkeit seiner Bildung, seiner Toleranz gegenuber Andersdenkenden, seines Interesses und seiner Offenheit Menschen gegenuber, mache ich - im nachhinein, muss ich es gestehen - meine Faszination flir diesen Menschen fest, der nicht nur eine Person, sondem eine Personlichkeit war.

Wir aIle, die wir ihn kannten und schiitzten, nannten ihn hinter seinem Rucken nur "Willu", ein Spitzname, der stets mit groBer Vertrautheit uber die Lippen kam. Aus dieser Vertrautheit und Sympathie entstanden auch unvergessene Vntemeh­mungen wie das aIljiihrliche Fachgebietssegeln auf seinem Segelboot. Jedes Mal, wenn wir das Schiff verlieBen, waren wir uns alle ein gutes StUck niiher gekom­men, was sich nicht zuletzt auch in der gemeinsamen Arbeit zeigte.

In den letzten Jahren als mein Doktorvater war er mir endgiiltig auch zum Freund geworden, zu dem ich stets mit gewisser Ehrfurcht hinab sah (er war ca.20 cm kleiner als ich) und dessen Art, das Leben zu meistem und zu genieBen, ich bewunderte. Den geplanten gemeinsamen Segeltom zu den Virgin-Islands werde ich in seinem Gedenken und fiir ihn machen.

Der engagierte Lehrer

Marita Irmscher

Ich lemte Prof. Willumeit bei der offiziellen BegriiBung einer chinesischen Gast­wissenschaftlerin in der Geschaftsstelle AuBenbeziehungen der TV kennen, wo ich damals arbeitete. Die normalerweise eher langweilige Fopnaliilit wurde von Prof. Willumeit zu einer frohlichen Runde in entspannter Stihtmung umfunktio­niert, in der auch lebhaft uber Wissenschaft und Forschung diskutiert wurde. Er beflirwortete vehement spielerisches Ausprobieren und forderte einen gewissen Pioniergeist, mit dem sich Forscher vor allem urn Versilindnis und neue Erkennt­nisse bemiihen sollten. Dieser Standpunkt war mir sehr sympathisch, und als ich eine Ausschreibung an seinem Institut zum Thema Interaktion zwischen Fahrer

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8 Hans-Peter Willumeit: Versuch einer Wiirdigung

und Fahrzeug fand, bewarb ich mich sofort. Gefordert waren im Wesentlichen Kenntnisse iiber Mehrkorperdynamik und menschliche Kognition. Ich kannte den Begriff Kognition zwar iiberhaupt nicht (ein Lexikon und eine Einfiihrung in die Psychologie mussten bemiiht werden), aber ich hatte groBe Lust auf das spieleri­sche Ausprobieren dieser spannenden Kombination aus technischen und human­wissenschaftlichen Fragen. 1m Oktober 1995 begann ich meine Tatigkeit als wis­senschaftliche Mitarbeiterin am Institut von Prof. Willumeit.

Wie ich schnell merkte, herrschte am Institut die gleiche entspannte Atmosphii­re wie bei jener ersten Diskussion. Prof. Willumeit hatte das groBe Talent, alle Mitarbeiter in eine solidarische, fast verschworene Gruppe einzubinden. Eine ganz wichtige Institution war dabei unser wochentliches Arbeitsfriihstiick. Er strahlte richtig, wenn er seine Gruppe moglichst zahlreich urn sich versammelt hatte und iiber alte Geschichten oder neue Ideen mit uns sprach. Auch "seine" Studenten wurden mit einem "Angrillen" zu Beginn des Wintersemesters in die Institutsfamilie einbezogen. Man aB und trank, plauderte und lemte sich kennen. Prof. Willumeit ging davon aus, dass Studenten und Mitarbeiter, wie er selbst, eigene Ideen verfolgen wollten und SpaB daran hatten. Er lieB uns also vollig freie Hand und gab hochstens eine professorale Anordnung, wenn ausnahmsweise einmal eine Vorlesungsvertretung anstand oder wenn wieder einmal keiner am Freitag Nachmittag ins ZMMS-Kolloquium gehen wollte.

Prof. Willumeit nahm sich immer Zeit fiir Fragen und Diskussionen mit Stu­denten und war stolz darauf, dass seine Vorlesungen gut besucht waren. Trotzdem war er als Priifer ziemlich gefiirchtet, vielleicht weil er sich mit jedem Priifling einzeln beschiiftigte und zuweilen hartnackig herauszufinden versuchte, was der­jenige wirklich begriffen hatte. Sorgfaltig auswendig gelemte Formeln beein­druckten ihn dabei iiberhaupt nicht.

Drei Jahre vor der Pensionierung fand Prof. Willumeit, dass er seine Lehrme­thode vielleicht noch einmal andem sollte. Bei einem Besuch in seinem Hauschen in Schleswig-Holstein bei einem guten Wein entstand das neue Konzept. Die Studenten sollten nicht mehr vorgesetzt bekommen, was sie auch seiber lesen konnten, sondem den in Gruppen seIber erarbeiteten Stoff den anderen vortragen. Als Dekan wollte er eine sehr offene Studienordnung mit vieIen Wahlmoglichkei­ten und wenig Biirokratie durchsetzen, schlieBlich diirfen Studenten heiraten, wahlen, aber nicht ihre Studienfacher bestimmen - absurd!

Prof. Willumeit war ein richtiger Weltenbummler und immer bereit, Vortrage auf intemationalen Konferenzen mit einer Reise durch das Land zu verbinden. Auch die Assistenten konnten davon profitieren. 1m Jahr 1999 kam er schmun­zelnd mit einer Konferenzankiindigung, einem call for papers und einem Bildband zu mir und fragte nur: "Waren Sie schon mal in Siidafrika, Marita? Nein? 1m Au­gust fahren wir hin!"

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1 Fahrzeugfuhrung: Anmerkungen zum Thema

Klaus-Peter Timpe

1.1 Vorbemerkung: FahrzeugfOhrung an der TU Berlin

Seit knapp einem halben Jahrhundert beschaftigt man sich in Deutschland intensi­ver mit dem Fahrer im Fahrzeug. Entsprechende Forschungen der damaligen Zeit sind mit den Namen Fiala oder Mitschke verbunden. Gegenstand ihrer Arbeiten war zumeist die Modellierung des Fahrerverhaltens, wobei haufig Anleihen an vergleichbaren Forschungen aus der Luftfahrt zu finden sind. Aber auch Untersu­chungen am Fahrsimulator zur Bestimmung des Einflusses der Ermlidung auf das Lenkverhalten oder Vigilanzmessungen zahlten am Beginn der Arbeiten zur Fahr­zeugflihrung zu den Schwerpunktthemen.

1m Jahre 1973 erhielt H.-P. Willumeit einen Ruf an die TU Berlin, Institut flir Kraftfahrzeugtechnik. Er griff diese Forschungsthematik aufund erweiterte sie auf Fragestellungen zum Einfluss von Psychopharmaka auf das Fahrverhalten. Schon Ende der 70er Jahre beginnt die auch formale Beschaftigung mit Problemen der Fahrermodellierung. Die Arbeiten wurden bis heute fortgesetzt, da H.-P. Willu­me it dieses Themengebiet als den Kern der Kraftfahrzeugflihrung ansah. In diese Zeit rallt auch der Beginn einer sehr fruchtbaren Zusammenarbeit mit Kollegen aus der Psychologie und der Arbeitswissenschaft. 1m Zuge dieser Forschungen gewinnt immer mehr die psychologieorientierte Fahrermodellierung an Bedeu­tung. Mit dies em Themenzuschnitt unterscheidet sich Willumeit wesentlich von seinen Kollegen in Deutschland, die fast ausschlieBlich auf der aIle in systemtheo­retischen Form der Modellierung beharren. Die Idee und Notwendigkeit der Ver­bindung ingenieurwissenschaftlicher Herangehensweisen an die Fahrermodellie­rung mit den Humanwissenschaften vermittelte er sehr nachhaltig auch seinen Mitarbeitern. Pars pro toto umreiBen Jiirgensohn (Kap. 7) und Irmscher (Kap. 8) einige Ergebnisse dieser interdisziplinaren Themenbearbeitung und die synergeti­schen Effekte der Konzeption.

Mit dieser Einbeziehung der Humanwissenschaften in die Forschungen am Fachgebiet eng verkniipft ist die Suche nach neuen Beschreibungsmethoden ftir die Komplexitat, Entscheidungsfindung und Zielabhangigkeit des Fahrverhaltens. So wird die Modellierung des Fahrerverhaltens mit Methoden der Fuzzy­Mathematik eines der Steckenpferde von H.-P. Willumeit und findet sich auch in vielen von ihm angeregten und betreuten Dissertationsthemen wieder. Hinzu kommen andere Methoden wie neuronale Netze oder maschinelle Lernverfahren als Darstellungsmittel flir Komponenten des Fahrerverhaltens.

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10 1 Fahrzeugfiihrung: Anmerkungen zum Thema

Trotz der Hinwendung zu den Humanwissenschaften bleibt die Kraftfahrzeugfiih­rung bei Willumeit immer eng mit der mathematischen Modellierung verkniipft. Andere Herangehensweisen wie sie aus der Verkehrspsychologie beispielsweise bekannt sind, werden von ihm nur am Rande aufgegriffen. In diesem Sinne unter­scheidet sich die am Institut fUr Kraftfahrzeugwesen vertretene Auffassung von FahrzeugfUhrung auch von anderen angrenzenden Gebieten wie z.B. der Ergono­mie im Kraftfahrzeugbereich oder der sog. Human-Factors-Forschung.

Sehr friih, etwa zu Beginn der 80er Jahre, baute Willumeit auch eine Lehrver­anstaltung "Fahrzeugfiihrung" auf. Schwerpunkte dieser Vorlesung waren natiir­lich die Modellierung des Fahrers, aber auch die Erkenntnisse der Humanwissen­schaften zur Psychomotorik, Informationsverarbeitung und Motivation bei der Fahrzeugfiihrung wurden vermittelt. In einer zum Vorlesungsangebot konzipierten Obung konnten die Studierenden mittels eigener Versuche am Fahrzeug ihre Kenntnisse praktisch vertiefen. Dieses Lehrangebot wird auch im Rahmen der Neustrukturierung der Technischen Universitat Berlin entsprechend des Willu­meitschen Grundkonzeptes weiterentwickelt.

1m Folgenden sollen einige Anmerkungen zum Gegenstandsbereich der Fahr­zeugfUhrung gemacht werden, die zum einen den interdisziplinaren Charakter dieses aktuellen Forschungsfeldes charakterisieren und zum anderen die Beitrage des Buches einordnen.

1.2 FahrzeugfOhrung als Tatigkeit im Mensch-Maschine-System

1.2.1 FahrzeugfOhrung im gesellschaftlichen Umfeld

Die Tatigkeit des Fiihrens eines Kraftfahrzeuges von einem Ausgangsort zu einem Zielort (im folgenden kurz als FahrzeugfUhrung bezeichnet) ziihlt neben der Flug­ftihrung zu den am meisten und besten untersuchten Tatigkeiten in einem Mensch­Maschine-System. Bruckmayr und Reker (1994) berichten, dass auf Grund der komplizierten Interaktionsprozesse wahrend der Fahrzeugfiihrung bereits bis 1994 38 Forschungsvorhaben zur menschlichen Informationsverarbeitung allein von der BAST ausgeschrieben wurden. Diese Zahl diirfte sich bis heute wesentlich erh6ht haben. Werden die international en Programme hinzugezahlt wird deutlich, dass diesem Problemkomplex von den Herstellern, den Organisationen, dem Gesetzge­ber usw. sehr groBe Bedeutung beigemessen wird. Begriindet ist dieses Interesse im Kern mit dem Anliegen, Bedingungen fUr die anforderungsgerechte Nutzung der neuen Quantitat und Qualitat der Informationen zu schaffen, die die heutige und zukiinftige Informations- und Kommunikationstechnik (I&K-Technik) einem Fahrer fUr die ErfUllung einer Fahraufgabe zur Verfiigung stellt.

Informationen tiber Umweltbedingungen, Zustande von Fahrzeugkomponenten, Fahrdaten, Navigationsdaten (GPS), Flottenmanagement oder "Infotainment" fUhren zu weitreichenden Veranderungen der Fahraufgaben, deren Folgen nicht zwangslaufig die Sicherheit im StraBenverkehr erh6hen und positive 6konomische

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1.2 Fahrzeugfiihrung als Tatigkeit 11

oder 6kologische Konsequenzen aufweisen. Projekte wie Prometheus, Drive oder IVHS wurden u.a. auch aufgelegt, urn derartige Sachverhalte zu untersuchen und Gestaltungslosungen fUr Fahrzeuge, StraBenverliiufe und Fahrerverhalten zu erar­beiten. Damit ist gleichzeitig der ganze Kanon der Mensch-Maschine-System­technik angesprochen, vor allem:

• die Gestaltung neuer Interaktionsmoglichkeiten wie Steer-by-wire oder von Bedienoberfliichen,

• die anthropometrische Auslegung des Fahrerinnenraumes, • das menschliche Risikoverhalten, • die Wahl der optimalen Automatisierungsstufe unter besonderer Berucksichti­

gung von Assistenzsystemen, • das Beanspruchungs-Belastungsdilemma, • die Fahrermotivation usw.

Verallgemeinert kann festgestellt werden, dass im Problembereich der Fahr­zeugfUhrung seitens der Fahrzeugindustrie und Hochschuleinrichtungen eine Ver­lagerung der Untersuchungsschwerpunkte von der Cockpitgestaltung hin zu Assis­tenzsystemen und rechnerunterstiitzten Bedienkonzepten stattgefunden hat und das Gebiet des Infotainment vol1ig neu ins Blickfeld ruckt.

Die Analyse, Bewertung und Gestaltung der Fahrzeugftihrung setzt vor diesem Hintergrund, gewissermaBen als Bezugssystem, ein elaboriertes WirkungsgefUge der Tiitigkeit voraus. Genauer: Erst die Kenntnisse der menschlichen Informati­onsaufnahme, -verarbeitungs- und -ausgabeprozesse erlaubt auch die anforde­rungsgerechte Gestaltung der Fahrzeugkomponenten sowie der Verkehrsumge­bung. Das Paradigma des Mensch-Maschine-Systems ist hierfUr ein geeigneter Untersuchungszugang.

Ein Fahrer (gemeint als Repriisentant unterschiedlicher Fahrertypen) rallt ent­sprechend seiner Zielstellung, des Fahrauftrages und der wahrgenommenen Riickmeldungen iiber die Fahrsituation und des Fahrzeugzustandes Entscheidun­gen und "fUhrt" das Fahrzeug. Diese Tiitigkeit ist immer in das komplexe Ver­kehrsgeschehen einzuordnen (Abb. 1.1), wobei die Komplexitiit resultiert aus:

• der Zielstellung, Gestaltungslosungen fUr ein Gesamtverkehrskonzept unter Bewahrung der individuellen Freiheit zu finden,

• dem hohen Vemetzungsgrad der zahlreichen Untersysteme des Gesamtsystems "Verkehr" und

• den Besonderheiten der Informationszirkulation in einem Verkehrssystem, die sowohl technisch-physikalischen als auch organismusspezifischen und sozia­len GesetzmiiBigkeiten gehorcht.

Verallgemeinert kann die Tiitigkeit des Menschen in komplexen Verkehrssyste­men mit drei Ebenen beschrieben werden (Abb. 1.2):

• Mikroebene (Mensch und Maschine, z.B. Fahrer - Fahrzeug in definierter Umgebung)

• Mesoebene (VerkehrsfUhrung, organisationale Bestimmungen) und • Makroebene (Technik und Gesellschaft, z.B. StVO)

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12 Fahrzeugfiihrung: Anmerkungen zum Thema

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Abb.1.1 Subsysteme im Verkehrssystem (Ausriss)

Diese "Ebenen" sind Thema unterschiedlichster Wissenschaftsdisziplinen und unterscheiden sich hinsichtlich der Eindeutigkeit ihres Gegenstandes. Fur eine Abgrenzung zwischen den Betrachtungsebenen "Technik und Gesellschaft" ge­genuber "Mensch und Maschine" gibt es daher keine klaren und eindeutigen Kri­terien bzw. ErkHirungen. Entscheidend fUr das Handeln der Akteure in diesen Ebenen ist, dass ihre Wirkmoglichkeiten durch ein BedingungsgefUge bestimmt werden, das (mindestens) durch Wissen, Wertesystem, Markt und politische wie rechtliche Regelungen festgelegt ist.

Makroebene

~ ~------------ J Regierung. Rechtsprechung

..-------. Mesoebene

~------------

~ Organisationen J Mikroebene -------------

Mensch-Maschine-Syscem

Abb. 1.2 Ebenen technischen Handelns (in Anlehnung an Konig, 1993)

Abbildung 1.2 zeigt exemplarisch, wie die in dies en Ebenen handelnden Akteure im Rahmen eines solchen BedingungsgefUges agieren. Valide Aussagen zum Verhalten des Menschen im Fahrzeug und im Verkehrssystem sind nur dann mog­lich, wenn seine Vemetzung in und mit den entsprechenden Teilsystemen betrach­tet wird.

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1.2 Fahrzeugfiihrung als Tiitigkeit 13

Aus diesem Sachverhalt folgt eine wesentliche Schlussfolgerung fiir die Analy­se und Gestaltung der Fahrzeugfiihrung: Der konzeptionelle Ansatz fUr die Be­trachtung der konkreten Wechselwirkungen zwischen Fahrer und Fahrzeug muss immer in den iibergeordneten Zusammenhang technischer und gesellschaftlicher Entwicklungen eingebettet werden (Dinse et aI., Kap. 17). Nur so werden zu kurz greifende bzw. lokale oder eindimensionale Gestaltungskonzepte vermieden. Op­timumnahe Fahrzeug- wie Verkehrsumgebungsgestaltung setzt daher die Kenntnis und Beachtung der Wechselwirkungen zwischen den relevanten Teilsystemen voraus, urn Aussagen hinsichtlich einer gewahlten Kriterienhierachie machen zu konnen. Denn der Innovationsdruck des Marktes wird dazu fiihren, dass auch in Zukunft neue I&K-Systeme immer wieder Anforderungsverlagerungen bei der Fahrzeugfiihrung nach sich ziehen. Exemplarisch solI an zwei Beispielen das Zusammenspiel der genannten unterschiedlichen Ebenen illustriert werden:

Automatisierung und Verantwortung Bei der Projektierung von Verkehrssystemen werden immer mehr Teilaufgaben den technischen Systemkomponenten zugeordnet. Beispielsweise sollen Unter­stiitzungssysteme kognitive Anforderungen bei der Systemftihrung bewaltigen. Neben den bereits bekannten Problemen moglicher Unterforderung des Fahrers bei sehr hoher Automatisierung sowie seines bei dieser Automatisierungsstrategie drohenden Kompetenzverlustes fiir das Verhalten in besonderen Situationen treten ungeloste juristische und ethische Fragen auf, die sich aus der Verwischung des Begriffs der Verantwortung in komplexen und verteilten Systemen ergeben. Fra­gen der Produkthaftung bei der Einfiihrung neuer Assistenzsysteme miissen unter einer solchen Perspektive neu bewertet werden. Insbesondere bei verteilten Sys­temen, in denen mehrere Menschen bzw. Organisationen an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Aufgaben das Verkehrsgeschehen beeinflussen, muss der Frage der Teilbarkeit und Delegierung von Verantwortung nachgegangen werden (Timpe u. Rotting, 2000).

Sicherheit und menschliche Zuverliissigkeit Werden Unfrllle, Beinahe-Unfrllle oder ahnliche ungewollte Ereignisse analysiert, werden meist drei Fehlerursachen genannt:

menschliches Versagen technisches Versagen oder hOhere Gewalt.

Jedoch ist es nur in seltenen Fallen moglich, eine klare Ursachenzuschreibung vorzunehmen. Bekannt ist die Analyse des besonders tragischen Unfalls bei Her­born auf der Bundesstrasse 255. Sechs Menschen starben, als damals ein mit 36.000 Liter Treibstoff beladener Tanklastzug, ausgeriistet mit einem als beson­ders sicher geltenden elektropneumatischem Schaltgetriebe und gefahren von einem als besonders zuverlassig geltenden Fahrer, in ein Haus raste. Versagten die Bremsen, verhinderte das neue Schaltgetriebe ein Zuriickschalten oder war der Fahrer mit der neuen Technik des Getriebes ungeniigend vertraut (Brauner 1988)?

Zu diesen pars pro toto ausgewahlten Fragestellungen sind weiterfiihrende Problemeinsichten nur dann zu gewinnen, wenn nicht die einzelne Ursache in

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14 1 Fahrzeugfiihrung: Anmerkungen zum Thema

einer Ebene gesucht wird, sondem Unfalle als multikausales Beziehungsgeflecht unterschiedlicher Verantwortungsebenen systemtechnisch aufgefa13t werden. Eine andere, hier nicht zu erortemde Frage ist es dann, wie entsprechende Klarungen juristisch herbeigeflihrt werden - womit auch die Makroebene angesprochen ware.

Ohne weitere Begriindung sei festgestellt, dass die Fahrzeugentwicklung auf die Mikroebene fokussiert und diese im Kontext der Meso-Ebene durchflihrt. Die Organisation wird damit zum Mittler zwischen der Betrachtungsweise von "Tech­nik und Gesellschaft" und der konkreten Fahrzeugauslegung, die die Mikroebene in den Mittelpunkt stellt (ausflihrlicher s. Timpe u.a., 2000).

Die Perspektive der Darstellung in diesem Buch ist schwerpunktrnaBig auf die Mikroebene eingeengt, da flir ein Entwicklungsteam zunachst das Produkt "Ein­zelfahrzeug" im Mittelpunkt steht. Wenn nachfolgend immer von Fahrer-Fahrzeug gesprochen wird, ist dies immer vor dem angedeuteten methodologischen Hinter­grund zu sehen. Es solI daher betont werden, dass Kundenakzeptanz, Markenphi­losophie, Produkthaftung usw. selbstverstandlich entscheidende Rahmenbedin­gungen von Fahrzeugentwicklungskonzepten bilden (s.z.B. Beier et aI., Kap. 16) und fUr die Fahrer-Fahrzeug-Betrachtung unverzichtbar sind.

1.2.2 Oas Mensch-Maschine-System "Fahrer-Fahrzeug"

Der BegriffMensch-Maschine-Systeme bezeichnet eine zweckmiiBige Abstraktion des zielgerichteten Informationsaustausches von Arbeitspersonen mit technischen Systemen ("Maschinen") zur Erflillung eines selbst- oder fremdgestellten Arbeits­aufuages innerhalb festgelegter Systemgrenzen (Abb. 1.3). Die Aufnahme der Prozess- und Umgebungsinformationen durch den Fahrer erfo1gt entweder direkt (z.B. Wahmehmung eines veriinderten Motorengerausches) oder indirekt (z.B. Drehzah1anzeige ).

Anliegen der Mensch-Maschine-Betrachtung ist die Optimierung der Informa­tionszirkulation in einem solchen System, hier also des Informationsflusses zwi­schen Fahrer-Fahrzeug und Umgebung.

Das Fahrzeug weist zahlreiche technischen Komponenten auf, deren Gestaltung flir diesen Informationsaustausch von Bedeutung sind und deren Ausformung von entscheidendem Einfluss auf die Giite der Fahrzeugfiihrung ist. Dazu zahlen bei­spielsweise Entwurfund die Auslegung von

• Anzeige- und Bedieneinheiten zur Erflillung der Fahraufgaben und Komfort-funktionen (Interface-Gestaltung im engeren Sinne)

• Assistenzsystemen (Hilfesystemen) flir unterschiedlichste Anforderungen • dynamischen Eigenschaften des Fahrzeuges und • Bewegungs- und Sichtbedingungen im Fahrzeuginneren und nach auBen.

Probleme und Ergebnisse hierzu liegen in groBer Zahl flir die unterschiedlichs­ten Branchen vor und geben begriindete Hoffnung, die Fehler relevanter Gestal­tungslosungen fUr andere Verkehrssysteme im Rahmen der Fahrzeugfiihrung nicht zu wiederholen. Insbesondere ist es notwendig, dass der Fahrer seine Aufgaben auch in zeitkritischen Situationen innerhalb der Grenzen seiner Informationsverar­beitungskapazitat erfiillen kann.

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1.2 Fahrzeugfiihrung als Tiitigkeit 15

, Umgebung Organisation

f

FAHRZEUG Motorische Sensorik Motorik

Fahrzeugdynamik Vermittlung

Wissensbasis Steuergerat Motivationsbasis

Hilfesystem indirekte Ziele

Benutzun~s- Sensorische schnittste Ie Vermittlung LKW-Fahrer

Lenkrad Taxi-Fahrer Vielfahrer Gaspedal direkte

Tacho .... ....

FAHRER

Abb. 1.3 Das Mensch-Maschine-System "Fahrer-Fahrzeug"

1.2.3 Aufgaben des Fahrers bei der FahrzeugfOhrung

Die Aufgaben des Fahrers haben sich in den letzten lahrzehnten auBerordentlich gewandelt. Zu den allgemein bekannten Primaraufgaben der Fahrzeugfiihrung sind zahlreiche Sekundaraufgaben im Zusammenhang mit den verschiedensten sog. Komfortfunktionen hinzugekommen (Bengler, Kap. 12; Schattenberg u. De­bus, Kap. 11; Zimmer, Kap. 3). Tabelle 1.1 gibt einen Oberblick iiber die heute und in absehbarer Zeit wichtigsten Aufgaben bei der Fahrzeugfiihrung.

Tabelle 1.1 Aufgaben bei der Fahrzeugfiihrung

Pri maraufgaben Planen (z.B. Auswahl einer Fahrroute)

Manovrieren (z.B. Oberholvorgang einleiten)

Stabilisieren (z.B. Spur- oder Abstand halten)

Sekundaraufgaben Kommunizieren (z.B. Telefonieren. Routen erfragen)

Richtungsanderungen anzeigen

Oberwachen und Bedienen (z.B. Radio einschalten. Klimaanlage regeln usw.)

Informationen des Bordcomputers verarbeiten •...

Diese beiden Aufgabentypen k6nnen nicht unabhangig voneinander betrachtet werden. Es bestehen sowohl Wechselwirkungen innerhalb der drei Ebenen bei der

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16 1 Fahrzeugfiihrung: Anmerkungen zum Thema

Primiiraufgabe als auch zwischen den beiden Aufgabengrundtypen. Dabei unter­stiitzen die Sekundiiraufgaben hiiufig die Erfiillung der Primiiraufgaben. Hierzu liegen umfangreiche Erkenntnisse vor, auf die nur verwiesen werden kann. Es gilt aber herauszustellen, dass es trotz dieser teilweise sehr detaillierten Kenntnisse bis heute nicht gelungen ist, fUr die Simulation der Fahrzeugfiihrung bereits im Ent­wicklungsprozess ein normatives Fahrermodell ("Bedienermodell") zu schaff en. Die Fortschritte auf diesem Wege sind allerdings beachtlich und werden in mehre­ren Beitriigen in diesem Buch dargelegt (Onken, Irmscher; Jiirgensohn; Kap. 6-8).

1.3 Zur mensch lichen Informationsverarbeitung bei der FahrzeugfLihrung

1.3.1 Ein allgemeines Informationszirkulationsmodell

Die Giite der Fahrzeugfiihrung - definiert im wesentlichen durch Oberziele wle hohe Sicherheit, 6kologisches Fahren, groBe Fahrerzufriedenheit und hohe Wirt­schaftlichkeit - resultiert sowohl aus den Prozessen der Informationsverarbeitung des Fahrers als auch den technischen Parametern eines Fahrzeuges. Wiihrend die technischen Parameter (kurzer Bremsweg, hohe Wendigkeit, gute Beschleunigung usw.) in den meisten Fiillen eindimensional und somit (relativ) einfach operationa­lisierbar sind, miissen Ansiitze fUr die Optimierung des Informationsaustausches Fahrer-Fahrzeug die relevanten Kriterien aus den Erkenntnissen humanwissen­schaftlicher Disziplinen bzgl. der menschlichen Informationsverarbeitung zu Grunde legen. In der Allgemeinen Psychologie wurden iiber die GesetzmiiBigkei­ten der menschlichen Informationsverarbeitung sehr differenzierte Vorstellungen erarbeitet. In noch zuliissiger Vereinfachung kann die Informationszirkulation zusammenfassend mit drei Komponenten beschrieben werden, die nur aus didakti­schen Grunden getrennt werden:

• System zur Verarbeitung der Umgebungsreize zu Merkmalen (Informationsaufnahme)

• Gediichtnis mit seinen verschiedenen Substrukturen (lnformationsverarbeitung im engeren Sinne )

• System zur Handlungsausfiihrung

Dieses Wirkungsgefiige ist in Abb. 1.4 dargestellt. Es wird davon ausgegangen, dass aIle Mitteilungen und Handlungen eines Fahrers das Resultat von Informati­onsverarbeitungsprozessen (z.B. Vergleichen, Entscheiden oder Erkennen) im Nervensystem sind. Diese Prozesse werden im wesentlichen von Signalen aus der Umgebung und Kiniisthesie sowie durch das im Gediichtnis gespeicherte Wissen gesteuert. Weitere verhaltensregulierende Instanzen (wie die Erbanlagen) werden nachfolgend nicht beachtet.

Page 34: Kraftfahrzeugführung ||

Sensorik

1.3 Zur menschlichen Infonnationsverarbeitung 17

Langzeitgedachtnis

f····~·········: f-E~·;;~~~i~~~~;~1 r~~~di~~··~~: , Wlss~ns- ~ und SchlussJ;>ro-:-:program~e: : basIs : : zesse:Arbe.lts-: : Strategien 1 : __ ........... __ : : gedachtms : : ......•...... J

1 .. __ ....... _ ........... 1

Motivationsbasis:

Ziel

Motorik

Abb. 1.4 Schema der Infonnationszirkulation zwischen Fahrer und Fahrzeug

Wie in Abb. 1.4 dargestellt ist, werden die Informationen uber Rezeptoren (Senso­rik) aufgenommen und dekodiert. Dominant fUr diese Wahmehmungsprozesse ist heute noch das Auge und, mit wesentlich geringerem Anteil, das Ohr. Aber auch das haptische und vestibulare System ist intensiv an der FahrzeugfUhrung beteiligt und es gibt nachhaltige Bemuhungen, vor allem das visuelle Rezeptorsystem zu entlasten und den haptischen bzw. kinasthetischen Sinn aktiv in die Informations­zirkulation zu integrieren (Bubb, Kap. 10; Akyol et aI., Kap. 9; Kolrep u. Fank­hauser, Kap. 14).

Die dekodierten Informationen gelangen in das Gedachtnis, wo sie mit den dort gespeicherten Informationen verglichen werden. Das Ergebnis eines solchen Ver­gleiches kann eine Erkennung oder eine Bedeutungserfassung sein, kann aber auch zu weiteren Verarbeitungsschritten fUhren, die Entscheidungen ermoglichen und motorische Aktivitiiten bewirken - z.B. im Form von Lenkbewegungen.

Weiterhin wurde nachgewiesen, dass die Bewertung der zu verarbeitenden und verarbeiteten Information von entscheidender Bedeutung fUr die Auseinanderset­zung mit der Umgebung und damit die Gute der Fahrerleistung ist. Prinzipiell muss davon ausgegangen werden, dass die menschliche Informationsverarbeitung (also alle kognitiven Prozesse) nicht ohne Bezug auf die Motivationsbasis (Be­wertungs- und Aktivierungsprozesse bzw. Beanspruchung) begreifbar sind. Diese Problematik ist fUr aIle verkehrspsychologischen Anliegen wohlbekannt, jedoch einer formalen Modellierung bis heute schwer zuganglich. 1m Zusammenhang mit der Entwicklung von Fahrersimulationsmodellen wird im vorliegenden Buch dieser Sachverhalt von Onken, Irmscher und JUrgensohn (Kap. 6-8) aufgegriffen.

1.3.2 Fahrzeugfuhrungstypische Wahrnehmungscharakteristika

Typisch fUr die ErfUllung der Primaraufgaben bei der Fahrzeugfuhrung ist die hohe Automatisierung der motorischen Handlungen. Diese in den sog. Ebenen­modellen (Hacker, 1973 oder Rasmussen, 1986) als fertigkeitsbasiert beschriebene

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18 I Fahrzeugfiihrung: Anmerkungen zum Thema

Koordinationsleistung zwischen Wahmehmung (z.B. charakterisiert durch Augen­bewegungen, Seifert u.a., Kap. 13) und Motorik (z.B. charakterisiert durch Hand­oder Armbewegungen) setzt eine anforderungsgerechte Wahmehmung der Infor­mation voraus. Das allerdings ist haufig nicht gegeben. So berichtet z.B. Fasten­meier (1995), dass Fahrer nur relativ ungenau Abstand und Relativgeschwindig­keit zu vorausfahrenden Fahrzeugen abschatzen konnen. Folgen dieser unzurei­chenden Wahmehmung sind ein inhomogener Verkehrsfluss mit vermindertem Verkehrsdurchsatz (Naab u. Reichart, 1998), der zu okonomischen (und okologi­schen!) Folgeschaden fUhren kann. Hilfesysteme fUr die Abstandshaltung einzu­setzen Iiegt auf der Hand. Nur ungenau vermag der Fahrer auch Umgebungszu­stande einzuschatzen, z.B. Kurvenradien, StraBenzustande usw. Parameter dieser Wahmehmungsleistungen sind u.a. der Lemzustand und das Alter des Fahrers sowie seine sensumotorischen Leistungsvoraussetzungen. Nicht jeder kann, selbst bei beliebig hohem Trainingsaufwand, ein Schumacher werden!

Das jedoch in derartigen, anscheinend "alten" wahmehmungspsychologischen Problemen auch heute noch anspruchsvolle Forschungsthemen versteckt sind, belegen die sog. Baumunfalle. Handelt es sich dabei urn Wahmehmungstauschun­gen beim Fahrer auf Grund irrefUhrender Fahrbahnmarkierungen, beeinflusst bei Lichteinfallen durch die Baumkronen ein stroboskopischer Effekt seine Umge­bungswahmehmung, entsteht bei Einfahrt in eine Baumallee moglicherweise eine Art Tunnelblick oder wirken diese und andere Einflussfaktoren zusammen - Ant­worten auf solche Fragen konnen sicher zur Verringerung der Unf1ille dieses Typs beitragen. Beier et al. (Kap. 16) skizzieren weitere, aktuelle Wahmehmungsprob­Ierne, deren Losung fUr die Fahrzeugtechnik von hohem Interesse ist.

Abb. 1.5 Experimentell ermitteltes Blickfeld im Fahrzeugcockpit (nach Lambie, 1999). Zahlen in den Kreisen bezeichnen die Blickwinkel (in Grad).

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1.3 Zur menschlichen Informationsverarbeitung 19

Andere auch heute noch relevante Fragestellungen flir fahrzeugflihrungstypische Wahrnehmungsleistungen betreffen die Anordnung (Abb. 1.5), Auswahl, Kodie­rung, Kompatibilitlit usw. der Anzeigen und Bedienelemente im Fahrercockpit. Zu diesen klassischen Fragestellungen ist die gestaltungsrelevante Information flir die Anliegen der Fahrzeugflihrung haufig bereits ingenieurmaBig aufbereitet, so das dieser Themenkreis nachfolgend nicht weiter verfolgt wird. Anders jedoch stellt sich dieser Sachverhalt flir Gestaltungsli:isungen im Kontext der Integration der I&K-Technologie im Fahrzeug dar. Zahlreiche Beitrage sind dieser Thematik gewidmet (z.B. Schattenberg u. Debus, Kap. 11; Farber, Kap. 4).

1.3.3 Informationsverarbeitung i.e.S.

Es gibt verschiedene Konzepte flir die Analyse und Erkllirung kognitiver Prozesse. Leider ki:innen sie nicht ohne wei teres miteinander in Beziehung gesetzt werden. Darauf kann hier nicht eingegangen werden (s. Muthig 1990), jedoch sollen aus dem in Abb. 1.3 dargelegten Rahmenmodell einige flir die Fahrzeugflihrung inte­ressante Aspekte herausgestellt werden.

Spatestens seit Schneider u. Shiffrin (1977) werden bei der menschlichen In­formationsverarbeitung zwei Systeme unterschieden (s. auch Rasmussen, 1986):

• Das eine System kann als bewusste, kontrollierte Informationsverarbeitung bezeichnet werden. Es ist quasi durch einen sequentiell arbeitenden Prozessor begrenzter Kapazitat und Schnelligkeit gekennzeichnet, der in Wechselwir­kung mit dem Kurz- und Langzeitgedlichtnis steht. Damit wird die Informati­onsaufnahme und -verarbeitung in Situationen bestimmt, die u.a. logisches Schlussfolgern und symbolisches Denken verlangen. AuBerdem wird ihm die Zielbildung und Handlungsausflihrung zugeordnet. Durch dieses System wird auch die Arbeitsweise des zweiten Systems kontrolliert. (Beispiel: an Kreu­zung links abbiegen).

• Dieses zweite System kann als automatische Informationsverarbeitung be­zeichnet werden. Es wird als verteiltes, parallel arbeitendes System mit hoher Verarbeitungskapazitat interpretiert. Es leitet und orientiert die Wahrnehmung und steuert auf der Basis dieser Wahrnehmungen und einem internen Wis­sensmodell die Bewegungen und Handlungen. Die in diesen System ablaufen­den Prozesse sind nicht bewusst und nur schwer verbalisierbar. Sie werden durch das erste System iiberwacht. (Beispiel: zum links abbiegen Auge mit Lenkbewegung koordinieren).

Hervorzuheben ist bei dieser Konzeption, dass die Prozesse bzw. Verarbei­tungsstufen in vielen Anwendungsbereichen als Analyseparadigma aufgegriffen wurden. Dieser konzeptionelle Rahmen ermi:iglicht die Aufbereitung eines breiten Bereiches von Tlitigkeiten und bietet einen ordnenden Rahmen flir die Bearbei­tung unterschiedlicher Aspekte der Tatigkeit.

Auch flir die Fahrzeugflihrung wird dieser Ansatz hliufig, natiirlich in modifi­zierter Form, zu Grund gelegt. Abbildung 1.6 zeigt beispielsweise ein sehr friihes

Page 37: Kraftfahrzeugführung ||

20 1 Fahrzeugfiihrung: Anmerkungen zum Thema

Model1, das fUr die Analyse und Gestaltung von Fahrzeug, Fahrumgebung und Fahrbahn gelten soli (s. auch Klebelsberg, 1982; oder Zimmer, Kap. 3).

Aktion

Handlungsentwurf r

Riickmeldung optisch. akustisch

Riickmeldun.g kinasthetiscll

Automatismen

Entscheidung

Stimuli der Verkehrslage

Motivationen Interessen Erfahrungen

Abb. 1.6 Ein friihes Modell der Fahrzeugfiihrung Cnach Burkardt, 1965)

Auf einige fUr die Fahrzeugftihrung relevante Sachverhalte soli kurz hingewiesen werden:

• 1m Langzeitgedachtnis als Trager der internen Reprasentation von Bedingun­gen der FahrzeugfUhrung ist das Wissen tiber die mit der ErfUllung der Fahr­aufgabe zusammenhangenden Sachverhalte als Fakten- oder prozedurales Wis­sen ("internes" oder haufig auch "mentales" Model1) gespeichert. Muthig (1990) weist in diesem Kontext darauf hin, dass es fUr eine effiziente Interakti­on zwischen Mensch und Maschine entscheidend ist, die funktionalen Eigen­schaften und Zusammenhange des technischen Systems einem Nutzer so zu prasentieren, dass er sie zu einem fUr die Integration hinlanglich geeigneten, funktionalen mentalen Abbild zusammenfUhren kann. Das gilt nattirlich auch fUr die Gestaltung von Umgebungseigenschaften, die jedoch nur teilweise be­einflusst werden konnen (z.B. StraBenfUhrung und -markierung, Beschilderung usw.). Wenig erforscht ist bis heute die "Dynamik" eines solchen mental en Model1s, insbesondere seine Vedinderung durch Lemen oder situative Veran­derungen in der Zeit.

• Zwischen Wahrnehmung und interner Reprasentation besteht immer eine Wechselwirkung, in Abb. 1.4 durch einen Doppelpfeil gekennzeichnet. Das bedeutet u.a., dass die Wahrnehmung immer auf erwartete Veranderungen hin ausgerichtet wird wie auch umgekehrt, dass das sensorische System zum Auf-

Page 38: Kraftfahrzeugführung ||

1.3 Zur menschlichen Informationsverarbeitung 21

bau des mentalen Modells beitragt. Information und Verhalten sind daher eng verkniipft. Hieraus leitet sich u.a. ab, dass sehr haufig Augenbewegungen (wie andere Bewegungen auch) zu Recht als Indikator kognitiver Prozesse interpre­tiert werden k6nnen und ihre Messung sich zu einer Standardmethode fUr Ges­taltungsanliegen und das usability engineering zu entwickeln scheint. Fiir die meisten Anliegen der FahrzeugfUhrung spielen daher, wie erwahnt, die Au­genbewegungen bei der Analyse, Bewertung und Gestaltung sensumotorischer Koordinationsleistungen eine bedeutende Rolle (Seifert et aI., Kap. 13).

• Die Art und Weise der internen Reprasentation bestimmt in hohem MaBe das Fahrverhalten. Jeder Fahrer hat eine "Vorstellung" von den Eigenschaften sei­nes Fahrzeuges, des Fahrauftrages und den Fahrbedingungen. 1m Rahmen ei­nes Lernprozesses wird das mentale Modell aufgebaut, wobei die Merkmale der technischen Komponenten wie auch das Fahrerwissen (z.B. in der Fahr­schule erworben) intern gespeichert werden. Daraus resultiert die schwierige Aufgabe bei der Fahrzeugentwicklung, die Merkmale eines fUr die Fahrzeug­fUhrung vorgedachten Interfaces so zu auszuwahlen und zu dimensionieren, dass der Fahrer sein internes Modell effizient aufbauen kann oder aber daftir zu sorgen, dass die Eigenschaften und Merkmale der technischen Komponen­ten mit einem schon vorhandenen internen Modell korrespondieren (z.B. bei einem Modellwechsel oder neuen Systemkomponenten).

• Von besonderem Belang fUr die Fahrsicherheit ist in diesem Kontext das sog. interne "Gefahrenmodell", iiber das jeder Mensch fUr jede Situation verfUgt. Seit der Wildeschen Hom60stasetheorie (Wilde, 1982) liegen dazu zahlreiche, auch widerspriichliche Erkenntnisse vor. Folgt man der Grundaussage von Wilde, so wahlt vereinfacht gesagt, der Fahrer sein Fahrrisiko immer in Ab­hangigkeit von den aktuellen Fahrzeugparametern. Mit jedem neuen Assis­tenzsystem wird somit auch fUr jeden Fahrer die M6glichkeit nahegelegt, sein Fahrverhalten so zu andern, dass die neuen, mit dem Assistenzsystem gegebe­nen M6glichkeiten der FahrzeugfUhrung ausgesch6pft werden. Der Versuch, diesen Gefahren durch Aufsetzen eines neuen Hilfesystems zu begegnen, sollte daher griindlich iiberdacht werden, da der Entwickler auf diese Weise in einen Circulus vitiosus gerat. Mmlich, wie Farber (1990) formulierte, dass jede An­zeige eine Aufforderung zum Hinsehen ist (und damit ablenkt), kann postuliert werden, dass j edes neue Assistenzsystem als eine M6glichkeit (oder Aufforde­rung?) zum Fahren im Grenzbereich aufgefasst werden kann. Zumindest zwei Fragestellungen sollten bedacht werden:

Kann ein Fahrer die Grenzen der Leistungsfohigkeit des aktuell, wiihrend der Fahrt, wirksamen Assistenzsystems abschiitzen? Kompensiert ein Assistenzsystem kritische Zustiinde wiihrend der Fahrt derart, dass der Fahrer sich infalscher Sicherheit wiegt?

Hierzu sind allerdings nur wenige Forschungsresultate bekannt (z.B. Nirschel u. Kopf, 1997, Haller, Kap. 2; Frank u. Reichelt, Kap. 5). Zu priifen ist, inwieweit die in der Luftfahrt bereits gewonnenen Erkenntnisse zur situation awareness einen Beitrag zu diesem Problembereich liefern k6nnen (vgI. z.B. HauB u.a., 2001).

Page 39: Kraftfahrzeugführung ||

22 1 Fahrzeugfiihrung: Anmerkungen zum Thema

1.4 Einige Schlussfolgerungen fur die Interaktionsgestaltung

1.4.1 Fahrerassistenzsysteme

Die Gestaltung der Interaktion zwischen Fahrer und Fahrzeug ist an den einleitend genannten Aufgaben orientiert. Konzeptuell steht die Erfiillung der Primaraufga­ben im Vordergrund, die durch die Ausfiihrung der Sekundaraufgaben nicht nega­tiv beeinflusst werden durfen. Uberwachungsaufgaben werden selten sein, da unerwiinschte Betriebszustande durch hohe technische Fertigungsqualitat nahezu ausgeschlossen werden konnen.

Urn neben der Steigerung der Leistungsflihigkeit vor allem hohe (aktive) Si­cherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltvertraglichkeit sowie groBen Komfort bei der ErfUllung der Fahraufgabe zu erreichen, wurden und werden zahlreiche Un­terstutzungs- bzw. Assistenzsysteme entwickelt. Reister (1996) vergleicht die Funktion dieser Systeme mit der eines Stabes bei der AufgabenerfUllung. In Ab­hiingigkeit yom Gesamtziel sind sehr unterschiedliche Anforderungen zu erfiillen. Daten- bzw. Situationserfassung und -bewertung, Bestimmung der zielfUhrenden Sollwerte, deren Vergleich mit den Handlungen sowie Informationen uber Abwei­chungen und Auslosung von Korrekturen kennzeichnen potentielle Leistungsbe­reiche heutiger Assistenzsysteme. Wissen uber Nutzer, zu erfUllende Aufgaben und die aktuelle Situation mussen hiiufig in diesen Systemen implementiert wer­den. Prinzipiell konnen hierbei alle menschlichen informationsverarbeitenden Prozesse unterstUtzt werden (Tabelle 1.2).

Tabelle 1.2 Beispie1e fur die Unterstiitzung von Funktionen der menschlicher Informati­onsverarbeitung

Funktion

Wahrnehmung

(Sensu)motorik

Problemlosen

Arbeitsgedachtnis - langzeitgedachtnis

Entscheiden

Aktivierung

Beispiele

Pradiktoranzeigen, aufgabenbezogene Informationsdarstellung, multi modale bzw. okologische Schnittstellen

Kraftverstarkung

Automatisierte Interferenzen, Hinweise auf Inkonsistenzen, wissensbasierte Systeme, Auralisation bzw. Visualisierung von Information, Checklisten, Ablage von Faktenwissen, adaptierba­re Informationsdarbietung, Glossar, lexikon, Fallsammlung

Zielstrukturierung, Alternativenbewertung, Gewichtung

Optische, akustische oder haptische Signale (Mehrfachkodierung)

Durchforstet man die bis heute bzw. in nachster Zeit erreichten technischen Lo­sungen fUr die verschiedenen Stufen der Fahrerassistenz, so findet man tatsachlich sehr viele der notwendigen Fahreraktivitaten mit Hilfe technischer Losungen as­sistiert (Frank u. Reichelt, Kap. 5 oder Haller, Kap. 2). Von herausragender Be-

Page 40: Kraftfahrzeugführung ||

1.4 Einige Schlussfolgerungen 23

deutung sind hierbei Informations- und Kommunikationssysteme, die der Erfas­sung, Interpretation und Ubermittlung der Fahrumgebung (z.B. durch bildverar­beitende Sensorik) und Fahrzeugzustande dienen. Farber und Farber (1999) ste11-ten im Rahmen ihrer umfangreichen Analyse 20 Gruppen derartiger Systeme fest, weitere Innovationen sind zu erwarten. Diese reichen von autonomen Fahrzeugen iiber Miidigkeitswarner bis hin zum Verkehrsmanagement. Mit dieser Vielzahl neuer Systeme hat sich eine neue Qualitat in der Fahrzeugftihrung entwickelt, wobei durchaus nicht immer klar ist, ob ihre Nutzung einen Sicherheitsgewinn oder zusatzliche Ablenkung eines Fahrers bedeutet. Fehler, die aus neuen, zuvor unbekannten Fehlerque11en resultieren, konnen im Fahrzeugcockpit auftreten (Bengler, 1999). Paradox klingt daher nach dem Gesagten der Vorschlag, einen "Scheduler" einzuftihren, der eine gezielte Auswahl von Informationen ftir den Benutzer vornimmt, urn Uberlastungen zu vermeiden (nach Bengler, 1999).

Unter dem Aspekt der Informationsverarbeitung in der Fahrzeugftihrung inte­ressiert hier vorwiegend, welchen Einfluss diese neuen Systeme auf das Fahrver­halten haben oder genauer, wie die Wechselwirkungen zwischen primarer und sekundarer Fahraufgabe durch sie beeinflusst werden. Diese Frage kann nur bei Kenntnis des Fahrauftrages beantwortet werden. A11gemein ist a11erdings davon auszugehen, dass die ftir die Unterstiitzung oder Realisierung der sekundaren Fahraufgaben entwickelten Unterstiitzungssysteme nur partiell die primare Fahr­aufgabe unterstiitzen. Auch verandern die im F ahrzeug zur Verftigung stehenden Datenmengen, seien es interne oder externe Informationen, das Beanspruchungs­profil und nachfolgend haufig auch das Aufmerksamkeitsprofil (d.h. die Aufmerk­samkeitsverteilung) des Fahrers.

Vor dem Hintergrund dieser Situation und den zukiinftig zu erwartenden weite­ren Telematiksystemen ist es notwendig, die Bewertung der Interaktionen Fahrer­Fahrzeug-Umgebung und die ergonomische Gestaltung des Informationsaustau­sches zwischen diesen Systemen an den Kenntnissen iiber die menschliche Infor­mationsverarbeitung zu orientieren und moglichst in Gesetzen oder Normungs­empfehlungen zu fixieren.

Ein Beispiel: Einige Privatsender prasentieren Laufschriften mit verkehrsfrem­den Informationen auf dem Autoradio (Farber u. Farber, 1999). Werden diese wahrend der Fahrt eingespielt, kann eine Orientierungsreaktion mit unwi11kiirli­cher Blickzuwendung ausgelost werden, die zu einer Ablenkung yom Verkehrsge­schehen ftihrt. Derartige negative Auswirkungen von Informationssystemen sol1-ten vermieden und untersagt werden, ahnlich wie erfreulicherweise auch das Tele­fonieren wahrend der Fahrt bereits in einigen Landern nicht mehr zulassig ist.

Eine weitere Moglichkeit, den Sicherheitsbeeintrachtigungen durch die zuneh­mende Informationsmenge zu begegnen, besteht im multimodalenl-medialen In­formationsaustausch. So kann die ablenkende Wirkung visueller Anzeigen nicht nur durch Verzicht auf entsprechende Anzeigedisplays verringert werden, sondern auch durch die Nutzung anderer Informationskanale. Urn die visue11e Ablenkung einzuschranken, werden daher auch zunehmend akustische Ein- und Ausgaben mit in die Kommunikation einbezogen, auch der kinasthetische und haptische Kanal werden auf ihre Eignung fur den aktiven Informationsaustausch bei der Fahrzeug­ftihrung gepriift (Bubb, Kap. 10; Bengler, Kap. 12; Aykol et ai., Kap. 9). Akusti-

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24 1 Fahrzeugfuhrung: Anmerkungen zum Thema

sche Signale, Sprachein- und -ausgabe, Multifunktionsdisplays u.a. werden ge­genwartig von vielen Herstellern bzgl. ihrer Vor- und Nachteile getestet, wobei allerdings die Markterfordernisse oder -wunsche mit den wissenschaftlichen Er­kenntnissen kollidieren k6nnen. Es wird zunehmend wichtiger zu sichern, dass die urspriinglichen Ziele bei der EinfUhrung von Fahrerassistenzsystemen - wie Kom­pensation von Fahrfehlern, Vermittlung zusatzlicher Fahrerinformation usw. -weiterhin zentrales Anliegen fUr die Bestgestaltung der FahrzeugfUhrung bleiben.

1.4.2 Bewertungskriterien fur die Fahrzeugfuhrung

Fur die Bewertung von Mensch-Maschine-Systemen liegen zahlreiche allgemeine Kriterien, Verfahren, Empfehlungen, betriebliche Vorschriften und normative Vorgaben vor (s.z.B. im Uberblickbei Timpe u.a., 2000b). Einige fUr die Fahr­zeugfUhrung spezifische Beispiele seien erwahnt:

• Fur die Beurteilung von Kraftfahrzeugen wahlten Blum und Nirschel (2000) 58 fUr die Verkehrssicherheit relevante Kriterien aus, von denen 21 fUr die Bewertung in Form einer MMI-Priifliste auf die verschiedenen Interaktions16-sungen anwendbar sind, z.B. fUr Warnanzeigen, Displays und Eingabebedin­gungen, Systemausgaben usw.

• Einen anderen Ansatz verfolgt R6Bger (2000), der unter Bezug auf ISO 92411Teil 10 Items erzeugte, die zur Beurteilung von Fahrerinformationssys­temen (FIS) herangezogen werden k6nnen (Abb. 1.7). Dieses und die meisten anderen Verfahren beruhen im Kern auf rechnergestiitzten Befragungen und Usability-Untersuchungen entsprechender Zielgruppen.

Fahrer-Informations-Systeme

Style.Guides Fahrzeugwelt

Anpassung an Nutzer

Benutzung mentaler Modelle Bindung Aktion-Reaktion

Abb. 1.7 Iternraum fur die Beurteilung von Fahrer-Informationssystemen (nach R6Bger, 2000).

Page 42: Kraftfahrzeugführung ||

1.5 Ausb1ick 25

• Farber und Farber (1999) berichten uber Ergebnisse einer Expertenbewertung von Kommunikations- und Informationssystemen hinsichtlich der Kriterien Si­cherheit und Funktionalitat wahrend der Fahrt. Dabei wurden u.a. Navigations­systeme (nicht als Karten!), Sprachausgaben, automatische Distanzregelungen, automatisches Abblenden als besonders positiv eingeschatzt, Head-up­Displays oder Mudigkeitswarnsysteme wirken sich ungiinstig aus und das "mobile Buro" erhielt (nicht uberraschend) extrem negative Bewertungen (s. auch den Beitrag von Farber, Kap. 4).

Diese hier nur exemplarisch ausgewahlten Bewertungsmethodiken zeigen deut­lich den mit dieser Fragestellung aufgespannten Problemraum, der in den Arbeiten von Farber (Kap. 4), Kolrep u. Fankhauser (Kap. 14), Beier et aI. (Kap. 16) oder KrUger u. Neukum (Kap. 15) differenziert bearbeitet wird. Fur den Entwicklungs­und Gestaltungsprozess eines Fahrzeuges konkret nutzbare Aussagen konnen unter drei Bedingungen abgeleitet werden:

• Konkrete Definition der Fahraufgabe und des -zwecks einschlieBlich der Verkehrssituation (z.B. Lastentransport oder SpaBfahrt),

• Kenntnis der individuellen Dispositionen des Fahrers (z.B. Sinnestiichtigkeit, Alter, sensumotorische Fertigkeiten, Imagegehabe),

• Beriicksichtigung der GesetzmaBigkeiten im Wahrnehmungs- und Informati­onsverarbeitungsprozess des Fahrers.

Hieraus leiten sich die Anforderungen an die Entwicklung eines Fahrzeuges abo Urn dabei zu sinnvollen Aussagen zu kommen, ist es notwendig, flir die Beriick­sichtigung dieser Bedingungen von statistischen Durchschnittswerten entsprechen­der Messungen oder empirischer Untersuchungen auszugehen. Oberlagert werden diese Gestaltungsgrundlagen u.a. von den Markterfordemissen, der Markenphilo­sophie und den Kundenwiinschen. Fiir die Einbeziehung dieser Rahmenbedingun­gen und ihre Gewichtung erwies es sich als zweckmaBig, einige im Qualitatsma­nagement genutzte Techniken bereits im Entwurfsprozess eines Fahrzeuges anzu­wenden (z.B. Timpe et aI., 2000a).

1.5 Ausblick

Insgesamt ist der Bereich Fahrzeugflihrung von einer groBen Dynamik und einem hohen Entwicklungstempo in Forschung, Entwicklung und Fertigung gekenn­zeichnet. Auf dem Weg zum individuell gestalteten Fahrzeug sind heute bereits zahlreiche Optionen moglich. Der Kampf urn groBtmoglichen Absatz darf jedoch keineswegs dazu fiihren, dass sicherheitsrelevante Sekundaraufgaben oder oko­nomisch-okologische Kriterien einer hOheren "Individualisierung" geopfert wer­den. 1m Gegenteil: die strategische Orientierung bei der Gestaltung des Verkehrs­systems (Abb. 1.1) muss verstarkt darauf abzielen,

• die nahezu unubersehbare Informationsmenge der im Bereich der Fahrzeug­flihrung erarbeiteten Erkenntnisse so zu verallgemeinem und zu verOffentli-

Page 43: Kraftfahrzeugführung ||

26 1 Fahrzeugfuhrung: Anmerkungen zum Thema

chen, dass sinnvoll begriindete Zielsetzungen fUr die Entwicklung konkreter Kommunikations- und Informationssysteme moglich werden,

• dass die humanwissenschaftlichen Erkenntnisse iiber das menschliche Verhalten intensiv genutzt werden konnen und

• dass unabhangig von der Automatisierungsstufe die technischen Fahrzeug­komponenten so ausgelegt werden, dass der Fahrer stets das Fahrzeug ftihrt.

Die heute in allen groBen Untemehmen etablierten Labors zur Mensch­Maschine-Systemgestaltung, entsprechende Abteilungen in der Hochschulland­schaft und Ingenieurbiiros arbeiten intensiv zu den hier umrissenen und vielen weiteren Themen. Erfreulich ist, dass dies zumeist in interdisziplinaren Teams geschieht. Denn, bedingt durch fundamentale Unterschiede in Sprache, Zielset­zung und der "Art zu denken" in den Ingenieur- und Humanwissenschaften, ist der Mangel an Fiihigkeiten zum interdisziplinaren Austausch oft eine Hauptursache fiir ein Scheitem gemeinschaftlichen Vorgehens. Auch erfordert dieses Vorgehen zusatzlichen Lemaufwand, womit notwendigerweise Ressourcen yom fachspezifi­schen Lemen abzogen werden.

Der vorgelegte Samme1band zur Fahrzeugfiihrung belegt den optimistischen Blick, dass zumindest auf diesem Gebiet derartige Hemmnisse gering geworden sind, die negativen Folgen und Risiken modemer Informations- und Kommunika­tionstechnologien fUr die Sicherheit bei der Fahrzeugftihrung konsequent mini­miert werden und das es groBe Anstrengungen gibt, die Giite der Fahrzeugfiihrung an den Kriterien der Mensch-Maschine-Systemtechnik zu messen.

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Page 45: Kraftfahrzeugführung ||

Teil I

Assistenzsysteme

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2 Fahrer-Assistenz versus Fahrer-Bevormundung: Wie erreicht man, dass der Fahrer Herr der Situation bleibt?

Rudolf Haller

2.1 Einleitung

Die Frage im Titel dieses Beitrags enthalt die Unterstellung, Fahrerassistenz habe ein Potential zur Veranderung der Herrschaftsverhaltnisse, der Kompetenz zu ungunsten des Fahrers. Implizit enthalt der Titel aber auch eine zweite Annahrne: Der Fahrer ist ohne Fahrerassistenz immer Herr der Situation. Die beobachtbaren Verkehrskonflikte und Unfalle stiitzen letzteres allerdings nur bedingt. Dieser Beitrag geht beiden Annahmen nacho Es werden zunachst die zentralen Begriffe der Fahrerassistenz und Situation naher erlautert und anschlieBend einige Aspekte einer bevormundungsfreien Assistenz vorgestellt. Schwerpunkt der Uberlegungen bilden hier die aus der konkreten Interaktion des Fahrers mit dem Assistenzsystem ableitbaren Aspekte.

Daraus lassen sich einige Antworten oder Regeln ableiten, an denen sich heute im Einsatz befindliche Systeme messen lassen. Es zeigt sich dabei unter anderem, dass in der Ergonomie und Verkehrspsychologie verwendete Konstrukte wie Situ­ationsbewusstsein und Beanspruchung zwar fUr die Evaluierung eines Systems brauchbar sind, fUr die Spezifikations- bzw. Entwicklungsphase aber ausreichend konkrete Aussagen und geeignete Methoden fehlen.

2.2 Formen der Fahrerassistenz

Der Begriff der Fahrerassistenz wurde gepragt durch das EUREKA­Forschungsprojekt PROMETHEUS [1]. Er bezeichnet dort Fahrzeugsysteme, die den Fahrer auf der Manover- bzw. BahnfUhrungsebene unterstiitzen. Exponierte Vertreter waren AICC (Autonomous Intelligent Cruise Control) - heute als ACC (Active Cruise Control) (bei BMW) oder Distronic (bei DaimlerChrysler) im Serien-Einsatz - aber auch QuerfUhrungssysteme wie Heading Control (HC). Vorher hatte es schon andere unterstiitzende Systeme gegeben, die aber noch nieht mit dem Begriff der Assistenz belegt waren, wie Servo-Systeme (Kraftverstarker), Geschwindigkeitsregler (Cruise Control), Stabilisierungssysteme wie z.B. ABS, ASC (Anti-Skid-Control) oder DSC (Dynamic-Stability-Control) oder ZielfUh­rungssysteme. Abbildung 2.1 zeigt die Zuordnung dieser Systeme zu den drei groBen Teilaufgaben des Autofahrers.

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32 2 Fahrer-Assistenz versus Fahrer-Bevorrnundung

"...----- .......

I 1 II DMRG I I RDS-TMC I I I I II BMw-Navigationssystemll

I~~~~~~~~~ I I I I I '-Abkiirzungen: DMRG: Dual Mode Route Guidance RDS-TMC: Radio Data System - Tnffic Message Channel ACC:Active Cruise Control CC: Cruise Control HC: Heading Control !': !,·Split·Control

DBC: Dynamic Bnke Control EDC: Electronic Damping Control DSC: Dynamic Stability Control ASC:Anti Skid Control ABS:Anti Blocking System

Abb. 2.1 Zuordnung heute verfiigbarer Fahrer-Untersrutzungssysteme zu den 3 Ebenen der Fahraufgabe.

Kern der Diskussionen und Befiirchtungen bildet heute der "automatisch" agie­rende (d.h. lenkende, beschleunigende oder verzogernde) Assistent. Automatisch wird dabei assoziiert mit selbsttiitig, aber auch unzureichend, undurchschaubar oder gar unzuverliissig. "Technology driven" statt "human centred automation" lautet das plakative Urteil.

Vor diesem Hintergrund wurden in MOnV, dem nationalen Nachfolgepro­gramm von PROMETHEUS, unter der Uberschrift Fahrerassistenzstrategien um­fangreiche Untersuchungen zur Systemauslegung, zum System- und Situations­verstandnis - auch in Grenzsituationen - durchgefiihrt [5,7].

Dabei wird sehr deutlich, dass Assistenz sehr eng an eine genaue V orstellung von Situation gekoppelt ist. Assistenz als "jemand in dessen Sinn an die Hand gehen" ist somit mehr als die Automatisierung einer Aufgabe, sie erfordert eine Ubernahme von Tatigkeiten unter Beriicksichtigung der Intentionen und Gepflo­genheiten des Assistierten, also des Fahrers. Diese Aspekte sind allerdings nur bedingt unabhangige Parameter, an die ein Assistenzsystem anpassbar ware [4], sie sind auch konstituierende Merkmale der Situation.

Mittlerweile wird der Begriff der Fahrerassistenz we iter gefasst und umfasst auch Informations- und Warnsysteme (Abb.2.2). Ein Navigationssystem z.B. assistiert dem Fahrer mit situationsgerechten Empfehlungen zur Wahl der Strecke, iiberlasst aber die Ausfiihrung ganz dem Fahrer.

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2.3 Situationen - mehr ais nur Datensatze 33

Fahren Verkehrs~ II II I heute info

Wamsystem ~I II I Fahrer

Assistenz- Navigation ~I I system

Heading ContrOl.ACC ~ Autopilot I Automatisches Fahren ~

Abb. 2.2 Assistenzformen bezogen aufUnterstiitzungsaspekte bei der Aufgabenausfiihrung

2.3 Situationen - mehr als nur Datensatze

Als Autofahrer assoziiert man mit Verkehrssituationen unreflektiert mehr oder weniger gut bewaltigte, kritische Situationen, die personlich erIebt wurden. Das plotzlich auftauchende Fahrzeug beim Uberholmanover, der tibersehene Radfahrer beim Abbiegen an einer Kreuzung, die untibersichtliche Kreuzung mit Rechts-vor­Iinks-Vorfahrtsregelung oder eine Fahrt urn den Jahreswechsel bei Temperaturen urn den Gefrierpunkt. Eine genauere Beschreibung liefert dann Angaben tiber Ortsiage, StraJ3entyp, -verhiiltnisse, andere Verkehrsteilnehmer und ihr Verhalten - alles Daten, tiber die ein gutes Bildverarbeitungssystem prinzipiell auch verfii­gen konnte. Und die Forderung nach dem Kollisionsverhinderer ist der Schluss­punkt in einer derart angelegten Situationsanalyse. Als Ergebnis dieser Situations­analyse wird in [8] die Aufgabe eines Assistenzsystems beschrieben:

,,Durchfiihren der als notwendig erkannten Manover mit oder ohne Einbezie­hung des Fahrers"

In der zitierten Untersuchung wird beispielsweise geschlussfolgert, dass sich 70% aller Auffahrunfalle vermeiden lassen, wenn die Reaktionszeit des Fahrers urn 0,5s verringert ware. Ubersehen wird dabei, dass ein Fahrer, der sich in einer Verkehrssituation befindet, nur ausnahmsweise ein passives Element dieser Situa­tion darstellt, dass er vielmehr durch sein Handeln oder Nichthandeln eine Ver­kehrssituation aktiv erzeugt, beeinflusst oder beendet. Bisherige Versuche, eine Situation zu beschreiben, sind in dieser Hinsicht unzureichend. Die umfangreichen Arbeiten, die von einem straJ3enseitigen Klassifikationsschema ausgehen [2],

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34 2 Fahrer-Assistenz versus Fahrer-Bevormundung

beschranken sich auf eine Anforderungsanalyse. Daraus resultieren Beanspru­chungsprofile, die sich auch experimentell belegen lassen. Und das Aufstellen von Ampelanlagen oder die Einflihrung von Zielflihrungssystemen kann mit diesem Situationsbegriff auch sicherheitsrelevante Erfolge vorweisen.

In [6] wird ein Akteur mit einem Plan als konstitutives Element einer Fahrsitua­tion eingefiihrt. Dieser Plan oder die Absieht eines Fahrers ist aber normalerweise nur auf einer sehr hohen Abstraktionsebene verfUgbar, die fUr die Beschreibung von Aktionen auf der Manoverebene nicht ausreicht. Oberdies verandem Fahrer­fahrung, Fahrstile, Zeitdruck, Ablenkung, Fahrerzustand die mehr oder weniger aktive Rolle eines Fahrers bei der Gestaltung oder Bewaltigung von Anforderun­gen im StraBenverkehr. Damit miissten also deutlich subjektivere Komponenten in eine Situationsbeschreibung eingefiihrt werden. Explizites Wissen hieriiber ist beim Fahrer normalerweise kaum vorhanden. Das zeigen zum Beispiel die um­fangreichen Untersuchungen in [7], in denen versucht wurde, herauszuarbeiten, welche Parameter einer Situation den Fahrereingriff (Obemahme durch den Fah­rer) bei einer Annaherung an ein langsamer vorausfahrendes Fahrzeug bestimmen - eine an und fUr sich fast triviale Situation mit dem Zeitpunkt des Bremseingriff als einzig offenem Parameter. Das Ergebnis, nach dem der yom Fahrer pradizierte, minimal erreichte Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug bei automatischer Bremsung seine Obemahmeaktion triggert, ist sehr plausibel, lasst aber keine Folgerungen zu fUr Folgefahrten in Kurven oder fUr das Annahem vor dem Ober­holen.

Auf Basis dieser (prinzipiell) unvollstandigen Situationsbeschreibung sind Dis­krepanzen zwischen erwartetem und realem Verhalten von Assistenzsystemen unvermeidlich, vor allem wenn Erwartungen geweckt werden wie: ,,Ein ACC kann die Aufgabe des Abstandhaltens auf der Autobahn ubernehmen". ACC-Systeme verfligen iiber eine Vielzahl von Regeln, an denen sich ihr Verhalten orientiert. Nur ein Teil dieser Regeln ist dem Fahrerverhalten nachgebildet, ein anderer Teil ergibt sich aus technischen Randbedingungen, ein dritter Teil schlieBlich muss gesetzlichen Vorschriften oder Produkthaftungsaspekten Rechnung tragen.

Unberiicksichtigt bleibt bei dieser Betrachtung, dass nicht nur die Absicht des Fahrers im Fahrzeug mit Assistenzsystem eine sehr begrenzt bekannte GroBe darstellt, auch das Verhalten und die Absichten der anderen Verkehrsteilnehmer sind fUr Fahrer und Assistenten nur in soweit verfUgbar, als ein Verhalten nach den Regeln der StraBenverkehrsordnung unterstellt werden kann oder muss (an­sonsten ware jede Begegnung mit einem anderen Fahrzeug auf der LandstraBe ein todliehes Risiko)

Die Gratwanderung bei der Aufgabendelegation verlauft also nieht primar zwi­schen Potenz und Kompetenz, sondem auch zwischen Transparenz und Kompe­tenz. Da ein erheblicher Teil der an Assistenzsysteme delegierbaren Aufgaben yom geiibten Fahrer unbewusst bzw. teilbewusst ausgefUhrt wird, darf die Hinzu­nahme eines Assistenten nicht zu einer Verlagerung dieser Aktivitaten auf die bewusste Ebene fUhren. Der ansonsten erlebte Kontrollaufwand fUhrt dann zu keiner Beanspruchungsreduktion, sondem allenfalls zu einer Verschiebung, die nicht unbedingt positiv erlebt wird.

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2.4 Komplemation statt Automation? 35

In der Literatur eXlstJeren kaum Arbeiten, die sich mit dem Kom­fort/Diskomfort von solchen zeitlich schnell veranderlichen Belastungsprofilen auseinandersetzen. 1st es gegenuber einer kontinuierlichen Geschwindigkeits- und Abstandsregelung fUr den Fahrer eine Entlastung, wenn er fur 3 Minuten den FuB vom Gas nehmen kann und dann per Tastendruck seinen Geschwindigkeitsregler ausschaltet? Oder wie genau kennt ein Fahrer intuitiv das Verhalten seines Fahr­zeugs, z.B. fUr die Entscheidung uber einen Uberholvorgang, und worin unter­scheidet sich eine solche Kenntnis von der uber das Verhalten seines Abstandsreg­lers oder ABS-Systems?

2.4 Komplemation statt Automation?

In [9] werden fUr die Unterstiitzungsfunktionen im Flugzeug unter dem Schlag­wort complemation wenige ,,Human-centered design guidelines" fUr zukunftige Cockpitgestaltung auf Grundlage von Erfahrungen mit Piloten zusammengefasst:

• "The human operator should have final authority over all dynamic function and task allocation"

• ,,Different strategies should be supported for meeting mission objectives" • "The design should facilitate the development by the human operator of con­

ceptual models of the .. system functions that are both useful and consistent with reality"

Der Begriff der complemation bzw. in deutscher Analogie der "Komplemation" wird als ein Kunstwort eingefUhrt, das auf Erganzung start auf Ersatz des Piloten zie1t. Verknupfung der Starken von Mensch und Technik setzt aber voraus, dass daraus ein stimmiges Ganzes wird und auch alle Aufgabenbereiche adaquat abzu­decken sind.

Auch wenn man die allgemeinen Regeln und den darin enthaltenen Aspekt des Aufgaben-Managements als Aufgabe des Fahrers oder Piloten als richtig und wichtig akzeptiert, kann die andere Forderung nach Synergie von Fahrer und As­sistenz im Automobil in absehbarer Zeit nur sehr bedingt umgesetzt werden: dort, wo der Fahrer stark beansprucht wird, etwa bei nachtlicher Fahrt im Regen, sind Assistenzsysteme kaum in der Lage, den Fahrer zu ersetzen. Fur die Fahrt im Cabrio auf einer einsamen BergstraBe bei Sonnenschein besteht dagegen seitens des Fahrers kein Bedarf an Assistenz. Es bleiben nur die Teilaufgaben, die fUr den Fahrer einerseits einfach bewaltigbar sind, andererseits aber in ihrer Dauer und Abfolge nicht vorhersehbar sind. Was ist ein Assistent wert, der eine Aufgabe nur in 90% der moglichen Situationen ubemehmen kann? 1st es fUr den Fahrer zumut­bar oder gar komfortabel, den Assistenten statt den Abstand zum V ordermann zu "kontrollieren"? 1st dabei, wie oben erwahnt, Transparenz wichtiger als Kompe­tenz? Wie steht es urn die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Fahigkeiten und Grenzen eines Assistenten (Last oder Lust)?

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36 2 Fahrer-Assistenz versus Fahrer-Bevorrnundung

2.5 Antworten zur Rollenverteilung Fahrer-Fahrerassistenz

Unabhiingig von der mehr auf die Funktion eines Assistenten ausgerichteten Dis­kussion zur Rollenverteilung zwischen Fahrer und Assistent in den vorausgegan­genen Abschnitten muss aus juristischer Perspektive eine Maxime unangetastet bleiben:

Der Fahrer bleibt in der Verantwortung und es ist seine Pflicht, Herr der Situ­ation zu sein.

Dies erfordert naturlich, dass der Fahrer hierzu die Kompetenz hat. Deshalb muss ein Fahrer ein Assistenzsystem ubersteuern konnen. Die aus ergonomischer Sicht hier genauer betrachteten Antwortaspekte zielen auf:

1. Standardisierung von Assistenzfunktionen Auch wenn eine Standardisierung kaum im Markt verfUgbarer und noch voll in der Weiterentwicklung befindlicher Systeme aus Entwicklersicht ein zwiespiiltiges Unterfangen darstellt, wurde doch aufISO-Ebene ein erster NormentwurffUr ACC [3] verabschiedet. Er legt Mindestanforderungen an ein ACC fest, liisst aber be­wusst Spielraum etwa fUr den Funktionsbereich eines Systems (Geschwindig­keitsbereiche, StraBentypen). Die niichsten Jahre mussen zeigen, ob auch eine begriffliche Differenzierung der diskutierten Systemklassen erforderlich ist, oder ob es ganz selbstverstiindlich fUr einen Fahrer wird, dass es ACC mit oder ohne Bremseingriff gibt.

2. Klare und begrifJlich saubere Kommunikation in den Medien (Assistenz ist kein potenzsteigerndes Mittel)

Wiihrend sich bei ABS bis heute die Vorstellung yom verkurzten Bremsweg als Irrglaube hiilt, muss sowohl in der Werbung als auch im Verkaufsraum die assis­tierende Funktion im Mittelpunkt der Kommunikation stehen. Assistenten erwei­tern per Definition nicht den Kompetenzbereich ihres Chefs, sondern erleichtern die AusfUhrung von Aufgaben, die ohnehin anstehen. Deshalb ist es sehr wichtig, den Komfortaspekt im Zusammenhang mit Assistenzsystemen herauszuarbeiten.

3. Gezielte Kompetenzdelegation mit individuellem Zuschnitt (Kompetenzerwerb) Delegation von Aufgaben an einen Assistenten erfordert zweierlei: Die Fiihigkei­ten eines Assistenten mussen der zu delegierenden Aufgabe angemessen sein und die zufriedenstellende AusfUhrung der Aufgabe ist zumindest anfangs zu kontrol­lieren. Diesen Prozess fahrerseitig in Gang zu setzen ist eine groBe Chance bei der EinfUhrung von Assistenzsystemen. Es geht dann nicht mehr urn eine abstrakte Kommunikation von Systemgrenzen, sondern der Fahrer ist gefordert zu priifen, ob ein Assistent bestimmte Teilaufgaben in seinem Sinn gut erledigt. Und diese Antwort kann fUr verschiedene Fahrer und Situationen unterschiedlich ausfallen. Fur den einen Fahrer ist dann ein ACC-System passend, das keinen Bremseingriff vornimmt, sondern nur im Bereich des Schleppmoments verzogert, ein anderer Fahrer setzt ein Abstandsregelsystem nur bei Fahrzeuggeschwindigkeiten unter­halb 130kmlh ein. Ein dritter Fahrer will bei allen Operationen seines Assistenten

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Literatur 37

eine Riickmeldung iiber Art und Starke eines Eingriffs z.B. mittels aktivem Gas­pedal. In jedem Fall fiihrt eine so stattfindende Auseinandersetzung mit einer Assistenz zur Erfahrungsbildung, einer Grundvoraussetzung fiir den Erhalt der Fahrerkompetenz auch bei Systemfehlem.

2.6 Fragen an die Forschung

Fiir die Entwickiung weiterer Assistenzsysteme ergeben sich aus den Aust'iihrun­gen auch eine Reihe wichtiger Fragen an die Forschung:

1. Situationsbewusstsein bei tei/weiser Delegation: Wie veriindert sich das Situationsbewusstsein, wenn die Abstandsregelung oder die Wegfindung delegiert werden? Reicht es aus, wenn allein Lenken als kontinu­ierliche Regelaufgabe erhalten bleibt?

2. Andere Fahrweise mit Assistenz Macht Assistenz abhiingig? Erfahrungen mit Einparkhilfen zeigen, wie schnell Assistenz selbstverstiindlich wird. Andererseits vermeidet ein Assistent mangels Kompetenz manche Situationen. Sieht die Gesamtbilanz fiir Beanspruchung und Verkehrssicherheit positiv aus?

3. Neues Aufgaben-Management Kann der Wegfall von Teilaufgaben genutzt werden fiir bisher schwierig oder nicht zu erledigende Tiitigkeiten wahrend einer Autofahrt? Hierzu zahlen neben Kommunikationstiitigkeiten auch Aufgaben mit Fahrtbezug wie Routenplanung oder Terminmanagement.

Die Liste dieser Fragen verdeutlicht die Herausforderungen an eine am Fahrer orientierten Entwicklung zukiinftiger Assistenzsysteme, eine Herausforderung auch und gerade an die interdiszipliniire Zusammenarbeit in der Forschung.

Literatur

[1] Braess, H.-H.; Reichart, G. (1995). PROMETHEUS - Vision des intelligenten Auto­mobi1s auf intelligenter StraBe, ATZ 97, Heft 4+6

[2] Fastenmeier, W. (1995). Autofahrer und Verkehrssituation, Ko1n: Verlag TOV Rhein­land

[3] ISO 15622 DIS (2000). Road vehicles - Adaptive Cruise Control- Performance requi­rements and test procedures, Stand Juni 2000

[4] Konig, W. (2000). SANTOS: SituationsangepaBte und Nutzer-Typ-zentrierte Optimie­rung von Systemen zur Fahrerunterstiitzung. GfA Herbstkonfernez, Miinchen

[5] Kopf, M. (2000). Fahrerassistenzstrategien, MOTIV-Broschiire, (www.motiv.de) [6] Nagel, H.-H. (1989). Zur Erkennung von Situationen durch Auswertung von Bildfol­

gen, FhG-Berichte 1-89, 25-33 [7] Nirschl, G.; Kopf, M. (1997). Untersuchung des Zusammenwirkens zwischen dem

Fahrer und einem ACC-System in Grenzsituationen, VDI-Berichte, Nr. 1317, 119-148

Page 53: Kraftfahrzeugführung ||

38 2 Fahrer-Assistenz versus Fahrer-Bevonnundung

[8] Panik, F.: Automobiltechnik als Korrektiv menschlichen Unvennogens? FhG-Berichte 4-87,25-29

[9] Schutte, P.C. (2000). Better machines - or better humans?, Flight Deck International, July, 28-33

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3 Wie intelligent dart/muss ein Auto sein? Anmerkungen aus ingenieurpsychologischer Sicht

AlfZimmer

3.1 Von der direkten Lenkung zur assistierten Regelung

Schon der erste Werbeprospekt fur Automobile aus dem Jahr 1888 spricht die Bewertungsdimensionen fur Kraftfahrzeuge an, die auch heute noch von zentraler Bedeutung sind: Zuveriiissigkeit ("immer sogleich betriebsfahig"), Komfort ("be­quem") und Sicherheit ("absolut gefahrlos"), zusatzlich werden als werbliche Ar­gumente Wirtschaftlichkeit ("Sehr geringe Betriebskosten. Vollstandiger Ersatz fur

Abb. 3.1 Erste Werbung fUr den "Patent-Motorwagen" von Benz & Co., 1888

Page 55: Kraftfahrzeugführung ||

40 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?

Wagen mit Pferden. Erspart den Kutscher, die teure Ausstattung, Wartung und Unterhaltung der Pferde. ") und leichte Bedienbarkeit ("Lenken, Halten und Brem­sen leichter und sicherer als bei gewohnlichen Fahrzeugen. Keine besondere Be­dienung notig") angefiihrt.

Assistenzssteme Zusatzdienste Fuhler fur Fahrzeugzustand Technisch AS Telefon Geschwindigkeit

vermittelte NaVi~ation Internet Fahrstand A C Verbrauch

Information HC ver.f1,bare Antriebsenergie RDS/TMC 01 ruck u. -temperatur

Verkehrsinformation Batterieladung

'---v----" '---v----" Kuhlerflussigkeit ~

Statusangabe Diagnose Statusangabe Assistenz durch (z.B. Anderung des System diagnose

Funktion haptische, akustische, Fahrzieles I -zweckes) Warnung visuelle Information, Unterhaltung Warnung fur Obergabe

\.. V"

/

Vorgabemodalitiit Prasentation Displaytechnologie

scii.ndig I situationsabhangig auditorisch ~~ analo~~ Zeiter I zahler prioricii.tsgesteuert taktil Warnampc en integriert zu Anweisungen -+ analog quali~tiv. ~ akustische Signale

symbolisch quantltatlv LEDs I LCDs ~rachausrrbe

ruck IVi ration

Signalcharakteristiken Psych. Prozesse

Intensicii.t Entdeckung Farbe Unterscheidung Kontrast GroBe Wiedererkennen Rauschabstand Interpretieren Ziffern Reagieren Texte Handeln Icons I Zeichen

Abb. 3.2 Der Verarbeitungsgang technisch vermittelter Information im Fahrzeug

Die angefiihrten relativen Vorteile von Automobilen gegeniiber Pferdefuhrwerken entsprechen auch heute noch zum groBen Teil dem, was yom Kaufer praferierte Fahrzeugtypen von nicht praferierten unterscheidet, wenn man von der "Fun"­Komponente (mittels Sportlichkeit des Fahrzeugs etc.) absieht.

Betrachtet man das in der Werbung von 1888 gezeigte Fahrzeug (Abb. 3.1) ge­nauer, dann wird deutlich, dass die angesprochene sichere Bedienbarkeit dort u.a. darauf beruht, dass die Funktionalitat aller Komponenten unmittelbar transparent ist, der Kraftfahrer damit zu jeder Zeit das Fahrzeug zumindest prinzipiell unter Kontrolle haben kann, und zwar aufgrund des sichtbaren Funktionierens und In­teragierens der Einzelkomponenten.

Page 56: Kraftfahrzeugführung ||

3.1 Von der direkten Lenkung zur assistierten Regelung 41

Vergleicht man diese Systemtransparenz mit der Situation in modemen Fahr­zeugen, dann sieht man, dass die zweifellos weiterhin gestiegene Zuverlassigkeit der Einzelkomponenten und der Sicherheit des Gesamtsystems dem Autofahrer heute nicht mehr direkt, sondem nur noch durch Instrumente (wenn iiberhaupt, wie z.B. bei automatisierten Komponenten) vermittelt wird (Abb.3.2). Damit verandert sich die Aufgabe des Kraftfahrers von der direkten (analogen) Regelung zunehmend in Richtung auf Kontrolle durch Uberwachung (supervisory control, Sheridan, 1992) bzw. assistierter Kontrolle.

Aus ingenieurpsychologischer Sicht ergibt sich damit das Problem, genau ab­zuklaren, welche Funktionen weiterhin direkt kontrolliert werden, welche wie assistiert werden und welche soweit automatisiert werden sollen, dass lediglich im Fehlfunktionsfall der Systemzustand durch Wamsignale angezeigt wird. Klas­sische MABA-MABA-Listen (machines !!re 12etter !!t - men !!re 12etter !!t, z.B. Lane, 1975) liefem zu dieser Problematik vergleichsweise wenig, weil immer mehr die Kraftfahrzeugergonomie als Systemergonomie im System "Gesamtverkehr" gese­hen werden muss, so dass Aufgaben, aber auch Assistenzmoglichkeiten auftreten, die in der "klassischen" ergonomischen Literatur bislang kaum genannt werden, weil sich diese zum groBen Teil auf einze1n betrachtete psychophysische Funktio­nen und aufpsychologische Basisprozesse beschrankt haben. Einen vielleicht adaquateren Ansatz bietet Norman (1999), der die Eigenschaften von Menschen und technischen Systemen jeweils aus den entsprechenden Per­spektiven auflistet (Tabellen 3.l und 3.2).

Diese Betrachtungsweisen sind komplementar, d.h. bei jeder einzelnen System­bewertung muss entschieden werden, welche Sicht angewandt bzw. wie zwischen diesen Sichtweisen abgewogen werden sollte.

Tabelle 3.1 Die technologiezentrierte Sicht

Mensch

ungenau

unsystematisch

ablenkbar

gefiihlsbestimmt

Maschine

prazise

systematisch

nicht ablenkbar

rational

Tabelle 3.2 Die menschzentrierte Sicht

Mensch

kreativ

flexibel

situationsadaptiv

einfallsreich

Maschine

standardisiert

rigide

nicht adaptiv

simplizistisch

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42 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?

Die haufig beklagte Kommunikationsliicke zwischen Vertretem der technik­orientierten und der menschzentrierten Sicht entsteht, wenn man die Tabellen 3.1 und 3.2 jeweils als Bestimmung der Vor- und Nachteile sieht und nicht als Kom­plementaritaten, die zeigen, wo der Mensch autonom handeln sollte, wo er durch Systeme assistiert werden kann, bzw. wo das System autonom, d.h. unsichtbar, agieren kann und lediglich dem Nutzer das aktuelle Systembild vermittelt wird.

Mit der Fortentwicklung der Dateniibertragung (speziell: drahtlose Kom­munikation, aber auch z.B. schnellere und weniger storanflillige Dbertragung im Fahrzeug z.B. mittels Glasfaser) und der Miniaturisierung von Hochleistungs­computem ist auch im StraBenverkehr der Zugang zu praktisch allen modemen Informationsmedien offen und damit der Weg zu einer systemergonomischen Optimierung. Wenn man zusatzlich die Moglichkeiten der genauen Positions­bestimmungen von Fahrzeugen mit GPS (global positioning system) hinzunimmt, kann auf Dauer das schon jetzt im Transportgewerbe angewandte Rechner- und satellitengestiitzte Flottenmanagement auf den gesamten StraBenverkehr verall­gemeinert werden, urn eine moglichst effektive Nutzung des vorhandenen Stra­Bennetzes zu ermoglichen. Das US-Department of Transportation schatzt (1999), dass allein durch die flachendeckende Einfiihrung von intelligenten Transportsys­temen (ITS) bis zum Jahr 2011 die jahrlichen volkswirtschaftlichen Staukosten (120 Mrd. US $) urn 20% und die Anzahl von Verkehrstoten und -verletzten urn 10% gesenkt werden konnen.

Wahrend die genannten Technologien primar das allgemeine Verkehrs­management unterstiitzen, lassen Fortentwicklungen der Sensorik im Fahrzeug, z.B. eine Automatisierung oder Unterstiitzung des Fahrers im Abstandsverhalten (ACC, Automatic Cruise Control) und bei der Spurfiihrung (Heading Control) zu (s. Beitrag von Haller, Kap. 2). Gemeinsames Merkmal dieser Systeme ist ihr Assistenzcharakter, d.h. die aktive Unterstiitzung des Fahr- und Navigations­verhaltens ohne Kontrollverlust des Fahrers wie z.B. bei vollstandiger Auto­matisierung.

Die Hauptvoraussetzung rur eine erfolgreiche und flachendeckende Umsetzung solcher Systeme ist die Akzeptanz durch den Kraftfahrer, die nur dann langfristig gegeben sein wird, wenn diese Systeme gleichzeitig hOchst verlasslich und nutzer­freundlich sind. Die Zuverlassigkeit eines solchen Systems hangt aber nicht nur von der zur Zeit noch mangelnden Verlasslichkeit der aktuellen Verkehrsdaten ab, sondem auch von deren Umsetzung durch den Kraftfahrer. Nur solche Systeme konnen den Kraftfahrer bei dieser Umsetzung effektiv unterstiitzen, bei denen der Zuwachs an Fahrqualitat deutlich groBer ist als die Ablenkungswirkung durch dieses System, wie sie z.B. durch die Einspiegelung von Daten oder Symbolen in die Frontscheibe (Head-up displays) infolge von Interferenz eintreten kann. Damit ein solches iibergreifendes Verkehrsmanagement allgemein verhaltenswirksam wird, ist es notwendig, dass der Kraftfahrer durch die Verarbeitung der relevanten Informationen nicht iiberfordert wird, was z.B. dann der Fall ware, wenn ein her­kommliches Navigationssystem eine bestimmte Route vorschlagt, wahrend per Autotelefon eine staubedingte Umleitungsempfehlung gegeben wird.

Neben der Integration der verschiedenen Informationsquellen in eindeutige handlungsorientierte Botschaften ist auch eine nutzerfreundliche Bedienbarkeit

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3.1 Von der direkten Lenkung zur assistierten Regelung 43

solcher Systeme notwendig, die u.a. beim Autofahrer nicht voraussetzt, dass er jeweils weiB, auf welcher Systemebene sich sein Bordcomputer gerade befindet, da sich ansonsten die sog. Modusfehler 1 (Sellen et aI., 1992; Norman, 1990) ein­stellen. Wenn Displays oder Gerate mit mehrfachen Bedienebenen notwendig sind, dann miissen diese jeweils sofort eindeutig identifizierbar sein und moglichst bei der Bedienung jeweils die spezifische haptische Riickmeldung geben, weil diese erstens direkt und schnell zugeordnet werden kann und zweitens keine sym­bolische Umsetzung erfordert, wie z.B. gesprochene Sprache oder Text.

Neben der Notwendigkeit einer Optimierung der Informationsaufuahme und Bedienung sind aber auch die Konsequenzen einer derartigen Fahrerunterstiitzung fUr die Aufrechterhaltung der Fahrkompetenz in Betracht zu ziehen: Das Ver­lassen eines Gebietes mit Navigationsunterstiitzung, das Aussetzen der Abstands­regelung beim Abfahren von der Autobahn oder das Versagen der Spurfiihrung in Haamadelkurven darf nicht dazu flihren, dass ein bis dahin optimal unterstiitzter Autofahrer plotzlich und unerwartet wieder die volle und direkte Kontrolle iiber sein Fahrzeug iibemehmen muss und damit iiberfordert wird. Die allgemeine Ak­zeptanz wird nur zu erreichen sein, wenn zum einen diese Ubemahmesituationen gleitend gestaltet, d.h. rechtzeitig vorher angekiindigt und auf die Kompetenz des Fahrers abgestellt werden, und wenn andererseits der Fahrer stets den Eindruck einer vollstandigen und verantwortlichen Kontrolle auch wahrend der Assistenz behalt. Insgesamt bieten also die Assistenzsysteme ein groBes Potential flir eine Effektivierung und Sicherheitserhohung im StraBenverkehr, dies setzt jedoch eine sehr gezielt nutzerorientierte Entwicklung voraus.

Wichtigstes Endkriterium flir die Optimierung des StraBenverkehrs durch Te­lematik und "Intelligenz" im Fahrzeug ist die Unfallvermeidung, dieses Kriterium ist jedoch flir die Evaluation von· Systemen kaum anwendbar, weil Unfalle pois­sonverteilte seltene Ereignisse sind, die in der Regel nicht durch eine klar zuzu­ordnende Ursache determiniert sind. Dazu kommt die schlechte Dokumentations­lage bei Verkehrsunfallen, die auch durch aktuarische Analysen wie von Wierwil­Ie u. Tijerina (1995) oder Lulay (1998) nicht hinreichend iiberwunden wird. Wenn man iiberhaupt flir die nutzerorientierte Gestaltung von Assistenzsystemen Konse­quenzen aus Unfalldaten ziehen will, dann bietet es sich an, Flugunfalle zu analy­sieren, die wegen der mitlaufenden Registrierung (Flugschreiber und voice box) und der anschlieBenden Untersuchung einschlieBlich der Befragung der Unfallbe­teiligten sehr gut dokumentiert sind.

Ein Modusfehler liegt z.B. vor, wenn ein Pilot meint, das flight management system befande sich im Modus descent, wenn es sich in Wirklichkeit im Modus level flight be­findet. Die aus diesem Fehler resultierende gefahrdende Aktion besteht dann z.B. in der Eingabe '-3', was nicht wie vom Piloten intendiert als 3° Sinkwinkel, sondem als Veriin­derung der Reiseflughohe urn -3000ft umgesetzt wird.

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44 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?

3.2 Informationsverarbeitung und Fehlhandlungen

Bei der herkommlichen Art der Analyse von Unfallen ist es naheliegend, unmit­telbar nach einem markanten, aber punktuellen Fehler im Mensch-Maschine­Umwelt-System zu suchen (Fehlfunktion eines technischen Systems oder Fehlver­halten eines Operateurs, Fahrers, Piloten); hiiufig reicht dies fur eine rechtliche oder versicherungstechnische Abwicklung auch aus. Will man jedoch Unfalle durch Priivention verhindem, dann reicht diese punktuelle Betrachtung nicht aus. Auf der Grundlage von 1970 Flugunfallen von US Air Force und Marinecorps haben Wiegmann u. Shappell (1997) untersucht, inwieweit F ehlerkategori­sierungssysteme geeignet sind, Unfallursachen zu identifizieren und hinsichtlich deren Schwere zu differenzieren. Die von ihnen verwandten Fehlerkategorisie­rungssysteme ergiinzen sich insofem, als ihnen das Informationsverarbei­tungsmodell von Wickens (1992) (Abb. 3.3) zugrunde liegt: es stellt eine allge­meine Architektur von kognitiven Funktionen dar, auf der jede Form von Hand­lung - und damit auch fehlerhafte - basiert.

Reize Signal­

Detektion Muster­

erkennung Reaktions­ausfUhrung

Eingriff

Ruckkopplung

Abb. 3.3 Vier-Stufen-Modell der Infonnationsverarbeitung nach Wickens (1988)

Einen altemativen Ansatz hat Rasmussen schon 1982 vorgeschlagen; dieses Mo­dell des Handlungsablaufs bei Fehlern haben Wiegmann u. Shappell (1997) fUr die Untersuchung auf die FlugzeugfUhrung adaptiert. Das Modell des Handlungs­ablaufs bei Fehlern ist in diesem Beitrag fUr die FahrzeugfUhrung fortentwickelt worden (Abb. 3.4). Es zielt auf die Identifikation des Schrittes zwischen Informa­tionsaufnahme und Handlungsausfiihrung, der fUr einen Unfall ursiichlich ist -wobei von einem rein sequentiellen Verlauf und entsprechender kausaler Ver­kniipfung ausgegangen wird.

Page 60: Kraftfahrzeugführung ||

3.2 Informationsverarbeitung und Fehlhandlungen 45

Konnte der Fahrer liberhaupt ~ eingreifen?

.. ja

Hat der Fahrer liberhaupt ~ Warnsignale wahrgenommen?

.. ja

Hat der Fahrer die Fehlfunktion ~ aufgrund der verfligbaren Infor-

mation korrekt diagnostiziert?

t ja

Hat der Fahrer eine ~ Situationsadaquate Intention

gebildet? . __ .. __ .. _-_ .. __ ... __ ... __ .. _-- .. ja .. _ ... __ ... _ ... __ .. __ .. _ ... __ .. __ ... _.

Hat der Fahrer eine ~ Vorgehensweise gewahlt. die mit

seiner Intention libereinstimmt?

t ja

Hat der Fahrer diese ~ Vorgehensweise korrekt in

Handlung libersetzt?

.. ja

Wurde die Bedienung wie inten-~ diert ausgefUhrt?

Mechanischer oder struktureller Fehler

Informationsfehler

Diagnosefehler

Zielsetzungsfehler

Fehler in Auswahl d. Vorgehensweise

Handlungsfehler

Bedienungsfehler

Abb. 3.4 Das Modell der intemalen Fehlfunktion adaptiert fUr die Fahrzeugftihrung nach Rasmussen (1982).

Ais dritter Ansatz wurde Reasons Modell (1990) (Abb. 3.5) der sicherheitsbeein­trachtigenden Verhaltensweisen gewahlt, hier wird zum einen nach der Rolle der Aufmerksamkeit (intendiert vs. nicht intendiert) und nach der Handlungs­motivation (prinzipiell sicherheitsorientiert vs. prinzipiell effektivitatsorientiert) unterschieden.

Man konnte das Informationsverarbeitungsmodell (Abb. 3.3) als die allgemeine Landkarte, das Rasmussen-Modell (Abb. 3.4) als die Liste von Wegabweichungen und das Reason-Modell (Abb. 3.5) als die Prozessmodellierung bei fehlerhafter Richtungskontrolle bezeichnen, dementsprechend erganzen sich die darauf basie­renden Fehleranalysen von Wiegmann u. Shappell (1997). Bei der Unfallursa­chenklassifikation nach Informationsverarbeitung fUhren Fehler bei der Signal­detektion und den AuJmerksamkeitsprozessen signifikant haufiger zu besonders gravierenden Unfallen. Die darauf aufbauende Analyse nach der Informationsauf­nahme und HandlungsausfUhrung zeigt, dass speziell die Detektion von Warnsig­nalen fUr Systemzustande und die dem zugrunde liegende Jehlerhafle Zielbildung zwischen schweren Unfallen einerseits und leichtenlmittleren andererseits diskri-

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46 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?

miniert. 1m Modell der sicherheitsbeeintrachtigenden Verhaltensweisen wird die besondere Bedeutung von bewussten VerstofJen deutlich, die durch eine falsch verstandene Effektivitatsorientierung herbeigefUhrt worden sind.

I nicht intendierte Verhaltensweisen

gefahrdende Verhaltensweisen

I intendierte

--- ------ --- --- --- ---- --- ____ ~~~9l~!li:.~~ ____

I

Grundlegende Fehlertypen

Aufmerksam-keitsfehler

Informations-verarbeitungs-

fehler

Zielsetzungs-fehler

------------------------------------------

sicherheitsorientiert - --- ---eirekti~itiits;;;i e-;;-ti e~t ---

VerstoBe

Abb. 3.5 Modell def gefahrdenden Verhaltensweisen nach Reason (1990)

Bei aller notwendigen Vorsicht hinsichtlich der Ubertragbarkeit von Flugunfall­daten aufVerkehrsunfalldaten geben diese Ergebnisse dennoch Hinweise dafUr, an welchen Stellen im besonderen MaBe Assistenzbedarf gegeben ist:

1. Bei der Verbesserung der Informativitat von Signalen iiber Systemzustande, 2. beim Management der Aufmerksarnkeitsverteilung und 3. bei der Verhinderung von VerstoBen aufgrund von Effektivitats- oder Bequem­

lichkeitsbediirfnissen.

Auf der Grundlage dieses Assistenzbedarfs und den Ergebnissen in Zimmer et al. (1999) lassen sich die fUr Cockpitgestaltung entwickelten Richtlinien von Wie­ner u. Curry (1980) zu den folgenden allgemeinen Gestaltungsgrundsatzen fUr Assistenzsysteme (Tabelle 3.3) fortentwickeln.

Folgt man diesen Richtlinien, dann ergeben sich nicht nur fUr die Gestaltung von Fahrzeugen Konsequenzen, sondem auch fUr die Gestaltung von Ausbildung und Verkehrsinfrastruktur. Bei lediglich punktuell optimierenden Losungsansat­zen besteht dagegen die Gefahr, dass ein illusionarer Sicherheits- oder Assistenz­gewinn wahrgenommen und entsprechend adaptiert wird. Aus diesem Grunde sind Systemlosungen anzustreben, die gegeniiber Risikoadaptation resistenter sind.

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3.3 Konsequenzen fiir die Gestaltung von Assistenzsystemen 47

TabeUe 3.3 Vergleich der Erwartungen von Entwicklern neuer Automatisierungstechniken mit Problemen, die in der Praxis auftreten.

Displays sollen gut sichtbar, interpretierbar und handlungsbezogen sein.

2 Die Form der Assistenz soli durch den Fahrer bestimmt werden; d.h. unter­schiedliche Fahrstile sollen zulassig sein, aber die Assistenz soli fUr aile funktionie­reno

3 Belastungsspitzen sollen vermieden werden. Die Assistenz sollte fUr einen Aus­gleich von Spitzen und Sen ken liber die Zeit sorgen; d.h. Uber- wie Unterforde­rung entgegenwirken.

4 Da ein technisches System nicht entscheiden kann, ob die momentanen situativen Anforderungen an den Fahrer zu hoch sind, mlissen diese darauf trainiert wer­den, solche Situation en zu erkennen und die Assistenz entsprechend einzustellen.

5 Die Arbeitsteilung zwischen Fahrer und System sollte derart sein, dass die Aufga­ben des Fahrers sinnvolle Einheiten darstellen und ihn nicht nur einfach beschafti­gen (wie z.B. bei der Bahn durch automatisierbare Vigilanz-Checks).

6 Die Falsch-Alarm-Rate muss niedrig gehalten werden.

7 Alarm-Signale mlissen diagnostisch fUr das sie auslosende Fehlverhalten des Systems sein.

8 Das System sollte in der Lage sein, Programmierungs- und Einstellungsfehler zu diagnostizieren und rlickzumelden.

9 Die Assistenzsysteme mlissen so integriert sein, dass der Fahrer schnelle Checks auf GUltigkeit von Diagnosen und Meldungen durchfUhren kann.

10 Die Form der Alarmsignale muss den Grad ihrer zeitlichen Dringlichkeit signali­sieren.

3.3 Konsequenzen fur die Gestaltung von Assistenzsystemen

Woods et al. (1997) haben tabellarisch zusammengestellt, wie die von den techni­schen Gestaltem erwarteten Entlastungswirkungen infolge von Assistenz- und automatisierten Systemen von dem abweichen, was in konkreten Belastungs­situationen infolge dieser Systeme wirksam wird (Tabelle 3.4).

Eine Automatisierung oder auch Assistenz Hisst sich am einfachsten fUr Situati­onen entwickeln, in denen sich das Fahrer-Fahrzeug-StraBe-System in einem vor­aussagbaren Zustand befindet. Weil in solchen Situationen der Kraftfahrer eher unterfordert ist, d.h. sich seine Aktivitat unterhalb des optimalen Niveaus befindet, fiihrt die zusatzliche Entlastung durch Assistenzsysteme zu einem weiteren Zu­riickgehen der Aktivierung. Dieses daraus resultierende sehr niedrige Aktivitatsni­veau wird besonders dann kritisch, wenn z.B. der Kraftfahrer plotzlich auf eine komplexe Verkehrssituation reagieren muss und dariiber hinaus gleichzeitig die bisherige Automatisierung bzw. Assistenz wegfallt: Hier wird ohne Dbergang von einer Unterforderungssituation mit dem entsprechenden niedrigen Aktivierungsni-

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48 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?

veau zur Uberforderungssituation mit einem extrem hohen Aktivierungsniveau geschaltet.

Tabelle 3.4 Vergleich der Erwartungen von Entwicklem neuer Automatisierungstechniken mit Problemen, die in der Praxis auftreten

Erwarteter Nutzen

Reduziert die physischen Anfor­derungen der Arbeitstatigkeit (Entlastung der Ressourcen)

Reduziert die Aufmerksamkeits­anforderungen

Erfordert weniger Vorwissen

Arbeitet autonom

Integriert aile relevanten Infor­mationen

Ermoglicht eine grundsatzliche Flexibilitat und damit eine besse­re Anpassung an den Nutzer

Reduziert die Fehleranf<illigkeit des mensch lichen Operateurs

Probleme in der Praxis

Ersetzt physische Anforderungen durch neue kognitive Anforderungen haufig mit zeitkriti­schem Charakter(Verschiebung der Belastung. evtl. sogar VergroBerung)

Erfordert das aktive Nachvollziehen der Sys­temaktivitaten und die Integration mehrfacher Tatigkeiten und Veranderungen in der System­bedienung

Erfordert andere Formen des Wissens und der Bedienungsfertigkeiten

Erfordert eine enge Kopplung zwischen Men­schen und Maschinen. ohne diese z.B. durch Systemtransparenz zu unterstiitzen

Erfordert neue und komplexere Formen Ruck­meldung. damit der Operateur erkennen kann. in welchem Kontext welches Signal informativ ist

Die Fulle von Eigenschaften. Optionen und Modalitaten fuhrt zu neuen. kognitiven Anforde­rungen. Fehlermoglichkeiten und Szenarien des Systemversagens

Entstehung neuer Formen von Fehlfunktionen aufgrund von Storungen in der Mensch­Maschine-Koordination (z.B. die Obernahme­problematik)

Bezuglich des unmittelbaren Gefahrdungspotentials nicht ganz so extrem sind Situationen, die durch mangelnde Expertise bzw. Ausfall spezifischer situativer Information und einem Fehlen an technischer Assistenz auftreten. Dort muss auf Situationen, auf die ublicherweise nur durch direkte Musteranwendung reagiert werden kann, mit deduktiver oder sogar abduktiver Analyse und neuer Handlungs­planung reagiert werden; dies erfordert sehr viel mehr Zeit und gleichzeitig eine starke Fokussierung und damit das Ausblenden evtl. bedeutsamer anderer Infor­mation. Generalisiert man die Ergebnisse erinnerungsgesteuerten Entscheidens (recognition primed decision making, Klein, 1998) auf den Verkehr, dann muss man davon ausgehen, dass 80-90% aller Entscheidungssituationen aufgrund fester Aktionsmuster gel6st werden und dass auch in den meisten restlichen Entschei-

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3.3 Konsequenzen fiir die Gestaltung von Assistenzsystemen 49

dungen keine vollstandige Analyse durchgefiihrt wird, sondern lediglich alternati­ve Muster oder Szenarien aufgrund von vorher festgelegten Prioritaten gewertet werden.

Zusammen mit den Ergebnissen iiber die unterschiedlichen Formen der Infor­mationsiibertragung in Abhangigkeit des Aktivierungsniveaus lassen diese Ergeb­nisse iiber das Entscheidungsverhalten die Regel- bzw. Musterebene des Kontroll­verhaltens als besonders bedeutsam rur informationelle Assistenzsysteme erschei­nen. Die hier vergleichsweise effektive Informationsiibertragung, verbunden mit situativer Flexibilitat und effektivem Entscheidungsverhalten, lasst diese Ebene des Kontrollverhaltens als besonders adaquat rur die komplexen, situativ flexiblen und gleichzeitig zeitkritischen Verkehrssituationen erscheinen. Demnach sollte es das Ziel effektiver Fahrassistenz sein, den Fahrer moglichst durchgangig in die­sem Verhaltens- und Entscheidungsmodus zu halten. Einerseits sollte Assistenz auf der Fertigkeitsebene so integriert werden, dass es praktisch zu einer Optimal­passung von analoger Informationseingabe und analoger Regelung kommt, ande­rerseits sollte auf der Wissensebene Assistenz dazu ruhren, dass Planungsphasen (zeitaufwendig und sequentiell) von Regelungsphasen (schnell und parallel) ent­koppelt werden. Beispielsweise sollten vor Antritt der Fahrt die grundsatzlichen Entscheidungen iiber Zielbestimmung, Zielfiihrung und Optimierungskriterien gefallen sein, so dass dann unter Beriicksichtigung dieser Zielvorgaben eine Assis­tenz geleistet wird, die den Fahrer auf mittlerem Aktivierungsniveau halt und dementsprechend adaquate Informationsvorverarbeitung leistet, damit vorhandene Muster schnell erkannt und entsprechend vorhandener Regeln in Fahrentscheidung iiberfiihrt werden konnen.

Abgeleitet aus Untersuchungen zur sog. situational awareness bei Piloten (z.B. Sarter u. Woods, 1994) ist fUr das Autofahren zu fordern, dass durch schnelle und adaquate Riickmeldung rur den Fahrer immer ein mittleres Aktivierungsniveau sichergestellt ist, und dass der Fahrer sich immer iiber den jeweiligen Modus der Bedienung im Klaren sein kann, damit er situationsadiiquat entscheiden kann.

Einem sog. Modusfehler, wie er bei der modernen Fly-by-wire-Flugzeug­ruhrung auftreten kann, entspricht die Situation bei der Fiihrung eines Kraftwa­gens, in der sich der Fahrer durch Automatisierung oder Assistenzsysteme unter­stUtzt glaubt, wahrend diese aufgrund von Fehlern oder ungiinstiger Situation rur die Informationsverarbeitung nicht oder nur unvollstandig arbeiten; in einer sol­chen Situation werden Einwirkungen von AuBen wie z.B. aufgrund von WindbOen oder Veranderungen des Reibbeiwerts aufgrund von Glatteis falsch interpretiert und konnen deshalb nicht durch adiiquates Regelungsverhalten aufgefangen wer­den. Dies wird speziell dann von groBer Sicherheitsrelevanz, wenn es mit dem Eintritt einer Notfallsituation (z.B. Stauende) zusammen fallt.

Zusammenfassend lasst sich sagen, dass eine Optimalgestaltung (s. z.B. Braess, 1998) darin bestehen sollte, den Fahrer durch Assistenz dadurch im Zustand mitt­lerer Aktivierung zu halten, dass Regelung und Entscheidung musterbasiert (re­cognition prime) erfolgen konnen. Situationen, wo dies wegen der Notwendigkeit ressourcenaufwendiger Anforderungen an Analyse (Diagnose und Planung) nicht moglich ist, sollten rechtzeitig und informativ signalisiert werden. Aus Reasons Modell der gefahrdenden Verhaltensweisen (Abb. 3.5) wird ein weiterer, rur die

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50 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?

Gestaltung von Assistenzsystemen wichtiger Aspekt deutlich, dass namlich jede noch so gute Assistenz nur dann zu einem Gewinn an Sicherheit fUhren kann, wenn sich der Fahrer entsprechend den expliziten oder impliziten Prinzipien des Systems verhalt, d.h. keine Eigenschaften des Systems missbraucht. Die Untersu­chungen von Reason (1990) u.a. in Kontrollstanden und bei der Qualitatssicherung haben deutlich gezeigt, dass solche "Verletzungen" (violations) in der Regel nicht auf Schadigungen abzielen, sondem auf dem Wunsch nach Effektivierung, gekop­pelt mit mangelndem Systemverstandnis, basieren. Dies wird besonders haufig dann auftreten, wenn das Gesamtsystem so wenig transparent ist, dass eine Einhal­tung von Regelungen bzw. die Beriicksichtigung von Randbedingungen als nicht notwendig oder sinnvoll erscheint. 1m Extremfall kann das Befolgen einer Regel unter bestimmten Randbedingungen nicht moglich erscheinen (z.B. wahrend der Fahrt ein neues Navigationsziel einzugeben, weil sich ein wichtiger Termin ver­schoben hat). Urn diesen sicherheitskritischen Regelverletzungen erfolgreich zu begegnen, muss also einerseits das Fahrzeug-Verkehrs-System fUr den Fahrer jeweils transparent sein und andererseits so weit von Beeintrachtigungen und Unbequemlichkeiten freigehalten werden, dass in gegebenem Zeitrahmen mit der zur VerfUgung stehenden Aktivitat die Aufgabe gelost werden kann.

Bine besondere Herausforderung fUr Handlungs-Assistenz bei wissens­basiertem Verhalten besteht darin, das "Fenster der Vorausschau" fUr den Fahrer genau so we it zu vergroBem, dass Situationen, die eine zeitkritische Regelung er­fordem, nicht mit plotzlichen Notfallsituationen zusammenfallen.

Vergleicht man die Qualitatskriterien fUr ein Auto aus der ersten Anzeige (Abb. 3.1) mit dem Stand der Technik heute und den entwickelten Kriterien und Anforderungsprofilen fUr Fahrerassistenz, dann wird deutlich, dass die "Komplex­qualitaten" wie Sicherheit, Zuverlassigkeit und Komfort die gleichen geblieben sind, dass sich aber die Rollen- und Arbeitsverteilung zwischen Fahrer und Fahr­zeug gravierend geandert haben. Zu Beginn war die Funktionsweise des Fahrzeu­ges und sein Reagieren auf Eingriffe des Fahrers eindeutig und fUr den Fahrer transparent in ihrer Umsetzung. Dies implizierte auf der anderen Seite aber eine standige und direkte Kontrolle des Fahrers und die damit einher gehende hohe Anforderung an die Aufmerksamkeit. Ein modemes Fahrzeug ist in seiner mecha­nischen Funktionalitat fUr den Fahrer heute nicht mehr direkt, sondem fast aus­schlieBlich nur noch iiber Servomechanismen oder "intelligente" Schnittstellen wahmehmbar. Dieser damit einhergehende Verlust an Transparenz sollte nicht dazu fUhren, dass sich der Fahrer als durch das System gesteuert erlebt, sondem durch eine Optimierung der Beziehungen zwischen dem Leistungsprofil des Fahr­zeugs und dem Leistungsprofil des Fahrers aufgefangen werden, d.h. die mechani­schen Eigenschaften des Fahrzeugs, die einzelnen Assistenzsysteme und ihre Interaktionen miissen fUr den Fahrer zu einem homogenen Fahrzeug integriert werden. Das von Sheridan (1992) beschriebene Konzept der Supervisory Control stellt diese Beziehung von Fahrer zu Fahrzeug sehr genau dar; wobei festzuhalten ist, dass Sheridan fUr das Fiihren von zu dieser Zeit gegebenen Fahrzeugen ohne modeme Assistenzsysteme supervisory control als ungeeignet ansah. Daher ist es fUr die jetzt gegebene Schnittstellen-Gestaltung mit ihrer hohen Dynamik und Komplexitat der Reizdarbietung notwendig, das Konzept der Supervisory Control

Page 66: Kraftfahrzeugführung ||

3.3 Konsequenzen fUr die Gestaltung von Assistenzsystemen 51

weiter zu entwickeln, da selbst verglichen mit Kontrollraumen hoher Komplexitat die Situation im Fahrzeug eine sehr vie1 starkere Gewichtung der Rolle des Fah­rers notwendig macht.

Eine optimale Abstimmung von Fahrem und modemer Fahrzeugtechnik erfor­dert einerseits, dass die gesamte Palette der Informationskanale (vom visuellen bis zum taktilen Kanal) und der Bedienungsformen (von der klassischen motorischen Fiihrung bis zu Sprache oder Zeigen) angewendet wird, allerdings mit der Ein­schrankung, dass bei der Betonung der zentralen Rolle des Fahrers die Sinneska­nale, wie von Gibson (1966) postuliert, als Systeme betrachtet werden und ent­sprechend auch die Formen der Bedienung. Konkret bedeutet dies, dass die Frage, wie Redundanzen vemiinftig eingesetzt werden und Interferenzen vermieden wer­den konnen, urn zu einem korrekten Systembild zu fiihren, fUr die Zukunft eine zentrale Aufgabe darstellt. Als moglicher Losungsansatz bietet es sich an, bei der Gestaltung von Schnittstellen Techniken anzuwenden, die im Rahmen von Virtual Reality entwickelt worden sind. Zur Zeit ist aber weder die dafiir notwendige direkte Riickmeldung moglich (notwendig waren maximale Verzogerungszeiten von ungeflthr l2ms; als technischer Standard (DoD) gelten noch IOOms),z noch die entsprechende raumliche Auflosung im taktilen (Vibrationen mit einer Amplitude von weniger als IJ..L konnen noch wahrgenommen werden) und im visuellen Ka­naP

Greenberg et al. (1995) machen fUr das Sicherheitsmanagement im Flugzeug iiberzeugend deutlich, dass eine effektive Assistenz nicht darin bestehen kann, dem Piloten jede anormale Eingabe als Fehler zuriickzumelden, sondem erst dann einzugreifen, wenn sich der Pilot aus dem Bereich der "sicheren Fiihrung" ent­femt. Obertragen auf den StraBenverkehr bedeutet dieser Ansatz, dass integrierte Assistenzsysteme einerseits einen Geflthrdungsdetektor und andererseits ein "Be­ratungssystem" enthalten sollten, urn dem Fahrer Handlungsvorschliige (i.S.v. remedial action) zu geben, wie aus der Gerlihrdungssituation heraus gelenkt wer­den kann. Wie ausgefUhrt, ist die Modalitat der Vorgabe solcher Vorschlage fUr die effiziente Umsetzung entscheidend, es muss daher situationsspezifisch ent­schieden werden, auf welcher Handlungsebene welche Form der Assistenz gege­ben wird.

Bei der Entscheidung iiber Inhalt und Form jeder Assistenz speziell auf der muster- bzw. regelorientierten Kontrollebene ist die Einbeziehung des System­bildes notwendig, wie es sich fUr den Fahrer darstellt. Urn den Fahrer im Raum moglicher Systemzust1lnde im Bereich des "sicheren Fahrens" zu halten, sind einerseits Beeinflussungen des direkten Regelungsverhaltens z.B. durch ACC oder Heading Control moglich, dariiber hinaus miissen wegen der Obemahme-

2 Geht man von der hirnphysiologisch gut belegten Synchronisationsdauer von 25ms aus, dann kannjede Verzogerung, die kleiner ist als die halbe Zeit (12.5ms) als problematisch angesehen werden.

3 Das menschliche Auge lost zumindest im Bereich des fovealen Sehens sowohl raumlich wie auch beziiglich der Farbdichte hOher auf als z.Z. technisch moglich ist. Wegen der hohen Geschwindigkeit der Augenbewegungen miisste diese Auflosung im groBten Teil der Sehhalbkugel erreicht werden.

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52 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?

problematik entsprechende Zustands- oder Warnhinweise so gestaltet sein, dass sie moglichst effizient den Aufbau des jeweils aktuellen Systembildes ermogli­chen.4 In Abb. 3.6 wird dargestellt, wie von einer Wamung auf den Systernzustand geschlossen werden kann.

- Information - Geschwindigkeit - Fahrstand - verfugbarer

Brennstoff

GI E3 iii c ~ B III C 0

~ 63 E ..

oS .s E:9 B System-

zustands-anzeige

Bediener

Abwarten, ob Wiederher­stellung der Norm

;; ;

;;

~ ; Oberprufen der erwarteten

Veranderungen

System verhalt sich nicht wie erwartet

Systemfunktionen

Entscheidung fur die" beste'

Erklarung

System­bedienung

Abb. 3.6 Abduktives Sch1ieBen von den Anzeigen auf die Ursache, die einer Wamung zugrunde 1iegt (ergiinzt und angepasst nach Woods et ai., 1991).

Formal gesehen handelt es sich bei der richtigen Interpretation von Wamungen urn abduktives SchlieBen (Woods, 1993); d.h. aus allgemeinem Systemwissen und einer konkreten Wamung wird auf den zugrundeliegenden Systernzustand ge­schlossen, der die Wamung ausgelost hat. Abduktion fiihrt prinzipiell nicht zu eindeutigen, sondem nur zu besten oder akzeptablen (satisficing) Losungen. Die Eigenschaften des abduktiven SchlieBens als der zentralen kognitiven Anforder-

4 ANSI Z 535.4.-1991 beschreibt die Anforderungen an effektive Wamsysteme fo1gender­maBen: ,,A product safety sign or label should alert persons to a specific hazard, the de­gree or level of hazard seriousness, the probable consequence of involvement with the hazard, and how the hazard can be avoided. " Was diese Anforderungen nicht beriick­sichtigen ist, dass Wamungen von besonderer Bedeutung in solchen Situationen werden, die zeitkritisch sind und auf den Operateur treffen, wo dieser an den Grenzen seiner In­formationsverarbeitungskapazitat operiert.

Page 68: Kraftfahrzeugführung ||

3.4 Schlussfolgerungen 53

ung bei Supervisory Control helfen, die eingangs gestellte Frage nach dem not­wendigen Umfang der "Intelligenz" von Fahrzeugen zu beantworten.

Einerseits erfordert Abduktion wegen der notwendigen Uneindeutigkeit der Losungen den verantwortlich entscheidenden Fahrer ("was ist ein akzeptabler Handlungsentwurf auf dem Hintergrund vorliegender Information?"); dies impli­ziert den Verzicht auf automatisiertes Fahren.

Andererseits miissen die Messwerte iiber den Fahrzeugzustand, geographischen Daten iiber die Strecke und Verkehrsfluss so integriert werden, dass daraus flir den Fahrer komplexe aber homogene Systembilder entstehen, die ihn auf der Ebene des mustergeleiteten Regelns agieren lassen, wo notwendige Flexibilitat und Situationsangepasstheit und vergleichsweise hohe kognitive Effizienz gegeben ist.

Die in Zimmer et al. (1999) zentrale Fragestellung be stand in der Untersuchung iiber die Auswirkungen von Ablenkung (ein externes Signal lost beim Fahrer eine Reaktion aus) im Gegensatz zu Abwendung (der Fahrer entscheidet sich aufgrund der augenblicklichen Situation, ein Gerat zu bedienen oder eine Anzeige zu lesen).

Aufgrund des Modells der Regelungsebenen ist zu erwarten, dass die Setzung externer Hinweissignale zu Verhaltensweisen auf der Fertigkeitsebene fiihrt mit der damit einhergehenden starren Kopplung von Signal und Reaktion. Die Infor­mations- und Bedienzuwendung aufgrund interner Planung iiber den Einsatz kog­nitiver Ressourcen entspricht eher dem Regelungsverhalten auf der Musterebene und ist entsprechend flexibel gekoppelt. Fiir die Setzung von Warnhinweisen hat dies zur Konsequenz, dass nur eindeutig identifizierbare Zustande mit hoher Prio­ritat und engen Zeitfenstern durch ablenkende Reize (wie z.B. akustische Reize oder taktile Riickmeldungen) mit dem Ziel schneller und starr gekoppelter Reakti­on signalisiert werden sollten. Nicht-zeitkritische Zustiinde sollten so angezeigt werden, dass sie bei der nachsten Zuwendung erfasst und hinsichtlich des Bedarfs nach Eingriff flexibel beurteilt werden konnen. Die Ergebnisse in Zimmer et al. (1999) deuten darauf hin, dass speziell Fahranfanger gegeniiber Experten iiber­wiegend ihre Aufmerksamkeit extern steuern lassen und zu starrer Kopplung nei­gen.

Altere Fahrer dagegen haben die Strategie der selbstgesteuerten Zuwendung mit dem systematischen Ablesen der Kontrolle so generalisiert, dass sie die Vor­teile externer Signalisation weniger nutzen, d.h. sie wenden sich der entsprechen­den Anzeige auch dann zu, wenn diese z.B. nicht durch ein akustisches Signal als aktiv gekennzeichnet wird.

3.4 Schlussfolgerungen

Es lasst sich konstatieren, dass durch Assistenz im Manovrierverhalten (ABS, elektronische Schluptkontrolle bis hin zu ACC und He) einerseits und im Pla­nungsverhalten (z.B. durch Navigationssysteme) andererseits der Fahrer zum effektiven Einsatz seiner Expertise in Form von Mustern beflihigt wird. Die be­sondere "Intelligenz" integrierter Assistenzsysteme besteht dann in der Vermitt­lung des jeweils aktuellen, d.h. handlungsbezogenen Systembildes, damit War-

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54 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?

nungen beim Verlassen der "Region des kontrollierten Fahrens" korrekt interpre­tiert und durch adaquates Verhalten beantwortet werden k6nnen.

Fur die Gestaltung von Assistenzsystemen als Informationswerkzeuge (infor­mation applicances i.S.v. Norman, 1999) gelten in modifizierter Form die von Donald Norman aufgestellten "Gestaltungsaxiome":

1. Einfachheit. Die Komplexitat der Assistenzsysteme bezieht sich auf die zu 16sende Aufgabe, nicht auf ihren Werkzeugcharakter; d.h. die zugrundeliegende Technologie wird unsichtbar.

2. Adaptivitiit. Assistenzsysteme erlauben dem Nutzer die fUr ihn adaquate und flexible Funktionalitat.

3. Spa). Assistierende Systeme sollen das Fahren angenehmer machen, sollen in der Nutzung und im Besitz SpaB machen.

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Page 71: Kraftfahrzeugführung ||

4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen -psychologische Gestaltungskonzepte

Berthold Farber

4.1 Die Notwendigkeit von Navigationssystemen

Navigationssysteme finden sich mittlerweile bei fast allen Automobilherstellem als Sonderausstattung im Programm. Auch mehrere Ausriister bieten Systeme mit statischen oder dynamischen Wegleitinformationen als Nachriistsatz an. Vergli­chen mit anderen Sonderausstattungen, wie etwa Alufelgen bzw. im Vergleich mit technischen Errungenschaften wie etwa Handys nimmt die Verbreitung von Navi­gationssystemen im Fahrzeug nur langsam zu. Welche Griinde hat dies?

Zum einen sind sicherlich 6konomische Griinde fUr die Zuriickhaltung der Kraftfahrer verantwortlich. Der Anschaffungspreis von mindestens DM 2000.­stellt zweifellos ein Hemmnis dar. ledoch gibt es psychologische Aspekte, die Kraftfahrer davon abhalten, sich fUr diese Ausstattungsvariante zu entscheiden. Alufelgen bringen - wie manch andere Ausstattungsvarianten - eine optische Aufwertung des Fahrzeugs. 1m Gegensatz dazu sind nicht oder nicht unmittelbar sichtbare Sonderausstattungen schwieriger am Markt durchzusetzen. Ein zweiter wesentlicher Aspekt umfasst die subjektive Notwendigkeit von Navigationssyste­men. In einer Befragung von Kraftfahrem (Farber u. Farber, 1985) antworteten auf die Frage: "Wie gut kamen Sie bei den letzten Fahrten in fremder Umgebung zurecht?" mit:

- gut 78% - es gmg so 17% - schlecht 5%.

Dieses Antwortmuster bleibt stabil, wenn die Befragten unterteilt werden in Personen, die Navigationssysteme positiv oder negativ einschatzen. Unabhangig von ihrer Einstellung oder ihres Problembewusstseins sehen also die meisten Au­tofahrer keine dringende Notwendigkeit, ein Navigationssystem in ihr Fahrzeug einbauen zu lassen. Sie sind der Meinung, dass sie aufgrund des StraBennetzes, der Beschilderung oder anderer Hilfsmittel immer irgendwie zum Ziel gelangen.

Doch stimmen objektive und subjektive Sicht iiberein? Stellt das Zurechtfinden in fremden Stadten kein Problem dar? Mehrere Studien kommen zu einer v611ig anderen Einschatzung. Ellinghaus u. Welbers (1980) unterscheiden zunachst zwi­schen drei Problemen bei der Orientierung in fremden Stadten:

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58 4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen - psychologische Gestaltungskonzepte

• die Zielsuche in einer Stadt, die sowohl fUr Ortsansassige als auch fUr Orts­fremde teilweise schwierig ist,

• das Durchfahren einer Stadt, • das Herausfinden aus einer Stadt.

Wie Ellinghaus und Welbers weiter berichten, haben Personen vor allem Prob­Ierne bei der Erkennung von Stadtteilen, mit Umleitungen, sowie mit Wegweisem, bei denen der Ortsnamen nicht konsequent wiederholt wird. Beriicksichtigt man ferner, dass Autofahren auch immer einen Leistungsaspekt hat, wird verstandlich, warum Frauen in Befragungen regelmaBig mehr Probleme bei der Orientierung in fremder Umgebung einraumen als Manner. Besteht das Orientierungsproblem demnach nur flir eine Minderheit, fUr die es kaum lohnt, Navigationssysteme nut­zergerecht zu gestalten?

Zwei Studien zeigen anhand verschiedener Ansatze die Bedeutung mangelnder Orientierung fUr die Verkehrssicherheit. Engels u. Dellen (1989) pragten den Be­griff "Fremdenrisiko", der besagt, dass Ortsfremde iiberproportional am Unfallge­schehen innerorts beteiligt sind.

Eine detaillierte Beschreibung der Griinde fUr das hOhere Risiko, das von Orts­fremden ausgeht, findet sich bei Popp (1988). In einer nichtreaktiven Verhaltens­messung Ortsfremder konnten eine Reihe von spezifischen Verhaltensweisen ausfindig gemacht werden, die sich zweifelsfrei negativ auf die Verkehrssicherheit auswirken. Typische Verhaltensweisen Ortsfremder sind:

• die Flucht nach vome, • das Tanzen zwischen den Spuren, • das Unterschatzen von Entfernungen in GroBstadten, das zu haufigen Abbiege­

manovern in letzter Minute fUhrt.

Selbst wenn ein Beifahrer mit einem Stadtplan lotst, wollen die meisten Fahrer (wiihrend der Fahrt) selbst einen Blick in die Karte werfen; haufig nehmen sie dem Beifahrer gegen Ende der Fahrt die Karte weg und fahren nun mit der Karte auf dem Lenkrad.

Unter Beriicksichtigung des Aspekts "Verkehrssicherheit" ist demnach man­gelnde Orientierung ein durchaus ernst zu nehmendes Problem. Wie miissen aber Systeme ausgestattet und gestaltet sein, urn den Fahrer maximal zu unterstiitzen? Ein kurzer Blick in die Literatur iiber kognitive Karten sowie ein Riickblick auf die Entwicklungsgeschichte von Navigationssystemen zeigt sehr deutlich, wo die Probleme von Fahrern im Umgang mit diesen Systemen liegen und welche Gestal­tungsrichtlinien zu beachten sind.

4.2 Kognitive Karten

Ausgehend von der These von Boulding (1956), menschliches Verhalten sei viel starker durch das Bild, das man sich von der Welt mache, bedingt als durch die objektive Realitiit, pragten Downs u. Stea (1973) den Begriff cognitive map fUr menschliche Orientierung. Kognitive Karten sind nicht tatsachliche Gegebenhei-

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4.3 Erste Ansatze - Synergien aus cler Luftfahrt 59

ten, sondem "Wissensstrukturen tiber diumliche Beziehungen, Wegenetze und Verkehrsmoglichkeiten, die man jederzeit aus dem Gedachtnis abrufen kann, urn eine Zielortbestimmung und eine Routenwahl vorzunehmen" (Janssen, 1984, S.3). Die Inhalte von kognitiven Karten werden von Lynch (1960) in fUnf Elementklas­sen eingeteilt:

1. Wege (paths) 2. Knotenpunkte (nodes) 3. Markante Punkte (landmarks) 4. Bezirke, Landstriche (districts) 5. Grenzen (boundaries).

Nach Downs u. Stea (1982) benotigen wir fUr die Losung raumlicher Probleme Informationen tiber das "Wo", das "Was" und das "Wann". Wir mtissen also wis­sen, wo sich Menschen oder Dinge befinden, die wir aufsuchen wollen, welche Dinge oder Menschen sich an welchem Ort befinden (was) und zu welchem Zeit­punkt das Ereignis stattfindet (wann). Inwiefem unterstiitzen nun Navigationssys­teme den Aufbau kognitiver Karten? Oder anders gefragt: gibt es Systeme, die den Aufbau kognitiver Karten fordem, wahrend andere eher zu einer Dequalifizierung von Kraftfahrem fUhren?

Vor der Beantwortung dieser Frage ist es erforderlich, zunachst die verschiede­nen Konzepte von Navigationssystemen naher zu beschreiben. Obwohl die Ent­wicklung ausschlieJ31ich von technischen Moglichkeiten bestimmt war, lassen sich an ihr trotzdem die Implikationen, Starken und Schwachen von Navigationssyste­men aufzeigen.

4.3 Erste Ansatze - Synergien aus der Luftfahrt

Einen friihen Ansatz eines Navigationssystems fUr Kraftfahrer stellt cler Citypilot von VDO dar (Farber u. Farber, 1985). Nach Eingabe des Standorts und des Ziel­punkts wird der Fahrer mittels Koppelnavigation geleitet - allerdings zeigt der Richtungspfeil immer nur die Himmelsrichtung zum Ziel sowie die Entfemung in Luftlinie - eine Vorgehensweise, die in der Luft- und Seefahrt durchaus erfolg­reich angewandt wird. Auch Autofahrer, die nach dem Weg fragen, sind haufig damit zufrieden, die prinzipielle Richtung zum Ziel gezeigt zu bekommen, da sie sich die vielen Angaben wie "erste rechts, dann zweite links, dann an der dritten Ampel halbrechts und dann in die nachste StraBe einbiegen ... " ohnehin nicht merken konnen.

Wie agieren nun Kraftfahrer mit diesem System? Eine erste interessante Beobachtung war, dass Testfahrer verges sen hatten, ih­

ren Standort, d.h. den Startpunkt einzugeben. Sie gingen ganz offensichtlich davon aus, dass sie wussten, wo sie sich befinden, und damit das System tiber das gleiche Wissen verfUgen muss. Man kann darin eine deutliche Parallele zur herkommli­chen Auskunft nach dem Weg erkennen. Wer einen Passanten nach dem Weg fragt, muss auch nicht erst erklaren, wo er sich befindet. Das Ubertragen von All-

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60 4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen - psychologische Gestaltungskonzepte

tagsverhalten und Alltagstheorien auf neue Technologien lasst sich hier sehr ein­driicklich beobachten.

Da der Citypilot nur die Richtung und Entfemung zum Ziel als Luftlinie angab mussten die Autofahrer zusatzliche Orientierungsstrategien anwenden. Stimmen etwa optische Hauptachse der Stra13e und Anzeige des Citypilot nicht iiberein, so ist es bei gro13er Entfemung yom Ziel sinnvoll, der Hauptstra13e zu folgen und den Richtungspfeil zu ignorieren. Iedoch folgten im Experiment nur 31 % dem opti­schen Stra13enverlauf, wahrend sich 57% nach der Anzeige des Navigations­systems richteten. Auch hier ist das Verharren in naiven Alltagstheorien sichtbar. Obwohl den Fahrem die Technik und die damit zusammenhiingenden Probleme des Citypilot erlautert wurden, war der imperative Charakter der Anzeige haufig gro13er als die technischen Moglichkeiten.

Die Darstellung der Navigationsinformation erfolgt mit einem einfachen Rich­tungspfei1 in einer Windrose (Abb. 4.1). Wie gro13 ist die Ablenkung durch dieses vergleichbar einfache Symbol?

Abb. 4.1 Anzeige des Citypilot (links oben) mit StraBenszene

In einem Feldversuch war die mitt1ere Blickdauer 625ms, die durchschnittliche Blickhaufigkeit in Kreuzungssituationen 5,4 Blicke pro Fahrer und Kreuzung. Wie ist diese relativ gro13e Anzahl und lange Dauer von Blicken bei einem so einfachen Symbol zu erklaren? Ein wesentlicher Grund diirfte die Schwierigkeit der "Kopp­lung" der realen Welt mit der Anzeige sein, d.h. Stra13enverlauf, Anzeige und mentales Modell iiber das Ziel in Einklang zu bringen.

Zwei Schlussfolgerungen sind aus diesen fruhen Studien iiber Navigations­systeme zu ziehen:

• Sog. Synergie-Effekte durch Obertragungen von Erkenntnissen aus anderen Bereichen, wie etwa Luftfahrt, oder Seefahrt auf den motorisierten StraBenver­kehr sind nur selten moglich,

• selbst einfache Pfeildarstellungen konnen schon zu langen Ablenkungen yom Verkehr fUhren.

Sprachausgaben sind daher eine unabdingbare Forderung fUr Navigationssys­teme.

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4.4 Bakengestiitzte Systeme 61

4.4 BakengestUtzte Systeme

Vor der zivilen Verfiigbarkeit von GPS (Global Positioning System) wurden ver­sehiedene Ansatze untemommen, Kraftfahrem Wegleitinformationen mit exakten Abbiegehinweisen zur VerfUgung zu stellen. Der Ansatz von Blaupunkt sah eine elektronisehe Karte vor, auf dem das Fahrzeug als Leuehtpunkt dargestellt ist (Abb. 4.2). Da die Kartendaten nieht in einer Form vorlagen, die die Bereehnung und Ausgabe von Abbiegehinweisen ermogliehten, musste der Fahrer die elektro­nisehe Karte mit der AuBenwelt verkntipfen und Entseheidungen tiber die riehtige Route selbst treffen.

Abb. 4.2 Kartendarstellung des Trave1pilot

Bakengestiitzte Systeme verfolgen zwei Ziele: Bei bakengestiitzten Wegleit­systemen stellt der Fahrer eine Anfrage an eine Leitstelle. Er erhalt seine Naviga­tionsinformationen mit zuverlassigen Abbiegeinformationen fUr jede Kreuzung und Abzweigung tiber Infrarotsender, die an Ampeln angebraeht sind. Ein promi­nentes Beispiel fUr dieses Navigationssystem stellt LISB (Leit- und Informations­System Berlin) dar. Neben der Ausgabe exakter Abbiegehinweise bestand ein wesentliehes Ziel von LISB in der Erprobung dynamiseher Wegleitung. Aus dem Wissen tiber das Ziel und die mittleren Reisezeiten lassen sieh Rtieksehltisse auf Staus und Behinderungen ziehen. Ubersehreiten mehrere Fahrzeuge die mittlere Reisezeit auf einer Streeke, so kann an die naehfolgenden eine Umleitungsemp­fehlung gegeben werden.

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62 4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen - psychologische Gestaltungskonzepte

Wie bewahrt sich dynamische Wegleitung in GroBstadten? In einem groB ange­legten Feldversuch konnten Popp et al. (1991) nachweisen, dass die Reisezeiten mit einem dynamischen Wegleitsystem im Vergleich zu Fahrten mit Karte signifi­kant kiirzer sind. Die Versuche mit dem USB-System, das als "Ursystem" dyna­mischer Navigationssysteme mit Abbiegehinweisen angesehen werden kann, wei sen eine Reihe von weiteren Vorteilen von Navigationssystemen gegeniiber der Orientierung mit Karte nacho Verkehrssicheres Verhalten (eingescMtzt anhand der Dimensionen der Verkehrskonflikttechnik) nimmt mit einem Navigationssys­tern zu (Abb. 4.3).

0

5

0

5

0

5

0

5

ml rh I I 6 8

o LlSB

o Kartenfahrt

I = Geschwindigkeit unangepasst hoch 2 "Geschwindigkeit unangepasst niedrig 3 " Abstand zum Vorausfahrenden zu gering 1 " Abstand zum Vorausfahrenden zu hoch 5 = M.nover zogerlich e ingeleitet 6 = Manover zu spat eingeleitet 7 = Manover abrupt. ohne Berucksichtigung

des ruckwartigen Verkehrs. eingeleitet

8 = riskante. Fahrmanover

Abb. 4.3 Fahrverhalten mit LISB und mit StraBenkarte

Dies ist urn so bemerkenswerter, als den Versuchspersonen ein Kartenstudium wahrend der Fahrt nicht gestattet war - ein Verhalten, das sie normalerweise prak­tizieren. Die subjektiv erlebte Belastung bei Fahrten mit dem USB-System sinkt signifikant, das objektive MaB "Herzrate" weist nach, dass vor allem die Orientie­rung mit der Karte (im Stand) zu hohen Belastungen ftihrt.

Aus den Feldversuchen mit USB sind zwei weitere Schlussfolgerungen fUr die Gestaltung von Navigationssystemen zu ziehen:

l. Fahrer mit dem Navigationssystem USB fUhrten vermehrt abrupte Fahr­manover, ohne Beriicksichtigung des nachfolgenden Verkehrs aus (Abb. 4.3).

Erklarbar wird dies einerseits aus der relativ spaten Ankiindigung der Ma­nover sowie durch die Art der Sprachausgabe, die einen hohen Aufforderungs­charakter aufweist. Bei der Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle fUr Navigationssysteme ist daher darauf zu achten, dass die Ankiindigung der Ma­nover friihzeitig und in einer Form kommt, die den Fahrer nicht zu unkontrol­lierten Aktionen verleitet. Zum Beispiel sollte die Sprachausgabe fUr einen Spurwechsel statt "Rechts einordnen!" lauten: "Bitte wahlen Sie demniichst die rechte Spur".

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4.5 Ort und Art der Darstellung 63

2. Die zu erwartenden Zeitvorteile durch dynamische Navigationsinfonnationen sind eher gering. Ein erfahrener Beifahrer, der nur die prinzipiellen Engpasse und Staugefahren in Berlin kannte, konnte die Testfahrer regelmaBig schneller zum Ziel fiihren als das System LISB, das theoretisch tiber Online­Infonnationen zur Verkehrsbelastung verfiigte (Tabelle 4.1).

TabeUe 4.1 Mittlere Fahrzeit (in Minuten) fiir drei Wegleithilfen pro Strecke

Wegleithilfe ohne Obung mit Obung

LlSB 17,8 16,9

Beifahrer 13,0 11,9

Karte 29,4 29,4

Sicherlich war die geringe Ausstattungsdichte mit LISB Fahrzeugen einer der Griinde fiir dieses Ergebnis. Jedoch sollte beriicksichtigt werden, dass Wissen tiber Staus und Verdichtungen noch nicht gleichbedeutend ist mit einem sinnvollen An­gebot zur Umfahrung. Zunachst stellt die Berechnung einer Altemativroute eine komplexe Modellierung dar, die mit vielen Unbekannten und Annahmen arbeiten muss. Zudem ist der Innerortsverkehr meist so dicht, dass die Umfahrungsmog­lichkeiten von Staus beschrankt sind. Die Hoffnungen, durch dynamische Weglei­tung den StraBenraum optimal zu nutzen und Staus und Behinderungen weitge­hend zu venneiden, wird sich daher eher nicht erfiillen.

4.5 art und Art der Darstellung

Navigationssysteme sollen den Fahrer optimal bei der Zielfindung unterstiitzen, ohne ihn yom Verkehrsgeschehen abzulenken. Nur neue Fahrzeuge ab der geho­benen Mittelklasse bieten die Moglichkeit, im Kombiinstrument Navigationsin­fonnationen darzustellen. In vielen Fahrzeugen ist ein Platz im Bereich der Mit­telkonsole fiir Zusatzsysteme wie Navigation vorgesehen.

Abgesehen von Herstellem, die Navigationssysteme mit dem Autoradio kom­binieren (z.B. Becker), bieten aIle Systeme die Moglichkeit der Kartendarstellung. Der Kunde, so lautet die Begriindung, wUnscht diese Option. Die Befragung von technisch Interessierten, die prinzipiell eher als Kaufer angesehen werden, zeigt auch, dass die Kartendarstellung als wichtiges Element fiir Orientiertheit betrach­tet wird. Es besteht die Befiirchtung, bei ausschlieBlicher Routenfiihrung mit Ab­biegepfeilen schlechter orientiert zu sein sowie den Uberblick und die Fiihigkeit zur Orientierung ohne Navigationssystem zu verlieren. Kartendarstellungen kon­nen sinnvoll nur auf einem Display im Bereich der Mittelkonsole dargestellt wer­den. Die Darstellung im Kombi-Instrument ist aufgrund der GroBe der verfiigba­ren Displays und der Auflosung der LCD-Bildschinne nicht moglich (Abb. 4.4).

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64 4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen - psychologische Gestaltungskonzepte

Abb. 4.4 Navigationssystem im zentralen Blickfeld des Fahrers (Mercedes C-Klasse)

Welche objektiven Vorteile hat die Moglichkeit der Kartendarstellung? In einem Simulatorexperiment mit einer Zielfindungsaufgabe mit und ohne zusatzliche Kartendarstellung konnten Popp et al. (1990) zeigen, dass Karten, selbst wenn sie gut gestaltet und auf die Benutzung im Fahrzeug zugeschnitten sind, keine positi­yen Auswirkungen auf die Qualitat der Zielfindung zeigen. Die Orientiertheit der Fahrer beziiglich des eben befahrenen Gebiets wurde durch die Kartendarstellung nicht erhOht.

Die Darstellung eines Navigationspfeils und einer Karte im Bereich der Mittel­konsole lieB die Ablesezeiten signifikant ansteigen. Auch vorwiegend alphanume­rische Darstellungen in Form von Listen (Abb. 4.5) fUhren zu signifikant Hingeren Blickabwendungen, verglichen mit der ausschlieBlich symbolischen Pfeildarstel­lung.

I Richtung A 3 Duisburg 'I j ~ I 1~I==o=k=m=b=iS==A=B=-K=re=U=Z=K=O=ln========~1

Abb. 4.5 Listenorientierte Darstellung von Navigationsinformationen

Aus Sicht der Ergonomie und der Verkehrssicherheit ist eine einfache pfeildarstel­lung mit einer Entfemungsangabe bis zum nachsten Entscheidungspunkt optimal. Eine interessante Erkenntnis fUr die Darstellung von Kreisverkehr kann aus dem Projekt LISB abgeleitet werden: Da ein Kreisverkehr mit vielen Ausfahrten schwieriger fUr die Orientierung ist als Kreuzungen, wurde bei LISB der Versuch untemommen, die Darstellung des Kreises im Display zu verbessem. Beim Durch­fahren eines Kreisverkehrs wurde die Darstellung im Display entsprechend der Position des Fahrzeugs mitgedreht. Damit soUte dem Fahrer die Entscheidung erleichtert werden, welche Ausfahrten aus dem Kreis er bereits passiert hat und welche er nehmen muss. Obwohl die Idee zunachst nicht unplausibel klingt, hat sie einen entscheidenden Nachteil: Die "Welt" auf dem Display dreht sich. Die reale Welt bleibt hingegen stabil- der Fahrer bewegt sich in der Welt und nicht die Welt urn den Fahrer. Aus Kommentaren und Beobachtung von Fahrem konnte

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4.6 Stand und Zukunft von Navigationssystemen 65

klar abgeleitet werden, dass diese Art der Veranderung von Navigationshinweisen nicht empfehlenswert ist.

4.6 Stand und Zukunft von Navigationssystemen

Zwei Technologien, die zunachst nicht fUr die ZielfUhrung von zivilen Kraftfahr­zeugen entwickelt wurden, ermoglichten die Losung (nahezu) aller Probleme, mit denen friihere Entwicklungen zu kampfen hatten: die Compact Disc und GPS.

Die kostengiinstige Speicherung von groBen Datenmengen mit schnellem Zugriff war vor der Erfindung der CD ein schier unlosbares Problem. So mussten beim Citypilot die Navigationsdaten aus einem speziellen Stadtplan mit Strichco­dierung in das System iibertragen werden. Bei ersten Prasentationen eines Naviga­tionssystems von Blaupunkt auf Kongressen wurde auf die Frage: "Wie sollen die Daten gespeichert werden?" stets auf kiinftige technische Entwicklungen verwie­sen, die dieses Problem sicher irgendwie losen wiirden. Was in den neunziger Jahren bedenkliches Kopfschiitteln hervorrief, ist inzwischen auf elegante Weise realisiert: die CD im Fahrzeug ist eine Selbstverstandlichkeit.

Die Positionsbestimmung iiber GPS (Global Positioning System) wurde zu­nachst fUr militarische Anwendungen entwickelt. 2l Satelliten, die auf 6 orbitalen Bahnen in ca. 20.000km Hohe die Erde umkreisen, senden ein Zeit- und ein Posi­tionssignal. Aus dem Empfang der Signale von mindestens 3 Satelliten kann auf­grund der Laufzeitdifferenz die Position eines Fahrzeugs bestimmt werden. Bis vor kurzem waren die Signale fUr zivile Nutzer nur mit einer eingeschrankten Qualitat verfUgbar, so dass die Positionsbestimmung bis zu 300 Metem von der richtigen Position abweichen konnte. Da 300 Meter bei einer RoutenfUhrung in der Stadt nicht tolerierbar sind, wurde GPS nicht zur ausschlieBlichen Positionsbe­stimmung, sondem nur zur Stiitzung der Positionsbestimmung verwendet. Fahr­zeugmanover, die beispielsweise aus den Radumdrehungen und den Lenkwinkeln abgeleitet werden konnen, werden mit den digitalen Karten auf der CD kombi­niert. Aus der ZusammenfUhrung dieser Daten und einfachen Plausibilitatsannah­men kann die Position wesentlich praziser bestimmt werden. Da, einfach ausge­driickt, Fahrzeuge in der Regel nur auf StraBen fahren und nur in StraBen abbie­gen, konnen viele falsche Positionen (z.B. in einem Haus) ausgeschlossen werden.

Mit Hilfe des sog. Differential GPS kann die Genauigkeit der Positionsbestim­mung we iter erhOht werden. Da die Laufzeit der Signale von den Satelliten durch atmospharische Storungen beeinflusst sein kann, existiert auf der Erde ein Refe­renzempfanger, dessen Position bekannt ist. Er empfangt die Signale der Satelli­ten, berechnet daraus die Fehler aufgrund atmospharischer Storungen und gibt diese Korrekturwerte an alle bewegten GPS-Empfanger we iter.

Die Freigabe des sog. precision code durch das amerikanische Militar beseitigte einen Teil der Fehler bei der Positionsbestimmung. GPS-Empfanger benotigen aber quasi-optische Sicht zu den Satelliten, die in Innenstadten durch Hochhauser oder Tunnels verdeckt ist. Trotz der hohen Genauigkeit der Satellitensignale muss

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66 4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen - psychologische Gestaltungskonzepte

also weiterhin auf Fahrzeugdaten fur die exakte Positionsbestimmung zuriickge­griff en werden.

Die intelligente Kombination existierender Technologien fuhrte zu einem neu­en zuverIassigen Produkt, das zahlreiche Probleme- wie etwa das Vergessen der Eingabe des Startpunkts beim Citypilot oder die erforderliche teure Infrastruktur bei LISB - verschwinden lieB.

Drei Schwachpunkte bestehen bei den jetzt am Markt erhaltlichen Systemen mit bordeigener Navigation mittels GPS und digitaler StraBenkarte weiterhin:

• die Aktualitat der Navigations-CDs, • die Programmierung des Ziels, • eine qualifizierte dynamische Wegleitung mit zuverlassiger Erkennung von

Staus und Behinderungen.

Navigationsinformationen mit einem digitalisierten Stadtplan sind nur so gut wie das zu Grunde liegende Datenmaterial. Das Alter von Stadtplanen und Land­karten, die Autofahrer mit sich fuhren, betragt im Mittel 8 Jahre. Da Navigations­CDs teurer als Stadtplane sind, ist nicht damit zu rechnen, dass die Nutzer wesent­lich aktuellere Versionen mit sich fuhren.

Die Eingabe des Ziels erfolgt bei den marktgangigen Systemen iiber einen "Dreh-Driick-Steller". Aus einem Alphabet, das am Bildschirm angezeigt wird, muss mit dem "Dreh-Driick-Steller" ein Buchstabe angewahlt und durch Driicken ausgewahlt werden. Zur Unterstiitzung des Benutzers werden die aktiven Buch­staben hervorgehoben oder nur die angezeigt, die im jeweiligen Auswahlschritt sinnvoll sind. Hat das System eine Zieleingabe eindeutig identifiziert, so erhalt der Nutzer dieses Ziel angeboten (Abb. 4.6). Mit dem "Dreh-Driick-Steller" konnen auch Ziele aus einer gespeicherten Zielliste, sowie aus einer Liste aller Orte ab einem bestimmten Anfangsbuchstaben (z.B. aile Orte, die mit "B" beginnen) aus­gewahlt werden.

Abb. 4.6 Navigationseingabe mit dem System Command (Mercedes-Benz)

Trotz der Optimierung innerhalb des Bedienkonzepts "Dreh-Driick-Steller" fuhrt diese Art der Zieleingabe zu langen Blickzuwendungen und zur Ablenkung yom

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4.6 Stand und Zukunft von Navigationssystemen 67

Verkehrsgeschehen. Sie sollte sie daher nur im Stand erfolgen. Die Praxis sieht aber anders aus. Speziell Fahrer, die das System beruflich nutzen, wollen wiihrend der Fahrt Ziele umprogrammieren oder die Fahrzeit zur Eingabe eines Ziels ver­wenden, da sie meist unter Zeitdruck stehen. Deshalb sind zwei Varianten der Zieleingabe zu diskutieren: Spracheingabe und Eingabe der Telefonnurnmer einer Person bzw. Firma am Zielort.

Die Bedienung per Sprache, die fiir die Eingabe von Telefonnummem oder die Auswahl von Personen aus einem eingespeicherten Namensregister im Handy schon zuverliissig funktioniert, ist fUr die Auswahl VOn Stiidten oder StraBenna­men bis auf weiteres nicht moglich. Die Erkennenssicherheit bei der Sprachbedie­nung sinkt als Funktion der Anzahl iihnlicher Worter. Die Menge von Stiidte- und StraBennamen und ihre A.hnlichkeit schlieBt eine befriedigende Erkennenssicher­heit bei den verfiigbaren Spracherkennungssystemen aus.

Die Eingabe einer Telefonnummer iiber eine Ziffemtastatur (z.B. iiber das Handy) konnte die langwierige Programmierung eines Ziels mit Stadtenamen und StraBennamen teilweise iiberfliissig machen. Nach Eingabe der Nummer und dem Driicken einer speziellen Taste konnte anstelle eines Anrufs das Navigationssys­tern mit den Zielkoordinaten programmiert werden. Bei Lieferfahrten kennt der Zusteller in der Regel Adresse und Telefonnurnmer, und bei Firmenbesuchen verfiigt der Besucher neben der Adresse iiber die Telefonnummer der Firma oder des Ansprechpartners.

Die Einfiihrung dieser ergonomisch sehr giinstigen Losung wird allerdings durch rechtliche Probleme verhindert. Es ist nicht zuliissig, VOn einer Telefonnum­mer auf eine Adresse zu schlieBen - was mit diesem System moglich wiire.

Ein lange verfolgtes Ziel der Gestaltung von Navigationssystemen ist die dy­namische Wegleitung, die Staus und Behinderungen beriicksichtigt. Die Qualitat der dynamischen Wegleitung hiingt einerseits von der Verfiigbarkeit VOn Altema­tivwegen, andererseits von den Daten iiber die StraBenbelastung und den Ver­kehrsfluss-Modellen abo Zur Verbesserung der Datenbasis existieren auf allen wichtigen und staugerahrdeten Abschnitten von Bundesautobahnen mittlerweile Systeme zur Erfassung der Geschwindigkeit und Verkehrsbelastung. Uber das sog. Radio Data System (RDS) werden die Informationen, die jeder Autofahrer per Sprache abrufen kann, auch in digitaler Form an das Navigationssystem iibermit­tel, das dann entsprechende Umleitungsempfehlungen gibt. Diese per Infrastruktur gestiitzte Dynamisierung ist jedoch auf lange Sicht auf Autobahnen beschriinkt. Die mangelnde Dichte des Netzes iibergeordneter StraBen ermoglicht jedoch kaum Altemativen (ausgenommen Ballungszentren mit mehreren parallelen Auto­bahnen). 1m Innerortsbereich (etwa VOn GroBstiidten) existieren zwar mehr Alter­nativrouten, jedoch fehlt die Infrastruktur zur Erfassung der Verkehrsstrome.

Das zweite Problem ist die Qualitat der Prognose VOn Verkehrsbehinderungen. Die Verkehrsflussmodelle beabsichtigen prinzipiell, Behinderungen vorherzusa­gen, urn dem Autofahrer friihzeitig Empfehlungen fiir einer Umfahrung zu geben. Aufgrund VOn Querschnittsmessungen ohne Wissen iiber die Ziele der Fahrzeuge ist dies nur mit zahlreichen Zusatzannahmen moglich. Verkehrsstrome konnen sich an Autobahnkreuzen in viele verschiedene Richtungen verteilen und es ist

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68 4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen - psychologische Gestaltungskonzepte

daher oft schwer vorhersagbar, welche Route die Mehrzahl der Fahrzeuge nehmen wird.

4.7 Navigation durch Routenanfrage bei einer Leitstelle

Ein altemativer Ansatz zur Ausstattung mit digitaler Karte, GPS-Empfanger, Rou­tenrechner und RDS-Empfanger im Fahrzeug ist ein System, bei dem fUr jede Route eine Anfrage bei einer Leitstelle erforderlich ist. Das System Scout der Fa. Tegaron beschreitet dies en Weg. Das Fahrzeug muss mit einem D-Netz-Handy, einem Organizer und einem GPS-Empfanger ausgeriistet sein. Der Nutzer gibt sein Ziel uber den Organizer ein oder ruft die Adresse aus dem Organizer abo Durch Driicken einer Taste wird eine Routenanfrage an die Leitstelle abgeschickt, von dort werden die erforderlichen Daten an das Fahrzeug ubermittelt und auf dem Display des Organizers dargestellt

Einige Probleme, die bei Onboard-Navigationssystemen auftreten, konnen mit Scout gelost oder zumindest gemildert werden: Zuniichst besitzt die Leitstelle stets die neuesten Informationen uber das StraBen­netz - veraltete CDs sind kein Thema mehr. Die Eingabe uber den Touch-Screen des Organizers, der prinzipiell auch Handschriften erkennen kann, bzw. der Abruf aus dem Adressbuch des Organizers vereinfacht die Zielprogrammierung.

Bezuglich der Optimierung dynamischer Wegleitung sind liingerfristige Ver­besserungen zu erwarten. Die Leitstelle kennt fUr jedes Fahrzeug, das eine Rou­tenanfrage gestartet hat, die Start-Ziel-Beziehung. Wunscht der Fahrer eine dyna­misierte ZielfUhrung, werden regelmiiBig Daten uber seinen Standort ubermittelt. Aus der Differenz zwischen errechneter und tatsiichlicher Reisezeit kann der zent­rale Rechner der Leitstelle streckenbezogen Behinderungen ermitteln. Diese, mit dem Begriffjloating car data bezeichnete Methode, setzt nur relativ wenige Fahr­zeuge voraus, die - bildlich gesprochen - wie Korken auf dem Fluss schwimmen und so Ruckschlusse uber die FlieBgeschwindigkeit ermoglichen. Der groBe Vor­teil besteht in der Entbehrlichkeit von InfrastrukturmaBnahmen und der VerfUg­barkeit auch in Stiidten. Voraussetzung ist allerdings, dass genugend Fahrzeuge mit einem derartigen Navigationssystem ausgestattet sind.

Welches System langfristig besser sein wird, oder ob beide Systeme vereint werden, ist noch nicht sicher vorhersagbar. Denn das System mit der Anfrage bei einer Leitstelle hat einen wesentlichen Nachteil: es besitzt kein eigenstiindiges Wissen uber StraBen und Umfeld. Dies bedeutet, dass beim Verlassen der vorge­schlagenen Route das System den Fahrer nicht weiter zum Ziel fUhren kann. Falls der Fahrer die vorgeschlagene Strecke verliisst, erhiilt er einen einfachen Pfeil, der ihm die Himmelsrichtung zu dem Punkt weist, an dem er die korrekte Strecke verlassen hat. Altemativ kann er gegen Gebuhr eine neue Zielanfrage starten und erhiilt, ausgehend von seinem aktuellen Standort, eine neue ZielfUhrung.

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Literatur 69

Literatur

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5 Fahrerassistenzsysteme im Entwicklungsprozess

Peter Frank und Werner Reichelt

5.1 Einleitung

Zum Thema Fahrerassistenzsysteme hat es in der Vergangenheit sehr viele Verof­fentlichungen gegeben (z.B. [1]), die sich mit den Schwerpunkten Nutzen und Akzeptanz bei Autofahrern beschiiftigt haben. Diese ausfiihrliche Diskussion ist sicherlich sehr sinnvoll und hat flir die Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen den wichtigen Effekt gehabt, die Systeme nicht nur an den technologischen Mog­lichkeiten auszurichten, sondern auch die vielschichtigen Prozesse zwischen Fah­rer und Fahrzeug im verkehrlichen Umfeld zu betrachten, wenn zunehmend kom­plexere Assistenzfunktionen zur Verfligung stehen.

Hier gibt es erheblichen Forschungsbedarf auch noch in der Zukunft, weil sich viele Fragen im Zusammenhang mit Fahrerassistenzsystemen erst in Liingsschnitt­untersuchungen im Markt untersuchen lassen. Beispiele hierfUr sind mittel- und langfristige Fahrverhaltensiinderungen durch Fahrerassistenzsysteme, Einfluss auf das Situationsbewusstsein und die Fahrkompetenz etc [3].

In diesem Beitrag mochten wir zuniichst aus Sicht der Forschung eines Auto­mobilherstellers aufzeigen, wie aus der Hille der heute technisch denkbaren Un­tersmtzungsmoglichkeiten die Ideen und Konzepte ausgewiihlt werden konnen, die einen wirklichen Nutzen, sei es unter Komfort- oder Sicherheitsaspekten, bringen. Danach wird die Prozesskette beschrieben, die wiihrend der Entwicklung sicherstellen soIl, dass das neue Fahrerassistenzsystem auch tatsiichlich die Erwar­tungen der Kunden an das System erflillt und dabei sicher und leicht zu bedienen ist, urn das gesetzte Ziel von mehr Komfort oder Sicherheit im StraBenverkehr zu erreichen.

Hierzu werden wir zuniichst auf die systematische Defizitanalyse im System Fahrer-Fahrzeug-Umfeld eingehen. AnschlieBend folgt der Prozess der Ideenfin­dung bzw. Ideenbewertung mit einer ersten Akzeptanzabschiitzung und anschlie­Bender Priorisierung. Hat sich ein Assistenz- bzw. Unterstiitzungssystem fUr den Entwicklungsprozess qualifiziert, muss wiihrend des Entwicklungsprozesses zu­sammen mit den Zulieferern sichergestellt werden, dass die Realisierung des Sys­tems so erfolgt, dass trotz zu erwartender Funktionsgrenzen immer noch ein Sys­tem entsteht, das auch in Fahrerhand die erwarteten Vorteile beziiglich Sicherheit undloder Komfort liefert. Die hierfiir einsetzbaren Methoden und Tools werden anschlieBend beschrieben. Hierbei hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass das Themenfeld Mensch-System-Interaktion (MMI) von hervorragender Bedeutung ist.

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72 5 Fahrerassistenzsysteme im Entwicklungsprozess

5.2 Defizitanalysen

Ausgehend von einer zunehmenden technischen Realisierbarkeit von umfelder­kennenden Sensoriken und fahrerunterstiitzenden Funktionen ergibt sich verstarkt die Fragestellung nach objektiven Kriterien zur Bewertung des Bedarfs an neuen Fahrerassistenzsystemen.

Insbesondere Analysen des Realunfallgeschehens und darauf aufbauende Feld­und Fahrsimulatoruntersuchungen stellen eine Basis fur derartige Bewertungs­kriterien dar (Abb. 5.1).

Unfalldatenanalyse <40 .------35 30 25 20 15 10

t Markt

5 o

Fahrversuch

• GetOtete

• Schwervertettte

Szenarien

Fahrsimulatorversuch

Abb. 5.1 Methodik zur Untersuchung von Fahrerassistenzsystemen

Die Realunfallanalyse beinhaltet als eine Saule Auswertungen von reprasentativen Unfalldatenbanken (fur Deutschland z.B. Veroffentlichungen des statistischen Bundesamtes). Derartige Datenquellen geben aufgrund ihrer hohen Fallzahlen einen Aufschluss uber Unfallschwerpunkte bzgl. Unfalltyp (Beschreibung der Konfliktsituation) und Unfallart (Beschreibung des Kollisionsbildes) sowie deren Unfallfolgen (Verletzungsschwere). Fur eine Bedarfsanalyse von Fahrerassistenz­systeme ist allerdings der Unfallablauf mit dem Fokus auf die Pre-Crash-Phase erforderlich (Abb. 5.2).

Zur Analyse von Unfallablaufen bieten sich Datenbanken spezieller Institutio­nen an - z.B. European Accident Causation Survey (EACS-Datenbank), DEKRA, German in depth accident study (GIDAS), MHH - sowie Unfallanalysen von Fahrzeugherstellem, in denen verstarkt der Unfallentstehungsprozess neben dem klassischen Feld der passiven Sicherheit besondere Bedeutung gewinnt. Schwer­punkt ist dabei die Analyse charakteristischer Merkmale des Zusammenwirkens Fahrer-Fahrzeug-Umfeld in typischen kritischen Situationen. Hieraus haben sich

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5.2 Defizitanalysen 73

in der Vergangenheit besonders Defizite beim Bremsverhalten und im Reaktions­verhalten gezeigt. Dies solI im Folgenden exemplarisch dargestellt werden.

Fahrerhandlung?

Cunfal~ Abb. 5.2 Prozessmodell der Gefahrdungszunahme in der Pre-Crash-Phase

In Feldversuchen von [7] wurde bereits 1983 das Bremsverhalten von Versuchs­teilnehmem in iiberraschend auftauchenden Gefahrensituationen durch verdeckt auftauchenden FuBgangerpuppen untersucht.

Reaktionsaufforderung bei in die Fahrbahn laufenden Fussgangern stark mittel schwach

1

:~

1

1

I 1

1(8 Irg

I 1

1(8 Irg

Abb. 5.3 Feldversuch mit verdeckt auftauchenden FuBgangerpuppen (aus [3])

Sowohl in diesem Feldversuch als auch in neueren Fahrsimulatoruntersuchungen zum Fahrerverhalten in Notbremssituationen konnten typische Fahrerverhaltens-

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74 5 Fahrerassistenzsysteme im Entwicklungsprozess

muster - zogerlicher bzw. unzureichender Bremsdruckautbau - identifiziert wer­den und mit der Bremspedalgeschwindigkeit ein primarer Parameter zur Situa­tionserkennung ermittelt werden (Abb. 5.3). Diese Ergebnisse stellten die Basis dar zur Serieneinfiihrung des Bremsassistenten in Mercedes-Benz PKW [6].

1m Unfallentstehungsprozess ist neben der Eingriffsart durch den Fahrer die Reaktionszeit von erheblicher Bedeutung. In kritischen Situationen mit einge­schrankter Wahmehmbarkeit und mehreren Handlungsaltemativen kann sich die Reaktionszeit des Fahrers drastisch verlangem. Ursachen konnen Fehlinterpretati­onen der Manover anderer Verkehrsbeteiligten oder in fahrereigenen Defiziten lie­gen (z.B. Ablenkung, Miidigkeit, Alkohol).

Der Fahrereingriff mit den Handlungsmustem Bremsen/Beschleunigen undloder AusweicheniStabilisieren durch Lenkmanover ist der zweite bedeutende Einflussfaktor, der den Ablauf der Pre-Crash-Phase bestimmt. Fahrsicherheits­systeme wie ABS, ASR und ESP (s. Beitrag Haller, Kap. 2) unterstUtzen dabei den Fahrer, sein Fahrzeug in einer kritischen Situation zu beherrschen.

Ein erhebliches Problem stellt sich aber wahrend der Entwicklung dadurch, dass es nahezu unmoglich ist, alle im realen Verkehr auftretende Auspragungen der betrachteten kritischen Situation vorauszudenken. Das fiihrt dazu, dass immer eine Restunsicherheit iiber die Wirksamkeit eines neuen Systems im realen Ver­kehrsgeschehen erhalten bleibt. Hilfreich sind deshalb Situationskategorien, die wahrend des Entwicklungsprozesses systematisch untersucht werden konnen. Nach Farber [2] sind dabei die folgenden Beschreibungsdimensionen besonders wichtig:

- Vorhersehbarkeit - Manovrierraum - Geschwindigkeit

Unter Vorhersehbarkeit ist sowohl die Pradiktion des Verhaltens anderer Ver­kehrsteilnehmer als auch die Kenntnis des Fahrverhaltens des eigenen Fahrzeugs zu verstehen. Der Manovrierraum ist durch die StraBenbreite, Randbebauungen und der Gefahrlichkeit potenzieller Kollisionspartner definiert. Die Geschwindig­keit beinhaltet die Dynamik des Verkehrsgeschehens im gegebenen Umfe1d (visu­eller Fluss) mit KenngroBen wie "time to collision" in Langsrichtung und "time to line-crossing" in Querrichtung.

5.3 Klassisfikation von Fahrerassistenzsystemen

Bevor naher auf den Entwicklungsprozess fiir Fahrerassistenzsysteme einge­gangen wird, solI hier ein in der DaimlerChrysler F orschung verwendetes Klas­sifikationsschema vorgestellt werden, das sich im Rahmen der notwendigen Prio­risierung von Assistenzsystemen als sehr hilfreich erwiesen hat.

Die Klassifikation von Fahrerassistenzsystemen erfolgt unter Betrachtung des Zusammenwirkens von Fahrer-Fahrzeug-Umfeld aufmehreren Dimensionen. Die Fahrzeugfiihrung lasst sich dabei in drei Ebenen der Fahraufgabe unterteilen [4]:

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Navigation Bahnfohrung Stabilisierung

5.3 Klassisfikation von Fahrerassistenzsystemen 75

Die Navigationsebene beinhaltet die Routenplanung und die Organisation der geplanten Fahrt. Die BahnfUhrung umfasst die Einhaltung von Zielgr6Ben hin­sichtlich Fahrgeschwindigkeit, Abstand zu anderen Fahrzeugen und des vor­gegebenen Fahrbahnverlaufs. In der Stabilisierungsebene ist die Regelung des Fahrzeugs bzgl. fahrdynamischer Grenzen enthalten. Unter Einbeziehung der Funktion bzw. des Automatisierungsgrades von Fahrerassistenzsystemen ist eine Unterteilung nach folgenden Kategorien sinnvoll:

Information Warnung EingrifJ

Unter der Kategorie Eingriff ist ein breites Spektrum von Fahrerassistenz­funktionen beinhaltet. Dabin sind sowohl fahrerunterstiitzende Funktionen mit dem Schwerpunkt Fahrentlastung (Geschwindigkeitsregelung, Abstandsregelung, u.a) und Fahrsicherheit (Bremsassistent, ESP, ABS) enthalten als auch zukiinftige Fahrerassistenzfunktionen, die automatisch in die FahrzeugfUhrung eingreifen k6nnen - ggf. auch ohne unmittelbare Aktivierung durch den Fahrer (Notbrem­sung, Spurhaltung, autonomes Fahrem, etc.).

Hinsichtlich der Anforderungen an den Fahrer sind folgende Dimensionen bei­spielhaft zu beriicksichtigen:

• Nutzungsdauer (ist z.B. mitbestimmend fUr das Lemverhalten des Fahrers, Fahrerassistenzsysteme situationsangemessen zu benutzen)

• Konsequenzen (z.B. eines "Fehlers" in dem Fahrerassistenzsystem-Einsatz) • Dringlichkeit (ist mitbestimmend fUr die Zeitreserve, die der Fahrer z.B. fUr

die Verantwortungsiibemahme vom Fahrerassistenzsystem hat).

Autbauend auf dies en Dimensionen zeigen Tabelle 5.1 und 5.2 einen Ansatz und ein Beispiel fUr eine Klassifikation von Fahrerassistenzsystemen.

Tabelle 5.1 Klassifikationsansatz fur unterschiedliche Typen von Fahrerassistenzsystemen.

Automatisierung Information Warnung Eingreifen

Handlungsebene Navigation Fuhrung Stabilisation

Nutzungsdauer selten haufig permanent

Konsequenzen keine Komfort Gefahr

Dringlichkeit nicht dringlich dringlich sehr dringlich

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76 5 Fahrerassistenzsysteme im Entwicldungsprozess

TabeUe 5.2 Beispiele fiir Klassifikationen

System Navigationssystem

Dimension

Automatisierung Information

Handlungsebene Navigation

Nutzungsdauer permanent

Konsequenzen Komfort

Dringlichkeit dringlich

Adaptive Cruise

Control

Eingriff

Bah nfii h ru ng

haufig

Komfort

dringlich

5.4 Ideenfindung, Ideenbewertung und Akzeptanzabschatzung

ABS

Eingriff

Stabilisierung

selten

Gefahr

sehr dringlich

Nach der Defizitanalyse ergeben sich in aller Regel sehr schnell Ideen fUr techni­sche Assistenzsysteme, die die Fahrer in den erkannten, problematischen Situatio­nen unterstiitzen und zu einer sicheren Situationsbeherrschung fUhren sollen.

Ein ideales Tool, urn diese Ideen schnell auf tatsachlichen Nutzen untersuchen zu konnen, ist der Fahrsimulator der DaimlerChrysler Forschung in Berlin. Hierzu miissen die relevanten Verkehrssituationen nachgebildet werden und die AIgo­rithmen fUr die Funktion des Assistenzsystems programmiert werden. Die Um­felddaten, die in der Realitat iiber die Sensorik erfasst werden miissen, liegen in der Fahrsimulation meist schon vor oder konnen geeignet vorgegeben werde. So gelingt es sehr schnell, einen ersten virtuellen Prototypen des angedachten Sys­tems zu erstellen.

Mit diesem Prototyp konnen dann die Entwickler erste Tests durchfUhren. Nach einer ersten Optimierungsphase werden dann Untersuchungen mit Normalfahrem durchgefUhrt. Hierbei ist es iiblich, dass eine Stichprobe die relevanten Fahrsitua­tionen ohne das neue Assistenzsystem zu bewaltigen hat, eine andere mit dem neuen System. Hieraus lasst sich dann sehr schnell abschatzen, ob ein tatsachli­ches Potenzial in der Systemidee vorhanden ist. Da wahrend der Simulatorversu­che objektive Messdaten des Fahrzeug- und des Fahrerverhaltens erhoben werden, lasst sich die Nutzenbewertung eines neuen Systems objektivieren und versachli­chen.

Aber auch die Gesprache mit den Probanden aus den Zielgruppen bringen wichtige Informationen iiber spatere Akzeptanzprobleme und Hinweise fUr die Schnittstellengestaltung zwischen Nutzem und Assistenzsystem. Dabei ergeben sich auch sehr haufig schon Erkenntnisse iiber die Anforderungen an System­komponenten, beispielsweise Sensoranforderungen, Schalter- oder Displaybedarf und erste Angaben dariiber, wie teuer denn das System werden darf, urn am Markt auf Akzeptanz zu stoBen.

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5.5 Methoden und Tools zur SichersteUung der Gebrauchssicherheit 77

Erst wenn eine Systemidee sich in diesen Simulatoruntersuchungen bewahrt hat, setzt die eigentliche Systementwicklung ein. Je erfolgversprechender ein System nach diesen Versuchen eingeschatzt wird, desto hoher ist die zukiinftige Entwicklungsprioritat.

5.5 Methoden und Tools zur Sicherstellung der Gebrauchssicherheit von Fahrerassistenzsystemen in Fahrerhand

In den letzten Jahren hat sich durch viele nationale und intemationale Forschungs­projekte (z.B. RESPONSE [5]) gezeigt, dass es fUr eine erfolgreiche Entwicklung von Assistenzsystemen sinnvoll ist, bereits friih im Entwicklungsprozess darauf zu achten, dass die folgenden vier wichtigsten Kriterien erfUllt werden:

1. Transparentes Systemverhalten 2. Erwartungskonformitat der Systemeigenschaften 3. Moglichst intuitive Bedienbarkeit und leichte Erlembarkeit 4. Erkennbarkeit und Kommunikation von Systemgrenzen

Urn diese Ziele sicher erreichen zu konnen, hat sich aus unserer Sicht folgende Prozesskette wahrend der verschiedenen Entwicklungsphasen als sehr effizient bewahrt:

1. Systembeschreibung als Basis fUr den RESPONSE-Fragebogen [5]. Diese Be­schreibung liegt meist als Simulatorsimulation erlebbar umgesetzt vor.

2. Anwendung eines modifizierten REPONSE-Fragebogens mit MMI- und Sys­temexperten zur friihzeitigen Erkennung von Problemrallen und Akzeptanzhin­demissen,

3. Optimierung des Systemkonzeptes, 4. Virtuelles Prototyping der Schnittstelle zwischen Fahrer und System (MMI­

Entwicklung) mit ausfUhrlichen Probandentests im MMI-Labor, 5. Simulatorversuch mit mindestens 40 Normalfahrem am fertigen virtuellen

Prototyp, 6. Prototypenbau und erste Fahrversuche im real en Fahrzeug und in realen Fahrsi­

tuationen mit Entwicklungsexperten, 7. AbschlieBender Feldversuch vor Marktfreigabe, 8. Marktbeobachtung und Kundenbefragungen zur Systemnutzung und An­

wendungsproblemen, 9. Feldversuch mit Normalfahrem aus der Zielgruppe zur Wirksamkeit und Ak­

zeptanz.

Diese systematische, iterative Vorgehensweise mit verschiedenen Optimie­rungsschritten sichert nicht nur eine hochwertige Produktqualitat und hohe Kun­denakzeptanz, sondem fUhrt auch zu groBtmoglicher Sicherheit und Komfort bei der Nutzung von Fahrerassistenzsystemen.

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78 5 Fahrerassistenzsysteme im Entwicklungsprozess

5.6 Zukunftige Entwicklungen bei Fahrerassistenzsystemen

Aufbauend auf dem hohen technologischen Know-how hat sich im Hause Daim­lerChrysler die Zukunftsvision yom unfallfreien Fahren entwickelt. Ein hochge­stecktes Ziel, das sich nur schrittweise erreichen Hisst. Eine Basis hierftir ist die Weiterentwicklung der technologischen Moglichkeiten wie Systemvemetzung und Sensorfusion sowie die erwartete Weiterentwicklung der Rechnerleistung, urn das Fahrumfeld identifizieren und analysieren zu konnen. Stichworte hierzu sind Pre­Crash-Sensorik, Rechnersehen, Systemvemetzung mit Navigation und Ortung (GPS), Nightvision und Drive-by-Wire bis hin zum teilautomatisierten Fahren in Situationen mit geringer Komplexitat.

Unumganglich und mindestens genauso wichtig wie die technologische Weiter­entwicklung ist aber auch die Optimierung des Systems Mensch und Fahrzeug. Erst das fehlerlose Zusammenspiel zwischen Mensch und Technik wird die Un­fallzahlen entscheidend senken konnen. Dies ist aber bei der groBen Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Autonutzer und der Nutzungsprofile eine immense Her­ausforderung an Forschung und Entwicklung. Hier sind Entwicklungen wie Fah­rertyperkennung, robuste Bedien- und Anzeigekonzepte, individualisiertes MMI, situationsadaptives MMI sowie MMI-Konzepte, die einen wirklich einfachen und intuitiven Umgang mit den neuen Systemen ermoglichen, notwendig.

Literatur

[1] Becker, S. (1999) Methoden einer nutzerzentrierten Entwicklung von Elektronik­systemen und Abschatzung von Produktakzeptanz, 5. Euroforum- Jahrestagung Elekt­ronik -Systeme im Automobil

[2] Farber, B. (1987). Geteilte Aufmerksamkeit. Verlag TOV Rheinland [3] Haller, R. (2001). Fahrer-Assistenz versus Fahrer-Bevormundung: Wie erreicht man

dass der Fahrer Herr der Situation bleibt? Beitrag in diesem Band [4] Johannsen, G.; Boller, H.E.; Donges, E.; Stein, W.H. (Hrsg.) (1977). Der Mensch im

Regelkreis, Lineare Madelle. Munchen, Wien: Oldenbourg Verlag [5] Kopf, M. & Becker, S. (2000). Versuch eines zweistufigen multidisziplinaren Bewer­

tungsverfahrens fur Fahrerassistenzsysteme, In K.-P. Timpe, H.-P. Willumeit & H. Kolrep (Hrsg.), Bewertung van Mensch-Maschine-Systemen, 3. Berliner Werkstatt Mensch-Maschine-Systeme, 6.-8. Okt. 1999, Berlin (ZMMS-Spektrum, Band 11). Dus­seldorf: VDI-Verlag, 254-268

[6] Reichelt, W. (1997). Der neue Brake Assist von Mercedes-Benz Steiner, M. ATZ 99, 12-18

[7] Zomotor, A. (1991). Fahrwerktechnik: Fahrverhalten. Vogel Verlag

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leil II

F ah rermodelle

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6 Adaptive Modellierung des Fahrerverhaltens­Ein Kernelement fur die kognitive Kooperation bei zukunftiger Fahrerassistenz

Reiner Onken, Hans-J6rg Otto und Udo von Garrel

6.1 Einleitung

Die Zeit ist gekommen, dass der Einzug der Automatisierung in den Arbeitspro­zess der Fiihrung eines Kraftfahrzeugs mit Nachdruck vorangetrieben wird. Adap­tive Cruise Control (ACC) ist zur Zeit ein signifikanter Entwicklungsschritt in dieser Richtung (s. auch Kap. 2 und 3 in diesem Band). Andere Schritte werden folgen, wie zum Beispiel automatische Funktionen fUr Stop&Go (S&G) Stop&Go­Automatisierung, Spurhalten etc. (i.e. Hipp, 2001), Assistenzfunktionen mit konti­nuierlicher Zunahme autonomer, kognitiver Fahigkeiten. In gleicher Weise voll­zieht sich auch eine Entwicklung im Sinne automatischer Assistenzfunktionen mit autonomen, kognitiven Fiihigkeiten im Bereich der Fahrausbildung.

Angesichts dieser Entwicklung, fUr die gem das autonom fahrende Fahrzeug als erreichbares Endprodukt angefUhrt wird, ist doch immer noch zu berucksichtigen, dass die drei Komponenten Fahrzeugsystem einschlieBlich Automatisierung, Fah­rer und umgebende Welt, in der sich das Fahrzeug bewegt, im Sinne der Errei­chung einer bestm6g1ichen FahrzeugfUhrung als Gesamtheit zu betrachten sind. Es ist aber auch eine Tatsache, dass gerade die technischen Fiihigkeiten, die fUr das autonome Fahren unter Heranziehung von Automatisierungs- bzw. Informations­technik und kognitivem "Engineering" aufgebaut werden k6nnen, unverzichtbar sind, urn das kooperative Zusammenspiel der drei fUr die FahrzeugfUhrung ent­scheidenden Komponenten zu bewirken.

Kognitive Automation im Unterschied zu Konventioneller Automation steht als neue Notation fUr diese technische Entwicklung in der Automatisierung wie auch die damit erreichbare Kognitive Kooperation zwischen Fahrer und Fahrzeugsys­tern (Assistenzsystem), was auch zu einer veriinderten Definition von Automation an sich fUhrt.

Kognitive Kooperation bei der FahrzeugfUhrung kann nur funktionieren, wenn beide kognitiven Wirkkomponenten, der Fahrer und die automatischen Funktionen des technischen Systems, geniigend voneinander wissen, d.h. ein ausreichend val i­des Modell von der Leistungscharakteristik und dem Prozessverhalten des anderen haben. Deshalb wird eine Systemfahigkeit zum Erlemen von Verhaltenseigen­schaften des Fahrers wahrend des Fahrbetriebs verlangt, urn sich im Sinne der Ko-

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82 6 Adaptive Modellierung des Fahrerverhaltens

operationsfahigkeit und Fahrsicherheit an den Fahrer angemessen anpassen zu konnen. Darauf soil im Folgenden insbesondere eingegangen werden, nachdem er­Hiutert worden ist, was kognitive Kooperation, aufbauend auf kognitiver Automa­tion, bedeutet.

6.2 Kognitive Kooperation - Das besondere Potenzial der kognitiven Automation

Zunachst ist naher darauf einzugehen, was kognitive Automation eigentlich be­deutet. Der Unterschied zwischen kognitiver und konventioneller Automation kann anhand des bekannten 3-Ebenen-Funktionsschemas zum kognitiven Verhal­ten des Menschen im Arbeitsprozess (Abb. 6.1) nach (Rasmussen, 1983) anschau­lich umrissen werden.

Rule·Based Behaviour

Skill· Based Behaviour

kognitive Automation

Patterns

~~I~,---------------------, I konventionelle Automatisierung I

Abb. 6.1 Konventionelle versus kognitive Automation

Die Abb. 6.1 zeigt, dass mit der konventionellen Automation nur ein Teil - etwa die Halfte - der im Funktionsschema enthaltenen kognitiven Elemente abgedeckt wird. Bei der konventionellen Automation sind insbesondere diejenigen kogniti­yen Funktionselemente nur sparlich ausgebildet, welche die Zielsetzungen des Arbeitsprozesses bereitstellen und welche zur Erzeugung eines Gesamtbildes der Situation des Arbeitsprozesses benotigt werden und sich iiber aIle drei Ebenen verteilen. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass konventionell automati­sierte Funktionen das Situationsbewusstsein des Operateurs (Fahrers) nur sehr unvoIlkommen aktiv unterstiitzen konnen. Eine automatisierte Situationserfassung wird nicht geschlossen fUr aIle automatisierten Einzelfunktionen vorgenommen,

Page 95: Kraftfahrzeugführung ||

6.2 Kognitive Kooperation 83

sondern nur jeweils getrennt flir die einzelnen Teilfunktionen. Fiir jede Einzel­funktion werden nur diejenigen Teilziele beriicksichtigt (in der Regel nicht expli­zit) und diejenigen Situationsmerkmale registriert (deren Zahl ist in der Regel sehr klein im Vergleich zur Gesamtzahl der fUr den Arbeitsprozess relevanten Merk­male), die zur Ausfiihrung aus Sicht der jeweiligen Einzelfunktion verfolgt wer­den miissen. Beispielsweise bestimmt ein einfaches System als Einzelfunktion zur Geschwindigkeitsregelung die Abweichung von der vorgegebenen Sollgeschwin­digkeit und veriindert entsprechend die Geschwindigkeit, urn die Sollgeschwindig­keit zu halten. Irgendein Hindernis, das im Wege ist, wird dabei nicht beriicksich­tigt. Diese automatische Funktion verhindert somit nicht eine Kollision. Hier ver­Hisst man sich darauf, dass der Fahrer von sich aus die Situation iibersieht. Ein ACC-System ist hier schon besser, wenn auch bisher bei weitem noch nicht in allen Situationen. Es macht auch keinen Sinn, Wissen zu den iibergeordneten Zie­len des Arbeitsprozesses explizit in einer konventionell automatisierten Einzel­funktion verfiigbar zu haben, da aufgrund der mangelhaften Kenntnis der Gesamt­situation dieses Wissen nicht ausreichend zuverlassig verwertet werden kann.

1m Unterschied zur konventionellen Automation besitzen Systeme der kogniti­yen Automation wissensbasierte Fahigkeiten, urn

• eigenstandig (autonom) dafUr zu sorgen, dass die in einer Fahrsituation erfor­derlichen situationsrelevanten Informationen zur Verfiigung stehen,

• die Fahrsituation auf der Grundlage der verfiigbaren Informationen vollstandig zu verstehen,

• Fehlverhalten des Fahrers zu erkennen, • zu erkennen, welche Information dem Fahrer helfen kann, • sinnvolle Empfehlungen an den Fahrer hinsichtlich des weiteren Vorgehens zu

erzeugen, und • die Kommunikation mit dem Fahrer in menschgerechter Form einzuleiten und

damit sicherzustellen, dass das technische kognitive System standig sein Situa­tionsverstandnis mit dem des Fahrers abgleicht. Dabei wird standig festgehal­ten, was der Fahrer an Information benotigt und was er davon aufgenommen hat und somit wird er aktiv unterstiitzt, dass die wichtigen der prasentierten In­formationen von ihm zum richtigen Zeitpunkt aufgenommen und richtig ver­standen werden.

Das technische kognitive System arbeitet entsprechend Abb. 6.1 nach sehr ahn­lichen funktionalen Prinzipien wie der Fahrer. Die Grundlage flir die Auslosung und das Agieren automatischer Funktionen sind die Zielsetzungen des zugrunde­liegenden Arbeitsprozesses, wie sie auch der Fahrer kennt und als Grundlage seines Handelns sieht. Allerdings solI dabei die kognitive Automation in der Regel den Menschen nicht kopieren und ersetzen. Stattdessen konnen die in der techni­schen Umsetzung entstehenden Unterschiede in der funktionalen Leistungsfahig­keit moglicherweise so gezielt eingesetzt werden, dass Fahrer und kognitive au­tomatische Funktionen sich hinsichtlich ihrer Leistungsfahigkeit komplementar erganzen. Die herausragenden kognitiven Fahigkeiten des Menschen werden dabei bewusst flir den Arbeitsprozess freigesetzt und die Schwachen mit den automati­schen kognitiven Fahigkeiten gezielt unterstiitzt.

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84 6 Adaptive Modellierung des Fahrerverhaltens

Letzteres ist der Kern der sog. kognitiven Kooperation, wie in der Abb. 6.2 fUr einen Arbeitsprozess mit Assistenzsystem dargestellt wird. Ein auf der Basis der kognitiven Automation erstelltes Vnterstiitzungssystem nimmt dabei die Rolle eines zwar untergeordneten, aber sehr fahigen, kooperierenden elektronischen Team-Mitglieds zur DurchfUhrung des Arbeitsprozesses wahr, in gleicher Weise, wie sie auch ein Mensch auszufUllen versuchen wiirde. Das elektronische Team­Mitglied ist nicht nur dazu da, urn explizite Instruktionen des Menschen (Fahrers) auszuftihren, es versucht auch zu verstehen, warum diese Instruktionen gegeben wurden. Dariiber hinaus besitzt es auch das erforderliche Wissen, urn von sich aus eine Einschatzung zu gewinnen, ob die erhaltenen Instruktionen den iibergeordne­ten Zielsetzungen fUr den Arbeitsprozess entsprechen und ergreift u.V. eigene Initiativen, wenn es dies zur Erreichung der Zielsetzung fUr notwendig halt. Vlti­mativ, z.B. urn eine Katastrophe zu vermeiden, konnte sogar der Fall eintreten, dass es von sich aus ohne Autorisierung durch den Teamkollegen "Mensch" in den Prozess entscheidend eingreift. Trotz eindeutiger Hierarchie im Team kann die Rollenverteilung somit im Verlauf des Arbeitsprozesses grundsatzlich erheb­lich schwanken.

--... Planung und Scheduling

~ -r"'" ./ S· I S· " Ituat ons - Ituatlons-diagnose interpretation

~

Kognitives Assistenzsystem

~ Situations- Situations-

interpretation diagnosis

~ Planung und

Jf ~ Scheduling Entscheidung

~

Kognitives System Mensch

Abb. 6.2 Der kooperative kognitive Ansatz fur ein kognitives Assistenzsystem

Die Ausweitung der Automatisierung hin zur kognitiven Automation und kogniti­yen Kooperation fUhrt auch zu einem neuen begrifflichen Verstandnis. Der Ersatz des Menschen im Arbeitsprozess durch Automatisierung ist nicht mehr das we­sentliche Element, sondern die Kooperation:

Automatisierung ist eine technische Ressource ftir die Kooperation im Arbeits­prozess. Der Einsatz dieser Ressource geschieht so, dass die technische Wirkkom­ponente im Arbeitsprozess von eigenen Fahigkeiten niedrigen bis sehr hohen kog­nitiven Niveaus eigeninitiativ Gebrauch macht, urn im autorisierten Rahmen im Team mit der Wirkkomponente Mensch so zu agieren, dass die Zielsetzung des Arbeitsprozesses mit hochstmoglicher Produktivitat (Wirkungs-/Kosteneffektivitat und Sicherheit) erreicht wird. Der Autorisierungsrahmen wird spezifisch festge­iegt, einerseits im technischen Systemkonzept durch den Entwickler, zum anderen durch die Wirkkomponente Mensch im Verlauf des Arbeitsprozesses. Die Funkti-

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6.3 Adaptive Modellierung des Fahrzeugfiihrungsverhaltens 85

onen der automatisierten technischen Wirkkomponente konnen pauschal zusam­mengefasst werden unter Funktionen zur

• Informationserfassung (Wahmehmung, Kommunikation) • Informationsverarbeitung ( Prozessflihrung, Entwicklung von Vorgehen und

Handlung) • Effektorik (Informationspriisentation, Aktuatorik)

Der Automatisierungsgrad (LoA, Level of Automation) ist dabei von verschie­denen Faktoren abhiingig und somit mehrdimensionaI. Die Dimension 1 des LoA mag dem bisherigen Verstiindnis entsprechen, wonach der Grad des Ersatzes des Menschen im Arbeitsprozess ausgewertet wird. Mit der Dimension 2 des LoA wird dem Niveau der kognitiven Fiihigkeiten Rechnung getragen (kognitive Kom­petenz). Die Dimension 3 des LoA gibt Aufschluss liber den Umfang an funktio­nalen Fiihigkeiten, die zur Kooperation einsetzbar sind. (Kooperationskompetenz).

6.3 Adaptive Modellierung des Fahrzeugflihrungsverhaltens

Kognitive Kooperation ist vermutlich der mit Priiferenz einzuschlagende Weg bei der Weiterentwicklung von Fahrerassistenzsystemen. Dabei bedingt kognitive Kooperation die richtige Einschiitzung des Fahrerverhaltens durch das Assistenz­system. Hierzu ist es erforderlich, dass ein individuelles Modell des Fahrzeugfiih­rungsverhaltens der fahrenden Person in der Wissensbasis des Assistenzsystems zur Verfligung steht. Da dies bei Antritt der Fahrt nicht ohne weiteres vorausge­setzt werden kann, muss davon ausgegangen werden, dass die adaptive Modellie­rung nur online in Form eines Lemvorgangs erfolgen kann.

Modelle des Fahrverhaltens von Kraftfahrem werden heute auf der Basis unter­schiedlichster Konzepte und unter Verwendung verschiedenster Methoden entwi­ckelt und flir eine Vielzahl von Anwendungsbereichen eingesetzt (Kopf, 1993; Jiirgensohn, 1997, Jiirgensohn et aI., 1997, Wolter et aI., 1997; Schreiner, 1999).

1m folgenden solI ein Modell priisentiert werden, das eine Weiterentwicklung bereits erfolgreich an der Universitiit der Bundeswehr getesteter Fahrermodelle darstellt (Feraric, 1996; Grashey, 1999) und der folgenden elementaren Zielset­zung entspricht (Otto et aI., 2001):

Situations- und fahreradaptive Modellierung des fertigkeits- und regelbasier­ten F ahrzeugfiihrungsverhaltens.

Es wird dabei eine fahreradaptive Modellierung fUr ein Innenstadtszenario an­gestrebt, was eine besondere Herausforderung hinsichtlich der Situations­komplexitiit darstellt. Dariiber hinaus solI das Modell ohne explizite Befragung des abzubildenden Fahrzeugfiihrers auskommen und fUr den fertigkeitsbasierten Modellanteil ein Modelltraining online ermoglichen. Das Modell solI in der Lage sein, sowohl eine Beschreibung des individuellen Fahrerverhaltens lief em zu konnen, als auch unter Echtzeitbedingungen als RegIer einsetzbar sein. Weiterhin wird eine Analysierbarkeit bzw. Weiterverarbeitbarkeit des abgebildeten Wissens

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86 6 Adaptive Modellierung des Fahrerverhaltens

im Sinne der Anwendung gefordert. Vorlaufig wird die adaptive Modellierung fur eine Assistenzanwendung in einem weitgehend automatisierten simulatorbasierten Fahrausbildungssystem untersucht. Dies ist die Anwendung von kooperativer Kognition in einem intelligenten tutoriellen System. 1m Unterschied zur Anwen­dung in einem fahrzeugseitigen Assistenzsystem konnen hier Sensorprobleme zuniichst vemachliissigt werden, da die erforderlichen Informationen zu Situati­onsmerkmalen, auch solche in symbolischer Form, grundsatzlich im Simulator bereitgestellt werden konnen.

Das grundlegende Konzept zur Modellbildung beruht auf der Identifikation des Fahrerverhaltens durch Beobachten und Verwendung lemfahiger Komponenten. Die lemfahigen Komponenten sind in ein normatives Verhaltensmodell eingebet­tet (v. Garre! et ai., 2000). Der Basisautbau orientiert sich am Informationsver­arbeitungsprozess des Menschen und bezieht sich auf die fertigkeits- und regelba­sierte Verhaltensebenen des Rasmussenmodells.

Einem Fahrzeugfuhrer stehen in einer Verkehrssituation verschiedene Hand­lungsaltemativen zur Auswahl, von denen er eine entsprechend seiner Zie!e, Er­fahrungen und Erwartungen auswiihlt und ausfuhrt. Weiterhin basiert die Mode!­lierung der Verkehrssituationen auf der Theorie der prototypischen Fahraufgaben und wird ergiinzt durch eine objektorientierte Betrachtungsweise und eine struktu­relle Dekomposition der Fahraufgaben (Abb. 6.3).

Fahrer/Fahrzeug/Umwelt

_______________________ Ges~tmode~

Abb. 6.3 Modellarchitektur

Damit erfolgt die der automatischen Wissensakquisition zugeordnete Modell­bildungsphase in zwei Stufen. Zuerst erfolgt das Training des fertigkeitsbasierten Modellanteils unter Echtzeitbedingungen durch Beobachten des Fahrers. In einer nachfolgenden zweiten Phase wird der Modellteil, der die regelbasierte Fahrzeug­fuhrungsebene erfasst, unter Verwendung der Ergebnisse der fertigkeitsbasierten Modellierung trainiert. Der Modellteil, der die Auswahl aus mehreren Handlungs­altemativen nach fahrerindividuellen Regeln beschreibt, wird im Folgenden auch mit Entscheidungsmodell bezeichnet. Die EingangsgroBen fur das Modell sind ZustandsgroBen tiber die "Fahrer-Fahrzeug-Umwe!t"-Situation und die Ausgangs­groBen sind zum einen StellgroBen und zum anderen symbolische Informationen tiber den Fahrzeugfuhrungsprozess.

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6.3 Adaptive Modellierung des Fahrzeugftihrungsverhaltens 87

Nach der Ermittlung aller relevanten ZustandsgroBen von "Fahrer-Fahrzeug­Umwelt" uber eine Sensorik erfolgt eine Situationsbeschreibung. Dort werden auf Basis aller relevanten Objekte der Verkehrszenerie sog. Fahraufgaben formuliert. Fur diese Fahraufgaben werden Handlungsaltemativen generiert und mit einem Merkmalsvektor attributiert. Eine solche Handlungsaltemative wird als geschlos­sene Einheit eines bestimmten zeitlichen Verlaufs von Stelleingriffen des Fahrers zur Losung der Fahraufgabe in Langs- und QuerfUhrung verstanden. Eine so defi­nierte Handlung ist somit zielgerichtet und zeitlich ausgedehnt. Die Auswahl der gultigen Handlungsaltemative stellt einen regelbasierten Entscheidungsvorgang dar (Jensch et aI., 1978). Davon getrennt ist der fertigkeitsbasierte Anteil mit der DurchfUhrung der Handlung.

Werden die nacheinander ausgewahlten Handlungsaltemativen als Zustande im FahrzeugfUhrungsprozess betrachtet, so mussen die Zustandsiibergange festgelegt werden. Diese Ubergange werden als Entscheidungsvorgange des Fahrers inter­pretiert und adaptiv erlemt. Das entsprechende Entscheidungsmodell bildet das Verhalten des FahrzeugfUhrers bei der Auswahl aus mehreren fUr die gegebene Fahrsituation moglichen Handlungsaltemativen abo

Fahrer Fahrzeug Umgebung

r---+ Sensoren

+ Situations- Entscheidungs-interpretation Modell

+ t relevante Lern-Aktivitiits-alternativen algorithm us , 1

",- -.... Fertigkeits- ........ ."..

1-+ Aktiviriits-basiertes hypothesen Fallbasis Verhalten

........ ."..

Abb. 6.4 Lernvorgang des Entscheidungsmodells als Teilkomponente eines adaptiven Fahrerverhaltensmodells.

Zum Aufbau eines Entscheidungsmodells wird eine halbautomatisierte Lem­komponente verwendet (Abb. 6.4). Ausgehend von den bereits erlemten trainier­ten Modellbestandteilen zur Nachbildung des fertigkeitsbasierten FahrzeugfUh­rungsverhaltens werden zur Bildung des Entscheidungsmodells zunachst die fUr den Fahrer aktuell giiltigen Handlungsaltemativen als Fallbeispiele identifiziert. Die identifizierten Handlungsaltemativen werden dann zusammen mit dem zuge­horigen Merkmalsvektor einem Lemverfahren prasentiert. Die Auswahl einer Handlungsaltemative wird somit als Klassifikationsproblem behandelt. Ais mogli-

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88 6 Adaptive Modellierung des Fahrerverhaltens

ches maschinelles Lemverfahren wurde ein Entscheidungsbaumlemverfahren aus­gewiihlt.

Das fertigkeitsbasierte Verhalten, das den Verlauf der Aktionen des Fahrers zur Durchfiihrung einer ausgewiihlten Handlungsaltemative beschreibt, wird in einem separaten Lemvorgang modelliert. Fertigkeitsbasiertes Verhalten bei der Fahr­zeugfiihrung ist das unbewusste Abbilden von einkommender Wahmehmungsin­formation in Steueraktionen.

Ein solches Verhalten kann als eine Uberlagerung von deterministischen und stochastischen V organgen betrachtet werden und ist prinzipiell diskontinuierlich, nichtlinear und zeitvariant. Der Fahrer besitzt eine unbewusste mentale Erwartung hinsichtlich des dynamischen Systemverhaltens. Urn die Abbildung zwischen den Wahmehmungssignalen und Steuersignalen zu identifizieren, wird hier der Ansatz der Beobachtung gewahlt. Hierbei wird dem Fahrer ein technischer Verarbei­tungsprozess parallel geschaltet, der die notwendigen Informationen iiber das Fahrzeug und die Umwelt erfasst. Auf der anderen Seite wird diesem System die momentane Aktion des Fahrers zugefiihrt.

Die Aufgabe der Identifikation des individuellen Fahrerverhaltens auf der Grundlage dieses Ansatzes stellt eine groBe Herausforderung fUr ein Online-Lem­verfahren dar, weil folgende Gesichtspunkte beriicksichtigt werden miissen:

• Das Lemverfahren muss die zeitliche Struktur der Daten ( Y(X,tl) "* y(x,tz) ) beriicksichtigen; (Ohne Beriicksichtigung dieser Struktur ergabe sich lediglich ein Durchschnittsmodell).

• Das Verfahren muss die Fahigkeit besitzen, bereits bekannte Fakten weiter zu verfeinem und gleichzeitig neue Fakten aufnehmen. Viele Lemverfahren sind nicht in der Lage, bereits erlemtes Wissen dauerhaft zu speichem, oder dieses sogar zu verfeinem.

• Die Trainingsphase muss online und unter Echtzeitbedingungen moglich sein; Lange Trainingszeiten reduzieren den praktischen Nutzwert einer derartigen Komponente erheblich.

• Seltene Ereignisse miissen ebenso Beriicksichtigung finden wie hiiufige. (Etwa eine selten auftretende Vollbremsung bzw. Beschleunigungsspitzen).

Aufgrund dieser Anforderungen wurde ein neuer Ansatz zur Online-Modell­bildung des Fahrerverhaltens entwickelt, welcher einen effizienten Trainings­algorithmus fUr allgemeine neuronale Regressionsnetze verwendet.

Allgemeine neuronale Regressionsnetze (GRNN, s. Specht, 1991, bzw. Schio­ler, 1991) sind spezielle RBF-Netze zur linearen und nichtlinearen Regressions­analyse, die eine zugrundeliegende Verteilungsdichtefunktion unter Verwendung der Parzen-Fenster-Methode (Parzen, 1962) approximieren. 1m Gegensatz zur statistischen Regression ist bei diesen Netzen keine Annahme hinsichtlich der Funktionsform fUr die abhiingige bzw. unabhangige Variable erforderlich. Insbe­sondere wegen ihres guten Extrapolationsverhaltens und der beweisbaren Stabili­tat, haben sich GRN-Netze zur Funktionsapproximation etabliert. Fiir groBe Trai­ningsmengen sind einfache Regressionsnetze jedoch ungeeignet, da sie linear mit der Anzahl der eingehenden Trainingsmuster wachsen und somit die fUr die Reg­ression benotigte Rechenzeit unverhiiltnismaBig hoch wird.

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6.4 Ergebnisse 89

Dieser Algorithmus optimiert die NetzwerkgroBe und ermoglicht dadurch die Verarbeitung groBer Trainingsmengen. Die Methode kombiniert eine inkrementel­Ie Lernstrategie unter Beriicksichtigung der aktuellen Modellprognosegiite mit einer raumorientierten Datenstruktur zur effizienten Verarbeitung der Neuronen, die die aktuelle Approximation beeinflussen. Weil GRNN-Neuronen lokal be­grenzte Einflussbereiche besitzen, wird die Approximation nur auf einer Teilmen­ge aller Neuronen durchgefiihrt. Das Verfahren bestimmt lokale Gliittungsparame­ter automatisch so, dass weitgehend "glatte" Funktionsverliiufe erzeugt werden. Hierbei wird eine Strategie verfolgt, die auf dem DDA- Prinzip (Berthold, 1997) basiert. Des weiteren passt es sich schnell neuen relevanten Daten an, ohne alte, immer noch relevante Informationen zu vergessen (Stabilitiits- vs. Plasitzitiitsdi­lemma, Carpenter, 1991).

Die Neuronen stellen lokale, lineare und nichtlineare Modelle dar. Neue Neu­ronen werden nur dann hinzugefiigt, wenn die Modellprognosegiite als nicht aus­reichend eingeschiitzt wird. Die Priidiktion des Modells auf einen Eingabevektors x ergibt sich als normierte gewichtete Summe individueller lokaler Modellpriidik­tionen Yk:

n

LAj(x)y/x) G(x) = ..<..j=-'-n----

LYj(x) j='

Y .(x) = exp( Ilx - cjll ] ] 20- 2

]

(6.1)

Hierbei ist 0" die Weite (Ausdehnung) und c das Zentrum (Stiitzstelle) eines 10-kalen Modells. Jedes lokale Modell approximiert eine einfache parametrische Funktion, wobei aus Griinden der Zeiteffizienz lineare Ansiitze Verwendung fin­den:

4(X)=w; ·X (6.2)

Die Gewichtsvektoren waller relevanten linearen Modelle werden nach jeder Priisentation einer neuen Eingabe adaptiert. Hierzu wird die Methode der rekursi­yen kleinsten Quadrate (RLS) verwendet. Die rekursive Adaption konvergiert garantiert gegen den optimalen Gewichtsvektor, wobei auf die zeitkomplexe Mat­rixinversion der iiblichen multiplen Regression verzichtet werden kann. Fiir den Gleichungsfehler wird angenommen, dass er durch gleichverteiltes weiBes Rau­schen mit dem Mittelwert null und einer konstanten Streuung beschrieben werden kann.

6.4 Ergebnisse

In diesem Abschnitt wird auf zwei Beispiele zu Ergebnissen der Modellierung des fertigkeitsbasierten Verhaltens kurz eingegangen. Diese Beispiele betreffen die Liingsfiihrung bei Fahrsituationen im Innenstadtszenario. Dabei wird die Bezie-

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90 6 Adaptive Modellierung des Fahrerverhaltens

hung nach Gazis et ai. (1961) flir die Abbildung von den Situations stimuli auf Handlungsreaktionen des Fahrers benutzt:

Fahrerreaktion = art) . Situationsstimu/us, wobei a(t) eine zeitabhiingige fahreradaptive Funktion ist, die zu lernen ist. Die Situations stimuli konnen vieIniltig sein, wie z.B. die sog. Zeit bis zu einer Kollisi­on, der Abstand zu einem vorausliegenden Hindernis usw.

In dem ersten Beispiel wird ein repriisentatives Ergebnis unter Benutzung der vorab beschriebenen Lernkomponente fUr die zwei Handlungsalternativen "Freies Fahren" und "Anhalten vor einer roten Ampel" dargestellt. Das entsprechende IRT-Netz flir die Handlungsalternative "Anhalten vor einer roten Ampel" wurde auf zwei Eingangsmerkmale und entsprechende Situations stimuli trainiert: Ge­schwindigkeit des eigenen Fahrzeugs und Abstand zur Ampel. Fiir die Handlungs­alternative "Freies Fahren" wurde nur die Geschwindigkeit benutzt. Wie in der Abb.6.5 gezeigt, verhiilt sich das entsprechend trainierte Modell in der Ver­gleichsfahrt zum modellierten Fahrer stabil und im Verhalten sehr iihnlich.

~ 2 SI DO § 0 .~ ·1

ill ·2

ii -3 ., ~ -4

-5

-6

- Modell - Fahrer

-70~------I~OO------~2~OO------3~OO------~----~~----~~

Zeit [1/30s]

Abb. 6.5 Vergleich des Beschleunigungsverhaltens von Fahrer und fahreradaptivem Modell (freies Fahren und Abbremsen vor einer roten Ampel).

Das zweite Beispiel stellt ein Ergebnis fUr die Handlungsalternative "Folgefahren" dar. In diesem Fall wird ein spezieller Modellansatz (l-m-Modell) (Gazis et ai., 1961) direkt als Abbildungsbeziehung zugrundegelegt: Hiermit wird dargestellt, dass die Beschleunigung des eigenen Fahrzeugs zur Zeit t + T von der Geschwin­digkeit zur Zeit t, der Geschwindigkeit relativ zu einem moglicherweise voraus­fahrenden Fahrzeug und dem Abstand zwischen den Fahrzeugen abhiingt. T ist dabei die Reaktionszeit des Fahrers. Die Parameter T, a, m und 1 sind zu jedem Zeitpunkt an den Fahrer anzupassen. Leutzbach (1988) schlug ein psychophysika­lisches Abstandsmodell vor, das auch auf gewisse Einschriinkungen des I-m­Modells hinsichtlich des tatsiichlichen Fahrerverhaltens beim Folgefahren in un­terschiedlichen Abstiinden eingeht. Jenseits einer bestimmten Entfernung vom vorausfahrenden Fahrzeug versucht der Fahrer nicht mehr, im Sinne des Folgefah­renS den Abstand genau einzuhalten. Fritsche (1994) schlug ein psychophysiologi­sches Modell fUr das Folgefahren auf der Basis von Leutzbach (1988) und Wie-

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6.4 Ergebnisse 91

demann (1974) vor, in dem funf Bereiche im Phasenraum entsprechend Abb. 6.6 definiert werden. Dieses Modell wird in dem hier behandelten Beispiel der adapti­yen Modellierung des fertigkeitsbasierten Verhaltens iibemommen und dahinge­hend erweitert, dass der Parameter a mit Hilfe des geschilderten Lemverfahrens fahreradaptiv modelliert wird.

6

3 Freies Fahren

'Vi' -. Bremsen .s > <l

-3 Auffahren Foigefahren II

10 20 30 so 60 tix [m]

Abb. 6.6 Fahrsituationen im & , ~ v -Phasenraum. Die Geschwindigkeit des voraus­fahrenden Fahrzeugs betragt 20m/s.

Der Lemalgorithmus verwendet als Eingangsmerkmale fur diesen Fall den Ab­stand zum vorausfahrenden Fahrzeug &, die Geschwindigkeit des eigenen Fahr­zeugs X, die Relativgeschwindigkeit & und die Beschleunigung X des voraus­fahrenden Fahrzeugs.

14~--------------------------------------

- Modell - Fahrer

20~--2~O--~4~O---6~OL-~8~O--~IOO~~12-0---1~40~~16~O--~ Zeit [s]

Abb. 6.7 Vergleich des Geschwindigkeitsverlaufs bei Fahrt mit Fahrer und fahreradaptivem Modell (Folgen hinter einem vorausfahrenden Fahrzeugs).

Abbildung 6.7 zeigt zur Einschatzung der Modellierungsgiite das Geschwindig­keitsverhalten eines auf eine Fahrerperson trainierten Modells im Vergleich zu dem Geschwindigkeitsverlauf des Verhaltens des Fahrers selbst bei einer dreimi-

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92 6 Adaptive Modellierung des Fahrerverhaltens

niitigen Testfahrt in einem Innenstadtszenario. Diese Fahraufgabe ist charakteri­siert durch ein voranfahrendes Fahrzeug, das die freie Geschwindigkeitswahl einschrankt.

6.5 Schlussfolgerungen

Kognitive Kooperation zwischen Mensch und automatischen Funktionseinheiten mit kognitiven Fahigkeiten flihrt zu einer neuen Qualitat von Automation im Ar­beitsprozess. Kognitive Kooperation verlangt jedoch auch, dass auf beiden Seiten, dem Operateur und der automatischen Funktionseinheit, moglichst umfangreiches Wissen iiber die Verhaltensweisen des Team-Partners vorhanden ist. 1m Falle des Arbeitsprozesses Fahrzeugflihrung muss demgemass ein kognitives Assistenzsys­tern das Prozessverhalten des Fahrers, auch in seinen individuellen Auspragungen, erlemen bzw. modellieren konnen. 1m speziellen Fall eines kooperativen tutoriel­len Assistenten als Teilelement eines Ausbildungssimulators flir die Fahrschulung, einer derzeit intensiver verfolgten Anwendung kooperativer Kognition im Bereich der Fahrzeugflihrung, ist es die Online-Bestimmung des Lemfortschritts des Fahr­schiilers auf der Basis der adaptiven Modellierung und die Online-Modellierung von einzelnen ausgesuchten Fahrem unterschiedlichen Konnens, urn flir die Tutor­funktion ein abgestuftes Referenzmodell aus den Einzelmodellen oftline zu aggre­gieren. Die entsprechende Entwicklung flir Assistenzsysteme im Fahrzeug wird letztlich durch die Verfligbarkeit ausreichender Sensorik bestimmt.

Die Architektur des vorgestellten Modellbildungskonzepts reflektiert die Tatsa­che, dass der Fahrer zu jedem Zeitpunkt sich flir eine der moglichen der Fahrsitua­tion angepassten Handlungsaltemativen personlich entschieden hat und der Fahr­verlauf sich entsprechend gestaltet. Es wurde dargestellt, dass der Lemprozess flir den regel- und fertigkeitsbasierten Teil des Gesamtmodells online wahrend des Fahrbetriebs auf der Basis von allgemeinen Regressionsnetzen (IRT -Algorithmus) und von Entscheidungsbaumlemverfahren moglich ist.

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7 Nichtformale Konstrukte in quantitativen F ah rermodellen

Thomas Jiirgensohn

Quantitativ-formale Modelle dynamischer Handlungen des Fahrers basieren in der Regel auf Formalismen, in denen physikalisch messbare oder aus physikalischen Messungen berechenbare Merkmale des Verhaltens in gegenseitige Beziehung oder in Beziehung zur Zeit gesetzt werden. Solehe Modelle werden seit ca. 40 lahren vomehmlich von Ingenieuren als Hilfsmittel zur Entwicklung von Fahr­zeugkomponenten entwickelt. Eines der groBten Probleme in diesen Modellen war und ist die Abbildung von denjenigen Einfliissen auf den Fahrer, die nicht dyna­mischer, sondem mentaler, d.h. kognitiver, emotionaler oder motivationaler Natur sind. In dem anschlieBenden Beitrag von Irmscher in diesem Band wird gezeigt, wie mentale Einfliisse in einem Modell praktisch umgesetzt werden konnen. In dem folgenden Beitrag nun wird die gleiche Fragestellung von theoretischer Seite aus beleuchtet. Thema ist generell die Integration von nichtformal beschriebenen EinflussgroBen in quantitativ-formale Modelle dynamischer Handlungen des Au­tofahrers, beispielhaft festgemacht an der Problematik der Motivmodellierung. An einem hypothetischen Beispiel aus dem Bereich der Assistenzsysteme fur Kraft­fahrzeuge werden die damit verbunden methodologischen Probleme dargestellt.

7.1 Einleitung

Ziel der Modellbildung des Fahrerverhaltens ist in der Regel dessen Vorhersage fur Situationen, die nicht oder nur mit unvertretbarem finanziellen oder zeitlichen Aufwand nachgestellt werden konnen. Dies gilt sowohl fur formale wie auch fur nichtformale Modelle. Formale Modelle werden dann benotigt, wenn es sich ent­weder urn kontinuierliche oder urn diskret-hochkomplexe, d.h. quasi-kontinuierli­che Probleme handelt, die mit einer hoheren Genauigkeit bzw. Prazision vorherge­sagt werden miissen, als es mit nichtformaler Modellierung moglich ist.

Typisches Beispiel formaler Modellbildung des Fahrerverhaltens ist die Mo­dellbildung des kontinuierlichen Lenkverhaltens eines Fahrers bei einem unvor­hergesehenen Hindemis bei schneller Fahrt. Ein moglicher Beweggrund fur die Entwicklung soleh eines Modells konnte darin liegen, ein technisches Unterstiit­zungssystem, einen "Hindemisassistenten", fur diese spezielle Situation entwerfen zu wollen. Als Vorgabe sei angenommen, dass das System den Fahrer unterstiitzt, ohne ihn aus der vollen Verantwortung zu entlassen, d.h. dass der Fahrer zu jeder Zeit Teil des geschlossenen Regelkreises ist. Ich werde in diesem Beitrag dieses Beispiel als Authanger fur die Untersuchung bestimmter methodologischer Aspekte bei der Modellierung des Fahrers heranziehen. Die Frage, ob soleh ein System iiberhaupt sinnvoll ist, wie es ausgelegt sein miisste und was eine Einfuh-

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96 7 Nichtfonnale Konstrukte in quantitativen Fahrennodellen

tern iiberhaupt sinnvoll ist, wie es ausgelegt sein miisste und was eine Einfuhrung fur rechtliche Konsequenzen haben wiirde, spielt dabei keine Rolle.

Fiir die Beurteilung des Systems ist es entscheidend zu wissen, ob ein Unfall durch das System im statistischen Sinne vermieden wird, oder ob es unter Um­standen sogar umgekehrt schadlich wirken kann, weil es den Fahrer in seinen Aktionen stort. Da ein Unfall im Allgemeinen eine Beriihrung mit dem Hindemis bedeutet, ist die Beantwortung der Frage nur moglich, wenn diese Beriihrung in Abhangigkeit der Konstellation der Situation berechnet werden kann. Dazu wie­de rum ist es notig, den Kurs des Fahrzeugs bei dem Auftreten eines Hindemisses zu kennen (Abb. 7.1). Selbst fUr Aussagen nur im statistischen Mittel wird dazu auf jeden Fall ein Modell des Fahrzeugverhaltens benotigt. Da der Fahrer wahrend der Unterstiitzungsphase in das Gesamtsystemverhalten eingreifen kann, wird fUr eine Vorhersage des Gesamtverhaltens dariiber hinaus ein Modell des Bedieners benotigt. Schliel3lich muss selbstverstandlich auch das Verhalten des Unterstiit­zungssystems berechenbar sein.

A

c Abb. 7.1 Vorhersagen des Verhaltens von Fahrzeug A bei dem plotz lichen Auftauchen eines Hindemisses B bei gleichzeitigem Fremdverkehr C. Bei bestimmten Konstellationen kommt es zu einer Kollision mit B oder C.

Der Fahrer bildet in unserem geschilderten Beispiel zusammen mit dem Fahrzeug und dem Unterstiitzungssystem ein kontinuierliches dynamisches System. Zu dessen Modellierung werden deshalb ebenfalls wie fUr das Fahrzeug kontinuier­lich dynamische Modellierungsmethoden benotigt. Nehmen wir nun aber einmal an, dass wir Grund zu der Annahme haben, dass die kontinuierlichen Aktionen und Reaktionen des Fahrer davon abhangen, wie genau er die Situation einschat­zen kann, ob er schon einmal in einer ahnlichen Situation war, also auf Erlemtes zuriickgreifen kann, davon, ob er ein angstlicher, geistesgegenwartiger, besonne­ner oder hektischer Fahrer ist oder ob er in Eile, unaufmerksam oder verliebt ist. Wir wollen diese EinflussgroBen im Weiteren mentale Faktoren nennen. Jedes Modell, das diese Faktoren nicht beriicksichtigt, kann nur so genau sein, wie die Spannweite des Einflusses der fraglichen mentalen Faktoren auf die Handlung.

Aufgrund dieser Einfliisse kann unser Unterstiitzungssystem - wegen deren Va­riabilitat zwischen verschiedenen Fahrem und eines einzelnen Fahrers in der Zeit - nur eingeschrankt wirksam sein. Erst dann, wenn es sich adaptiv auf die jeweili­ge "Fahrersituation" einstellt, kann das System optimal unterstiitzend wirken. Auch dazu ist ein Modell des Fahrerverhaltens und der mentalen Einfliisse not­wendig. Je nach Dominanz der mentalen Faktoren kann bei fehlender Beriicksich­tigung unter Umstanden die gesamte Niitzlichkeit des Unterstiitzungssystem in

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7.1 Einleitung 97

Frage gestellt sein. Wenn es dagegen geliinge, mentale Merkmale des Fahrerver­haltens in dem Modell des Fahrerverhaltens abzubilden, konnte ein Unterstiit­zungssystem entwickelt werden, das sich genauer an den Fahrer anpasst und des­halb ihm noch effektiver helfen konnte.

Als mentale Einfliisse wurden oben Einfliisse kognitiver, motivationaler oder emotionaler Art definiert. 1m Mittelpunkt dieses Beitrags stehen diejenigen menta­len Einfliisse, die nichtformal sind. Es wird die fundamentale Problematik der Einbeziehung nur nichtformal definierter mentaler Einfliisse in die Modellierung formal priizise abbildbarer kontinuierlich-dynamischer Eigenschaften untersucht. Es soIl der Frage nachgegangen werden, ob und wie beide Ebenen verkniipft wer­den konnen, urn beispielsweise die eben angedeutete Idee eines optimal angepass­ten Unterstiitzungssystem verwirklichen zu konnen bzw. Vorhersagen iiber das Zusammenspiel mit dem Fahrer in unterschiedlichen Situationen zu ermoglichen. Beispielhaft wird dies an der Abbildung motivationaler Einfliisse vorgefUhrt. Diese eignen sich besonders gut fUr dieses Vorhaben, weil der nichtformale Cha­rakter von Motiven leicht darstellbar ist. Prinzipiell gelten die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen aber auch fUr kognitive Einfliisse. Am Ende des Beitrags wird darauf kurz eingegangen.

7.1.1 Klassifikationsschema von Modelltypen

Bevor ich auf diese eben skizzierte Kemproblematik genauer eingehen kann, ist es notwendig, einige Begrifflichkeiten und Basiseigenschaften von Modellen kurz zu kliiren. Fiir diesen Artikel relevant sind Modelle, auf deren Basis V orhersagen iiber Ereignisse in der Zukunft abgeleitet werden. Die in diesem Artikel vorran­gigste Unterscheidungsdimension von Modellen ist die zwischen formalen und nichtformalen Modellen.

Formale Modellbildung ist im Gegensatz zu nichtformaler durch Fixierung von Merkmalen des zu modellierenden Systems an freie Elemente eines Formalismus bei gleichzeitiger Veriinderung dieser Merkmale auf Grund der Regeln des Forma­lismus gekennzeichnet. Durch die Fixierung kann die Veriinderung priizisionser­haltend und reproduzierbar sein, und es kann Neues geschaffen werden. Der Nachteil der Bindung ist, dass nur das abgedeckt wird, was auf der singuliiren Spur des Formalismus liegt. Nichtformale Modelle hingegen sind freier und weit­spannender; sie umfassen auch vage Zusammenhiinge. Dem Vorteil des groBeren Giiltigkeitsbereichs steht aber eine Beschriinkung in der Aggregierbarkeit und kausalen Verkniipfbarkeit gegeniiber.

Typisches Merkmal formaler Modelle ist, dass das Verhalten des modellierten Objekts erst dann erkennbar wird, wenn es symbolisch oder numerisch berechnet wurde, d.h. wenn mehrere Verarbeitungsschritte mit dem Formalismus durchge­fiihrt wurden. Beispielsweise wird bei einer Modellierung des Lenkverhaltens mit Differentialgleichungen dieses erst dann explizit, wenn die Differentialgleichung mit Zahlen aufgelost wird. Solches konnte durchaus auch rein mental erfolgen. Die Unterscheidung zwischen formal und nichtformal ist deshalb nicht mit der Unterscheidung in computerbasiert zu rein gedanklich gleichzusetzen.

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98 7 Nichtformale Konstrukte in quantitativen Fahrermodellen

Nichtformale Modelle sind Modelle, die nicht formal sind, d.h. bei denen eines der tragenden Elemente von formalen Modellen, die Fixiertheit oder die Verande­rung auf Basis festgeschriebener Regeln nicht zutrifft. Es kann also durchaus fixierte nichtformale Modell geben. Typisches Beispiel eines nichtformal-fixierten Modells sind deskriptive Modelle. Diese bestehen in der Regel aus einer Vielzahl von nichtformalen Satzen uber einen Sachverhalt und bilden in ihrer Gesamtheit ein Modell dieses Sachverhalts. Sie sind durch das Medium der Sprache fixiert, sie k6nnen aber nicht regelhaft verandert werden. In diesem Beitrag wird das deskrip­tive Modell des Konzepts 'Motiv' untersucht, bzw. es wird ein deskriptives Mo­dell dieses Konzepts entwickelt. Andere fixierte Modelle, die nichtformal sind, treten beispielsweise in Computersimulationen auf.

Kennzeichen nichtformaler Modelle ist nicht unbedingt die "Formellosigkeit". Beispielsweise sind in Formeln ubersetzte sprachliche Ausdriicke ebenfalls nicht­formal, wenn mit ihnen nicht formal operiert wird. So ist die Formel V .. 3F ~ r(t+) '# 0 nichtformal, wenn sie genau die Aussage ,,Fur fast aile Fahrer gilt, dass sie beim Platzen eines Reifons unmittelbar reagieren" ausdriickt und keine Eigenschaft des Formalismus in einer Weiterverarbeitung genutzt wird. Umgekehrt k6nnen sprachliche Ausdriicke durchaus formal sein, wenn sie regel­haft verandert oder kombiniert werden. Eine Menge von Satzen, die Implikationen ausdriicken und logisch kombiniert werden, k6nnen ein formales Modell bilden. Dies kann beispielsweise auch rein gedanklich "berechnet", d.h. gemaB des For­malismus verandert werden.

Die weitaus gr6Bte Klasse nichtformaler Modelle sind aile diejenigen Modelle, die auf anschaulicher Imagination oder anderem nichtsprachlichen Denken (einge­schlossen unbewusstem) basieren. Anschauliche Modelle sind Grundlage sowohl der deskriptiv nichtformalen als auch der formalen Modellbildung. Praktisch all unser Denken fuBt auf diesen nichtformalen nichtfixierten Modellen.

Oft wird nichtformal mit qualitativ gleichgesetzt. Dies ist aber nicht sinnvoll, da es auch formale qualitative Modelle geben kann. Die Unterscheidung qualita­tiv-quantitativ bezieht sich auf den Charakter messbarer Merkmale. Qualitative Modelle beschreiben messbare Merkmale durch eine kleine Anzahl diskreter Wer­te, auf denen eine Ordnungsrelation definiert ist. Sprachlich formulierte Modelle mit Ausdriicken wie klein, groB, dunn, dick, schnell, langsam sind ein Beispiel fUr qualitativ-nichtformale Modellierung, Modelle die mit Intervallmathematiken oder Regelnsystemen operieren, sind ein Beispiel qualitativ-formaler Modellierung.

Formale Modelle gelten in der Regel als validierbar bzw. uberpriifbar -nichtformale nur als "einschatzbar". Der Grund dafUr ist leicht an der Fixierung der formalen Modelle festzumachen. Es sei aber darauf hingewiesen, dass nur die Abarbeitung des Formalismus, nicht die zugrundeliegende Semantik, d.h. die Bedeutung der Elemente des Formalismus validiert werden k6nnen. Deshalb sind deskriptive Modelle - trotz ihrer Fixierung an Sprache - nicht in dem selben Sinne validierbar wie formale Modelle, weil der Inhalt des Modells in dem "Dahinter" der W orte liegt. Die Aussage "die Sonne scheint" kann nicht aus sich selbst heraus validiert werden, sondem nur daran, ob die Sonne scheint.

Fur das Thema dieses Beitrags ist schlieBlich noch ein weiteres Unterschei­dungsmerkmal von Modellen relevant: Dynamik-Modelle und Statik-Modelle. In

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7.1 Einleitung 99

Statik-Modellen werden statische und in Dynamik-Modellen dynamische Eigen­schaften und in kausalen Abhangigkeiten eines Systems modelliert. Die Modelle selbst sind in beiden Fallen in der Regel statisch. Der Begriff der Dynamik ist heute mit verschiedenen Inhalten belegt. 1m Ursprung des Begriffs (bUVUl-ltcr) und noch heute in der Mechanik ist Dynamik mit Bewegungen verbunden, die durch Krafte erzeugt werden. In einigen Fachdisziplinen wird Dynamik wesentlich abs­trakter aufgefasst - teilweise wird dynamisch mit zeitveranderlich gleichgesetzt. Ich verwende hier den Begriff Dynamik, wie er in der Systemtheorie benutzt wird: ,,Dynamik ist die in der Zeit beschriebene Regelhaftigkeit von Veranderung". Kann die Veranderlichkeit eines Systems nur auf Zeit bezogen dargestellt werden, ist ein Modell dieses Systems ein Dynamik-Modell. Es gibt danach also einen Unterschied zwischen dynamischen und zeitveranderlichen Systemen. Letzteres verandert sich zwar in der Zeit, es spielt aber keine Rolle, wann jede Veranderung geschieht. Sind beispielsweise von einem System die Regeln der Ubergange zwi­schen verschiedenen Zustanden bekannt, aber nicht die Zeitdauem jeden diskreten Zustands, ist das System nur kausal zeitveranderlich und nicht dynamisch.

Die bloB-zeitveranderlichen Systeme (bzw. die bloB zeitveranderliche Sicht auf Systeme), in denen Veranderungen nach Regeln oder einem Algorithmus erfolgen, sollen in diesem Beitrag kausale Systeme genannt werden. Zeitveranderliche Systeme ohne Regeln sind Systeme, die sich mit einer nicht bekannten Zuf<illig­keit verandem. Reale dynamische Systeme sind auch kausal und selbstverstand­lich zeitveranderlich. Auch zufallig sich andemde Systeme konnen dynamische Systeme sein, wenn Regeln fUr die Zufalligkeit bekannt sind. Solche Systeme werden stochastische Systeme genannt.

Aile kontinuierlich sich andemden Systeme benotigen zur Beschreibung der Veranderlichkeit den Bezug zur Zeit, weil Kausalitat in einem kontinuierlichen Zustandsraum nicht durch Ubergangsregeln zwischen diskreten Zustanden ausge­driickt werden kann. Sie sind deshalb immer dynamische Systeme, die durch ihre Zustandsgroj3en beschrieben werden. So sind viele makroskopisch-physikalische Systeme dynamische Systeme, wenn sie kontinuierlich beschrieben werden und zeitveranderlich sind. Nur wenn die Anderungen zwischen diskreten Zustandsstu­fen erfolgen, konnen sie bloB zeitveranderlich und nichtdynamisch aufgefasst werden. Wird ein dynamisches System mit einem nichtdynamischen kausalen Sys­tem in einem Modell verbunden, muss das Gesamtmodell ein dynamisches Modell sein, weil ein Zeitbezug nicht in einen Kausalbezug aufgelost werden kann.

In Simulationsmodellen ist der Zeitbezug oft durch einen Bezug auf einen (un­abhangigen) Zeittakt realisiert. Rein kausale Modelle konnen in solchen Simulati­onen erst dann nachgebildet werden, wenn den rein kausalen Beziehungen zeitli­che hinzugefUgt wurden. 1m einfachsten Fall sind dies Zeitintervalle zwischen den Zustandsiibergangen. Wird zusatzlich eine kontinuierliche Anderung in der Zeit gefordert, miissen Informationen iiber diese Anderungen hinzukommen.

Jedes System, von dem die kausalen Einwirkungen auf ein dynamisches Sys­tem interessieren, ist selbst ein dynamisches System. Sein Verhalten muss deshalb in der Zeit beschrieben werden. Ebenfalls sind zwei oder mehrere kausale Syste­me, die nicht vollstandig kausal (mitunter auch stochastisch kausal) verbunden

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100 7 Nichtformale Konstrukte in quantitativen Fahrermodellen

werden konnen, nur nach Transformation zu einem dynamischen System in einem Gesamtsystem kombinierbar.

7.1.2 Modellbildung dynamischer Handlungen in maschinellen Systemumgebungen

Die Modellbildung dynamischer Handlungen in maschinellen Systemumgebungen wird seit Ende der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts untersucht und es existieren eine Reihe von zusammenfassenden VerOffentlichungen zu diesem Thema (z.B. Sheridan u. Ferrell, 1974; McRuer u. Krendel, 1974; Johannsen et aI., 1977; Cac­ciabue, 1998; Jiirgensohn, 2000). Da in diesem Beitrag das Hauptaugenmerk auf den nichtformalen Modelle liegt, solI die Problematik nur soweit behandelt wer­den, dass die Implikationen einer Verbindung nichtformaler mit formal­dynamischer Modelle verstandlich ist.

Wie im vorherigen Abschnitt festgestellt wurde, kann zeitveranderliches Ver­halten eines kontinuierlich-variablen Systems nicht bloB kausal beschrieben wer­den, sondern benotigt eine Dynamikmodellierung, d.h. einen expliziten Bezug zur Zeit. Das gilt natiirlich auch fiir das System "Autofahrer". AIle Modellansatze, die Bedienerverhalten in dynamischen Maschinenumgebungen abbilden, beschreiben den Bediener als dynamisches System. Der Grund dafiir ist nicht die Tatsache, dass auch ein Mensch immer ein dynamisches System ist, sondern dass er in einer Wechselwirkung mit einem dynamischen System steht. Dies solI im folgenden erlautert werden.

Dazu gehen wir zuriick zu unserem Beispiel: Ausgangspunkt unserer Betrach­tung sind die in Abb. 7.1 eingezeichneten Fahrtrajektorien des Fahrzeugs A. Sie sind flir unsere Fragestellung wichtig, weil ihre Kenntnis eine Aussage fiber einen moglichen Unfall ermoglichen wiirde. Sie sind ohne Zweifel kontinuierlich und das Fahrzeug bewegt sich kontinuierlich in Raum und Zeit. Daraus folgt, dass das Fahrzeug beziiglich dieser Betrachtung ein dynamisches System bildet.5 Sein Ver­halten kann recht genau auf Basis numerischer Modelle des Fahrzeugs berechnet werden. In ihnen werden eine endliche Anzahl von zeitveranderlichen kontinuier­lichen ZustandsgroBen durch einem Satz von Differentialgleichungen und anderen quantitativen Beziehungen in Abhangigkeit von Einflfissen des Unterstiitzungssys­terns oder des Fahrers beschrieben.

Da das Fahrzeug flir die Beschreibung der Fahrtrajektorien ein kontinuierliches dynamisches System bildet und der Fahrer auf diese Fahrtrajektorien einwirkt, ist - wie im vorherigen Kapitel festgestellt - der Fahrer auch ein dynamisches Sys­tem - sein Verhalten muss auf eine unabhangige Zeit bezogen werden. Da die Fahrtrajektorien sich aus dem numerischen Modell des Fahrzeugs ergeben, muss

5 Es muss aber betont werden, dass sich dies nur daraus ergibt, dass die Fahrtrajektorien interessierende GroBen sind. Das Fahrzeug se1bst kann auch ein bloB kausales System sein. Dies ist beispielsweise so in dem Modell, das durch die Aussage "Ein Unfa11 ent­steht, wenn das Fahrzeug A das Objekt B oder das Fahrzeug C beriihrt oder wenn es dies Strasse verlasst" gebildet wird.

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7.2 Modellbildung von Motiven 101

in jeder Beschreibung des Verhaltens des Fahrers mindestens an einer Stelle eine kausale Verbindung zu dem Modell des Fahrzeugs vorhanden sein. In unserem Beispiel sind es Einflusse auf die Lenkung, das Bremsen und das Gasgeben.

Wir hatten als Voraussetzung angenommen, dass der Fahrer trotz Untersilit­zungssystem immer in der vollen Verantwortung bleibt. Das bedeutet, dass sein Handeln von dem Ziel bestimmt ist, Schaden an seinem Fahrzeug und an Gegens­tanden und Personen der Umgebung zu minimieren. Urn dies realisieren zu kon­nen, benotigt er Informationen aus der Umgebung und von dem Verhalten seines Fahrzeugs. Das Verhalten des Fahrers hangt also von Objekten oder Zustanden der Umgebung ab - sie wirken auf ihn kausal. In gleicher Logik wie eben aus der Tatsache der kontinuierlichen Fahrtrajektorie gefolgert wurde, dass der Fahrer ein dynamisches System ist, folgt, dass die Informationen aus der Umgebung eben­falls dynamisch sein mussen. Sie sind es auch dann, wenn kein Objekt der Umge­bung selbst dynamisch ist.

Die etwas umstandlich erscheinende Herleitung beschreibt nichts anderes als einen dynamischen Regelkreis. Ein Modell, das diesen Regelkreis abbilden solI, muss also ein Dynamikmodell sein. Das ist aber nicht selbstverstandlich. Es kann durchaus auch Modelle von Regelkreisen geben, die nicht dynamisch sind - dann namlich, wenn das Autofahren zwar als eine geschlossene kausale Kette model­liert wird, keines der Elemente aber dynamisch ist. Das kann z.B. ein sprachlich beschreibendes Modell der Kausalitat unserer Beispielsituation sein. Wir konnen durchaus kausale Schlussfolgerungen aus unserer durch das Modell erzeugten Vorstellung ableiten - aber keine auf eine unabhangige Zeit bezogenen, also keine dynamischen.

Die Dynamik von Fahrzeug, Fahrer und Umweist ist also nicht "naturgegeben", sondem ergibt sich aus einer bestimmten Fragestellung. Es ist nicht von Vomher­ein gesagt, dass die Anforderungen der Fragestellung in einem Modell immer erfUllt werden konnen. Es kann durchaus sein, dass auf eine prazise dynamische Modellierung verzichtet werden muss, wenn die Genauigkeit der Beschreibung wie sie fUr das Fahrzeugverhalten moglich ist, bei der Modellierung des Fahrers nicht realisiert werden kann. Wir gehen im Folgenden aber davon aus, dass eine dynamische Beschreibung moglich ist. AIle Aspekte des Fahrerverhaltens, auch nichtformale mentale, mussen sich in das dynamische Modell integrieren lassen.

7.2 Modellbildung von Motiven

Nach dieser EinfUhrung kommen wir nun zu der Modellbildung der mentalen Einflusse auf die Handlung, dargestellt an der Problematik motivationaler Einflus­se, zurUck. Zum Verstandnis der Formalisierungsproblematik ist eine Darstellung der Motivationsforschung aus ubergeordneter Sicht notwendig. Es wird deshalb zunachst ein deskriptives Modell des Konzepts "Motiv" entwickelt. Darauf auf­bauend werden dann die Konsequenzen fUr eine UberfUhrung in ein formales Modell abgeleitet.

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102 7 Nichtfonnale Konstrukte in quantitativen Fahrennodellen

7.2.1 Motive

Eines der Griindbediirfnisse des Menschen ist es, Geschlossenheit in den Vorstel­lungen iiber die Welt zu erlangen. Die Suche nach Regeln iiber den Lauf der Welt, nach Griinden und Ursachen ist die wichtigste Triebfeder fragenden Denkens. Jede Suche nach Griinden muss zwangsHiufig - schon wegen Zeitbeschriinkungen - irgendwann zu einem Endpunkt kommen. Dies sind die letztendlichen Griinde, die Naturgesetze oder die gottliche Fiigung.

Unser Trieb zur Ursachenerforschung macht natiirlich auch vor uns selbst nicht Halt. Wir suchen nach den Ursachen dafiir, warum wir uns so verhalten, wie wir uns verhalten. In der Hauptsache hangt unser Verhalten von dem Zustand der Welt, von den iiuBeren Gegebenheiten ab - wir adaptieren unser Verhalten an die Notwendigkeiten der Welt. Wenn uns beispielsweise auf dem Biirgersteig laufend ein Fahrradfahrer in Kollisionskurs entgegenkommt, werden wir uns wahrschein­lich mit einem schnellen Schritt in Sicherheit bringen. Dies wiirden wir nicht tun, wenn er weit neben uns vorbeifahre. Unser Verhalten wird zum groBen Teil von der Welt urn uns determiniert.

Ein Teil der Griinde fiir eine spezifische Handlung liegt aber auch in uns selbst. Beispielsweise hiingt die Richtung, zu der wir ausweichen, davon ab, wie genau wir die Geschwindigkeit und Bahn des Fahrradfahrers einschatzen konnen. Die Richtung unseres Ausweichens wird ebenfalls dadurch bestimmt, wie gut wir die anderen Faktoren der Gesamtsituation kennen. 1st das Ausweichen nach links in Richtung StraBe oder nach rechts in Richtung der Hauser sinnvoller? Fiir eine Entscheidung miissen wir beispielsweise abwagen zwischen einem Risiko, von einem Auto erfasst zu werden, wenn wir nach links ausweichen, und dem Risiko, wegen anderer FuBganger dem Fahrradfahrer nicht vollsmndig ausweichen zu konnen, wenn wir nach rechts ausweichen. Diese Einfliisse auf Handlungen, die mit Wahrnehmen, Abwagen und Entscheiden zu tun haben, sind die kognitiven Determinanten der Handlung. Sie hangen zwar von uns ab, sind aber jeweils auf feste, auBere Gegebenheiten bezogen.

Wir konnen die Ursachenkette unseres Handelns noch weiter verfolgen und kommen irgendwann an einen Punkt, der entweder wieder zu schon abgearbeite­ten Elementen der Ursachenkette oder zu auBerhalb von uns liegenden Ursachen zurUckfiihrt. An diesem Endpunkt stehen die Motive unseres Handelns. Motive sind kausale Quellen von Verhalten, die vollstiindig in uns liegen und nicht direkt auf eine iiuj3ere Situation bezogen sind.6 Wenn wir uns z.B. fragen, warum wir iiberhaupt dem Fahrradfahrer auszuweichen versuchen, konnte man als innere Ursache das Streben nach Unversehrtheit nennen. Dieses Streben ist sicherlich keine auBere Ursache und ist nicht auf eine spezifische iiuBere Situation bezogen.7

6 Diese Definition charakterisiert die "wesentlichste" Eigenschaft von Motiven iiber einen sehr breiten Gebrauch des Begriffs Motiv. Es gibt allerdings auch Abweichungen.

7 Man konnte sogar noch weiter fragen, was die Ursache des Selbsterhaltungsstrebens ist. Mit einer gottlichen oder evolutioniiren Erkliirung entfemen wir uns aber wieder yom Menschen.

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7.2 Modellbildung von Motiven 103

Eng mit den Motiven verbunden sind Emotionen - vielfach werden beide nicht scharf voneinander getrennt, weil Emotionen ebenfalls als Ursache von Verhalten gedacht werden konnen. Das Zusammenspiel von Verstand bzw. Vemunft und Emotionen bzw. Motivationen ist in seiner Pdignanz wohl nicht eindringlicher als in der Platonischen Vorstellung (-380) von der Psyche als einem Gespann mit zwei Pferden gefasst: Der Wagenlenker "Vemunft" lenkt seinen Wagen, der durch die beiden Pferde "Mut" und "Gier" gezogen wird. Der Vemunft entspricht unsere heutigen Kognition, Mut und Gier wiirde man heute als Motive bezeichnen .

.Ahnlich einfach auf der obersten Ebene, aber wesentlich differenzierter in ei­nem hierarchischen System ausgearbeitet, ist die Affektenlehre Spinozas (1665). An oberster Stelle steht bei ihm das Selbsterhaltungsstreben, das jeden Dings und auch des Menschen wirkliche Wesenheit ist. Dieses Streben als Affekt kommt nun in unterschiedlichen Gewiindem und Namen, wie Trieb, Wille oder Drang vor, die bei ihm aIle unter dem Begriff der Begierde zusammengefasst sind. Diesem nur die Veriinderung und Bewegung anzeigenden Affekt des Strebens stellt er die Affekte zur Seite, die einen Zustand des Menschen beschreiben und die Richtung der Forderung oder der Hemmung vorgeben. Den fOrdemden Grundaspekt nennt er Freude bzw. Lust und den hemmenden Trauer bzw. Unlust. Aus diesen drei Grundbausteinen, den primaren Affekten, leitet er je nach Begleitumstiinden eine Vielzahl weiterer Affekte, wie Liebe, Hass, Furcht, Gewissensbiss, Verzweijlung oder Sicherheit abo

Beim Studium der Literatur zu dem Thema Motivation und Emotion als Ursa­chen menschlichen Verhaltens findet man immer wieder Ansatze, die dieser Kon­zeption von Spinoza im Grundsatz entsprechen - allerdings in vielfachen Ergiin­zungen und Wendungen. Es gibt aber auch Denkrichtungen, die eine vollig andere Sicht auf den Ursprung unseres Handelns haben. Beispielsweise werden in der angelsachsischen Tradition des Behaviorismus Motive als Ursachen von Handlun­gen fast vollig ausgeblendet. Handlungen ergeben sich dort als Folge auI3erer Situationen; Motive sind allenfalls moderierende Faktoren. Diese Uneinheitlich­keit ist wahrscheinlich eine der Ursachen, warum es tiber das Thema kaum kurze Uberblicksbeitrage gibt. Gelungen ist die kurze Zusammenfassung aus der rur diesen Aufsatz relevanten Perspektive der quantitativen Modellbildung bei Irm­scher (2001). Eine Vielzahl der hier vorgestellten Fakten tiber Motive sind dieser Arbeit entnommen.

Es ist hier nicht der Platz vorhanden, die Charakteristika von Motiven in der Detailliertheit, wie sie in der Motivationspsychologie untersucht werden, zu refe­rieren. Ich mochte stattdessen diejenigen Eigenschaften von Motiven theoretisch ableiten, die aus ihrer Definition (in uns liegende Ursache von Verhalten) ge­schlossen werden konnen. Ausgangspunkt der Uberlegungen sind solche heuristi­schen Vorstellungen von Motiven wie sie beispielsweise in den Modellen von Pla­ton und Spinoza oder in einem "Jedermann-Verstiindnis" sichtbar werden.

Jede Handlung in der Welt ist einzigartig. In der unendlichen Vielfalt konnen wir aber bestimmte Regeln und Gesetzmiilligkeiten erkennen, die es uns ermogli­chen, unser Verhalten und das anderer mehr oder weniger gut vorherzusagen. Ebenso wie wir aus Erfahrung oder durch Lemen vorhersagen konnen, dass Was­ser immer nach unten flieBt, konnen wir vorhersagen, dass derjenige, dem ich eine

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Ohrfeige gebe, zUrUckschlagen wird. 1m Gegensatz zur Natur, die sich in Vielem sehr regelmaBig verMlt, sind die Gesetze des Verhaltens aber verzweigter, es gibt Ausnahmen und Nebenbedingungen. So gilt die Regel des Zuriickschlagens nicht generell, sondem nur fUr bestimmte Personen und bestimmte Situationen. Damit Motive als innere Erklarungshilfe fUr das Verstandnis spezifischer Handlungen dienen konnen, durfen sie nicht spezifisch an eine auBere Situation gebunden sein. Andemfalls ware es wesentlich leichter, auBere Aspekte als Grund der Handlung anzunehmen.

Da Motive nicht auf eine spezifische Situation bezogen sind, konnen einzelne Ursachen - wegen der groBen Variabilitat in den Bedingungskomplexen - nicht die Handlungen selbst, sondem nur Handlungsaspekte erklaren - bestimmte As­pekte einer Handlung werden wahrscheinlicher, andere weniger wahrscheinlich. Wenn wir beispielsweise uns selbstbeobachtend feststellen, dass der Wagenkorb im Supermarkt bei starkem Hunger anders gefUllt ist als bei Sattheit, werden wir unschwer eine kausale Verkniipfung folgem konnen. Was nachher aber wirklich im Wagen ist, hangt fast vollstandig von anderen Bedingungen abo Der Hunger erklart eine Tendenz der Auswahl, nicht die Auswahl selbst. Mit entsprechender Selbstbeherrschung kann man dies en Tendenzen kraft des eigenen Willens auch vollstandig entgegenwirken. Nur im Vergleich zu einem "Normeinkauf' und ei­nem "Normwillen" lasst sich eine Tendenz feststellen. Motive erklaren nur Ten­denzen und Aspekte von Handlungen und keine Handlungen selbst. Metaphorisch werden Motive deshalb oft als "Streben" oder "Krafte" bezeichnet.

Was ein Aspekt einer Handlung sein kann, hangt sehr von dem betrachteten Handlungstyp abo Ein Aspekt ware beispielsweise der Zeitpunkt des Starts einer Handlung, wenn es sich urn Handlungen mit freiem Anfang handelt. Ein anderer Aspekt ware - wie in unserem Einkautbeispiel - die Starke oder Anzahl eines bestimmten Merkmals der Handlung. Haufig sind die Aspekte hochdimensionale Muster von Merkmalen und nicht beschreibbar, sondem nur "fUhlbar". Beispiels­weise sind die Merkmale, die eine Handlung als "mutig" beschreiben, in der Regel zu vielschichtig und voneinander abhangig, urn vollstandig beschreibbar zu sein. Die Motive selbst konnen dagegen, wenn sie als Ursache gedacht sind, immer nur eindimensional gedacht werden. Hunger als letztendliche Ursache ist aile in Hun­ger und hat nur den einen Aspekt der Starke - auch wenn mit Hunger natiirlich die vielf:iltigsten Aspekte, z.B. bestimmte Handlungstendenzen, verbunden sind. In ihrer Auswirkung auf Handlungen fassen Motive in der Regel eine Vielzahl von Merkmalen und Aspekten zusammen.

Mit der Feststellung des Motivs als Ursache einer Handlungstendenz ist auto­matisch ein Unterschied in der Dynamik von Motiven und Handlung verbunden. Nur durch langere Beobachtung sind mogliche Tendenzen in Handlungen erkenn­bar. So muss der Mut als eines der Motive in Platons Modell sich wesentlich lang­samer andem als die hochdynamischen V organge im Schlachtgetiimmel, wenn er als Erklarung der Art des Kampfens dienen solI. Obersetzt in einen systemtheore­tischen Jargon heiBt dies: Je starker ein Systemverhalten verrauscht ist, desto groBer ist die benotigte Beobachtungsdauer, urn die systembeschreibenden Para­meter zu identifizieren. Singulare Faktoren als Erklarung komplexen Verhaltens miissen daher verhaltensiiberdauernd sein. Das heiBt nicht, dass sie zeitunabhan-

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7.2 Modellbildung von Motiven 105

gig sein miissen. Wenn es gelange, eine zeitliche Tendenz in der Verhaltentendenz des mutigen Kriegers erkennen zu konnen, konnen wir auf einen ansteigenden Mut, d.h. ein zeitlich variables Motiv, schlieBen. Die zeitliche Tendenz muss aber wesentlich langsamer als die Dynamik der Handlungen sein. Es macht keinen Sinn, von einem Mut zu sprechen, der sich alle 30 Sekunden andert - er ware im Verhalten nicht erkennbar.

Da Motive Aspekte von Handlungen beschreiben, miissen sie immer auf Hand­lungen bezogen sein, wobei wir Denken als "mentale Handlung" dazuzahlen. Je nach Motiv ist der Bezug aber mehr oder weniger spezifisch auf eine bestimmte Handlungsklasse bezogen. Nimmt man beispielsweise "Gemeinsinn" als Motiv, dann wird man dieses Motiv wohl schwerlich als Ursache der Warenwahl beim Einkaufen identifizieren konnen. Umgekehrt kann man sich z.B. "Angst" als Mo­tiv bei sehr vie len unterschiedlichen Handlungen vorstellen. Das allgemeinste Motiv ist sicherlich das Selbsterhaltungsstreben im Sinne Spinozas; alle Handlun­gen konnen in irgendeiner Fonn als Teil dieses Strebens aufgefasst werden.

Eine weitere wesentliche Schlussfolgerung fiir Motive leitet sich aus der Fest­legung als innere Ursache her: Motive miissen als Entitaten unseres Korpers oder unseres Denkens identifizierbar, d.h. messbar sein - oder eine auBere Ursache muss ausgeschlossen sein. Messbar ist eine innere Ursache besonders gut, wenn sie mit Fiihlbarem verbunden ist. Das trifft beispielsweise auf den Hunger zu. Wiirden wir keinen Hunger spiiren, waren die darauf zuriickfiihrbaren Handlungs­tendenzen beim Einkaufen von den auBeren Bedingungen vollig iiberdeckt und nicht erkennbar, d.h. die Modellbildung ware wesentlich erschwert und nicht mehr heuristisch, sondem allenfalls wissenschaftlich durchfiihrbar. Wegen dieser Er­fahrbarkeit und deswegen, weil sie zeitlich relativ langandauemd und kausal nicht weiter auflosbar sind, spielen in vielen Motivationstheorien auf den Korper bezo­gene Motive eine groBe Rolle. Mit gleicher Begriindung finden wir in der Litera­tur auch sehr viele mit Emotionen verbundene Motive, wie Angst, Trauer, Freude, etc.

AuBere Faktoren als Ursachen von Handlungen konnen auch dann ausgeschlos­sen werden, wenn unterschiedliche Menschen in identischen Situationen unter­schiedlich handeln. Wenn sich Krieger A im Kampf anders verbalt als sein Nach­bar B, dann kann die Ursache nicht in der auBeren Situation zu finden sein, son­dem in der Verschiedenheit der Krieger. Deshalb werden auch pennanente oder temporare Verhaltensdispositionen als Motive bezeichnet. Ein pennanentes Motiv ware die Attributierung des Kriegers A als mutig und Krieger B als feige, wenn sie "in der Regel" im Kampf Mut bzw. keinen Mut zeigen. In einem speziellen Kampf kann das durchaus auch umgekehrt sein. Betrachtet man deshalb nur einen begrenzten Handlungsausschnitt kann zwischen pennanenten und temporaren Verhaltensdispositionen nicht unterschieden werden. Ob der Fahrer in unserem Hindemisbeispiel ein angstlicher Fahrer ist oder ob er zufallig Angst hat, ist an seinem Verhalten in der Situation nicht erkennbar, sondem nur an seinem Ge­samtverhalten iiber einen langen Zeitraum. Eine generelle Zuordnung von Person­lichkeitsmerkmalen iiber sehr unterschiedliche Handlungstypen hinweg ist aber generell nur selten moglich. Bekannt ist das Stereotyp des "mutigen" Kriegers, der aufgefordert wird, seiner Angebeteten ein Prasent zu iiberreichen.

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106 7 Nichtformale Konstrukte in quantitativen Fahrermodellen

AuBere Ursachen konnen als Ursachen auch dann ausgeschlossen werden, wenn sich eine einzige Person in ahnlichen Situationen unterschiedlich verhalt. Wenn man zum Duschen normalerweise sieben Minuten benotigt, an einem spe­ziellen Tag aber nur zwei Minuten, obwohl aIle Randbedingungen der Dusche und des Wassers gleich sind, dann muss das eine innere Ursache haben, die wir mit dem Motiv "Eile" bezeichnen konnten. Ein aus der Beobachtung intraindividueller Unterschiede geschlossenes Motiv muss natiirlich zeitveranderlich sein und kann deshalb gemaB der obigen Feststellung iiber die relative Konstanz gegeniiber der Handlung nur flir einen engeren Zeitrahmen handlungsbestimmend sein. Dies Beispiel zeigt deutlich, dass Motive auch Ursachen haben konnen. Die Eile hat natiirlich auch einen auBeren Grund. Entscheidend ist deshalb immer der Betrach­tungszei traum.

Nicht in allen Fallen ist es moglich, intraindividuelle Unterschiede in den Handlungen auf allgemeine, das heiBt benennbare Motive zuriickzuflihren. Dann namlich nicht, wenn es sich urn ganz spezifische, nicht verallgemeinerbare Aspek­te einer Handlung handelt, die aber dennoch unabhangig von auBeren Situationen variieren. Als Ursache kann man dann immer noch die Starke eines unspezifischen Antriebs angeben, oft mit Anregung oder Aktiviertheit bezeichnet. In unserem Ausweichbeispiel wiirde sich eine allgemeine Aktiviertheit eventuell auf die Re­aktionszeit auswirken.

AIle bisher als Beispiele genannten Motive sind als Bestandteil des allgemeinen Wortschatzes entweder mit eigener Erfahrung oder erlemtem Wissen semantisch belegt. Aus diesem Grunde sollten die angeflihrten Beispiele von jedermann nach­vollzogen werden konnen. Es ist ebenfalls anzunehmen, dass jedermann bei der Beobachtung irgend einer Handlung eines dieser Motive als Ursache der Hand­lung identifizieren kann. Dieser Akt der Motivzuschreibung wird aber im tagli­chen Leben praktisch nicht getan. Das bedeutet nicht, dass wir nicht dauemd kau­sale Ursachen in Handlungen finden, wir assoziieren sie aber nicht mit den hier als Motiven bezeichneten Begriffen.

Deutlich erkennt man dies en Unterschied zwischen einem bewussten und ei­nem sich in Handlungen manifestierendem Wissen am Handeln im sozialen Um­feld. Obwohl wir im Verlauf des Lebens sehr differenzierte personenbezogene Ursachen von Verhalten gelemt haben und dies durch unser Verhalten auch be­weisen, konnen diese Ursachen nur selten bewusst reflektiert und nur von wenigen allenfalls grob klassifiziert und mit Begriffen belegt werden. Abgesehen von unser prinzipiell beschrankten Moglichkeit der begrifflichen Auflosung sind die Ursa­chen von Verhalten oft so sehr situationsspezifisch, dass sich eine Begriffsbildung nicht lohnt. Nur die auf eine breite Palette von Handlungen und Situationen ver­allgemeinerbaren Aspekte konnen deshalb mit Begriffen belegt und so zu Motiven werden.

Welche das sind und wie viele, hangt von der "Niitzlichkeit" in der Praxis abo Als Konstrukt auf den Menschen bezogener Ursache miissen sie einerseits weitge­hend unabhangig vom Handlungskontext sein. Je mehr andererseits die Klasse von Handlungen reduziert ist, auf die ein Motiv anwendbar ist, desto aussagekraftiger ist es. Platon will die ganze menschliche Seele beschreiben und belasst es bei zwei Motiven - am Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte die Triebpsychologie

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7.2 Modellbildung von Motiven 107

mehrere Tausend Motive "entdeckt", die jeweils als ErkHirung nur in einem spezi­fischen Handlungsumfeld giiltig waren. Letzteres konnte sich aber nicht bewah­ren, weil es im allgemeinen nicht moglich war, zu entscheiden, welches der vielen Motive bei einer spezifischen Handlungssituation giiltig sein sollten. In der neue­ren Motivationspsychologie ist die Zahl wieder deutlich reduziert auf ca. 6-15 Motive fiir jeden Handlungskontext (z.B. Verhalten im Verkehr, Kaufverhalten, etc.). Addiert man die einzelnen Motive, die sich fiir spezifische Handlungskon­texte etabliert haben, kommt man wieder auf eine wesentlich hOhere Zahl.

Motive hangen also nicht nur von unserem Verhalten, sondem auch davon ab, in welcher Form wir dieses bewusst im Sinne einer nichtformalen Modellbildung verallgemeinem und was wir erkliiren wollen. Sowohl ihre Anzahl als auch ihre Auswahl hangt entscheidend von unseren Fahigkeiten in der nichtformalen Mo­dellbildung abo Zu der begrifflichen Separierbarkeit kommt die Problematik der Messbarkeit hinzu. Grundlage von Motiven sind wie festgestellt jeweils Hand­lungsmerkmale, die auf nichtformaler Messung basieren. Das schlieBt nicht aus, dass in einer mehr wissenschaftlichen Bearbeitung auch formale Messmethoden wie Reaktionszeit- oder Leistungsmessungen hinzutreten konnen. Sie konnen aber immer nur eine kleine Erganzung sein. Basis einer Motividentifikation sind Beo­bachtungen, die von Menschen durchgefiihrt werden, wobei Beobachtung weit iiber eine bloBe Messung "physikalischer" GroBen hinausgeht, sondem komplexe Interpretations- und Verarbeitungsschritte beinhaltet. Der V organg des Erkennens von Handlungstendenzen und -aspekten lasst sich als Modellbildung einer vagen kausalen Verkniipfung interpretieren.

Wegen der nur tendenziellen Wirkung konnen Motive einzelne Handlungen wie gesagt nur beziiglich eines Aspektes der Vielheit erklaren. Wenn die Anzahl von moglichen Motiven aber in einer nichtformalen Modellbildung insgesamt begrenzt sein muss, muss zur Abdeckung aller Handlungen jedes Motiv in sehr vielen unterschiedlichen Handlungen als Tendenz oder Aspekt erkennbar sein. Eine Vielzahl von Handlungen sind zusammen aber immer kontinuierlich oder quasikontinuierlich. Tendenzen oder Aspekte dieses Handlungsbiischels miissen dann ebenfalls kontinuierlich sein. Daraus folgt, dass Motive MaBe, d.h. ordinal denkbare Entitaten sind, auf die Modifikatoren wie "weniger" oder "mehr" ange­wandt werden konnen. In der Literatur finden sich nur wenige Motive, die nicht als kontinuierlich messbar gedacht sind. Aile Emotionen und mit Gefiihlen ver­bundene Reaktionen des Korpers sind mit Starke belegbar. Dies ist auch der Grund dafiir, dass sie so haufig als Motive bezeichnet wurden.

Ich habe hier Motive konsequent aus Sicht der Notwendigkeiten einer Modell­bildung von Verhalten dargestellt. Motive ergeben sich daraus als bestimmte Ele­mente einer nichtformalen Modellbildung, basierend auf Beobachtung und Fiihlen. Sie liegen in ihrer Wirkung eine Ebene hOher als direkte Handlungen - vergleich­bar etwa mit Parametem in Dynamikmodellen.8 Wegen der engen Verkniipfung

8 Erwiihnt solI noch werden, dass dann, wenn Motive selbst im betrachteten Zeithorizont Gegenstand einer Ursachenmodellbildung sind, ihre Veriinderung durch "Ubermotive" erkliirt werden kann. In Dynamikmodellen waren dies Metaparameter, die die Zeitveriin­derlichkeit der Parameter beschreiben.

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108 7 Nichtfonnale Konstrukte in quantitativen Fahrennodellen

mit dem Betrachtungshorizont ist ihre Abhangigkeit von den Zielen des Modellie­rers wesentlich groBer als bei der Modellierung von den auf konkrete Handlungen bezogenen Handlungsdeterminanten. Was als Motiv bezeichnet wird, hangt des­halb sehr stark davon ab, was damit erkUirt werden solI. Aus diesem Grund wer­den Motive in der psychologischen Literatur sehr oft als "Konstrukte" bezeichnet, was ihnen einen gewissen subjektiven Anstrich verleiht. Motive sind demnach sowohl an die handelnde Person als auch an den Modellierer gebunden. Demnach kann eine Person unterschiedliche Motive des Handelns haben, je nachdem wel­cher Modellierer dies betrachtet. Vom Modellierer unabhangig sind allein die mit eindeutigen GefUhlen verbundenen Motive, die von jedermann nachvollzogen werden konnen. Objektiv in dem Sinne einer "physikalischen" Uberprufbarkeit sind aber auch diese nicht, weil GefUhle hochgradig privat sind.9

In dieser kurzen Zusammenfassung konnen nicht aIle Aspekte von Motiven dargestellt werden. Weggelassen wurden insbesondere alle Mechanismen der Anregung und des Abbaus von Motiven. Motive sind zwar relativ statisch, aber eben nur relativ. Sie konnen sich auch - beispielsweise bei rascher Bedurfnisbe­friedigung - sprunghaft andem und sie unterliegen Einflussen, die entweder von anderen Motiven kommen, in der Regel aber auBerhalb des Menschen, in der auBeren Situation liegen. Dadurch wird das Konzept der Kausalursache natiirlich verwassert, was in der Motivationsforschung immer fUr Verwirrung gesorgt hat. Bezogen auf unser Problembeispiel spielt die Motivbeeinflussung aber keine Rol­le. Deshalb nehme ich im Folgenden statische Motive wie eben entwickelt an. Fur weiterftihrende Informationen sei hier wiederum auf Irmscher (2001) oder we iter­fUhrend (Kuhl, 1983; Heckhausen, 1989; Kuhl u. Heckhausen, 1996; McClelland, 1985; Thomae, 1983; Domer, 1994) verwiesen.

7.3 Motive in quantitativen Modellen

Wir kommen nach dies em Exkurs in die Theorie von Motiven zu der eigentlichen Fragestellung zuruck, ob und wie wir Motive unseres Autofahrers in dem Hinder­nisbeispiel (Abb. 7.1) modellieren konnen. Festmachen wollen wir dies an der Frage, wie sich der Einfluss von A·ngst!ichkeit und Eile in dem Fahrermodell dar­stellen konnte.

Wir hatten festgesteIlt, dass die Modellbildung wegen des Untersuchungsziels der Kollisionsuntersuchung einerseits quantitativ-dynamisch sein muss. Wir hatten aber auch festgestellt, dass Motive wie Angst oder Eile Elemente nichtformaler Modellbildung, gebunden an das Messinstrument Mensch sind. Es gilt also zu untersuchen, wie nichtformale Motive quantitativ-dynamisch formalisiert werden konnen. Es sind drei mogliche Strategien daftir denkbar:

9 Das andert sich in letzter Zeit mit den Fortschritten in der Neurophysiologie. Beispiels­weise lasst sich Schmerz heute schon sehr gut neurophysiologisch beschreiben und damit physikalisch-chemisch messbar machen. Die Empfindung selbst wird aber damit natiir­lich nicht beschrieben.

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7.3 Motive in quantitativen Modellen 109

l. Man iiberfUhrt die eigentlich nichtfonnalen Konstrukte 'Angst' und 'Eile' zu­nachst in ein fonnales Modell. Dieses fonnale Modell kombiniert man dann mit den fonnal-dynamischen Aspekten des Fahrennodells in einem Gesamtmodell.

2. Man fasst Angst und Eile ebenfalls als Zustande des Menschen, sichtbar in Attributen von Handlungen auf, verzichtet aber vollig auf einen Riickgriff auf die nichtfonnale Modellbildung auf Basis menschlicher Beobachtung und greift stattdessen allein auf Experimente mit physikalisch messbaren Merkmalen zu­ruck. Angst und Eile wiirden auf diese Weise vollig neu modelliert und damit auch neu definiert.

3. Man modelliert nicht die Motive selbst fonnal, sondem nur die Auswirkungen auf die Handlungen des betrachteten Handlungskontexts. Basis der Modellie­rung sind dann durchaus die nichtfonnalen Konstrukte, man verzichtet aber auf ihre explizite Modellierung. Fonnalisiert wird also die mentale Anwendung ei­nes mental en Modells der Situation, das auch Motive als Elemente enthalt.

Variante 1 kann nach der Darstellung des Konstrukts Motiv in Kap. 7.2 nach kur­zer Uberlegung als praktisch undurchfUhrbar ausgeschlossen werden: Da Motive wie Angst und Eile Aspekte einer nichtfonnalen Modellbildung sind, die wesent­lich VOn dem Modellierer abhangen, miissen Modelle dieser Motive den nichtfor­malen Modellierungsvorgang mitmodellieren. Das wiirde beispielsweise bei dem Motiv Angst darauf hinauslaufen, dass der Verallgemeinerungsvorgang bei der Erkennung VOn Verhaltensaspekten, die mit dem "GefUhl" Angst verbunden sind, fonnal nachvollzogen wird. Es diirfte nicht bezweifelt werden, dass einerseits wegen der Breite moglicher Einfliisse von Angst auf die unterschiedlichsten Handlungen und andererseits wegen der prinzipiellen Unmoglichkeit, ein GefUhl Angst zu fonnalisieren, dies ausgeschlossen werden kann. Fonnalisierung von Motiven wiirde Fonnalisieren des gesamten denkenden Menschen bedeuten.

Man konnte nun einwenden, dass nicht unbedingt ein Motiv in seiner Ganze, sondem nur einzelne Aspekte fonnalisiert werden mussen. Ein Modell bildet ja generell das modellierte Objekt auch nicht vollstandig ab, sondem nur bestimmte seiner Eigenschaften. Wir werden sehen, dass diese Modellierung von bestimmten Aspekten VOn Motiven in der Tat genau der Variante 3 entspricht.

Variante 2 erscheint prinzipiell moglich. Das Konzept des Motivs als an eine Person gebundene Ursache von Verhaltensaspekten wurde einfach auf fonnale Modellbildung ubertragen - die nichtfonnalen Motive wiirden dabei keine Rolle spie1en. Das Vorgehen entsprache dabei im Prinzip vollig der nichtfonnalen Mo­dellbildung: aus Beobachtung von unterschiedlichem Verhalten wird in einem Verallgemeinerungsprozess auf Variabilitat geschlossen, die nicht aus der auBeren Situation erklarbar ist. Wenn dann noch Konstanz der Variabilitat in unterschied­lichen Kontexten gefunden werden konnte, hatte man im Prinzip ein rein fonnales Motiv erzeugt. Aber auch fUr diese Variante zeigt eine kurze Uberlegung, dass dies entweder undurchfUhrbar ist oder nicht der eigentlichen Zie1stellung ent­spricht.

Zwar kann man sich durchaus vorstellen, Personlichkeitsmerkmale in physika­lisch messbaren Merkmalen im Verhalten (in unserem Beispiel die Lenk-, Brems­und Gasgebeaktivitat) zu erkennen, und man diirfte Zusammenfassungen von

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ihnen unter Umstanden auch Motive nennen, weil sie dieselbe Rolle in der Verhal­tensbeschreibung spielen wie "normale" Motive. Wegen der auBerst beschrankten Moglichkeit, Lebenssituationen in ihrer Breite experimentell untersuchen zu kon­nen, konnten aber immer nur "Mikromotive" gefunden werden. Solche umfassen­den Motive wie beispielsweise Angst und Eile, die ja - nach den obigen AusfUh­rungen iiber den Sinn von Motiven - nur deshalb Motive sind, weil sie im Leben in den unterschiedlichsten Situationen von Bedeutung sind, waren wegen der Begrenztheit einer experimentellen Erhebung nicht vollstandig abdeckbar. Die Mikromotive hatten auch nichts mehr mit den nichtformalen Motiven zu tun und diirften eigentlich auch nicht mit deren Bezeichnungen belegt werden. Zwar konn­ten diese neuen Motive wiederum mit den herkommlichen Motiven in Verbindung gebracht werden, implizit hatten man dann aber - wie wir gleich sehen werden -wiederum Variante 3 gewahlt.

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Tatsache, dass wir iiberhaupt keinen Zugriff zu den fraglichen Situationen haben. Dass Eile und Angst einen Einfluss auf dass Verhalten in unserer Ausweichsituation haben werden, schlieBen wir nicht aus der Beobachtung solcher Situationen selbst, sondem aus der Extra­polation eines sehr allgemeinen Modells von Verhalten. Andere Moglichkeiten be­stehen wegen der Besonderheit der Situation auch nur sehr bedingt. Dies gilt na­tiirlich auch fUr eine rein formale Modellbildung. Erst nach einer umfassenden for­malen Modellbildung menschlichen Verhaltens in allgemeinen Umgebungen, aus denen dann ein Satz verhaltenserklarender Motive resultiert, konnte man extrapo­lierend auch unsere Ausweichsituation formal erfassen. Und damit waren wir wie­der bei Variante 1 angelangt, die schon als undurchfUhrbar identifiziert wurde.

Bleibt zu untersuchen, ob wenigstens Variante 3 sinnvoll ist. Die Anforderun­gen hier sind die schwiichsten. Plakativ formuliert lauft es darauf hinaus, ein for­males Modell zu erzeugen, das sich so verhalt, "wie man sich das vorstellt". Man kann sich beispielsweise vorstellen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass unser Fah­rer als Strategie der Konfliktbewaltigung das Bremsen vor dem Objekt und nicht das Oberholen mit vorherigem Beschleunigen wahlt, davon abhangt, ob er mehr ein angstlicher Typ ist oder mehr ein furchtloser. Ebenfalls konnte man sich vor­stellen, dass ein Fahrer, der in Eile ist, auf einem generell hoheren Aktivierungs­niveau ist und deshalb schneller und praziser reagieren kann, bei zu hoher Eile aber eventuell unvorsichtig wird und sein eigenes Konnen nicht genau einschatzen wird. Diese Vorhersagen sind moglich aufgrund unseres nichtformalen Modells der Motive Angst und Eile und unseres generellen Weltwissens.

Eine formale Modellbildung gemaB Variante 3 ist nun nichts anderes als eine Modellbildung dieser V orstellungen. Die nichtformal geschlossenen Handlungs­aspekte der spezifischen Situation werden in der formalen Modellbildung in ir­gend einer Weise abgebildet. Das heiBt, dass fixierte Elemente eines Modells als Motive oder Motivaspekte interpretiert werden. Das bedeutet noch nicht, dass die Motive selbst dadurch zu einem formalen Konstrukt werden. Beispielsweise wiir­de auch niemand behaupten, dass 'Masse' eine formale GroBe ist, nur weil sie in formalen Modellen enthalten ist.

Wie bei jedem Modell muss auch bei der Abbildung von Motivaspekten die Abbildung nicht vollstandig sein. Da es in der Regel leicht ist, "irgendeinen" As-

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7.3 Motive in quantitativen Modellen 111

pekt des Motivationseinflusses abzubilden, ist Variante 3 fast immer moglich. Unter dieser Sicht stellt sich Variante 1 im Nachhinein als doch machbar heraus. Da generell jede Modellbildung von Aspekten eines Objekts oder eines Sachver­halts eine Modellbild des Objekts oder des Sachverhalts selbst ist, ist Variante 3 mit Variante 1 identisch. Allerdings ist das so realisierte Modell unendlich weit von einer "tiberdeckenden" Modellbildung eines Motivs entfemt. Der Einfluss eines Motivs auf eine spezifische Handlung kann zwar als eine Eigenschaft des Motivs aufgefasst werde. Sie ist aber genauso marginal fUr das Gesamtkonstrukt wie die Eigenschaft einer Schraube fUr ein ganzes Auto.

Auf den ersten Blick scheint mit einer Realisierung einer Motivmodellierung gemaB Variante 3 von unserem Anliegen, Motive formal zu modellieren, nicht vie I tibrig geblieben zu sein. Da die nichtformalen Vorstellungen immer subjektiv sein mtissen und dariiber hinaus ebenfalls die Uberpriifung des formalen Modells im Verhaltnis zu diesen, mutet das ganze Unterfangen beliebig willktirlich an. Dieser "Mangel" lasst sich nach den obigen AusfUhrungen auch nicht beheben, solange man auf das nichtformale Wissen tiber Motive zuriickgreifen will. "Nicht­objektiv" darf aber nicht mit "beliebig" gleichgesetzt werden. 1m folgenden Ab­schnitt werde ich versuchen, einige "Richtlinien" der formalen Motivmodellierung aufzustellen und Konsequenzen fUr die Validierung abzuleiten. Vorher mochte ich aber noch auf die besondere Problematik dieses Beitrags, die Verbindung der Motive mit der Modellierung dynamischen Verhaltens, eingehen.

7.3.1 Formale Erweiterung der Motivkonstrukte

In Kap. 7.1.2 wurde gezeigt, dass zur prospektiven Beantwortung der Fragen, die im Zusammenhang mit der Entwicklung des hypothetischen Hindemisassistenten aufkommen, ein quantitativ-formales Modell des dynamischen Fahrerverhaltens notwendig ware. Grundlage dieses Modell ist wie bei jedem formalen Modell von Objekten der Natur ebenfalls ein nichtformales Modell, das sog. konzeptionelle Modell (Jtirgensohn, 2000). AIle Modelle, auch die physikalischen, entstehen vor dem Hintergrund eines nichtformalen Grundverstandnis von der Welt. Dariiber hinaus flieBt in die Modellbildung aber zusatzlich Wissen tiber quantitativ­dynamische Aspekte der Handlung ein, die auBerhalb der Sicht einer direkten Beobachtung liegen und deshalb prinzipiell nicht nichtformal modellierbar sind. Wenn beispielsweise in dem Dynamik-Modell des Lenkverhaltens das Wissen einflieBt, dass der Frequenzgang des Lenkverhaltens Tiefpass-Charakter mit einer bekannten Grenzfrequenz haben muss, dann wird damit ein Verhaltensaspekt nachgebildet, der auBerhalb des angenommen quantitativen Formalismus, also der Fouriertransformation, weder einen Sinn hat, noch validierbar ist. Umgekehrt hatten wir eben festgestellt, dass motivationale Verhaltensaspekte nur vor dem Hintergrund eines nichtformalen Modells validiert werden konnen.

Nun muss - wie in Kap. 7.1.2 erlautert - fUr unsere Fragestellung das gesamte Verhaltensmodell, eingeschlossen der motivationalen Aspekte, notwendig ein Dynamik-Modell sein. Somit mtissen sich die fUr die Modellierung ausgewahlten Aspekte der Motive notwendig in dem dynamischen Verhalten widerspiegeln. Es

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112 7 Nichtfonnale Konstrukte in quantitativen Fahrennodellen

erscheint deshalb moglich und sogar wahrscheinlieh, dass die Motive auch einen Einfluss auf die quantitativ-formalen Aspekte des Verhaltens haben. Beispielswei­se kann man sich vorstellen, dass eine hohe Eile zu einer Verschiebung des Fre­quenzgangs der Lenkbewegungen zu hOheren Frequenzen fiihren wird. Da Eile aber wie festgestellt ein niehtformales Konstrukt ist, liegt der quantitativ-formale Aspekt eigentlich au13erhalb des Konstrukts Eile. Das hat zur Folge, dass dieser Aspekt prinzipiell nicht validierbar ist. Oder anders formuliert: Ais niehtformales Konstrukt, fuBend auf menschlichen Beobachtungen, sind formal-quantitative Aspekte eines Motivs - weil au13erhalb des Denkhorizonts liegend - nicht integ­rierbar und jede Annahme dariiber reine Spekulation.

Hier besteht offensichtlich ein Widerspruch in der Schlussfolgerung aus der vemiinftigen Annahme einerseits, dass sich Motive auch auf physikalisch-formale Aspekte der Handlung auswirken, und dem grundsatzlieh nichtformalen Charakter von Motiven mit ihrer Bindung an den menschlichen Beobachter andererseits. Die Ursache fUr diesen Widerspruch liegt in unserer unzulassigen Extrapolation der Wirkung von Motiven auf die physikalisch-formalen Aspekte der Handlung. Was wir dabei gedanklieh namlich tun, ist die Bindung von Motiven allein an das Ob­jekt, ohne Beriicksiehtigung der Tatsache, dass Motive zusatzlich vom modellie­renden Subjekt abhiingen. Erst wenn wir gleichzeitig mit unserer Annahme einer Wirkung von Motiven aufphysikalisch-formale Aspekte der Handlung, auch eine Anderung der Motivkonstrukte, d.h. eine Modifikation des nichtformalen Modells und damit des Wissens des Modellierers, fordem, ist der Widerspruch aufgelost.

Was wir also brauchen, ist eine Erweiterung des Motivkonstrukts von einer rein nichtformalen zu einer gemischt formal-nichtfomalen Modellierung. Dies ent­spricht im Prinzip dem oben als Variante 2 bezeichneten Vorgehen der "Objekti­vierung" von Motiven. 1m Unterschied zu dem dort vorgeschlagenen Vorgehen, wird jetzt aber eine Modifikation und nieht eine Neudefinition des Motivkon­strukts gefordert. Das impliziert, dass die Basiseigenschaften von Motiven als Beschreibungsmittel iiber eine gewisse Breite von unterschiedlichen Handlungen erhalten bleiben. Andemfalls wiirde dies Vorgehen einem Miinchhausentrick gleich kommen: Man mache den Modellierer Glauben, dass das Objekt A die Eigenschaft B hat und schon hat A die Eigenschaft B. Eine Erweiterung eines nichtformalen Konstrukts mit formalen Elementen muss deshalb "vorsichtig" und generalisierend erfolgen und darf sich nicht an singularen Situationen festmachen.

Wie kann solche eine Erweiterung nun in der Praxis erfolgen? Bezogen bei­spielsweise auf den Einfluss des Motivs Angst auf die Lenkaktivitat ware ein mogliches Vorgehen die Verkniipfung von physikalisch-dynamischen Faktoren mit dem Motivkonstrukt iiber Expertenurteile. Dazu miissen unterschiedliche Situationen erzeugt werden, in denen Fahrer mit unterschiedlichen Graden der Angst agieren. Von dem Fahrer selbst oder von einem Experten, der eine sehr genaue Vorstellung von dem Motiv Angst hat, werden dann Einschatzungen iiber die Starke oder anderen Indikatoren der Angst abgegeben. Wenn es gelingt, eine generelle Verbindung dieser Einschatzung zu physikalisch-dynamischen Faktoren zu finden und diese im Wissen der Experten zu verankem, ist die geforderte Aus­weitung des Motivkonstrukts gelungen.

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7.4 Grundregeln der forrnalen Modellbildung mit Beriicksichtigung von Motiven 113

Dieses Vorgehen entspricht in Vielem dem Vorgehen bei der Objektivierung subjektiver Urteile, beispielsweise iiber die Fahrbarkeit yom Fahrzeugen (Riedel u. Arbinger, 1997; Jiirgensohn et aI., 2000; KrUger u. Neukum, Kap. 15 in diesem Band). 1m Unterschied zu den dort vertretenen Zielen sind die Anforderungen an die Allgemeingiiltigkeit bei der Motiverweiterung aber wesentlich groBer. A.hnlich sind auch die Bestrebungen der Kognitionswissenschaften, durch Formalisierung kognitive Aspekte objektiv zu machen, einzuschatzen. Wie Wolf (1994) aufzeigt, entfemt sich die Kognitionswissenschaft allerdings dadurch von den nichtforma­len Grundlagen und erzeugt neue Konstrukte, die sich mehr und mehr von ihren Quellen entfemen.

Aus der Tatsache, dass eine Beriicksichtigung von Motiven in einer formalen Modellbildung nichts anderes ist als eine Interpretierbarmachung von Verhaltens­aspekten des formalen Modells als Abbildung nichtformaler V orstellungen iiber motivgesteuertes Verhalten, darf nicht geschlossen werden, dass sich in den for­malen Modellen nichts Neues ergeben kann (s. z.B. Domer, 1994). Da die dyna­mischen Aspekte des Gesamtmodells nicht nichtformal erfasst werden konnen, ist es durchaus moglich, dass sich in der dynamischen Simulation neue Aspekte erge­ben. Eine Ausweitung des nichtformalen Motivkonstrukts kann deshalb nicht nur iiber den oben beschriebenen experimentellen Weg, sondem auch iiber den mo­dellgestiitzten Weg moglich sein. Das wiirde bezogen auf unser Problem bei­spielsweise dadurch geschehen, dass sich in einer Simulation des modellierten VerhaItens bestimmte Verhaltensmuster bei bestimmten Motivkonstellationen ergeben, die nicht explizit programmiert wurde, sondem sich nur implizit ergeben.

Vorsicht ist allerdings geboten, wenn sich die neuen Konstrukte so verselbst­standigen, dass die Verbindung zu den nichtformalen Konstrukten verloren geht. 1m Gegensatz zu den Konstrukten der Kognition, die wesentlich enger an spezifi­sche Handlungen gebunden sind, kann es durchaus sein, dass bei einer zu starken Loslosung von der nichtformalen Konstrukten der eigentliche Sinn der Motive, ihre Allgemeingiiltigkeit, verloren geht. Erweiterung kann immer nur zwischen den "Stiitzstellen" der nur nichtformal-validen Wahrheit erfolgen.

Zusammenfassend kann also festgestellt werden: wenn wir Motive oder andere nichtformale Konstrukte in quantitativ-formalen Modellen abbilden, bewegen wir uns automatisch aus dem urspriinglichen nichtformalen Geltungsbereich hinaus und erzeugen modifizierte und erweiterte Konstrukte, die nur in ihrer Formalitat sinnvolle Elemente enthalten. Je mehr wir dies tun, desto mehr losen wir uns von den urspriinglichen Konstrukten und erzeugen dadurch neue.

7.4 Grundregeln der formalen Modellbildung mit Berucksichtigung von Motiven

In dem vorherigen Kapitel wurden ausgehend von einer Betrachtung des Motiv­konzepts aus modelltheoretischer Sicht einige Bedingungen fUr eine Beriicksichti­gung von Motiven in quantitativ-dynamischen Modellen zusammengestellt. We­sentlichstes Ergebnis war die Feststellung, dass sowohl die Modellbildung von

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114 7 Nichtfonnale Konstrukte in quantitativen Falrrennodellen

Motiven als auch ihre Validierung in fonnalen Modellen wegen des nichtfonnalen Charakters von Motiven ebenfalls nur nichtfonnal erfolgen kann. Eine bedeutende Folge davon ist, dass eine personeniibergreifende ObjektiviHit der Modelle wie in fonnalen Modellen nicht mogliche ist.

AIle im vorherigen Kapitel als Variante 3 bezeichnete Interpretationen von Strukturen, Parametem oder Variablen in Modellen dynamischen Verhaltens als Ausdruck motivationaler Einfliisse sind zwar fixiert, wegen ihrer semantischen Anbindung an ein nichtfonnales Konstrukt bleiben sie aber nichtfonnal und damit eng an den Modellbilder gekoppelt. Sie sind aber dennoch nicht vollig willkiirlich, da man von einem irgendwie gearteten Konsens zwischen den Modellbildem aus­gehen kann. Es wurde versucht, auf einer abstrakten Ebene, den minimalen Kon­sens zusammenzustellen. Daraus lassen sich nun einige grundlegende Regeln fUr die Beriicksichtigung von Motiven in fonnal-dynamischen Modellen zusammen­stellen:

1. Parametrischer Einfluss Der Motiveinfluss liegt immer eine Ebene hOher als die zeitveranderlichen Variab­len (Zustandsvariablen). In der fonnalen Umsetzung sind deshalb Motive immer durch Parameter einer bestimmten Verhaltensbeschreibung reprasentiert. Der parametrische Einfluss kann sehr unterschiedlich sein, von Parametem einer Be­wegungsbeschreibung iiber Entscheidungsschwellen bis hin zu strukturellen Pa­rametem. Die Parameter konnen selbst zeitveriinderlich sein. Auch eine Riick­kopplung der Zustandsvariablen auf Motivparameter ist moglich, allerdings nur, solange die Dynamik beider Ebenen klar unterscheidbar bleibt.

2. Starke Motive sind eindimensionale, mit einer Starke behaftete Parameter. In einer for­malen Modellierung bedeutet dies eine Abbildung auf eine MaJ3variable. Uhlich sind reelle positive Zahlen. In allen bekannten Ansatzen, in denen Motive in for­malen Modellen vorhanden sind, ist dies so realisiert (z.B. Wiedemann, 1974; Kageyama u. Pacejka, 1991; Bosser, 1987; Jiirgensohn et al. 1997; Domer, 1999; Innscher, 2001; Innscher, Kap. 8 in diesem Band). Neben reellen MaJ3variablen sind aber auch qualitative MaBe denkbar (winzig ... gigantisch) oder Fuzzy­MaJ3zahlen. Ob die Motivstiirke nur Werte in einem Intervall (z.B. aus [0,1]) ha­ben sollte oder nach oben offene, ist aus dem Motivkonstrukt nicht eindeutig ab­leitbar. Sinnvoll fUr eine Vergleichbarkeit erscheint eine prinzipielle Begrenzung.

3. Objektivierung und Validierung Prinzipiell sind Motive wie Eile oder Angst - weil Allgemeingut - auch ohne psychologische Spezialausbildung in fonnalen Dynamikmodellen abbildbar. Es wurden einige Beispiele fUr ein allgemeines Wissen urn den Einfluss von Angst auf Verhalten genannt. Eine Modellbildung kann aber nur dann "optimal" sein, wenn auch das nichtfonnale Basiswissen optimal ist. Je differenzierter die nicht­fonnalen Modellvorstellungen iiber motivationale (oder auch kognitive) Einfliisse auf das Fahrerverhalten sind, desto valider wird auch die Umsetzung in einem fonnalen Modell sein. Da die nichtfonnalen Modelle nur in den Kopfen der Mo­dellierer vorhanden sein konnen, bedeutet dies, dass eine Abbildung mentaler Einfliisse auf das Fahrerverhalten in fonnalen Modellen eine entsprechende Aus-

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7.4 Grundregeln der formalen Modellbildung mit Beriicksichtigung von Motiven 115

bildung der Modellierer benotigt. "Objektivierung" der Modelle bedeutet in die­sem Zusammenhang dann eine "Professionalisierung" in einem kommunikativen Austausch.

Die Schwierigkeiten mit einer Objektivierung durch Analyse von Expertenmei­nungen sind hinreichend bekannt (s. hierzu Dinse et aI., Kap. 17 in diesem Band; oder Giesa u. Timpe, 2000). Vielfach sind die Streuungen der Meinungen so groB, dass dann praktisch von einem "Nichtwissen" gesprochen werden muss. Von Modellbildern, die Erfahrungen allein in der physikalisch-technischen Modellbil­dung haben, wird dies oft als Nachteil einer nichtformalen Modellbildung ange­fiihrt. Dem sei entgegengehalten, dass die hohe Validitat der Modelle im physika­lisch-technischen Bereich nur dem (gliicklichen) Umstand zu verdanken sind, dass dort die formale mit der semantischen Validitat zusammenfallt. Wie in Kap. 7.1.1 schon bemerkt, erstreckt sich die Validitatspriifung eines formalen Modells allein iiber die Operationen des Formalismus und keineswegs iiber die dahinter liegende Semantik. Bei solchen Systemen wie dem Mensch, dem Verkehr oder der Gesell­schaft ist die Gleichsetzung einer formalen mit einer semantischen Validitat eben nicht zulassig. In dieser Hinsicht ist deshalb eine Objektivierung eines Modells, das nichtformalisierbare Anteile enthalt, der bestmogliche Weg.

4. Formale Ausweitung Eine formale Ausweitung von Motiven benotigt einerseits eine Einbeziehung physikalisch messbarer und damit personenunabhangiger Variablen und Indikato­ren fiir Motive bzw. Motivstarken und andererseits eine Integration dieser Indika­toren in die nichtformalisierbaren Anteile an den Motivkonstrukten. Formale und nichtformale Anteile miissen konsistent sein und dfufen sich nicht widersprechen.

Praktisch kann eine Ausweitung dadurch vollzogen werden, dass entweder in experimentellen Versuchen oder in (wiederum experimentell angesicherten) Simu­lationen ein systematischer Zusammenhang zwischen physikalisch validierbaren Indikatoren und den nur nichtformal einschatzbaren Motiven gefunden wird. Eine formale Ausweitung darf allerdings den Charakter der Breite von Motiven nicht zerstoren. Das bedeutet, dass die nur in eng begrenzten Handlungsdomanen ge­fundenen Korrespondenzen zwischen formalen und nichtformalen Elementen nicht als formale Ausweitung interpretiert werden darf. Sinnvoll ware beispiels­weise eine Korrespondenz zwischen Motiven und generellen Bewegungsparame­tern, eventuell auch noch eingeschriinkt auf die Fahrzeugfiihrung. Nicht sinnvoll ware dies, wenn man sich beispielsweise nur auf Uberholsituationen beschranken wiirde.

Weiterhin kann eine formale Ausweitung nur langsam iterativ erfolgen. Solan­ge das Konstrukt noch nichtformale Anteile enthiilt kann eine Veranderung nur iiber die Veranderung des Modellierers, das heiBt seinem Wissen, erfolgen. Die physikalisch-formalen Versuchsergebnissen werden dann jeweils mit einem Mo­tivkonstrukt in Korrespondenz gebracht, das schon formale Elemente enthalt.

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116 7 Nichtforrnale Konstrukte in quantitativen Fahrerrnodellen

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8 Modellierung von Individualitat und Motivation im Fahrerverhalten

Marita Irmscher

8.1 Einleitung

Die gegenwartig in der Fahrzeugentwicklung eingesetzten Fahrermodelle dienen meist als "virtuelle Fahrer" in Fahrdynamiksimulationen. Dabei wird der Fahrer als RegIer in einem Regelkreis Fahrer-Fahrzeug aufgefasst. "Menschlich" wird das Modell mitunter durch Einbeziehung von Wahmehmung und Motorik.

Mit dem verstarkten Aufkommen von Informations- und Unterstiitzungssyste­men im Fahrzeug gewinnen die bisher vergleichsweise wenig beachteten kogniti­yen und motivatorischen Verhaltensebenen des Fahrers an Bedeutung, denn die Forderung nach mehr Sicherheit und Komfort durch automatische Fahrhilfen fUhrt notwendig auf Fragen der Aufgabenteilung zwischen Fahrer und System, Fahrer­beanspruchung, Verhaltensanpassung sowie Akzeptanz. Fiir optimale Unterstiit­zung bei der Fahraufgabe sollte sich ein System adaptiv an einen bestimmten Fahrer und seinen augenblicklichen mentalen Zustand anpassen. Dies erfordert aber Vorgaben iiber Verhaltensmerkmale des Fahrers in unterschiedlichen Situati­onen, also ein Modell des individuellen Fahrerverhaltens als Systembestandteil. Wie im vorherigen Beitrag erlautert wurde, kann Individualitat im Verhalten durch Motive abgebildet werden.

Anders als die Sensomotorik ist motiviertes Verhalten nicht ohne wei teres rege­lungstechnisch zu formulieren. Stattdessen ist verstarkt der Riickgriff auf Erkennt­nisse der entsprechenden Grundlagenwissenschaften, d.h. der psychologischen Disziplinen angezeigt. Deren Theorien und Modelle liegen allerdings oft nicht in der fUr Entwicklungsingenieure wiinschenswerten Form von mathematischen Zusammenhangen oder ausftihrbaren Algorithmen vor. Fiir die praktische Anwen­dung humanwissenschaftlicher Erkenntnisse in einer Simulation von Fahrzeug und Fahrer oder als Bestandteil eines Assistenzsystems sind vorhandene Methoden daher zu evaluieren und gegebenenfalls neu zu formulieren.

Dies wird exemplarisch anhand der Einbeziehung von Motivationseinfliissen auf ein Modell des individuellen Fahrerverhaltens in einer typischen Verkehrssitu­ation gezeigt. Neben situativen Faktoren, die ein bestimmtes Grundmuster an Verhaltensweisen im Verkehr bedingen, werden innere Dispositionen bzw. Moti­vationszustande des Fahrers als Erklarung fUr individuelle Unterschiede im Ver­halten herangezogen.

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120 8 Modellierung von Individualitlit und Motivation im Fahrerverhalten

8.2 Individuelles Fahrerverhalten

Autofahrer sind im Vergleich zu anderen Maschinenbedienem eine sehr heteroge­ne Gruppe, da Autofahren Bestandteil vieler Lebensbereiche ist - von der Berufs­tiitigkeit iiber Freizeitaktivitiiten bis zur Liebhaberei. Neben dem reinen Beforde­rungszweck enthiilt das Fahren daher auch in starkem MaBe emotionale Kompo­nenten, die sich auf das Handeln des einzelnen Fahrers im Verkehr auswirken. Die Fahrweise einer Person wird daher nicht nur durch Verkehrsregeln und situative Erfordemisse (iiuBere Faktoren), sondem auch durch den jeweiligen Tiitigkeits­zweck und die augenblickliche Stimmung bestimmt (innere Faktoren). In der Person des Autofahrers sind auch weitere Unterschiede begriindet wie beispiels­weise Alter, Fahrerfahrung, fahrerisches Konnen oder die jeweilige Einstellung zum Fahren (Personlichkeitsfaktoren). Hier stellen sich sofort zwei Fragen:

• Welches sind die entscheidenden Faktoren, die das Fahrverhalten einer Person in einer bestimmten Verkehrssituation beeinflussen?

• In welchen Verhaltensweisen manifestieren sich individuelle Unterschiede?

Da die Beantwortung dieser Fragen in starkem MaBe fiir die Erforschung von Unfallursachen relevant ist, gibt es hierzu aus der Verkehrspsychologie eine Reihe experimenteller Untersuchungen und handlungstheoretischer Erkliirungsansiitze. Dabei zeigen sich enge Beziige zur Motivationspsychologie, die sich generell mit Ursachen menschlicher Handlungen (Motive), Zusammenhiingen zwischen Moti­yen und Handlung sowie interpersonellen Verhaltensunterschieden beschiiftigt. Die Erkenntnisse dieser Disziplinen iiber Motivationseinfliisse auf das Fahrerver­halten wird in den folgenden zwei Abschnitten etwas detaillierter dargestellt.

8.2.1 Einflussfaktoren auf das Fahrerverhalten

Bereits in den 70er Jahren wurden im Rahmen von Studien zur Verkehrssicherheit Einflussfaktoren auf Verhaltensunterschiede innerhalb einer untersuchten Fahrer­population identifiziert (Berger, et aI., 1974; Utzelmann, 1977). Niiiitanen u. Summala (1976) priigten den Begriff Extramotive fiir Verhaltenseinfliisse neben den "primiiren" Motiven des Transportzwecks und der Selbsterhaltung. Huguenin (1988) verwendet hierfiir die sog. Attitiiden, definiert als:

"iiberdauernde Organisation von kognitiven, motivationalen und emotio­nalen Anpassungsdispositionen, die auf gewisse Reizgegebenheiten ge­richtet sind"

Die AttitUde entspricht damit im wesentlichen dem motivationstheoretischen Ver­stiindnis von Motiven als:

,,Determinanten von Verhalten und Erleben, die sowohl in der Situation als auch im Organismus liegen konnen und dort als iiberdauernde Wer­tungs- oder Verhaltensdispositionen konzipiert werden"

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8.2 Individuelles Fahrerverhalten 121

Die Extramotive lassen sich entsprechend auch in eine Aufstellung fundamentaler Beweggriinde menschlichen Handelns der Motivationspsychologie - sog. Grundmotive - einordnen (Murray, 1938; McClelland, 1954), wie in der nachstehenden Tabelle 8.1 dargestellt.

Tabelle 8.1 Einflussfaktoren auf den Fahrer

Extramotive nach Einflussfaktoren auf das Fahrer- Grundmotive Naatanen u. Summala (1976) verhalten Utzelmann (1977) nach Murray (1938)

Risiko urn des Risikos willen Herausforderung durch Fahren

Leistung im Grenzbereich

Sicherheit und Entspannung durch ruhiges Fahren (Gleiten)

Geltungsdrang Konkurrenz und Rivalisieren Machtausubung

FahrspaB Vergnugen am gekonnten Fahren

Spiel. Unabhangigkeit (Pilotieren)

Selbstbestatigungsdrang Demonstration der Starke des

Selbstdarstellung eigenen Fahrzeugs

Aus dem heuristischen "Autofahrerwissen" kann diese Liste noch durch weitere Faktoren wie Eile, Angst, Frustration, Aggression und Bequemlichkeit ergiinzt werden, die ebenfalls Entsprechungen in den Grundmotiven haben.

Wegen dieser Ubereinstimmung bietet es sich daher an, zur Analyse und Be­schreibung der Auswirkungen individueller Dispositionen auf Fahrerhandlungen in einer Situation auf motivationspsychologische Grundlagen zuriickzugreifen.

8.2.2 Manifestation von MotivationseinflUssen im Fahrerverhalten

Fahrerverhalten bedeutet konkret zielgerichtetes Handeln im Verkehr, das die Ausfiihrung zumindest der unten aufgefiihrten Teilaufgaben erfordert:

Vorgabe und Uberpriifung eines Zieles (z.B. Wunschgeschwindigkeit), - Beobachtung, Wahmehmung der Umwelt und des Verkehrsgeschehens, - Erkennung und Interpretation einer Situation,

Entscheidung zwischen mehreren Handlungsoptionen hinsichtlich des Ziels, - motorische Handlungsausfiihrung (Betiitigung von Lenkrad, Gas und Bremse),

Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmem.

Diese Teilaufgaben lassen sich zusammenfassen als Wahrnehmung, mentale In­formationsverarbeitung und Motorik. Nach Huguenin (1988) beeinflussen Attitii­den den Informationsverarbeitungsprozess, die Entscheidungskriterien in einer Situation sowie die Sensomotorik der Fahrzeugfiihrung, also die vorher genannten Handlungselemente. Ausgehend von der Definition von Motivation als "einer Kraft, die Ziele generiert und Verhalten initiiert und moderiert" (Madsen, 1974) ist aber auch eine Gliederung der Handlung in Zielsetzung, Handlungsinitiierung (also Entscheidungsprozesse, die schlieBlich zu einer Handlung fiihren) und Hand-

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122 8 Modellierung von Individualitat und Motivation im Fahrerverhalten

lungsmoderierung (Art und Intensitat der Handlungsausfiihrung) sinnvoll. Motiva­tionseinfliisse konnen dann unter Einbeziehung vorhandener Erkenntnisse iiber Teilhandlungen des Fahrerverhaltens fiir jedes einzelne Handlungselement be­schrieben werden.

Fiir eine Nachbildung des motivierten Fahrerverhaltens in einer Computersimu­lation wird es erforderlich, quantitative Zusammenhange zwischen Motivations­einfliissen und VerhaltensauBerungen zu formulieren. Diesem auBerst problemati­schen Bereich, namlich einer quantitativen Modellierung des motivgesteuerten menschlichen Verhaltens widmet sich die Arbeitsgruppe urn Dorner mit einem theoriegeleiteten und gleichzeitig pragmatischen Ansatz.

8.2.3 Motiviertes Handeln - das PSI-Modell der Handlungsregulation

Mit der PSI-Theorie der Handlungsregulation (Schaub, 1993; Dorner, 1998) wird ein Modell des menschlichen Handeln und interner psychischer Phlinomene aus psychologischem Grundlagenwissen zu Kognition und Motivation synthetisiert. Ausgangsbasis sind Erfordernisse an Organisation und Regulation der Aktivitaten eines autonomen Systems, das mit seiner Umgebung in stofflichem und informati­onellem Austausch steht und sich an wechselnde auBere Umstande anpassen solI. Anhand von wahrgenommenen inneren und Umgebungszustanden werden situati­onsangemessene, moglicherweise konkurrierende Ziele und Absichten erzeugt. Zur Auswahl einer handlungsleitenden Absicht dienen Kriterien wie diese:

• Motivstarke = Funktion von Sollwertabweichung und Dauer der Sollwertab­weichung

• Auswahldruck = Funktion von Kompetenz, Motivstlirke, Dringlichkeit und Termindruck

Es handelt sich also urn ein parametrisches Modell, in welchem unter Anderem Motive als Parameter auf das Verhalten des Systems einwirken. Der Parameterein­fluss wird groBtenteils heuristisch unter Riickgriff auf psychologische Grundlagen wie das Erwartung-mal-Wert-Prinzip formuliert. Die Theorie und damit die Mo­dellannahmen werden anhand von Computersimulationen des Modells iiberpriift und interpretiert. Dazu muss die Theorie exakt, formalisierbar und konsistent sein, damit eine Implementation als Computerprogramm iiberhaupt moglich ist.

Ein solches Modell ist fiir die Simulation eines individuell handelnden Fahrers in einer Verkehrsurngebung sehr erstrebenswert. Der Modellierer steht dann aber vor dem Problem, entsprechende Funktionen zwischen Motivation und Handlung aufzustellen. Auswege aus dieser Schwierigkeit bieten lernende Verfahren wie kiinstliche neuronale Netze, aber auch Fuzzy-Methoden mit ihrem Ansatz der natiirlichsprachlichen Beschreibung des Systemverhaltens in unscharfen Regeln. Gegeniiber neuronalen Netzen bieten Fuzzy-Methoden den Vorteil, dass vorhan­denes System- und Prozesswissen bei der Aufstellung des Modells verwendet werden kann.

Page 133: Kraftfahrzeugführung ||

8.3 Fuzzy-Modellierung 123

8.3 Fuzzy-Modellierung

Fuzzy-Methoden wurden in der kiinstlichen Intelligenz vor allem zur Beschrei­bung von Vagheit, Imprazision und Unsicherheit des menschlichen Wissens und Handelns aufgegriffen. Sowohl das Entscheidungsverhalten des Fahrers in einer Verkehrssituation als auch die motorischen Fahrerhandlungen sind durch unschar­fe Regelbasen beschreibbar (Fuzzy Decision Making bzw. Fuzzy Control).

Prinzipiell konnen Fuzzy Control und Fuzzy Decision Making durch ein einheitliches Ablaufschema dargestellt werden, wie in Abb. 8.1 gezeigt.

Mess­grossen

Fuzzy-Entscheider I Fuzzyregler

Inferenzma.schine

Entscheidungslogik

Stell­grossen

Defunifikation ~-+--

Abb. 8.1 Ablaufschema von Fuzzy Control und Fuzzy Decision Making

Der erste Schritt besteht darin, scharfe Eingangswerte anhand von Zugehorigkeits­funktionen den Termen linguistischer Variablen zuzuordnen (Fuzzifizierung). Beispielsweise werden fiir die linguistische Variable Fahrzeugabstand Terme wie "weit", "nah", "knapp" etc. eingefiihrt. Die vom Modellierer festgelegten Zugeho­rigkeitsfunktionen beschreiben dabei, in welchem MaB ein Eingangswert einem Term einer linguistischen Variablen entspricht.

Die linguistischen Variablen fiir Eingang und Ausgang werden durch eine Re­gelbasis miteinander verkniipft, die eine Anzahl von Regeln enthalt wie beispiels­weise:

WENN Fahrzeugabstand knapp UND Relativgeschwindigkeit positiv groB DANN Bremse sehr groB

Die einzelnen Regeln werden in der Inferenzmaschine (Entscheidungslogik) aus­gewertet und anschlieBend zusammengefasst. 1m Faile von Fuzzy Decision Ma­king bedeutet dies, dass jede Handlungsaltemative durch Attribute in Form lingu­istischer Variablen beschrieben ist, denen Nutzwertfunktionen zugeschrieben werden. Diese werden dann durch die Entscheidungslogik zu einem Gesamtnutzen verrechnet. Mit der Defuzzifizierung wird schlieBlich aus den ausgewerteten und zusammengefassten Regeln ein resultierender scharfer Ausgangswert errechnet. 1m Faile des Fuzzy Decision Making ist im allgemeinen eine einfache Ordnung der einzelnen Entscheidungsaltemativen nach Giitewert ausreichend.

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124 8 Modellierung von Individualitat und Motivation im Fahrerverhalten

Die dargestellten Erkenntnisse der Motivationstheorie und der Verkehrspsycho­logie werden in einem Fuzzy-Modell des Fahrerverhaltens abgebildet, wie im Folgenden beschrieben.

8.4 Ein Modell des individuellen Fahrerverhaltens

Das Fahrermodell ist als Teil einer Mikroverkehrssimulation konzipiert, in der es sich zusammen mit anderen Verkehrsteilnehmem in einer virtuellen Simulations­umgebung autonom bewegt. Verkehrssituationen ergeben sich dabei vor allem aus dem Zusammenspiel der betrachteten Fahrer-Fahrzeug-Einheiten. Die maBgebli­chen GroBen darur sind deren Abstand und Geschwindigkeit relativ zum eigenen Fahrzeug, die Eigengeschwindigkeit sowie die Einschatzung der beobachteten Konstellation durch den Fahrer. Die untersuchte Verkehrssituation ist eine typi­sche Oberholsituation auf einer zweispurigen Autobahn. Einflusse des individuel­len Verhaltens lassen sich hier besonders gut studieren.

r----------------------------------------j I I I I

: ~ouvo6on :

AusfUhrung

RegeJbosis: Situationswissen. Verhaltensmodelle. Motorprogramme

~----------------------------------- ______ I

Absriinde. Geschwindigkeiten •...

L~r~~ Fahrzeug­modell

Gas. Bremse. Lenkwinkel

Abb. 8.2 Modellstruktur der Mikroverkehrssimulation mit einem Fahrermodell individuel­len Verhaltens.

Das Fahrerverhalten wird dabei - wie in der kognitiven Modellierung und auch in der Verkehrspsychologie ublich - in die Handlungselemente Sensorik, Kognition (Situationserkennung und Entscheidungsfindung) und Motorik gegliedert. Motiva-

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8.4 Ein Modell des individuellen Fahrerverhaltens 125

tion wirkt sich auf die Zielsetzung, die kognitiven Prozesse sowie die Motorik aus. Exemplarisch wurden zwei Einflussfaktoren, niimlich Risikobereitschaft und Eile beriicksichtigt. Damit ist se1bstverstiindlich nicht das gesamte Spektrum individu­eller Unterschiede von Autofahrem erfasst, aber es lassen sich so schon sehr deut­lich individuelle Unterschiede in der Fahrweise nachbilden.

Die Aspekte der Unschiirfe in der Sensorik des Fahrers und Ungenauigkeiten in der menschlichen Wahmehmung wird durch die Fuzzifizierung der exakt berech­neten Fahrzeugdaten modelliert.

Die gezeigte Uberholsituation wird als Entscheidungsproblem aufgefasst und durch Fuzzy Decision Making beschrieben. Die anschlieBende motorische Ausf'iih­rung der gewiihhen Aktion wird durch quasi automatisch ablaufende Handlungs­sequenzen, sog. generalisierte Motorprogramme (Schmidt, 1986) mit anschlieBen­der Regelung durch Fuzzy Control modelliert. Diese Motorprogramme sind zu­sammen mit Verkehrsregeln und Situationswissen in einer Wissensbasis gespei­chert.

Individualitiit wird in dem vorgestellten Modell in Form von Motiven bzw. Mo­tivationsfaktoren fUr Eile und Risikobereitschaft in der Entscheidungsfindung beriicksichtigt. 1m folgenden Abschnitt wird dies detailliert dargestellt.

8.4.1 Der Entscheidungsprozess

Entscheidungen sind dadurch gekennzeichnet, dass in einem bestimmten Kontext mehrere Handlungsahemativen existieren. Der durch die aktuelle Situation und die Fahrermotivation gesteuerte Entscheidungsprozess ist in der folgenden Abb. 8.3 dargestellt.

personliche Einschatzung und Erwartungen

Motive

~ ZustandsgroBen

Entscheidung Oberholen I Foigen

Geschwindigkeit, Position des eigenen Fahrzeugs

und der Fremdfahrzeuge

Motive

Foigen -----'---- Oberholen

Entscheidung Gasgeben I Bremsen

Entscheidung Spurwechsel I Spurhaltung

Abb. 8.3 Uberholverhalten als mehrstufiger Entscheidungsprozess

Die iibergeordnete Entscheidung ist die zwischen Uberholen und Folgen. Als nachgeordnete Entscheidung ist dann der Zeitpunkt des Uberholbeginns zu wiih-

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126 8 Modellierung von Individualitat und Motivation im Fahrerverhalten

len, der hier mit dem Spurwechsel gleichgesetzt wird. Der Spurwechsel wird durch ein parametrisches Lenkman6ver modelliert, das gegebenenfalls noch nach­geregelt werden kann. Solange nicht uberholt wird, wird die Spur gehalten, was ebenfalls eine Regelung erfordert. Entscheidet sich der Fahrer, nicht zu uberholen und dem Vorderfahrzeug zu folgen, so reguliert er Geschwindigkeit und Abstand durch Gas und Bremse. Das ist hier ebenfalls als Entscheidung zwischen Gas und Bremspedal und anschlieBender Regelung modelliert.

Dabei Hisst sich die Uberholentscheidung als Handlungsausrichtung interpretie­ren, entsprechend die Spurwechselentscheidung als Handlungsinitiierung und die AusfUhrung des Folgens und des Lenkens als Handlungsmoderierung. GemaB der Definition von Motivation sind dies die Elemente der Handlung, in denen Motiva­tion sich auswirkt.

Die einzelnen Handlungsaltemativen einer Entscheidung unterscheiden sich durch ihre Merkmale oder Attribute voneinander. Aus der Bewertung der Attribu­te hinsichtlich ihres Nutzen fUr den Handelnden lasst sich dann die Entscheidung ableiten. Den drei Entscheidungen gemaB Abb. 8.3 werden heuristisch die folgen­den Attribute zugeordnet:

Tabelle 8.2 Handlungsaltemativen und Attribute des Fuzzy-Modells

Oberhoien/Foigen

TF: maximal tolerierte Fol­gezeit

FVL: Annaherung an langsa­meres Fahrzeug vorn

FVR: Annaherung an langsa­meres Fahrzeug rechts

GO: akzeptierte Geschwin­digkeitsUberschreitung beim Oberholen

SPR: Position des eigenen Fahrzeugs (rechte Spur)

FzgV: Fahrzeug vorn vor­handen

Spurwechsel/Spurhaltung

AV/AH: Fahrzeug vorn/hinten schert aus

SV/SH: Sicherheitsintervall vorn/hinten

FHS: Annaherung eines Fahrzeugs auf der Zielspur

FVL: Auf der rechten Spur vorn befindet sich ein (wei­teres) Fahrzeug

SPR: Position des eigenen Fahrzeugs (rechte Spur)

QS: querstabile Lage des eigenen Fahrzeugs

LH: Lichthupe von Fahrzeug F4

BL: Vorderfahrzeug hat Blinker gesetzt

Bremsen/Gasgeben

AG: Auffahrgefahr Vorder­fahrzeug

SV: Sicherheitsintervall vorn

G: eigene Geschwindigkeit

A: eigene Beschleunigung

Fur jedes Attribut der Handlungsaltemativen wird eine Nutzwertfunktion defi­niert, die beim Fuzzy Decision Making durch Fuzzy-Mengen dargestellt werden, wie in der folgenden Abb. 8.4 gezeigt.

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8.4 Ein Modell des individuellen Fahrerverhaltens 127

Langsameres Fahrzeug vorn: FVL

al bl TIC Max. Folgezeit iiberschritten :

~ TF

a3 b3 tFolgen

Langsameres Fahrzeug rechts: FVR

a2 b2 TIC Geschwindigkeit beim Oberholen :

~ GO

a4 b4 vTacho

Abb. 8.4 Nutzwertfunktionen fUr die Attribute der Spurwechselentscheidung

Die verwendeten Nutzwertfunktionen lassen sich folgendermaJ3en interpretieren: Das Attribut Anniiherung an ein langsameres Fahrzeug vorn (FVL) ist desto mehr erfiillt, je kleiner die TTC (Kollisionszeit) zum Vorderfahrzeug ist. Der Nutzen, ein solches Fahrzeug zu iiberholen, ist sehr groB. Ab einer bestimmten Kollisions­zeit al sinkt dieser Nutzen, urn schlieBlich bei einem nicht mehr wahrgenomme­nen Geschwindigkeitsunterschied (ausgedrUckt durch einen groBen Wert b 1 rur die TTC) ganz zu verschwinden. In gleicher Weise wird das Merkmal der Anniihe­rung an ein langsameres Fahrzeug vorn (FVR) beschrieben. Es beeinflusst die Entscheidung, ob nach einem bereits erfolgten Uberholvorgang noch weiter iiber­holt werden solI.

Der Nutzen des Uberholens ist erst nach Uberschreitung einer tolerierten Fol­gezeit a3 von Null verschieden (TF), bei noch langeren Folgezeiten steigt der Nutzwert dann bis zur maximal tolerierten Folgezeit b3 an und bleibt dann auf diesem Niveau.

Fiir den Uberholvorgang werden kurzzeitig hOhere Geschwindigkeiten akzep­tiert, als es der eigenen Wunschgeschwindigkeit entspricht oder die Verkehrsre­geln verlangen (GO). Urn Uberholvorgange mit iiberhOhter Geschwindigkeit oder sehr geringer Geschwindigkeitsdifferenz zum iiberholten Fahrzeug zu verhindern, wird der Nutzen eines Uberholvorganges mit sehr hoher Geschwindigkeit klein angesetzt.

Urn individuelle Unterschiede bei der Entscheidung zum Uberholen und zum Spurwechsel abzubilden, wurden die Parameter der Nutzwertfunktionen ai und hi

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128 8 Modellierung von Individualitat und Motivation im Fahrerverhalten

in Abhangigkeit von Motivationsfaktoren vorgegeben. Akzeptierte Abstande zu einem Vorderfahrzeug flir die Kriterien FVL und FVR wurden Rekersbrink (1994) entnommen. Fiir die tolerierte Folgezeit TF sowie die akzeptierte Uberholge­schwindigkeit GO wurden entsprechende Parameter aus eigenen Fahrversuchen zur Uberpriifung des Modells abgeleitet (Tabelle 8.3).

Tabelle 8.3 Parameter der Nutzwertfunktionen

FVU FYR TTCknapp TTClang

TF (1,1- eile) . lOs (1,1 - eile) . 20 s

GO vwunsch (1,1 + 0,2 . eile) vwunsch

Die Einzelnutzwerte werden nun in Form sprachlich formulierter Regeln zu Ge­samtnutzwerten der jeweiligen Alternative verkniipft. Ein Beispiel flir eine solche heuristische Regel formuliert in natiirlicher Sprache ist die folgende Aussage:

WENN UND

UND DANN

sich das eigene Fahrzeug auf der rechten Spur befindet, die Geschwindigkeit des Vorderfahrzeug kleiner ist als die eige­ne Wunschgeschwindigkeit ist, die tolerierte Folgezeit iiberschritten ist, soll iiberholt werden.

Diese Regellasst sich durch Verkniipfung der in Tabelle 8.2 angegebenen Merk­male einer Handlungsalternative in folgender Weise formalisieren:

SPR y FVL Y TF ¢ (j

Dabei wurde anstelle der Verkniipfung durch UND bzw. ODER der parametrische y-Operator verwendet, der auf einen Wert zwischen der optimistischen (risiko­freudigen) ODER-Verkniipfung und der pessimistischen (defensiven) UND­Verkniipfung eingestellt werden kann. Die Parameterwahl folgt der Vorgabe flir die Risikobereitschaft (Truskawa, 1999).

In Tabelle 8.4 sind die flir die Oberholentscheidung relevanten Regeln zusam­mengestellt (bedeutet die Negation des Merkmals). Die einzelnen Spalten sind durch den y-Operator verkniipft. In der Spalte 0 ist die Alternative angegeben, flir welche die berechneten Gesamtnutzwerte gelten.

Tabelle 8.4 Entscheidungsregeln fur die Uberholentscheidung

TF FYL FYR GO SPR FzgY 0

x x Uberholen

x x x Uberholen

x x x weiter Uberholen

nicht Uberholen

Page 139: Kraftfahrzeugführung ||

8.4 Ein Modell des individuellen Fahrerverhaltens 129

Bei der Inferenzbildung werden die ermittelten Gesamtnutzen einer Handlungsal­ternative durch Maximumbildung defuzzifiziert. Falls es ein eindeutiges Maxi­mum oberhalb eines vorgegebenen Schwellenwertes von 0,5 gibt, wird die zuge­hOrige Handlungsalternative gewahlt. Wird keine Alternative mit einem hinrei­chend groBen Nutzen bewertet, so wird als Default-Handlung Nicht-Uberholen ausgefiihrt. Das bedeutet fiir ein Fahrzeug auf der rechten Spur Folgen, also eine Rege1ung des Fahrzeugabstandes, fUr ein Fahrzeug auf der linken Spur einen Spurwechsel nach rechts.

Der Entscheidung fUr eine der moglichen Handlungsalternativen folgt deren motorische Ausfiihrung. Dies beinhaltet sowohl die Langs- als auch die Querfiih­rung des Fahrzeuges. Die stabile Querfiihrung des Fahrzeugs ist fUr Simulations­rechnungen eine unverzichtbare Voraussetzung. Zudem ist die realitatsnahe Simu­lation der Fahrzeugbewegung ein Qualitatsmerkmal in einer Fahrsimulation und wurde daher eingehend untersucht.

8.4.2 Motorische AusfOhrung des Spurwechsels

Theoretische Grundlage fiir die Beschreibung der Lenkbewegung beim Spurwech­sel sind wie bereits erwahnt die generalisierten Motorprogramme von Schmidt (1985, 1986). Diese Theorie besagt im wesentlichen, dass fUr hochtrainierte Be­wegungsabfolgen Prototypen oder "ausfiihrbare Programme" in Form von zeitli­chen Mustern in Zeit und Kraftverteilung existieren, die stiickweise aus Einzelbe­wegungen aufgebaut sind. Durch freie Parameter wie Gesamtdauer, Kraft, Weite (Amplitude) und Genauigkeit der Bewegung konnen diese Bewegungsmuster an aktuelle Anforderungen angepasst werden.

Aber auch hochtrainierte Bewegungen konnen nicht beliebig genau ausgefiihrt werden, unter anderem, weil die Parameter eines vorhandenen Motorprogramms nicht hinreichend genau verfiigbar sind. Es werden daher im Verlauf einer Hand­lungssequenz zusatzliche Korrekturen notwendig. Dies geschieht, indem das Er­gebnis der Handlung iiberpriift und gegen Ende zunehmend geregelt wird. Der beobachtete Handlungsablauf weicht daher von dem urspriinglichen Motorpro­grammab.

Ergebnisse eigener Fahrversuche zum Lenkverhalten bei Spurwechseln zeigten denn auch die erwarteten invarianten Lenkmuster, iiberlagert durch zusatzliche Korrekturbewegungen. Diese Lenkmuster sind individualtypisch und variieren zudem mit der Risikobereitschaft. (siehe auch Irmscher, 2001; Jiirgensohn, 1996; Jiirgensohn, et aI., 1997 sowie KrUger u. Neukum, Kap. IS). In Abb. 8.5 ist ein idealisiertes Motorprogramm fUr den Lenkwinkel eines zeitoptimalen Spurwech­sels gezeigt, im Vergleich dazu gemessene Lenkwinkel bei Spurwechseln auf der Autobahn.

Die Lenkbewegung wurde entsprechend durch die folgenden Ansatze model­liert und implementiert:

• Vorgabe eines naherungsweise optimal parametrisierten Lenkmanovers fUr den Spurwechsel ohne Beriicksichtigung individueller Unterschiede.

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130 8 Modellierung von Individualitat und Motivation im Fahrerverhalten

• Fuzzy Control zur Ausregelung abgeschiitzter Quer- und Gierwinkelabwei­chungen. Hier werden kleine Ausgleichsmanover ausgefiihrt, was zu kleinen Stufen und Wellen in dem beobachteten Manover fiihrt, wie sie in der Realitiit auch beobachtet werden.

~ c

] c OJ

....J

0.00 1.00 2.00 3.00 4.00

Zeit [5]

Abb. 8.5 Typische Lenkwinkelverlaufe fur Spurwechse1 bei etwa 100km/h auf der Auto­bahn im Vergleich zu einem idealisierten Lenkprogramm.

8.5 Simulationsergebnisse

Zur Verdeutlichung der Motivationseinfliisse auf das Verkehrsverhalten eines Fahrers in der simulierten Oberholsituation wurde der zeitliche Verlauf einer Ver­kehrssituation in Abhiingigkeit von unterschiedlichen Einstellungen fiir Eile und Risikobereitschaft simuliert. Zur Darstellung wurde hier eine Folge von "Schnapp­schiissen" besonders markanter Zeitpunkte im Simulationsverlauf gewiihlt. Abbil­dung 8.6 gibt die berechnete Verkehrssituation fiir einen Fahrer E (wie EGO) ohne Eile und mit geringer Risikobereitschaft fiir ausgewiihlte Zeitpunkte wieder.

Page 141: Kraftfahrzeugführung ||

8.5 Simulationsergebnisse 131

~4~-------------------------___ E ____ ~ ____ L-t l ~ - ____ _ If.

---------------~~----------------~~--------~==~

E "==--

_E ____________ +-____________________ ~4~-

t3~

Abb. 8.6 Simulierte Verkehrskonstellationen ftir eine typische Uberholsituation mit einem Fahrer (E) ohne Eile und niedriger Risikobereitschaft.

Zum Zeitpunkt t1 befindet sich EGO hinter einem langsameren Fahrzeug 1. Als nach einer gewissen Folgezeit die Uberholschwelle iiberschritten wird, hat sich auf der Uberholspur das schnellere Fahrzeug 4 genahert (t2). EGO rallt zurUck, lasst Fahrzeug 4 passieren und iiberholt erst danach (t3).

Anders verlauft die Situation bei gleicher Ausgangslage, aber hoher Risikobe­reitschaft. Aufgrund der etwas hoheren risikoabhangigen Wunschgeschwindigkeit entschlieBt sich EGO zum Zeitpunkt t2 zum Uberholen und rahrt mit Wunschge­schwindigkeit weiter. Dadurch nahert sich Fahrzeug F4 bis auf einen sehr gerin­gen Abstand an (t3 und t4). EGO bleibt bei der Wunschgeschwindigkeit und wechselt nach Beendigung des Uberholmanovers zum Zeitpunkt t5 wieder auf die rechte Spur (Abb. 8.7) .

.. ----------------- E --~i~'.---LI -t l ----.. - _ - _

I

E t 5 ----. - ---

Abb. 8.7 Simulierte Verkehrskonstellationen fur eine typische Dberholsituation mit einem Fahrer (E) ohne Eile und mit hoher Risikobereitschaft.

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132 8 Modellierung von Individualitat und Motivation im Fahrerverhalten

Als dritte Variante wurde ein eiliger und risikofreudiger Fahrer betrachtet (Abb. 8.8). Bis zum Zeitpunkt t4 ist hier kein Unterschied zum vorherigen Fahrer­typ zu sehen. Zum Zeitpunkt t5 entschlieBt sich der eilige Fahrer allerdings nicht zu einem Spurwechsel auf die rechte Spur, sondem beschleunigt auf der Uberhol­spur, urn im Sinne einer maximalen zukiinftigen Handlungsfreiheit moglichst schnell den niichsten Uberholvorgang anschlieBen zu konnen.

~4~----------------------------- E ----~----~I -t l ----.. - - _ _ _ _ _ to. _ I

-4------------------------- E--------------t s ----.. --

Abb. 8.8 Simulierte Verkehrskonstellationen fur eine typische Uberholsituation mit einem Fahrer (E) mit hoher Eile und mit hoher Risikobereitschaft.

Als Ergebnis der Simulation werden schon bei nur zwei variierten Motiven sehr unterschiedliche Entwicklungen einer Verkehrssituation infolge eines veriinderten Fahrerverhaltens erkennbar. Die Ergebnisse sind plausibel und nachvollziehbar. Damit ist dieser Ansatz eine sehr okonomische Moglichkeit, durch die Vorgabe von Parametem tiber Fahrereigenschaften Individualitiit im Fahrerverhalten bei Simulationen des Systems Fahrer-Fahrzeug zu beriicksichtigen.

8.6 Zusammenfassung

Individuelles Fahrerverhalten wurde durch zwei Motive, niimlich Eile und Risiko­bereitschaft, formal beschrieben und als Fahrermodell in einem Berechnungspro­gramm fur eine Mikroverkehrssimulation implementiert. Dafur wurden technische und psychologische Ansiitze der Fahrermodellierung zusammengefUhrt. Eine Leit­idee war dabei die PSI-Theorie der Handlungsregulation von Domer, da auch hier psychologische Theorien des individuellen motivierten Verhaltens fUr eine Um­setzung in eine Computersimulation formuliert wurden.

Als Anwendungen ftir die Verkehrssimulation mit individuell handelnden Fah­rermodellen sind insbesondere Simulationen in den Gebieten der Unfallforschung

Page 143: Kraftfahrzeugführung ||

Literatur 133

oder fiir die Untersuchung von Fahrerassistenzsystemen in einem Verkehrszu­sammenhang denkbar, in denen individuelle Eigenschaften des Fahrers eine be­sondere Rolle spie1en. Hier konnte auch die Definition und Vorgabe von "intelli­gentem" Fremdverkehr besonders interessant sein.

Literatur

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Domer, D. (1998). Ein Bauplanfor eine Seele. Reinbek: Rowohlt Huguenin, R.D. (1988). Fahrerverhalten im StrafJenverkehr. Braunschweig: Rot-Ge1b­

Griin Irmscher, M. (2001). Modellierung und Simulation von Motivationseinflussen atif das

Fahrerverhalten, (VDI Fortschrittberichte, ZMMS Spektrum Bd. 12) Dusseldorf: VDI-Verlag

Jiirgensohn, T. (1997). Hybride Fahrermodelle, (ZMMS-Spektrum Bd. 5), Sinzheim: pro universitate

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Utze1mann, H.D. (1977). Merkma1e des Fahrerverha1tens und ihre Zuordnung zu motivati­ona1en Bedingungen. Symposium uber Sicherheit im StrafJenverkehr, 127-136

Page 144: Kraftfahrzeugführung ||

Teilill

Multimodale Interaktion

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9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme

Suat Akyol, Lars Libuda und Karl-Friedrich Kraiss

9.1 Einleitung

Mit der Entwicklung modemer Bordsysteme ist auch im Kraftfahrzeug der Bedarf an benutzergerechten Schnittstellen gewachsen. Neue Hilfsmittel, wie etwa das Navigationssystem, machen zunehmend Gebrauch von multimedialen Ausgabe­techniken, wahrend die Eingabe des Benutzers noch mittels mechanischer Bedien­elemente erfolgt. Wegen der steigenden Funktionalitat solcher Bordsysteme und der damit verbundenen hohen Anzahl von Bedienelementen, wird die Bedienung des Bordsystems komplizierter.

Fahrer

multimediale Anzeigen

multimodale Eingaben

Inter- Kfz pretation I----~ Dialog­Eingaben systeme

Abb. 9.1 Generelle Architektur multimodal-adaptiver Benutzungsschnitlstellen im Kfz

Zusatzlich wird der Benutzer wahrend der Fahrt durch konkurrierende Zugriffe auf die gleichen Ressourcen von seiner Hauptaufgabe abgelenkt. Seine Hiinde miissen gleichzeitig das Fahrzeug lenken und Bordsysteme bedienen. Hierzu ist eine Blickabwendung vom Verkehrsgeschehen erforderlich. Einen Ansatz zur Vermeidung der genannten Probleme bieten multimodal-adaptive Benutzungs­schnittstellen. Eine generelle Architektur daf'iir zeigt Abb. 9.1, auf die im Ab­schnitt 9.3 noch ausf'iihrlich eingegangen wird.

Die Verwendung mehrerer Modalitaten, wie z.B. Sprache und Gestik, kann die Bedienung komplexer Systeme intuitiver gestalten. Ebenso ist eine hOhere Bedie-

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138 9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme

nungseffizienz zu erwarten, weil unabhiingige Ressourcen zum Einsatz kommen. Durch die Adaptation der Systemfunktionen und der Informationsdarstellung an den Nutzungskontext solI zudem die Arbeitslast verringert und ein aufmerksames Fahren ermoglicht werden. Dieser Beitrag beginnt mit einer allgemeinen Einfiihrung in multimodale und adaptive interaktive Systeme. AnschlieBend wird eine elektronische Bedienanlei­tung fiir das Kfz vorgestellt. Diese Anwendung stellt multimodale Eingaben zur Verfiigung und bietet bei der Behandlung der Fehler des Spracherkenners auch adaptive Elemente. AbschlieBend wird uber empirische Erfahrungen mit diesem System berichtet.

9.2 MultimodaliUit und Adaptivitat in MMI

Dieses Kapitel stellt die Thematik der Multimodalitiit und Adaptivitiit in der Mensch-Maschine Interaktion mit Schwerpunkt auf Fahrzeugflihrung dar. Zu beiden Themengebieten werden auch allgemeine Beispiele priisentiert.

9.2.1 Multimodale Bedieneingabe

Die Hauptaufgabe eines Kfz-Benutzers ist das Fahren. Sie erfordert eine moglichst ununterbrochene visuelle Aufmerksamkeit und beansprucht die Hiinde zur Len­kung des Fahrzeugs. Gleichzeitig sind wiihrend des Fahrbetriebs oft Nebenaufga­ben zu erfiillen, wie etwa die Bedienung von Radio und Klimakontrolle. In der Regel mussen auch diese mit den Hiinden und mit kurzen Kontrollblicken bearbei­tet werden. Das kann zu Konflikten fiihren, weil die LeistungsHihigkeit einzelner Ressourcen begrenzt ist.

Das Verhalten des Benutzers bei Mehrfachanforderungen wird im allgemeinen als POC-Kurve dargestellt. Abbildung 9.2 zeigt eine POC-Kurve flir den Fall von zwei gleichzeitig zu bearbeitenden Aufgaben, die jeweils flir sich genommen zu 100% erfiillbar sind. Es sind drei qualitativ unterschiedliche Fiille eingezeichnet. Die FaIle (a) und (b) ergeben sich bei Zugriff auf abhiingige Ressourcen. Der Einsatz von Kapazitiiten flir die eine Aufgabe flihrt dabei zu einer Reduktion der Leistungsfahigkeit bei der anderen. 1m Gegensatz zu (a) deutet (b) auf ein Time­sharing von Ressourcen oder auf teilweise unabhiingige Ressourcen hin und damit auf eine effizientere zeitgleiche Bearbeitung beider Aufgaben. (c) steht flir opti­males Timesharing oder unabhiingige Ressourcen.

Aus dieser Betrachtung wird klar, dass eine effizientere Bearbeitung multipler Aufgaben nur durch die Steigerung der Timesharingfahigkeit oder durch die Ver­wendung unabhiingiger Ressourcen ermoglicht wird. Dies bestiitigt auch die Theo­rie der multiplen Ressourcen von Wickens [29], der zufolge der Mensch verschie­dene unabhiingige Ressourcen besitzt, mit denen er diese Effizienzsteigerung erreichen kann. Fur den Informationsaustausch unterscheidet Wickens zwischen sensorischen und effektorischen Ressourcen, die wiederum nach Modalitiiten

Page 147: Kraftfahrzeugführung ||

9.2 Multimodalitat und Adaptivitat in MMI 139

aufgeteilt sind (Abb. 9.3). Demnach besteht eine intermoda1e Unabhangigkeit, durch die simultanes Sprechen und Gestiku1ieren oder auch Horen und Sehen ohne LeistungseinbuBen mog1ich ist. Ebenso ist eine gewisse Unabhangigkeit zwischen der sensorischen und der effektorischen Verarbeitung zu beobachten. So wird z.B. die Seh1eistung nicht durch zeitg1eiches Sprechen vermindert. Dies gilt vor allem dann, wenn keine menta1en Ressourcen gemeinsam genutzt werden.

Aufgabe B

AufgabeA

Abb. 9.2 Drei qualitativ unterschiedliche POC-Kurven (Performance Operating Characte­ristic) fUr zwei mehr oder weniger stark konkurrierende Aufgaben.

paralleler Zugriff

Sensorische Ressourcen

Akustische Wahrnehmung

Visuelle Wahrnehmung

Haptische Wahrnehmung

Mentale Ressourcen

Gedachtnis­prozesse

Mentale Arithmetik

Denkprozesse

Abb. 9.3 Multiple Ressourcen in Anlehnung an Wickens [29]

Effektorische Ressourcen

Korpermotorik

Es ist demnach theoretisch moglich, die Arbeits1ast durch ein mu1timoda1es Ein­gabesystem zu senken und dadurch die Bedienungseffizienz zu steigem. 1m Kfz wird die mu1timoda1e AufnahmeHihigkeit des Menschen durch Multimedia bereits genutzt. Fur die Eingabe zum System stehen dem Fahrer jedoch in der Regel nur mechanische Schnittstellen zur VerfUgung. Einige Beispiele fUr die Verwendung von Gestik oder Sprache im Fahrzeug sind zwar bekannt [1, 28], ein multimoda1es Bediensystem gibt es bisher aber noch nicht.

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140 9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme

TabeUe 9.1 Ubersicht tiber multimodale Anwendungen

Anwendung Beschreibung

Manipulation von Objekten auf einer Leinwandprojektion. Dies Put-That-There [4] erfolgt per Kombination von Sprache und Zeigegesten z.B. "Ver­

schiebe dieses Rechteck 'dort' hin".

VoiceLog [3]

VoicePaint, NoteBook [9]

QuickSet [23]

[8]

MSVT [14]

[22]

Webbasierte Abfrage von Fahrzeugblaupausen. Eingabe in Form von Sprache und Ortswahl per Stift. Es existiert eine simple Grammatik, die nach einem Timeout Riickfragen stellt, falls die zweite Modalitiit ausbleibt.

Malprogramm und Elektronisches Notizbuch. Eingabe iiber Spra­che, Maus und Tastatur.

Werkzeug zur militiirischen Kartenplanung. Eingabe mit Sprache und Stift, wobei damit sowohl direkte Ortsangaben als auch ikoni­sche Eingaben moglich sind. Redundante Eingaben werden ausge­wertet, urn Eingabefehler zu entdecken und Riickfragen an den Benutzer zu stellen.

Graphik Editor. Sprache, Stift fUr ikonische Eingabe. Es existiert eine Grammatik. Die Erkennungsergebnisse fUr jede Modalitiit werden friih, d.h. vor ihrer Kombination zu einem Befehl, an den Benutzer zuriick gemeldet.

VR Visualisationswerkzeug, in dem der Arbeitsbereich mit Sprache und Gestik manipuliert werden kann. Fiir die Gesteneingabe wird ein Datenhandschuh benutzt.

Auswertung von Wettervorhersage Videos. Kombinierte Erken­nung von Sprache und Gestik. Letzteres wird mit einer Videoka­mera erfasst.

Ein weiteres Motiv fiir die Entwicklung von multimodalen Mensch-Maschine Schnittstelle liegt im Vorbild der Kommunikation von Menschen untereinander. Es werden dabei grundsatzlich mehrere Modalitaten kombiniert genutzt. Dies erlaubt kiirzere Aussagen, so ist z.B. die Aussage "Dieser Stuhl" mit Zeigegeste deutlich kiirzer als "Der Stuhl am linken Kopfende des Tisches". Ebenso kann durch redundante Information Missverstandnissen vorgebeugt werden, indem etwa in lauten Umgebungen die Frage "Wie spat ist es?" durch das Tippen auf das linke Handgelenk unterstiitzt wird. Zusammenfassend lasst sich sagen, dass von multi­modalen Schnittstellen folgende Vorteile zu erwarten sind:

Effizienz durch die Nutzung von unabhangigen Ressourcen Kiirzere Bedienzeiten durch die Kombination von Modalitaten Fehlervermeidung durch die Ubermittlung redundant kodierter Informationen Natiirlichkeit / Intuitivitat in Anlehnung an Mensch-Mensch-Kommunikation

Ais Voraussetzung fiir die Entwicklung von multimodalen Mensch-Maschine­Schnittstellen ist die Erfassung der natiirlichen menschlichen Ausdrucksmittel zu nennen. Dies wurde im einzelnen fUr viele verschiedene Anwendungen realisiert.

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9.2 Multimodalitat und Adaptivitat in MMI 141

Eine gute Obersicht zu Sprach-, Gesten-, und Mimikerkennung bieten z.B. [20, 21, 30]. Die Idee, diese zu kombinieren hat Bolt bereits 1980 formuliert und um­gesetzt [4]. Seine mit "Put-That -There" titulierte Anwendung erlaubt die Manipu­lation von Objekten auf einer Leinwandprojektion durch verbundene Sprach- und Zeigegesten-Befehle. Dazu wird eine Software zur automatischen Spracherken­nung und ein elektromagnetisches Ortungsgerat zur Erfassung der Zeigerichtung benutzt.

Eine umfassende Darstellung der Motivation fUr multimodale Eingabe­Schnittstellen und ein Oberblick der Aspekte einer technischen Umsetzung sind in [26] zu finden. Eine kritische Betrachtung der zu erwartenden Vorteile bietet [19]. In Tabelle 9.1 sind verschiedenen existierenden Anwendungen aus diesem The­mengebiet (ohne Anspruch auf Vollstiindigkeit) mit kurzen Beschreibungen zu­sammengefasst von.

9.2.2 Adaptive Systeme: Anpassung an einen Nutzungskontext

Die Charakterisierung "adaptiv" trifft auf interaktive Systeme zu, die sich an den Nutzungskontext anpassen lassen oder selbstandig anpassen. Dabei bezieht sich die Anpassung auf die Systemfunktionalitat und die Darstellung von Informatio­nen. Der Nutzungskontext ist durch die Situation, die Aufgabe und den Benutzer bestimmt (Abb. 9.4). 1m Folgenden werden Situationsadaptivitat, Benutzeradapti­vitat und Aufgabenadaptivitiit genauer betrachtet.

Situation

Fahrzeugsysteme Passagiere Verkehr

Fahrvorgang Umwelt

Fahrer

Priiferenzen Gewohnheiten

Anthropometrie Geschlecht

Alter Ziele/Absichten Beanspruchung Qualifikation

Personlichkeits­struktur

Abb. 9.4 Definition des Nutzungskontexts

Aufgabe

Navigation Lenkung

Stabilisierung Kommunikation

Fehlermanagement

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142 9 Multimoda1e Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme

Situationsadaptivitat

Situationsadaptivitat ist die Anpassung des Systems an System- und Umweltgro­Ben. Bezogen auf Kraftfahrzeuge konnte das z.B. die Tankflillung, die aktuelle Geschwindigkeit oder die Oltemperatur sein. Entsprechende relevante Umweltgro­Ben waren AuBentemperatur, Witterung, Verkehrsdichte, u.a. In heutigen Kraft­fahrzeugen gibt es bereits mehrere situations adaptive Systeme wie z.B.:

• das Autoradio, welches seine Lautstarke automatisch dem Umgebungsge­rauschpegel anpasst

• das Display des Autoradios, welches sich der Umgebungshelligkeit anpasst, so dass es immer optimal hell erscheint

• die automatischen Scheibenwischer, die ihr Wischintervall der Starke des Nie­derschlags anpassen

• das Antiblockiersystem, das bei blockierenden Reifen eingreift und das Fahr­zeug in der Spur halt.

Benutzeradaptivitat

Benutzeradaptive Systeme versuchen, den Zustand des Benutzers zu erkennen und diesen bei der Interaktion zu beriicksichtigen. Zum Zustand des Benutzers gehoren kurzfristige und langfristige Merkmale [12]. Zu den kurzfristigen Merkmalen zahlen z.B. die momentane Arbeitslast, das aktuelle Ziel des Benutzers und Bean­spruchung. Langfristige Merkmale sind z.B. personliche Eigenschaften, Wissen und Interessen.

Der Belastungszustand des Benutzers kann aus physiologischen GroBen (Blut­druck, PuIs, Lidschlag, etc.) erschlossen werden. Hier konnen kontaktlose (z.B. Videouberwachung) sowie kontaktbehaftete (z.B. Blutdruckmessgeriit) Methoden zum Einsatz kommen. Die letzteren sind auf spezielle Anwendungen begrenzt, bei denen es dem Benutzer zuzumuten ist, Korpersensoren zu tragen, z.B. in der Raumfahrt.

Fur den Einsatz im Kfz eher praktikabel ist die Beobachtung der Interaktion des Benutzers mit dem System (Tastendriicke, etc.). Aus den aufgezeichneten Interak­tionsdaten konnen individuelle Merkmale flir jeden Benutzer abgeleitet werden. Dazu gehoren z.B. Bedienfehler, Fehlerhaufigkeit, Interaktionsfrequenz, Arbeits­stil und das aktuell verfolgte Ziel.

Die Merkmale, die ein adaptives System aus den Beobachtungen ableiten kann, sind haufig unsicher. Nur auf der Grundlage von mehreren unabhangigen Beo­bachtungen ist es moglich, diese Merkmale sinnvoll abzuschatzen, wobei immer noch eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Korrektheit verbleibt. Daher mus­sen flir die Schlussfolgerung aus den Beobachtungen auf den Zustand des Benut­zers Methoden eingesetzt werden, die Unsicherheit beriicksichtigen. AuBerdem ist es unmoglich, jedes beliebige Benutzerverhalten schon beim Systementwurf zu beriicksichtigen und zu modellieren. Daher ist der Einsatz von lemfahigen Verfah­ren gegenuber heuristischen Ansatzen zu bevorzugen. Zuletzt sollten diese lemf:i-

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9.2 Multimodalitat und Adaptivitat in MMI 143

higen Verfahren generalisierend sein, d.h. die Adaption auf Grundlage weniger Beobachtungen abschlieBen konnen.

Der Forschungsbereich der kiinstliche Intelligenz unterscheidet drei grundle­gende Verfahren, die im Bereich der adaptiven Systeme erfolgreich angewendet werden:

1. Bayesian Belief Networks (eine Einflihrung findet sich z.B. in [17]) 2. Dempster-Shafer-Theorie ([25, 6]) 3. Fuzzy-Sets (Einfiihrung z.B. in [13])

Eine gute Ubersicht iiber die verwendeten Verfahren mit vielen Beispielen bie­tet z.B. [11].

Beispiele fUr benutzeradaptive Systeme im Kraftfahrzeugbereich gibt es kaum. Die meisten benutzeradaptiven Systeme stammen aus dem Bereich der Online­Hilfe, Informationssuche und Lernsoftware, da sie hier ihren Ursprung haben. Zu nennen sind z.B.:

• ADAPTIVE ROUTE ADVISOR [24]: Dies ist ein Navigationssystem flir Kraftfahr­zeuge, welches die Wiinsche des Fahrers bei der Berechnung nach einer opti­malen Fahrtroute beriicksichtigt. Dazu gehort z.B., ob der Fahrer gerne Auto­bahn fahrt oder LandstraBen bevorzugt.

• FLEXEL [18]: Diese erweiterte Version von MS Excel erkennt regelmaBige Handlungsmuster des Benutzers und schliigt Veriinderungen der Benutzungs­oberfliiche vor (neue Meniieintriige, Shortcuts, Macros, etc.), urn somit die In­teraktion zu optimieren.

• KNOME [5]: KNOME ist ein natiirlich-sprachliches Hilfesystem fUr UNIX. Es versucht, die Kenntnisse des Benutzers anhand der eingegebenen Befehle ein­zuschiitzen und bei Hilfestellungen nur die Fakten zu priisentieren, die der Be­nutzer nicht kennt. Bekannte Fakten werden nicht angezeigt.

Aufgabenadaptivitat

Die Aufgabenadaptivitiit bezieht sich auf die Anpassung an eine bestimmte Auf­gabe. Die im Kfz anfallenden Aufgaben sind Navigation, Lenkung, Stabilisierung, Kommunikation und Fehlermanagement. Die Identifikation der aktuell vorliegen­den Aufgabe ist in der Regel schwierig, deshalb gibt es sehr wenige Beispiele fUr aufgabenadaptive Systemfunktionen, vor allem im Kfz-Bereich.

Ein bekanntes Beispiel aus einem anderen Bereich ist der MICROSOFT OFFICE ASSISTENT als ein Produkt des Lumiere-Projektes [10]. Wird in Word z.B. "Sehr geehrte Darnen und Herren" eingegeben, so bietet der Office-Assistent Hilfe zur Verfassung von Briefen an. Der Assistent ist nicht benutzeradaptiv, da diese Hilfe jedesmal angeboten wird, wenn der Benutzer den entsprechenden Satz eingibt. Ein weiteres System ist PHI [2]. Es ist Teil eines intelligenten Hilfe-Systems zur Er­kennung von Aufgaben, die ein E-Mail Benutzer verfolgt.

CAMA [27] ist ein Cockpit-Assistenz-System fUr militiirische Transportflugzeu­ge. Es ist dafUr ausgelegt, das Situationsbewusstsein der Piloten zu verbessern. Ein Teil des Assistenzsystems ist ein Modul zur Bewertung der Aktivitiiten des Piloten

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144 9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme

und der Missionsereignisse, urn die Aktionen des Piloten in Zusammenhang mit der Flugsituation interpretieren und verstehen zu konnen.

9.3 Konzept einer multimodalen und adaptiven BenutzungsoberfUiche fur Bord-Dialogsysteme

Fahrer

Text Grafik Ani~ation

Sprache Ton

Vibration Riickstellkraft

cken---+ Drehen/Drii I---Sprache ...... --Gesten

Inter-retation

ingaben

I Handlungsprotokolle

.~

Identifikation Dialog-

situation

L Prasentations-

I manager ~

i I nformations-

~ manager

i Elektronische

Bedienanleitung

Abb. 9.5 Konzept des Kfz-Informationssystems auf Basis einer multimodal-adaptiven Benutzungsschnittstelle.

Das allgemeine Konzept einer multimodal-adaptiven BenutzungsoberfUiche wurde bereits in Abb.9.1 dargestellt und ist in Abb.9.5 auf das in diesem Beitrag zugrunde liegende Anwendungsszenario eines Informationssystems zugeschnitten. Dariiber kann zum Beispiel eine elektronische Version des obligatorischen Bord­handbuchs eingesehen oder ein Nachrichtenspeicher mit Verkehrsnachrichten und E-Mails abgehort werden [15, 16].

Zentrales Element ist der Interpreter, der siimtliche Eingabeereignisse empfringt und daraus Kontrollkommandos fur die angeschlossenen Kfz-Systeme, wie in diesem Fall die elektronische Bedienungsanleitung, generiert. Der Interpreter akzeptiert in dieser Anwendung neben Eingaben von herkommlichen mechani­schen Bedienelementen auch die Eingabe per Sprache und Gestik. Die von der Bedienungsanleitung generierten Ausgaben werden von einem Informationsmana­ger gefiltert und somit auf die Dialogsituation zugeschnitten. Der Priisentations­manager wiihlt die fliT die Dialogsituation angepasste Informationsdarstellung aus. Sie kann optisch undloder akustisch erfolgen. Die Dialogsituation wird aus den

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9.3 Konzept einer multimodalen und adaptiven Benutzungsoberflache 145

Aktionen des Benutzers anhand aufgezeichneter Handlungsprotokolle ennittelt und dem Infonnations- sowie Prasentationsmanager zur Verfiigung gestellt. Sie reprasentiert fUr diese Anwendung den Nutzungskontext.

Fur die visuelle Darstellung sind zwei Monitore in der Mittelkonsole des Fahr­zeugs untergebracht. Die grafische Oberflache ist in Abb. 9.6 zu sehen. Links ist der Interaktionsbildschinn, in dem der Fahrer durch ein thematisch geordnetes Menu navigieren kann. Ein History-Bereich halt dabei aIle zuvor besuchten Me­nupunkte fest, urn einen Rucksprung in hohere Ebenen zu ennoglichen. Die Sta­tuszeile kann zur Darstellung unterschiedlicher Nachrichten verwendet werden. Der rechte Monitor dient ausschlieBlich der Infonnationsprasentation. In Abb. 9.6 ist z.B. eine Vorschau auf die nachst tiefere Menuebene des Themas "Notfall" zu sehen. Ferner werden hier Grafiken und Animationen angezeigt.

Navigation Information

Abb. 9.6 Grafische Oberflache des multimedialen Informationssystems

Das Menu und die History sind kreisfonnig angeordnet, urn die Kompatibilitat zwischen der Anzeige und einem mechanischen Bedienelement zu gewahrleisten, das zwei translatorische und einen rotatorischen Freiheitsgrad sowie eine Druck­funktion bietet. Das Bedienelement ist neben dem Schalthebel in der Mittelkonso­Ie untergebracht (Abb. 9.7).

Abb. 9.7 Mechanisches Bedienelement in der Mittelkonsole

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146 9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme

Zusatzlich ist die Eingabe per Sprache und Gesten moglich, wie in den Abschnit­ten 9.4 und 9.5 noch im Detail beschrieben wird. Die Modalitaten konnen altema­tiv verwendet werden, d.h. alle Funktionen des Systems sind mit jeder Modalitat erreichbar und ein Modalitatswechse1 ist stets moglich. Es ergeben sich dadurch zwei positive Eigenschaften:

1. Situationsbedingte Nachteile einer Modalitat konnen durch eine andere ausge­glichen werden, z.B. kann der Benutzer das Bedienelement verwenden, wenn die Erkennungsrate des Gestenerkenners durch auBere Umstiinde zu niedrig ist.

2. Aufgabenabhangig kann eine geeignete Modalitat gewahlt werden. So erlaubt Sprache die direkte Referenzierung von Meniieintragen unter Umgehung einer Suche in der Meniihierarchie. Gestik ist z.B. fUr die unmittelbare Kontrolle der Videosteuerung von Animationen besser geeignet. Das Bedienelement ist stets eine gute Riickfallposition bei schlechter Erkennung seitens Sprach- und Gestenerkenner.

9.4 Gesteneingabe

Aus ergonomischen Gesichtspunkten kommt fUr die Gesteneingabe als physikali­sche Schnittstelle nur eine Videokamera in Frage. Die Verwendung eines Daten­handschuhs ist im Fahrzeug nicht praktikabel, obwohl dieser zuverlassigere Daten fUr eine Erkennung liefem wiirde.

1m Folgenden wird von einem am Lehrstuhl fUr Technische Informatik der RWTH Aachen entwickelten Gestenerkenner berichtet. Das Augenmerk lag dabei auf den hohen Anforderungen fUr diesen Anwendungsfall, die durch intensive plotzliche Beleuchtungsschwankungen und unstrukturierte Hintergriinde gegeben sind. AuBerdem musste mit wechse1nden Benutzem gerechnet werden, denen weder Bekleidungsvorschriften noch Kalibrierungs- und Lemaufwand zugemutet werden diirfen. Es wurde eine Gestenerkennung realisiert, die ...

kontaktlos funktioniert, den Fahrer nicht stort (unsichtbare Beleuchtung), unabhiingig yom Benutzer ist,

- sich unkompliziert bedienen lasst und in Echtzeit reagiert.

Es werden statische Einhand-Gesten erkannt, die horizontal iiber der Mittelkon­sole auszufUhren sind. Die Ausfiihrungsstelle fUr die Gesten ist aus Griinden der Verkehrssicherheit mit Bedacht gewahlt worden, denn sie ist von AuBen nicht beobachtbar und es kann daher nicht zu Missverstandnissen zwischen den Ver­kehrsteilnehmem kommen. AuBerdem ist dadurch gewahrleistet, dass der Fahrer immer eine Hand am Steuer hat und gleichzeitig Gesten eingeben kann.

Eine im Fahrzeughimmel integrierte infrarotempfindliche CCD-Kamera zeich­net den Gestenraum auf, der durch einen entsprechenden Infrarotstrahler zusatz­lich ausgeleuchtet wird. Das Infrarotlicht ist fUr den Menschen vollig unsichtbar. Die Bilddaten werden mit Methoden der digitalen Bildverarbeitung analysiert und klassifiziert und das Ergebnis an eine Anwendung zur Verwertung weitergegeben.

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9.4 Gesteneingabe 147

Abbildung 9.8 vermittelt einen Eindruck von Aufbau und Funktionsweise des Gestenerkenners. Weitere Details sind in [I] zu finden.

Abb. 9.8 Der Gestenerkenner. Kleine Bilder: Kamera und Strahler, Darstellung der Verar­beitungs- und Erkennungsergebnisse.

Der Gestenerkenner wurde urspriinglich entwickelt, urn gespeicherte Nachrichten verschiedener Art, wie E-Mail und Verkehrsfunk, abzufragen. Diese Anwendung ist rnittlerweile in das Gesarntkonzept des rnultirnedialen Informationssysterns eingebunden. Uber Gesten ist es nun auch rnoglich, die Wiedergabe von Videos und Anirnationen zu steuem oder durch die Meniihierarchie des Informationssys­terns zu navigieren. Dabei sind die folgenden Gesten mit den entsprechend zuge­wiesenen Funktionen verwendbar.

Tabelle 9.2 Gesten zur Steuerung des multimodalen Demonstrators

Gesten

Anwendung

Nachrichten- vorige nachste Pause Abbruch

vorige nachste speicher Nachricht Nachricht Nachricht Nachricht

Animations- schneller schneller Pause Abbruch

schneller schneller steuerung RUcklauf Vorlauf RUcklauf Vorlauf

MenU- MenUpunkt MenUpunkt MenUebene MenUpunkt bedienung nach oben nach unten zurUck aktivieren

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148 9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme

9.5 Spracheingabe mit adaptivem Fehlermanagement

Das Problem bei heutigen Spracherkennem ist immer noch die nicht ausreichende Erkennungsrate. Trotz modemster Technik treten Fehler regelmaBig auf. Urn eine Anwendung mit Sprachsteuemng trotzdem zum Erfolg zu fuhren, durfen die Er­kennungsfehler nicht ignoriert werden.

Bei der hier beschriebenen Anwendung wird deshalb ein adaptives Fehlerma­nagement verwendet. Dieses hat die Aufgabe, die Erkennungsrate des eingesetzten Spracherkenners zu steigem, den Benutzer bei der Entdeckung von Erkennungs­fehlem zu unterstutzen und falsche Aktionen des Systems aufgmnd von Erken­nungsfehlem soweit wie moglich zu reduzieren. Urn dies zu erreichen werden ein kontextadaptives Vokabularmanagement und adaptive Interpretationsstrategien eingesetzt.

9.5.1 Bedienkonzept der Spracheingabe und adaptives Vokabularmanagement

Die Dialogsysteme im Auto sollen schnell und ohne groBe Umstande bedient werden konnen. Durch die Sprachsteuemng ist das leicht erreichbar, dajede Funk­tion des Fahrerassistenzsystems direkt angesprochen werden kann, ohne sich durch die Menustmktur arbeiten zu mussen, wie dies bei der Bedienung mit Hilfe eines mechanischen Bedienelements oder mit Gestik notwendig ist. Da die Einga­be in technischen Systemen meist intuitiv in Befehlsform passiert, wurde eine kommandoartige Spracheingabe gewahlt.

Das Vokabular setzt sich aus den Namen der Menupunkte des Fahrerassistenz­systems und Systembefehlen ("aktivieren", "abbrechen", etc.) zusammen. Da dem Benutzer am Anfang das Vokabular unbekannt ist und er auch bei Kenntnis der Menustmktur sich nicht unbedingt an die genauen Namen der Menueintrage erin­nert ist es wichtig, fur jeden Befehl gebrauchliche Synonyme zu berucksichtigen sowie Begriffe, die einzelne Inhalte eines Menupunktes beschreiben.

Durch diese Auswahl des V okabulars werden Erkennungsfehler aufgmnd un­bekannten V okabulars verringert. 1m Gegenzug fuhrt eine VergroBemng des Vo­kabulammfangs aber zu einer steigenden Anzahl von Fehlerkennungen bei den bekannten Begriffen. Urn diesen Effekt zu mildem, wird ein kontextadaptives V okabularmanagement eingesetzt. Es schrankt das aktive V okabular des Spra­cherkenners ein, welches fur Mustervergleiche mit dem neuen Sprachsignal ver­wendet wird. Das gesamte Vokabular ist in Gmppen unterteilt, die je nach Kontext aktiviert oder deaktiviert werden. Diese Einschrankung ist moglich, da nicht jeder Befehl injedem Kontext mit der gleichen Wahrscheinlichkeit verwendet wird.

Der eingesetzte Spracherkenner ist fur die kommandoartige Form der Sprach­eingabe ausgelegt, unterstutzt ein aktives Vokabularmanagement und ist sprecher­unabhangig. Er wird yom Benutzer aktiviert, indem er einen Knopf am Lenkrad betatigt und dann seinen Befehl auBert. Das Ende des Befehls erkennt der Spra­cherkenner automatisch. Nach dem Erkennungsvorgang liefert er mehrere erkann-

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9.5 Spracheingabe mit adaptivem Fehlermanagement 149

te Begriffe mit Vertrauenswerten (Wertebereich: 0-100) zuriick. Von dies en wird derjenige mit dem hOchsten Vertrauenswert ausgewiihlt. 1st dieser Begriff falsch, muss der Benutzer im niichsten Befehl einen Widerspruch einlegen. Die Anzahl der Widerspriiche werden vom System geziihlt und charakterisieren die momenta­ne Verstehensleistung des Spracherkenners. Sie ist ein Ansatzpunkt fUr adaptive Interpretationsstrategien.

9.5.2 Adaptive Interpretationsstrategien

In der Theorie der Informationsdialoge werden drei Interpretationsstrategien un­terschieden [7]:

1. defensive Interpretation: Der Benutzer muss einen erkannten Begriff explizit bestiitigen. Falls diese Bestiitigung nicht vorliegt, wird ein weiteres Mal aus­driicklich nach der Korrektheit des Ergebnisses gefragt. Das System fUhrt die korrespondierende Aktion erst aus, nachdem es eine positive Bestiitigung er­halten hat. Bei einer negativen Bestiitigung wird die Aktion nicht ausgefUhrt.

2. offensive Interpretation: Diese Strategie liisst weitgehende Freiheiten des Be­nutzers zu. Ein erkannter Begriff wird vom System als korrekt angenommen, solange der Benutzer nicht ausdriicklich widerspricht. Das System wartet ein bestimmtes Zeitintervall ab, in dem er seinen Widerspruch iiuBem kann. 1st dies nicht der Fall, wird die Aktion nach Ablauf der Zeit ausgeftihrt.

3. aggressive Interpretation: Das System fragt nicht nach einer Bestiitigung und liisst auch keine Korrekturen durch den Benutzer zu. Die Gefahr einer falschen Systemaktion ist hier direkt vom Erkennungsergebnis des Spracherkenners ab­hiingig.

Eine vierte Interpretationsstrategie lehnt die AusfUhrung der Systemaktion ab und fordert den Benutzer dazu auf, die Modalitiit zu wechseln, d.h. das Bedien­element oder die Gestik zu benutzen. Sie wird allerdings nur verwendet, wenn die Verstehensleistung des Systems sehr schlecht ist.

Eine bestimmte Interpretationsstrategie wird anhand von zwei Kriterien ausge­wiihlt. Zum einen wird der Vertrauenswert des erkannten Begriffs mit einem Schwellwert verglichen. Liegt der Vertrauenswert oberhalb der Schwelle, wird das Ergebnis als "sicher erkannt" klassifiziert, sonst als "unsicher erkannt". Zum ande­ren wird die Anzahl der Widerspriiche seitens des Systems registriert. Aus den beiden Kriterien resultiert ein zweidimensionales Adaptionsschema, in dem die verschiedenen Interpretationsstrategien angewendet werden (Abb. 9.9). Wird z.B. der niichste Begriff als "sicher erkannt" klassifiziert, der Benutzer hat aber die fUnf vorherigen Begriffe abgelehnt, wird die defensive Strategie verwendet. Wiire dieser Begriff als "unsicher erkannt" klassifiziert worden, hiitte das System den Benutzer aufgefordert, die Modalitiit zu wechseln.

Der "normale" Arbeitsbereich ist durch die aggressive Strategie gekennzeich­net. Da die Sprachbefehle hier direkt ausgefUhrt werden, tritt keine Verz6gerung zwischen Eingabe und Systemreaktion auf. Allerdings werden keine Systemaktio­nen aufgrund von Erkennungsfehlem verhindert. Insofem liisst das System in

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150 9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme

dieser Konfiguration zwei Fehler zu, bevor es die Strategie wechselt. Da eine falsche Systemaktion den Benutzer verwirren kann, fiihrt ein Widerspruch zu einer direkten Stomierung der letzten Aktion. Durch die anderen Strategien verzo­gert sich die Systemaktion, der Benutzer gelangt aber nicht in falsche Menus.

sicher erkannter aggressive Strategie offensive Strategie

Begriff

unsicher erkannter offensive Strategie defensive Strategie

Begriff

o 2

Abb. 9.9 Adaptionsschema fiir die Interpretationsstrategien

defensive Strategie

Modalitatswechsel

4 6

• Anzahl der Widerspruche

Die offensive und defensive Interpretationsstrategie prasentieren sich dem Benut­zer in Form von Bestatigungsdialogen, die auch per Sprache bedient werden kon­nen. Die Aufforderung, die Modalitat zu wechseln erscheint in der Statuszeile des Displays. Bei der aggressiven Strategie wird der erkannte Begriff angezeigt, damit der Benutzer Erkennungsfehler schnell entdecken kann. Zusatzlich werden alle optische Ausgaben in akustischer Form ausgegeben, damit der Blick nicht yom Verkehrsgeschehen abgewendet werden muss.

Auf weitere Unterstiitzung bei der Fehlerbehebung wie z.B. die Prasentation einer N-Best-Liste (Liste aller erkannten Begriffe, sortiert nach Vertrauenswert) wurde bewusst verzichtet, da dies die Interaktion unnotig verlangert, was wieder­urn mehr Ablenkung yom Verkehrsgeschehen bedeutet. AuBerdem verwenden Menschen intuitiv sehr effektive Korrekturmechanismen, wie z.B. die Wiederho­lung des Begriffs oder die Verwendung von Synonymen.

9.6 Evaluation

Die beschriebene multimodale und adaptive Benutzungsoberflache fUr interaktive Bordsysteme wurde im Rahmen einer empirischen Untersuchung daraufhin unter­sucht, welche Modalitaten von Benutzem akzeptiert werden und inwieweit die einzelnen Modalitaten den Fahrer yom Verkehrsgeschehen ablenken. Zu diesem Zweck wurde das System in eine Sitzkiste integriert, urn den Versuchspersonen eine moglichst realistische Umgebung zur VerfUgung zu stellen (Abb. 9.8).

Ais Nebenaufgabe diente eine einfache "Fahrsimulation", bei der Versuchsper­sonen ein Auto zwischen zwei horizontal beweglichen Baken halten mussten (Abb.9.1O). Das Bild wurde mit einem Videoprojektor auf die Wand vor der Sitzkiste projiziert.

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9.6 Evaluation 151

Die Versuche wurden von insgesamt 16 Probanden durchgeftihrt. Diese waren in zwei Gruppen mit unterschiedlichem Durchschnittsalter und Erfahrung eingeteilt. Die jiingere Gruppe kannte das System schon von vorhergegangenen Versuchen, wogegen die altere Gruppe keine Erfahrung damit hatte. Die letztgenannte Gruppe reprasentiert potentielle Kaufer eines PKWs der Oberklasse, in das das System spater integriert werden soil.

Abb. 9.10 Fahrsimulation als Primaraufgabe

Die Versuche gliedem sich in zwei Teile: Der erste Teil untersucht die Akzeptanz der verschiedenen Eingabemodalitaten im stehenden Fahrzeug. Hierbei miissen die Probanden mehrere Fragen zu ihrem "Auto" beantworten. Die daflir benotig­ten Informationen miissen sie in der elektronischen Bedienungsanleitung suchen. Dabei werden zunachst die zu verwendenden Modalitaten vorgegeben. Beim letz­ten Teil der Fragen ist die Wahl der Modalitat frei.

Der zweite Teil beinhaltet die Bedienung des Fahrerassistenzsystems wahrend der Fahrsimulation. In diesen Versuchen erhalten die Probanden wahrend der Fahrt akustische Meldungen iiber den Empfang neuer E-Mails, Termine und Ver­kehrsnachrichten, die sie darauf hin abrufen sollen. Hier absolviert jeder Proband drei Fahrversuche, in denen jede Modalitat jeweils exklusiv verwendet wird und einen Versuch, bei dem aile Modalitaten benutzt werden durfen.

Erste Ergebnisse deuten an, dass vor all em die Spracheingabe eine hohe Akzep­tanz erhalt, obwohl Erkennungsfehler trotz des Fehlermanagements nicht voll­standig verhindert werden konnen. Bei der Bedienung des Systems wahrend der Fahrsimulation hat die Sprachsteuerung erhebliche Vorteile, da hierbei andere menschliche Ressourcen beansprucht werden als diejenigen, die flir die Wagen­lenkung zustandig sind.

Das mechanische Bedienelement ist unkompliziert zu handhaben, wie aile Pro­banden bestatigen. Die Gesteneingabe wird dagegen als gewohnungsbediirftig empfunden, weil die Einhaltung des Gestenraums ein entsprechendes Training benotigt. Dies ist bei der Spracheingabe nicht erforderlich. Daflir bietet der Ges­tenerkenner eine geringere Fehlerrate als der Spracherkenner. Zwischen den bei­den Gruppen existieren signifikante Unterschiede hinsichtlich der Bedienge­schwindigkeit, aber nicht bezuglich der Fehlerhaufigkeit.

1m Ganzen wird das vorgestellte Bedienkonzept positiv bewertet. Durch die Bereitstellung mehrerer Modalitaten flihlen sich die Probanden bei der Bedienung stets sicher, da sie die Modalitat wechseln konnen, wenn sie mit einer anderen nicht gut zurecht kommen. Auch der Aufbau des Informationssystems entspricht

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den Erwartungen der Benutzer. Sie finden sich in der Menustruktur schnell zu­recht und wahlen in der Regel intuitiv die richtigen Menupunkte aus, hinter denen sie auch die benotigten Informationen vermuten.

9.7 Zusammenfassung

Wegen der zunehmenden Komplexitat modemer Kfz-Bordsysteme ist der Bedarf an verbesserten Mensch-Maschine-Schnittstellen groB. Diese sollen die Komplexi­tat der Bordsysteme vor dem Benutzer verbergen und eine einfache und intuitive Bedienung ermoglichen. Dabei erlaubt die Nutzung mehrerer Modalitaten die Konstruktion intuitiverer Schnittstellen, die uber adaptive Elemente die Komplexi­tat des bedienten Systems verbergen. Hierzu passt sich die Schnittstelle nach Form und Inhalt dem Benutzer, seiner Aufgabe und der Situation an.

Diese Arbeit stellt ein Konzept fUr eine multimodale adaptive Schnittstelle im Kraftfahrzeug vor. Samtliche Funktionen des Bordsystems sollen mittels Sprache, Gestik und einem mechanischen Bedienelement unter Beriicksichtigung des aktu­ellen Dialogkontexts angesprochen werden konnen.

Vorlaufig steht die Integration der verschiedenen Modalitaten im Mittelpunkt. Vor allem bei der Sprache und der Gestik ist eine sichere Erkennung nicht ge­wahrleistet, so dass hier entsprechende MaBnahmen zur Fehlervermeidung getrof­fen werden mussen.

Als Anwendungsszenario liegt ein Informationssystem zugrunde, dass unter anderem den Inhalt des herkommlichen Bordhandbuchs in multimedialer Form prasentiert und das Abfragen von Nachrichten unterschiedlicher Art erlaubt.

Ebenso liegen Ergebnisse einer ersten Evaluierung zu Akzeptanz und Effizienz des Bedienkonzepts vor. Diese zeigen, dass das Konzept vom Benutzer ange­nommen wird und auch bei Mehrfachanforderungen komfortabel bedienbar ist.

Die zukunftige Entwicklung wird sich auf die Eingabemodalitaten konzentrie­ren, urn vor allem die Spracheingabe und die Aufgaben- und Situationsadaptivitat zu erweitem.

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Page 162: Kraftfahrzeugführung ||

154 9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme

[25] Shafer, G. (1976). A Mathematical Theory of Evidence. Princeton: Princeton Universi­ty Press

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[29] Wickens, C.D (1992). Engineering Psychology and Human Performance (2nd Edition). New York: Harper Collins

[30] Young, S. (1996). Large vocabulary continuous speech recognition. IEEE Signal Processing Magazine, Vol. 13, No.5, 45-57

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10 Haptik im Kraftfahrzeug

Heiner Bubb

10.1 Der Informationsfluss im Mensch-Masch i ne-Regelkreis

Das Steuem eines Kraftfahrzeugs kann man - wie die Betatigung jeder Maschine - als eine Regelung auffassen (Abb. 10.1). Der StraBenverlauf, Fahrzeuge und sonstige Verkehrsteilnehmer, aber auch Umgebungsbedingungen wie die Witte­rung, bestimmen die FiihrungsgroBe oder anders gesagt die Fahraufgabe. 1m De­tail wird dadurch die seitliche Sollposition des Fahrzeugs auf der StraBe sowie die Position in Uingsrichtung, gleichbedeutend mit der Geschwindigkeit, festgelegt. Der Fahrer hat die Aufgabe, diese Information aus dem visuellen Umfeld zu de­tektieren und in entsprechende Bedienelementbetatigungen umzusetzen, so dass das Fahrzeug in der tatsachlich realisierten seitlichen Lage und Langsposition, dem sog. Ergebnis bzw. der NachfuhrgroBe, der Forderung der Aufgabe ent­spricht. Diese kann wiederum auf die Forderung reduziert werden: jede Beriihrung mit stehenden oder sich bewegenden Objekten im Verkehrsraum ist zu vermeiden.

mwet

Fahraufgabe Ergebnis

Fahrer Fahrzeug Voraussicht IA IV IU seitliche Lage

traBenverlauf ~LiingSrichtun&. optisch

Querdynamik Langsr htung

seitliche La~e Arm-===!! Lenkrad

Muskulatur r=="' Schalthebel

kinasthetisch Langsdynamik Langs- -r=" Gaspedal

beschl.

akustisch Quer-andere Fahrzeu~e -- FuB· ;==" beschl. -

Bremspedal und Gegenstin e r haptisch

Muskulatur G." .. , 1 fr=. Kupp.pedal spektrum

Abb. 10.1 Fahrer-Fahrzeug-Regelkreis mit den den Fahrer charakterisierenden Elementen: Informationsaufnahme (IA), Informationsverarbeitung (IV) und Informationsumsetzung (IU).

Die soeben geschilderte Aufgabe entspricht der sog. "Stabilisierungsaufgabe". Voraussetzung fur ihre Erfullung ist die Festlegung eines vom Fahrer gewiinsch­ten Kurses, der im unmittelbaren Umfeld von ca. 200m in Ort und Zeit festlegt,

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156 10 Haptik im Kraftfahrzeug

wie sich das Fahrzeug bewegen solI. Dieser Teil der Fahraufgabe wird "Flihrungs­aufgabe" genannt. Ihr hierarchisch vorgesetzt ist die "Navigationsaufgabe", durch die liberhaupt festgelegt wird, wie das vorhandene StraBennetz verknlipft: werden solI, urn das gewiinschte Zie1 zu erreichen. Der Ist-Zustand, also die augenblickli­che Position des Fahrzeugs auf der StraBe muss mit all diesen Niveaus der Aufga­be libereinstimmen.

Ihre Rlickmeldung erfolgt immer liber den optischen Sinneskanal. Ein Teil re­levanter Information wird aber auch - quasi redundant - liber andere Sinneskanale vermittelt. So wird die Information liber den Bewegungszustand nicht nur optisch erfasst, sondern auch kinasthetisch liber das Vestibularorgan und die Maculaorga­ne (s.u.). Zusatzlich spielt das liber den akustischen Sinneskanal vermittelte Ge­rausch flir die Geschwindigkeitswahrnehmung - im Verbund mit der optisch ver­mittelten Information - eine herausragende Rolle. Die Stellung der Bedienelemen­te wird durch die Stellungsrezeptoren der Gelenke und die Beriihrrezeptoren auf der Haut haptisch erfasst. Erst das Zusammenspie1 all dieser Sinnesorgane vermit­telt das Erleben der eigenen Bewegung mit dem Fahrzeug im Raum.

Unter dem Aspekt der flir den Fahrer notwendigen Aktivitiiten lasst sich die Aufgabe zusatzlich in folgende Unteraufgaben gliedern: Die primare Fahraufgabe besteht in dem eigentlichen Fahrprozess, der oben geschildert worden ist. Daneben sind aber yom Fahrer auch noch Aufgaben zu erledigen, die zwar im Rahmen der Fahraufgabe verkehrs- bzw. umweltbedingt anfallen, die aber nicht dem eigentli­chen Halten des Fahrzeugs auf der StraBe dienen. Dazu gehOren beispie1sweise die Betiitigung des Blinkers, des Wischers, des Lichtschalters und der Hupe aber ggf. auch des Tempomats oder des ACC-Systems (bzw. der Distronic). All diese Stell­teile sind immer in direkter und indirekter Abhangigkeit von der Fahraufgabe zu betatigen. Sie werden deshalb den sekundiiren Aufgaben zugerechnet. Als tertiiire Aufgaben werden demgegenliber solche bezeichnet, die nicht mit der Fahraufgabe in Verbindung stehen, sondern lediglich dem Zufriedenstellen des Komfort-, Un­terhaltungs- oder Informationsbediirfnisses dienen. Dazu gehOren die Betatigung der HeizunglKlimaanlage, des Radios und der Telefonanlage sowie weitere in Zukunft: hinzukommender Gerate wie Internet, sowie Kommunikation mit Bliro­und Haustechnik.

10.2 KUirung des Begriffs "Haptik"

Information liber die mechanische Relation des menschlichen Korpers zu seiner Umgebung wird liber verschiedene, sehr unterschiedliche Sinnesorgane vermittelt. Die Maculaorgane, die von ihrer Funktion her einen ahnlichen Aufbau haben wie auf das Tragheitsprinzip zurUckgreifende technische Beschleunigungsaufnehmer, ermoglichen die Wahmehmung von Translationsbeschleunigungen in allen drei Raumrichtungen. Sie sind ebenso im Innenohr lokalisiert wie die Bogengange, welche in ihrer Wirkung drei auf einander senkrecht stehenden Rotationsbe­schleunigungsaufnehmern entsprechen. Mit dieser Sinnesorgankombination ist der

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10.2 Kliirung des Begriffs "Haptik" 157

Mensch in der Lage, Translations- und Rotationsbeschleunigungen (natiirlich einschlieBlich der Schwerkraft) in GroBe und Richtung zu erfassen.

Daneben spielen aber auch die Muskelspindeln, die in den Muskeln der Will­kiirmotorik als Messelemente fUr deren Uingendehnung dienen, ebenso wie die Gelenkrezeptoren eine wichtige Rolle, Information iiber die Stellung des Skelett­systems zu vermitteln. Auf diese Weise werden auch Kriifte (Triigheitskriifte wie Reaktionskriifte), die auf das Skelettsystem wirken, erfasst. Zu diesen Rezeptorty­pen gesellen sich noch die Mechanorezeptoren der Haut, die Information iiber den Druck (Merkelzellen), Beriihrung, d.h. Druckiinderung (Meissner-K6rper) und Vibration (frequenzproportionale Reaktion der Pacini-Zellen) vermitteln.

Obwohl nicht direkt mechanische Reize vermittelnd, sind in diesem Zusam­menhang die Thermorezeptoren zu erwiihnen. Die sog. Kaltrezeptoren sind auf der Hautoberfliiche sehr viel zahlreicher vertreten als die Warmrezeptoren. Kaltrezep­toren zeigen eine zunehmende Reaktion bei Temperaturen unter 33°C, wiihrend Warmrezeptoren bei Temperaturen iiber ca. 35°C ansprechen. Das Verhalten der Thermorezeptoren ist ebenso wie das der Mechanorezeptoren (insbesondere das der Merkelzellen und der Gelenkrezeptoren) durch eine sehr starke PD­Charakteristik beschrieben, d.h. Anderungen werden ungleich stiirker wahrge­nommen als ein gleichbleibendes Reizniveau.

Die hier beschriebenen Sinnesorgane erm6glichen in ihrer Kombination ein Empfinden der mechanischen Relation des K6rpers zur Umgebung. Diese Relati­on verursacht unterschiedliche Wahrnehmungsqualitiiten (in Analogie beispiels­weise zur akustischen Empfindung, wo wir auch nicht in der Lage sind, die Amp­lituden- und Frequenzzusammensetzung eines Geriiusches zu schildern, sondern Wahrnehmungsqualitiiten wie "brummig", "hell" "dumpf" usw. ). Es ist deshalb sinnvoll, die kombinatorische Wirkung dieser Sinnesorgane hinsichtlich der Wahrnehmungsqualitiit zu verbalisieren.

In der Literatur haben sich unterschiedliche Begriffswelten flir den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung von mechanischen Krafteinwirkungen herausgebildet. In der englischsprachig-psychologisch orientierten Literatur wird hiiufig mit ki­nesthetic das Zusammenspiel aller Stellungs- und Bewegungsrezeptoren des menschlichen K6rpers bezeichnet (Handwerker, 1993). Sie charakterisiert somit die Wahrnehmung der Bewegung unserer K6rperteile. Unter tacti! versteht man in diesem Kontext die Vermittlung einer Empfindung allein durch die Beriihrrezep­toren der Haut.

Diese sehr weitverbreitete Terminologie hat den Nachteil, dass sie die Empfin­dungsqualitiit, d.h. die Art der subjektiven Wahrnehmung von physikalischen Kraftreizen nur unzureichend beriicksichtigt. Yom subjektiven Erleben her k6nnen wir niimlich sehr deutlich zwischen Beschleunigungskriiften, die auf den ganzen K6rper wirken und die zu der Empfindung einer Bewegung des K6rpers im Raum flihren, von solchen unterscheiden, bei denen Kriifte nur auf einzelne Korperteile wirken und die zur Empfindung einer Korperhaltung fiihren. Beim Befahren einer Kurve beispielsweise werden die Beschleunigungskriifte nicht nur durch das Vestibularorgan (Rotationsbeschleunigung) und die Maculaorgane (Querbe­schleunigung), sondern auch durch die Mechanorezeptoren im GesiiB als Druck wahrgenommen, was in Kreisen von Fahrwerksspezialisten zu der semiwissen-

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158 10 Haptik im Kraftfahrzeug

schaftlichen Bezeichnung "Popometer" fUr die Fiihigkeit fiihrt, die Bewegung des Fahrzeugs durch Reize in der Hautoberfliiche zu spiiren. Betiitigen wir nun wiih­rend dieser Kurvenfahrt den SchaIthebel oder Stellhebel der Heizungsanlage, so wird die zugehi:irige Korperhaltung als vollkommen unabhiingig von den Reakti­onskriiften der Bewegung verspiirt. Demgegeniiber erfahren wir die Oberfliichen­qualitiit von Objekten, die wir beriihren, in Kombination mit der erfUhIten Form als eine von dem zuvor Geschilderten, vollkommen getrennte Wahrnehmungsqua­litiit. Die traditionelle Bezeichnung "Tastsinn" bezeichnet diese Art der Wahr­nehmung viel besser: wir sind in der Lage, die Form und die Art der Oberfliiche von angefassten Gegenstiinden unabhiingig von Bewegungseinfliissen und auch von Korperhaltungen zu erfassen. Allerdings spielen fUr diese Wahrnehmungsqua­litiit sowohl die Mechanorezeptoren in der Haut als auch die Stellungsrezeptoren in den Gelenken und Muskeln sowie die Thermorezeptoren in einer ganz spezifi­schen Weise zusammen. Mittels der Thermorezeptoren wird beispielsweise In­formation iiber das Wiirmeleitvermogen der beriihrten Gegenstiinde vermittelt. Es erzeugt so den Eindruck, dass sich ein Gegenstand "kaIt" (Gegenstand mit hohem Wiirmeleitvermogen, wie z.B. Metall bzw. mit Fliissigkeit benetzter Gegenstand) oder "warm" (Gegenstand mit geringem Wiirmeleitvermogen, wie z.B. Holz oder Styropor) anfiihlt. Dieser Tastsinn kommt im Detail auf ganz komplexe Weise zustande: so spielen beispielsweise auch geringe Bewegungen iiber die Oberfliiche ("BefUhlen") und die dabei erzeugten Frequenzen eine entscheidende Rolle fUr das Empfinden der Oberfliichenqualitiit.

Es gehort ganz allgemein zu der besonderen Fiihigkeit der sog. "Konstanzleis­tung" unseres Organismus, Informationen aus verschiedenen Sinnesorganen so zu interpretieren, dass Objekteigenschaften unabhiingig von sonstigen Einfluss neh­menden GroBen wahrgenommen werden (im Bereich der optischen Wahrnehmung konnen wir beispielsweise die Farben von Gegenstiinden weitgehend unabhiingig von der Farbe der Beleuchtungsquelle wahrnehmen, was als "Farbkonstanzleis­tung" bezeichnet wird). Fiir die Belange der Ergonomie ist es deshalb sinnvoll zu definieren:

• Die kiniisthetische Wahrnehmung erlaubt dem Organismus, Eigenbewegungen des Korpers im Raum zu erfassen. DafUr werden Informationen aus dem Vestibularorgan, den Maculaorganen, den Stellungsrezeptoren in Muskeln und Gelenken und den Mechanorezeptoren in der Haut adiiquat verrechnet.

• Die Tiefenwahrnehmung ermoglicht es dem Organismus, die Korperhaltung unabhiingig von iiuBeren Krafteinwirkungen zu erfassen. DafUr wird in geeig­neter Weise die Information aus den Muskelspindeln und den Gelenkrezepto­ren mit Information aus dem Vestibularorgan, den Maculaorganen und den Be­riihrrezeptoren verarbeitet.

• Die haptische Wahrnehmung erlaubt es dem Organismus, die Form und Ober­fliichenkonsistenz von beriihrten Objekten zu erfassen. DafUr werden die In­formationen aus Stellungsrezeptoren in Muskeln und Gelenken (speziell der Finger), den Mechanorezeptoren in der Haut aber auch der Thermorezeptoren in der Hautoberfliiche in adiiquater Weise miteinander verrechnet (Revesz, 1950).

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10.3 Haptische Riickmeldung bei sekundaren Bedienelementen 159

In diesem Beitrag erfolgt ausschlieBlich eine Betrachtung der haptischen Riick­mel dung im zuletzt definierten Sinne.

10.3 Haptische Ruckmeldung bei sekundaren Bedienelementen

10.3.1 Bedeutung von Oberflache und Schaltgeflihl

Abb. 10.2 Beispiel eines forrnkompatibel kodierten Schalters im Kfz (Schalter zur elektri­schen Sitzverstellung in Mercedes-Fahrzeugen).

Ein Hinweis, der in keinem Standardwerk der Ergonomie zu dem Kapitel "Hap­tik" fehlt, bezieht sich auf die Empfehlungen von Jenkins (1947), der fUr Flug­zeugstellteile eine formkodierte Oberfliichengestaltung vorschlug, die sogar das jeweilige betiitigte Objekt symbolisch wiedergibt. So empfiehlt er z.B. am Stell­hebel fUr die Betiitigung des Fahrwerks ein kleines Rad anzubringen. Der Schalter fur die elektrische Sitzverstellung, wie er in Mercedes-Benz-Fahrzeugen Verwen­dung findet, ist ein Beispiel fUr eine entsprechende Anwendung im Kraftfahrzeug. Es ist allerdings niemals wissenschaftlich untersucht worden, ob eine solche form­kompatible Haptik auch wirklich die entsprechenden Assoziationen hervorruft. Vielmehr diirfte die riiumliche Kompatibilitiit zu der entsprechenden Bewegung des betiitigten Objektes im Faile des Beispiels der Abb. 10.2 die entscheidende Rolle fUr die hohe Akzeptanz dieses Schalters spielen. Unbestritten ist jedoch, dass eine haptische Unterscheidbarkeit fur die Verwechslungssicherheit von Stell­teilen eine entscheidende Rolle spielt, wobei durchaus in Kauf genommen werden kann, dass eine gewisse Lemperiode abgewartet werden muss, bis die Relation "betiitigte Funktion" - "haptische Riickmeldung" zum unbewusst verfugbaren Erfahrungsbereich gehort. Wenn aus Grunden des Designs (Eindruck einer "Kla­viatur von Schaltem") oder der Kosteneinsparung Gleichteile verwendet werden, ist der Verwechslung von Schaltem, die noch dazu in etwa an gleicher riiumlicher Position angebracht sind, Tiir und Tor geoff net.

Eine iihnliche Argumentation ist fur das SchaltgefUhl, also fUr den ortlich­zeitlichen Verlauf des zur Betiitigung notwendigen Kraftverlaufes anzufUhren: die

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160 10 Haptik im Kraftfahrzeug

haptische Wiedererkennung ist fUr die Bediensicherheit von auBerordentlicher Bedeutung. Dazu kommt, dass der Kraft-Weg-Verlauf der damit initiierten Funk­tion entsprechen muss. D.h. bei digitalen Schaltvorglingen muss die Rasterung den entsprechenden Schaltspriingen entsprechen. Insbesondere miissen sich die Stellen der Unstetigkeit des Kraft-Weg-Verlaufs genau an der Stelle befinden, wo die Schaltvorglinge erfolgen. Moderne Bedienkonzepte (Ashley, 2001) iibertragen diese Forderung auf Bedienelemente mit elektronisch gesteuerter Riickstellkraft, die von der jeweilig beeinflussten Funktion abhlingt (z.B. wenn nur zwischen 6 Alternativen gewlihlt werden kann, existieren auch nur 6 Schaltstufen; wenn aber 10 Alternativen existieren, werden 10 mechanische Schaltstufen simuliert).

Ais Beispiel fUr Bemiihungen urn einen optimalen Kraft-Weg-Verlauf sei eine Untersuchung von Osumi et ai. (1990) zitiert. Ihr Ziel war die optimale Position der Schalter und komfortable Kraftverlliufe dafUr bei der Gestaltung von Autora­dios (unter der Voraussetzung Linkslenker, Radio rechts vom Fahrer) zu untersu­chen. 1m wesentlichen hlingt danach die Position vom vertikalen Winkel unter der horizontalen Normalsehachse und der horizontalen Handreichweite gemessen vom rechten Schulterdrehpunkt abo Der optimale Bereich ist bei vertikalen Winkeln unter 44° und Reichweiten unter 750mm zu finden. Heute k6nnen solche Angaben sehr spezifisch auf den jeweiligen Fahrzeugtyp mittels CAD-Hihiger Menschmo­delle wie beispielsweise RAMSIS (Seidl et aI., 1995) gefunden werden.

Weg [mm]

Abb. 10.3 Typischer Weg-Kraft-Verlauf eines Druckschalters

1m Weg-Kraftverlauf (Abb. 10.3) charakterisiert FI dabei die Intensitlit der Beriih­rung, das Verhliltnis FI/F2 die Empfindlichkeit, FI/sl den Anfangswiderstand und S2 bzw. S3 den gesamten Wegverlauf. Fiir den Kraftwert FI konnte ein Optimum bei 2,4N gefunden werden. Das stimmt sehr gut mit den im HDE (Schmidtke u. Riihmann, 1989) ver6ffentlichten Richtwerten fUr Fingerdruckkrlifte iiberein, die aus Grunden einer hinreichenden haptischen Riickmeldung - bei Dauerbetlitigung - Werte von 0,4 - 2N fUr Frauen bzw. 0,6 - 3N fUr Manner nicht unterschreiten sollten.

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10.3 Haptische Riickmeldung bei sekundiiren Bedienelementen 161

10.3.2 Schaltkomfort

Die Haptik des Schalters hat auch Einfluss auf das Komfortempfinden. Ohne eine wissenschaftliche Prazisierung zu wagen, entspricht es der Erfahrung, dass man­che Schalter als "billig" und "einfach" empfunden werden und andere als "hoch­wertig". Was allerdings die objektiven Ursachen fUr diese Beurteilung ist, entzieht sich bisher einer griindlichen wissenschaftlichen Analyse. Einen entscheidenden Betrag mittels der in der Ergonomie ublichen Methoden der Psychophysik auch fUr das SchaltgefUhl objektive Angaben zu erarbeiten wurde von Kosaka und Watanabe (1996) geleistet: sie untersuchten an einem Schaltersimulator, der frei programmierbare Ruckstellkraftverlaufe zulieB, den Zusammenhang zwischen den Kraften, wie sie in Abb. 10.3 definiert sind, und entsprechenden verbalen Be­zeichnungen. Mit Hilfe der Methode des semantischen Differentials (s. den Bei­trag von Kolrep und Fankhauser, Kap. 14) konnten sie sieben, das SchaltgefUhl wesentlich beschreibende Bezeichnungen herausfinden: "Anfangsweichheit (Initi­ally Smooth)", "Weichheit (Smooth)", "Tiefe (Deep)", "Klickend (Clicking)", "Steifheit (StifJ)", "Endanschlag (Arriving Shock)" und "Scharfe (Clear),'. Diese Begriffe lassen sich mittels der Faktoranalyse auf zwei unabhangige Faktoren reduzieren:

• Faktor I mit den Randem: weich, glatt, nicht klickend, nicht scharf­hart, scharf, klickend, nicht glatt

• Faktor 2 mit den Enden: kein deutlicher Endanschlag­deutlicher Endanschlag

Der Zusammenhang zwischen den Kraften und den entsprechenden Abstufun­gen der Bezeichnungen ("sehr", "mehr", "weder noch", "weniger", "wenig") war meist linear. Fur jede Bezeichnung konnten auf regressionsanalytischer Basis Gleichungen erarbeitet werden, die eine Prognose des MaBes des jeweiligen Ge­fUhls aus gemessenen Kraftwerten ermoglichen.

Mit diesem psychophysischen Ansatz wird allerdings nur ein Aspekt des Kom­fortempfindens einer Analyse unterzogen. Zhang et al. (1996) haben namlich herausgefunden, dass Komfort und Diskomfort keineswegs GroBen sind, die auf einer linearen Skala angeordnet werden durfen. Vielmehr ist eher anzunehmen, dass diese beiden GroBen unabhangig voneinander sind. So bezeichnet Komfort mehr den Bereich des "Gefallens" wahrend Diskomfort das "Erleiden" einer Si­tuation beschreibt. Mit den naturwissenschaftlich orientierten Methoden der Psychophysik kann man jedoch nur den Diskomfort (s.u.) erfassen. Gerade was das SchaltgefUhl und dessen Wertigkeit anlangt, ist aber auch der Aspekt des Komforts, also der des Gefallens, von groBer Bedeutung. Urn nun diesen Aspekt einer wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen, wurde von Bubb (1995) und Borschlein (1995) in Anlehnung an die Methode der Klimakomfortbewertung von Fanger (1973) eine Methode vorgeschlagen, deren Grundlage der komparative Vergleich mit dem Ziel der Erstellung einer Ordinalskala ist. Daftir wurden 8 Fahrzeuge mit unterschiedlicher Realisierung von Schaltem ausgewahlt. Ver­suchspersonen hatten die Aufgabe, verschiedene Schalter dieser Fahrzeuge hin­sichtlich des Materials, der Form und des BetatigungsgefUhls zu bewerten. Fur

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162 10 Haptik im Kraftfahrzeug

jedes Stellteil wurde dabei ein schematisch gleicher, aber speziell angepasster Fragebogen verwendet. Es war eine dreistufige Antwortmoglichkeit vorgegeben: "zu gering" (z.B. "zu leicht", "zu bilIig", "zu weich" usw.), "richtig" und "zu stark" (z.B. "zu schwer", "zu dumpf", "zu hart"). Ausgezahlt wurde die Haufigkeit der Antworten. Damit ergibt sich beispielsweise ein Bild, wie in Abb. 10.4 wie­dergegeben.

~ ... 'Qj .0.: 00

<;:: ~ 't.

::r:

100

80

60

40

20

Mercedes Golf Lexus Mazda 929 BMW Cadillac Xed os Honda

erwas zu rauh

richtig

c::::J etwas zu glatt

Abb. 10.4 Beurteilung des Lenkstockhebels hinsichtlich der "Oberfliichenreibung"

Mit dieser Methode ist es nun moglich, die physikalischen GroBen, die bei den meisten Nutzem zu einem optimal en Komforteinfluss fiihren, abzuschatzen. Abb. 10.5 zeigt dies am Beispiel der Breite des Lenkstockhebels. Mit einer Breite zwischen 22mm und 28mm sind mindestens 60% der Befragten einverstanden.

100

90

~ 80 DO

70 c ::J '0

60 c <;::: a.

50 E w <I) 40 ... tl 30 , ... ~ u 20 VI IV DO 10

0 10 14

o etwas zu groB

o etwas zu klein

richtig

18 22 26 30 34 38 42 Breite des Lenkstockhebels [mm]

Abb. 10.5 Prozentualer Anteil der Urteile in Abhiingigkeit von der Breite des Lenkstockhe­bels.

Nimmt man an, dass einem physikalisch beschreibbaren Parameter prinzipiell immer eine entsprechende Empfindung "etwas zu klein" bzw. "etwas zu groB" zugeordnet werden kann und diese prozentualen Empfindungen beziiglich des

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10.3 Haptische Riickmeldung bei sekundaren Bedienelementen 163

physikalischen Parameters symmetrisch verteilt sind, dann konnen folgende Grenzfalle unterschieden werden (Abb. 10.6):

• Uberlappen sich die beiden Kurven bei einem Beurteilungsanteil von ca. 50% (oder knapp darunter), so kann sich kein Anteil "behaglich" ausbilden. Man muss dann versuchen, der individuellen Empfindung durch Einstellbarkeit ge­recht zu werden. Klassisches Beispiel dafUr ist die Sitzeinstellung.

• Schneiden sich die beiden Kurven deutlich unterhalb des 50% Anteils beziig­lich des physikalischen Messparameters, so bildet sich eine Kurve "behaglich" aus. Das Maximum dieser Behaglichkeitskurve ist urn so groBer, je weiter die beiden Kurven auseinander liegen. In diesem Fall kann gemaB einer globalen Firmenphilosophie fUr einen vorher bestimmbaren Anteil an Nutzem ein hin­reichender Komfort gewahrleistet werden.

~ 90 -

~ 80 -QJ t 70 -

iil 60

~ SO

.jg 40

..!!! 30 -

.~ 20 c:

<: 10

Empfindung individuelle Unterschiede

Empfindung individuelle Unterschiede

O~~~~~~~~============

100

~ 90

..:! 80 ·iii

-2.4 ·0.4 0.6 2.6 4.6

Kriterium z-transformiert

Empfindung individuelle Unterschiede

~ 70 ~twaS zu gr~B QJ 60 ----- ------ ----

~ 50 -

.jg40

..!!! 30

.~ 20 -c: <: 10-

.2.4 -0.4 0.6 4.6

Kriterium z-transformiert

6.6

100

-------- ~ 90

~ 80 QJ t 70 -

~ 60 til

s.... 50 -

.jg 40

..!!! 30

.~ 20 -----c:

<: 10

Kriterium z-transformiert

Empfindung individuelle Unterschiede

6.6

6.6 0-·~.=2.4~--.0-.4-=0.6~~-====4~.6~~6~.6~-

Kriterium z-transformiert

Abb. 10.6 Behaglichkeit und Abstand der begrenzenden Funktionen in Abhangigkeit von dem einflussnehmenden physikalischen Kriterium (nach Bubb, 1995).

Wie Abb. 10.4 ausweist, ist es bei der beschriebenen Methode nicht unbedingt notwendig, auf der Abszisse physikalische GroBen, wie in Abb. 10.5 geschehen, aufzutragen. Der Ausgangspunkt sind vielmehr immer reale Beispiele. Das bedeu­tet, dass auch dann, wenn sich eine genaue physikalische Metrisierung verbietet, wie es bei allen Fragen der Fall ist, die den Komfort, also das "Gefallen" anlan­gen, ein Auffinden des Optimums dennoch moglich ist. Tabelle 10.1 zeigt am Beispiel des Lenkstockhebels das Ergebnis einer solchen Erhebung: In der ersten

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164 10 Haptik im Kraftfahrzeug

Spalte sind die Items dargestellt, nach denen gefragt wurde. Die zweite Spalte zeigt die Fahrzeuge, die bei der Untersuchung in der jeweiligen Kategorie die besten Ergebnisse zeigten (zwei oder mehrere Fahrzeuge in einer Zeile bedeutet, dass zwischen diesen kein statistischer Unterschied feststellbar war). Die dritte Spalte enthiilt mogliche Verbesserungen, die sich aus den Diagrammen wie Abb. 10.6 ergeben.

Tabelle 10.1 Empfeh1ung fiir das Stellteil "Lenkstockhebel"

Item

Material: "Oberflachenreibung"

Material "Gesamtbeurteilung"

Form: "GroBe"

Form: "Flachenauspragung"

Betatigungsgefiihl "Gerausch-Lautstarke"

Betatigungsgefiihl: " Gerausch-Klangbild"

Betatigungsgefiihl: "Druckkraft"

Betatigungsgefiihl: "Betatigungsweg"

Betatigungsgefiihl: "Einrasten"

Betatigungsgefiihl: "Betatigungsbewegung"

Betatigungsgefiihl: "Gesamturteil"

Am besten bewerteter Lenkstockhebel

Mercedes BMW

Mercedes

Mercedes

Mercedes

Mercedes Honda, Lexus

Mercedes

Honda Lexus

Lexus

Honda

Honda Lexus Mercedes

Honda Lexus

1 0.4 Haptik bei primaren Stellteilen

Optimierung in Richtung:

minimal rauer; etwas rauer

-/-

etwas kleiner

etwas runder

etwas leiser etwas leiser etwas leiser

-/-

etwas leichter etwas leichter

etwas kiirzer

weicher

etwas glatter etwas glatter etwas glatter

-/--/-

Die Betiitigung der SteHteile fiir die ErfiiHung der primaren Fahraufgabe unter­scheidet sich im Kraftniveau erheblich von dem fiir die der sekundaren Aufgabe. Das hat im wesentlichen historische Griinde: die SteHteile, fiber die auf den Be­wegungszustand des Fahrzeugs Einfluss genommen wurde, waren urspriinglich nur mechanisch mit den entsprechenden "ausfiihrenden" Organen (SteHung der gelenkten Vorderriider, Starke des Anliegens der Bremsbacken, SteHung der Dros­selklappe im Vergaser) verbunden, so dass der dafiir notwendige Kraftaufwand von der jeweiligen Konstruktion des Fahrzeugs bestimmt war. Erst mit der Ent­wicklung diverser Servosysteme erhielt die Gestaltung der SteHteilkriifte eine besondere eigene Aufmerksamkeitszuwendung. Erwiihnt werden mfissen in die-

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10.4 Haptik bei primiiren Stellteilen 165

sem Zusammenhang insbesondere die servo-hydraulische Bremsanlage und die Servolenkung. Mit den Moglichkeiten der modemen sog. By-wire-Systeme, d.h. der volligen Auftrennung einer mechanischen Verbindung zwischen Stellteil und ausfUhrendem Organ und deren Ersatz durch im wesentlichen elektrische Aktuato­ren, die mittels regelungstechnischer Methoden mit dem Stellteil verbunden wer­den, eroffnen sich der Gestaltungsmoglichkeit ganz neue Perspektiven. Dabei sind zwei grundsatzlich verschiedene Wege zu unterscheiden: zum einen kann man versuchen, mit den neuen Freiheiten ein Stellteil mit "optimalem" Kraft-Weg­Verlauf zu konzipieren, das sich aber aus der Sicht des Nutzers nicht anders ver­hiilt als das entsprechende bisherige "konventionelle" Stellteil. Zum anderen kann man die neuen Freiheiten nutzen, die Bedienphilosophie der Fahrzeugsteuerung ganz neu zu iiberlegen. In den folgenden Abschnitten werden Ergebnisse beziig­lich beider Wege zusammengetragen.

10.4.1 Optimierung der Haptik bei konventioneller Kraftfahrzeugsteuerung durch By-wire-Systeme

Uingsdynamik

Die beiden wesentlich die Langsdynamik des Fahrzeug beeinflussenden Stellteile, namlich Gaspedal und Bremspedal (von den nur die "Technik" des Fahrzeugs bedienenden Stellteilen "Kupplung" und "Schalthebel" solI hier abgesehen wer­den), heben sich yom die Querdynamik beeinflussenden Lenkrad wesentlich da­durch ab, dass sie - bedingt durch die verwendete Technik - selbst dem Fahrer keinerlei Riickmeldung iiber die Wirkung seiner Handlung vermitteln, sondem nur iiber den Umweg der Wirkung auf das Fahrzeug. Sie liefem mehr oder weniger prazise (s.u.) nur Information iiber die Stellung des Pedals und die damit verbun­dene Riickstellkraft. Das Lenkrad liefert demgegeniiber in gewisser Weise Infor­mation tiber den aktuellen fahrdynamischen Zustand (s.u.).

Die Gestaltung der Riickstellkrafte beim Gaspedal ist dabei vergleichsweise einfach, da es hier nur auf die Starke der Riickholfeder ankommt. Wang et al. (1996) haben sich in ihren Untersuchungen mit der subjektiven Empfindung von Kraften auf der Basis der Beurteilung nach der Borg-Skala (Borg, 1982) beschaf­tigt. Diese liegen bei kurzfristiger Betatigung fUr "sehr starke" Krafte bei 48N, was nach der Borg-Skala zwischen der Bezeichnung "schwach" und "moderat" liegt. Fiir Dauerbetatigung diirften jedoch nur 15% dieser Kraft, also 7,2N zuge­mutet werden. Wenn man allerdings bedenkt, dass nach der erwahnten Erhebung die Ruhekraft des linken FuBes durchschnittlich bei 20N liegt, erschient es akzep­tabel, fUr Dauerbetatigung bei 2/3 der Gaspedalstellung einen Wert von ca. 27N zu postulieren. Das entspricht auch dem Wert, der in den meisten Kraftfahrzeugen realisiert wird. Auch dies stimmt gut mit Richtwertangaben des HDE (Schmidtke und Riihmann, 1989) iiberein, die bei sicherheitskritischer Pedalbetatigung fUr Frauen ein Uberschreiten von 26N fUr nicht geboten halten.

In Verbindung mit dem sog. elektronischen Gaspedal besteht zusatzlich die Moglichkeit, die Verbindung zwischen Gaspedalstellung und Drosselklappe nicht-

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linear und zudem noch abhiingig von weiteren Parametem (z.B. Motordrehzahl, Lastzustand) relativ frei zu gestalten. Dadurch eroffnet sich die Chance, den nicht­linearen Zusammenhang von Drosselklappenstellung bzw. Einspritzmenge, Mo­tordrehzahl und Drehmoment fiir das Empfinden des Fahrers quasi zu linearisie­ren. Er bekommt dadurch das Gefiihl vermittelt, dass der Motor scheinbar besser "am Gas hiingt". Dabei konnen unterschiedliche Taktiken zur Anwendung kom­men: man kann einerseits versuchen, einen moglichst linearen Zusammenhang zwischen der Gaspedalstellung und dem Drehmoment zu erreichen, wobei man sich auf die Drehzahl mit der jeweiligen Drehmomentspitze bezieht. Aus ergono­mischer Sicht ist diese Auslegung zu bevorzugen, weil sie der grundsiitzlichen menschlichen Annahme eines linearen Zusammenhangs von Stellteilbewegung und damit erreichtem Effekt entgegenkommt. Man kann aber auch eine nichtlinea­re Charakteristik bevorzugen, urn dadurch eine eventuell gegebene Antrittsschwii­che des Motors zu kaschieren. Der Motor des Fahrzeugs erscheint dann auf Kos­ten des Verbrauchs "spritziger" als er ist.

Neuere Entwicklung gehen noch einen Schritt weiter: sie fiihren zum sog. "Ak­tiven Gaspedal". Hier wird im Extremfall die Rtickstellkraft vollkommen synthe­tisch produziert. Dadurch eroffnet sich die Moglichkeit, zusiitzlich fahrdynami­sche Information tiber das Gaspedal riickzumelden. So wird schon liingere Zeit diskutiert, das Unterschreiten des Sicherheitsabstandes zum vorausfahrenden Fahrzeug, das beispielsweise tiber ein Radarabstandswamsystem (ACC bzw. Distronic) situationsabhiingig bestimmt ist, durch eine ErhOhung der Gaspedal­riickstellkraft anzuzeigen, was wie ein veriinderter Druckpunkt im Gaspedal emp­funden wird. (Reichart, 2000; Haller, 2000). Versuche mit solchen Anordnungen zeigen im Realfahrzeug wie im Simulator eine hohe Akzeptanz. Eine andere An­wendung des Aktiven Gaspedals kann darin liegen, Strategien fiir verbrauchsop­timiertes Fahren dem Fahrzeugfiihrer situationsangepasst zu vermitteln (Samper u. Kuhn, 2001). Wie entsprechende Versuche zeigen, konnen derartige haptische Anzeigen zwar zu einer Verbrauchsminderung von ca. 10% fiihren, allerdings nur dann, wenn seitens des Fahrers eine Bereitschaft vorhanden ist, den Empfehlungen zu folgen, durch die eine eher ruhige Fahrweise vorgegeben wird. Wenn allerdings solche Techniken eines situationsabhiingigen kiinstlichen "Druckpunktes" im Gaspedal angewendet werden, so darf sich das nur auf eine Information beziehen. Bedenklich wiire auch, wenn verschiedene Fahrzeughersteller hier unterschiedli­che Ziele verfolgen wiirden.

In jtingerer Zeit wird auch diskutiert, das Bremsgefiihl durch die Einfiihrung einer elektrischen Bremse zu gestalten. Abbildung 10.7 gibt den gemessenen Kraft-Weg-Verlauf einer konventionellen Servobremse fUr unterschiedliche Bremsbetiitigungen wieder. Diese ist - durch die mechanischen und hydraulischen Eigenschaften des Systems bedingt - unabhiingig von der Art der Betiitigung im­mer durch eine starke Hysterese gekennzeichnet. Hinzu kommt, dass sich diese Charakteristik erheblich in Abhiingigkeit von der Betiitigungsgeschwindigkeit veriindert. 1m Hinblick auf die schon erwiihnte grundsiitzliche menschliche Erwar­tung eines linearen Verhaltens ist dies natiirlich von Nachteil. Mit Hilfe elektri­scher by-wire-Bremsen mit elektronischer Regelung kann dies kompensiert wer­den. In Abb. 10.7 ist zusiitzlich der elektronisch verwirkliche Optimalverlauf ein-

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10.4 Haptik bei primiiren Stellteilen 167

gezeichnet, der weder eine Hysterese noch eine Abhangigkeit von der Betiiti­gungsgeschwindigkeit zeigt. Sein progressiver Verlauf ist auf Arbeiten von Gok­tan (1987) zuriickzufiihren, wo in simulierten Nachfahrversuchen und Bergabfahr­ten diese Charakteristik als bester Kompromiss gefunden wurde. Wie allerdings Bill et al. (1999) betonen, hangt das Pedalgefiihl erheblich von der Bauart des Fahrzeugs (z.B. Pkw oder Lieferwagen) abo Deshalb werden z.Z. in einem eigens modifizierten Versuchsfahrzeug mit einer mechatronischen Verbindung zwischen Pedal und Aktuator verschiedene softwaretechnisch realisierbare Charakteristiken getestet, urn so zu einem Brake Feel Index zur Objektivierung des Bremspedalge­fiihls zu kommen.

Betiitigung langsam sehr schnell mittel . _. ' •• I, .,

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Abb. 10.7 Weg-Kraft-Verlaufe am Bremspedal eines modernen PKW mit Servobremse in Abhangigkeit der Betatigungsgeschwindigkeit.

Querdynamik

1m Gegensatz zu den Bedienelementen fUr die Beeinflussung der Langsdynamik liefert das Lenkrad Information iiber Reaktionskriifte zwischen den gelenkten Vorderriidem und der StraBe und damit in gewissen Grenzen Information iiber fahrdynamische GroBen. Allerdings sind die Verhiiltnisse sehr verwickelt und konnen in diesem Ubersichtsartikel nur sehr verkiirzt wiedergegeben werden. Durchrahrt niimlich das Fahrzeug einen Kreisbogen, entsteht eine mit dem Quad­rat der Geschwindigkeit ansteigende Querkraft (Zentrifugalkraft), die von den Riidem mittels der Haftreibung iibertragen werden muss. Fiir die am Lenkrad spiirbare Riickstellkraft ist diese Ubertragung der Seitenkraft S in der Aufstands­fliiche der Vorderriider von besonderer Bedeutung. Wenn vom Reifen quer zur Fahrtrichtung gerichtete Kriifte iibertragen werden, verspannt sich der elastische Reifen vom Beginn der Beriihrfliiche ausgehend solange, bis die quer gerichtete Tangentialspannung den durch die Reibungszahl gegebenen Maximalwert iiber­steigt. Mit zunehmender von der Aufstandsfliiche iibertragener Kraft ist dieser Kraftanstieg innerhalb der Aufstandsfliiche steiler und erreicht ggf. einen Wert, der durch die wirksame Reibungszahl begrenzt ist. Befindet sich Wasser auf der

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Fahrbahnoberflache, so verschiebt sich der beschriebene Verspannungsvorgang in Abhangigkeit von der Wasseraufnahmefahigkeit der Drainagekanale im Reifen­profil nach hinten. In der nun hinzukommenden ersten Annaherungszone schwimmt der Reifen auf, dort konnen praktische keine Querkrafte iibertragen werden. In jedem Fall jedoch existiert bei der Ubertragung von Querkraften ein Richtungsunterschied zwischen der Reifenebene ("Rollrichtung") und der Lauf­richtung ("Fahrtrichtung"), welcher "Schraglaufwinkel" genannt wird (Abb. 10.8)

Fahrtrichtung

Rollrichtung

Abb. 10.8 Reaktion der Seitenkraft S und der Radlast P in der Beriihrflache des geienkten Vorderrades.

In Abhiingigkeit von der - wie oben angedeutet - auf verwickelte Weise ent­stehenden Seitenkraft S baut sich ein Reifenriickstellmoment MR auf, das den Reifen aus der Schraglaufstellung herauszudrangen versucht. Zu diesem Reifen­riickstellmoment addiert sich nun noch das aus dem konstruktiven Nachlauf (sog. "Teewageneffekt") entstehende Riickstellmoment MK, das praktisch nur ge­schwindigkeitsabhiingig ist. Auf diese Weise entsteht am Lenkrad ein Riick­stellmoment, das vom Lenkwinkel, der Geschwindigkeit und dem Reibbeiwert ab­hangt. Es kommt sehr kompliziert zustande und ist in mehrfacher Hinsicht nichtli­near mit den Einfluss nehmenden GroBen verbunden. Nur nach sehr viel Erfah­rung, die auch ein hiiufiges Fahren im sog. Grenzbereich bei unterschiedlichen StraBenbedingungen und StraBenzustanden voraussetzt, wobei durchaus auch of­ters die Grenze zur Instabilitat iiberschritten werden miisste, diirfte es moglich sein, ein Gefiihl flir diesen komplexen Zusammenhang aufzubauen. Fiir berufsma­Bige Rallyefahrer oder geschulte Versuchsfahrer in Automobilwerken mag dies Voraussetzung gelten. Bei den meisten, auf Grund langjahriger unfallfreier Fahr­praxis als erfahren anzusehenden Fahrern diirfte jedoch, gerade weil sie den Uber­gang zum instabilen Fahrzustand normalerweise meiden, eine sehr viel einfachere Erfahrung gespeichert sein:

"Wenn beim Drehen des Lenkrades nach anfonglichem Zunehmen das Rilck­stellmoment plotzlich geringer wird, ist die Straj3e glatt oder rutschig"

Nach der obigen Erklarung des Zustandekommens des Riickstellmoments tritt dieser Fall ein, wenn praktisch in der gesamten Reifenaufstandsflache die maxi­mal mogliche Querspannung iiberschritten ist. Die Erfahrung beinhaltet aber kei-

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10.4 Haptik bei primiiren Stelltei1en 169

nerlei Wamung im Vorfeld des Eintreten dieses Zustands. Das Lenkradriickstell­moment liefert also keine ausreichende und Sicherheit gewahrleistende Informati­on iiber den StraBenzustand.

Donges (1982) weist darauf hin, dass heutige Fahrzeugauslegungen zwar fUr Extremmanover einen groBen Spielraum lassen, weil im "normalen" StraBen­verkehr maximal 40%-50% der objektiv vorhandenen Reserven wirklich genutzt werden. Bedingt durch die mechanischen Zusammenhiinge sind aber die Riick­meldungen fUr den Fahrer in diesen fahrdynamischen Extrembereichen stark nichtlinear. So steigt beispielsweise bei stationarer Kreisfahrt der Lenkradwinkel bei fast allen Fahrzeugen mit zunehmender Querbeschleunigung (hier erreicht durch zunehmende Geschwindigkeit) zunachst linear an, erhOht sich dann aber iiberproportional im Grenzbereich. Das Lenkradriickstellmoment steigt zunachst ebenfalls quasilinear an, im Grenzbereich ist das Verhalten dann aber umgekehrt zum Lenkradwinkel (s.o.). Der Fahrer ist somit bei dem Versuch, aus dem linearen Erfahrungsbereich in den Grenzbereich zu extrapolieren iiberfordert. Als Losung dieses Dilemmas schlagt Donges schon damals eine synthetische Kraftriick­kopplung vor.

Bei der EinfUhrung der hydraulischen Servolenkung hat man sich sehr bemiiht, die Reaktionskrafte zwar zu reduzieren, aber ansonsten moglichst unverfalscht auf das Lenkrad zu iibertragen. Die motordrehzahlabhiingig betatigte Servopumpe hat dabei allerdings den Effekt, dass diese Riickstellkraft zusatzlich zu den oben ge­schilderten fahrdynamisch bedingten Einfliissen auch noch von der Motordrehzahl abhiingt. Modeme Servolenkungen, die durch die EinfUhrung von elektrohydrauli­schen bzw. rein elektrischen Servoaggregaten nun auch in den preiswerteren Fahr­zeugklassen eingefiihrt werden konnen, werden deshalb so modifiziert, dass die Servowirkung mit der Fahrgeschwindigkeit abnimmt (bereits 1981 von Adams vorgeschlagen und von Hackenberg 1983 erstmals fUr den UNI-CAR verwirklicht).

Schon seit sehr langer Zeit wurden auf wissenschaftlicher Ebene Versuche un­temommen,l-enkiibersetzung und Riickstellkrafte zu variieren, urn so zu einer optimalen Inteiaktion von Fahrer und Fahrzeug zu kommen. Am hiiufigsten wird dabei eine variable Lenkiibersetzung vorgeschlagen, in dem Sinne, dass mit zu­nehmenden Lenkwinkel die Umsetzung in den Radeinschlag direkter wird (z.B. Hackenberg, 1983). Als Vorteil fUr eine solche Auslegung wird der geringe Be­wegungsaufwand bei Rangierarbeiten und die Unempfindlichkeit der Lenkung bei normalen Fahrmanovem angefiihrt (Friedrich et aI., 2001). Bereits Wallner (1972) konnte aber in Simulatorversuchen in Ubereinstimmung mit den bereits erwahnten allgemeinen ergonomischen Erkenntnissen, welche fUr nichtlineare Ubertragungs­charakteristiken schlechtere Steuereigenschaften vorhersagen, keine positiven Effekte fUr eine solche Lenkungsauslegung beobachten.

Von Schultze (1981) und Temming (1984) wurde ein weiterer Versuch veran­derter Lenkiibersetzung berichtet: Sie variierten diese in Abhiingigkeit von der Geschwindigkeit, so dass sie mit zunehmender Geschwindigkeit direkter wurde. Dadurch wird die normalerweise geometrisch gegebene Verkopplung der Langs­orientierung mit der Geschwindigkeit vollkommen eliminiert, die der Querbe­schleunigung wird von einer quadratischen auf eine lineare Geschwindigkeitsab­hiingigkeit reduziert (Bubb, 1993). In den experimentellen Untersuchungen konn-

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ten die positiven Erwartungen, die sich durch diese Form der Linearisierung erge­ben, bestatigt werden.

Die meisten Experimente und Uberlegungen zur Gestaltung der haptischen Riickmeldung am Lenkrad beziehen sich jedoch auf die kiinstliche Zusammenset­zung eines haptischen GefUhls. Schon Segel und Bundorf (1966) stellten ein Ver­suchsfahrzeug vor, bei dem die Lenksaule mechanisch vollkommen getrennt war von einer Servoeinrichtung zur Verstellung der Spurstange. Durch einen Dreh­momentmotor wurde kUnstlich eine Riickstellkraft fUr den Fahrer bereit gestellt. Durch diese Versuchsanordnung waren bereits modeme Vorstellungen des Drive­by-wire vorweggenommen worden. Die Lenkradstellung beeinflusste zwar direkt die Servoeinrichtung fUr die Spurstange, auf den Drehmomentmotor, der die Riickstellkraft simuliert, werden aber mit einstellbarem Gewicht Informationen iiber Rollwinkel und Rollwinkelanderung, Gierwinkel, Gierwinkeliinderung, Querbeschleunigung, Fahrzeuggeschwindigkeit und Riickstellkrafte in der Spur­stange gegeben. Ziel ist dabei, ein optimales LenkgefUhl experimentell zu synthe­tisieren. Mit den heute erweiterten Moglichkeiten des Drive-by-wire und der Aus­sicht auf eine gesetzliche Anderung, die eine Abkehr von der mechanisch starren Verbindung von Lenkrad und Spurstange ermoglicht, werden in allen Fahrzeug­firmen Versuche der geschilderten Art durchgefUhrt. So wurde von Friedrich et al. (2001) von einem VW-Bus berichtet, der mit einer derartigen Lenkung ausgeriistet ist. Versuchsfahrer konnten bei entsprechender Einstellung des Systems den Un­terschied zu einer konventionellen Lenkung nicht erkennen.

10.4.2 Verbesserte Einbindung des Fahrers in den Mensch-Maschine-Regelkreis durch das "Aktive Stellteil"

Wie bereits angedeutet, bietet die By-wire-Steuerung neuartige Moglichkeiten, dem Fahrer eine weitaus intuitivere und damit bediensicherere Einwirkung auf das Fahrzeug zu gestatten als dies bei dem konventionellen Konzept moglich ist, die ja letztlich auf Grund der historisch-technischen Entwicklung des Fahrzeugs und nicht aus grundsatzlichen bedientechnischen Uberlegungen zustande gekommen ist. Das neue Argument ist: mit den Moglichkeiten modemer Mikroelektronik in Verbund mit dem ausgefeilten Potential der Mechanik (Stichwort: Mechatronik) kann technisch fast jede Form der Bedienung realisiert werden. Deshalb ist es nun moglich, aus der Sicht der physiologischen und psychologischen Eigenschaften des Menschen diese Bedienung zu gestalten.

Die Sicherheit natiirlicher menschlicher Bewegung im Alltag, ohne Nutzung technischen Umsetzungswerkzeugs, kommt im Wesentlichen dadurch zustande, dass durch Erfahrung sog. "innere Modelle" aufgebaut worden sind, die im Detail bestimmen, welcher Muskel zu welcher Zeit betatigt werden muss und gleichzei­tig vorherzusagen erlauben, welche Riickmeldung bei der entsprechenden Bewe­gung zu erwarten ist (Bubb, 1993). Solche Erfahrung liegt fUr alltagliche Bewe­gungen in bedeutend umfangreicherem MaBe und viel tiefer verwurzelt vor als bei spater erlemten Betatigungen (z.B. wahrend der Fahrschule). So ist es zu erklaren, dass der Mensch mit derselben Sicherheit ein leichtes Wasserglas (sowohl gefUllt,

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IDA Haptik bei primiiren Stelltei1en 171

als auch leer), einen Brietbeschwerer oder einen schweren Koffer manovrieren kann. Systemergonomisch betrachtet handelt es sich in allen drei Hillen urn eine Beschleunigungssteuerung, da die Kriifte zuniichst dazu verwendet werden, den Gegenstand zu beschleunigen und spiiter zeitgerecht so zu verzogern, dass er an der beabsichtigten Stelle abgesetzt werden kann. Dies geschieht mittels der in der friihesten Kindheit erworbenen inneren Modelle und auf Grund der im Rlicken­mark vorhandenen Unterregelkreise des Kraft- und Wegservomechanismus voll­kommen unbewusst mit groBter Priizision. Dieser natiirliche Regelkreis wird bei der Bedienung technischer Geriite aufgebrochen; er gilt zwar immer noch fiir die Betiitigung des Bedienelements selbst; beziiglich des gewiinschten Effekts der mit der Maschine erreicht werden solI, ist aber keine solche direkte, propriozeptive Rlickmeldung gegeben. Diese Rlickmeldung erfolgt nun liber einen iiuBeren, liin­geren Weg auf dem optischen bzw. gegebenenfalls akustischen und dem kiniisthe­tischen Informationsaufnahmekanal. Erst wenn flir diese Version neue innere Modelle aufgebaut sind (= Lemen), ist wieder ein sicheres unbewusstes Handeln moglich. Naturgegeben sind diese im spiiteren Lebensalter erworbenen inneren Modelle weniger stabil, d.h. es kann leichter eine Alternative in Erwiigung gezo­gen werden als bei den zuerst genannten. Die in Abb. 10.9 gezeigte Version stellt die Situation dar, bei der liber das Bedienelement keinerlei maschinenrelevante Information libertragen wird. Sie ist in der Flugzeugtechnik als der Nachteil des sog. Fly-by-wire bekannt. In der Kraftfahrzeugtechnik stellt die Betiitigung von Brems- und Gaspedal ein solches System dar (s.o.). In vielen Fiillen enthiilt die Rlickstellkraft des Bedienelements aber doch Information liber den Betriebszu­stand der Maschine - allerdings in verschllisselter Form. Das ist bei der Kraftfahr­zeuglenkung der Fall, die bereits ausflihrlich diskutiert wurde.

Kraft Aufgabe Ergebnis

Mensch Maschine

Abb. 10.9 Infonnationsfluss bei der Bedienung einer Maschine mit herkomm1ichem Stell­teil.

Die Grundliberlegung flir das aktive Bedienelement besteht nun darin, die ur­spriinglichen, in der Kindheit erworbenen, inneren Modelle flir die Maschinenbe­dienung zu nutzen. Dazu befindet sich am aktiven Bedienelement ein Kraftsensor, durch den die Information der intendierenden Kraft liber entsprechende Servo­aggregate zur Steuerung der Maschine benutzt wird. Der von der Maschine be­wirkte Effekt wird gemessen und liber einen Servomotor in eine entsprechende WeggroBe des aktiven Bedienelements umgewandelt. Der Mensch hat also sozu­sagen informationstechnisch gesehen die Maschinendynamik in der Hand (Abb. 10.10).

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172 10 Haptik im Kraftfahrzeug

Kraft

Aufgabe VtktiVeS

Bedienelement Ergebn is

~ Mensch / Bedien-element Maschine

t Servo-motor

• ""'-We1.

Abb. 10.10 Infonnationsfluss beim aktiven Stellteil

Auf der Grundlage dieser Uberlegungen und der Anwendung systemergonomi­scher Regeln (Bubb, 1993) kann eine ganz neuartige Steuerung des Kraftfahrzeugs konzipiert werden. Ausgangspunkt ist die systemergonomische Regel, dass eine zweidimensionale Aufgabe, wie das Fiihren eines Kraftfahrzeugs (eine willentli­che Beeinflussung ist unter normalen Verkehrsbedingungen nur in Langs- und Querrichtung moglich) optimal auch dutch ein zweidimensionales Stellteil betatigt wird. Neben anderen Versionen (Bubb, 1985) kommt hierfUr in erster Linie der Joystick in Frage. Bereits 1958 wurde von General Motors ein Versuchsfahrzeug vorgestellt, das tiber eine solches Bedienelement zur Lenkung des Fahrzeugs ver­fugte. Erst mit den Moglichkeiten der Mechatronik und der Realisierung dieses Bedienelements als "Aktives StellteilH konnte diese Art der Fahrbewegungsbeein­flussung fur das Kraftfahrzeug interessant werden. Versuche in dieser Richtung wurden zuerst von Bolte (1991) am Simulator durchgefUhrt. Eckstein (2000) in­stallierte das "Aktive StellteilH zum erstenmal in verschiedene reale Fahrzeug (Mercedes-Benz 200, 500 SE und 500 SL) und Friedrich (2001) berichtet yom Aufbau ahnlicher Versuchsfahrzeuge bei VW bzw. AUDI. In allen Fallen wird die paarweise Bestiickung eines Fahrzeugs mit einem derartigen Sidestick bevorzugt (Abb. 10.11).

Bolte (1991) schildert vor all em Handlingvorteile. So zeigt er, dass die Quer­dynamik des geschlossenen Fahrer-Fahrzeug-Regelkreises bei der konventionellen Lenkung bei ca. O,4Hz eine Resonanzstelle besitzt (s.a. Donges, 1982), die beim aktiven Stellteil vollig verschwindet. Erklart wird dies mit der wesentlich kiirzeren Reaktionszeit des haptischen Sinneskanals, der im Gegensatz zu den anderen Sinnesorganen (Augen, aber auch Manual-lVestibularorgan) tiber das Rtickenmark einen eigenen Unterregelkreis (sog. "EigenreflexbogenH) besitzt, der eine ca. vier­fach schnellere Reaktion erlaubt. Eckstein (2000) fand - ebenfalls in Simulatorex­perimenten - fur Fahranfanger eine ktirzere Eingewohnungszeit. Er schildert zu­dem deutliche Eingewohnungsproblem fur altere, an das konventionelle System gewohnte Personen. Dies weist auf das hohe Habituationsniveau des haptischen Sinneskanals hin.

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10.4 Haptik bei primaren Stellteilen 173

Abb. 10.11 Beispiel fur Versuchsfahrzeug mit Sidestick-Steuerung (Mercedes 500 SL; Eckstein, 2000).

1m Hinblick auf die zunehmende Entwicklung von Assistenzsystemen hat jedoch dieses neue System wichtige theoretische Vorteile aufzuweisen. So haben z.B. radargestiitzte automatische Abstandshaltesysteme (ACC, Distronic) den system­ergonomischen Nachteil, keine haptische Riickmeldung iiber den Antriebs- bzw. Bremszustand des Fahrzeugs liefem zu konnen. Das bereits erwiihnte "aktive Gaspedal" liefert nur Information iiber die Notwendigkeit "Gas wegzunehmen"; ein eingeleiteter Bremsvorgang kann jedoch nicht angezeigt werden. Das aktive Stellteil wiirde dem gegeniiber diese Information haptisch unmittelbar vermitteln und zudem eine sehr intuitive Reaktion erfordem, falls aus menschlicher Einsicht der Empfehlung des Assistenzsystems entgegen gehandelt werden muss. Noch bedeutender wird diese Uberlegung in Verbindung mit einem Assistenzsystem fiir die Spurhaltung ("Heading Control", entwickelt u.a. bei BMW im Rahmen des PROMETHEUS-Projektes). Penka (2001) hat deshalb am Simulator verschiedene Situationen untersucht, die ein Ubersteuem von Assistehzsystemen notwendig machen. Sie zeigen, dass das aktive Stellteil unter soIchen Bedingungen generell eine groBere Akzeptanz erhiilt als die konventionelle Bedienung. Allerdings wird gegeniiber den Assistenzsystemen ganz allgemein ein gewisses Misstrauen gehegt, so dass - wegen seiner groBeren Vertrautheit - (noch) der konventionellen Bedie­nung der Vorzug gegeben wird.

Trotz dieser einschriinkenden Befunde lohnt es sich, mit Blick auf die zukiinfti­ge Entwicklung von Assistenzsystemen, durch die ein kiinstlicher dynamischer, durch elektronische Distanzmessungen realisierbarer Schutzwall urn das in Bewe­gung befindliche Fahrzeug aufgebaut wird (Labahn u. Boehlau, 2001), mit dem aktiven Stellteil in dieser oder jener Ausfiihrungsform auseinander zu setzen. Ergibt sich doch dadurch die Chance, das Eindringen des eigenen Fahrzeugs in diesen Schutzwall unabhiingig von der jeweiligen Fahrsituation immer auf gleiche Weise situationsadiiquat iiber den haptischen Sinneskanal an den Fahrer riickzu-

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melden. Wie dargelegt, werden dadurch nicht nur schnellere Reaktionen moglich, sie sind wegen der Konformitat zu den Inneren Modellen aus dem Alltagserleben zudem intuitiv richtig. Zudem konnen jederzeit die technischen Empfehlungen ohne irgendwelche Umdenken iibersteuert werden. Der Fahrer bleibt also trotz Assistenz Herr der Situation.

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11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte zur Steuerung technischer Systeme wah rend der Fahrt im Kraftfahrzeug: Evaluationsbefunde zur Systemweiterentwicklung mit paralleler Sprachbedienung

Kay Schattenberg und Giinter Debus

11.1 Anzeige- und Bedienkonzepte

11.1.1 Visuell-manuelle versus multimodale Interaktion

Mensch-Maschine-Schnittstellen (MMS) sind hiiufig so ausgelegt, dass visuell Information aufgenommen und manuell Stellteile bedient werden. Einschliigige Ergonomie-Literatur befasst sich entsprechend mit der optimalen Gestaltung die­ser visuell-manuellen Schnittstelle (z.B. Dix et aI., 1998; Sanders u. McCormick, 1992; Wickens et aI., 1998; Wickens u. Hollands, 2000). Diese visuell-manuelle Interaktionsmodalitiit ist z.B. auch kennzeichnend flir den Computer- oder den Fahrerarbeitsplatz. Die manuelle Bedienung eines Computers geschieht iiber Tas­ten, Tastatur, Touchscreen, Computermaus oder Trackball. Beispiele hierfUr sind die Interaktion mit graphischen Benutzeroberfliichen wie dem Betriebssystem Microsoft Windows (2001) oder dem K-Desktop Environment fUr Linux (2001). 1m Kraftfahrzeugbereich stehen dem Fahrer viele unterschiedliche Bedienelemen­te zur Verfligung, urn technische Systeme zu steuem, wie Lenkrad, Pedalerie, Schalter, Tasten. Informationen am PC Arbeitsplatz werden iiberwiegend visuell dargeboten. Graphische Benutzeroberfliichen am PC priisentieren dem Bediener Systemzustiinde und -reaktionen (Microsoft Windows, 2001). 1m Kraftfahrzeug werden Systemzustiinde iiberwiegend durch Anzeigen und Kontrolllampen darge­stellt. Es werden jedoch zunehmend Systeminformationen in komplexen Fahrerin­formationssystemen wie dem COMAND System von Mercedes-Benz integriert, die wie bei dem PC Arbeitsplatz, Informationen iiber eine graphische Benutzer­oberfliiche priisentieren (DaimlerChrysler, 2001).

Krogh (1995) beschreibt den Trend der stetig steigenden Anzahl von Bedien­komponenten und Anzeigen im Kraftfahrzeug. Bei verschiedenen Fahrzeugmodel­len steht auf der Armaturentafel und der Mittelkonsole kein Bauraurn mehr zur VerfUgung. 1m Cockpit des BMW M5 platzierte der Autohersteller insgesamt 98 Bedienelemente und im Mercedes E 500 befinden sich 63 Schalter.

Ein multimodales Anzeige- und Bedienkonzept ermoglicht eine Interaktion zwischen Mensch und Maschine unter Verwendung von mehr als einer Interakti­onsmodalitiit (Dix et aI., 1998; Hedicke, 2000). Einbezogen werden neben visuel-

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178 11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte

ler auch auditive (Gerliusche, Sprachausgabe) und haptische Information. Neben manueller Bedienung wird vokale (Spracheingabe) und gestische Bedienung (ges­tische Handbewegung) beriicksichtigt.

Inzwischen ist es moglich, iiber sprachverstehende Schnittstellen Systempara­meter zu modifizieren. Fiir PC Anwendungen gibt es hier eine Reihe von Produk­ten, wie die Spracherkennungssoftware Dragon Naturally Speaking (2001). Mit dieser Software und einem an den PC angeschlossenen Mikrofon konnen alterna­tiv zu den Mauseingaben auch Befehle per Sprache an die graphische Benutzer­oberflliche iibermittelt werden. 1m Kraftfahrzeugbereich sind auch bereits sprach­verstehende Systeme integriert. Das Sprachbediensystem LINGUATRONIC (DaimlerChrysler, 2001), das bisher nur fUr das Telefon lieferbar war, steuert in der C-Klasse von Mercedes-Benz auch Autoradio und CD-Spieler.

Neben den beschriebenen Interaktionsmodalitliten gibt es weiterfiihrende An­slitze der Systembedienung iiber Augenbewegungen oder Handgesten (Heinrich­Hertz-Institut, 2001, Seifert u.a. in diesem Band). Die Informationsreprlisentation wird im Rahmen der Steuerung von Computerprogrammen z.B. durch eine Maus mit aktiver Kraftriickkopplung erweitert (Immersion, 2001).

Neben der visuellen Prlisentation werden Informationen auch auditiv yom tech­nischen System zum Bediener iibermittelt. Die Firma Microsoft hat im Internet Designrichtlinien veroffentlicht, die auditive Signale als effektive Unterstiitzung einer visuellen Informationsprlisentation beschreiben (MSDN Online, 2001). Auch Fahrzeugsysteme iibermitteln Informationen iiber auditive Signale (Mercedes­Benz, 1999). Hierzu zlihlen sowohl Pieptone in Verbindung mit Warn- und Stor­meldungen als auch Sprachausgabe zur Unterstiitzung von Wegleitsystemen (Mercedes-Benz, 1998).

Multimodale Interaktion kann allgemein fUr verschiedene Ziele genutzt werden (Hedicke, 2000):

• Wiederherstellung des direkten Kontakts zum Prozess: Die auf visuell­manuelle Interaktion reduzierte Auslegung der MMS fiihrte zur Entkopplung des Bedieners yom Prozess. 1m Kraftfahrzeug wurde diese Entkopplung durch die Fahrerassistenzsysteme (z.B. Antiblockiersystem) verstlirkt. Durch die WiedereinfUhrung prozess- und aktionsbezogener sensorischer Information kann eine originlire Wahrnehmungs- und Aktions-Interaktion hergestellt oder zurnindest simuliert werden.

• ErhOhung der Systemsicherheit durch redundante Information und prozess­kompatibler Aktion: Vielmehr als bisher kann das Prinzip der gleichzeitig iiber verschiedene Sinnesmodalitliten iibermittelten Information, sei sie prozess- 0-

der aktionsbezogen, genutzt werden, urn Sicherheit zu erhOhen. Experimentelle Untersuchungen belegen den Vorteil dieses Prinzips (z.B. Selcon u. Taylor, 1995).

• ErschlieBung von Optionen fUr unterschiedliche Nutzungen von Wahrneh­mungs- und Aktions-Modalitliten: Das auf visuell-manuelle Interaktion redu­zierte MMS beriicksichtigt keine Einschrlinkungen in Wahrnehmungs- und Aktionskompetenzen (z.B. unfall-, krankheits- und altersbedingte Behinderun-

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11.1 Anzeige- und Bedienkonzepte 179

gen). Multimodale Erweiterungen der Interaktion wiirden eine flexible Anpas­sung bei eingeschrankten Kompetenzen erlauben.

• Optimierung der Beanspruchung durch Reduktion einseitig belastender und Erh6hung vieWiltig wechselnder Anforderungen: Die Analyse gleichzeitiger Tatigkeiten (Doppeltatigkeits-Paradigma) hat die menschlichen Leistungsgren­zen offengelegt und zu Modellen optimaler Ressourcenverteilung gefiihrt, z.B. Wickens' multiples Ressourcenmodell (siehe z.B. Wickens, 2000). Durch die Inanspruchnahme verschiedener, miteinander nicht konkurrierender Ressour­cen bei multiplen Wahmehmungs- und Aktionsmodalitaten kann die Bean­spruchung optimiert werden. Experimentelle Untersuchungen belegen dies auch fiir die Beanspruchung des Fahrers im Fahrzeug (z.B. Debus et aI., 1998).

Die folgenden Ausfiihrungen greifen den Punkt der Beanspruchungs-optimierung als Ziel einer multimodalen Interaktion des Mensch-Maschine­Systems, hier des Fahrer- Fahrzeug-Systems, auf. Sie beschranken sich auf die manuelle Bedienung und die Sprachbedienung sowie die visuelle und auditive Anzeige von Informationen. Diese Modalitaten sind zum einen bereits im Liefer­umfang von Anzeige- und Bedienkonzepten im Kraftfahrzeug realisiert worden (DaimlerChrysler, 2001). Zum anderen stehen diese Bedien- und Anzeigemodali­taten im Zentrum experimenteller Studien zur effektiven Nutzung multimodaler Mensch-Maschine-Schnittstellen (Dillon et aI., 1997; Gerson et aI., 1988; Simpson et aI., 1985).

Die so im Ansatz bislang entwickelte multimodale Fahrer-Fahrzeug-Schnitt­stelle wird in den folgenden Ausftihrungen zunachst auf der Grundlage des gegen­wartigen Forschungsstandes theoretisch betrachtet und analysiert. Es wird eine neue Schnittstellengestaltung mit zunachst visuell-manueller Interaktion vor­geschlagen und evaluiert. Sowohl die theoretischen Betrachtungen multimodaler Schnittstellen als auch die Ergebnisse der Evaluation des visuell-manuellen An­zeige- und Bedienkonzeptes flieBen in eine Weiterentwicklung des Systems mit paralleler Sprachbedienung ein.

11.1.2 SprachgestOtzte Anzeige- und Bedienkonzepte

Simpson et aI. (1985) bezeichnen die Sprachein- und -ausgabe als interessantes Werkzeug zur Bearbeitung von Aufgaben, bei deren Ausfiihrung die visuell­manuelle Interaktionsmodalitat iiberlastet ist. Die Autoren unterstreichen jedoch, dass es von der Art der Aufgabe abhangt, ob Sprachbedienung eine Optimierung der Aufgabenleistung nach sich zieht. Simpson et aI. (1985) beschreiben eine Reihe von Zwei-Aufgaben-Experimenten mit einer Tracking- und einer Datenein­gabe-Aufgabe. In einer Umgebung mit Helikoptergerauschen und Helikopterbe­wegung war die Leistung in der Tracking-Aufgabe weniger reduziert, wenn die Dateneingabe per Sprache gemacht wurde im Vergleich zur Dateneingabe iiber eine Tastatur. Andere Untersuchungen, die sich mit der Geschwindigkeit und der Prazision von Dateneingabe beschiiftigten, stellten fest, dass die manuelle Daten­eingabe zur Steuerung eines Computerspiels schneller war als die Eingabe iiber

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180 11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte

Sprache (Simpson et aI., 1985). Besonders bei der simultanen Bearbeitung einer manuellen Aufgabe ist haufig, wie auch im Kraftfahrzeug, die Geschwindigkeit der Systembedienung nicht das primare Optimierungskriterium. Vielmehr steht hier die zuvor beschriebene Entlastung der visuell-manuellen Interaktionsmodali­tat im Vordergrund. Die Sprachsteuerung zieht nur dann eine Optimierung der Mensch-Maschine-Interaktion nach sich, wenn es sich urn eine komplexe Aufgabe handelt, die hohe kognitive, visuelle und manuelle Anforderungen an den Bedie­ner stellt (Simpson et aI., 1985). Dies trifft insbesondere auf den Fahrerarbeitsplatz zu, bei dem eine Entlastung der visuell-manuellen Interaktionsmodalitat ein Zu­wachs an Sicherheit in der Bearbeitung der Fahraufgabe bedeutet (Gerson et aI., 1988).

Bei der Entwicklung einer sprachbasierten Menseh-Masehine-Sehnittstelle gibt es einige wiehtige Gestaltungsaltemativen in Bezug auf den W ortsehatzumfang des Spracherkenners, den direkten Zugriff auf Elemente des W ortsehatzes und den Umfang der auditiven Riickmeldungen.

Wortschatzumfang des Spracherkenners

Dillon et aI. (1997) beschreiben, dass die Variabilitat der Selektion von Wortem zur Bezeiehnung eines Objektes oder einer Funktion ein fundamentales Kennzei­chen mensehliehen Verhaltens ist. Daher muss der W ortschatz eines Spracherken­ners diese Variabilitat beriieksichtigen, urn die Benutzerleistung zu steigem und die Akzeptanz zu erhohen. Bei der Gestaltung einer spraehbasierten Mensch­Masehine-Sehnittstelle zur Bearbeitung einer medizinischen Befundungsaufgabe zeichneten Dillon et aI. (1997) die gesprochenen Worter herkommlicher Befun­dungssituationen auf. Das verwendete Vokabular bildete dann den W ortsehatz des Spracherkenners.

Es ist wiehtig festzuhalten, dass die Mensch-Masehine-Sehnittstelle von Dillon et aI. (1997) dem Benutzer keine visuelle Riiekmeldung zur Verfiigung gestellt hat. Bei der Verwendung eines Informationsdisplays konnten dem Bediener die Funktions- und Funktionszustandsbezeiehnungen auf dem Display dargestellt werden. Auf diese Weise ware der W ortschatz des Spracherkenners eindeutig definiert und miisste nieht die Variabilitat in der Selektion von Wortem beriiek­siehtigen. 1m experimentellen reil dieser Betraehtungen wird ein Mensch­Masehine-System evaluiert und weiterentwiekelt, das eine solche visuelle Riick­meldung zur Prasentation des W ortschatzes beinhaltet.

Direkter Zugriff auf Elemente des Spracherkenner Wortschatzes

Gerson et aI. (1988) besehreiben eine sprachbasierte Menseh-Maschine-Sehnitt­stelle, deren Kontrollwi:irter des Wortsehatzes hierarehisch gegliedert sind. D.h., dass der Spracherkenner in jedem Systemzustand lediglieh einen Aussehnitt des gesamten W ortschatzes erkennt. Die Aussehnitte entspreehen den Hierarehiestu­fen eines hierarehiseh aufgebauten Meniibaums. Diese Form der Konfiguration eines Spracherkenners bietet dem Benutzer in jeder Hierarehieebene eine begrenz­te Auswahl von Kommandos an und bietet so eine streng gegliederte Sehnittstelle.

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11.2 Schnittstelle fiir multimodale Interaktion 181

Fiir den Anfanger ist eine solche rigide und strukturierte Schnittstelle einfacher zu bedienen, erfahrene Bediener hingegen benotigen diese Schritt-fiir-Schritt Vorge­hensweise nicht und betrachten eine solche Schnittstelle als langweilig und unef­fektiv (Dillon et aI., 1997).

In den weiteren Ausfiihrungen wird eine Mensch-Maschine-Schnittstelle vorge­schlagen, die sowohl den Anforderungen des Anfangers, durch einen streng hie­rarchisch gegliederten Wortschatz, als auch denen der erfahrenen Benutzer, durch den direkten Zugriff auf Funktionen, Rechnung tragt.

Umfang und Art der auditiven ROckmeldung

Dillon et ai. (1997) integrierten eine auditive Riickmeldung in ihre sprachbasierte Mensch-Maschine-Schnittstelle zur Bearbeitung einer medizinischen Befundungs­aufgabe. Nach der erfolgreichen Erkennung des gesprochenen Kommandos wurde ein Piepton vom System generiert, urn dem Bediener die erfolgte Spracherken­nung zu signalisieren. Bei Ausbleiben des Pieptons sollten die Benutzer das Sprachkommando erneut in einer etwas deutlicheren Form sprechen oder ein alter­natives Kommando ausprobieren, das ebenfalls Teil des Wortschatzes ist.

Auditives Feedback kann auch genutzt werden, urn inhaltliche Informationen iiber den Systernzustand zu iibermitteln, der das Resultat des erkannten und ausge­fiihrten Sprachkommandos ist. Gerson et ai. (1988) fiihren als Beispiel die sprach­basierte Navigation innerhalb einer hierarchisch gegliederten Verzeichnisstruktur an. 1m System wurden Sprachausgaben hinterlegt, die alle moglichen Verzeich­nisnamen beinhalten. Nach Erkennung eines Verzeichnisnamens wurde dieser vom System auditiv zurUckgemeldet. Auf diese Weise wurde der Benutzer iiber die erfolgreiche Erkennung des Sprachkommandos und iiber den aktuellen Sys­ternzustand informiert. Diese Form der inhaltlichen auditiven Riickmeldung wird in der we iter unten folgenden Beschreibung einer multimodalen Mensch­Maschine-Schnittstelle wieder aufgegriffen.

11.2 Schnittstelle fur multimodale Interaktion

11.2.1 Konzeption: Schalterreduziertes integrales System

In den weiteren Ausfiihrungen wird ein manuelles Anzeige- und Bedienkonzept entwickelt, das fiir die Bedienung wahrend der Fahrt im Kraftfahrzeug optimiert ist. Die Ergebnisse einer benutzerbasierten Evaluation werden aufgegriffen, urn - in Verbindung mit den vorigen Betrachtungen - einen Vorschlag fiir eine multimodale Mensch-Maschine-Schnittstelle zur Bedienung technischer Systeme im Kraftfahrzeug zu beschreiben.

Drei wesentliche Probleme mit der herkommlichen Schalterbedienung techni­scher Systeme im Fahrzeug machen es notwendig, alternative Konzepte zu entwi­ckeln. Zum einen ist im Greifraum des Fahrers kein Platz mehr fiir Bedienelemen­teo Der nicht abreiBende Einzug neuer technischer Systeme in das Kraftfahrzeug

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182 II Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte

brachte immer auch zusatzliche Bedienelemente in das Cockpit. Es existiert bis heute kein integrales Anzeige- und Bedienkonzept, das es ermoglicht, neue Funk­tionen aufzunehmen, ohne zusatzliche systemspezifische Bedienkomponenten einbauen zu mussen. Das fUhrte zum zweiten Problem, das sich aus der Schalter­vielfalt ergab. Die Bedienung der Systeme im Fahrzeuginnenraum ist ohne zu starke Ablenkung vom Verkehrsgeschehen nicht mehr fiir aIle Kundengruppen moglich. Die Ursache der erschwerten Bedienung liegt nicht nur in der hohen Anzahl der Schalter, sondem auch in der Unterschiedlichkeit der Schalter. Die Anforderungskombination von Fahrzeugfiihrung und Systembedienung macht eine Reduktion der Ablenkungswirkung von technischen Systemen im Kraftfahr­zeug unbedingt notwendig. Werden weiterhin Systeme mit ihren eigenen Benut­zerschnittstellen in das Fahrzeugcockpit integriert, ohne sie in einheitliche Be­dienkonzepte einzubinden und die sichere Bedienung wahrend der Fahrt zu gewahrleisten, wird der Fahrer bald an die Grenze seiner Informations­verarbeitungskapazitat gebracht. D.h. der Fahrer wird mit der Informationsflut einer hohen Anzahl von technischen Systemen konfrontiert, die in Konkurrenz zu den fiir die sichere Fahrzeugfiihrung relevanten Informationen steht.

Ein erhebliches Optimierungspotential der Mensch-Maschine-Schnittstelle liegt in der sicherheitsorientierten Platzierung der Anzeigekomponenten. Die Platzie­rung der Anzeigekomponenten in raumlicher Niihe zu der fiir die Spurhaltung relevanten StraBeninformation bietet ein nutzbares Optimierungspotential, da hier die peripher wahrgenommene Spurinformation wahrend der Systembedienung eine sicherere Fahrzeugfiihrung zur Folge hat (vgI. Summala et aI., 1996; Seifert et. aI, in diesem Band). Voraussetzung fiir eine freie Platzierung von Informati­onsdisplays ist die Trennung der Anzeige- von den Bedienkomponenten in einer schalterreduzierten integralen Mensch-Maschine-Schnittstelle.

Die Trennung der Anzeige- von den Bedienkomponenten solI anhand eines schalterreduzierten MMS-Konzeptes zur Bedienung von Fahrzeugfunktionen dargestellt werden. Unter Verwendung eines Softwaretools zur Programmierung von interaktiven Prototypen wurde der Funktionsumfang einer herkommlichen Mittelkonsole einer Mercedes S-Klasse (WI40) in eine graphische Benutzerober­flache integriert. Bei diesem ersten Gestaltungsansatz wurde versucht, sowohl die intuitive Bedienbarkeit der neu entwickelten Systemvariante wie auch die Positio­nierung des Informationsdisplays optimal zu realisieren. Eine Bedienung von fahrzeugtypischen Funktionen wwend der Durchfiihrung einer Fahraufgabe soll­te aufzeigen, inwieweit die optimierte Gestaltung und Positionierung der Mensch­Maschine-Schnittstelle im Kraftfahrzeug zu einer sichereren Bedienung des Ge­samtsystems fiihrt.

Zur Veranschaulichung solI an dieser Stelle die raumliche Aufteilung der An­zeige- und Bedienkomponenten der altemativen Mensch-Maschine-Schnittstellen schematisch dargestellt werden (Abb. 11.1).

Das Schalterkonzept mit integrierter Anzeige findet sich in dem V organger der S-Klasse (WI40). Das zentrale Bedienelement mit abgesetzter Anzeige stellt eine Konzeptaltemative dar, die auf einer raumlichen Trennung von Anzeige und Be­dienung basiert. In einer evaluativen Studie wurde die Spurhaltung als reprasenta­tiver Leistungsindikator innerhalb des Tiitigkeitskomplexes Fahrzeugfiihrung

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11 .2 Schnittstelle fUr multimodale Interaktion 183

(Reed et a!., 1999) und die Anzahl der von den Probanden bearbeiteten Display­aufgaben als GiitemaB fiir die Gestaltung von Anzeige- und Bedienkomponenten in den zu vergleichenden fahrzeugintemen Mensch-Maschine-Systemen unter­sucht. Dariiber hinaus wurde das Blickverhalten als 1ndikator der visuellen 1nfor­mationsaufnahme registriert.

Anzeige und Bedienung

(a) (b)

Abb. 11.1 RiiumJiche Aufteilung der Anzeige- und Bedienkomponenten eines Schalterkon­zeptes mit (a) integrierter Anzeige (alt) und eines (b) zentralen Bedienelementes mit abge­setzter Anzeige (neu).

Die Ergebnisse dieser Untersuchung machen deutlich, dass der hier gewahlte erste Entwurf einer Trennung der Anzeige- und Bedienkomponenten in einem schalter­reduzierten Anzeige- und Bedienkonzept neue Probleme aufwirft, die moglicher­weise mit Hilfe der Sprachbedienung gelost werden konnen. Obwohl das neue Konzept tendenzweise gegeniiber dem alten von den Probanden fiir das eigene Fahrzeug praferiert wurde, bestehen fiir das neue doch gravierende Nachteile in objektiven Kriterien. Fiir die weitere Systementwicklung sind diese Daten von groBer Bedeutung, weil sie Grenzen optimaler Schnittstellengestaltung aus kogni­tiv-ergonomischer Sicht offen legen.

11.2.2 Evaluation eines Entwurfs mit visuell-manueller Interaktion

Methode

Die Untersuchung wurde im Ergonomiepriifstand der Abteilung FTl /FM der DaimlerChrysler Forschung durchgefiihrt. Der Ergonomiepriifstand ist eine vari­able Sitzkiste, in der unterschiedliche Fahrzeuginnenraume dargestellt werden konnen.

Dariiber hinaus ist es moglich, mit Hilfe der Pedalerie und des Lenkrades eine virtuelle Fahrszene zu manipulieren, die durch einen Videobeamer auf eine Lein-

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184 11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte

wand vor dem Priifstand projiziert wird. In der virtuellen Welt war ein rechtecki­ger Kurs dargestellt, den man bei einer Geschwindigkeit von 60kmlh in ca. 4 Mi­nuten umfahren konnte.

Herkommliches Anzeige- und Bedienkonzept

In den Priifstand wurde eine Mittelkonsole einer S-Klasse (WI40) mit nahezu Vollausstattung eingebaut. Zu den Funktionen gehOrte u.a. die Klimaanlage, das Adaptive Dampfungssystem, die Heckscheibenheizung, der Abschleppschutz, die Sitzheizung und das Heckrollo. Es fehlten lediglich die Standheizung und das Tastenfeld des Reiserechners. Die in der Mittelkonsole vorhandenen Kontroll­leuchten der Taster wurden von einen Microcontroller so angesteuert, dass sie bei Betatigung genau das Systemfeedback im Fahrzeug nachbildeten.

Schalterreduziertes Anzeige- und Bedienkonzept

Der Funktionsumfang des schalterreduzierten MMS-Konzeptes basierte auf den Schaltem und Tasten der Mittelkonsole einer S-Klasse (WI40) mit nahezu Voll­ausstattung.

Das Anzeige- und Bedienkonzept sollte, wie die Tasten und Schalter der S­Klasse Mittelkonsole, der Manipulation von Schaltzustanden eines oder mehrerer Systeme oder Systemkomponenten und zur Darstellung des jeweiligen Systernzu­standes dienen. Sowohl diskrete als auch kontinuierliche Funktionseinstellungen sollten variiert und angezeigt werden.

Eine Reihe von softwareergonomischen Prinzipien wurden bei der Entwicklung der Mensch-Maschine-Schnittstelle besonders in den Vordergrund gestellt. Wei­mer (1993) gibt einen Uberblick der bei der Displaygestaltung zu beachtenden Richtlinien, wie z.B. BuchstabengroBe in Abhangigkeit von der Entfemung des Betrachters und die Auswahl von Text- und Hintergrundfarbe. Dariiber hinaus wurden aus den Empfehlungen zur Formkodierung von Bedienkomponenten Ges­taltungsrichtlinien flir die Multifunktionsbedienkomponente abgeleitet, die eine Blindbedienung, also eine Bedienung ohne visuelle Kontrolle, ermoglichen. Be­sonders wichtig war auch die Beriicksichtigung eines eindeutigen Mapping zwi­schen Bedienkomponenten und Anzeigekomponenten. Auf diese Weise sollte eine intuitive Mensch-Maschine-Interaktion unterstiitzt werden.

In Bezug auf die Displaypositionierung wurden die Empfehlungen von Weimer (1993) durch die Untersuchungsergebnisse von LambIe et al. (1999) erganzt. Weimer (1993) empfiehlt eine Platzierung von visuellen Displays innerhalb von 30 Grad urn die normale Sichtlinie, die sich in dieser Empfehlung 10 Grad unter der Horizontalen befindet. Die Ergebnisse von LambIe et al. (1999) und die Blick­untersuchungen von Cohen (1985) gehen dort we iter ins Detail und lief em eine flir die Fahraufgabe optimierte Positionierungsempfehlung. Insgesamt ergibt sich aus diesen unabhiingigen Studien eine sicherheitsoptimierte Position, die sich rechts oben neben dem Lenkrad befindet. Dort kann wahrend der Systembedienung die flir die Regelung der lateralen Position des Fahrzeuges relevante rechte Fahr-

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11.2 Schnittstelle fUr multimodale Interaktion 185

bahnmarkierung peripher wahrgenommen werden (Schattenberg, 2001). Die kon­krete Umsetzung erfolgte in der folgenden Weise:

• Die Bedieneinheit wurde auf der Mittelkonsole angebracht. Sie besteht aus drei Bedienkomponenten. Ein 4-Wege Steller dient zur direkten Auswahl von vier am Rand des Displays angeordneten Schaltfliichen. Ein kleiner quadratischer Taster links dariiber bringt den Bediener bei Betiitigung zuriick in das Grund­menii. Ein liingerer rechteckiger Taster rechts neben dem Menii-Taster dient zur Auswahl der zuvor dargestellten Ehene in der Funktionshierarchie.

• Die Anzeigeeinheit besteht aus einem 6-Zo11-Farbdisplay mit einer Auflosung von 320x240 Pixeln, auf dem dynamisch Informationen dargestellt werden konnen. Positioniert wurde das Display rechts neben dem Lenkrad oberhalb der Mittelkonsole. Bei einer Fixation auf diese Position ist die rechte Fahr­bahnmarkierung direkt iiber dem Display im unmittelbaren peripheren Blick­feld.

Das Bedienkonzept ermoglicht die direkte Manipulation der Schaltzustiinde ii­ber den 4-Wege Steller. Das Konzept ist damit eine Optimierung gegeniiber der Cursorsteuerung, d.h. der Positionierung einer Funktionsmarkierung, auf die eine Bestiitigung durch Tastendruck erfolgt. Die direkte Manipulation reduziert die Anzahl der Bedienschritte. Dariiber hinaus ist durch die hierarchische Funktionsintegration eine intuitive Manipulation von mehreren System- und Schaltzustiinden mit nur einer Bedienkomponente moglich.

Das neue schalterreduzierte Anzeige- und Bedienkonzept solI die Anzahl der Bedienelemente auf ein MindestmaB reduzieren, die Bedienung vereinheitlichen und durch eine hierarchische Funktionsanordnung intuitiv gestalten. Die "Blind­bedienbarkeit" giht dem Systementwickler die Moglichkeit, die Aufmerksamkeit des Benutzers wahrend der Systembedienung durch gezielte Positionierung der Anzeigekomponente in Richtung StraBe zu leiten.

11.2.3 Versuchsdesign

Das alte und neue Anzeige- und Bedienkonzept wurde in einer Untersuchung mit zwei unabhiingigen Gruppen miteinander verglichen. In jeder Gruppe wurden jeweils vier unterschiedliche Aufgabentypen priisentiert. Somit ergab sich ein zweifaktorieller Plan mit Anzeige- und Bedienkonzept als Between-Faktor mit zwei Stufen und Aufgabentyp als Within-Faktor mit vier Stufen. Die Aufgaben hoher und niedriger Exzentrizitiit orientierten sich an der Position der Schalter auf der herkommlichen Mittelkonsole. Es wurden zwei Schaltergruppen gebildet. Die Schaltergruppe niedriger Exzentrizitiit schloss die Bedienelemente der Klimatisie­rung und alle in der Mitte1konsole dariiber liegenden Schalter mit ein. Die Schal­tergruppe hoher Exzentrizitiit schloss die Tasten der Klimatisierung und aIle in der Mittelkonsole darunter liegenden Taster his zur Armablage mit ein. Die Klimati­sierungstaster wurden in beide Schaltergruppen mit einbezogen, da sonst der ge­ringe Funktionsumfang der beiden Schaltergruppen mit 5 Funktionen hOchster und

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186 11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte

4 Funktionen niedrigster Exzentrizitat zu einer stark erhohten Lemleistung gefUhrt hiitte. Deshalb wurden die Klimafunktionen beiden Schaltergruppen zugeteilt.

Die Aufgaben hoher und niedriger hierarchischer Tiefe orientierten sich an der Anzahl der notwendigen Tastenbetiitigungen bis zur Funktionsauswahl mit dem altemativen Anzeige- und Bedienkonzept. Die Schaltergruppe niedriger hierarchi­scher Tiefe schloss Funktionen ein, deren Schaltzustiinde mit 3 oder 4 Tastenbetii­tigungen manipuliert werden konnen. Die Schaltergruppe hoher hierarchischer Tiefe beinhaltete ausschlieBlich Funktionen die 7 Tastenbetiitigungen bis zur Funktionseinstellung benotigten.

Damit ergeben sich 4 Aufgabentypen, die einen jeweils spezifischen Umfang an Funktionen enthalten. Aufgrund des identischen Funktionsumfanges der beiden altemativen Bedienkonzepte konnen aIle spezifischen Funktionsumfange mit beiden MMS-Konzepten bedient werden. Die folgende Tabelle 11.1 zeigt Beispie­Ie der jeweiligen Funktionsgruppen:

Tabelle 11.1 Beispiele der 4 Aufgabentypen, die zum einen basierend auf dem Schalter­konzept mit integrierter Anzeige (alt) und zum anderen auf dem zentralen Bedienelement mit abgesetzter Anzeige (neu) generiert wurden.

Aufgabentyp I Aufgabentyp 2 Aufgabentyp 3 Aufgabentyp 4

Hohe hierarchische Niedrige hierarchische Hohe Exzentrizitat Niedrige Exzentrizi-Tiefe Tiefe tat

Aktivkohlefilter Heckscheibenheizung Adaptives Damp- Heckscheibeheizung - an - an fungssystem - an

T emperatur Fahrer Klimaautomatik Fahrer - ein T emperatur Fahrer - senken - ein T emperatureinheit - senken

Aktivkohlefilter Heckscheibenheizung _ OF

Heckscheiben-- aus - aus Adaptives Damp- heizung

fungssystem - aus - aus

Beide Versuchspersonengruppen bearbeiteten aIle 4 Aufgabentypen. Auf diese Weise bietet sich die Moglichkeit, neben den Auswirkungen der Funktionen hoher hierarchischer Tiefe bei der Displaybedienung auch den Einfluss der Bedienung dieses speziellen Funktionsumfanges mit der Schalterbedienung auf die Spurhalte­leistung zu uberpriifen. Das gleiche gilt fUr das Kriterium der Exzentrizitiit mit den entsprechenden Funktionsumfangen. So lassen sich die Problembereiche beider MMS-Konzepte mit den korrespondierenden Funktionsumfangen miteinander vergleichen. An dieser Stelle ist es wichtig zu beachten, dass aIle Aufgaben, die mit dem neuen MMS-Konzept ausgefUhrt werden, bis zu 7 Bedienschritte benoti­gen. Bei vergleichbarem Funktionsumfang verlangt das alte Schalterkonzept hin­gegen nur einen Bedienschritt pro Aufgabe. Urn die Auswirkung von Lemeffekten zu balancieren, wurde die Aufgabenreihenfolge fUr die Hiilfte der Versuchsperso­nen in jeder Gruppe in umgekehrter Reihenfolge priisentiert.

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11.2 Schnittstelle fur multimodale Interaktion 187

11.2.4 Durchflihrung und Auswertung

Naeh der Beantwortung des demographisehen Fragebogens setzten sieh die Ver­suehspersonen auf den Fahrersitz des Priifstandes und der Versuehsleiter auf den Beifahrersitz. Von dort aus erklarte der Versuehsleiter die Bedienung des jeweili­gen MMS-Konzeptes. Diese Erlauterung war funktionsunabhangig und sollte lediglieh das Interaktionsmodell der jeweiligen Menseh-Masehine-Sehnittstelle vermitteln. Naeh dieser standardisierten Besehreibung sollten die Versuehsperso­nen ohne weitere Erlauterungen zur Funktionalitat 4 Funktionen suehen und jede in einen vorgegebenen Sehaltzustand bringen. Auf diesen Test der intuitiven Be­dienbarkeit der Systeme folgte die komplette Erlauterungjeder einzelnen Funktion und der zugehOrigen Sehaltzustande.

Naeh kurzer Eingew6hnungszeit wurden die Versuehspersonen gebeten, die Aufgaben die vorher zur Uberpriifung der intuitiven Bedienbarkeit gestellt wur­den, nun wahrend der Fahrt noehmals zu betatigen. So hatten sie die Gelegenheit, die Versuehsaufgabe kennen zu lemen. Die eigentliehe Versuehsfahrt bestand aus insgesamt seehs Runden. Eine Runde sollte die Versuehsperson nur fahren, wiih­rend der zweiten und dritten Runde erhielt sie kontinuierlieh Aufgaben, die vierte Runde beinhaltete wieder keine Aufgabenstellungen und wahrend der letzten zwei Runden wurde die Versuehsperson wieder aufgefordert, kontinuierlieh Funktionen in die angewiesenen Sehaltzustiinde zu bringen.

Zum Ende der Untersuehung wurden die Versuehspersonen noeh gebeten, ei­nen Absehlussfragebogen zu Ihren Eindriieken des Versuehes auszufiillen.

Relevante Fahrdaten, wie Lenkwinkel, die Gesehwindigkeit, die Koordinaten des Fahrzeuges im virtue lien Raum der Fahrsimulation und alle Betatigungen der Taster auf der Mittelkonsole und der Displaybedieneinheit wurden mit 50Hz auf­gezeiehnet

11.2.5 Ergebnisse

Aufgabenbearbeitung

Das neue integrierte System erwies sieh gegeniiber dem konventionellen System in mehrfaeher Hinsieht als nieht effektiv. Die Anzahl der Blieke zum Display war fast doppelt so hoeh (112 zu 64) als die Anzahl der Blieke auf die verteilten An­zeige- und Bedienelemente. Entspreehend war aueh die Gesamt-bliekzuwendungs­zeit (188s zu 76s) hOher. Aufgrund der Beobaehtungen kann man davon ausgehen, dass die Blickzuwendungen im neuen System aussehlieBlieh auf das Display reehts neben dem Lenkrad oberhalb der Mittelkonsole und nieht auf das Bedien­element auf der Mittelkonsole erfolgten. In dem herk6mmliehen System richteten sieh die Blieke auf die Bedienelemente auf der Mittelkonsole.

Trotz des Mehraufwandes an Bliekbewegung beim integrierten System betrug die Anzahl der insgesamt bearbeiteten Aufgaben weniger als die Halfte (14 zu 33 Aufgaben) im Vergleich zum alten System. In dem herk6mmliehen Sehaltersys­tern bearbeiteten die Probanden in einer Gesamtzeit von 5.1 Minuten pro Stre-

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ckenabschnitt 33 Aufgaben und zeigten dabei 64 Blickabwendungen in den Fahr­zeuginnenraum. Sie brauchten demnach durchschnittlich fUr eine Aufgabenbear­beitung 9.3 Sekunden und zwei Bliekabwendungen. In dem neuen System wurden lediglich 14 Aufgaben in 5.1 Minuten bearbeitet. Die Probanden brauchten also 21.9 Sekunden je Aufgabenbearbeitung. Die Anzahl der Blicke stieg insgesamt auf 112, das heiBt, auf 8 Blickzuwendungen pro Aufgabe. Betrachtet man die Un­terschiede hinsichtlich der Anzahl der manuellen Handlungsschritte, so sind es beim alten System mit einem Schritt pro Aufgabe insgesamt nur 33 Schritte, dage­gen beim neuen System bei durchschnittlich 5.25 Schritten pro Aufgabe insgesamt 14 x 5.25 = 73.5 Schritte. Foiglich ist der mentale Aufwand in Schritten fUr das neue System erheblich groBer als fUr das alte.

Die Aufgabenhierarchie hatte einen vergleichsweise miiBigen Effekt: es wurden etwa 50% mehr Aufgaben bei niedriger als bei hoher Hierarchie (6 zu 9) bearbei­tet. Ein Unterschied zwischen niedriger und hoher Exzentrizitiit bei dem her­kommlichen Schaltersystem bestand nicht.

Fahrleistung

Die Lenkwinkelstandardabweichung als MaB der Spurhaltung war in den Runden mit und ohne Aufgabenbearbeitung nieht signifikant unterschiedlich. Sie war in dem neuen integrierten System tendenzweise, jedoch nicht statistisch bedeutsam, hOher als in dem herkommlichen Schaltersystem. Auch die beiden Aufgaben­merkmale, Hierarchie und Exzentrizitiit, wiesen keinen nachweisbaren Einfluss auf. Dies Ergebnis ist allerdings unter Beriicksichtigung der Fahrgeschwindigkeit zu interpretieren. In der Geschwindigkeit zeigte sich ein weiterer Beleg fUr die erh6hte mentale Beanspruchung durch die integrierte Systemvariante. In den Run­den mit Aufgabenbearbeitung lag die Fahrgeschwindigkeit urn 24km1h niedriger als in den Norm-Runden. In der neuen Version wurde die Fahrgeschwindigkeit etwa doppelt so stark reduziert wie in der Schalterversion (Reduktion urn 32 zu 16km1h). Sie fiel konkret von 85km/h auf61km1h abo

Subjektive Einschatzungen

Die Beanspruchung durch die Aufgabenbearbeitung wiihrend der Fahrt wurde in beiden Bedingungen durchweg hoch eingeschiitzt, jedoch nicht signifikant unter­schiedlich. Subjektiv wurde die Geschwindigkeitsreduktion nicht verschieden beurteilt. Demgegeniiber wurde die Gefahrdung beim integrierten System hOher eingestufi als beim Schaltersystem (3.4 zu 2.5 bei Skalenwerten von 1 bis 5).

In den Bewertungen der Systeme ergaben sich keine nachteiligen Einschiitzun­gen fUr das integrierte System. Die intuitive Bedienbarkeit wurde vergleiehbar beurteilt. Die Antwort auf die Frage nach der Priiferenz des Systems fUr das eigene Fahrzeug fiel sogar positiver fUr das integrierte System aus (3.2 zu 2.4 bei Ska­lenwerten von 1 bis 5).

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11.2 Schnittstelle fiir multimodale Interaktion 189

11.2.6 Zusammenfassung und Diskussion

Die Vorteile, die mit der neu gestalteten Menseh-Maschine-Schnittstelle fUr die Bedienung von Fahrzeugfunktionen erwartet worden waren, konnten empiriseh nieht belegt werden. 1m Gegenteil, die Trennung der Anzeige- und Bedienkompo­nenten in einer sehalterreduzierten integralen MMS gegeniiber einer herkommli­chen Schalterbedienung zeigte in den Evaluationskriterien gravierende Naehteile.

In der Untersuehung hatten die Probanden wiihrend des Fahrens, unterbrochen durch zwei Normspuren, d.h. Fahrzeugfiihrung ohne Aufgabenbearbeitung, und mit einer Durehschnittsgesehwindigkeit von 85km/h, fortlaufend durch manuelle Bedienung Fahrzeugfunktionen einzustellen. Dies wurde bei beiden Systemkon­zepten als beanspruchend erlebt. Bei beiden Systemkonzepten wurde die Fahrge­schwindigkeit bei der Aufgabendurchfiihrung verlangsamt, fiihrte jedoch nicht zur Verschlechterung der Spurhalteleistung, die immer relativ zur individuellen Normspur der Probanden betraehtet wurde.

Die Unterschiede zwischen altern und neuem System sind drastisch: Mit der neuen Version wird haufiger und insgesamt langer von der StraBe weggeblickt und es werden weniger Aufgaben bearbeitet. Die Aufgabenvariationen selbst wie­sen nur einen maBigen oder keinen Einfluss auf. Wahrend sich fUr die Hierarehie­tiefe der Funktionen im neuen System noeh ein Effekt wie erwartet zeigt, ist fiir die Exzentrizitat im herkommliehen System kein Effekt nachweisbar.

Die Ergebnisse in den Fahrdaten spiegeln den erhOhten Aufwand der Aufga­benbearbeitung nur zum Teil wider. Die Gesehwindigkeit wird bei dem neuen System gegeniiber dem alten drastiseh reduziert. 1m Spurhalten zeigen sich dage­gen trotz groBer Beanspruchungsunterschiede in der Aufgabenbearbeitung keine statistisch nachweisbaren Unterschiede.

Das Ergebnismuster von Aufgabenbearbeitung (Blickbewegung und Leistung), Fahrgesehwindigkeit und Spurhalten im Vergleich zwischen neuem und altern System bedarf einer Erklarung. Mangelnde Sensitivitat des SpurhaltemaBes kann nieht unterstellt werden, weil in einer Vielzahl von Untersuchungen die Sensitivi­tat in Abhiingigkeit von Zusatzbelastungen belegt ist. Die Erkliirung kann darin gesehen werden, dass Fahrgesehwindigkeit und Aufgabenbearbeitung frei gewiihlt werden konnten, nieht aber das Spurhalten. Da Spurhalten die primare Aufgaben­anforderung war, kann das Ergebnismuster im Sinne eines Speed-Accurracy­Trade-Offs interpretiert werden: Bei Zusatzbelastung wird weiterhin genau (Spur­halten), aber weniger schnell gefahren. Dafiir, dass dies ein nieht notwendigerwei­se bewusster Anpassungsvorgang ist, sprieht die subjektive Beurteilung der Fahr­geschwindigkeit. Hier gab es keine nachweisbaren Unterschiede zwischen den beiden Systemversionen.

Offen bleibt die Frage, ob die Spurhaltung beim neuen System alleine aufgrund verringerter Fahrgeschwindigkeit konstant gehalten wird. Moglich ist auch, dass die Position des Displays die Leichtigkeit einer Konstanthaltung des Spurhaltens beeinflusst hat. Die Konfundierung zwischen Displayposition als Zielort der Blickbewegungen und GroBe verringerter Fahrgeschwindigkeit lasst eine weiter­gehende Erkliirung nicht zu. Sie wird zudem noch durch die Uberlegung er­sehwert, dass die kognitive Belastung durch die Displayinhalte des neuen Systems

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zu einer starken Einengung des funktionalen, visuellen Fe1des, dem sog. Tunnel­phiinomen, gefuhrt haben k6nnte (Stokes et aI., 1990; Webster et aI.,1964; Leibo­witz et aI.,1969; Ikeda et aI., 1975; Williams et aI., 1985). Die Folge wiire eine verringerte Wahmehmung von Information aus der displaynahen spurrelevanten Information im peripheren Gesichtsfeld. Der Vorteil der Positionierung des Dis­plays mit der M6glichkeit der Informationsaufnahme spurrelevanter Information aus der peripheren Wahmehmung ist naturlich nur dann zu erwarten, wenn die foveale Belastung bei Blick auf das Display nicht zu groB ist.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das neue System das Fahren erschwert start erleichtert. Die Griinde dafur miissen wohl darin gesehen werden, dass die Aufgabenbearbeitung nach dem neuen System die Beanspruchung so erh6ht, dass die Fahraufgabe anders erbracht wird: Spur halten, aber langsamer fahren. Wiih­rend im alten System die Position eines Bedienelements offenbar leicht aus dem Gediichtnis abgerufen und die geforderte Funktion durch eine einzige manuelle Handlung eingestellt werden kann, wird durch die Menu-Navigation eine erhebli­che visuell-mentale Belastung erzeugt. Vor diesem Hintergrund uberrascht, dass das neue System hinsichtlich der intuitiven Bedienbarkeit tendenzweise eher bes­ser beurteilt und fur das eigene Fahrzeug eher priiferiert wird. So ergeben sich positive Einschiitzungen bei negativen Leistungen.

Eine offene Frage betrifft die Displaypositionierung. Die riiumliche Trennung von Anzeige- und Bedienelement im neuen System unterstUtzt nur dann die Si­cherheit, wenn die Positionierung des Displays rechts oben neben dem Lenkrad nachweislich eine Optimierung der Fahrgiite wiihrend der Systembedienung be­wirkt. In einer Serie von Untersuchungen wurde dieser Frage nachgegangen, in­dem gepriift wurde, inwieweit beim Blick auf das Display noch spurrelevante Information uber Wahmehmung aus dem peripheren Gesichtsfeld aufgenommen und verarbeitet wird (Schattenberg, 2001).

Als zweites wird die Frage gestellt, ob das neue System beziiglich seiner Menu­basierten Belastung entlastet werden kann. Dazu werden die nachfolgenden Uber­legungen zur Gestaltung einer multimodalen Interaktion unter Einbeziehung von Sprache angestellt.

11.3 Integriertes System und multimodale Interaktion

Die Weiterentwicklung sieht die Beibehaltung des schalterreduzierten, integrierten Systems mit riiumlicher Trennung von Anzeige und Bedienung vor. Ebenso wird die hierarchische Meniistruktur beibehalten, die sich in der intuitiven Bedienbar­keit als vergleichbar mit den bekannten Schaltem gezeigt hat. Umgestaltet wird die Modalitiit der Interaktion, von einer visuell-manuellen zu einer multimodalen Interaktion unter Einbeziehung der Sprache. Die manuelle Funktionsmanipulation wird durch eine Sprachsteuerung erweitert. Die visuelle Anzeige durch das Dis­play wird durch eine auditive Anzeige, die akustische Sprachausgabe, ergiinzt. Ziel ist, die visuelle Ablenkung wiihrend der sprachlichen Interaktion zu minimie­reno Abbildung 11.2 veranschaulicht das Prinzip der Mensch-Maschine-Schnitt­stelle.

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11.3 Integriertes System und multi modale Interaktion 191

Manuelle Bedienung Sprachbedienung

5 Bedienschritte " luftmenge Maximum"

Multifunktions-Bedieneinheit Sprache

Abb. 11.2 Parallele Sprachbedienung des schalterreduzierten MMS-Konzeptes

Das dargestellte Konzept soli die Interaktion in folgenden Punkten erleichtem: Parallel zur manuellen Interaktion bietet die Sprachbedienung die Moglichkeit der Systemmanipulation durch Aussprechen der yom Informationsdisplay abgelesenen Menii- und Funktionsbezeichnungen. Bisherige Spracherkennungssysteme ermog­lichen es dem Benutzer, nur nach der Studie der Bedienungsanleitung und der dort aufgefUhrten Sprachkommandos mit einem Spracherkenner zu interagieren, da die Sprachbefehle nicht auf dem Display dargestellt sind. Das hier entwickelte Anzei­ge- und Bedienkonzept bietet dem Benutzer eine hierarchisch strukturierte Auflis­tung aller ihm zur Verftigung stehenden Sprachbefehle. So ist sowohl das Aufru­fen einer Funktion als auch die Kopplung von Funktions- mit Zustandsbezeich­nungen moglich. Diese konsistente Parallelitat der manuellen Bedienung und der Sprachbedienung ermoglicht eine benutzerspezifische Auswahl der individuell praferierten bzw. aktuell verkehrsangemessenen Bedienmodalitat. Urn die Interak­tionszeiten und damit die Ablenkung zu minimieren, kann der Benutzer auch jede Funktion von jedem beliebigen Systemzustand aufrufen und direkt in eine tiefere Meniiebene springen. So ist zu erwarten, dass sich die Interaktions- und die Blick­abwendungszeiten wahrend der Systemmanipulation drastisch reduzieren.

Nach einer Sprachbedienung soli zur zusatzlichen Optimierung der Bediensi­cherheit eine auditive Riickmeldung iiber die yom Benutzer initiierte Systemma­nipulation ausgegeben werden. Die sprachlich eingegebene Funktions- bzw. Zu­standsbezeichnung ist dann nicht nur auf dem Display abzulesen, sondem wird durch die Sprachausgabe gesprochen. Durch die Nutzung dieser redundanten Modalitat ist eine Interaktion mit dem System durch einen geiibten Benutzer ohne jegliche visuelle Ablenkung moglich.

1m allgemeinen lasst sich fUr multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte fest­halten, dass deren Funktionsumfange in einer hierarchischen Meniistruktur unter­gliedert sein sollten. Aile Funktionen und deren yom Benutzer wahlbaren Zustan­de sollten yom Display abzulesen sein, so dass die intuitive Bedienbarkeit und

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192 11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte

eine umfassende Parallelitat von manueller Bedienung und Sprachbedienung ge­wiihrleistet werden kann. Auch die in der Einleitung diskutierte Variabilitiit des Wortschatzes (Dillon et aI., 1997) wiirde durch die Einbindung aller Sprachkom­mandos auf dem Informationsdisplay reduziert werden. Durch die manuelle "Er­kundung" der Hierarchieebenen lernt der Benutzer die Sprachkommandos. Bei einer fehlerhaften Spracherkennung ist somit fur ihn jederzeit nachvollziehbar, warum ein Befehl nicht erkannt wurde und wie das korrekte Kommando lautet. Die Spracherkennung so lIte es zudem ermoglichen, sowohl Funktionen als auch Funktionen in Verbindung mit einem Zustand aufzurufen, die sequentiell in der auf dem Display dargestellten Funktionshierarchie folgen. Diese Gestaltungsvari­ante wird auch von den Betrachtungen von Dillon et aI. (1997) gestiitzt, die eine weniger streng gegliederte Aufgabenstruktur fur erfahrene Benutzer vorgeschla­gen haben. Ein auf diese Weise gestaltetes MMS-Konzept sollte die situationsan­gemessene Verwendung der manuellen und der sprachlichen Bedienmodalitiit erlauben, die Defizite des in dieser Studie vorgestellten MMS-Konzeptes kompen­sieren und so die Ablenkungswirkung auf ein MindestmaB reduzieren.

1m Rahmen der Entwicklung des hier vorgestellten neuen Anzeige- und Be­dienkonzeptes wurden bereits die Grenzen der herkommlichen Schalterbedienung aufgezeigt. Auch die Integration immer komplexerer Aufgaben, wie z.B. der al­pha-numerischen Eingabe, machen es unumgiinglich, dem Fahrer neue displayba­sierte MMS-Konzepte zur Verfugung zu stellen. Trotz dessen sollte es nicht das Ziel sein, aIle Taster im Fahrzeug in Mentistrukturen zu integrieren. Der manuelle Direktzugriff auf fahrrelevante Funktionen tiber Taster ist ebenfalls ein wichtiges Gestaltungskriterium von MMS-Konzepten zur Bedienung wiihrend der Fahrt. Es so lIte vielmehr das Ziel zukiinftiger Forschungsansiitze sein, der Aufgabe ange­messene Kombinationsvarianten aus Tasten und einem erweiterbaren Display­basierten MMS-Konzept zu entwickeln und zu evaluieren.

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12 Aspekte der multimodalen Bedienung und Anzeige im Automobil

Klaus Bengler

12.1 Einleitung

Die Interaktion zwischen Mensch und Maschine im Automobil stellt sehr spezifi­sche Anspriiche an die verwendeten Technologien und ihren Einsatz in diesem Umfeld. Mit der zunehmenden Zahl an Telematikdiensten miissen immer mehr Informationen unterschiedlichster Qualitat verkehrsicher verfligbar gemacht wer­den. Damit taucht immer wieder die Frage auf, wie das Zusammenspiel zwischen "Fahraufgabe" und "Bedienbarkeit" erfolgreich gesteigert werden kann. Die Be­dienung im Automobil soll dabei natiirlich auch komfortabel und intuitiv sein. 1m folgenden wird das Potential multimodaler Interaktion flir den Spezialfall der Mensch-Maschine-Interaktion (MMI) im Automobil diskutiert werden.

Wichtig ist die Feststellung, dass Multimodalitat kein Giitekriterium an sich­wie Fehlerrobustheit oder Erwartungskonformitat - flir Interaktionskonzepte dar­stellt, sondem als eine mogliche technologische Losung zu verstehen ist. Ange­wandt auf die zunehmend komplexe Funktionsvielfalt im Automobil wird sie die Interaktion im Automobil revolutionieren. Allerdings miissen sich multimodale Systeme dazu an den Anforderungen im Automobil orientieren, urn einen sinnvol­len Fortschritt und keine Verschiebung von Problemen zu verursachen.

Die Entwicklung von der Schreibmaschine zur Diktiersoftware iiber ein PC­basiertes Textverarbeitungssystem mit Tastatur und Maus verdeutlicht nur in manchen Aspekten diesen Verlauf. Zusatzliche Funktionen wurden regelmaBig begleitet von der Erweiterung der Moglichkeiten in Anzeige und Bedienung.

Es ist offensichtlich, dass diese Erweiterung aber auch spezifische Funktionen wie beispielsweise im Fall der Texterstellung spezielle Korrekturfunktionen und Konfigurationsfunktionen flir die Spracherkennung erzwungen hat - von der Um­stellung der traditionellen Arbeitsweisen der Nutzer ganz zu schweigen.

1m Zusammenhang mit dem Automobil diskutiert der Beitrag daher zwei Fra­gen:

1. In welcher Weise kann MMI im Automobil sinnvoll mit multimodalen Inter­aktionskonzepten gelost werden?

2. Welche spezifischen Anforderungen stellen diese multimodalen Interaktions­konzepte an den Nutzer und auch an den Entwickler?

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196 12 Aspekte der multimodalen Bedienung und Anzeige im Automobil

12.2 Multimodale Mensch-Maschine-Interaktion

Mit dem Konzept der Multimodalitat wird sicherlich kein vollig neues Konzept diskutiert. Biiroanwendungen und Entertainment versuchen seit geraumer Zeit dem Nutzer verschiedene Wege zur Verfiigung zu stellen, urn Eingaben vorzu­nehmen und Informationen von der Maschine zu erhalten.

Beispiele hierfiir sind multimodale Diktiersysteme aber auch Alltagsgerate wie sprachbediente Mobiltelefone und Organizer. 1O Ziel ist es dabei eine natiirlichere, intuitivere und vielleicht auch emotionalere Interaktion zwischen Mensch und Maschine zu erzeugen. Ais Paradigma dient haufig die dyadische Interaktion von Mensch zu Mensch mit allen mehr oder weniger bekannten Regelmafiigkeiten im Bereich der nonverbalen Kommunikation (Geiger et aI., 2001; Oviatt, 2000).

12.3 Technologische Aspekte

Die zum Zweck der multimodalen Bedienung eingesetzten Erkennungstech­nologien in den Bereichen Sprache, Gestik und Mimik haben ebenso eine deut­liche Weiterentwicklung erfahren wie die Pendants auf der Ausgabeseite. Hier sind verbesserte Sprachsyntheseverfahren, taktiles force feedback und sehr weit­reichende grafische Verfahren zu nennen. Mit deren Hilfe kann dem Nutzer der Eindruck eines dynamischen Interaktionspartners mit einer eigenen Personlichkeit vermittelt werden.

Der Einsatz der oben erwahnten Technologien im Automobil ist in erreichbare Niihe geriickt bzw. bereits moglich. Mit Sicherheit weckt die Machbarkeit multi­modaler Interaktionskonzepte zum gegenwiirtigen Zeitpunkt eben so groBe Hoff­nungen, die allgegenwiirtigen Probleme der MMI zu losen, wie dies auch mit der aufkommenden Spracherkennungstechnologie der Fall war. Die weiteren Aus­fiihrungen werden zeigen, dass der Beweis durch geeignete Losungen noch zu erbringen ist.

12.4 Multimodalitat im Automobil

Fiir die Gestaltung der MMI ist zu beriicksichtigen, dass das Fiihren des Auto­mobils die Hauptaufgabe des Nutzers darstellt, die sich aus mehreren Wahr­nehmungs-, Regelungs- und Planungsaufgaben zusammensetzt. Diese Haupt­aufgabe ist visuell dominiert und begleitet von kontinuierlicher Regelungs- und Steuerungsaktivitiit des Fahrers. Sie beansprucht in verschiedenen Fahrsituationen mehr oder weniger die ungeteilte Aufmerksamkeit des Nutzers. Hinzu kommt,

lOEine Zusammenstellung verschiedenster Systeme ist zu finden bei Benoit et al. (1996) unter http://coral.lili.uni-bielefeld.deIEAGLESIWP5Imultimodal.

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12.4 Multimodalitat im Automobil 197

dass unterschiedliche Fahrsituationen in diesem Zusammenhang deutlich ver­schiedene Anforderungsprofile zeigen.

In diesem Zusammenhang ist auBerdem zu beachten, dass generell die Anzahl der Funktionen im Automobil zunimmt. Dieser Prozess steigert zwar zunachst den Nutzwert des Fahrzeugs, er wird allerdings auch begleitet von einer Vedagerung der Aufgaben des Fahrers Die stark fahrzeugbezogenen Aufgaben treten zu Guns­ten fahrtbezogener Planungsaufgaben sowie nieht fahrtbezogener Alltags- und Kommunikationsaufgaben zuriick.

Die Einflihrung neuer Kommunikationswege (GPRS, UMTS, DAB) begleiten diesen Prozess: ,,As a general rule increased functionality normally produces higher complexity for handling" (Haller, 1999). Es stellt sich die Frage, ob Multi­modalitat Moglichkeiten liefert, diesen unerwiinschten Zusammenhang zwischen Funktionalitat und Komplexitat aufzulosen?

Hinzu kommt, dass zukiinftige Funktionalitaten auch andere Losungen flir Be­dienung und Anzeige nahe legen, da immer haufiger nicht fahrzeugbezogene Be­triebsdaten, sowie komplexe und abstrakte Inhalte aus fahrzeugfremden Domanen (Parkplatze, Wetter, Office, Nachrichten, Unterhaltung) darzustellen und zu be­dienen sind. Die Dialogfiihrung im Automobil hat - im Gegensatz zu anderen Domanen - im Sinn des Bedienungskomforts und der Verkehrssicherheit einigen speziellen Aspekten Rechnung zu tragen (s.a. ISO TC22 SC13 WG8, 2000).

Die Empfehlung der Kommission der Europaischen Gemeinschaften (1999) umreiBt, wodurch die Qualitat einer MMI -Losung flir das Automobil bestimmt wird. Hier werden vor allem die Minimierung der Ablenkung von der Fahrauf­gabe, fehlerrobuste Gestaltung der Interaktion und erwartungskonforme, nutzer­kontrollierte Bedienkonzepte gefordert.

12.4.1 Robustheit durch Redundanz

Prinzipiell besteht die Moglichkeit, durch multimodale Konzepte, die Interaktion zwischen Fahrer und Fahrzeug robuster zu gestalten, da multimodale Systeme ein vollig anderes AusmaB redundanter Informationen beziiglich des Nutzerverhaltens lief em:

"Gestik und Mimik wahrend einer Spracheingabe" "Sprachliche AuBerungen wahrend der manuellen Sendersuche"

Durch sinnvolle Fusion von Informationen kann die Robustheit gegen Fehler­kennungen eventuell auch Fehlbedienungen erreicht werden. Oviatt (2000) be­schreibt in diesem Zusammenhang das Konzept der mutual disambiguation, wah­rend Noyes u. Frankish (1994) sieh der unimodalen Fehlerkorrektur im Fall der Spracheingabe zuwenden. 1m Vergleieh stellt der multimodale Ansatz klare An­forderungen an die einzelnen Komponenten und den Nutzer:

• Die Informationsqualitat einer Einzelmodalitat darf das Gesamtsystem nicht negativ beeinflussen.

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198 12 Aspekte der multimoda1en Bedienung und Anzeige im Automobil

• Welches Altemativkonzept garantiert akzeptables Systemverhalten, wenn eine ModaliHit fehlen sollte? Bisher ist die Spracheingabe im Automobil noch eine Sonderausstattung und keine Serienausstattung. Unter lauten Umgebungs­bedingungen ist das Sprachsignal in diesem Sinn u.D. nicht verwertbar.

Geeignete Versuche mussen zeigen, ob diese und weitere Anforderungen im Automobil erfiillt sind. Andere Erfahrungen herrschen im Fall der multimodalen Ausgabe. Hier wird seit liingerem erfolgreich die Robustheit der MMI durch Re­dundanz gesteigert.

Am Beispiel des Autoradios zeigt sich Redundanz in Form "disjunkter" Ausga­ben. Wiihrend die grafische Anzeige sich auf den gewiihlten Sender und Status beschriinkt, konzentriert sich die akustische Ausgabe auf Inhalte und gibt nur im Ausnahmefall Statusmeldungen aus (Hinweiston: "Verkehrsfunk nicht moglich").

Ergebnisse von Green u. Williams (1992), Parkes u. Coleman (1990) und Bengler (1995) zeigen sehr deutlich den Vorteil einer Kombination aus Grafik und Akustik bei der Priisentation von Navigationshinweisen im Vergleich zu unimoda­len Varianten. Blickdauer und Blickhiiufigkeit auf die Anzeigen konnen ebenso reduziert werden wie die Anzahl der Fehlentscheidungen.

12.4.2 Intuitivitat durch variable Zugange

Fiir den Fahrer entsteht zuniichst eine groBere Variationsbreite in der Benutzung der Funktionen im Fahrzeug. Multimodaliilit im Automobil impliziert mit Sicher­heit den Einsatz von Spracherkennung. Hier muss allerdings die derzeitige techni­sche Machbarkeit in diesem Bereich beriicksichtig werden. Deshalb sind natiir­lichsprachliche Systeme flir die niihere Zukunft nicht zu erwarten - mit Sicherheit aber Spracheingabesysteme, die unter Verwendung eines festgelegten Vokabulars sehr gute Erkennungsleistungen lief em werden. Wie wird diese Variationsbreite genutzt, die sicherlich auf Seiten des Nutzers erhOhten Lemaufwand und zuniichst bewusstere Bedienung erfordert?

Insbesondere Spracheingabe und Gestikerkennung im Fahrzeug erfordem ge­stalterische MaBnahmen, die den Zugang zum Gesamtsystem flir den Nutzer er­leichtem. Einige Fragen, die von Nutzem im Zusammenhang mit Spracherken­nung und Gestikerkennung gestellt werden, verdeutlichen diese Problematik:

- Welches Vokabular kann in der aktuellen Dialogsituation genutzt werden? - Welche Sprach- oder motorisches Verhalten konnen verarbeitet werden? - Wie ist der aktuelle Systernzustand? - Was wurde erkannt?

Auf weitere Aspekte und Losungen gehen Bengler et al. (2000) ein. Niedermai­er 1999 beschreibt ein weiteres Verfahren urn den unerfahrenen Nutzer erfolgreich zu unterstiitzen. Hiisitationen des Nutzers werden genutzt urn das aktuell verfiig­bare Funktionsvokabular via Sprachsynthese anzusagen. Dadurch kann die Hiiu­figkeit falsch eingesetzter Kommandos deutlich verringert werden.

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12.4 Multimodalitat im Automobil 199

12.4.3 Erweiterbarkeit und Komplexitat multimodaler Systeme

Multimodale Systeme sind durch eine deutlich h6here Systemkomplexitat gekenn­zeichnet als traditionelle unimodale Systeme. Neben den Einzelkomponenten (Spracherkenner, Gestikerkenner, Eingabeelement usw.) nimmt die Komplexitat der notwendigen Interaktionsmodule zur Synchronisation der Einzelkomponenten zu. Bengler et al. (2000) diskutieren am Beispiel eines multimodalen Demonstra­tors einen auf Statecharts basierenden und deshalb vollkommen deterministischen L6sungsansatz zur Realisierung multimodaler Bediendialoge. Andere Systeme beruhen auf agentenbasierten und heuristischen Verfahren.

Interface Systemmanager

Abb. 12.1 Systemarchitektur multimodaler Demonstrator

Interface TTS

Der Dialog wird in Form eines hierarchischen Zustandsautomaten reprasentiert. Er muss hierzu in einzelne Dialogzustande unterteilt werden, wobei jeder Dialog­zustand einem determinierten Zustand des Zustandsautomaten entspricht. Das Verhalten der einzelnen Dialogkomponenten kann dann fur jeden dieser Dialog­zustande einzeln konfiguriert werden.

Wie in Abb. 12.1 zu sehen zeichnet sich der gewahlte Ansatz weiterhin dadurch aus, dass einzelne - stark gekapselte - Module (TextToSpeech, Spracherkennung, Visualisierung, Systemmanager/Fahrzeughardware) und durch einen DialogGui­der zentral verwaltet und gesteuert werden. Die Kommunikation iibemimmt zu den Einzelmodulen iibemimmt dann ein wiederum modularisierter Dialogmana­ger. Durch diese starke Modularisierung und Kapselung der Einzelmodule k6nnen ohne gr6Beren Aufwand die dargestellten Inhalte geandert und das Dialogmodell zu erweitert werden. Neben der Stabilitat der Implementierung sind diese beiden

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200 12 Aspekte der multimodalen Bedienung und Anzeige im Automobil

Aspekte wichtige Anforderungen fUr den Einsatz im Entwicklungsprozess, der auch verteiltes Arbeiten und Testen unterstiitzt.

12.5 Verringerte Ablenkung durch sequentielle Multimodalitat

Durch die Auswahlm6glichkeit der fUr ihn am besten geeigneten Modalitiit kann der Nutzer in bestimmten Fahrsituationen das Zusammenspiel zwischen "Fahrauf­gabe" und "Zusatzaufgaben" erfolgreich steigem. Hier liegt mit Sicherheit eines der gr6Bten Potenziale multimodaler Bedienung im Automobil.

Kann beispielsweise auf einer kurvigen LandstraBe nicht mehr per Hand be­dient werden, weil aufgrund der Lenkaufgabe beide Hande am Steuer bleiben mussen, dann ermoglicht Spracheingabe fUr bestimmte Funktionen trotzdem eine komfortable Bedienung. 1m umgekehrten Fall kann auch in gerauschvollen Um­gebungen manuell weiterbedient werden.

Urn dieses Potenzial allerdings auszusch6pfen, muss der Nutzer fUr dieselbe Aufgabenstellung verschiedene L6sungsstrategien verfolgen k6nnen. AuBerdem muss der Benutzer eine klare Vorstellung beziiglich der Passung der jeweiligen Modalitaten zur aktuellen Situation herstellen k6nnen. Bestimmte Umgebungs­bedingungen k6nnen den Einsatz einer Modalitat stark behindem. Dies solI wie­derum am Beispiel der Erkennungstechnologien verdeutlicht werden:

Welche Gerauschbedingungen behindem eine erfolgreiche Spracheingabe? - Erlaubt ein bestimmtes Fahrman6ver eine gezielte Gestikeingabe?

Baber et al. (1996) zeigen sehr deutlich, dass die Qualitat der Sprachproduktion der Nutzer in Dual-task-Versuchen zu wiinschen ubrig lasst. Vor allem Unter­brechungen und Wiederholungen fUhren zu unerwiinschten Erkennungs­problemen. Die Ergebnisse von Christoph Draxler et al. (2001) bestatigen diesen Effekt fUr das Automobil. Gerade in innerstadtischen Fahrsituationen sind Sprach­eingaben haufig von langen Pausen unterbrochen. In der Praxis fUhren diese Un­terbrechungen zu einem Anstieg der Erkennungsfehler.

Bereits die Diskussion der "My then urn Multimodalitat" (Oviatt, 1999) zeigt, in welchem MaB die Nutzer zwischen verschiedenen Modalitaten wechseln. Versu­che, die im Projekt FERMUS (Fehlerrobuste multimodale Sprachdialoge)ll an einem multimodal bedienten Audiogerat durchgefUhrt wurden, zeigen laut Althoff u. McGlaun (2001), dass die Nutzer nur in seltenen Fallen bereit sind, die gewahl­te Eingabemodalitat im Fall einer Fehlerkennung zu wechseln. Wie in Abb. 12.2 zum Teil erkennbar erfolgte die Interaktion dabei mittels Gestik, Sprache und herk6mmlichen Bedienelementen. Der Versuch wurde im Fahrsimulator durchge­fUhrt.

11 Eine Kooperation zwischen zwischen der BMW AG, der Siemens AG, der DaimlerChrys­ler AG, der Mannesmann VDO AG und dem Lehrstuhl fUr Mensch-Maschine-Kommuni­kation der TV Miinchen

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12.5 Verringerte Ablenkung durch sequentielle Multimodalitat 201

Abb. 12.2 Versuchsaufbau FERMUS mit Spracheingabe, Gestik, Touchscreen und Tasten­block.

Abbildung 12.3 lasst eine deutliche Praferenz zur Modalitat Sprache in ver­schiedenen Kombinationen erkennen. Weiterhin zeigen die Versuche, dass die Nutzer nur selten das zur Verfiigung stehende Spektrum der Eingabemodalitaten nutzen und stattdessen unimodal bedienen. Ziel muss es daher sein, dass durch gezielte Hinweise im Dialog und der grafischen Darstellung sowohl die Wahl als auch der Wechsel zu einer geeigneteren Modalitat unter Umstanden durch das System unterstUtzt wird.

6

~

......----5

r--

......-....--

- ....--

2

n Hand- u. ~prache u. Tasten u. Touch u.

Kopfgestik Kopfgestik Kopfgestik Sprache .Sprache u. SRrache u. Touch u. Touch u. Handgestik Tasten Kopfgestik Tasten

Modalitiiten

Abb. 12.3 Akzeptanzurteile beziiglich der einzelnen Modalitaten (Bewertung: sehr gut: 1; extrem schlecht: 6).

Es ist offensichtlich, dass Bildschirmausgaben und Tasteneingaben die visuelle Zuwendung des Fahrers erfordem. Diese Notwendigkeit lasst sich durch geeignete

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202 12 Aspekte der multimodalen Bedienung und Anzeige im Automobil

Gestaltung reduzieren. Die Integration von Spracheingabe und Sprachausgabe geht einher mit dem Grundsatz ,,Eyes free - Hands free ". Mit Sicherheit fUhrt sprachliche Interaktion zu einer Reduktion von Blickabwendungen und erleichtert beidhandiges Fahren. Allerdings verursachen Spracheingabe und Sprachausgabe in gewissem Umfang mentale Belastung.

Blickbewegungsstudien geben Aufschluss tiber den Grad der Beanspruchung durch Sprachein-/ausgaben und zeigen, dass gezieltes Zuhoren zu einer Reduktion von Blickzuwendungen auf Gerate und Bildschirm im Fahrzeuginnenraum fUhrt. Dies wird allerdings durch eine Verringerung der Fixationshaufigkeit und eine Verlangerung der Verweilzeit auf Einzelobjekten wahrend des Zuhorens begleitet (Recarte et aI., 1999).

I.~

1.2 • Fahrt mit vis. Aufgabe

o Referenmhrt

~ 1.0 L. .. '" ..

0.8 "S: c 0 ... .. 0.6 x

u::

tl 'E 0."

0.2

0.0

Aerea of interest

Abb. 12.4 mittlere Fixationsdauem fur die unterschiedlichen Objekte im Vergleich Refe­renzfahrt / Fahrt mit visueller Aufgabe.

Schweigert (1999) repliziert dieses Ergebnis fUr die Bearbeitung einer manuellen Aufgabe mit Display (visueIl) im Vergleich mit einer einfachen akustischen Auf­gabe. Dieser Vergleich wurde in verschiedenen Verkehrssituationen vorgenom­men. Die Abb. 12.4 und 12.5 zeigen die Auswirkung der beiden Aufgaben (visuell vs. akustisch) auf die Fixationsdauer beziiglich verschiedener Objekte in der Um­gebung des Fahrers im Vergleich zur Referenz (keine Zusatzaufgabe). Relevante Objekte der Verkehrsumgebung wie "Verkehrsteilnehmer voraus" und "StraBe" werden deutlich langer wahrend der akustischen Aufgabe fixiert. Die tibrigen Objekte wie Armaturen und Spiegel werden nahezu unverandert zur visuellen Aufgabe fixiert. Dies zeigt, dass auch das Horen wenig redundanter Informationen - und hierbei handelt es sich im Fall der Sprachein-/ausgabe - Einfluss auf das

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12.6 Zusammenfassung 203

Blickverhalten des Fahrers hat, sich jedoch meist positiv im Vergleich zur manu­elllgrafischen L6sung zeigt.

1.04

• FaIlrt mit aku. Aufgabe 1.2 o Referenzfahrt 1---+-----------

,......., ~ L. 1.0 Q.I ::J

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Aerea of interest

Abb. 12.5 mittlere Fixationsdauem fur die unterschiedlichen Objekte im Vergleich Refe­renzfahrt / Fahrt mit akustischer Aufgabe.

Ein zweites Ergebnis dieser Studie zeigt, dass der Fahrer nach wie vor der Fahr­aufgabe Priori tat einraumt. 1m Gegensatz zu anderen Einsatzfeldem hat die Spracherkennung im Automobil also mit verlangerten und variablen Reaktions­zeiten des Fahrers umzugehen. Hinzu kommen Fehler, die aus der Unterbrechung des Dialogs resultieren.

12.6 Zusammenfassung

An der Beschreibung des Konzeptes "Multimodalitat" im Kontext des Automobils wird deutlich, dass sich ein gro8es Potenzial abzeichnet. Diese M6glichkeiten k6nnen allerdings nur ausgesch6pft werden, wenn gezielt multimodale Dialoge gestaltet und die einzelnen Modalitaten aufeinander abgestimmt werden. Ziel bleibt nach wie vor, den Zusammenhang aus steigender Komplexitat und Effizienz und Komfort der Benutzung zu entkoppeln.

Ein weiterer Aspekt, der nicht we iter vertieft wurde, stellt sich mit der Frage, ob die Orientierung zukiinftiger Konzepte an der "Mensch-Mensch-Interaktion" als Paradigma ausreichend und passend ist, weil sich mittlerweile Kulturstereotype der MMI etabliert haben, die in keiner Weise ihr Vorbild in der natiirIichen Kom-

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204 12 Aspekte der multimodalen Bedienung und Anzeige im Automobil

munikation haben aber trotzdem allgemein akzeptiert sind. Eine lange Tradition im Umgang mit Maschinen im allgemeinen und Autos hat hier sicherlich deutliche Spuren hinterlassen, die in neueren Interaktionstechnologien beriicksichtigt wer­den mussen.

Dabei ist zu beachten, dass rur den Entwickler allein aufgrund der Einfiihrung von MultimodaliHit schon bei gleichbleibender Funktionalitat die Komplexitat der Systeme sprunghaft zunehmen wird. Bei steigender Funktionalitat ist zu priifen, ob der vorgestellte Ansatz der Dialogreprasentation in Form eines Zustands­automaten den steigenden Anforderungen gerecht werden kann.

Mit Sicherheit ist es erforderlich, multimodale Konzepte an die automobilen Erfordemisse anzupassen. Dies betrifft sowohl die Optimierung der Einzel­komponenten als aueh intensive Arbeiten im Bereich der Dialogentwieklung und Intentionserkennung. Die gezielte Sammlung und Analyse multimodaler Daten im Kontext Automobil ist hier unumganglieh.

Nieht nur die Entwicklung, sondem aueh die Bewertung implementierter Kon­zepte wird neue Wege gehen mussen, urn mit der steigenden Komplexiilit mit vertretbarem Aufwand Sehritt zu halten. Sowohl die Einzelmodalitaten als aueh das Zusamrnenspiel der versehiedenen Modalitaten mussen in versehiedenen Ver­kehrssituationen untersueht werden.

Multimodale Interaktion wird im Automobil vollig neue Mogliehkeiten erOff­nen, urn zukiinftige Bedienung und Anzeige sieher und komfortabel zu gestalten. Hinzu kommt, dass gut geloste Multimodalitat dem Nutzer bisher nieht erlebte Variations- und Erlebnismoglichkeiten im alltagliehen Gebraueh des Automobils geben wird.

Literatur

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Baber, C. (1996). Automatic Speech Recognition in Adverse Environments. Human Fac­tors, 38, 1 (142-155)

Bengler, K. (1995). Gestaltung und experimentelle Untersuchung unterschiedlicher Prii­sentationsformen von Wegleitungsinformation in Kraftfahrzeugen. Regensburg. Rode­rerVeriag

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Page 211: Kraftfahrzeugführung ||

Literatur 205

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Green, P. & Williams, M. (1992). Perspective in orientation/navigation displays: a human factors test. The 3rd international conference on vehicle navigation systems and irifor­mation systems, Oslo, 221-226

Haller, R. (2000). HMI New Technologies and Safety Aspects. Ujh International Conferen­ce Traffic Safety on Two Continents, Linkoping: VTI - Swedish National Road and Transport Research Institute, 5-16

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Niedermaier, B. (1999). Entwicklung und Bewertung eines nutzerorientierten Dialogkon­zepts zur Sprachbedienung eines Autotelefons. Diplomarbeit. Technische Universitat Miinchen

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Oviatt, S. (1999) Ten Myths of Multimodal Interaction, Communications of the ACM, Vol. 42, No. II, 74-81

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Recarte, M.A, Nunes, L.M., Lopez, R. & Recarte, S. (1999). Effects of Two Different Mental Tasks on Visual Search Behaviour While Driving. In: Gale, AG., Brown, I.D, Haslegrave, C.M. & Taylor, S.P. (Hrsg.). Vision in Vehicles - VII Amsterdam: Else­vier

Schweigert, M. (1999). Fahrerverhalten beim Fiihren eines Kraftfahrzeuges unter gleich­zeitiger Bearbeitung von Zusatzaufgaben. (MOTIV MMI AP8: Projektbericht), Tech­nische Universitat Miinchen

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13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug

Katharina Seifert, Matthias Rotting und Raphael Jung

13.1 Einfiihrung

Die visuelle Wahmehmung der relevanten Umwelt stellt eine zentrale Anforde­rung bei der Fiihrung eines Kraftfahrzeuges dar. Bei der analytischen Betrachtung der Fahrzeugfiihrungsaufgabe werden hiiufig drei Prozesse unterschieden: Planung (navigation), Steuerung (guidance) und Stabilisierung (control) (vgl. z.B. Sheri­dan, 1992). Sowohl bei der Planung einer Fahrt und der Auswahl einer Fahrtroute als auch bei der Steuerung, aber auch bei der Stabilisierung des Fahrzeuges beziig­lich der Sollspur, werden optische Merkmale der Umgebung analysiert. So geben beispielsweise Ortseingangsschilder Hinweise fiir die Einhaltung der gewiihlten Fahrtroute und der als zu gering wahrgenommene Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug fiihrt zu Aktivitiiten auf der Steuerungsebene wie dem Abbremsen des Fahrzeuges. Auf der Kontrollebene werden dynamische GroBen des Fahrzeuges wie das Gieren ausgeregelt, die eher durch periphere visuelle Wahmehmung be­einflusst werden (Miura, 1986).

Die Erfassung von Blickbewegungen ermoglicht es, Riickschliisse auf die menschlichen Informationsverarbeitung bei der Bewiiltigung der Fahraufgabe, besonders fiir die Prozesse der Navigation und Steuerung, zu ziehen. Auch die Aufnahme von Informationen bei hochgeiibten Tiitigkeiten, die bei erfahrenen Fahrzeugfiihrem auf den Ebenen der Navigation und der Steuerung auftritt, kann mittels dieser Messmethode genauer als durch Befragung oder bloBe Beobachtung erhoben werden.

1m Folgenden werden die mit der Blickbewegungsmessung verbundenen defi­nitorischen und physiologischen Sachverhalte sowie verschiedene Ebenen der Interpretation der Messdaten kurz dargestellt. Die iiblicherweise im Fahrzeug eingesetzten MeBmethoden werden erliiutert und die speziellen Bedingungen bei der Blickbewegungsmessung verdeutlicht. AbschlieBend zeigen einige Beispiele die vielseitige Einsetzbarkeit der Methode zur Untersuchung verschiedener Frage­stellungen bei der Gestaltung von Kraftfahrzeugen und bei der Fahrzeugfiihrung.

13.2 Definition von Augen- und Blickbewegungen

Augenbewegungen sind alle Bewegungen des Auges, die allein durch Beobach­tung des Auges erfasst und interpretiert werden konnen. 1m Gegensatz dazu wer­den als Blickbewegungen solche Bewegungen des Auges bezeichnet, die in Ver-

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208 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug

bindung mit den yom Auge aufgenommenen Informationen interpretiert werden. Bei der Erfassung von Blickbewegungen muss neben der Augenbewegung defini­tionsgemiill also immer auch der Zielort des Blickes mit erfasst oder anderweitig bestimmt werden.

Die menschlichen Blickbewegungen sind durch einen steten Wechsel von sog. Fixationen und Sakkaden gekennzeichnet. Eine Fixation wird definiert als der Zustand, bei dem sich das Auge beziiglich eines Sehobjektes in "relativem" Still­stand befindet. Dazu gehOren auch Folgebewegungen (pursuit movements), die die andauernde Fixierung eines sich langsam bewegenden Objektes ermoglichen. Die Sakkaden (sehr schnelle Blickspriinge) dienen dazu, neue Objekte, die sich im Gesichtsfeld befinden, in dem Bereich der Netzhaut abzubilden, wo scharfes Se­hen moglich ist: der Fovea.

Ubliche Parameter der Blickbewegungen werden aus den zeitlichen und ortli­chen Eigenschaften der Fixationen, den Sakkaden und dem Wechsel von Fixatio­nen und Sakkaden, dem sog. Suchpfad (scan path), gebildet.

13.3 Bedingungen fur die Interpretation von Blickbewegungsparametern

Die Interpretation von Blickbewegungen als Indikatoren fiir die visuelle Informa­tionsaufnahme und -verarbeitung setzt Grundannahmen voraus, die die Ausrich­tung des Blickes mit den momentan ablaufenden mentalen Prozessen verbindet. Bei Just und Carpenter (1980), Schroiff (1986) und Liier (1988) wird von folgen­den Voraussetzungen ausgegangen:

1. Das angeblickte Objekt ist Gegenstand der momentanen mentalen Verarbeitung (eye-mind assumption)

2. Die Dauer, wiihrend der das Auge auf einem Ort verweilt, entspricht der Dauer der mentalen Verarbeitung (immediacy assumption)

3. Fixationssequenzen spiege1n serielle Prozesse der Informationsverarbeitung wider.

Die Analyse von Sakkaden und Fixationen beriicksichtigt nur den Teil der vi­suellen Wahrnehmung, bei dem Information foveal verarbeitet wird. Allerdings werden auch auBerhalb des Bereichs scharfen Sehens in der Netzhaut optische Merkmale aufgenommen und verarbeitet.

13.3.1 Die Rolle der peripheren visuellen Wahrnehmung

Bei vielen Tiitigkeiten - insbesondere bei Fahrzeugfiihrungsaufgaben - spielt die periphere visuelle Wahrnehmung eine wichtige Rolle, indem sie z.B. die Auf­merksamkeit auf neue zu fixierende Ziele lenkt. Damit spiegelt sich die Wirkung dieses Anteils der peripheren Wahrnehmung auch recht unmittelbar in den Blick­bewegungen (z.B. Sakkade zu dem neuen Ziel) wider. Miura (1986) hat fiir das

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13.3 Bedingungen flir die Interpretation von Blickbewegungsparametern 209

Autofahren Fahrsituationen und Fahrrnanover danach charakterisiert, inwieweit dort foveale und periphere visuelle Wahmehmung wichtig sind (Tabelle 13.1). Die periphere visuelle Wahmehmung unterstiitzt danach die Kon­trolle der eigenen Fahrzeugposition (Geschwindigkeit und Spurhaltung) in Relati­on zur Strasse und zu anderen Fahrzeugen.

Tabelle 13.1 Visuelle Aufgaben bei verschiedenen Fahrsituationen und Fahnnanovern Cnach Miura, 1986).

Fahrsituation und -

manover

Geradausfahrt

Vorbeifahrt an

parkenden Fahr­

zeugen

Einfahrt in eine

engere Stral3e

Oberholen

Visuelle Aufgabe

F

F

F

F

~ a n; ..r:: ... :::l a.

II) ... QI -0 c: QI

..r::

~ QI .0 :::J

p p

p p

pFp

pFp

F

F pFp F

F

F

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~ c: :::l

~ c: QI c: W <II QI

-0 c:

~ II)

F

F = foveales Sehen; p p = peripheres Sehen; pFp = foveales I peripheres Sehen

pFp

Die Bedeutung der peripheren Wahmehmung flir die Geschwindigkeits- und Ent­femungswahmehmung unterstreicht auch eine Untersuchung von Groeger und Brown (1988). Die Beurteilung, wann sich das eigene Fahrzeug auf gleicher Hohe mit einem zweiten Fahrzeug befindet, gelang bei einem weiteren Sichtfeld (400 vs. 100 ) mit signifikant geringerer Fehlerrate. Dieser Befund legt nahe, dass der Leis­tungszuwachs auf peripher wahrgenommene Umgebungsmerkmale zuriickzuflih­ren ist. In einem Vergleich zwischen realer Fahrsituation und einem Fahrsimulator ohne periphere Sicht haben Carter und Laya (1998) signifikant hiiufigere Fixatio­nen des Tachometers gefunden - ebenfalls ein Indiz flir die Wichtigkeit der peri­pheren Wahmehmung flir die Beurteilung der Geschwindigkeit. Auch flir die Spurhaltung konnen erfahrene Fahrer periphere visuelle Inforrnationen nutzen,

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210 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug

wiihrend unerfahrene Fahrer dafUr die foveale visuelle Wahmehmung einsetzen. Mourant und Rockwell (1970, 1972) stellten eine entsprechende Hypothese auf, die durch Untersuchungen von Summala (1998) und Summala et al. (1996) ge­stUtzt wurde.

Diese Funktionen der peripheren visuellen Wahmehmung spiegeln sich norma­lerweise nicht im Fixationsverhalten wider. Die Untersuchungsergebnisse unter­stiitzen jedoch die Annahme, dass bei unerfahrenen Personen und bei besonders anspruchsvollen Bedingungen die foveale visuelle Wahmehmung auch fUr diese Funktionen mit eingesetzt wird.

13.4 Aussageebenen der Analyse von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug

Augen- und Blickbewegungsdaten konnen auf verschiedenen aufgaben­analytischen Ebenen (vgl. Luczak, 1997, 1998) interpretiert werden, die jeweils einen spezifischen Fokus haben (Rotting, 2001).

• Ebene 1, Informatorische und energetische Kosten: Typisierung und Beschrei­bung der physiologischen Kosten bei der Bearbeitung von Aufgabenelemen­ten, Aufgabenkomponenten und gesamten Aufgaben.

• Ebene 2, Zeitverbriiuche: Erkliirung, Bemessung und Prognose des Zeit­verbrauchs fUr die Bearbeitung von Aufgabenbestandteilen und kombinierten Aufgaben.

• Ebene 3, Mensch-Maschine Interaktion: Analytische Beschreibung und Ver­gleich unterschiedlicher Bedingungen der Mensch-Maschine-Interaktion in mehreren Dimensionen (z.B. Anforderungen, Stabilitiit, Fehler).

Rotting (2001) hat eine Vielzahl von Augen- und Blickbewegungsparametem beschrieben und den drei Analyseebenen zugeordnet (Tabelle l3.2). Die Augen­und Blickbewegungen konnen in unterschiedlicher zeitlicher Auflosung analysiert werden. Ihre Parameter konnen dabei sowohl als Beobachtung des Handlungsvoll­zuges als auch als physiologische Veriinderung interpretiert werden. 1m Sinne des Handlungsvollzuges interpretiert, spiegelt ein Parameter wie die Fixationsdauer -mit Variationen im Millisekundenbereich - u. a. Unterschiede beim Erkennen einfacher Objekte wider. Die Analyse der Folge von einigen wenigen Fixationen und Sakkaden im Bereich von Sekunden erlaubt Riickschliisse auf Handlungen (vgl. auch Hayhoe, 2000). Die Analyse der Augenbewegungen im Sinne eines physiologischen Parameters betrachtet z.B. die Veranderung der physiologischen Aktivierung durch liingerfristigere Aufgabenbedingungen. Herangezogen wird bei solchen Betrachtungen beispielsweise die Veranderung des Mittelwertes von Fixationsdauem iiber Abschnitte im Bereich von Minuten (z.B. Unema, 1995).

Page 216: Kraftfahrzeugführung ||

13.4 Aussageebenen der Analyse von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug 211

Tabelle 13.2 Zusammenfassende Ubersicht tiber die Verwendbarkeit von Parametem der Augen- und Blickbewegungen im Rahmen der Aufgabenanalyse unter ebenenspezifischen Fragestellungen (nach Rotting, 2001).

Ebene I: Bestimmung der informatorischen und energetischen Kosten

Veranderungen des arousal Sakkadenlatenz Anzahl der Sakkaden

Sakkaden pro Zeiteinheit

Fixationsdauer

Fixationen pro Zeiteinheit

"Aufwand" der Bewegung des Auges Fixationsvektor

Gewichtetes Suchgebiet

Veranderungen des visue"en Feldes Sakkadenweite

Sakkadenausdehnung

Veranderungen des Blickverhaltens bei einer zusatzlichen Aufgabe

Obergangshaufigkeiten Autokorrelation

Entropie

Markov-Matrizen

Ermiidung und Vigilanz Sakkadengeschwindigkeit

Sakkadendauer

Genauigkeit der Sakkade

Anzahl glissadischer Augenbewegungen

Ebene 2: Erklarung, Bemessung und Prognose von Zeitverbrauchen

Dauer von Informationsaufnahme und -verarbeitungsprozessen

Fixationsdauer Fixationen pro Zeiteinheit

Sakkaden pro Zeiteinheit

Kumulierte Fixationsdauer Verweildauer

Dauer von Obergangszeiten Sakkadendauer

Sakkadenweite

Kumulierte Obergangszeit

Fixationen-Sakkaden-Verhaltnis

Dauer von Suchzeiten Blickpfaddauer Suchzeit

Ebene 3: Analyse der Bedingungen der Mensch-Fahrzeug-Interaktion

Analyse der ortlich-raumlichen Gestaltung Verteilung der Augenbewegungsdaten Fixationsort

Fixationsdichte

Raumliche Dichte

Kumulierte Fixationsdauer Verweildauer

Relative Haufigkeit der Fixation von Objek­ten oder Regionen

Obergangshaufigkeiten Analyse von Suchprozessen

Anzahl der Fixationen

Anzahl der Sakkaden

Lange des Blickpfades

Obergangsdichte

Konvexe Hlillflache

Sakkadenweite

Kumulierte Obergangszeit

Fixationen-Sakkaden-Verhaltnis

Augenbewegungsgeschwindigkeit

Analyse von Informationsaufnahme und -verarbeitungsprozessen

Statistische Analyse der Obergangs­

haufigkeiten

Sakkadenweite-Fixationsdauer-Diagramm

Autokorrelation Raumliche Clusterung Lokale Fixationspfade

Richtungsanderungen Markov Matrizen

Entropie der relativen Haufigkeit der Fixation

von Objekten oder Regionen

Analyse der "Ebenen" der Informations­verarbeitung

Fixationsdauern

Fixationen pro Zeiteinheit

Sakkaden pro Zeiteinheit

Verteilung der Fixationsdauern

Laterale Augenbewegungen

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212 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug

Nachfolgend werden einige der Parameter der Blickbewegungen naher erlautert, die bei der Analyse von FahrzeugfUhrungsaufgaben besonders haufig eingesetzt werden.

13.4.1 Fixationshaufigkeit und Fixationsdauer

Es ist iiblich, die absolute und relative Haufigkeit der Fixation bestimmter Objekte zu ermitteln (s. z.B. Gengenbach, 1999; Seifert u. Eyferth, 1999). Aus der Haufig­keit und der Dauer der Fixationen wird sehr oft die durchschnittliche Fixations­dauer pro Blickobjekt errechnet. Des weiteren konnen die Variation und die Ver­teilung der Fixationsdauern pro Blickobjekt ortlich und zeitlich ermittelt werden, wenn die Fixationsdauer auf ein Objekt bezogen wird.

Die Bestimmung der Dauer einer Fixation erfolgt iiblicherweise iiber die Ab­grenzung zur den vorhergehenden bzw. nachfolgenden sakkadischen Augen­bewegungen. Fiir bestimmte Tatigkeiten, z.B. Verfolgung eines Fahrzeugs mit niedriger Relativgeschwindigkeit oder querenden Verkehrs, kann es sinnvoll sein, das Abgrenzungskriterium zu den Sakkaden so zu definieren, dass die langsamen Folgebewegungen ebenfalls als Fixation gewertet werden.

Die minimale Fixationsdauer wird iiblicherweise durch das zeitliche Kriterium des Algorithmus zur Fixationserkennung festgelegt. Haufig werden als minimale Fixationsdauer lOOms genannt (z.B. Karsh u. Breitenbach, 1983; Young u. Shee­na, 1975). Maximale Fixationsdauern konnen mehrere Sekunden betragen. Ubli­che Fixationsdauern liegen im Bereich mehrerer 100 Millisekunden.

Die Fixationsdauer ist der wohl am haufigsten benutzte Parameter der Blick­bewegungen und wird in vielen Untersuchungen als MaB fUr die Dauer der Bear­beitung der betrachteten Information interpretiert (vgI. eye-mind assumption). Da wahrend der Sakkaden das Sehvermogen weitgehend ausgeschaItet ist, findet die visuelle Informationsaufnahme fast ausschlieBlich wahrend der Fixationen statt. Unter dieser Annahme ist also die Fixationsdauer identisch mit der Dauer der Informationsverarbeitung.

13.4.2 Verweildauer und "Eyes-Off-the-Road-Time"

Die Verweildauer, im englischen gaze duration, time spend in areas of interest (vgI. Goldberg u. Kotval, 1999) oder auch glance duration (Farber et aI., 1993; Fairclough et aI., 1993), ist die Dauer aller aufeinanderfolgenden Fixationen, die auf ein Objekt fallen oder die innerhalb eines zuvor definierten ortlichen Kriteri­urns (z.B. innerhalb eines Radius von 1,5°) bleiben (vgI. Liier, 1988). Die Ver­weildauer pro Blickobjekt ist die Gesamtsumme der Zeiten, die ein Objekt oder eine Gruppe von Objekten fixiert wird.

Die Verweildauer fasst mehrere aufeinanderfolgende Fixationen eines Blickob­jektes oder -gebietes zu einem Wert zusammen. Sie wird als MaB fUr die Schwie­rigkeit der Aufnahme der Information angesehen, wobei langere Verweildauern auf groBere Schwierigkeiten hindeuten. Die Schwierigkeit kann durch schlechte

Page 218: Kraftfahrzeugführung ||

13 .5 Messverfahren 213

Les- oder Erkennbarkeit, schlechtes Layout oder durch eine zu hohe Inforrnati­onsdichte verursacht sein (Fairclough et al., 1993).

1m Rahmen der Untersuchung von Fahrzeugfuhrungsaufgaben hat eine Varian­te der Verweildauer, die sog. Eyes-OfJ-the-Road-Time, eine besondere Relevanz. Sie fasst Verweildauem all jener Objekte zusammen, die nicht innerhalb des Stra­Benbereiches liegen und keine unmittelbar fur die Fahraufgabe notwendige Infor­mation liefem.

13.5 Messverfahren

Zur Bestimmung der Augen- und Blickbewegungen wurden fur unterschiedliche Anwendungsfalle verschiedene Verfahren entwickelt (vgl. auch Rotting, 1999; 2001). 1m Folgenden werden ausgewahlte Verfahren kurz vorgestellt, deren Ein­satz im Kraftfahrzeug ublich sind oder moglich erscheinen.

13.5.1 Elektrookulogramm (EOG)

Blickwinkel

~

u u

(a) (b)

Abb. 13.1 (a) Entstehung des Elektrookulogramms bei Veranderung der Blickrichtung (aus Zipp, 1988). (b) Platzierung der EOG-Elektroden.

Zwischen Homhaut und Netzhaut des Auges besteht eine Potentialdifferenz von bis zu 20mV, wobei die Homhaut positiv geladen ist. Das Auge kann als Dipol aufgefasst werden, des sen an die Korperoberflache weitergeleitetes elektrisches Feld mit Oberflachenelektroden nahe am Auge messbar ist (vgl. Shackel, 1967, und Abb. 13.1). Zur Bestimmung von Bewegungen und Position des Auges sollte mit Gleichspannungsableitung gearbeitet werden. Das registrierbare Gesichtsfeld beim EOG betragt bis zu ±80°, wobei im Bereich uber ±30° nicht mehr sehr genau gemessen werden kann. Die Genauigkeit bei der Verwendung von Oberflachen­elektroden betragt durchschnittlich 1° bis 2° (vgl. Mickasch u. Haack, 1986; Oster u. Stem, 1980). Die Person wird in ihrem Blickfeld durch die Abnahme des E-

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214 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug

lektrookulogramms nicht eingeschrankt und im Vergleich mit anderen Methoden kaum beeintrachtigt.

13.5.2 Limbus-, Pupillen- oder Augenlidregistrierung

Einige Charakteristika des Auges sind optisch sehr leicht erkennbar und haben sich daher flir die kontinuierliche Registrierung von Augenbewegungen bewahrt. Die Grenzlinie zwischen Augapfel und Iris, der Limbus, eignet sich besonders flir die Registrierung horizontaler Bewegungen. Das Augenlid folgt den vertikalen Augenbewegungen, so dass dessen Beobachtung Informationen tiber die vertikale Komponente der Augenbewegungen Iiefert. Sowohl zur Bestimmung der horizon­talen, als auch der vertikalen Augenbewegungen kann die Pupille dienen.

Die eigentliche Registrierung der Bewegung kann in allen drei Fallen entweder mittels einer Videokamera und anschlieBender Auswertung mit einer Bildver­arbeitungskarte oder tiber photoelektrische Registrierung erfolgen (Abb. 13.2) (vgl. auch Carpenter, 1988). Das Ausgangssignal der photoelektrischen Sensoren ist iiblicherweise eine Spannung oder eine Widerstandsanderung. Diese werden dann AlD-gewandelt und in einen Rechner iibertragen und dort weiter verarbeitet.

Die photoelektrischen Sensoren sind vergleichsweise leicht und klein und las­sen sich daher in brillenahnliche Gestelle einbauen, die die Trager nur wenig be­hindem (vgl. z.B. Yamada u. Fukuda, 1986). Da auch die zeitliche und ortliche Auflosung hoch genug ist, erscheint das Limbustracking als gut flir Untersuchun­gen in Fahrzeugen geeignet, obwohl es im Vergleich zur Blickachsenmessung und Comea-Reflex-Methode (siehe unten) deutlich seltener angewandt wird.

(a) (b)

Abb. 13.2 (a) Der Aufbau fUr Limbus-, Pupillen- oder Augenlidregistrierung. Ein definier­ter Lichtpunkt beleuchtet das Auge und wird von diesem reflektiert. Ein lichtempfindliches Element gibt eine dem reflektierten Licht proportion ale Spannung aus. Da Augapfel/Iris, Augenlid/Iris sowie Iris/Pupille jeweils unterschiedlich viel Licht reflektieren, hiingt die Gesamtmenge des reflektierten Lichtes von dem Anteil der jeweiligen Fliichen im Licht­punkt abo Die Fliichenanteile veriindem sich mit den Augenbewegungen. (b) Konfiguration mit zwei Lichtpunkten und zwei lichtempfindlichen Elementen (aus Carpenter, 1988).

Page 220: Kraftfahrzeugführung ||

13.5 Messverfahren 215

13.5.3 Cornea-Reflex-Methode

Da die Oberfliiche der Hornhaut (Cornea) des Auges gliinzend ist, spiegeJt sich dort auftreffendes Licht einer punktf6nnigen QueUe. Dieser Cornea-Reflex ver­schiebt sich in charakteristischer Weise mit der Bewegung des Auges (s. z.B. Rotting, 1999).

Mit einer Feldkamera wird in etwa das Blickfeld der Person aufgenommen. Die linke und rechte Augenbewegungsregistriereinheit zeichnen den corneal en Reflex auf. Die Signale der drei Kameras werden zusammengebracht und Marker fUr das linke undJoder rechte Auge in das Bild der Feldkamera eingeblendet.

Die zeitliche Messgenauigkeit liegt ublicherweise zwischen 25Hz und 60Hz, kann aber durch eine besondere Verschaltung der CCD-Sensoren, wie sie z.B. von der Finna NAC eingesetzt wurde, aufbis zu 600Hz gesteigert werden.

13.5.4 Blickachsenmessung

Abb. 13.3 Verkabelungsschema des Systems iView (SMI) mit Head tracking

Fur Messsysteme, bei denen aus einem festen Punkt des Auges und einem Licht­reflex auf die Blickachse geschlossen wird, hat sich der Name Blickach­senmessung (Point of Regard Measurement) eingeburgert. Ublich ist die Messung der Distanz zwischen Cornea-Reflex und Mittelpunkt der PupiUe oder zwischen

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216 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug

Lichtreflex auf der Netzhaut und einem charakteristischem BlutgefaB auf der Netzhaut (vgl. Carpenter, 1988).

Bei Bewegungen des Kopfes verandert sich die relative Position der beiden Messpunkte nicht. Bei Bewegungen des Auges hingegen verschiebt sich der Cor­nea-Reflex gegeniiber dem gewahlten Fixpunkt (Pupillenmittelpunkt oder Blutge­faB) systematisch, woraus die Blickposition bestimmt werden kann. Die Ermitt­lung der Lage beider Bezugspunkte erfolgt iiblicherweise durch Verfahren der automatischen Bildverarbeitung (Abb. 13.3). Die zeitliche Auflosung der Messge­rate betragt bis zu 50Hz. Fiir die ortliche Genauigkeit werden Werte deutlich unter 10 Sehwinkel angestrebt, die jedoch nur bei giinstigen Messbedingungen zu errei­chen sind. Die Messvorrichtung braucht nicht notwendigerweise am Kopf des Probanden angebracht zu sein, es ist auch eine kontaktfreie Messung moglich. Allerdings treten bei der beriihrungslosen Messung Ungenauigkeiten und Daten­ausfall besonders dann auf, wenn Kopfbewegungen des Probanden yom Messsys­tern verfolgt werden miissen. Die Blickachsenmessung ist das neben der Comea­Reflex-Methode zur Zeit wohl am haufigsten eingesetzte Messverfahren im Be­reich der FahrzeugfUhrung (Abb. 13.4).

(a) (b)

Abb. 13.4 (a) Proband mit iView-Kopfband im Fahrzeug. (b) Kontrollmonitor und Trans­mitter des Head-Trackers.

13.6 Spezifische Bedingungen im Kraftfahrzeug

Der mobile Einsatz von Blickbewegungstechnik im Kraftfahrzeug ist in der Regel schwierig. 1m Folgenden sollen einige fUr die Auswahl eines geeigneten Messsys­terns und die DurchfUhrung einer Messung relevanten Aspekte thematisiert wer­den.

Zunachst konnen im Kraftfahrzeug sowohl die Blicke von Interesse sein, die der Fahrer auf Orte auBerhalb des Fahrzeugs richtet, als auch jene, die er auf Be­dienelemente, Instrumentierung und Zusatzsysteme im Fahrzeug richtet. Die der­zeitig verfUgbaren Blickbewegungssysteme sind nur fUr eine bestimmte Entfer-

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13.6 Spezifische Bedingungen im Kraftfahrzeug 217

nung parallaxenfrei kalibrierbar. Daher ist es nicht moglich, die gleiche Messge­nauigkeit fUr Blicke auf unterschiedlich we it entfemte Objekte zu erzielen. Abb. 13.5 verdeutlicht das Problem.

Objekt· Ka librier· ebene ebene

Blickpunkt:

visiert

angezeigt r:.;..~.~ .. ?.:.:. ~.~.:.: .. J;:::::::::::-:~::. __ t ~ ._-------------a : augenbezogener

Messfehler

0 "",

000;

Feldkamera

Dc.m

Auge

IX = arc:tan[ tana - Dc- + Dc.m] - a a: Auslenkung des Auges 0 /(0/ Doo;

Abb. 13.5 Systematischer Parallaxenfehler aufgrund des Unterschieds zwischen Kalibrier­ebene und Objektebene und dem Abstand zwischen Auge und Feldkamera. Die Blickbewe­gungskamera wird auf eine bestimmte Entfemung (Kalibrierebene) so kalibriert, dass der Blickort der Person und der mit der Feldkamera aufgenommene Blickort dort iibereinstim­men. In einer anderen Entfemung (hier z.B. in der Objektebene) fallen der anvisierte und der angezeigte Blickpunkt auseinander. Die Abweichung ~a ergibt sich nach der angege­ben Formel (aus Gobel, 1999).

Werden fUr eine Untersuchung die Blickbewegungsdaten fUr Objekte innerhalb und auBerhalb des Fahrzeug benotigt, so muss entschieden werden, wo die raumli­chen Genauigkeitsanforderungen hoher sind. Dabei ist auch von Interesse, nach welchen Blickbewegungsparametem gesucht wird.

In der iiberwiegenden Mehrzahl der Untersuchungen, insbesondere aus der Er­gonomie, wird nach Blickzuwendungen auf sog. areas of interest (AOI) gesucht (z.B. Bubb, 2000). Dies ist beispielsweise fUr die Analyse der Blickzuwendungen auf StraBe, Kombiinstrument und Spiegel unprablematisch.

13.6.1 Systeme im Fahrzeug

Grundsatzlich konnen fUr die Blickbewegungsmessung im Fahrzeug kopfge­bundene Systeme mit Kopfband oder Helm sowie beriihrungslose Systeme zum Einsatz kommen (Abb. 13.4). Da beriihrungslose Systeme den Kopfund die Au­gen nur in einem eingeschranktem Bereich erfassen konnen, sind sie fUr Untersu­chungen, die groBe Kopfbewegungen mit moglicherweise gesenkten Augenlidem erfordem, ungeeignet. Bei graBen Kopfbewegungen konnen sie nur schwierig oder gar nicht nachgefUhrt werden, da im Fahrzeug zusatzliche Restriktionen bzgl. der giinstigen Anbringung des MeBsystems bestehen.

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218 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug

Weitere Probleme beriihrungsloser Systeme bestehen darin, dass Rotationsbe­wegungen des Kopfes algorithmisch schwieriger auszugleichen sind als bei kopf­gebundenen Systemen und die Systeme unter realen Stral3enbedingungen eine andere dynamische Anregung erfahren als der Fahrer. Dies beeintriichtigt die Genauigkeit der Blickbewegungsmessung. Beriihrungslose Systeme sind weniger beeintriichtigend fUr den Fahrer und daher fUr Untersuchungen im frontalen Blick­feld der StraBe und des Kombiinstruments geeignet. Bei kopfgebundenen Syste­men tritt die Anregungsproblematik insbesondere bei schlechten StraBenbeliigen auf. Sie verrutschen bei groBen dynamischen Anregungen, was nur durch ein enges Befestigen der Messvorrichtung am Kopf des Probanden zu verringem ist. Insbesondere bei kopfgebundenen Systemen mit Kopfband ist davon auszugehen, dass den Probanden aufgrund des permanenten Drucks auf den Kopf nur 30 bis 45 Minuten Tragedauer (Kalibrierung und Versuch) zugemutet werden konnen. Liin­gere Versuchsdauem fUhren zu Kopfschmerzen (vgi. Partmann et ai., 1996). Da­her sollte fUr liingere Messungen der Einsatz eines beriihrungslosen Systems ge­priift werden. Nachteilig an fahrzeugfest verbauten, beriihrungslosen Systemen ist, dass sie nicht in kurzer Zeit in verschiedenen Fahrzeugen einsatzbereit sind. Kopfgebundene Systeme sind wesentlich schneller in neue Fahrzeuge zu adaptie­ren (z.B. Janus-System: ca. 5min., Gengenbach, 1999) und zu kalibrieren.

13.6.2 Kalibrierung

Die Kalibrierung findet iiblicherweise iiber das serielle Fixieren definierter Punkte bei statischer Kopfposition statt. Die Kalibrierebene (Kalibrierplatte, Monitor o.ii.) sollte im Zentrum des interessierenden Untersuchungsbereichs liegen, da dort die Messgenauigkeit am hOchsten ist und kaum Parallaxenfehler auftreten. Fiir Unter­suchungen mit Fokus auf Objekten auBerhalb des Fahrzeugs ist es giinstig, die Kalibrierung mit einer Ebene vorzunehmen, die ca. 10m vor dem Fahrzeug liegt. Die Qualitiit der Kalibrierung bestimmt entscheidend die nachfolgende Genauig­keit der Messungen.

13.6.3 Erfassung der Kopfposition (Head-Tracking)

Fiir bestimmte Anwendungen (automatisierte Auswertung, Modellierungen u.ii.) ist iiber die Blickbewegungen hinaus die Kopfposition und die dazu relative Au­genposition von Interesse. Bei beriihrungslosen Systemen kann die Kopfposition durch die Verschiebung der Augenvektoren zueinander bestimmt werden, solange beide Augen fUr das System sichtbar sind. Bei kopfgebundenen Systemen kann die Kopfposition mittels eines elektro-magnetischen Messsystems iiber einen am Kopfband oder Helm mitgeflihrten Transponder erfasst werden, der mit einem in der Niihe stationiir montierten Transmitter korrespondiert (Abb. l3.6). Das System besteht aus dem Transmitter (TX) und dem Transponder, der am Kopf des Fahrers angebracht ist. Der Messbereich erstreckt sich iiber eine Halbkugel mit einem Radius von ca. 1m urn den Transmitter.

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· · · , " ..........

13.6 Spezifische Bedingungen im Kraftfahrzeug 219

. ...... .

, · · · . . . '

Abb. 13.6 Bestimmung der Kopfposition mit Hilfe eines elektromagnetischen Head­Trackers.

Je nach den Gegebenheiten im Fahrzeug sollte der Transmitter hinter (links) oder neben (rechts) dem Fahrer angebracht werden. Fiir eine automatische Erkennung von Objekten miissen virtuelle Ebenen definiert werden, auf denen wiederum Objekte bestimmt werden konnen (z.B. Ebene "Kombiinstrument", Objekt "Ta­chometer"). Die Einmessung der Ebenen erfordert einen nicht unerheblichen zu­satzlichen Kalibrierungsaufwand. Die Ebenen miissen moglichst genau eingemes­sen und der Kopf wahrend der Blick-Kalibrierung trotz Head-Trackings stillgehal­ten werden, da die hier auftretenden Fehler potenziert in die Messung eingehen und unter Umstanden eine automatisierte Auswertung verhindern. Die haufig eingesetzten elektromagnetischen Head-Tracker reagieren empfindlich auf metal­lische Gegenstande in ihrer Umgebung. Wird der Abstand von Transponder und Transmitter zum Fahrzeugdach kleiner als 20cm, werden die Messfehler in einem normalen Kraftfahrzeug zu gro/3. Nach Moglichkeit sollte fUr Untersuchungen mit elektromagnetischem Head-Tracking auf offene Fahrzeugtypen (z.B. Cabriolets mit Stoffverdeck, Abb. 13.4) zuriickgegriffen werden. Optische Head-Tracking­Systeme (vgl. Bala, 1997) bieten eine Alternative, wenn sie ausreichend robust gegen Beleuchtungsunterschiede in der Umgebung sind.

13.6.4 UmgebungseinflUsse

Bei der Registrierung von Blickbewegungen miissen noch weitere Umgebungsein­fliisse beachtet werden. Systeme, die auf der Cornea-Reflex-Methode basieren, konnen zuveriassig nur bei ma/3iger Tageshelligkeit (diffuses Licht, keine Sonne) verwendet werden. Dadurch wird ein ausreichend gro/3er Pupillendurchmesser (> 3mm), ein guter Kontrast zwischen der Pupille und der umgebenden Iris und damit eine stabile Blickpunkterkennung sichergestellt.

Weiterhin ist zu beachten, dass das verwendete System die auftretenden Au­genwinkel messen kann. Bei innerstadtischen Messfahrten ist das Blickfeld mit

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220 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug

Koptbewegungen groBer als 1800 , diese Winkel sind von beriihrungslosen Syste­men nicht zu erfassen. Versuche auf SchnellstraBen und Autobahnen hingegen konnen generell als gUnstig fUr die Blickbewegungsmessung betrachtet werden, da hierbei seltener Koptbewegungen notwendig sind.

13.6.5 Auswertung

Zur Auswertung der erhobenen Blickbewegungsdaten, die in der Regel aus Video­filmen der Szenenkamera mit iiberlagertem Blickpunkt und den Dateien mit Roh­daten bestehen, gibt es zwei grundsatzliche Moglichkeiten:

1. Die manuelle Auswertung (frame by frame) und Interpretation durch einen erfahrenen Auswerter.

2. Die automatische Zuordnung von Blickbewegungsparametem zu Objekten (erfordert Head-Tracking oder die Erfassung optischer Marker im Szenenvi­deo).

Bei der Entscheidung fUr eine der Vorgehensweisen spielt auch die Anzahl der Untersuchungsteilnehmer eine Rolle, da der manuelle Auswertungsaufwand fUr eine groBe Personenzahl schnell sehr viel groBer ist als der erhohte Versuchsauf­wand fUr die Erfassung der Kopfposition (Unema et aI., 1988).

Bevor Bild- und Blickbewegungsdaten generiert werden, muss bedacht werden, wie diese im Anschluss an die Datenaufzeichnung weiterverarbeitet werden sol­len. Dabei ist der Aspekt der Synchronisation der Bilddaten (aus unter Umstanden mehreren Quellen, z.B. mehreren Szenenvideofilme) mit den rechnergestiitzt auf­gezeichneten Rohdaten von Interesse. Einige Varianten:

• Datenaufzeichnung mit HiFi-Videorekordem auf Videobandem, zwei Audio­spuren, zwei Datenspuren, Synchronisation iiber in das Videobild eingeblende­te Zahler oder Synchronisationsschnittstellen. Dies ist eine gute Variante ftir lange Fahrversuche mit sehr groBen Bilddatenmengen. Die Synchronisation ist bei der technischen Losung von vomherein gegeben. Die Auswertung erfolgt iiblicherweise manuell und erfordert erheblichen Aufwand.

• Bilddatenaufzeichnung mit Videorekordem, Blickdatenaufzeichnung im Com­puter, Synchronisation iiber Optik (z.B. Blitzlicht und Auslose-Bit, vgI. Gen­genbach, 1999; im Videobild eingeblendeter Zahler) oder timecode (automati­scher Abgleich der Videoaufzeichnungen). Die eingesetzten Aufzeichnungs­systeme werden unabhangig voneinander betrieben, so dass der Aufwand einer Kopplung entfallt. Der Aufwand der Datenauswertung entspricht der ersten Variante.

• Bilddatenaufzeichnung mittels Framegrabber-Karten im Computer (ggf. mit Hardware-Kompression), synchrone Rohdatenaufzeichnung im Computer. Die Methode eignet sich nur fUr zeitlich begrenzte Versuchssequenzen, da die an­fallenden Bilddatenmengen sehr groB sind. Vorteilhaft ist die direkte digitale VerfUgbarkeit der Daten.

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13.7 Bestimmung der physiologischen Kosten 221

13.6.6 Systemeigenschaften

Zusammenfassend sind bei der Auswahl eines geeigneten MeBsystems fUr Unter­suchungen im Fahrzeug je nach Art der Untersuchung folgende Anforderungen zu beachten:

- Keine Beeintrachtigung der Fahrtiichtigkeit - Universe lIe Einsetzbarkeit in verschiedenen Fahrzeugen

GroBes Blickfeld: ca. 1800 , natiirliche Kopfbewegungen zulassig Keine besonderen Voraussetzungen an die Probanden (z.B. Normalsichtigkeit)

- Beeintrachtigungsfrei und komfortabel tragbar (moglichst beruhrungslos oder mit Helm)

- Synchronisationsmoglichkeit mit externen (Mess-)Systemen - Einsetzbar iiber Versuchsdauern von mindestens 30min - Videoiiberblendung von Szene und Blickpunkt

Einfache und schnelle Kalibrierung Stromversorgung mit 12V Gleichstrom und geringer Leistungsaufnahme Benutzungsfreundlichkeit der Mess- und Auswertungssoftware

- Qualitat des Handbuchs - Herstellerservice fUr die Anwender

Weitere Informationen zu verschiedenen Systemen und deren wesentlichen Ei­genschaften finden sich u.a. bei Partmann et al. (1996), der Eye Movement Equip­ment Database im Internet (http://ibs.derby.ac.uk/emedJ) und auf den Internetsei­ten der Veranstaltung "Eyes Tea" (http://www.zmms.tu-berlin.de/Eyes-Teal).

In den folgenden Abschnitten werden beispielhaft Untersuchungen vorgestellt, die Augen- und Blickbewegungsparameter zur Analyse von FahrzeugfUhrungs­aufgaben nutzen.

13.7 Bestimmung der physiologischen Kosten

Viele Einfliisse bestimmen die Augen- und Blickbewegungen beim Fiihren eines Fahrzeuges. Die Interpretation der verschiedenen Parameter wird durch eine ent­sprechende Modellvorstellung vereinfacht. Unema und Rotting (1990) beziehen sich auf das kognitiv-energetische Stufenmodell menschlicher Informationsver­arbeitung, das von Sanders (1983) entwickelt wurde. In diesem Modell werden die drei Zustande Erregung (arousal), Anstrengung (effort) und Aktivierung (activati­on) den Stufen men schlicher Informationsverarbeitung zugeordnet. Erregung ist typischerweise mit den fruhen Informationsaufnahmeprozessen, der sensorischen Reizvorverarbeitung und der Merkmalsextraktion, verbunden. Aktivierung ist an der AusfUhrung von Reaktionen beteiligt. Anstrengung dient zum einen der Kon­trolle der fUr zentrale Informationsverarbeitung zur VerfUgung stehenden Res­sourcen und zum anderen der Zuweisung von Ressourcen zu den beiden anderen Zustanden.

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222 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug

Je erfahrener oder geiibter eine Person ist, desto weniger neu erscheint ihr eine Situation und sie hat ein vergleichsweise geringeres Erregungsniveau. Da die sel­ben Gehimregionen sowohl an der Erregung als auch an der Steuerung der Augen­bewegungen beteiligt sind, erscheint es plausibel, dass ein geringeres Erregungs­niveau zu weniger Sakkaden und damit zu Uingeren Fixationsdauem fiihrt.

In zwei Untersuchungen mit Busfahrem und PKW-Fahrem konnten Unema und Rotting (1990) die beiden Hypothesen (I): ,,Fahrer haben mehr kiirzere Fixatio­nen und dam it eine kiirzere mittlere Fixationsdauer, wenn eine Situation schwieri­ger und komplexer ist" und (2): "erfahrene Fahrer haben liingere mittlere Fixati­onsdauern" bestatigen.

o Fahrschiiler • Fahrlehrer

300 r---------------------------------~

250 1---~

1 200 L. OJ :::J

{:l 150 VI c o

.~ 100 x

LL 50

OL......L._-

Linksabbiegen

Schwierigkeit

Rechtsabbiegen

~

Abb. 13.7 Unterschiede der Mittelwert der Fixationsdauern zwischen Fahrschiilern und Fahrlehrern in Abhangigkeit der Schwierigkeit der Fahraufgabe (nach Unema u. Rotting, 1990).

Abbildung 13.7 zeigt den Mittelwert der Fixationsdauem im Unterschied zwi­schen 15 Fahrschiilem (Mittelwert zweier Fahrten) und 5 Fahrlehrem in Abhan­gigkeit von der Schwierigkeit der Fahraufgabe. Von den Fahrlehrem wurde die Geradeausfahrt als einfachste, das Rechtsabbiegen als schwierigste Situation be­wertet. (1m Gegensatz zu einem PKW ist das Rechtsabbiegen mit einem Bus schwieriger als das Linksabbiegen, da mit dem Bus ein Ausscheren auf die Fahr­spur des Gegenverkehrs notwendig ist). Bei den Fahrlehrem wurden kaum Veran­derung iiber die unterschiedlich schwierigen Fahrsituationen beobachtet. Es ist zu vermuten, dass die Fahrlehrer mit allen Fahrsituationen gleichermaBen gut vertraut sind, so dass keine Veranderungen im Erregungsniveau erkennbar werden.

Analog zeigt Abb. 13.8 die Ergebnisse der zweiten Untersuchung mit jeweils 6 Fahrem mit viel Erfahrung (mehr als 5 Jahre im Besitz der Fahrerlaubnis und mehr als 15.000 gefahrene krn/Jahr) und wenig Erfahrung (weniger als 5 Jahre im Besitz der Fahrerlaubnis und weniger als 6.000 gefahrene krn/Jahr). Als am ein­fachsten wurde die Fahrt auf der Autobahn, als am schwierigsten die Fahrt in einem Kreisverkehr beurteilt.

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300

250 ';;;'

6200 ... 41 ::J ... ISO " '" c 0

100 .;:; ... x u:::

so

0

o Wenig Erfahrung

,.,<> #~

JS# ~

Schwier igkeit

13.7 Bestimmung der physiologischen Kosten 223

Viel Erfahrung

Abb. 13.8 Unterschiede der Mittelwert der Fixationsdauem zwischen Fahrem mit wenig und viel Erfahrung in Abhlingigkeit der Schwierigkeit der Fahraufgabe (nach Unema u . Rotting, 1990).

13.7.1 Erklarung, Bemessung und Prognose von Zeitverbrauchen

5 -r---------------" ,---,

Glance Frequency [%] (b)

(a)

Unacceptable Region

Grey Area

Acceptable Region

---0-- LlSB • TRAVELPILOT

Abb. 13.9 Kurve der kumulierten Hliufigkeit von Verweildauem im Vergleich zweier unterschiedlicher Fahremavigationssysteme. (a) kennzeichnet das 50. Perzentil, wo beide Systeme noch in der akzeptablen Region sind. (b) und (c) kennzeichnen das 82. bzw. das 93. Perzentil, wo die Systeme jeweils in die unakzeptable Region von mehr als 2 Sekunden Verweildauer kommen (Fairclough et aI., 1993).

Fairclough et al. (1993) schlagen im Kontext des Vergleiches unterschiedlicher Fahremavigationssysteme vor, die Verweildauer (glance duration) tiber die pro-

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224 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug

zentuale Haufigkeit (glance frequency) aufzutragen (Abb. 13.9). Die von Faic­lough et al. (1993) vorgenommene Kennzeichnung der Regionen als akzeptabel, Grauzone und unakzeptabel stUtzt sich auf eine Untersuchung von Zwahlen et al. (1988). Bei einer Abwendungszeit von der StraBe, im englischen eyes-off-the-road time (vgl. auch Kiefer u. Angell, 1993), von mehr als 2 Sekunden kann es zu nicht mehr akzeptablen Spurabweichungen des Fahrzeuges kommen.

13.7.2 Analyse der Bedingungen der Mensch-Fahrzeug-Interaktion

Mit Hilfe der Blickbewegungsmessung lasst sich die Gestaltung von Mensch­Maschine-Schnittstellen auf vieWiItige Art und Weise beeinflussen. Bei der Eva­luation von bildschirmgestUtzten - und damit blickzuwendungsintensiven - Elekt­roniksystemen im Kraftfahrzeug kann die Blickbewegungsmessung wertvolle Erkenntnisse sowohl fUr die ergonomische Gestaltung der Bedienelemente und Anzeigesysteme (Gengenbach, 1997) als auch fUr die Bedienlogik liefem. Wird bei der Bearbeitung einer Aufgabe ein irrelevantes Anzeige- oder Bedienelement wiederholt fixiert, weist das auf Dberarbeitungsbedarf der Gestaltung hin (Beng­ler, 1995).

Eine Moglichkeit zur Untersuchung der Komplexitat der Bedienung insbeson­dere beziiglich der Bedienlogik besteht in der Verwendung von Blickzuwendun­gen als EingangsgroBe fur psychologisch orientierte Modelle der Mensch­Maschine-Interaktion. Die aus den Modellen generierten KomplexitatsmaBe kon­nen durch Korrelation in Beziehung zu subjektiven Benutzerurteilen tiber Rtick­meldungen, Bedienelemente und Bedienlogik gesetzt werden (Abb. 13.10) und erlauben so eine fruhe Bewertung der Systeme mit wenigen Probanden ohne zeit­aufwendige Versuchsreihen mit Endbenutzem im Feld (Jung u. Willumeit, 2000).

0,8 Q. ... c:

.~ 0,6 IE

CIJ

j 0,4 '" c: o 'p '" 0,2 ~

o Ruckmeldung

~ o h-+--

o Bedienelemente • Bedienlogik

-0,2 '--------r------..... --------' Sender wahlen und speichern

Klangeinstellung Navigationsziel andern abrufen

Abb. 13.10 Korrelation eines blickzuwendungsbasierten Komplexitiitsmafies (nach lung u. Willumeit, 2000) mit subjektiven Bewertungen der Riickmeldungen, Bedienelemente und Bedienlogik durch Versuchspersonen (N=l3) fur drei verschiedene Aufgabentypen.

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Literatur 225

Entscheidenden Einfluss auf die Komplexitat der Bedienung hat auch, ob die jeweilige Teilhandlung (Suchen und Betatigung eines Bedienelements) innerhalb der objektiv verfligbaren « 2s) und subjektiv benotigten Zeitspanne durchgeflihrt werden kann. Jeder Wechsel zwischen der Fahrzeugflihrungsebene und der Sys­tembenutzungsebene stellt flir den Benutzer einen zusatzlichen kognitiven Auf­wand dar, der zu vermeiden ist (Krems et aI., 2000).

13.8 Resumee

Die Messung der Blickbewegungen im Fahrzeug protokolliert zeitlich hochaufge­lost den Prozess der visuellen Informationsaufnahme und macht eine detaillierte Analyse der Fahrzeugflihrung unter variierenden Personen- und Situations­bedingungen oder bei neuen Varianten der Cockpitgestaltung moglich. Die unter­schiedlichen Blickbewegungsparameter konnen auf verschiedenen Ebenen der Tatigkeitsanalyse interpretiert werden. Sie liefern bedeutsame Informationen, die durch andere psychologische oder physiologische Messverfahren nicht hinl1inglich abgedeckt werden konnen. Heutige Messsysteme sind jedoch im Fahrzeug nicht flir jede Fragestellung oder Situation adaquat einsetzbar. Daher ist es notig, im Einzelfall abzuwagen, wie die Augen- und Blickbewegungen erfasst und ausge­wertet werden sollen. Ein zunehmendes Interesse an der Bewertung von innovati­yen Gestaltungslosungen im Kraftfahrzeug und an der Erkennung des psychophy­siologischen Zustandes des Fahrzeugflihrers lasst erwarten, dass die Blickbewe­gungsmessung eine haufig eingesetzte Methode fliT empirische Untersuchungen im Fahrzeug wird.

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228 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug

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Teil IV

Systembewertung

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14 Subjektive Bewertung von Zittervorgangen als Grundlage fur die Voraussimulation

Harald Kolrep und Christoph Fankhauser

14.1 EinfLihrung

Die vibroakustische Abstimmung von Fahrzeugen hat spiirbare Folgen fUr den sUbjektiven Komforteindruck von Fahrerinnen oder Fahrern. Phiinomene wie Zittern, Stuckern oder Wummern konnen als unangenehm und storend empfunden werden. Bislang ist unklar, welcher Zusammenhang zwischen den physikalischen Eigenschaften der Schwingungsphanomene und dem subjektiven Komfortein­druck besteht. 1st ein solcher Zusammenhang bekannt, lassen sich bereits in sehr fruhen Entwicklungsphasen auf der Basis geeigneter Simulationsmodelle Vorher­sagen iiber das Schwingungsverhalten des Gesamtfahrzeuges und die Wirkungen auf den empfundenen Komfort ableiten.

Die hier vorgestellten Untersuchungen sind die ersten Schritte in Richtung auf die Simulation und Vorhersage von vibroakustischen Komfortbeeintrachtigungen in beliebigen Fahrzeugtypen und fUr unterschiedliche Anregungsformen. Urn sinnvolle Simulationen zu ermoglichen, werden die simulierten Objekte durch Zielparameter beschrieben. Fiir jeden Parameter, einschlieBlich der subjektiven Urteile, wird dann ein Messverfahren definiert. Fiir die Simulation dienen die Verfahren als Referenz, urn konstruktive Varianten von Fahrzeugen zu bewerten.

14.2 Zittern in Kraftfahrzeugen

In Kabrioletts und Roadster treten auf Grund der fehlenden Dachsteifigkeit starke­re Torsionsschwingungen auf als in geschlossenen Fahrzeugen. Die Torsions­schwingungen bewirken Querbewegungen am Frontscheibenrahmen und dem damit verbundenen Riickspiegel, sowie Querbewegungen an Armaturenbrett, Lenkrad und Sitz. Diese Bewegungen bezeichnen wir als Zittern. Die Intensitat von Zittern reicht - abhangig von konstruktiven Merkmalen des Fahrzeuges und von der Beschaffenheit der StraBe - von eben wahrnehmbaren, aber nicht als sto­rend empfundenen Bewegungen, bis hin zu einer Starke, die im Riickspiegel quer verzerrte Bilder und Erkennungsprobleme oder am Lenkrad ein als sehr storend empfundenes Pendeln bewirkt. Turner u. Griffin (1999) berichten, dass bei Bus­reisen die Querbewegungen bei niedriger Frequenz die, verglichen mit den ande­ren Bewegungsachsen, wichtigste Ursache fUr Unwohlsein der Reisenden ist. Bei der Konstruktion und Entwicklung von Cabriolets und Roadstern gilt es, geeignete MaBnahmen zu ergreifen, urn das Zittern so weit zu reduzieren, dass Fahrerinnen

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232 14 Subjektive Bewertung von Zittervorgiingen

und Fahrer sich nicht beeintrachtigt flihlen und damit Fahrsicherheit und -komfort jederzeit gegeben sind.

14.3 Untersuchung der Foigen von Zittern

Ziel der hier dargestellten Studien ist es, einen moglichen Zusammenhang zwi­schen objektiven Merkmalen des Zittems einerseits und der Wirkung des Zittems auf die subjektive Bewertung des Fahrkomforts andererseits aufzudecken. Wir untersuchten insbesondere das Zittem von Lenkrad, Riickspiegel bzw. Frontschei­benrahmen, Sitz und Armaturenbrett.

Die Wahmehmung des Zittems wird durch auBere Einfliisse wie z.B. die Ver­kehrssituation, Fahrgerausche und Cockpit-Innengerausche beeinflusst. Bei Ver­suchen auf der StraBe sind diese Storeinfliisse nicht kontrollierbar, nicht exakt quantifizierbar und nicht reproduzierbar. Versuche im Labor dagegen erlauben zwar eine genaue Kontrolle von Storeinfliissen, doch sind die Simulation der Fahrgerausche und eine realistische Sichtsimulation sehr aufwendig. Fiir den Ver­suchszweck wurde ein gemischter Versuchsplan von Testfahrten auf realer StraBe und Laboruntersuchungen auf einer Hydropulsanlage entwickelt. Die Untersu­chungen gliedem sich in zwei Teilstudien:

1. Subjektive Bewertung des Zitterns: Die Methode eines Semantischen Differen­tials (Osgood, 1952; Osgood et aI., 1975) erscheint geeignet, die subjektive Bewertung des Zittems durch den Fahrer zu erfassen. In drei Serien von Fahr­versuchen aufNormalstraBe entwickelten wir einen Fragebogen, bestehend aus Adjektiv-Gegensatzen, der die subjektive Einschatzung des Zittems durch den Fahrer in reliabler und valider Weise erfasst und gleichzeitig unterschiedliche Strecken und unterschiedliche Fahrzeuge differenziert. Die Versuchsbedin­gungen sollen dabei moglichst realistisch eine Fahrsituation nachbilden.

2. Taktile und visuelle Wahrnehmung von Zittern: 1m zweiten Untersuchungsteil untersuchten wir auf einer Hydropulsanlage Zitterwahmehmung unter Labor­bedingungen. Mit der aus der Psychophysik stammenden Methoden der direk­ten GroBenschatzung nach Stevens (1975) wurde fiir die taktile Wahmehmung von Zittem am Lenkrad und die visuelle Wahmehmung von Zittem im Spiegel der Zusammenhang von Anregungsstiirke und Empfindungsstarke ermittelt.

14.4 Zusammenhang subjektiver Bewertung mit objektiven Zitterparametern

Eine Methode zur subjektiven Bewertung von Zitterphanomenen durch Fahrer liegt bislang nicht vor. Wir entwickelten in einer Serie von Fahrversuchen ein Semantisches Differential, mit dessen Hilfe wir das Zittem an den Fahrzeugele­menten Lenkrad, Spiegel, Sitz und Armaturenbrett einschiitzen lieBen.

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14.4 Zusammenhang subjektiver Bewertung mit objektiven Zitterparametern 233

14.4.1 Entwicklung eines Semantischen Differentials

Die Methode des Semantischen Differentials (SD) oder Eindrucksdifferentials ist eine Technik zur Analyse von Bedeutungen. Es besteht aus einer nicht verbindlich festgelegten Zahl von bipolaren Ratingskalen, deren Endpunkte in der Regel durch Adjektive gekennzeichnet sind. Die SD-Technik wurde entwickelt von Osgood und Mitarbeitem (Osgood, 1952; Osgood, u.a., 1957; Osgood et aI., 1975) zur Analyse der dem sprachlichen Bedeutungsverhalten zugrundeliegenden Dimensi­onalitat. Seitdem wird die Methode auch auBerhalb der Psycholinguistik in nahezu allen Bereichen der psychologischen Forschung eingesetzt (Schafer, 1983). In der Automobilindustrie wurde das Semantische Differential u.a. zur Bewertung von Fahrzeuginnengerauschen verwendet (Kuwano et aI., 1994; Takao u. Hashimoto, 1994).

1m Zusammenhang mit der Untersuchung des Fahrkomforts scheint eine mehr­dimensionale Bewertung, wie sie mit einem Semantischen Differential erhoben werden kann, auch deswegen sinnvoll, weil die Bewertungen der Attribute Kom­fort und Diskomfort beim Sitzen unabhangig voneinander zu sein scheinen (He­lander u. Zhang, 1997, Zhang et aI., 1996). Wahrend Komfort mit asthetischen Aspekten zusammenhangt, wird Diskomfort als abhangig von Ermudung und k6rperlichen Unwohlsein beschrieben. Diese unterschiedliche Dimensionalitat der Komfortbewertung sollte in der erwarteten EPA-Faktorstruktur (evaluation, po­tency, activity; siehe Osgood et aI., 1975) eines Semantischen Differentials erfasst werden k6nnen. Die Entwicklung des Semantischen Differentials erfolgte in drei Schritten:

1. Zunachst wird durch ofJene Interviews mit naiven Versuchspersonen eine Be­schreibung des Zittems an den verschiedenen Fahrzeugelementen erhoben. Wir gehen dabei davon aus, dass die in den Interviews verwendeten Beschreibungs­kategorien in der Summe geeignet sind, urn das Phanomen Zittem aus der Sicht von Fahrem umfassend zu beschreiben. Die Interviews dienen als Grundlage fur die Auswahl von Adjektiven. Insgesamt verwendeten wir 23 Gegensatzpaa­re im ersten Entwurf(Tabelle 14.l).

2. 1m zweiten Schritt wird eine Rohversion des Semantischen Differentials er­probt. 30 Probanden bewerteten die Fahrzeugelemente Lenkrad, Spiegel, Sitz und Armaturenbrett jeweils getrennt voneinander nach Fahrten auf StraBen mit unterschiedlichen Anregungsprofilen und in unterschiedlichen Fahrzeugen hin­sichtlich Zittem an Hand der 23 Adjektivpaare. Von den Gegensatzpaaren wahlten wir jene fUr die Endversion des SD aus, die den Testgutekriterien12 ent­sprachen. AuBerdem sollte eine Faktorenanalyse mit anschlieBender Varimax­rotation eine klare und reliable EPA-Faktorstruktur aufweisen. Fur jedes Fahr­zeugelement wahlten wir auf diese Weise zwischen 10 und 12 Gegensatzpaare fUr die Endversion des SD (Tabelle 14.l).

3. 1m dritten Fahrversuch wurde das so gewonnene Semantische Differential eingesetzt, urn Zittem in drei Fahrzeugen auf drei unterschiedlichen Strecken

12Gepriift wurden die Anzahl fehlender Antworten, die (Normal-)Verteilung und Streuung, die Faktorstruktur und -ladungen, die Trennschiirfe und die Reliabilitat.

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234 14 Subjektive Bewertung von Zittervorgangen

zu bewerten. Gleichzeitig wurde das SD hinsichtlich seiner Faktorstruktur val i-diert.

Tabelle 14.1 Gegensatzpaare von Adjektiven und Auswahl der Paare fur die Bewertung der einze1nen Fahrzeugelemente. Bei den ausgewiihlten Paaren ist jeweils die Zuordnung zu Faktoren aus der Faktorenanalyse angegeben.

Nr. Bezeichnung lenkrad Sitz Spiegel Armaturen

Aa Fb A F A F A F

I sportlich - bequem x 2 x 3

2 wabbelig - fest

3 gutmutig - widerspenstig x x x

4 unmerklich - feststellbar

5 straff - locker x 2 x 3 x 2

6 kritisch - problemlos x

7 massiv - hohl x 2 x 2 x 2 x 2

8 spartanisch - luxurios x 3 x 3 x 3

9 schnell - langsam

10 vertraut - fremd x 3

II scharf - verschwommen x 2 x 2 x

12 hoch - tief

13 grob -fein

14 glatt - rau

15 ruhig - unruhig x x x

16 stabil - instabil x I x x x

17 direkt - indirekt x 2 x 2 x 2

18 kontrolliert - unkontrolliert x x x x

19 billig - gediegen x 3 x 3 x 3

20 griffig - rutschig x

21 hart- weich x 2

22 stark - schwach

23 angenehm - unangenehm x x x X

a Auswahl, b Faktor

14.4.2 Methode

Wir arbeiteten mit einem 3x3-Versuchsdesign mit vollstiindiger Messwiederho­lung. Es standen drei Roadster-Fahrzeuge gleichen Typs zu Verfiigung, die sich durch konstruktive MaBnahmen in ihrer ZitteranHilligkeit unterschieden. Wir bezeichnen die Fahrzeuge an Hand ihrer Farbe:

Page 239: Kraftfahrzeugführung ||

14.4 Zusammenhang subjektiver Bewertung mit objektiven Zitterparametem 235

Gelb: 4x4-Antrieb, weiche Lenksaule, starke Zitteranfalligkeit Silber: 4x4-Antrieb, normale Lenksaule, mittlere Zitteranfalligkeit Griin: Frontantrieb, steife Lenksaule, Hardtop, versteifte StoBstange, geringe Zitteranfalligkeit

Fiir die Durchfiihrung der Fahrversuche wahlten wir drei Strecken mit unter­schiedlichen Anregungsprofilen. Aile Strecken wurden mit Tempo 80 kmlh befah­ren und waren so lang, dass die Fahrtenjeweils etwa vier Minuten dauerten:

• Geringe Zitteranregung: LandstraBe mit neuem Asphaltbelag ohne StaBe, weitgehend frei von Kurven.

• Mittlere Zitteranregung: LandstraBe mit vielfach ausgebessertem Asphaltbelag aber ohne Schlaglocher, viele einseitige Anregungen durch Asphaltflicken, iiberwiegend gerade Strecke.

• Starke Zitteranregung. Autobahn bestehend aus Platten mit starkem Versatz an den Nahtstellen (bis zu 4cm). Rechte und linke Fahrspur unterscheiden sich im Versatz der Platten. Sie wurden versetzt befahren, so dass wir eine unsymmet­rische Anregung erreichten.

An der Untersuchung nahmen 30 Probanden teil. Ihnen wurde zunachst der Zweck der Untersuchung und die Bedienung der Fahrzeuge erlautert. Anschlie­Bend demonstrierten wir das Zittem anhand von einseitigen und beidseitigen Lat­teniiberfahrten. Danach fuhren die Probanden nacheinander in jedem Fahrzeug die drei Teststrecken. Wahrend der Fahrt auf den Teststrecken wurde die Aufmerk­sarnkeit der Probanden durch eine standardisierte Instruktion gezielt auf die Fahr­zeugelemente Lenkrad, Spiegel, Sitz und Armaturenbrett gelenkt. Nach jeder Teststrecke wurde das Fahrzeug angehalten, um das semantische Differential auszufUllen.

Um die objektiven Merkmale des Zittems wahrend der Versuchsfahrten erfas­sen zu kannen, war jedes der drei Testfahrzeuge mit piezoelektrischen Beschleu­nigungssensoren und einer Messstrecke in jeweils identischer Anordnung ausges­tattet. An den folgenden Punkten wurde gemessen:

- Sitzschiene in Y- und Z-Richtung - Lenkrad, 12Uhr-Position, X-; Y- und Z-Richtung

Armaturenbrett, hOchster Punkt, Y- und Z-Richtung - SpiegelfuB an der Windschutzscheibe, Y-Richtung

14.4.3 Ergebnisse

Abbildungen 14.1 und 14.2 zeigen die Profile des semantischen Differentials fUr die Fahrzeugelemente Lenkrad und Spiegel. Es wird deutlich, dass das SD gut geeignet ist, zwischen den drei Fahrzeugen zu differenzieren. Insbesondere das griine Fahrzeug, bei dem durch mehrere MaBnahmen Torsionsschwingungen ge­mildert werden, wurde in allen Belangen besser bewertet. Bei allen Gegensatz­paaren, mit Ausnahme der Paare sportlich-bequem und straff-Iocker am Lenkrad, sind die Bewertungsunterschiede zwischen den Fahrzeugen statistisch bedeutsam.

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236 14 Subjektive Bewertung von Zittervorgiingen

Kaum Unterschiede zwischen Fahrzeugen und Strecken wurden in der Bewertung von Armaturenbrett und Sitz gefunden. Die Probanden berichteten, dass sie kaum Zittern wahrnehmen konnten bzw. keinen Unterschied zwischen den Fahrzeugen erkannten. Hier sind die Unterschiede zwischen den Fahrzeugen nicht ausrei­chend, urn an Hand eines SD differenzierbar zu sein. Die weitergehenden Analy­sen konzentrieren sich auf die Bewertung von Lenkrad und Spiegel.

gutmutig I widerspenstig

ruhig I unruhig

stabil instabil I

kontrolliert \ unkontrolliert

angenehm unangenehm

sportlich bequem

straff locker Lenkrad

massiv hohl

scharf I verschwommen gelb

direkt I

indirekt silber

spartanisch luxuries griin

billig gediegen I 2 3 4 5 6

Abb. 14.1 Profile der Antworten im Semantischen Differential (Lenkrad)

kritisch

scharf

stabil

kontrolliert

angenehm

massiv

direkt

spartanisch

vertraut

I

\ I L ..

c ... .. billig L-_----'-__ --'---__ L-_----'-_---'

I 2 3 4 5 6

problemlos

verschwommen

instabil

unkontrolliert

unangenehm Spiegel

hohl

indirekt gelb

luxuries silber fremd griin gediegen

Abb. 14.2 Profile der Antworten im Semantischen Differential (Spiegel)

Interessant waren statistisch bedeutsame Interaktionen zwischen den Faktoren Fahrzeug und Strecke. Bei dem Gegensatzpaar ruhig-unruhig rur die Bewertung des Lenkrades wurde das silberne Fahrzeug auf der Strecke mit mittlerer Anre­gungsstiirke besser bewertet als das gelbe Fahrzeug. Auf der Strecke mit starker Anregung kehrte sich dieses Verhiiltnis urn. Einen iihnlichen Bezug der Bewer­tungen fanden wir rur das Gegensatzpaar vertraut-fremd bezogen auf den Ruck­spiegel. Beide Interaktionen sind statistisch bedeutsam. Fur das Ziel, die subjekti-

Page 241: Kraftfahrzeugführung ||

14.4 Zusammenhang subjektiver Bewertung mit objektiven Zitterparametern 237

ve Bewertung des Zittems durch objektive MaBe vorherzusagen, sind diese Inter­aktionen von besonderer Bedeutung, wird es doch darauf ankommen, eine iihnli­che Interaktion auf der Seite der objektiven MaBe zu identifizieren und zu den subjektiven Werten in Bezug zu setzen. Auch der Einfluss von Personenvariablen auf die subjektive Bewertung wurde gepriift. Direkte Korrelationen waren statistisch nicht bedeutsam. Doch in Kovari­anzanalysen binden die Variablen K6rpergr6Be, jiihrliche Fahrleistung und Brutto­jahreseinkommen einen Teil der Varianz. Die K6rpergr6Be hatte Einfluss auf die Bewertung des Sitzes bei den Gegensatzpaaren aus Faktor 1. Das Bruttojahresein­kommen bindet einen Teil der Varianz bei den Gegensatzpaaren aus Faktor 3. Fur die jiihrliche Fahrleistung konnte ein systematischer Bezug zu einzelnen Faktoren nicht errnittelt werden. Ohne erkennbaren Einfluss bleiben in unseren Analysen die Personenmerkmale Geschlecht, Alter, Familienstand, K6rpergewicht, Schulab­schluss, Dauer des Fuhrerscheinbesitzes sowie Typ und Alter des eigenen Wa­gens.

Eine Oberpriifung der Faktorstruktur der Semantischen Differentiale fUhrte zu einer Modifikation der Faktoren. Wiihrend fUr die Einschiitzung von Lenkrad, Arrnaturen und Sitz die Faktorstruktur weitgehend bestiitigt werden konnte, hatte bei der Bewertung des Spiegelzittems nur noch ein Faktor einen Eigenwert gr6Ber als 1. Dieser Faktor kliirt 60% der Varianz auf und umfasst aile Gegensatzpaare. Bei allen Bewertungen fiel das Gegensatzpaar massiv-hohl aus der Faktorstruktur heraus. Es liidt auf keinem der gefundenen Faktoren und scheint daher fUr den subjektiven Eindruck eine untergeordnete Rolle zu spielen.

Zusammenfassend ist das SD gut geeignet, zwischen den Strecken und den Fahrzeugen zu differenzieren. Insbesondere die Gegensatzpaare aus Faktor 1, der sich stark auf die Fahrsituation bezieht, differenzieren gut. Das griine Fahrzeug wird erwartungsgemiiB in allen Belangen am besten beurteilt, im silbemen Fahr­zeug werden Unterschiede zwischen den Teststrecken am deutlichsten empfunden.

Tabelle 14.2 Aufteilung der Frequenzbander in der Analyse der Beschleunigungsmessung

Band Frequenz [Hz]

0-15 2 15 - 19 3 19- 22 4 22 - 30 5 30-40 6 40- 60 Master 0- 100

Fur die Berechnung der Korrelationen objektiver und subjektiver Daten wurde die Beschleunigungsmessung spezifisch autbereitet: Wir unterteilten die Aufzeich­nungen in 0,2s groBe Zeitfenster und fouriertransforrnierten sie. Die Ergebnisse wurdenje Frequenzband (Tabelle 14.2) nach zwei Methoden ausgeziihlt:

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238 14 Subjektive Bewertung von Zittervorgangen

1. Absolut: In wie vielen Zeitabschnitten wird ein vordefinierter Schwellwert der Intensitat iiberschritten?

2. Relativ: In wie vie len Zeitabschnitten ist der Abstand zur Gesamtintensitat geringer als ein definierter Wert?

Fiir das Zittern am Lenkrad nahmen wir an, dass die Bewertung durch Probanden mit der Beschleunigung zusammenhangt und weniger mit der Geschwindigkeit oder dem Weg der Bewegungen am Lenkrad. Die Bewegungswahrnehmung am Lenkrad ist eine taktile, deren adaquater Reiz Druck bzw. Kraftausiibung ist. Wir nehmen an, dass der Druck unmittelbar mit der Zitterbeschleunigung zusammen­hangt. Die Korrelationsanalyse ergab nur geringe Unterschiede der Vorhersagegii­te durch Weg, Geschwindigkeit oder Beschleunigung.

Da die Einzelmeinungen unsere Probanden nicht im Vordergrund der Untersu­chungen standen, mittelten wir sowohl die objektiven Beschleunigungswerte als auch die subjektiven Bewertungen iiber die 30 Probanden. Dieses Verfahren ware in der psychologischen Forschung zur Urteilsbildung nicht statthaft, doch wird dadurch die hier nicht zentrale interindividuelle Varianz aus der Korrelationsbe­rechnung eliminiert und lediglich die auf Strecken- und Fahrzeugunterschiede zuriickzufUhrende Varianz in der Analyse belassen.

Tabelle 14.3 zeigt die Korrelationswerte der Lenkradbewertung bei Vorhersage mit den nach der Absolutmethode bestimmten Beschleunigungswerten in y­Richtung mit einem Schwellwert von 61db.

Tabelle 14.3 Korre1ation von subjektiven Bewertungen des Lenkrades mit den nach der Abso1utmethode ermitte1ten Besch1eunigungswerten bei einem Schwellwert von 61dB. Statistisch bedeutsame Korre1ationen sind grau unterlegt. Werte mit Varianzaufkllirung groBer a1s 85% sind invers gedruckt.

Fak1:or Band I Band 2 Band 3 Band 4 Band 5 Band 6 Maste r

guuniitig-widerspenstig 0.767 0 .. 462 0.555 -0 .600

ruhig-unruhig 0.783 0.55<4 0.622 -0.555

sabil-Insabil 0 .679 0.~85 0.553 -0 .<4<46

kontrolliert-unkontrolliert 0.568 0.679 0.387 0.<490 -0.532

1 0.6H 0.771 0.<455 0.5H -0.605

sportlich-bequem 2 -0.841 -0.794 -0.725 -0.830 -0.837 -0.780 0.589

scrolf-Iocker 2 0.<438 0.777 0.851 0.622 0.187 '0.302 -0.539

massiv-hohl 0.586 0.809 0.826 0.775 0550 0.59<4 -0.675

scharl-verschwommen 2 0.580 0.880 0.907 0.787 0.371 0.506 -0.724

d lrekt-Indlrekt 2 0.578 0.866 0.919 0_703 0.285 0.<415 -0.577

spartan Isch-Iux u rlOs 3 -0.718 -0.868 -0.850 -0.818 -0.539 -0.591 0.655

billig-gediegen 3 -0.589 -0.895 -0.916 -0.800 -0.376 -0.-490 0.7141

Die besten Varianzaufklarungen finden sich in den Frequenzbandern 2 und 3 fUr die Gegensatzpaare des Faktor 1. Bei dem Gegensatzpaar ruhig-unruhig fanden wir auf der Seite der objektiven Beschleunigungswerte zudem eine Interaktion der Effekte von Strecke und Fahrzeug, die sehr gut der bereits erwahnten Interaktion der subjektiven Bewertungen entspricht. Es ist gelungen, mit den Frequenzban­dern 2 und 3 MessgroBen zu identifizieren, die geeignet sind, den subjektiven

Page 243: Kraftfahrzeugführung ||

14.5 Psychophysische Untersuchung des Zittems 239

Eindruck der Probanden, insbesondere in Bezug auf den ersten Faktor im Seman­tischen Differential, vorherzusagen. Bei der Vorhersage des Faktorscores zu die­sem Faktor fanden wir eine Korrelation von .977, also eine Varianzautldarung von iiber 95%.

Bei der Bewertung des Spiegelzittems gingen wir analog vor. Wir stellten zu­nachst fest, dass bessere Vorhersagen erreicht werden, wenn wir den Zitterweg (und nicht die Geschwindigkeit oder Beschleunigung) als Pradiktor verwenden. In der Analyse arbeiteten wir mit den nach der Relativmethode ermittelten Zitterwer­ten in Y-Richtung bei einem Abstand von -5db (Tabelle 14.4). In einer multiplen Korrelation mit den Werten der Bander eins bis drei als Pradiktoren fanden wir fiir den Faktorscore eine multiple Korrelation von .990, also eine Varianzaufklarung von 98%.

Tabelle 14.4 Korrelationen von subjektiven Bewertungen des Spiegel mit nach der Rela-tivmethode bestimmten Zitterwegen bei einem Abstand von -5db. Statistisch bedeutsame Korrelationen sind grau unterlegt. Werte mit einer Varianzaufklarung groBer als 85% sind invers gedruckt.

Bezeichnung Faktor Band I Band 2 Band 1 Band 4 Band S Band 6 Haster

kritlsch-problemlo, 0.857 I' · -0.834 0.031 0.55 I nb nb

$charf-verschwommen -0.866 0.913 0.823 0.102 -0.527 nb nb

stabll-instabil -0.911 0.068 -0.600 nb nb

kontrolliert-unkontrolliert -0.909 0.056 -0.63 ~ nb nb

angenehm-unangenehm -0.894 0.038 -0.695 nb nb

massiv-hohl -0.913 0.077 -0.607 nb nb

direkt-indlrekt -0.732 0.005 -0.6-49 nb nb

spananisch-luxuriOs 0.870 0.005 0.621 nb nb

vertnut·fremd -0.862 -0.01-4 -0.686 nb nb

billig-gediegen 0.877 -0.911 -0.796 -0.123 0.605 nb nb

Auffallig ist, dass die Werte fiir die Bander 1 und 2 durch die Relativmethode jeweils umgekehrte Vorzeichen haben. Die nach der Relativmethode ermittelten Werte sind Indikatoren dafiir, wie stark ein gewahltes Frequenzband in der Ge­samtbewegung auffallt. Die Probanden fiihlten sich gest6rt, wenn Bewegungen im zweiten Frequenzband einen groBen Anteil der Gesamtbewegung ausmachen. Bewegungen in diesem Frequenzband sind visuell gut diskriminierbar.

14.5 Psychophysische Untersuchung des Zitterns

1m zweiten Teil der Studie wurden auf einer Hydropulsanlage die taktile und visu­elle Wahmehmung des Zittems unter Laborbedingungen untersucht. Mit der aus der Psychophysik stammenden Methode der direkten Gr6Benschatzung nach Ste­vens (1975) wurde in jeweils zwei Frequenzbandem fiir die taktile Wahmehmung von Zittem am Lenkrad und die visuelle Wahmehmung von Zittem im Riickspie­gel der Zusammenhang von Anregungsstarke und Empfindungsstarke ermittelt.

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240 14 Subjektive Bewertung von Zittervorgangen

16 Probanden nahmen an der Untersuchung teil. Die Anregungssignale waren Sinus-Sweeps in den Frequenzbandern 15-22Hz und 22-30Hz fUr die taktile Wahrnehmung am Lenkrad sowie 15-19Hz und 19-22Hz fUr die vi sue lIe Wahr­nehmung im Riickspiegel. In jedem Frequenzband wurden fUnf Signalstarken so gewahlt, dass die Unterschiede klar iiberschwellig waren. Angeregt wurde das rechte Hinterrad. Jedes Signal wurde den Probanden dreimal eingespielt. Fiir jeden Probanden wurde der individuelle Mittelwert der Schatzungen pro Signal berech­net und in den weiteren Analysen verwendet.

Abbildung 14.3a zeigt die Mediane der GroBenschatzung fUr das Lenkradzit­tern bei Anregung im Frequenzband 15-22Hz sowie die Kurvenanpassung mit einer Potenzfunktion mit dem Exponenten 1,0868. Die aufgeklarte Varianz durch die Potenzfunktion betragt 97,4%. Die Abb. l.3b zeigt die Mediane der GroBen­schatzung fUr das Spiegelzittern bei Anregung im Frequenzband 15-19Hz sowie die Potenzfunktion mit einem Exponenten von 2,7090. Die Varianzaufklarung betragt hier 98,3%.

20

18

M 16 r::::

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-5 12 '" r:::: ~ 10 :0

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Lenkrad

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00 0,5 1,5 2 Beschleunigung [m/s2]

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20

18

M 16 r::::

~ 14 :ol

-5 12 '" r:::: ~ 10 :0

~ 8

6

4

2

Spiegel

• empirisch - Potenzfunktion

.j

/ / t I

J I

0,5 I Beschleunigung [m/s2]

(b)

Abb. 14.3 GroBenschatzung des Zittems: (a) taktil am Lenkrad im Frequenzband IS-22Hz (b) visuell im Spiegel im Frequenzband IS-19Hz sowie Kurvenanpassungen mit Potenz­funktionen

Die psychophysischen Untersuchungen des Zitterempfindens ergaben fUr die taktile Wahrnehmung eine nahezu lineare Beziehung zwischen der Anregungs­starke und der empfundenen Starke des Zitterns. Dagegen wurde bei der visuellen Einschatzung des Zitterns im Spiegel fUr das niedrigere Frequenzband (15-19 Hz) eine wesentliche hOhere Differenzierungsfahigkeit der Anregungsstarke gefunden. Wir errnittelten eine exponentielle Beziehung mit einem Exponenten von 2,7. Offensichtlich ist das menschliche Auge fUr Zittern in diesem Frequenzband hoch­gradig sensibel. Die Kurvenanpassungen sind durchweg mit hoher Varianzaufkla­rung gelungen.

Page 245: Kraftfahrzeugführung ||

14.6 Kornfortsirnulation 241

14.6 Komfortsimulation auf der Basis der Kundenbedurfnisse

Die von den Probanden abgegebenen mittleren GroBenschatzungen des Zittems am Spiegel und am Lenkrad konnten durch eine einfache Umrechnung in das von MAGNA-Steyr (MSE) eingefuhrte Zitter-Rating iiberfuhrt werden. Die Analyse der Messfahrten ergab, dass Amplituden ab O,5mJs2 von typischen Kunden be­merkt werden. Dieser Amplitude konnte daher das MSE-Rating von 7,5 zugeord­net werden. Abbildung 14.4 zeigt die Beziige nach der Transformation.

10 10 -9

8

7 t)O c 6 '4:1

'" ex: 5 w

'\ I\. '\

I\. I-

~ ,. \

9

8

7 t)O c

6 '4:1

'" ex: 5

w

" r. \ '\ ,~

Vl 4 L

3

2

.~

~

Vl 4 L 3

2

I" \

o 0 0 .5 I 1.5 2 0 0 0 .25 0.5 0.75 Amplitude [m/s2] Amplitude [m/s2]

[ - Anpa::..:ss:..::u.:..:lng'L-_ .=---=e.:.:.m:..cp.:.:.ir_is-'-ch.....J1

(a) Lenkrad (b) Ruckspiegel

Abb. 14.4 Beziige zwischen Schwingungsarnplituden des Zittems (a) am Lenkrad, (b) irn Spiegel zurn MSE-Zitterrating.

Abbildung 14.5 zeigt die fur ein vollstandiges Fahrzeugmodell zur Simulation von komfortrelevanten Vibrationen benotigten Teilmodelle. Die Teilmodelle wurden in einem ADAMS-Modell zusammengefugt (Wolauschegg, 2001). Das vollstandi­ge Fahrzeugmodell wurde auf einem Hydropuls sowie durch Messungen beim Oberfahren eines Hindemisses validiert. Die typischen Effekte, die bei Verstei­fung eines Fahrzeuges festgestellt werden, konnten bei Simulationen einer Hydro­pulsanregung gut nachgebildet werden: Die Schwingfrequenz steigt bei der steife­ren Variante der Karosserie und die Amplitude am Komfortpunkt nimmt dabei aufgrund der Oberlagerung von Fahrwerks- und Karosserieresonanzen zu. Der Vergleich des simulierten und gemessenen Beschleunigungsspektrums an der Windschutzscheibe beim Oberfahren eines Hindemis ergab eine gute Uberein­stimmung im Frequenzbereich bis etwa 25Hz, der fur die Komfortbeurteilung

Page 246: Kraftfahrzeugführung ||

242 14 Subjektive Bewertung von Zittervorgangen

relevant ist. Die Details der Validierungsstudien werden bei Fankhauser et al. (200 I) berichtet.

FEM Body

Abb. 14.5 Hybrides Finite-Elemente- und Mehrkorpersystem-Modell fur die Komfortsimu­lation von Vibrationsphanomenen.

Abb. 14.6 Vibrodummy bei einer Eigenfrequenz von 10Hz

In weitergehenden Untersuchungen wird das Komfortphanomen Stuckern analy­siert. Beim Stuckem handelt es sich urn Vibrationen im Frequenzbereich urn 10-15Hz durch Schwingungen des Aggregats in seiner Aufhangung. Es ubertragt sich meist durch vertikale Schwingungen des Sitzes auf den Korper des Fahrers. Es zeigte sich, dass Fahrer das Stuckem nicht nur als Schwingung der Fahrzeugstruk­tur wahmehmen, sondem auch als Bewegungen des eigenen Korpers. Auch diese bedarf der Simulation, urn eventuelle Komfortbeeintrachtigung erfassen zu kon­nen. Fur die Korperbewegungen wurde ein sog. Vibrodummy entwickelt, der einen sitzenden Fahrer mit den Handen am Lenkrad reprasentiert. Er wurde spe­ziell darauf optimiert, Schwingungen in niedrigen Frequenzen urn 10Hz nachzu­bilden und besteht aus 14 Massen mit 15 Dampfungselementen (Abb. 14.6)

Page 247: Kraftfahrzeugführung ||

Literatur 243

Die Korrelationen subjektiver und objektiver ZittermaBe und die Empfindlich­keitsstudien fur Zittern im Hydropuls bieten zusammen mit dem hybriden Fahr­zeugmodell die Grundlage, urn Komfortbeeintrachtigung durch Zittern in sehr friihen Entwicklungsphasen von Fahrzeugen vorherzusagen. Die Integration des Vibrodummys wird es erlauben, das Zittermodell zu einem umfassenden vibroa­kustischen Komfortmodell zu erweitern.

Oanksagung

Die Konzeption der in diesem Kapitel dargestellten empirischen Untersuchungen ist ganz wesentlich von Prof. Dr.-Ing. Hans-Peter Willumeit beeinflusst. Seine Zuversicht, dass die Zusammenarbeit von Ingenieuren und Humanwissenschaft­lern fruchtbar sein wiirde, war nicht zu erschiittern. Als er bereits schwer erkrankt war, hat er die in Zusammenarbeit von MAGNA-Steyr Engineering und der Kol­rep-Rometsch Unternehmensberatung durchgefuhrten Studien unterstiitzt und ermutigt.

Karl Leiter und Klaus Kauermann von MSE/EEN haben nicht nur durch ihr um­fassendes Wissen iiber Komfort zum Gelingen der Untersuchungen beigetragen. Die Simulationen waren ohne die Erfahrung und die Ideen von Dr. Riepl und die Modellierungsarbeit von Stefan W olauschegg und Bernd Kastreuz nicht moglich gewesen.

Literatur

Fankhauser, C.; Riepl, A. & Wolauschegg, S. (2001). Simulation of Vibrational Driving Comfort Criteria. MAGNA Steyr Engineering, Symposium "Computersimulation in der Fahrzeugtechnik" (FH-Zentrum, Graz-West, 25. April). Graz

Helander, M.G. & Zhang, L. (1997). Field studies of comfort and discomfort in sitting. Ergonomics, 40 (9), 895-915

Kuwano, S.; Namba, S.; Hato, T.; Matui, M.; Miura, K. & Imai, H. (1994). Psychologische Bewertung von Uirm in Personenwagen: Analyse nach Nationalitat, Alter und Ge­schlecht. ZeitschriJt fur Liirmbekiimpfung, 41, 78-83

Osgood, C.E. (1952). The nature and measurement of meaning. Psychological Bulletin, 49, 197-237

Osgood, C.E.; May, W.H. & Miron, M.S. (1975). Cross-Cultural Universals of Affective Meaning. Urbana: University of Illinois Press

Osgood, C.E.; Suci, G. & Tannenbaum, P. (1957). The Measurement of Meaning. Urbana: University of Illinois Press

Schafer, B. (1983). Semantische Differential-Technik. In H. Feger & 1. Bredenkamp, Da­tenerhebung (154-211) (Enzyklopadie der Psycho logie, Themenbereich B, Serie I, Band 2). Gottingen: Hogrefe

Stevens, S.S. (1975). Psychophysics. New York: Wiley

Page 248: Kraftfahrzeugführung ||

244 14 Subjektive Bewertung von Zittervorgiingen

Takao, H. & Hashimoto, T. (1994). Die subjektive Bewertung der Innengeriiusche im fah­renden Auto - Auswahl der Adjektivpaare zur Klangbewertung mit dem Semantischen Differential. Zeitschrifl for Liirmbekiimpfung, 41, 72-77

Turner, M. & Griffin, M.l (1999). Motion sickness in public road transport: the effect of driver, route and vehicle. Ergonomics, 42 (12), 1646-1664

Wolauschegg, S. (2001). Hybrides Fahrzeugmodell mit Koppelung von Mehrkorpersystem­Fahrwerk und Finite-Elemente-Karrosserie zur Beschreibung des Phiinomens Zittern. (Diplomarbeit bei Magna-Steyr Fahrzeugtechnik), Graz

Zhang, L.; Helander, M.G. & Drury, C.G. (1996). Identitying Factors of Comfort and Discomfort in Sitting. Human Factors, 38 (3),377-389

Page 249: Kraftfahrzeugführung ||

15 Bewertung von Handlingeigenschaften -zur methodischen und inhaltlichen Kritik des korrelativen Forschungsansatzes

Hans-Peter KrUger und Alexandra Neukum

15.1 Grundfrage und Forschungsstand

Die Frage des Zusammenhangs zwischen Fahrerurteil und "objektiven", d.h. phy­sikalischen KenngroBen, ist seit Jahrzehnten Forschungsgegenstand auf dem Ge­biet der Fahrdynamik. Seit den 60er Jahren finden sich intensive Bemiihungen, das Subjektivurteil, das nach wie vor unbestritten das wichtigste Kriterium zur ,,Feinabstimmung der Fahreigenschaften und Anpassung des Fahrzeugs an den Menschen" (Zomotor, 1991) ist, durch physikalisch messbare, objektive Kenngro­Ben des Fahrverhaltens zu erganzen bzw. auch zu ersetzen.

Die zu dieser Thematik durchgefUhrten Studien verfolgten unterschiedliche Zielsetzungen, z.B. die Normierung von Testverfahren, die Objektivierung und Standardisierung der Beurteilungsmethodik oder den Vergleich von KenngroBen aus Open-loop-Messungen mit Ergebnissen aus Untersuchungen im geschlossenen Regelkreis (z.B. Willurneit u.a., 1991). Mittlerweile liegt eine Vielzahl von Test­verfahren zur Beurteilung fahrdynamischer Merkmale von Pkw vor (im Oberblick hierzu Zomotor u.a., 1997/98). Bei all diesen Tests, die zum Teil einer intematio­nalen Normung unterzogen wurden, handelt es sich jedoch ausschlieBlich urn Open-loop-Methoden, in denen definierte fahrphysikalische Messungen ohne Fahrereinfluss vorgenommen werden.

Die von Ronitz (1986) gegebene Zusammenfassung der Resultate umfangrei­cher Versuchsreihen der 70er Jahre kennzeichnet damit auch heute noch treffend den aktuellen Forschungsstand: ,,Dieser erste Ausjlug in den Bereich der ge­schlossenen Regelkreisbetrachtungen hat das SC9 13 in der Erkenntnis bestiirkt, moglichst nur noch offene Regelkreisverfahren so lange weiter zu verfolgen, bis bessere Erkenntnisse fiber den Fahrer vorliegen. "

Bis dato besteht im Gegensatz zu Open-loop-Manovem weitgehend Unklarheit iiber die Relevanz verschiedener Bewertungskriterien fUr den geschlossenen Re­gelkreis. Beziiglich der aus den Zeitverlaufen fahrdynamischer MessgroBen zu extrahierenden Parameter kam es bislang nicht zu einer Einigung. Trotz intensiver Bemiihungen ist weiterhin nur ein geringer Standardisierungsgrad erreicht. Bei­spielhaft wurden fUr den doppelten Fahrspurwechsel, urn den wichtigsten Ver­gleichstest anzufUhren, bisher lediglich die Streckenabmessungen in den Norm­vorschriften (ISO/DIS 3888, 1997) festgelegt. Einer Normierung stehen nach ISO-

13ISO-Komitee TC 22/SC9 "Vehicle Dynamics and Road Holding Ability".

Page 250: Kraftfahrzeugführung ||

246 15 Bewertung von Handlingeigenschaften

Kommentar vor allem drei wesentliche Probleme entgegen: zum Einen die geringe Validitat und Reliabilitat fahrphysikalischer KenngroBen, weiter die zur subjekti­yen Beurteilung eingesetzten Skalierungsverfahren und insbesondere der starke Fahrereinfluss auf das Ergebnis der Messung.

Zum Fortschritt der Erkenntnisse, den die bisherigen Ansatze erbracht haben, finden sich in der Literatur sehr unterschiedliche Meinungen. Wahrend z.B. Jiir­gensohn (1997) der Auffassung ist, die Bemiihungen seien als "gescheitert" zu betrachten, vertreten Zomotor u.a. (1998) in einem Resiimee des derzeitigen For­schungsstands eine sehr viel positivere Ansicht. Dieser unbefriedigende Erkennt­nisstand steht in Kontrast zur zunehmenden Dringlichkeit der Frage nach den Zusammenhiingen zwischen subjektiven und objektiven Kriterien, die sich aus der steigenden Bedeutung geregelter Fahrwerks- und Antriebssysteme (z.B. Braess u. Seiffert, 2000, Reichelt u. Strackerjan, 1992) sowie aus dem Bestreben ergibt, Bewertungskriterien rur die Ergebnisse aus der Fahrsimulation und der Fahrermo­dellierung zu gewinnen (vgl. auch Willumeit u. liirgensohn, 1997).

Wenn nach dreiBig lahren Forschung eine Frage immer noch so unentschieden ist, wie die nach der Objektivierung subjektiver Fahreindriicke, sei es erlaubt, sich noch einmal in sehr einfachen Schritten das Zie1 dieser Forschung zu erarbeiten. Dabei kommt den Grundannahmen des methodischen Zugangs zu dieser Frage­stellung besondere Bedeutung zu. Etabliert hat sich auf diesem Gebiet ein Unter­suchungs- und Auswertungsansatz, der iiber Korrelations- und Regressionsanaly­sen eine direkte Verkniipfung zwischen objektiven und subjektiven Kriterien sucht (vgl. z.B. Bergman 1973, 1978).

Die grundsatzliche Fragestellung des "Subjektiv-Objektiv"-Ansatzes lautet: Gibt es ein fahrdynamisches Merkmal 0, dessen Variation bei gleichbleibender Fahrsituation die Variation der subjektiven Bewertung s bestimmt? Idealiter wird modellhaft ein Zusammenhang s = f(o) unterstellt, der rur aile Fahrer ge1ten soil. Mit der Entscheidung rur einen korrelativen Ansatz geht gleichzeitig die Annahme ein, dass der funktionale Zusammenhang linearer Natur ist, da nur ein solcher erschOpfend von der Korrelation dargestellt werden kann. 1m Folgenden wird dargestellt, welche Voraussetzungen auf der inhaltlichen Seite gemacht werden miissen, damit der iibliche Untersuchungsansatz - unter der Annahme der Giiltig­keit der Hypothese, dass s mit 0 iiber eine Korrelation verkniipft sind - iiberhaupt in der Lage ist, diesen Zusammenhang nachzuweisen.

15.2 Zum Verstandnis von Korrelation und Regression

Die Werte einer Messwertreihe werden iiblicherweise als Xi bezeichnet, ihr Mit­telwert als mx und ihre Standardabweichung als sx. Durch Lineartransformation in derForm

(X; -a) z - mit a = mx und b = Sx ;- b (15.1)

Page 251: Kraftfahrzeugführung ||

15.2 Zum Verstiindnis von Korrelation und Regression 247

erhiilt man standardisierte Messwerte mit dem neuen Mittelwert m' = 0 und der neuen Standardabweichung s' = 1. Diese Lineartransformation ist erlaubt, wenn die Messwerte mindestens auf Intervallniveau skaliert sind (d.h. Differenzen zwi­schen Messwerten bedeutsam sind). Die Korrelation ist definiert als

(15.2)

und stellt damit nichts anderes dar als das mittlere Kreuzprodukt aus den standar­disierten Variablen x und y. Der Korrelationskoeffizient kann folglich auch ge­schrieben werden als

(15.3)

Aus dieser Definition des ZusammenhangsmaBes ergeben sich sofort einige Be­sonderheiten:

• 1st eine der beiden Standardabweichungen Sx oder Sy Null, ist der Korrelations­koeffizient nicht definiert. Die Messwertreihen miissenjeweils Varianz enthal­ten.

• Die Korrelation zwischen Originalwerten und lineartransformierten Werten ist identisch, da in die Korrelationsberechnung nur standardisierte Werte einge­hen.

• Da die Korrelation nur den Zusammenhang zwischen standardisierten GroBen betrachtet, resultiert als weitere Besonderheit des korrelationsstatistischen An­satzes: Die Korrelation ist eine dimensionslose GroBe und kann daher nur iiber die Enge eines Zusammenhangs Aussagen machen.

Sehr hiiufig wird auch ein regressionsanalytischer Ansatz verfolgt, der versucht, aus den fahrdynamischen GroBen 0 als Pradiktoren die subjektiven GroBen s als Priidikanden "vorherzusagen". Benutzt wird dazu die lineare Modellgleichung der Form s = a ·0 + b. Gehen mehrere fahrdynamische GroBen als Pradiktoren ein, resultieren multiple Regressionen. Die Regression von x auf y versucht, die Messwerte y als lineare Funktion der Werte von x auszudriicken, lasst also nur Abweichungen empirischer y-Werte von vorhergesagten Werten zu. Aus diesem Grunde resultiert auch eine andere Regressionsgleichung, wenn von y auf x ge­schlossen wird, die Abweichungen also in x-Richtung zugelassen werden Bei der Regression bleiben die Dimensionen und Einheiten der beteiligten Variablen er­halten. Z-standardisiert man die beteiligten Variablen, entstehen dimensionslose GroBen Zx und Zy. Die Regressionsgleichung von x aufy wird in diesem Fall zu:

z z =r z bzw z =~ y xyx ·x

rxy

(15.4)

Aus diesen Definitionen geht hervor, dass die folgenden Uberlegungen der inhalt­lichen Voraussetzungen bei der Uberpriifung eines korrelativen Modells auch flir den regressionsanalytischen Ansatz gelten.

Page 252: Kraftfahrzeugführung ||

248 15 Bewertung von Handlingeigenschaften

15.3 Der korrelative Ansatz in der Handlingforschung

Prinzipiell muss die Entstehung eines fahrdynamischen Merkmals 0 aus der Inter­aktion zwischen Fahrzeugvariante V, Fahrsituation S und Fahrer F begriffen wer­den, so dass 0 = j(V,S,F) ist. In den tiblichen Versuchsanordnungen werden aber lediglich zwei dieser Dimensionen thematisiert, niimlich V und F. Dies geschieht etwa so, dass eine Gruppe von Fahrem eine bestimmte Fahraufgabe mit verschie­denen Fahrzeugvarianten absolviert. Eine solche Anordnung ist daher nur insoweit bedeutsam, als es gelingt, die Fahrsituation S konstant zu halten (ceteris paribus­Bedingung). Dies wird tiblicherweise dadurch erreicht, dass der Fahrversuch so weit wie moglich standardisiert wird (etwa: gleiche Abmessungen, gleiche Ge­schwindigkeiten).

1m Versuch geben die Fahrer Fi mit i = 1, 2, ... , n tiber die Varianten Vj mit} =

1,2, ... , k jeweils subjektive Urteile sij ab, die den objektiven Messgr6Ben oij ge­gentiber gestellt werden. Das Ergebnis ist eine Datenmatrix der folgenden Form (Tabelle 15.1):

Tabelle 15.1 Allgemeiner Autbau der Datenmatrix

I 2 3 4 5 6 7

2 Variante I Variante 2 Variante 3 Mittel

3 Fahrer 5ubj obj 5ubj obj 5ubj obj 5ubj obj

4 FI 511 011 521 021 531 031 r(5F I of I) 51. 01.

5 F2 512 012 522 022 532 032 r(5F20F2) 52. 02.

6 F3 513 013 523 023 533 033 r(5F30F3) 53. 03.

7 r(5VloVI) r(5V20V2) r(5V30V3) r(5FAoFA)

8 Mittel 5.1 0.1 5.2 0.2 5.3 0.3 r(5VAoVA) 5 .. 0 ..

9 aile r(5VoV)

In dieser Matrix steht s fUr subjektive Bewertung, 0 fUr objektiven Kennwert, der erste Index i bezeichnet den Fahrer, der zweite Indexj die Variante. Offensichtlich k6nnen eine ganze Reihe von "Subjektiv-Objektiv"-Korrelationen berechnet wer­den:

1. die Korrelationen tiber die Fahrer innerhalb jeder Variante r(sVpVj) in Zeile 7, 2. die Korrelation der Subjektiv-Mittelwerte pro Variante mit den Objektiv­

Mittelwerten pro Variante in Zeile 8, gekennzeichnet als r( s VA OVA), 3. die Korrelation innerhalb jeden Fahrers, gekennzeichnet als r(sFjoFj) in der

SpaJte 6, 4. die Korrelation tiber aIle Subjektiv-Objektiv-Messwertpaare r(sVoV) in Zeile

9 und schlieBlich

Page 253: Kraftfahrzeugführung ||

15.3 Der korrelative Ansatz in der Handlingforschung 249

5. die Korrelation der Subjektiv-Mittelwerte eines Fahrers tiber alle Varianten mit den entsprechenden Objektiv-Mittelwerten tiber alle Varianten in Spalte 7, ge­kennzeichnet als r(sF AoF A).14

Wie ist die eingangs gestellte Fragestellung zu priifen? Als Voraussetzung geht ein, dass die Fahrversuche in gleichbleibender Fahrsituation stattfinden. In stren­ger Form wiirde dies bedeuten, dass innerhalb einer Variante die fahrdynamische GroBe nicht variiert, mithin die Varianz Null wird. Dies ware der Fall im Open­loop-Manover mit einem lediglich beurteilenden, aber nicht selbst handelnden Fahrer. Unter den weiteren Voraussetzungen, dass alle Fahrer ein gemeinsames Urteilsbezugssystem haben und die Varianten sich unterscheiden, mtisste eine Matrix der folgenden Form (Tabelle 15.2) entstehen: 15

Tabelle 15.2 Datenmatrix unter der Voraussetzung von Variantenunterschieden sowie eines gemeinsamen Urteilsbezugssystems

I 2 3 4 5 6 7

2 Variante I Variante 2 Variante 3 Mittel

3 Fahrer subj obj subj obj subj obj subj Obj

4 FI I 10 2 20 3 30 r = 1.00 2 20

5 F2 I 10 2 20 3 30 r = 1.00 2 20

6 F3 I 10 2 20 3 30 r = 1.00 2 20

7 r = n. d. r = n. d. r = n. d. r = n. d.

8 Mittel I 10 2 20 3 30 r = 1.00 2 20

9 aile r = 1.00

Unter diesen Voraussetzungen ergeben eine ganze Reihe von Korrelationen kei­nen Sinn. Die Korrelationen der Zeile 7 sindjeweils nicht definiert, da keine Vari­anz vorliegt. Ebenso ist die Korrelation in Spalte 7 nicht definiert (n. d.), da im Mittel alle Fahrer die gleiche Variantenbewertung und den gleichen Kennwert haben. Die Korrelationen der Spalte 6 sind jeweils identisch (hier r = 1), da keine Fahrerunterschiede vorliegen. Das heiBt, der Mittelwert der individuellen Korrela­tionen r(sFioFi) in Spalte 6 entspricht genau der Korrelation der Mittelwerte r(sVAoVA) in Zeile 8. Ftir die Korrelation tiber aIle Messwertpaare ergibt sich unter den vorliegenden Bedingungen ebenfalls ein Koeffizient von 1.

14Dieser fur die Praxis nicht relevante Fall sei lediglich aus Grunden der Vollstandigkeit aufgefuhrt.

15Die in der Tabelle aufgefiihrten Zahlenwerte sind willkurlich. Aus den weiteren Darstel­lungen wird ersichtlich, dass start der hier gewahlten Werte auch so1che verwendet wer­den konnen, die sich aus Lineartransformationen dieser Werte ergeben, ohne dass der In­halt der Aussagen dadurch verandert wfude.

Page 254: Kraftfahrzeugführung ||

250 15 Bewertung von Handlingeigenschaften

Weiter wird aus der Tabelle deutlich, dass die individuellen Korrelationen in Spal­te 6 nur definiert sind, wenn sowohl in der Variantenbeurteilung wie in den Vari­antenkennwerten pro Fahrer Varianz enthalten ist. Notwendige Voraussetzung flir das Entstehen von Individualkorrelationen ist deshalb, dass die Fahrer die Unter­schiede in den Varianten "herausfahren", urn sie dann auch beurteilen zu kannen.

Es sei angemerkt, dass ublicherweise eine Vielzahl von objektiven Parametern bestimmt wird, ebenso der Fahreindruck uber mehrere Urteilsskalen erhoben wird. Haufig entsteht der Eindruck, dass bei der Auswahl der MessgraBen nach dem "Schrotschuss-Prinzip" vorgegangen wird, ohne dass inhaltliche Hypothesen be­stehen, welche Variablen denn einschlagig sein kannten.16 Der Preis einer solchen hypothesenfreien Vorgehensweise ist eine Vielzahl von Korrelationen innerhalb der objektiven und subjektiven Messwerte, die erhebliche Probleme bei der Aus­wahl der relevanten GraBen stellen. Fur die Betrachtung der Voraussetzungen eines korrelativen Ansatzes ergeben sich daraus keine substantiell neuen Fragen, weswegen hier von einer Diskussion dieser V orgehensweise abgesehen wird.

Beim jetzigen Stand der Betrachtung sind deshalb nur die Korrelationen in Spalte 6 bzw. Spalte 9 flir die Priifung der Modellannahme bedeutsam, wonach zwischen objektiven und subjektiven GraBen ein linearer Zusammenhang besteht. Die der Modellrechnung zu Grunde liegenden Annahmen sind jedoch unrealis­tisch. Aus der Urteilspsychologie ist bekannt, dass die auBerlich gleiche Urteils­skala sehr unterschiedlich benutzt wird (eine immer noch gultige Darstellung dieser Effekte findet sich bei Guilford, 1954, 302 ff.).

Fahrer unterscheiden sich sowohl in ihrem Einstiegsniveau auf der Skala als auch in der Art, wie sie Unterschiede ausdriicken. Es gibt eine Vielzahl von Ver­suchen, diese Effekte zu minimieren, etwa dadurch, dass man die Skalenpunkte "verankert". Dies geschieht etwa bei der in der Fahrzeugforschung we it verbreite­ten 10-Punkte-Skala, deren Stufen durch verbale Beschreibungen etikettiert wer­den und damit gemeinsame "absolute" Standards setzen sollen. Sehr haufig tritt jedoch der Fall auf, dass Fahrer eine gegebene Skala nur komparativ verwenden, so dass die Skalenbreite dazu eingesetzt wird, die in einem Versuch vorgefunde­nen Unterschiede zwischen Varianten maximal abzubilden. Andererseits verrnei­den einige Urteiler, extreme Urteile zu verwenden und halten sich - vor allem bei Mehrfachurteilen - die Skalenenden frei, urn noch Raum flir kunftige extremere Varianten zu haben. Insgesamt hat dies in der Urteilspsychologie dazu geflihrt, regelhaft - auBer in hochkontrollierten psychophysischen Untersuchungen - die Urteile auf einen individuellen Standard zu beziehen. Dies geschieht entweder

16Diese Hypothesenfreiheit ist vor aHem unter dem Gesichtspunkt verwunderlich, dass es sich bei einem Fahrzeug urn ein in weiten Teilen berechenbares Instrument handelt, mit­hin auch klar sein miisste, we1che GraBen bei welchem Manaver relevant sind. Wenn trotzdem eine Vie1zahl von Kennwerten - und vor aHem auch noch abgeleitete GraBen aus diesen Kennwerten - eingefuhrt werden, kann dies eigentlich nur bedeuten, dass im Gegensatz zum Fahrzeug keine Hypothesen dariiber bestehen, welche GraBen fur den Fahrer relevant sind. Welche Drehbeschleunigungen, welche Momente werden vom Fah­rer wie wahrgenommen? - solange fur Fragen dieser Art keine Antworten vorliegen, ist die Auswahl der einschHigigen Parameter weitgehend be1iebig.

Page 255: Kraftfahrzeugführung ||

15.3 Der korre1ative Ansatz in der Handlingforschung 251

dadurch, dass man die Urteile als Differenz zum individuellen Urteilsmittelwert ausdriickt oder sie individuell z-standardisiert.

Ais weitere Modellannahme geht bis jetzt ein, dass die fahrdynamischen Gro­Ben innerhalb einer Variante nicht variieren. Das Verlassen dieser Annahme ist der eigentliche Dbergang yom Open zum Closed-loop. 1m geschlossenen Regel­kreis wird es dem Fahrer durch seine Bedienhandlung ermoglicht, in der identi­schen Variante bei sonst gleichen Bedingungen unterschiedliche fahrdynamische GroBen zu erzeugen. Beispielhaft kann dies dadurch geschehen, dass ein Fahrer mit heftigen Lenkbewegungen stets groBere Querbeschleunigungen erzeugt als ein Fahrer mit sanftem Lenken. Unterstellen wir der Einfachheit halber, dass dieser Fahrereinfluss sich als lineare Transformation der Open-Ioop-Kennwerte darstellt, so ware er durch z-Standardisierung der individuellen Kennwerte wieder zu elimi­nieren. 17

Unter realistischen Bedingungen muss also damit gerechnet werden, dass so­wohl auf Seiten der Urteile wie auf der der Kennwerte fahrerspezifische Effekte aufireten, die sich darin ausdriicken, dass pro Fahrer die Urteils- und Messwerte linear transformiert werden miissen. Es gelte weiterhin die Modellannahme, dass zwischen objektiven und subjektiven Werten eine lineare Beziehung herrsche. Die Auswirkung dieser neuen Annahmen auf die Korrelationsbetrachtung wird deut­lich, wenn beispielhaft folgende Transformationen eingefiihrt werden:

Fahrer 1: s' = s, 0' = 0 (keine Transformation) Fahrer 2: s' = s + 3, 0' = 1.50 + 1 Fahrer 3: s' = 3s + 1,0' = 0.50 + 4

Daraus folgert dann die Form von Tabelle 15.3. Durch diese Transformationen treten bei den Korrelationen innerhalb der Varianten (Zeile 7) Werte auf, die sehr heterogen und deutlich von Null verschieden sind. Sie andem sich, wenn andere Transformationen gewahlt werden und sind deshalb offensichtlich von den Trans­formationsparametem abhangig. Diese stell en inhaltlich Beschreibungen der Ur­teils- und Fahrsystematik der einzelnen Fahrer dar und hangen deswegen vollstan­dig von den Eigenschaften der untersuchten Fahrer abo Foiglich sind sie durch die Zusammenstellung der untersuchten Fahrergruppe (also durch eine Intervention des Untersuchers!) auch direkt in ihrer Hohe beeinflussbar.

Wenn - wie etwa bei Riedel u. Arbinger (1997, 2000) - Items wie "Das Fahr­zeug schleudert" eingefiihrt werden, die untersuchten Normalfahrer sich aber gar nicht in diesen fahrdynamischen Grenzbereich begeben, resultiert eine Intra­Varianten-Korrelation von Null. Wiirde die Untersuchung nur an einer Gruppe von Testfahrem durchgefiihrt, die das Fahrzeug im Grenzbereich bewegen, wiirde bei allen Schleudem auftreten und wiederum ware die Intra-Varianten-Korrelation Null. Fiigt man beide Gruppen in einer gemeinsamen Auswertung zusammen, resultiert eine hohe Korrelation, die nur auf der Auswahl der Personen beruht, aber

17Diese Annahrne ist vor aHem dann problematisch, wenn in die Untersuchung fahrdyna­mische Grenzbereiche einbezogen werden, in denen sich das Fahrzeug nicht mehr linear verhiilt. Methodisch bedeutet dies, dass die lineare Korre1ation die entstehende fahrdy­namische Funktion nicht mehr erschopfend abbilden kann.

Page 256: Kraftfahrzeugführung ||

252 15 Bewertung von Handlingeigenschaften

sonst keine inhaltliche Bedeutung hat (HeterogeniHitskorrelation). Korrelationen innerhalb von Varianten sind daher nicht geeignet, die Hypothese eines linearen Zusammenhangs zwischen objektiven und subjektiven GraBen zu iiberpriifen.

Tabelle 15.3 Datenmatrix nach linearer Transformation der subjektiven und objektiven Werte.

I 2 3 4 5 6 7

2 Variante I Variante 2 Variante 3 Mittel

3 Fahrer subj obj subj obj subj Obj subj obj

4 FI I 10 2 20 3 30 r = 1.00 2 20

5 F2 4 16 5 31 6 46 r = 1.00 5 31

6 F3 4 9 7 14 10 19 r = 1.00 7 14

7 r = 0.38 r = -0.24 r = -0.48 r = -0.24

8 Mittel 3.00 11.67 4.67 21.67 6.33 31.67 r = 1.00 4.67 21.67

9 aile r = 0.19

Wie Spalte 6 zeigt, hat sich durch die Transformation auf Seiten der Individual­korrelationen wie bei der Korrelation der Mittelwerte (alles Spalte 6) nichts ver­andert. Das heiBt, dass der den Ausgangsdaten unterstellte line are "Subjektiv­Objektiv"-Zusammenhang unter den bisherigen Annahmen unbeeinflusst davon ist, (1) welche fahrdynamischen Bereiche ein Fahrer realisiert und (2) welche Urteilsbereiche er wahlt, solange sich beides als lineare Transformation darstellt. Das heiBt, dass ein Ergebnis der in der Abb. 15.1 (a) dargestellten Art unter korre­lativer Betrachtung eine Bestatigung der Ausgangshypothese darstellt, wonach die Bewertung eine line are Funktion der fahrdynamischen GraBen ist.

Es ist zu beachten, dass diese Aussage nur gilt, wenn unter den angegebenen Bedingungen die Korrelationen pro Fahrer gerechnet und dann gemittelt werden oder wenn pro Variante die Mittelwerte fur subjektive und objektive Werte be­rechnet und dann diese Mittelwerte miteinander korreliert werden. Korreliert man direkt die einzelnen Wertepaare der Fahrer iiber alle Varianten (Zeile 9), erhalt man die Abb. 15.1 (b) mit einer Korrelation von r = 0.19. Auch diese Korrelation ist direkt von der Art der linearen Transformation abhangig, die man einfuhrt.18

18Ein 1ihnliches Vorgehen ist bei Zomotor (1991, S. 229) zu tinden. Zuerst wird tiber eine multiple Regression bestimmt, welche Linearkombination fahrdynamischer Werte am besten das Urteil erkl1irt. Dann wird pro Variante der Urteilsmittelwert bestimmt und ti­ber diesem werden dann die fahrdynamischen Kennwerte abgetragen. Uber die Punkte­schar wird dann eine Regression berechnet, die den Zusammenhang objektiv-subjektiv belegen soil. Der deutliche Anstieg der Regressionsgeraden sagt aber nichts anderes aus, als dass die multiple Regression in der Lage war, einen Teil der Urteilsvarianz zu erkl1i-

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15.4 Die Bereichsabhiingigkeit der Priifung 253

Das heiBt, die bisher aufgeftihrten Restriktionen des korrelativen Ansatzes gelten in gleicher Weise fUr den Regressionsansatz, der haufig auf der Suche nach einer "allgemeinen Handlingformel" angewendet wird.

o~--~----~--~------~

(a) 0 I 0 20 30 40 50 Kennwerte objektiv

10.----.------------~----. t>O c:

f 8 Q)

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(b) 0 10 20 30 40 50 Kennwerte objektiv

Abb. 15.1 Individualkorre1ationen (a) und Korrelation iiber alle Varianten (b)

15.4 Die Bereichsabhangigkeit der Prufung

Dass die dargestellte Abhiingigkeit von Regression und Korrelation von der Art der linearen Transformationen nicht nur eine statistische Spielerei ist, sondem fUr die Frage der Zusammenhange zwischen subjektiven und objektiven GraBen im Fahrversuch relevant ist, belegen Untersuchungsergebnisse, die wir bei der Uber­priifung der Wahmehmbarkeit und der Bewertung der Aktiven Hinterachs­Kinematik (ARK, vgl. z.B. Donges, 1993) im doppelten Fahrspurwechsel erhielten (Neukum u.a., 2001).19 Die ARK erzeugt Hinterachslenkwinkel in Abhiingigkeit von Fahrgeschwindigkeit und Lenkradwinkel. Das Ergebnis ist, dass unter sonst gleichen Bedingungen geringere Giergeschwindigkeiten und Querbeschleunigun­gen resultieren und der Zeitverzug zwischen Lenkeingabe und Fahrzeugreaktion weitgehend unabhangig wird von der Querbeschleunigung. Schickt man unter­schiedliche Fahrer bei gleicher Geschwindigkeit jeweils mit und ohne ARK in den doppelten Fahrspurwechsel, erhalt man auBerordentlich unterschiedliche Ergeb­nisse (Abb. 15.2). Wahrend Fahrer A einen deutlich positiven Effekt der ARK herausfahrt, iiberlagem sich fUr Fahrer B die Verlaufe der Giergeschwindigkeit ununterscheidbar. Der Grund liegt in einem wesentlich ruhigeren Lenkverhalten, bei dem die Lenkeingaben so moderat sind, dass die ARK noch keinen Unter­schied produziert. Foiglich kann Fahrer Bauch keinen Unterschied wahmehmen­und erst recht nicht beurteilen.

reno Wie hoch dieser Anteil ist, kann nach der obigen Darstellung aber nicht entschieden werden.

19Die Untersuchungen wurden im Auftrag der BMW Group unter der Projektleitung von Dr. Jiirgen Schuller durchgefiihrt.

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254 15 Bewertung von Handlingeigenschaften

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Fahrer B

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6 -30 6 30

0 20 40 60 80 100 120 0 20 40 60 80 100 120 Meter Meter

Abb. 15.2 Giergeschwindigkeiten zweier Fahrer bei 80kmlh (durchgezogene Linie: mit AHK, gestrichelte Linie: konventionelle Auslegung).

Dies geht deutlich aus der folgenden Abb. 15.3 hervor, in der fur zwei andere Fahrer die Maximalwerte der Giergeschwindigkeiten tiber denen der Lenkradwin­kel im doppelten Fahrspurwechsel aufgetragen sind. Ganz generell zeigt sich, dass der Variantenunterschied umso deutlicher wird, je haher die Lenkradwinkel sind. Es zeigt sich weiterhin, dass Fahrer D auf Grund seiner Lenkeigenschaften den Variantenunterschied gar nicht herausfahren kann. Die Personspezifitlit des Lenk­verhaltens fuhrt also dazu, dass bei gleichen Geschwindigkeiten unterschiedliche, tiber das Open-loop-Kennfeld zu bestimmende Giergeschwindigkeiten resultieren.

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20 30 40 50 60 70

Lenkradwinkel n

v Fahrer C konventionell o Fahrer C AHK .,. Fahrer D konventionell • Fahrer D AHK

Abb. 15.3 Zusammenhange zwischen Maximalwerten von Lenkradwinkel und Gierge­schwindigkeit bei Fahrten mit AHK bzw. konventioneller Hinterachse

Unterstellt man, dass die Giergeschwindigkeit eine wichtige Grundlage der Be­wertung darstellt, ergeben sich fur die einzelnen Fahrer ganz unterschiedliche Bewertungen bei gleicher Geschwindigkeit. 20

20Dies hat fur die Berechnung der "Subjektiv-Objektiv"-Korrelation auBerordentlich uner­wiinschte Konsequenzen. Fahrer B kann keinen Unterschied erleben, folglich enthalten seine Urteile nur Zufallsvarianz. Demgegeniiber ist in den Urteilen von Fahrer A sowohl Varianten- wie Zufallsvarianz enthalten. Durch die Berechnungsmethodik der Korre1ati-

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15.5 Individuelle Rangreihen der Varianten und ihre Konsequenzen 255

Bei dieser Sachlage ist die eingangs genannte Voraussetzung der Ceteris-paribus­Bedingung elementar verletzt, wenn die Situationsgleichheit uber gleiche Ge­schwindigkeiten hergestellt werden solI. Die eigentliche Fahrsituation entsteht erst aus dem Zusammenwirken von Geschwindigkeit und Lenkverhalten des Fahrers und ist deshalb in der daraus resultierenden Querdynamik zu suchen. In Anerken­nung dieser Tatsache hat bereits Bergman (1978) gefordert, Untersuchungen quer­dynamischer Handlingeigenschaften nur unter Kontrolle der Querbeschleunigung durchzuruhren. D.h. in den Variantenvergleich durfen nur querdynamisch ver­gleichbare Situationen eingehen. Dies begriindet weiterhin, dass Fahrer in solchen Untersuchungen nicht nur punktuell bei einer Geschwindigkeit gepriift werden durfen, sondem rur jeden Fahrer ein individueller querdynamischer Leistungsbe­reich festgestellt und untersucht werden muss. Einen entsprechenden Vorschlag haben wir mit der Einruhrung individueller Steigerungsreihen gemacht (KrUger et aI., 2000a,b; Neukum et aI., 2001).

15.5 Individuelle Rangreihen der Varianten und ihre Konsequenzen

Eine zusatzliche Komplikation wird im korrelativen Ansatz eingeruhrt, wenn erlaubt wird, dass die Fahrer mit unterschiedlichen Varianten unterschiedlich zurecht kommen, mithinjeder Fahrer eine eigene Rangfolge zwischen den Varian­ten aufmachen kann. Schwierigkeiten ergeben sich auch, wenn sich die Rangfolge der Varianten auf einem fahrdynamischen Parameter (etwa beim Schwimmwin­kel) in Abhangigkeit von einer weiteren GroBe (etwa der Querbeschleunigung) andert. In beiden Fallen resultieren Rangvertauschungen zwischen den Varianten. Die Konsequenzen rur den korrelativen Ansatz gehen aus Tabelle 15.4 hervor.

War in der Ursprungstabelle rur jeden Fahrer die Rangfolge der Varianten gleich (VI - V2 - V3), so hatjetzt Fahrer 1 die Rangfolge VI - V3 - V2, Fahrer 2 die Folge V2 - VI - V3 und Fahrer 3 die Folge V3 - V2 - VI. Es werden ledig­lich individuell die Reihenfolgen vertauscht, ansonsten bleiben alle Messwerte gleich. Folgerichtig bleibt auch der individuelle Zusammenhang zwischen fahrdy­namischer GroBe und Bewertung gleich und ist bei allen Fahrem wie im vorigen Beispiel r = 1. Ebenso andert sich nichts an der Korrelation der Messwerte uber alle Varianten (Zeile 9) mit r = 0.19. Allerdings wird jetzt die Korrelation zwi­schen den Variantenmittelwerten in Spalte 6 zu r = -0.87. Es Hisst sich zeigen, dass der Mittelwert der Individualkorrelationen nur dann der Korrelation der Mittelwerte entspricht, wenn alle Fahrer die gleiche Rangfolge der Varianten aufmachen. Sobald diese Rangfolge zwischen den Fahrem unterschiedlich ist, kann die Korrelation zwischen den subjektiven und objektiven Mittelwerten nicht mehr zur Uberpriifung der Frage herangezogen werden, ob ein fahrdynamischer Kennwert mit den Bewertungen zusammenhangt.

on werden die Urteile beider Fahrer auf die gleiche Standardvarianz von 1 gebracht und damit der Zufallsanteil in gleicher Weise gewichtet wie der wahre Variantenanteil des Urteils.

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256 15 Bewertung von Handlingeigenschaften

Tabelle 15.4 Datenmatrix bei Vertauschung der Varianten-Rangfolgen

I 2 3 4 5 6

2 Variante I Variante 2 Variante 3

3 Fahrer subj obj subj obj subj obj

4 FI I 10 3 30 2 20 r = 1.00

5 F2 5 31 4 16 6 46 r = 1.00

6 F3 10 19 7 14 4 9 r = 1.00

7 r =0.37 r = -0.77 r = 0.68

8 Mittel 5.33 20.00 4.67 20.00 4.00 25.00 r = -0.87

9 aIle r = 0.19

15.6 Zusammenfassende Forderungen an einen korrelativen Ansatz

7

Mittel

subj obj

2 20

5 31

7 14

R = -0.24

4.67 21.67

Der "Subjektiv-Objektiv"-Ansatz versucht zu kliiren, welche fahrdynamischen Eigenschaften eines Fahrzeugs flir dessen Bewertung ausschlaggebend sind. Bei korrelativer Priifung wird ein linearer Zusammenhang zwischen Eigenschaft und Bewertung angenommen. 1m Open-Ioop-Verfahren werden die fahrdynamischen Eigenschaften unter kontrollierten Bedieneingaben untersucht, woraus entspre­chende Kennfelder entstehen. Das Closed-loop-Verfahren unterstellt, dass der Bewertung die Auspragung der zu beurteilenden fahrdynamischen Eigenschaft zugrunde liegt, die als Ergebnis aus der fahrerspezifischen Bedienung resultiert. Der Urteilsgegenstand ist in diesem Modell der fahrerspezifische Kennwert des Fahrzeugs in einer fUr die unterschiedlichen Fahrer vergleichbaren Untersu­chungssituation. Die Modellbetrachtung hat ergeben, dass die Korrelation dann ein brauchbares MaB darstellt, wenn

1. der Zusammenhang zwischen fahrdynamischer GroBe und Bewertung linear und wenn

2. dieser Zusammenhang auf Individualniveau nachweisbar ist.

Dazu ist notwendig, dass bei jedem Fahrer

3. Urteile und Kennwerte in den einzelnen Varianten variieren, was bedeutet, dass diese Varianz vonjedem Fahrer "herausgefahren" werden muss.

SchlieBlich wird verlangt, dass

4. die Fahrer die gleiche Rangreihe der Varianten sowohl in fahrdynamischen GroBen wie in den Bewertungen aufmachen.

Aus der Bedingung (4) resultiert, dass bei einer korrelativen Studie die Korrela­tion der Mittelwerte liber die Varianten nicht als die zentrale PriifgroBe betrachtet werden darf. Die richtige PriifgroBe ist die Verteilung der Korrelationen zwischen

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15.7 Von der Ergebnis- zur Prozessanalyse 257

subjektiven und objektiven GroBen auf Individualebene. Je enger sich diese indi­viduellen Korrelationen urn einen hohen Mittelwert gruppieren, desto besser ist der aufgefundene Zusammenhang. Weiter gibt der Vergleich zwischen diesem Mittelwert der Individualkorrelationen und der Korrelation aus den Mittelwerten einen Eindruck davon, inwieweit die Fahrer die Varianten in der gleichen Bewer­tungsfolge ordnen. Bei hohen Diskrepanzen zwischen diesen beiden Werten liegen Wechselwirkungen zwischen Fahrem und Varianten vor, die sich inhaltlich als personspezifische Praferenzen fUr einzelne Varianten darstellen.

Da die Korrelation invariant ist gegen Lineartransformationen sowohl der Be­wertungen wie der fahrdynamischen GroBen, verandert sie sich in ihrem Betrag nicht, wenn:

5. jeder Fahrer einen eigenen Ausschnitt aus der gemeinsamen Urteilsskala be­nutzt und die Abstande zwischen den Varianten durch unterschiedlich hohe Urteilsdifferenzen abbildet.

Dies gilt auch fUr die fahrdynamische GroBe:

6. die Korrelation ist unbeeindruckt von dem fahrdynamischen Bereich, den ein Fahrer in den unterschiedlichen Varianten realisiert.

Aus den Eigenschaften (5) und (6) folgt, dass das Vorliegen einer Korrelation zwischen fahrdynamischer GroBe und Bewertung keine Aussage mehr zur Frage machen kann, urn wie viel die Bewertung steigt, wenn eine fahrdynamische GroBe konstruktiv urn einen bestimmten Betrag verandert wird. Die Korrelation kann nur die Enge des Zusammenhangs ausdriicken, aber keine Information fiber den quan­titativen Zusammenhang zwischen den beteiligten GroBen geben. Ganz offensicht­lich ist bei dieser Sachlage fUr die Ausgangsfrage nach dem Einfluss eines fahrdy­namischen Unterschieds auf die Bewertung nur gewonnen, dass die fahrdynami­sche GroBe einen direkten Zusammenhang mit der Bewertung im Sinne eines je -desto hat. Dieser Zusammenhang ist aber in seiner Quantitiit nicht zu beurteilen.

Liegen die oben unter (1) bis (4) genannten Voraussetzungen vor, ist der regressions- und korrelationsstatistische Ansatz geeignet, die Zusammenhange zwischen fahrdynamischen GroBen und Urteilen zu beschreiben. Allerdings muss nachgewiesen werden, dass der behauptete Zusammenhang auf Individualebene gilt.

15.7 Von der Ergebnis- zur Prozessanalyse

Der Closed-loop-Ansatz rekurriert auf die Basisvorstellung, wonach eine fahrdy­namische GroBe in einer Fahrsituation sich als bislang noch nicht naher spezifi­zierte Resultante aus Varianteneigenschaft und Fahrereingabe darstellt. Formal dargestellt bedeutet dies, dass ein Messwert oij der Person i mit der Bedieneingabe ei in der Variante j begriffen wird als

(15.5)

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258 15 Bewertung von Handlingeigenschaften

Dies ist zu lesen als: die individuelle Bedieneingabe erzeugt die individuelle fahr­dynamische GroBe, diese geht in eine individuelle Bewertungsfunktion hi ein und ergibt die subjektive Bewertung sij. Als Pradiktoren flir das Urteil werden in der Regel fahrdynamische Kennwerte verwendet.

Dieser Ansatz ist insoweit unvollstandig, als er auBer Acht lasst, dass die Fahr­handlung sich in der Zeit abspielt. Die Bedieneingabe ist im Closed-loop­Verfahren ebenso wie die fahrdynamische Reaktion als zeitlicher Vektor zu be­greifen. Der Kennwert-Ansatz verkiirzt die zeitliche Dimension, indem er aggre­gierte Parameter aus diesem Vektor bestimmt, wie etwa Maximalwerte, mittlere Werte, Varianzen. Er ist deshalb vollstandig am Ergebnis orientiert und kann so nur noch sehr vermittelt Aussagen damber machen, wie eine Veranderung der Bedienung zustande gekommen ist.

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II

0

III/IV

2 Zeit [sl

V VI

3 4

Abb. 15.4 Lenkradwinkel, -geschwindigkeit und -beschleunigung bei Fahrten mit AHK (durchgezogene Linie) und bei konventioneller Auslegung (gestrichelte Linie).

Zur Demonstration ziehen wir Befunde aus der oben beschriebenen Studie heran, in der die Wahmehmbarkeit und Bewertung der ARK im doppelten Fahrspur­wechsel untersucht wurde. Der zeitliche Verlauf der Lenkeingaben eines Fahrers bei lOOkm/h mit und ohne AHK ist in der folgenden Abb. 15.4 dargestellt. 21

21Die Einteilung des doppelten Fahrspurwechseis in sechs Phasen weicht von der bei Rie­del u. Arbinger (1997) vorgenommenen Einteilung in drei Klassen ab, die an den Lenk-

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15.7 Von der Ergebnis- zur Prozessanalyse 259

In der ersten Einlenkphase sind in beiden Varianten Lenkradwinkel und Lenkge­schwindigkeit vollig identisch. Bereits in Phase 2 zeigt sich aber der erste Unter­schied. Mit ARK bleibt das Lenkradwinkelmaximum von etwa 50 Grad fur etwa 100 Millisekunden stehen, wahrend ohne ARK ohne Raltephase "durchgelenkt" wird. Auch bleibt das Winkelmaximum in Phase 2 ohne ARK nicht stehen, son­dem wird sofort wieder ab- und neu aufgebaut, wahrend mit ARK der maximale Lenkradwinkel fur etwa 200 Millisekunden konstant bleibt. Offensichtlich gelingt es dem Fahrer, die erforderlichen Lenkradwinkel mit der ARK so prazise herzu­stell en, dass er sie fur einige Zeit stehen lassen kann, urn dann erst wieder eine neue Lenkbewegung einzuleiten. Eine Erklarung dafur ware, dass der Fahrer schon in der Bewegung entscheiden kann, wie das Fahrzeug der Lenkbewegung folgt und dadurch in die Lage versetzt wird, die Lenkbewegung so genau zu dosie­ren, dass kompensatorische Aktionen aus einem Uberlenken heraus unnotig wer­den. Diese Systematik setzt sich im weiteren Verlauf des Manovers immer deutli­cher fort. Die Lenkbewegungen ohne ARK werden immer heftiger mit immer groBer werdenden Geschwindigkeiten und immer hoher werdenden Lenkbe­schleunigungen.

Offensichtlich fuhren die Lenkbewegungen bei konventioneller Auslegung zu Fahrzeugreaktionen, die selbst immer wieder starkere Lenkbewegungen auslosen. Der Schliissel zur Losung liegt im Zeitverzug zwischen Lenkeingabe und querdy­namischer Reaktion. Ohne ARK steigt dieser Zeitverzug von etwa 60 Millisekun­den bei Querbeschleunigungen bis 4m/sec2 auf fast 180 Millisekunden bei 9m/sec2

an, wahrend er im Fahrzeug mit ARK iiber den gesamten Bereich bei etwa 60 Millisekunden konstant bleibt. Deshalb bekommt der Fahrer mit ARK vor allem bei hOheren Querbeschleunigungen die Fahrzeugreaktion sehr vie I friiher riickge­meldet und erhalt dadurch die Moglichkeit, sein Lenken genauer an den Stabilisie­rungsbedarf anzupassen. Dadurch vermindert sich die Notwendigkeit zu kompen­satorischen Regelungen, was dem Fahrer Zeit verschafft und zu einer wesentlich ruhigeren Lenkdynamik verhilft. Da gerade die kompensatorischen Lenkbewe­gungen haufig zu einer hoheren Querdynamik fuhren, sich dadurch die Zeitverzii­ge ohne ARK standig vergroBem, kommt der Fahrer sehr leicht in einen Circulus vitiosus, der ihm den Grenzbereich sehr schnell nahe bringt.

Diese verlaufsbezogene Phanomenologie des Lenkverhalten zeigt auf, dass die eingefuhrte Variante nicht nur unterschiedliche fahrdynamische Werte erbringt, sondem dass sich der zeitliche Verlauf des Bedienverhaltens andert. Offensicht­lich ist der bisherige Ansatz, wonach eine fahrdynamische Reaktion sich als Re­sultante aus einer personspezifischen Bedien- und einer variantenspezifischen Fahrzeugeigenschaft im Closed-Ioop-Verfahren gar nicht zu halten, da die Fahrer ihr Bedienverhalten variantenspezifisch andem. Diese Uberlegung fuhrt zu einer interessanten Unterscheidung in den Priifverfahren. 1st der Open-loop dadurch zu charakterisieren, dass er definierte Bedieneingaben einfuhrt und lediglich die fahrdynamischen Reaktionen aufzeichnet, konnte in einem Open-Ioop-Ansatz 2. Ordnung ein Fahrer in das Fahrzeug gesetzt werden, der lediglich die Fahrzeugre-

radwinke1nulldurchgangen orientiert ist. Die neue Einteilung basiert auf psychomotori­schen Analysen des Bewegungsverlaufs.

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260 15 Bewertung von Handlingeigenschaften

aktionen zu beurteilen hat, ohne selbst tatig zu werden. 1m Closed-Ioop-Ansatz 1. Ordnung heiBt die Instruktion an den Fahrer, eine (und wirklich nur eine!) Be­dieneingabe zu ilitigen und darauthin die Reaktion zu beurteilen. Beispielhaft ware dies gegeben, wenn der Fahrer bei einer bestimmten Querbeschleunigung in der Kreisfahrt aufgefordert wiirde, eine Lastwechselreaktion einzuleiten, ohne diese dann kompensatorisch auszugleichen. Nur unter dieser Bedingung geht der Clo­sed-loop in den Open-loop 2. Ordnung iiber. Ab dem Moment, in dem eine fahr­dynamische Reaktion eine weitere, modifizierte Eingabe erzeugt, befinden wir uns im Closed-loop 2. Ordnung, der sich dadurch auszeichnet, dass sowohl fahrdyna­mischer Kennwert wie Bedienung nur noch aus der Wechselwirkung zwischen Fahrer und Variante zu erklaren sind.

Da sich im Closed-loop 2. Ordnung die Bedienung variantenspezifisch andert, konnte man konsequenterweise dazu iibergehen, die Kennwerte fUr eine Variante nicht mehr aus den fahrdynamischen Parametem, sondem aus solchen des Bedien­verhaltens zu berechnen. So wiirde etwa die Lenkradwinkelgeschwindigkeit beim Einlenken in die dritte Gasse in gleicher Weise wie etwa die Querbeschleunigun­gen an dieser Stelle einen deutlichen Variantenunterschied erbringen. Entspre­chende Vorgehensweisen sind in der Literatur auch zu finden. Dabei werden diese BedienkenngroBen als weitere Pradiktoren fUr die subjektive Bewertung verwen­det. Unterstellt wird damit, dass das Ergebnis eines Closed-Ioop-Verfahrens so­wohl aus den aus oij berechenbaren fahrdynamischen Kennwerten wie aus den aus eij bestimmbaren Bedienkennwerten beschreibbar ist. Werden beide Typen von Kennwerten berechnet, erhalt man einen weiteren Pradiktorsatz aus der Bedie­nung, der extrem hoch mit dem Pradiktorsatz aus der Fahrdynamik korreliert und bezogen auf die iiblichen Parameter (Maximalwerte, Mittelwerte und Varianzen) lediglich eine andere Beschreibungsform des Fahrergebnisses ist.

Ganz konsequent auf die Bedienseite wechseln Jiirgensohn u.a. (1999), wenn sie fordem, kiinftig fahrzeug- und manoverunabhangige Kennwerte zu berechnen, die allein aus dem Bedienverhalten abzuleiten seien und diese dann in die Bewer­tungsfunktion einzusetzen. Sicherlich ist darin eine kontrapunktisch fruchtbare Position zu sehen, die aber - sollte sie iiberhaupt empirisch darstellbar sein - wei­terhin auf "zeitlose" Kennwerte setzt. Sie ist damit wie aIle bisherigen Ansatze sicherlich geeignet, die Beurteilung im Closed-loop 1. Ordnung zu beschreiben, nicht aber die in dem 2. Ordnung. Der Grund ist einfach darin zu sehen, dass bei einmaliger Bedieneingabe und anschlieBender Beurteilung der fahrdynamischen Reaktion die zeitliche Folge im Sinne einer Ursache-Wirkungs-Beziehung eindeu­tig ist. Genau dies fUhrt dazu, dass die Bedieneingabe ei unabhangig ist von der Variante. Dadurch wird die Interpretation eindeutig. Bereits beim nachsten zeitli­chen Schritt einer emeuten Bedieneingabe wird diese von der vorausgegangenen fahrdynamischen Reaktion abhangig und wir kommen in einen systemischen Zu­sammenhang, der nur noch iiber eine Sequenz von Input-Output-Variablen zu be­schreiben ist. Werden wie iiblich aggregierende Kennwerte aus bebachtbaren Gro­Ben berechnet, geht dieser zeitliche Bezug verloren. Ein korrelativer Ansatz mit solchen KenngroBen kann dann nur noch Zusammenhange beschreiben, nicht aber mehr Ursache-Wirkungs-Beziehungen priifen, die eine eindeutige Bestimmung des Vorher-Nachher voraussetzen. Die entscheidende Frage im Closed-Ioop-An-

Page 265: Kraftfahrzeugführung ||

Literatur 261

satz ist deshalb, wie sich der Interaktionsprozess zwischen Fahrer und Fahrzeug abspielt. Die Antwort ist nur durch Betrachtung des zeitlichen Verlaufs selbst zu finden. Der Ansatz iiber "zeitlose" Kennwerte ist bestenfalls als eine heuristisch fruchtbare Niiherung an dieses Ziel zu sehen. Er muss in die eigentliche Frage des "Subjektiv-Objektiv"-Ansatzes bei querdynamischen Manavem miinden, ob ein Fahrzeug in der Lage ist, die individuelle Handschrift des Lenkens so zu modifi­zieren, dass ein fahrdynamisch unkritischerer Zustand erreicht wird. Hierzu sind zuniichst verlaufsbezogene Kennwerte zu entwickeln. Diese sind dann darautbin zu iiberpriifen, ob sie nicht die eigentliche Grundlage der subjektiven Bewertung von Handlingeigenschaften darstellen.

15.8 Zusammenfassung

Die Modellvorstellung einer allgemeinen "Handlingformel", die iiber regressions­und korrelationsstatistische Verfahren bestimmt werden kann, wird methodisch und inhaltlich untersucht. Die statistische Modellierung ist bei niiherer Betrach­tung von einer Reihe von Voraussetzungen abhiingig, die vor einer Interpretation von Regressions- und Korrelationskoeffizienten empirisch iiberpriift werden miis­sen. Mehrere in der Literatur angegebene Auswerteverfahren miissen vor diesem Hintergrund in Zweifel gezogen werden. Weiter wird gezeigt, dass der iibliche Ansatz der Kennwertberechnung nur dann eine Interpretation erlaubt, wenn die Bedieneingaben unabhiingig sind von den fahrdynamischen Reaktionen des Fahr­zeuges. Dies liegt daran, dass die Kennwertberechnung rein ergebnisorientiert ist und keine Aussagen iiber die prozessuale Abhiingigkeit zwischen Bedienungsgra­Ben und fahrdynamischen GraBen macht. Eine Detailanalyse des Fahrens zeigt aber auf, dass nicht nur die fahrdynamischen GraBen durch die Bedienung beein­flusst werden, sondem unterschiedliche Varianten auch die Bedienung selbst iin­demo Bedienung und fahrdynamische Reaktion sind im Closed-loop als ein riick­gekoppeltes System zu begreifen, dessen Struktur sich nur in der verlaufsorientier­ten Betrachtung enthiillt. Der eigentliche Gegenstand der Forschungen zu den Handlingeigenschaften - und damit auch zu deren Bewertung - ist deshalb die manaverspezifische Interaktion von Fahrer- und Fahrzeugeigenschaften. Hierrur ist eine neue Untersuchungs- und Auswertungsmethodologie zu entwickeln.

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16 Sinn und Sinnlichkeit - psychologische Beitrage zur Fahrzeuggestaltung und -bewertung

Guido Beier, Norbert Boemak und Gotz Renner

16.1 Bedeutung der Psychologie fOr die Fahrzeugforschung

Die Art und Weise, wie ein Fahrzeug erfolgreich am Markt platziert werden kann, hat sich drastisch gewandelt. Dies gilt insbesondere seit sich die Zahl der unab­hlingigen Automobilhersteller mehr und mehr verringert, Automobilmarkennamen entweder ganz verschwinden oder unter einer Dachmarke vereint werden und die Zulieferer der Automobilhersteller einen erheblichen Teil der technischen Ent­wicklung von Fahrzeugen iibemommen haben. Die Fahrzeuge verschiedener Her­steller werden fUr den Kunden technologisch immer weniger differenzierbar, da ganze Module oder Plattformen zwischen Fahrzeugen ausgetauscht werden und technische Innovationen wegen der enormen Entwicklungskosten nur fUr kurze Zeit einem einzelnen Fahrzeug oder einer Fahrzeugmarke als Alleinstellungs­merkmal zur Verfiigung stehen.

Daran wird deutlich, dass eine rein "technologiegetriebene" Entwicklung von Fahrzeugen aufgrund des immer geringeren Differenzierungsvorteils in Bezug auf den Markterfolg in eine Sackgasse fUhren wiirde. Der Weg, diese Sackgasse zu vermeiden, besteht darin, so fruh wie moglich die Marktbediirfnisse - genauer: die Anforderungen und Wiinsche des Kunden und Nutzers - in die Entwicklung mit einzubeziehen.

Es geht dabei urn die Vermittlung zwischen "Sinn und Sinnlichkeit" des Pro­dukts - den rationalen Anforderungen an das Fahrzeug einerseits und dem subjek­tiven Erleben des Fahrzeugs mit den fUnf Sinnen des Menschen (einschlieBlich eines "intuitiven Bauchfaktors") andererseits. Ein Fahrzeug muss fUr den Kunden attraktiv sein, also in der When Annliherungsphase eine Anziehungskraft im Sin­ne einer Qualitlits- und Stilanmutung haben. Spliter muss es den Besitzer zufrie­denstellen, was nicht nur die Grundlage fUr eine loyale Kundenbeziehung schafft, sondem z.B. auch den Wiederkaufund das cross-selling sicherstellt.

Die technologiegetriebene Fahrzeugentwicklung muss also in einem stlirkeren MaBe durch einen kundengetriebenen Ansatz erglinzt werden. In genau diesem Spannungsfeld zwischen Technik und Kunde sind die Haupttlitigkeitsfelder der psychologischen Forschung in der Fahrzeugentwicklung angesiedelt.

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264 16 Sinn und Sinnlichkeit

16.1.1 Tatigkeitsfelder psychologischer Forschung in der Fahrzeugentwicklung

Die Tatigkeitsfelder psychologischer Forschung in der Fahrzeugentwicklung las­sen sich entlang des gesamten Produktentstehungsprozesses eines Fahrzeugs be­ziehungsweise Fahrzeugsystems (z.B. eines Assistenzsystems) anordnen. Am Anfang dieses Prozesses steht grundsatzlich die Frage, welches Fahrzeug fiir wel­ches Kundensegment entwickelt werden solI (im Falle der Neuproduktentwick­lung), beziehungsweise wie ein Fahrzeugtyp weiterentwickelt werden sollte, urn das entsprechende Kundensegment zu halten oder zu erweitem. Hier sind die ganzheitlichen, also sowohl die rationalen wie auch die emotionalen Kundenan­forderungen zu beschreiben.

In den weiteren Prozessstufen der Produktentstehung werden verschiedene Fahrzeugentwiirfe in Form von Skizzen visualisiert und danach in sog. "Mock­ups" beziehungsweise "Sitzkisten" modelliert, wodurch die ersten Bewertungen aus Kundensicht moglich werden. In dieser ersten Realisierung von Produktent­wiirfen lassen sich erstmals zwei Felder der psychologischen Arbeit differenzie­ren. Eine Richtung besteht im kognitiv-ergonomischen Ansatz, der sich mit der Bedienbarkeit des Fahrzeugs auseinandersetzt und damit den Hygienefaktor Be­dienkomfort und Bediensicherheit betrifft, wahrend ein zweites Feld die Attraktivi­tiit und Akzeptanz des Fahrzeugs oder eines Fahrzeugaspekts zum Gegenstand hat. Dieses Feld geht tiber Einzelaspekte wie den der Bedienbarkeit hinaus und befasst sich z.B. mit der Qualitiit des Interieurs. Dabei stehen Fragen im Mittelpunkt wie: 1st die empfundene InnenraurngroBe ausreichend, welche von ergonomisch gleich guten Cockpitaltemativen hat die hOchste Qualitiitsanmutung und passt am besten zurn Fahrzeugkonzept, welche Oberflachen der Innenraumverkleidung sind unter Gesichtspunkten der haptischen Wertanmutung optimal, welches Sicherheitsge­fiihl haben Insassen in einem B-Saulen-freien Fahrzeug? Die zuverliissige Erfas­sung solcher "Soft-Faktoren" setzt umfangreiches Erfahrungswissen voraus, wo­bei hier in methodischer Hinsicht eine Mischung aus qualitativ-explorativen und quantitativ-experimentellen Vorgehensweisen zu bevorzugen ist.

Entstehen in der weiteren Entwicklung die ersten fahrtiichtigen Prototypen, konnen unter anderem die dynamischen Eigenschaften des Fahrzeugs psycholo­gisch bewertet werden, wobei hier der Bereich des Fahrkomforts (z.B. sportlich vs. komfortbetont) im Vordergrund steht. Diese Aspekte unterliegen primiir ki­nasthetischen Empfindungen (Beschleunigungen in den Raumachsen) oder auch akustischen Eindriicken yom Antriebstrang (vgl. dazu auch Kap. 16.2). Hierbei stellt sich die Frage nach den physikalischen Determinanten des subjektiven und damit psychologisch wirksamen Fahreindrucks. Die dafiir notwendigen Messver­fahren sind einerseits exakt parametrisierte Messfahrten und andererseits validierte Fragebogenskalen zur Erfassung der jeweiligen Eindrucksaspekte. Derartige Er­hebungen konnen gegebenenfalls mit physiologischen Beanspruchungsmessungen gekoppelt werden, die anhand der K6rperfunktionen des Fahrers oder der Passa­giere deren objektive Beanspruchung erfassen.

Ais abschlieBendes psychologisches Tatigkeitsfeld im Rahmen der Fahrzeug­entwicklung sollte ein Ansatz nicht vergessen werden, der hiiufig erst in einer sehr

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16.1 Bedeutung der Psychologie 265

spaten Phase, manchmal sogar erst nach der Markteinfuhrung zur Anwendung kommt: die Verhaltensbeobachtung und Befragung des Kunden beim Langzeit­gebrauch eines Fahrzeugs oder Fahrzeugsystems. Solche Studien ermoglichen Aussagen dariiber, ob ein Produkt - jenseits der anfanglichen Attraktivitat fur den Kaufinteressenten - den Besitzer und Nutzer auch langfristig zufrieden stellt. Der Input aus dem Langzeitgebrauch gibt die entscheidenden Hinweise fur die Weiter­entwicklung des Produkts, urn eine maximale Obereinstimmung zwischen Kun­denanforderungen und technischer Ausgestaltung zu erzielen.

Was sind nun die Besonderheiten des Produkts Fahrzeug, die diese breite Palet­te an psychologischen Fragestellungen und Tatigkeitsfeldern ausmachen?

16.1.2 Besonderheiten bei der Gestaltung von Fahrzeugen als Gegenstand der Alltagstechnik

Die ergonomische Gestaltung von technischen Systemen im Arbeitsumfeld hat eine weitreichende Tradition und fuhrte unter anderem zur Festlegung zahlreicher verbindlicher Normen (etwa der DIN EN ISO 9241 uber "Ergonomische Anforde­rungen fur Burotatigkeiten mit Bildschirmgeraten"). Der Bereich der alltaglichen (und zumeist rein privaten) Techniknutzung weist demgegenuber einige Beson­derheiten auf. Drei Spezifika von Alltagstechniken soil en im folgenden kurz skiz­ziert werden.

• Vielfalt der NutzerHihigkeiten Alltagstechnik wird von jedem benutzt. Daraus ergibt sich eine groBe Band­breite an Erfahrungen und Fahigkeiten im Umgang mit technischen Geraten, was zur Konsequenz hat, dass eine einheitliche Beschreibung von Benutzerfa­higkeiten kaum moglich ist. Fur die Technikgestaltung im Automobil bedeutet dies zum einen, dass Losungen gefunden werden mussen, die ohne hohen Lernaufwand bedienbar sind. Des weiteren gewinnen Nutzerklassifikationen an Bedeutung, die - neb en der reinen Wissens- und Fiihigkeitsebene - auf Per­sonlichkeitsmerkmale als anniihernd stabile Klassifizierungskriterien rekurie­ren (vgl. dazu auch Abschnitt 16.3.2).

• Vielfalt von Nutzungszielen und -motiven 1m Arbeitsleben resultieren die Aufgaben und Ziele von Benutzern technischer Gerate uberwiegend aus den jeweiligen betrieblichen Erfordernissen. Diese lassen sich zumeist gut beschreiben und eingrenzen. Bei der Alltagstechnik zeigt sich ein anderes Bild: hier entscheidet der Benutzer entsprechend seinen personlichen Motiven. Fur die eine Person mag das Auto primar ein zweckma­Biges Transportmittel sein, einer anderen Person mag es als Statussymbol die­nen, eine dritte Person mag sich vor aHem an den technischen Fahreigenschaf­ten erfreuen. Die daraus resultierende Konzeption von Gestaltungsvarianten, die den individueHen Nutzerzielen Rechnung tragen muss, ist somit eine groBe Herausforderung.

• Produktakzeptanz Die Akzeptanz eines technischen Systems ist fur dessen Einfuhrung im Ar­beitsbereich durchaus fOrderlich - fur die Alltagstechnik ist sie aber die ent-

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266 16 Sinn und Sinnlichkeit

scheidende GroBe. 1m betrieblichen Kontext hangt die Akzeptanz neuer Sys­teme insbesondere davon ab, in welchem Umfang sie die Arbeitsablaufe er­leichtern. Dabei spielen vor allem die an den Arbeitsaufgaben orientierten Be­wertungsprozesse eine Rolle. Bei einer Vielzahl von technischen Systemen im Alltagsleben - und dazu zahlt auch das Auto - hiingt die Akzeptanz insbeson­dere von emotionalen Faktoren abo Das Produkt muss seinen Zweck erfiilIen, aber es muss vor allem auch gefallen. Fiir beide Bereiche - fiir die Arbeit und fUr den Alltag - gilt: durch die Einbeziehung der Nutzer in den Entwicklungs­prozess kann die Akzeptanz erheblich gesteigert werden.

Welche Bedeutung haben diese Kriterien alltaglicher Techniknutzung fUr die psychologische Gestaltung von Kraftfahrzeugen? Diese Frage solI am Beispiel von drei Aspekten diskutiert werden, die im Zentrum dieses Kapitels stehen:

1. Bedeutung der sinnlichen Anmutung fUr die Produktakzeptanz, 2. Subjektiver Unterstiitzungsbedarf durch Assistenzsysteme als aufgaben- und

benutzerorientierter Zugang sowie 3. Einfliisse der Personlichkeit auf den Unterstiitzungsbedarf durch Assistenz­

systeme.

Bevor wir naher auf die genannten Aspekte eingehen, solI ein kurzer Uberblick iiber ausgewahlte methodische Ansatze der psychologischen Fahrzeugbewertung gegeben werden.

16.1.3 Methodenbeispiele psychologischer Fahrzeugforschung

Die psychologische Analyse von Fahrzeugen und fahrzeugtechnischen Innovatio­nen hat stets mit der Beziehung zum Menschen (als Kaufinteressent, Fahrer oder Kunde) zu tun - mit seinenlihren Motiven, Einstellungen, Werten, Fahigkeiten und Wahrnehmungsstilen. Wegen der Komplexitat und Vielfliltigkeit von Frage­stellungen, denen man in diesem Bereich gegeniibersteht, kommt ein breites Spek­trum an ergonomischen, psychologischen und sozialwissenschaftlichen For­schungsmethoden in Betracht. Tabelle 16.1 zeigt eine Auswahl von Verfahren, die in der Fahrzeugakzeptanzforschung haufig zurn Einsatz kommen.

Bei der Analyse von Wahrnehmungsleistungen geht es urn die Frage: was kann vom Autofahrer wie gut identifiziert und differenziert werden? Ein Beispiel hier­fUr ist die Erkennbarkeit von Anzeigen oder die Differenzierung von haptischen Qualitaten flachiger Interieurmaterialien. Hier sind vor allem die zahlreichen Ver­fahren der "Psychophysik" von Bedeutung.

Bei der Analyse von fahrzeugbezogenen Anmutungsqualiiliten und Assoziatio­nen geht es z.B. urn die psychologische Wirkung optischer Erscheinungsbilder oder urn die Analyse akustischer Eindrucksqualitaten fUr das Sounddesign von fahrzeugspezifischen Zielgerauschen. Dafiir stehen zahlreiche Methoden zur Ver­fiigung. So ist das Polaritatsprofil (oder Semantisches Differential, s. auch den Beitrag von Kolrep und Fankhauser, Kap. 14) eine beliebte Methode, urn Assozia­tionen und Bedeutungen in einem mehrdimensionalen Wahrnehmungsraum darzu­stellen. Multidimensionale Skalierung (MDS), Faktorenanalyse, Clusteranalyse

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16.1 Bedeutung der Psychologie 267

und auch die Conjointanalyse sind in erster Linie statistische Verfahren, mit denen man die wechselseitigen Bedingungszusammenhange zwischen Eindrucksqualita­ten und ihre psychologische Bedeutsamkeit untersuchen kann. Die Grid-Technik ist eine Methode, mit der man auf der Grundlage von Ahnlichkeitsvergleichen zu­nachst die fur den Kunden relevanten Beurteilungsdimensionen von Produkten (Fahrzeugen) auf qualitative Weise erheben kann, urn dann in einem weiteren Schritt die wahrgenommenen Produktahnlichkeiten auf den eruierten Dimensio­nen quantitativ darzustellen.

Tabelle 16.1 Methoden- und Anwendungsbeispiele psychologischer Fahrzeugforschung

Wahrnehmungs- Anmutungs- Werthaltungen Nutzer-

leistungen qualitaten Einstellungen anforderungen

Methodenbeispiele

- Psychophysische - Polaritatsprofil - Validierte Frage- - Focusgruppen

Verfahren. z.B. - Faktoren- und bogenskalen - Situationsanalysen

- Signaldetektion Clusteranalyse - Psychologische - Defizitanalysen - Konstanz- - Multidimensionale T estverfahren - Nonverbale Me-

methode Skalierung (MDS) - Computergestiitz- thoden - Magnitude- - Conjointanalyse te Assoziations- - Blickbewegungen.

Skalierung - Grid-Technik tests physiologische

Beanspruchungs-

messung

Anwendungsbeispiele

- Erkennbarkeit - Stilistischer Ein- - Markenimages - Bewertung neuer

von Anzeigen druck von Interi- - Einstellungen Fahrzeugkonzepte

- Rauhigkeit von eur- und Exterie- gegeniiber Pro- - Ableitung und

Motorgerauschen urmerkmalen duktkategorien Gestaltung von - Haptische Unter- - Sound design von - Werthaltungs- Assistenzsyste-

schiede von fla- Motorgerauschen typologien von men chigen Interieur- - Taktile Wertan- Konsumenten - Bewertung von materialien mutung technischen Neu-

- Differenzierung - Neuwagengeruch erungen von Duftnuancen

im Fahrzeug

Ein wei teres Thema ist die Analyse von Werthaltungen, Erwartungen und Ein­stellungen des Kunden. Dazu gehOrt z.B. die Einstellung gegenuber der Marke oder einzelner Produktkategorien. Fur die Erfassung solcher Einstellungen sind FragebOgen und psychologische Tests geeignet, die nach "Testgutekriterien" (Re­liabilitat, Validitat, Trennscharfe usw.) uberpriifbar sein mussen.

Fur die Ableitung und Gestaltung erfolgreicher Fahrzeuge oder Fahrzeugssys­teme ist schlieBlich die Analyse der Nutzeranforderungen unabdingbar. Neben Methoden, die Informationen aus verbalem Datenmaterial gewinnen (wie etwa der moderierten Diskussion in Focusgruppen), kommen auch hier nonverbale Metho-

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268 16 Sinn und Sinnlichkeit

den zum Einsatz. Beispiele sind die Beanspruchungsmessung durch physiologi­sche Parameter oder die Analyse von Blickbewegungen als Indikator kognitiver Vorgange.

16.2 Die sinnliche Wahrnehmung als Determinante der Fahrzeugakzeptanz

Autos sind - wie andere gegenstandliche Produkte auch - Objekte der menschli­chen Wahmehmung. Gegenuber anderen Produktkategorien definieren sie sich primar durch ihren zweckrationalen Wert als Fortbewegungs- und Transportmittel, wahrend sie sich untereinander in vieWiltiger Weise unterscheiden. Mit dem Auge lassen wir uns von ihrem Erscheinungsbild beeindrucken, mit dem Ohr erleben wir ihr Gerauschverhalten, beim Beruhren von Oberflachen und Bedienelementen im Fahrzeuginnenraum gewinnt man einen Eindruck von den Materialeigenschaf­ten und den mechanischen Funktionen, beim Sitzen kann man sich einen Eindruck uber ihren Komfort verschaffen, beim Fahren und Beschleunigen gewinnt man ein Gefiihl von ihrer Dynamik und StraBenlage, und schlieBlich wird auch der Ge­ruchssinn angesprochen, was insbesondere bei Neuwagen gelegentlich die Auf­merksamkeit auf sich zieht. Durch die sinnlichen Erlebnisse wird der psychologi­sche Zugang zum Objekt Auto hergestelIt, und wenn man den Gedanken konse­quent we iter verfolgt, wird man zu der Feststellung kommen mussen, dass das Auto aus psychologischer Sicht ein Komplex unzahliger sensorischer Empfindun­gen und Eindrucksqualitaten ist, die in der Wahmehmung zu bedeutungshaltigen Einheiten verdichtet und schlieBlich als eine komplexe Gestalt erlebt werden. Das schlieBt nicht aus, dass das gesamte "Bild", das sich jemand von einem Fahrzeug macht, auch von den Erfahrungen und Wissensbestanden abhangig ist, die er oder sie mit den sinnlichen Produktbotschaften verbindet.

Es liegt deshalb auf der Hand, dass die Wechselwirkungen und Beziehungen zwischen Mensch und Fahrzeug - insbesondere wenn es urn Fragen der Produkt­akzeptanz und der Fahrzeugattraktivitat geht - nicht zureichend beschrieben wer­den k6nnen, wenn man die subjektiv erlebten Eindrucke und Anmutungsqualitaten seitens des Kaufinteressenten, Fahrzeugbesitzers oder Passanten auBer Acht lieBe.

Bei der konzeptionellen Analyse von Kaufmotiven wird oft zwischen "rationa­len" und "emotionalen" Motiven unterschieden. Obwohl diese Unterscheidung aus psychologischer Sicht nicht ganz unproblematisch ist, hat sie doch deutlich ge­macht, dass sich ein Kaufinteressent nicht nur von Produktmerkmalen wie dem Preis, den Unterhaltskosten oder der Wertbestandigkeit leiten laBt (rationale Moti­ve). Die eigentliche Faszination, die von einem Auto ausgehen kann, wird oftmals durch solche Produktmerkmale ausgel6st, die im unmittelbaren Kontakt mit dem Objekt erlebt werden - und dies sind in aller Regel die sinnlichen Botschaften (vgl. hierzu auch Spiegel, 1998). Ein attraktives Erscheinungsbild kann faszinieren und ein gesteigertes Interesse am Auto bewirken, wahrend ein zu brummiger Sound in unangenehmer Weise auf fallen und ein ursprunglich vorhandenes Inte­resse im Extremfall vielleicht zunichte machen kann.

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16.2 Die sinnliche Wahrnehmung 269

Die Forschungsfragen und Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Ges­taltung und Optimierung sensorisch erIebbarer Eigenschaften des Autos stellen, sind auBerordentlich vieiHiltig und komplex. Wir konnen in diesem Kapitel nicht auf die Zie1e, die Arbeitsmethoden oder gar auf die zahlreichen Zielkonflikte von Automobildesignern, F ahrzeugakustikern, Materialforschern, F ahrwerkskonstruk­teuren und anderen Fachkraften im Automobilbau eingehen. Sie aIle haben es aber in zunehmendem MaBe mit dem Thema "Kundenorientierung" zu tun. Die Wiin­sche und Erwartungen des Kunden, seine Einstellungen und seine Beurteilungs­maBstabe sind bei der Entwicklung eines neuen Fahrzeugmodells oder beim Face­lift einer am Markt befindlichen Baureihe mit zu beriicksichtigen.

16.2.1 Einige grundlegende Aspekte menschlicher Wahrnehmung

1m Folgenden wird naher auf einige grundlegende wahrnehmungspsychologische Aspekte eingegangen, die fUr die kundenorientierte Gestaltung sensorischer Pro­duktqualitaten niitzlich sein konnen. Selbstverstandlich ist dies nur eine begrenzte Auswahl dessen, was die Wahrnehmungsforschung in diesem Zusammenhang an­zubieten und zu leisten vermag.

• Informationsverdichtung und Kanalkapazitat 1m sinnesphysiologischen Modell wird der Mensch als ein informationsverar­beitendes System konzipiert, das Sinnesreize empfangt, filtert und verdichtet, fUr eine kurze Zeitdauer bewusst erIebt, einen geringen Anteil dieser ErIebnis­se im Langzeitgedachtnis speichert und auf der Grundlage dieser Informatio­nen sein Verhalten steuert. Was in diesem Prozess geschieht, ist eine gewaltige Informationsverdichtung. Uber die riesige Anzahl von Rezeptorzellen - insge­samt etwa 300 Millionen allein fUr die fUnf AuBensinne des Menschen - kon­nen bis zu 10 Millionen bits in der Sekunde empfangen werden, wahrend unser Bewusstsein aber nur bis zu 100bits/s verarbeiten kann (z.B. Keidel, 1976, S. 47ff). Durch die Augen ge1angen dabei etwa 40bits und durch die Ohren etwa 30bits ins Bewusstsein, wahrend es bei den Hautsinnen nur etwa 5 und bei der Nase und der Zunge jeweils nur 1 bis 2bits sind. Unter Kapazitlitsgesichts­punkten dominieren also der optische und der akustische Sinn.

• Sensorische Differenzierungsleistungen Wie fein kann der Mensch mit seinen Sinnessystemen differenzieren? Der a­merikanische Psychophysiker Stanley S. Stevens (z.B. Stevens, 1961) hat hier einen Ansatz entwickelt, mit dem die verschiedensten Wahrnehmungsqualitli­ten hinsichtlich ihres "Dynamikbereiches" verglichen werden konnen. Zum Beispiel wurde die Intensitat von Lichtquellen variiert, und die Testpersonen sollten angeben, urn welchen Betrag sich ihre Helligkeit im Vergleich zu ei­nem Standardreiz verandert. Das Verfahren wurde auf verschiedenste Sinnes­qualitaten angewandt, und iiberall konnte der Zusammenhang zwischen Reiz­intensitat und wahrgenommener Empfindungsintensitat durch eine Potenz­funktion beschrieben werden (Abb. 16.1).

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270

2.0

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"' I: go -'

0 0

16 Sinn und Sinnlichkeit

1.0 2.0 Log Stimulus Intensity

c: o .~

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Electric Shock

g 1.01-------::I~ VI

o 1.0

Physical Intensity

Abb. 16.1 Zusammenhange zwischen Reiz- und Empfindungsintensitaten

Vibration

Nach Logarithmierung beider Gleichungsseiten der Potenzfunktion erhalt man lineare Funktionen, deren Steigung durch den Exponenten definiert ist. Fur die Helligkeitswahmehmung ergibt sich eine Steigung von 0.5, fiir die Liingen­wahmehmung eine Steigung von 1.0 und fiir die durch elektrische Schocks in­duzierte Schmerzwahmehmung eine Steigung von 3.5 (Abb. 16.2).

Helligkeit

Uingenwahrnehmung

FlachengroBe

Rotsiittigung

Geruch am Beispiel

Lautheit

Geschmack

Vibrationsempfindung

Harte elastischer Materialien

Druckempfindung

W armeempfindung

Kalteempfindung

Rauhigkeit von Textilien

Schwere von Gegenstanden

Schmerzempfindung

~

:::::::::J

===:J

0,0 O,S 1,0

Sehen

Riechen

Horen Schmecken

Tasten und Flihlen

I,S 2,0 2,S 3,0 3,S

Exponent der Stevens'schen Potenzfunktion

Abb. 16.2 Differenzierungsleistung fUr verschiedene Wahmehmungsqualitaten

Was bedeuten diese Koeffizienten? Eine Gerade wird umso steiler, je geringer der Reizstarkenzuwachs ist, der von der eben iiberschwelligen Empfindung zu

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16.2 Die sinnliche Wahrnehmung 271

der maximal maglichen Empfindungsstiirke fiihrt. Bei einer sehr steilen Gera­den - wie beim Schmerz - liegen minimale und maximale Reizstiirke sehr na­he beieinander, und das bedeutet nichts anderes, als dass es beim Schmerz nur sehr wenige unterscheidbare Reizstufen gibt. Der Schmerz ist demnach ein Wamsignal, bei dem man sofort mit Macht reagiert, schon wenn er sich nur ein wenig verstiirkt. Dagegen bilden sich bei der Helligkeits- und Lautheitswahr­nehmung die Unterschiede der Umwelt in einer hochdifferenzierten Empfin­dungsstiirkenskala abo Dies ist ein weiteres Indiz dafiir, wie leistungsrlihig das Auge und das Ohr ist. Bei den Hautsinnen zeigen sich ganz unterschiedliche Differenzierungsleistungen, was z.B. fur die Komfortwahmehmung im Auto von erheblicher Bedeutung ist.

• Reiziiberflutung und Reizarmut Sinneserlebnisse kannen auch liistig werden. Den ohrenbetiiubenden Krach ei­nes Schlagbohrers hiilt man nur fiir kurze Zeit aus, zu laute Fahrgeriiusche bei einer mehrstiindigen Autobahnfahrt kannen den Fahrer miirbe machen, und zu intensive Lichtreize werden als unangenehme "Reiziiberflutung" erlebt (Abb. 16.3). Der akustische Sinn ist hier besonders betroffen, wohl vor aHem deshalb, wei I das Ohr keine Verschlussvorrichtung wie das Auge hat. Man sagt deshalb auch, dass durch das Ohr die Welt zu uns kommt, wiihrend wir mit dem Auge in die Welt hineingehen und sie aktiv erkunden. Am anderen Ende der Unannehmlichkeiten liegt die "Reizarmut". Ein Autofahrer, der in seinem Auto kaum noch etwas hart oder keine Vibrationen mehr verspiirt, wird iiber einen Mangel an Orientierung und wohl auch iiber Langeweile klagen. Men­schen, denen es elementar an Sinneseindriicken fehlt, beginnen allmiihlich da­mit, sich das erforderliche MaB an Sinnesreizen durch Halluzinationen selbst "herbeizuzaubem". In der Konsequenz heiBt das: man braucht auch als Auto­fahrer ein "gesundes" MaB an Sinneserlebnissen, was bei der Fahrzeugkonzep­tion beriicksichtigt werden muss.

Wohlempfinden

Reizarmut Reizuberflutung

! Orientierungsdefizit Belastigung Langeweile Stress Deprivation Schmerz

Abb. 16.3 Reiziiberflutung und Reizarmut

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272 16 Sinn und Sinnlichkeit

• Kognitive und motivationale Einfliisse Die menschliche Wahmehmung ist ein ausgesprochen subjektiver Vorgang, weshalb es auch so schwierig ist, die Asthetik von Farben und Formen, die Liistigkeit von Gediuschen oder die taktilen Qualitaten von Materialoberfla­chen durch physikalisch messbare Reizeigenschaften vorherzusagen. Wir wol­len auf drei Einflussgro13en etwas naher eingehen, die die Subjektivitat der mensch lichen Wahmehmung ausmachen (vgl. Abb. 16.4).

Da ist zum einen das Universum von Erfahrungsbestanden, die man im Lang­zeitgedachtnis gespeichert hat. Wenn eine Person das Gerausch eines Fahrzeuges hort, kann sie in der Regel ohne gro13e Schwierigkeiten erkennen, ob es sich urn einen Lkw oder einen Pkw handelt. Und was geschieht, wenn sie danach beurtei­len soil, wie laut sich das Gerausch anhOrt? Dann wird sie unmittelbar auf ihre Erfahrungen mit diesen Fahrzeugkategorien zUrUckgreifen, was dazu fUhrt, dass ein Pkw-Gerausch von 85dB als sehr laut, ein Lkw-Gerausch mit demselben Pegel dagegen als moderat oder sogar leise beurteilt wird. In der Psychologie spricht man hier von subjektiven Bezugssystemen.

Wahrnehmungskontexte

Motive Bedurfnisse Handlungsziele

storend? aufregend?

Abb. 16.4 Kognitive und motivationale Einfliisse aufWahrnehmung und Bewertung

Ein zweites Beispiel sind die Wahrnehmungskontexte. Die menschliche Wahr­nehmung ist immer ganzheitlich und relativ, sie nimmt Bezug auf alles, was sich in ihr abspielt. Der schwarze Mann in Abb. 16.4 ist stets gleich gro13, aber seine Gro13e erscheint dem Betrachter sehr unterschiedlich - je nachdem, vor welchem Hintergrund man ihn sieht. Den Begriff des "Hintergrundes" kann man auch all­gemeiner fassen, und dann kommt man zu der Einsicht, dass ein sinnliches Erleb­nis niemals fUr sich alleine steht, sondem fortwahrend mit aHem verglichen wird, was an Informationen im Sensorium oder im Gedachtnis zur VerfUgung steht (Prinzip der Ganzheitlichkeit).

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16.2 Die sinnliche Wahrnehmung 273

SchlieBlich wird die Wahmehmung auch durch Motive, Bediirfnisse und Hand­lungsziele beeinflusst (s. auch die Beitrage von Jiirgensohn und Irmscher in die­sem Band, Kap. 7,8). Will man Klavier spielen, wird das Gerausch eines iiberflie­genden Hubschraubers we it mehr storen, als wenn man selbst als Pilot in dies em Hubschrauber sitzt. Wenn man abends spazieren geht und Ruhe haben will, wer­den Autogerausche weit mehr storen, als wenn man im abendlichen Femsehen ein spannendes Autorennen verfolgt. Und derjenige, der grundsatzlich etwas gegen Verkehr oder Dynamik hat, wird die Welt ganz anders wahmehmen als jemand, fUr den oder die der Verkehr zum Leben gehort oder eventuell sogar das Leben bedeutet.

16.2.2 Die Analyse sinnlicher Anmutungsqualitaten am Beispiel von Motorgerauschen

1m Folgenden solI etwas naher auf einen Bereich des sinnlichen Produkterlebens von Fahrzeugen eingegangen werden, der gegeniiber der Stilistik und dem opti­schen Erscheinungsbild oft als weniger bedeutsam eingeschatzt wird. Dabei nimmt die Akustik im Rahmen der Fahrzeugentwicklung einen nicht unerhebli­chen Stellenwert ein. Aufgrund der hohen Anzahl von bewegten Teilen im Kraft­fahrzeug gibt es eine Vielzahl VOn schwingungstechnisch relevanten Bauteilen. Von den etwa 10.000 Einzelteilen eines Automobils sind ungefahr 200 Bauteile von entscheidender Bedeutung fUr die Gerauschemissionen eines Fahrzeuges. Dabei haben Motor, Fahrtwind und Reifen den groBten Einfluss auf das Innenge­rausch, aber auch aIle weiteren am Antrieb beteiligten Komponenten - wie An­saug- und Abgasanlage, Ventilator, Getriebe, Antriebswellen sowie Radaufhan­gungen, Nebenantriebe und Betatigungselemente - tragen zum Gesamtgerausch eines Fahrzeuges bei.

Eine wichtige Aufgabe der Fahrzeugakustik ist es auch heute noch, durch "pas­sive" MaBnahmen der Schallreduzierung (z.B. durch konstruktive Eingriffe direkt an der Schallquelle oder durch "SekundarmaBnahmen" wie etwa der Motorkapse­lung) die strengen gesetzlichen Vorschriften iiber zuliissige Emissionsgrenzwerte beim Auj3engeriiusch zu erfUllen (die einschlagigen Messvorschriften hierfUr sind in zahlreichen Normen festgelegt, z.B. DIN ISO 362, ISO 5130, ISO 7188). Seit Beginn der 90er Jahre hat sich aber auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Qualitiit des Innengeriiusches ein wichtiger Bestandteil fUr den erlebten Fahrkom­fort ist. Neben den Komfortaspekten des Fahrzeuginnengerausches geht es, insbe­sondere bei Pkws, in zunehmendem MaBe auch urn die Gestaltung eines herstel­lertypischen und fahrzeugspezifischen Gerauschbildes (Corporate Sound). "Nur leise, das ist Schnee von gestem" - so wurde diese Zielvorgabe einmal in einem Zeitungsartikel betitelt (von Dahlem, 1997).

Die Autoindustrie und die Hausgeratehersteller hatten sich als erste dem Prob­lem des Soundengineerings angenommen (einen guten Uberblick fUr den Fahr­zeugbereich gibt das Buch VOn Vo (1994) und die beiden Kongressbande der AVL List, 1996 und 1998). Es wird zumeist versucht, mit den BewertungsgroBen der psychoakustischen Forschung (wie z.B. Lautheit, Rauhigkeit, Scharfe, Impulshal-

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274 16 Sinn und Sinnlichkeit

tigkeit, vgl. dazu Zwicker u. Fastl, 1990) den akustischen Komfort und die Ge­rauschqualitat im Fahrzeug zu verbessem. Allerdings fallt auf, dass es sich bei diesen GroBen fast ausschlieBlich urn "negative" Gerauschqualitaten handelt. Gerauschdesign im umfassenden Sinne bedeutet jedoch, ein insgesamt positives und zum Fahrzeug passendes Akustikszenario zu schaffen. Inzwischen weiB man recht gut, dass die psychoakustischen Parameter nur einen Teil dessen zu erklaren vermogen, was den Prozess der subjektiven Gerauschbewertung beim Kunden ausmacht. Dass z.B. ein Staubsauger nicht so klingen darf wie ein Rasierapparat, ist eine oft bemiihte Einsicht, die darauf hinweist, wie sehr die subjektive Ge­rauschakzeptanz von den produktbezogenen Erfahrungen und Erwartungshaltun­gen des Horers gepragt ist. Und dass eine Person A ganz andere akustische Vor­lieben und Empfindlichkeiten haben kann als die Person B oder C, ist ein Sach­verhalt, der wiederholt beobachtet wird, und der dem Konstrukteur deshalb gewis­se Schwierigkeiten bereitet, weil er die Generalisierbarkeit von akustischen Ziel­vorgaben in Frage stellen kann.

Unter psychologischen Gesichtspunkten muss man sich klar machen, dass die Gerauschentfaltung im Kraftfahrzeug keineswegs nur eine storende Produkteigen­schaft ist, die es so weit wie moglich zu beseitigen gilt. Gerausche iibermitteln dem Fahrer auch eine Vielzahl von handlungsrelevanten Informationen, und sie konnen den FahrspaB und die emotionale Stimmungslage in positiver oder negati­ver Weise beeinflussen. Es ist ein weites Fe1d, das sich hier aufiut, und wir haben in einer friiheren Arbeit (Boemak, 1994) bereits darauf hingewiesen, dass Bemii­hungen zur Verbesserung der subjektiven Fahrzeugakustik nur dann langfristig erfolgreich sein werden, wenn auch die informativen Funktionen von Fahrzeug­und Verkehrsgerauschen beriicksichtigt werden. In der Folgezeit haben wir zu diesem Thema umfangreiche Interviewstudien durchgefUhrt, in denen Autofahrer unter anderem danach befragt wurden, welche Fahrzeuggerausche ihnen im Detail einfallen, wenn sie an das Thema "Akustik im Auto" denken, und was noch wich­tiger ist, ob es Gerausche im Auto gibt, die nicht fehlen diirfen beziehungsweise bOrbar sein sollten.

Abbildung 16.5 zeigt beispielhaft ein Ergebnis dieser Studien, welches deutlich macht, dass es Gerauschphanomene gibt, die Autofahrer bOren wollen und horen miissen. Dass das Klicken des Blinkers als unentbehrlich eingestuft wurde, wird nicht sonderlich iiberraschen. Wichtiger ist der Befund fUr das Motorengerausch. In zahlreichen Untersuchungen zum subjektiven Erleben von Motorgerauschen konnten wir zeigen (z.B. Boemak, 1998), dass die "instationaren" Gerausche (also vor allem die Anfahr- und Beschleunigungsgerausche) von besonderer Bedeutung fUr die akustische Differenzierung zwischen Fahrzeugen und Baureihen - mithin auch fUr den fahrzeugtypischen Sound - sind, wahrend "stationare" Gerausche (hier vor allem die Konstantfahrgerausche bei bOheren Geschwindigkeiten) eine wichtige Rolle fUr das akustische W ohlbefinden und den Gerauschkomfort spie­len. Mit Blick auf zukiinftige Entwicklungen im Bereich altemativer Antriebe (wie etwa dem stufenlosen CVT-Getriebe oder den batteriegetriebenen Elektromotoren) tut sich hier ein weites Feld offener Forschungsfragen auf.

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Motorgerausche

Blinkergerausche

Verkehrsgerausche

Hubsignal

Funktionsfeedback

Bremsgerausche

Abrollgerausche

Tlirgerausche

Startergerausche

t::::J t=J p p 0 o

J

J

16.2 Die sinnliche Wahrnehmung 275

I 1 I I I I

J

.. Welche Gerausche dlirfen im Auto nicht fehlen"

I I 20 40 60 80 100

Nennungshaufigkeiten in %

Abb. 16.5 Infonnationsbedarf in Bezug auf Fahrzeuggerausche

Urn die Gerauschqualitat von Motoren - also den Fahrkomfort, die akustische Attraktivitat und die allgemeine Gerauschakzeptanz - zu verbessem, sind im Prin­zip drei Arbeitsschritte erforderIich:

1. die subjektive Charakterisierung von Motorgerauschen durch Wahmehmungs­attribute, Eindrucksqualitaten und fahrzeugbezogene Assoziationen aus Kun­densicht,

2. die Identifizierung von Schallkennwerten, welche mit den subjektiven Ein­drucksqualitaten kovariieren, und

3. die Identifizierung von Motorbauteilen und Fahrzeugkomponenten, deren Schwingungsverhalten die physikalischen und psychologischen Gerausch­effekte verursachen.

Flir den Fall, dass bereits konkrete technische Ma13nahmen zur Qualitatsverbes­serung ins Auge gefasst wurden, stellt sich primar die Aufgabe, den Nutzen dieser Ma13nahmen aus Sicht des Fahrers oder Kunden zu bestimmen. In methodischer Hinsicht konnen dabei zahlreiche Wege beschritten werden. Aus praktischen Griinden wird zumeist der "Horversuch" im Mittelpunkt stehen, also die Beurtei­lung von Gerauschproben im Akustiklabor. 1m Folgenden wollen wir am Beispiel einer Studie zur Gerauschverbesserung bei Transporterfahrzeugen das Vorgehen flir diesen Fall etwas naher skizzieren.

Die Studie gliederte sich in zwei gro13e Phasen. In der ersten Phase wurde eine umfangreiche Anzahl von Fahrzeuginnengerauschen aufgezeichnet, in der zweiten Phase wurden die Gerausche aufbereitet und von Transporterfahrem im Akustik­labor bewertet. Es wurden drei Fahrzeuge beriicksichtigt, wobei zwei Fahrzeuge als Referenz dienten und am dritten Fahrzeug die nachfolgend beschriebenen Gerauschma13nahmen realisiert wurden. Mit der Stirnwanddiimmung (Anbringen von Dammmaterial im Front- und Bodenbereich des Fahrerhauses) war vor allem eine Absenkung des vom Motorraum her abgestrahlten Gerausches intendiert, die

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276 16 Sinn und Sinnlichkeit

Windschalldiimmung (Abkleben von Tur- und Fensterdichtungen einschlie/31ich Dammmaterial an beiden Turen, vgl. Abb. 16.6) sollte die besonders bei hoheren Fahrgeschwindigkeiten auftretenden Windgerausche reduzieren, und mit der Trennwanddiimmung (Belegung der Trennwand zum Fahrerhaus mit Schwer­dammmatte) war eine Verringerung der yom Laderaum eines Transporters her stammen den Karosserie- und Fahrbahngerausche beabsichtigt. Neben diesen "konstruktiven" Ma13nahmen interessierte damber hinaus die sog. zweite Motor­ordnung. Sie ist eine sich mit der Drehzahl verandemde Frequenzkomponente, die vor all em bei Vierzylindermotoren fur deren akustische Dominanz verantwortlich ist. Die zweite Motorordnung wurde hier offline durch nachtragliche Modifikation des aufgezeichneten Gerauschsignals variiert (Absenkung urn 6dB, Absenkung urn 3dB, Anhebung urn 3dB).

Abb. 16.6 Beispiel fUr eine GeriiuschmaBnahme (Windschalldiimmung durch Abkleben von Tur-IFensterdichtungen und Belegung der Turen mit Schwerdiimmmatte).

Fur die drei Testfahrzeuge und die beschriebenen Gerauschma13nahmen wurden die Innengerausche in verschiedenen Fahrsituationen aufgezeichnet. Die Auf­zeichnungen erfolgten mithilfe eines Kopfbugelmikrofons, urn die tatsachliche Gerauschsituation am Ohr des Fahrers im nachfolgenden Horversuch originalge­treu wiedergeben zu konnen. Urn ein reprasentatives und umfassendes Bild von der jeweiligen Innengerauschsituation zu erhalten, wurden drei Fahrsituationen definiert: eine Autobahnfahrt mit 80kmlh im 5. Gang, eine Autobahnfahrt mit 120kmlh im 5. Gang, und eine "Bergfahrt" mit 3000U/min bei 70kmlh im 3. Gang. Urn den Motor bei der Bergfahrt zusatzlich zu belasten, wurden die Fahr-

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16.3 Die kundenorientierte Entwicklung 277

zeuge hier mit einem 2-Tonnen-Anhanger gefahren. Fiir jede Fahrsituation stan­den 13 Gerauschproben, fiir den Horversuch insgesamt also 39 Priifgerausche zur Verfiigung. Jedes Gerausch hatte eine Lange von etwa 20 Sekunden.

Fiir die Beurteilung der Fahrgerausche im Horversuch wurde eine Zufallsstich­probe von Transporterfahrem akquiriert, die groB genug war, urn statistisch zuver­lassige und valide Aussagen machen zu konnen. Fiir die subjektive Beschreibung und Skalierung von Gerauschqualitaten gibt es eine Vielzahl von Methoden, von denen sich zwei Ansatze als besonders praktikabel erwiesen haben: die "Absolut­beurteilung" auf psychologisch relevanten Skalen (wie z.B. laut, raub, drohnend usw.), und der "Paarvergleich", bei dem samtliche Gerauschproben hinsichtlich eines oder mehrerer Eindrucksqualitaten paarweise miteinander verglichen werden (einen guten Uberblick iiber psychologische Skalierungsansatze vermittelt das Buch von Borg u. Staufenbiel, 1989). Welches Verfahren sich am besten eignet, hangt in spezifischer Weise von der jeweiligen Fragestellung, dem maximal mog­lichen Versuchsaufwand, dem Gerauschmaterial und weiteren Randbedingungen abo Da es in der skizzierten Studie primar urn eine Beschreibung des ganzheitli­chen Qualitatseindrucks und urn eine moglichst prazise Eindrucksdifferenzierung zwischen den Gerauschen ging, wurde die Paarvergleichsmethodik herangezogen. Die vergleichende Beurteilung jedes Innengerausches mit allen anderen Ge­rauschproben (einer bestimmten Fahrsituation) hatte zum Ziel, die "relative Ge­rauschqualitat" der einzelnen Horproben exakt quantifizieren zu konnen. Der hier berechnete Index basierte darauf, wie hiiufig ein Gerausch gegeniiber allen ande­ren Gerauschen als qualitativ hochwertiger eingeschatzt wurde. Durch eine Mit­telwertsbildung iiber N-l "Bevorzugungswahrscheinlichkeiten" pro Gerausch (mit N = Anzahl von Gerauschproben) erhielten wir sehr zuverlassige Qualitiitsindizes.

Durch umfangreiche statistische Analysen dieser Indizes konnte der Wert ver­schiedener GerauschmaBnahmen in der Wahmehmung der beriicksichtigten Fah­rerstichprobe exakt bestimmt werden. Vnter anderem konnte nachgewiesen wer­den, dass jede "passive" MaBnahme ftir sich genommen deutlich mehr zur Verbes­serung der subjektiv erlebten Transporterakustik beitragt als eine Absenkung der zweiten Motorordnung, wobei die Hohe des maBnahmenbezogenen Verbesse­rungspotentials in moderater Weise auch von der jeweiligen Fahrsituation ab­hangt. In der Gesamtschau lieBen sich klare Empfehlungen ftir die Gestaltung eines angenehmen und "sympathischen" Transporterinnengerausches ableiten.

Nachfolgend wollen wir ein weiteres Arbeitsgebiet psychologischer Fahrzeug­forschung diskutieren - die Analyse von Fahrerassistenzsystemen.

16.3 Die kundenorientierte Entwicklung von Assistenzsystemen

Die Entwicklung neuer Systeme im Automobilbau erfolgt traditionell technolo­giegetrieben. Dies trifft auch auf Assistenzsysteme zu, die den Fahrer bei der Ausiibung seiner primiiren Fahrtatigkeit und den immer wichtiger werdenden Nebentatigkeiten - etwa der Nutzung von Entertainment- oder Kommunikations-

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278 16 Sinn und Sinnlichkeit

funktionen - unterstiitzen. Aber kann eine Fahrzeugentwicklung, die sich allein am technisch Realisierbaren orientiert, heute noch erfolgreich sein? Die Technik macht immer mehr moglich - fraglich ist jedoch, ob die mit hohem Aufwand entwickelten Systeme tatsiichlich die Bediirfnisse der Kunden treffen. Dies gilt insbesondere fur Assistenzsysteme. Wenn es darum geht, den Fahrer zu unterstiit­zen, muss man wissen, wobei und auf welche Weise solche Unterstiitzung erfol­gen soIl. Dies erfordert die Ergiinzung einer rein technologiegetriebenen Entwick­lung durch einen kunden- bzw. nutzerorientierten Ansatz (Beier, 1999 a).

16.3.1 Subjektiver Unterstutzungsbedarf durch Assistenzsysteme im "Verhaltensbereich Autobahn"

1m Projekt "Fahren auf der Autobahn" wurde der Unterstiitzungsbedarf in diesem Erlebens- und Verhaltensbereich ermittelt. Es wurde ein Konzept zugrunde gelegt, welches sich an der Beanspruchungsforschung orientiert (Hacker, 1986) und so­wohl situations- wie auch personenbezogene Aspekte beriicksichtigt. Eine verein­fachte Darstellung dieses Modells erfolgt in Abb. 16.7. Aus dem Zusammenspiel von stabilen und variablen Merkmalen des Fahrers und der Fahrsituation ergibt sich eine Beanspruchung. Uber- oder unterschreitet die Beanspruchung einen optimalen Wertebereich, resultiert daraus Unterstiitzungsbedarf. Es ist dann zu kliiren, welche Handlungen in welcher Form unterstiitzt werden sollen.

Person MotivelMerkmale

Einstellungen F.ihigkeiten

Zustand

Verkehrssituation Stabile Anforderungen Variable Bedingungen

Beanspruchung physisch

psychisch

Assistenz-/lnformationssysteme Fur welche Handlungen?

Welcher Automatisierungsgrad? Information vs.Automatisierung

Abb. 16.7 Ein vereinfachtes Modell zur Entstehung von Unterstiitzungsbedarf bei der Fahrzeugfiihrung.

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16.3 Die kundenorientierte Entwicklung 279

Zur Erhebung des Unterstiitzungsbedarfs wurde eine eigene Methodik entwickelt, die "Funktions-Assistenz-Matrix" (FA-Matrix). Bei diesem Verfahren handelt es sich urn einen strukturierten Fragebogen, bei dem zum einen die zu unterstiitzen­den Funktionen und zum anderen die Abstufungen der Assistenz (von keinem Assistenzbedarf, iiber eine reine Informationsdarbietung, bis hin zur vollautomati­schen Handlungsausfuhrung durch das System) dargestellt werden. Die FA-Matrix zeichnet sich durch eine hohe Komplexitiit aus und stellt entsprechend groBe An­forderungen an den Probanden. Das Verfahren bildet die Unterstiitzungswiinsche von Teilnehmern und Nutzergruppen auf sehr differenzierte Weise abo Die FA­Matrix kann als "Paper-Pencil"-Version oder in computergestiitzter Form dargeboten werden. Tabelle 16.2 zeigt eine Teildarstellung der FA-Matrix, die im Projekt "Fahren auf der Autobahn" zum Einsatz kam. In den Zeilen stehen verschiedene Handlungen bzw. Funktionen, in den Spalten sind Assistenzgrade aufgelistet. Die Abbildung enthiilt die iiber Personen aggregierten relativen Wahlhiiufigkeiten fur die Situation Kolonnerifahrt auf der Autobahn. Der einzelne Teilnehmer markiert seine favorisierte Assistenzvariante, die iiber aIle Personen hiiufigsten Assistenzgrade pro Handlung sind fett gedruckt.

Tabelle 16.2 Teilweise Darstellung einer Funktions-Assistenz-Matrix (FA-Matrix)

Tritt hier Keine Nur VorschlageAutoma- Automa- Immer nicht auf Unter- warnen machen tisch bei tisch wenn automa-

stiitzung Problemen ich es will tisch

Lenken 0,00 0,30 0,30 0,00 0,10 0,20 0,10

Bremsen 0,00 0,20 0,10 0,00 0,50 0,00 0,20

Gas geben 0,00 0,60 0,00 0,00 0,00 0,20 0,20

Urn den Einfluss der fahrsituationsspezifischen Anforderungen auf den Unterstiit­zungsbedarf zu erfassen, wurden fur 21 prototypische Autobahn-Verkehrs­situationen schriftliche Szenarien entworfen, in die sich die Probanden hineinden­ken sollten. AnschlieBend erfolgte die Befragung mithilfe der FA-Matrix zu Un­terstiitzungswiinschen fur insgesamt 22 repriisentative Fahrfunktionen. Als Ergeb­nis dieser Untersuchung konnten differenzierte Aussagen damber getroffen wer­den, welche Fahrfunktionen in welchen Situationen auf welche Art und Weise unterstiitzt werden sollen. Natiirlich muss man sich im Klaren damber sein, dass die Aussagen der Probanden ihr subjektives Meinungsbild widerspiegeln, das sich veriindern kann, wenn konkrete Nutzungserfahrungen mit Assistenzsystemen gewonnen werden. Die Ergebnisse sind aber zumindest aus drei Grunden wichtig:

1. Als "Experten fur Fabrzeugfuhrung" konnen Autofahrer fundierte Angaben zu Problemen formulieren, die sie alltiiglich erleben.

2. Die Meinung der Fahrer wird zu einem wichtigen Zeitpunkt in der Mensch­Technik-Beziehung erfasst - niimlich dem der Anniiherung an ein neues Sys­tem. Dieser Zeitpunkt wird bei jeder Markteinfiihrung durchlaufen, und er spiegelt die anfangliche Attraktivitat des Systems wider.

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280 16 Sinn und Sinnlichkeit

3. Durch Verallgemeinerung der Ergebnisse lassen sich schlieBlich Erkenntnisse auf der Einstellungsebene von Kundengruppen generieren - etwa durch Ag­gregation von Daten tiber einzelne Fahrfunktionen, Assistenzgrade oder Perso­nen.

Abbildung 16.8 zeigt, dass fUr komplexe Funktionen - wie Abstandsregulation und Spurhalten - ein starkerer Unterstiitzungswunsch existiert als fUr die Elemen­tarfunktionen Gasgeben, Bremsen und Lenken. Beim Nachdenken tiber Abstands­regulation und Spurhalten werden vor all em mentale Sicherheitskonzepte akti­viert, und hier kann ein Fehler fatale Folgen haben. Spricht man aber tiber Gasge­ben, Bremsen und Lenken, so sind dies Funktionen, die vor all em auf FahrspaJ3 und Situationskontrolle abzielen. Diese Unterscheidung spricht fUr ein Assistenz­konzept, welches FahrspaJ3, Entscheidungsautonomie und Kontrolle beim Fahrer belasst und die elementaren Funktionen, die die Bewegung in Raum und Zeit bestimmen, vorrangig in Gefahrensituationen unterstiitzt.

Unterstutzungsbedarf fur Fahrhandlungen beim Fahren auf der Autobahn

-I' ·a. ,,' '. . , .. ' '.' ..... ;-" ':-:"

. - ',.. "~a :;;

Fahrzeugzustand

Verkehrsfunk

Abstandsregulation

.... .;~ •• --"-"->" .-~ ~"'."'.'~ i· . •• " ~~f .... ,p ~ .. -: t Landkarte lesen

" .::. :~ Verkehrsbeobachtung

Bremsen

Gas geben

Lenken

20 30 40 50 60 70 80 90 100

Unterstutzungsbedarf in %

Abb. 16.8 Darstellung der Handlungen mit dem groBten und dem geringsten Unterstiit­zungsbedarf. Die Ergebnisse sind iiber aile Personen, Situationen und Assistenzgrade ag­gregiert.

Der Wunsch nach Assistenz ist ebenfalls abhangig von der Fahrsituation. Abbil­dung. 16.9 zeigt Situationen mit besonders hohem und besonders niedrigem Un­terstiitzungsbedarf.

In Abb. 16.9 bleiben allerdings diejenigen variablen Bedingungen einer Fahrsi­tuation unerwahnt, die sich durch eine bloJ3e Beschreibung der Verkehrskonstella­tion nicht erfassen lassen. Der Einfluss von extemen Faktoren auf den Unterstiit­zungsbedarf bei Autobahnfahrten - wie etwa die Beleuchtung oder die Witterung,

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16.3 Die kundenorientierte Entwicklung 281

aber auch der psychische Zustand des Fahrers (z.E. Miidigkeit, Stimmung, Stress) - wurde mit einem strukturierten Tagebuchverfahren ermittelt. Als wichtigste Pradiktoren fUr einen hohen Unterstiitzungsbedarf wurden durchgangig interne Faktoren wie Miidigkeit und Stress genannt.

Zusammenfassend zeigte sich, dass der Wunsch nach Unterstiitzung durch As­sistenzsysteme sowohl von den Fahrsituationen als auch von den zu unterstiitzen­den Fahrhandlungen abhangig ist. Wie steht es aber urn den Fahrer selbst? Gibt es stabile Personlichkeitsmerkmale, die auf die Akzeptanz von Fahrerassistenzsyste­men Einfluss haben?

Unterstutzungsbedarf in Fahrsituationen beim Fahren auf der Autobahn

Autobahnkreuz

Hindernis

Baustelle - Gegenfahrbahn Staubeginn

Kolonnenfahrt

Sicherheitsabstand Langstrecke

Spurverengung

Abfahren

Unbekannte Strecke Parken I Rasten

Rauffahren ;;h ., .. h .... l.

so 60 70 80 90

Unterstutzungsbedarf in %

100

Abb. 16.9 Darstellung der Situationen mit dem groBten und dem geringsten Untersttit­zungsbedarf. Die Ergebnisse sind tiber alle Personen, Handlungen und Assistenzgrade aggregiert.

16.3.2 Personlichkeitsmerkmale und UnterstOtzungsbedarf durch Assistenzsysteme

Auf der Suche nach Eigenschaften der Personlichkeit, die die Akzeptanz neuer technischer Systeme erklaren und prognostizieren konnen, wurde haufig auf Merkmale wie Neurotizismus, Extraversion, Offenheit oder ahnliches zUrUckge­griffen. Es gelang jedoch fUr keine dieser generalisierten Personlichkeitsvariablen (und ebensowenig fUr eine Kombination aus mehreren solcher Variablen), stabile Zusammenhange mit Gestaltungsmerkmalen technischer Gerate nachzuweisen.

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282 16 Sinn und Sinnlichkeit

Die QueUe des Problems liegt in den unterschiedlichen psychologischen Be­schreibungsebenen generalisierter Personlichkeitsmerkmale auf der einen und dem spezifischen Bereich der Mensch-Technik-Interaktion auf der anderen Seite. Urn diesen Mismatch zu iiberwinden, entwickelte Beier (1999 b) den KUT, einen Fra­gebogen zur Erfassung von Kontrolliiberzeugungen im Umgang mit Technik. Dieses Erhebungsinstrument verbindet die Operationalisierung des handlungsna­hen Konstrukts "Kontrolliiberzeugungen" (vgl. z.B. Krampen, 1979) mit der Spe­zifitiit des Situationsbereiches Techniknutzung. Der KUT© umfasst nach einigen Revisionsuntersuchungen noch acht Items und ist somit in vielen praktischen Un­tersuchungen leicht einsetzbar. Mittlerweile wurde der Fragebogen in verschie­densten Erhebungen von insgesamt iiber 1000 Probanden bearbeitet und in fiinf Sprachen iibersetzt, darunter auch Japanisch und Chinesisch.

Was bedeutet nun das Personlichkeitsmerkmal "Kontrolliiberzeugung im Um­gang mit Technik" (der Einfachheit halber nachfolgend als "technische Kontroll­iiberzeugungen" bezeichnet)? Einfach formuliert: eine Person, die im Umgang mit technischen Gediten hiiufig subjektiv erfolgreich war, bildet die Oberzeugung aus, dass sie die Technik im Griff hat. Dies fiihrt in der Regel dazu, dass sie gem mit Technik interagiert und neuen technischen Losungen offen gegeniibersteht. Erlebt eine Person dagegen hiiufig Misserfolge, so bildet sich ein Gefiihl der Ohnmacht beziehungsweise Hilflosigkeit gegeniiber Technik heraus. Situationen, in denen der Umgang mit Technik erforderlich ist, werden deshalb gemieden.

Es stellt sich die Frage, ob das Konzept der technischen Kontrolliiberzeugung prognostischen Wert fUr die Akzeptanz neuer Assistenzsysteme im Fahrzeug be­sitzt. Auf den ersten Blick offenbart sich hier ein Widerspruch: Assistenzsysteme nehmen dem Fahrer bestimmte (Teil)- Handlungen ab, die daraus resultierende Entlastung sollte besonders von Personen mit niedrigen technischen Kontrolliiber­zeugungen begriiBt werden. Andererseits handelt es sich urn neue Systeme, und diese werden von Personen mit hohen technischen Kontrolliiberzeugungen eher akzeptiert.

Auch fUr diese Fragestellung konnte die Methode der FA-Matrix gewinnbrin­gend eingesetzt werden. Die Unterteilung der Assistenz in verschiedene Stufen der Informationsdarbietung beziehungsweise der automatischen Ausfiihrung (vgl. Sheridan, 1988) fiihrte konsistent iiber verschiedene Untersuchungen zu folgenden Erkenntnissen (vgl. Abb. 16.10):

• Personen mit hohen technischen Kontrolliiberzeugungen zeigen generell eine groBere Akzeptanz fiir neue Assistenzsysteme im Fahrzeug.

• 1m Vergleich zu Personen mit niedrigen KontroUiiberzeugungen wird von Fahrem mit hohen Werten deutlich mehr Assistenz durch Informationsdarbie­tung gewiinscht. Personen mit hohen technischen Kontrolliiberzeugungen wol­len im Fahrprozess aktiv bleiben.

• Personen mit niedrigen Kontrolliiberzeugungen sind zogerlicher in der An­nahme neuer Assistenzsysteme. Wenn sie ein neues System akzeptieren, solI es moglichst automatisch funktionieren und nicht durch zusiitzliche Informati­onsdarbietung beanspruchen.

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70

60

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0

Literatur 283

Kontrolluberzeugungen im Umgang mit Technik und Assistenzbedarf

_.--

I------.... ---... ----,:_==__

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f- ._-...... - ...-.. __ ... I-- r-..... -

f- -- _. __ ...... -I

Unterstutzungs· bedarf gesamt Information Automatisierung

Hohe technische Kontrolluberzeugungen

o Niedrige technische Kontrolluberzeugungen

Abb. 16.10 Der Einfluss von Kontrolliiberzeugungen im Umgang mit Technik auf den Wunsch nach Unterstiitzung durch Fahrerassistenzsysteme.

Was bedeuten diese Ergebnisse? Sie sprechen generell daflir, Unterschiede zwi­schen Fahrem bei der Entwicklung von Assistenzsystemen mit zu beriicksichtigen. Ein Assistenzsystem, das flir aile gleichermaBen optimal ist - also einen One-best­way - wird es nicht geben. Fiir die Gestaltung eines konkreten Assistenzsystems k6nnen die geschilderten Zusammenhange Perspektiven aufzeigen. Die Spezifik eines jeden Systems erfordert eine genaue Analyse der zu unterstiitzenden Prozes­se und deren Anforderungen, die Pers6nlichkeit des Fahrers ist in diesem Mosaik ein wesentlicher Baustein.

Neben den Hinweisen flir die Gestaltung neuer Techniksysteme ist die Einbe­ziehung von Pers6nlichkeitsmerkmalen hilfreich, urn die Varianz aufzuklaren, welche nicht durch die zu bewertenden Systeme verursacht wurde. Nicht selten stellt sich in Evaluationsstudien die Frage, ob die Teilnehmer Aussagen iiber das Gerat oder eher iiber sich selbst gemacht haben. Das Pers6nlichkeitsmerkmal "Kontrolliiberzeugung im Umgang mit Technik" kann hier als eine erkliirende Variable wirken.

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284 16 Sinn und Sinnlichkeit

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leil V

Verkehr

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17 Der Verkehr in Ballungsraumen im Jahre 2020: Perspektiven auf Basis einer Delphistudie aus dem Jahr 2000

Gundi Dinse, Hans-Gerhard Giesa und Walter Hell

17.1 Einleitung

Die Gestaltung von Verkehr in stadtischen Agglomerationen ist seit jeher ein Thema, bei dem immer wieder kontroverse Standpunkte und Wahmebmungen aufeinander treffen. Die einen verbinden mit dem Verkehr in Innenstadten vor allem Stau, Larm, Abgase, Unfallgefahren und damit eine grundsatzliche Beein­trachtigung ihres Wohlbefindens. Die anderen sehen in einer gut ausgebauten stadtischen Verkehrsinfrastruktur und im Verkehr selbst eine wesentliche Voraus­setzung fUr die Attraktivitat einer Stadt und als Folge davon fUr Arbeitsplatze, W ohlstand und Lebensqualitat.

Und wie so oft, wenn derart kontroverse Standpunkte aufeinandertreffen, sind in gewissem Umfang die Sichtweisen beider Seiten nachvollziehbar. Bei der Ge­staltung des Verkehrs in Ballungsraurnen hat man es deshalb zwangslaufig mit einem komplexen Zielsystem, mit teilweise konkurrierenden Teilzielen zu tun.

17.1.1 Fragestellung

Wie entwickelt sich der Einzelhandel in der Innenstadt gegeniiber den Einkaufs­zentren im Umland? Wird der OPNV in Zukunft an Akzeptanz gewinnen oder wird der Innenstadtverkehr weiter yom Automobil dominiert? Setzen sich Ent­wicklungen wie E-Commerce durch und reduziert oder erh6ht sich dadurch der innerstadtische Verkehr? Welche MaBnahmen miissen getroffen werden, urn un­erwiinschte Entwicklungen zu vermeiden bzw. urn erwiinschte Entwicklungen zu fOrdem? Weder Wissenschaftler noch Politiker k6nnen von sich behaupten zu wissen, wie diese Fragen fUr die nachsten 20 Jahre zu beantworten sind.

Eine M6glichkeit, wie man eine Vorstellung iiber die relevanten kiinftigen Entwicklungen fUr den Verkehr in deutschen Ballungsraumen erhalten kann, soll die hier beschriebene Studie aufzeigen. Dabei erheben wir nicht den Anspruch, ein exaktes Bild der Zukunft oder auch nur der relevanten Zukunftstrends zu be­schreiben. Uns geht es zum einen darum aufzuzeigen, welche Entwicklungen aus heutiger Sicht Experten verschiedener Fachrichtungen fUr die nachsten 20 Jahren im Zusammenhang mit dem Verkehr in Ballungsraumen erwarten. Zum anderen geht es uns aber auch urn das Aufzeigen einer Vorgehensweise bzw. einer Denk­weise im Zusammenhang mit der "Planung" von Zukunft.

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288 17 Der Verkehr in Ballungsraumen im Jahre 2020

Zeiten, in denen man guten Gewissens vorhandene Trends in die Zukunft ext­rapolieren konnte, sind schon seit langem vorbei. Heute sind hohe Veranderungs­geschwindigkeit und Trendbriiche wichtiger Einflussfaktoren keine Seltenheit mehr. Die Marktdurchdringung des Handys oder die BSE-Krise mit all ihren noch nicht absehbaren Auswirkungen sind Beispiele daflir.

Die Auspragung vieler Einflussfaktoren, die sich auf die Verkehrssituation in Ballungsraumen auswirken, werden zudem nicht allein von den kommunalen Politikern entschieden. Seien es verkehrs-, umwelt- oder steuerpolitische Ent­scheidungen auf Bundes- oder EU-Ebene oder gesellschaftspolitische Prozesse, wie z.B. der Trend zu Ein-Personen-Haushalten oder zu neuartigen mobilitatsrele­vanten Freizeitaktivitiiten. Dariiber hinaus stellen Kenntnisse z.B. tiber die Fort­schritte in der Verkehrstechnik und dariiber, wie rasch derartige Innovationen auf Akzeptanz bei den Nutzern stoBen und damit entsprechende Verbreitung tinden, einen relevanten Input flir viele verkehrs- und stadtebaupolitische Entscheidungen in den jeweiligen Ballungsraumen dar.

Ein zusatzliches Problem bei der Gestaltung des innerstadtischen Verkehrs ist die eher evolutionare Entwicklung stadtischer Strukturen, die einen weiteren we­sentlichen Einflussfaktor darstellen. Innerstadtische Verkehrs- oder Siedlungs­strukturen lassen sich nicht von heute auf morgen verandern, sondern meist nur tiber 1ahre - manchmal 1ahrzehnte.

Vor dies em Hintergrund ist die friihzeitige Auseinandersetzung mit den wich­tigsten Entwicklungslinien in die Zukunft von groBer Bedeutung.

Eine Studie, wie sie im Anschluss beschrieben wird, kann deshalb u.E. schon dann als erfolgreich eingestuft werden, wenn sie sich als Grundlage flir die Dis­kussion zwischen Experten verschiedener Fachdisziplinen eignet. Selbstverstiind­lich konnen schon nach zwei oder drei 1ahren unerwartete Entwicklungen die formulierten Vorstellungen tiber die Zukunft ad absurdum geflihrt haben. Dies macht aber die Diskussion zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen nicht tiberfltissig, sondern sollte im Gegenteil dazu ftihren, den interdisziplinaren Dialog tiber die Entwicklungen ktinftig moglichst zu institutionalisieren. Meist ist der Erkenntnisgewinn aus einer Diskussion dariiber, was wahrscheinlich kommen wird, genauso groB, wie die Diskussion dariiber, warum es nicht so gekommen ist, wie aIle Experten vermutet haben.

17.1.2 "Zukunft der Mobiltat" als aktuelles Forschungsthema

In den letzten 1ahren hat man sich hautiger mit der Frage beschaftigt, wie sich der Verkehr in der Zukunft entwickeln wird. So veroffentlichte die Gottlieb Daimler­und Karl Benz Stiftung 1994 in einer mehrbandigen Publikation die Ergebnisse eines Szenario-Projektes zum Thema "Mobilitat und Kommunikation in den Ag­glomerationen von heute und morgen" (Forschungsverbund Lebensraum Stadt, 1994). Eine interdiszipliniir zusammengesetzte Expertengruppe entwickelte im Rahmen dieses Projektes zwei alternative Szenarien. In einem Fall wurden mogli­che Entwicklungen und Interventionen beschrieben, die Lebensbedingungen in stiidtischen Agglomerationen im 1ahr 2020 zur Folge haben konnten, die von der

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17.1 Einleitung 289

Projektgruppe selbst mit dem Begriff "Die geplante Urbanitiit" iiberschrieben wurden. Das alternative Szenario tragt den Titel "Die Stadt im Prozess der Selbst­regulierung" .

Eine andere Studie beschaftigte sich generell mit der "Zukunft der Mobilitat" und wurde yom Wiener Institut rur Motivforschung durchgeruhrt (ifm, 1999). Diese Untersuchung war als Delphi-Studie angelegt und enthalt eine Reihe von Erkenntnissen, die auch im Zusammenhang mit dem Verkehrsentwicklung in Ballungsraurnen von Bedeutung sind. Sieben Themenbereiche wurden behandelt:

- Verkehrsleistungs-Parameter (z.B. motorisierter Individualverkehr) - Parameter zur individuellen Mobilitat (z.B. Anzahl der Wege) - Parameter zur Infrastruktur und Telematik (z.B. Lange des hochrangigen

Schienennetzes) - Verkehrssicherheits-Parameter (z.B. Anzahl der verletzten Personen) - Okologische Parameter (z.B. Anzahl der Zero-emission-Vehicles (ZEVs» - Okonomische Parameter (z.B. Kosten eines Liters Benzin) - Allgemeine Parameter (z.B. Hohe des Bruttoinlandprodukts)

Raumlich bezog sich die Studie auf die EU-Staaten sowie Schweiz und Norwe­gen, zeitlich auf die zwei Prognosehorizonte 2010 und 2030.

1m August 2000 beschaftigte sich eine Fachtagung unter dem Titel "Mega-City BerlinBrandenburg - Risiko oder Chance rur die individuelle Mobilitat" in Form von Vortragen mit der Zukunft des Ballungsraums "BerlinBrandenburg". 1m Vorwort der Konferenzpublikation (Projektleitstelle Mobilitat und Verkehr des Landes Brandenburg, 2000) wurde als Ziel der Veranstaltung die Sensibilisierung und das Aufzeigen von Chancen der Entwicklung einer Mega-City genannt.

Ein wei teres Vorhaben iiber die "Zukunft der Mobilitiit" wurde im Herbst 2000 unter der Leitung des Instituts rur Mobilitatsforschung in Berlin begonnen. Mit Unterstiitzung von mehr als 50 Experten aus unterschiedlichen Disziplinen werden mogliche Entwicklungen im Zusammenhang mit den verschiedenen Verkehrstra­gem und ihrem Zusammenwirken erarbeitet. In Szenario-Form wird der Zeitraum bis ins Jahr 2020 beschrieben. Das Ergebnis solI in erster Linie als Input rur einen umfangreichen Dialog mit Vertretern aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Non-Governmental Organizations (NGOs) dienen. AnschlieBend sollen die Er­gebnisse mit Unterstiitzung der Experten regelmaBig fortgeschrieben werden und immer wieder in der Offentlichkeit zur Diskussion gestellt werden. Ein wesentli­ches Ziel dieses Projekts ist zum einen, die Auseinandersetzung urn den Verkehr der Zukunft zu versachlichen, zum anderen die Komplexitat dieses Themas in der Offentlichkeit zu vermitteln, urn mehr Verstandnis rur notwendige Kompromisse zu wecken.

Es solI an dieser Stelle nicht urn einen Vergleich oder eine Gegeniiberstellung der Ergebnisse gehen, sondern diese ausgewahlten Studien sollen als Hinweis verstanden werden, dass es sich bei dem gewahlten Untersuchungsgegenstand urn ein Thema handelt, das rur viele Beteiligte von groBem Interesse ist und dem man sich auf unterschiedliche Weise nahern kann. Allen Untersuchungen ist gemein­sam, dass sie anregen wollen zur vertieften Auseinandersetzung mit Entwicklun­gen in der Zukunft.

Page 293: Kraftfahrzeugführung ||

290 17 Der Verkehr in Ballungsraumen im Jahre 2020

17.1.3 Systemabgrenzung

Technischer Fortschritt

Steuerungsinstrumente Verkehrsangebot

Demografie Raumstruktur

Wirtschaftliches Umfeld Mobiliriltsanspruch

Verkehrsarten

Abb. 17.1 Relevante Themenfelder der Delphi-Studie

Die vorliegende Studie beschiiftigt sich schwerpunktmiiBig mit der Entwicklung des Verkehrs in Ballungsriiumen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland. Da­bei fokussiert die Untersuchung nicht auf eine spezielle Region, sondem definiert einen Ballungsraum als Gebiet hoher Bev6lkerungsdichte mit stark entwickelter Infrastruktur. Der zeitliche Horizont der Betrachtung bezieht sich auf die niichsten 20 Jahre, d.h. bis ins Jahr 2020.

Als relevante Themenfelder (Abb. 17.1), denen besondere Bedeutung flir die Entwick1ung der Ballungsriiume beigemessen wurde, wurden yom Projektteam flir die Konstruktion der Erhebungsunterlagen die folgenden definiert:

- Technischer Fortschritt (z.B. Verkehrstechnik) - Steuerungsinstrumente (z.B. City-Maut) - Verkehrsangebot (z.B. Rent-a-bike) - Verkehrsarten (z.B. OPNV, MIV) - Mobilitiitsanspruch (z.B. Berufs-, Freizeitverkehr) - Kosten der Mobilitiit (Fahrpreise, Kosten des MIV) - Wirtschaftliche Rahmenbedingungen (z.B. Konjunkturentwicklung) - Demografie (z.B. Altersstruktur, Einwohnerzahl) - Raum-/ Siedlungsstruktur (z.B. dezentral, zentralisiert, dispers)

Aufgrund der hohen Komplexitiit des Themas war man sich von Anfang an bewusst, dass die genannten Einflussfaktoren die Thematik nicht in ihrer Gesamt­he it abdecken, sondem dass es weitere Faktoren gibt, die ebenfalls Bedeutung flir die Entwicklung des Verkehr in Ballungsriiumen haben werden. Beispielhaft seien

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17.2 Methodik De1phi-Studie 291

nur das MaB an gesellschaftspolitischen Veranderungen (z.B. Wandel der Einstel­lungen zu Verkehr und Umwelt) oder spezifische technische Neuerungen wie z.B. der Traffic Message Channel (TMC) oder neue umweltvertraglichere Antriebs­technik genannt.

17.2 Methodik Delphi-Studie

Urn langfristige Entwicklungstrends in Wissenschaft und Technologie und deren wahrscheinliche Auswirkungen auf die Gesellschaft zu prognostizieren, wird haufig die Delphi-Methode eingesetzt. Bei einer Delphi-Studie geht es nicht urn Weissagungen (wie die begriffliche Anlehnung an das Orakel von Delphi viel­leicht suggerieren mag) oder Extrapolationen der jetzigen und vergangenen Ent­wicklung, sondern es g4eht urn Erwartungen von Fachleuten, die selbst auf den Gebieten arbeiten, deren Entwicklung die Zukunft bestimmt (Grupp, 1995).

17.2.1 Definition und Aufbau

Die Delphi-Methode ist ein relativ stark strukturierter Gruppenkommunikations­prozess, in des sen Verlauf Sachverhalte, iiber die naturgemiiB unsicheres und unvollstiindiges Wissen existiert, von Experten beurteilt werden. Die Grundidee besteht darin, in mehreren Wellen Expertenmeinungen zu nutzen und sich in die­sem Prozess eines anonymen Feedbacks zu bedienen (Hader u. Hader, 1995, 1998). Ein wesentlicher Unterschied der Delphi-Methode gegeniiber den konven­tionellen Verfahren der Expertenbefragung besteht in der Anonymitiit der Exper­ten untereinander, die durch die schriftliche Form der Befragung erreicht wird.

Das klassische Design einer Delphi-Studie zeichnet sich durch folgende Merk­male aus (Hader u. Hader, 1994):

1. Verwendung eines formalisierten Fragebogens, 2. Befragung von Experten, 3. Anonymitat der Einzelantworten, 4. Ermittlung einer statistischen Gruppenantwort, 5. Information der Teilnehmer iiber die (statistische und verbale) Gruppenantwort, 6. (mehrfache) Wiederholung der Befragung.

17.2.2 Studien-Design

Die vorliegende Delphi-Studie erfolgte unter Beteiligung eines studentischen Projekts an der Technischen Universitat Berlin im Fach Systemtechnik. Die Da­tenerhebung wurde wahrend des Wintersemesters 2000/2001 durchgefiihrt und erfolgte in zwei Wellen.

Entsprechend der systemtechnischen Vorgehensweise wurden zunachst eine Systemdefinition des Gegenstands "Verkehr im Ballungsgebiet" und eine Abgren-

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292 17 Der Verkehr in Ballungsraumen im Jahre 2020

zung zum iibergeordneten System "Innerdeutscher Verkehr" vorgenommen. Aus forschungspragmatischen Griinden wurde auf eine eigene Vorstudie verzichtet, sondem zur Eingrenzung des Untersuchungsfeldes auf bereits publizierte Zu­kunftsszenarien zuriickgegriffen (Forschungsverbund Lebensraum Stadt, 1994). Auf deren Grundlage erfolgten die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen und Fest­legungen der Einflussbereiche.

In der ersten Befragungsrunde im Dezember 2000 wurden 99 Experten ange­schrieben, von denen 64 antworteten (Riicklaufquote 65%). In der zweiten Befra­gungsrunde, die bereits im Januar 2001 stattfand, wurden nur diejenigen Experten wieder angeschrieben, die sich an der ersten Befragungsrunde beteiligt hatten. 41 der 64 angeschriebenen Experten antworteten (Riicklaufquote 64%).

17.2.3 Beteiligte Experten

Die Auswahl der Experten erfolgte so, dass sich ein breites Spektrum von Wissen­schaftlem und Fachleuten aus Untemehmen, Verwaltung und Politik wie auch Vertretem weiterer NGOs, wie etwa Umweltschutzverbiinden oder Verkehrsclubs ergab. Auch Vertreter aus den Bereichen der Informationstechnologie und der Logistik, von denen ein immer gro/3erer Einfluss auf den Verkehr erwartet wird, wurden beteiligt. In Abb. 17.2 und 17.3 sind die Zusammensetzung des Experten­panels der insgesamt angeschriebenen Experten und der zweiten Befragungsrunde aufgeschliisselt nach Fachgebieten gegeniibergestellt. Die Gruppe "Sonstige" macht mit 24% (in der ersten Runde 16%) einen relativ gro/3en Anteil aus. Hierzu gehOren Interessenverbiinde (z.B. Verkehrsclubs, Industrieverbiinde), Politiker, Berater sowie Behorden, die nicht in den anderen Fachgebieten zugeordnet wer­den konnten.

Anbieter Mobilicatsdienste

Fahrzeugtechnologie

Informadonstechnologie

Internet & Mobilkommunikadon

Logistik

Okonomie

Sonstige

Sozialforschung & Psychologie

Umwelt & Okologie

Verkehrs- & Raumplanung

o

4 I

7 I

9 I 7 I

8 I

6 I 7 I

5 10 Anzahl

18 I

15 I

18 J 15

Abb. 17.2 Fachgebiete der angeschriebenen Experten insgesamt (n = 99)

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17.2 Methodik De1phi-Studie 293

Anbieter Mobilitiitsdienste F----,

Fah rzeugtechnologie I-==----"~

I nformationstechnologie

Internet & Mobilkommunikation

Logistik !==---,

Okonomie 1======-----, Sonstige F==;----'-=-......I

Sozialforschung & Psychologie =::::::::---' Umwelt & Okologie F==--...,

Verkehrs- & Raumplanung I---...... ....L----r----.----'

o 5 10 Anzahl

15

Abb. 17.3 Fachgebiete der teilgenommenen Experten 2. Runde (n = 41)

In Abb. 17.4 ist die Zusammensetzung des Expertenpanels der insgesamt ange­sehriebenen Experten und der zweiten Befragungsrunde aufgesehliisselt naeh Typ der Institution gegeniibergestellt. Hier zeigt sieh, dass die Gruppe der in Unter­nehmen tatigen Experten wahrend der Studie gegeniiber den anderen iiberpropor­tional stark abgenommen hat. Die Randbedingungen flir die Teilnahme sind trotz Bereitsehaft und Interesse der jeweiligen Experten in Untemehmen aus Zeit- und Kostengriinden nieht immer besonders giinstig. Bei einer Weiterfiihrung der Stu­die iiber die zweite Befragungsrunde hinaus ware mit einer we iter ansteigenden Panelmortalitat insbesondere in dieser Expertengruppe zu reehnen gewesen, wo­mit keine elaborierteren Ergebnisse zu erwarten gewesen waren.

Forschung 30 J Forschung

Interessenverbande m Interessenverbande 5

Unternehmen 48 1 Unternehmen

Verwaltung ill Verwaltung

(a) 10 20 30 40 10 20 30 40

Anzahl (b) Anzahl

Abb. 17.4 Typ der Institutionen der beteiligten Experten (a) angeschriebene insgesamt, (b) teilgenommene Experten der 2. Runde.

17.2.4 Fragebogen

Der verwendete Fragebogen gliedert sieh gemaB der Systemdefinition (vgl. Ab­sehnitt 17.1.3) naeh folgenden Themenbloeken:

Demografie und Raumstruktur - Verkehrsarten und Mobilitatsansprueh

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294 17 Der Verkehr in Ballungsriiumen im Jahre 2020

Steuerungsinstrumente und Verkehrsangebot Technischer Fortschritt Wirtschaftliches Umfeld und Mobilitiitskosten

Er bestand in beiden Runden aus acht Seiten mit 19 Fragen die sich teilweise aus mehreren Items zusammensetzen. Es kamen vier verschiedene Fragetypen zum Einsatz:

I. Rating-Skalen mit fiinf Abstufungen 2. Schiitzung prozentualer Anteile 3. offene Fragen (nur erste Runde) 4. Ranking von Einflussfaktoren (nur zweite Runde)

Die Ergebnisse der ersten Runde (Hiiufigkeiten in Prozent) sind iiber den Ant­wortskalen im Fragebogen der zweiten Runde angegeben (s. Beispiel in Abb. 17.5). Bei der Schiitzung prozentualer Anteile wurden die Antworten zur Veranschaulichung grafisch autbereitet.

Frage 2: Wie wird sich die Anzahl der am Tag pro Person zuruckgelegten Kilometer in deutschen Ballungsraumen bis 2020 verandern1

stark riickgangig 0%

o -2

0%

o -I

13%

o o

75%

o 1

12%

o 2

stark wachsend

Abb.17.S Beispiel fur eine Frage mit einem Item (zweite Befragungsrunde)

Durch die riickgemeldeten Informationen wird den Teilnehmem die Moglichkeit eines Vergleichs ihrer eigenen Einschiitzungen mit denen der gesamten Gruppe gegeben und die Moglichkeit erOffnet, die Einschiitzungen vor diesem Hinter­grund noch einmal neu zu iiberdenken.

Aus den offenen Fragen des ersten Fragebogens wurden fiir die zweite Runde einige neue Items abgeleitet, im neuen Fragebogen eingefiigt und durch kursive Schrift gekennzeichnet. Am Ende eines jeden der fiinf Abschnitte des Fragebo­gens sollte auf einer fiinfstufigen Rating-Skala die Sicherheit der getroffenen Ein­schiitzungen fiir den jeweiligen Abschnitt eingeschiitzt werden. In einer abschlie­Benden Frage wurden die Experten gebeten, die Vollstiindigkeit der im Fragebo­gen enthaltenen Einflussbereiche auf den Verkehr in Ballungsriiumen im Jahre 2020 mittels einer Schulnote (Note 1 bis 5) zu beurteilen.

17.3 Ergebnisse zur Methode

In diesem Abschnitt werden die Ergebnisse dargestellt, die sich auf die Delphi­Methode beziehen. Dies sind die Beurteilung der Vollstiindigkeit des Fragebogens durch die Experten, deren Selbsteinschiitzung der Sicherheit sowie eine Auswer-

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17.3 Ergebnisse zur Methode 295

tung der StabiliHit und Konvergenz der Expertenurteile. Die inhaltlichen Ergebnis­se werden im anschlieBenden Abschnitt 17.4 dargestellt.

17.3.1 Vollstandigkeit des Fragebogens

Die Ergebnisse zur Einschatzung der Vollstandigkeit der im Fragebogen enthalte­nen Einflussbereiche auf den Verkehr in Ballungsraumen im Jahre 2020 sind in Abb. 17.6 dargestellt. 49% der Teilnehmer der zweiten Runde beurteilen die Voll­standigkeit mit "gut", 1 0% sogar mit sehr gut. Dies ist eine deutlich bessere Beur­teilung, als von den gleichen Experten in der ersten Runde vorgenommen wurde. Dies bedeutet, dass durch die offenen Fragen der ersten Runde, deren Ergebnisse in den zweiten Fragebogen aufgenommen wurden, eine bessere Abdeckung der Thematik erreicht werden konnte. Dennoch beurteilen immerhin noch 115 der Experten die Vollstandigkeit nur mit ausreichend. Den groBten Anteil hieran ha­ben die Experten aus dem Fachgebiet "Verkehrs- und Raumplanung" (n = 3) und "Fahrzeugtechnologie" (n = 2). Dies ist ein Hinweis darauf, dass diese Gebiete im Fragebogen moglicherweise reiativ untergewichtet waren bzw. es sich beim The­rna "Mobilitat" urn ein so komplexes Thema handelt, dass weitere Bereiche exis­tieren, die nach Ansicht der Experten einen Einfluss ausiiben, aber im Fragebogen nicht beriicksichtigt wurden bzw. werden konnten.

~ SO .........

.~ ~W ::l I.. E 30

..c ~ 20 ~ 'iii 10 .... c «

13

sehr gut

r-~

31 33 -

23

befriedigend gut ausreichend

Runde I

SO

40

30

20

1011.:l II 10 I sehr gut

-49

22 20

befr.iedigend gut ausreichend

Runde 2

Abb. 17.6 Einschiitzung der Vollstiindigkeit der Einflussbereiche durch den Fragebogen (nur Teilnehmer beider Delphi-Runden).

17.3.2 Subjektive Sicherheit der Experten

Am Ende jedes Themenblocks des Fragebogens wurde auf einer fUnfstufigen Rating-Skala nach der Sicherheit der getroffenen Einschatzungen fUr den jeweili­gen Abschnitt gefragt. Der Text zur subjektiven Sicherheit lautete "Bei den getrof-

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296 17 Der Verkehr in Ballungsriiumen im Jahre 2020

fenen Einschatzungen innerhalb des Abschnitts bin ich mir 1 = sehr unsicher bis 5 = sehr sicher". Die Mittelwerte der Antworten sind in Tabelle 17.1 zusammen­gefasst.

Tabelle 17.1 Subjektive Sicherheit der Experten (Mittelwerte auf einer 5-stufigen Skala und Standardabweichung).

I. Befragung 2. Befragung

Themenblock Mittel- Standard- Mittel- Standard-wert abweichung wert abweichung

Demografie und Raumstruktur 3,78 0,69 3,90 0,60

Verkehrsarten und Mobilitlitsanspruch 3,98 0,61 3,95 0,50

Steuerungsinstrumente und Verkehrsangebot 3,76 0,89 3,63 0,70

Technischer Fortschritt 3,80 0,68 3,78 0,66

Wirtschaftliches Umfeld und Mobilitatskosten 3,88 0,72 3,87 0,61

Die gefundenen Werte deuten auf ein insgesamt hohes Niveau der Selbsteinschat­zung der Sicherheit bei der Einschatzung abgefragter Entwieklungen hin. Nahezu aIle Selbsteinschatzungen liegen im oberen Bereich der Skala. Zwischen erster und zweiter Befragung ist kein Anstieg der Sicherheit insgesamt festzustellen. Die Riickmeldung der Ergebnisse der ersten Befragung haben die subjektive Sicher­heit der Experten nieht erhOht.

17.3.3 Stabilitat und Konvergenz

Ais ein Abbruchkriterium fiir eine Delphi-Befragung kann die Stabilitat der Urtei­Ie herangezogen werden. Demnach wird so lange befragt, bis ein definierter Grad an Stabilitat erreicht wird (Hader u. Hader, 1994). Auch wenn die Zahl der Befra­gungsrunden in dieser Untersuchung aus forschungspragmatischen Griinden be­reits feststand, solI die Stabilitat zumindest kontrolliert werden.

Zunachst wurde mit dem Wilcoxon-Test fliT Paardifferenzen (vgl. z.B. Bortz, 1999) iiberpriift, inwieweit sich die Ratings der einzelnen in beiden Runden ver­wendeten Items hinsiehtlich ihrer zentralen Tendenz unterscheiden. Es zeigt sich nur bei drei der insgesamt 35 Items ein statistisch signifikanter Unterschied zwi­schen beiden Befragungsrunden.22

22Items mit signifikantem Unterschied zwischen erster und zweiter Befragung: - Der Mobilitiitsanspruch der Bevolkerung wird auch in Zukunft hauptsiichlich yom moto­

risierten Individualverkehr befriedigt werden konnen. Inwieweit konnen Sie diese The­se bestiitigen (stimme gar nicht zu ... stimme voll zu).

- Der entsprechende Ausbau der Verkehrsinfrastruktur wird den motorisierten Individual­verkehr in den niichsten 20 Jahren verstiirkt beriicksichtigen und fOrdem bzw. sind re­striktive MaBnahrnen zu erwarten! Bitte schiitzen Sie ein, ob die MaBnahmen eher re­striktiv oder unterstiitzend ausfallen werden (restriktiv ... unterstiitzend).

Page 300: Kraftfahrzeugführung ||

17.4 Zukiinftige Entwicklung des Verkehrs in deutschen BaUungsraumen 297

Der Anteil der zwischen erster und zweiter Runde unveranderten Urteile kann als Stabilitatsindikator herangezogen werden. Die Ergebnisse sind in Tabelle 17.2 zusammengefasst. Obwohl in einigen Untersuchungen zur Delphi-Methode ge­zeigt werden konnte, dass die groBten Veranderungen zwischen der ersten und der zweiten Runde stattfinden (Hader u. Hader, 1998), wurde deutlich, dass in der vorliegenden Untersuchung bereits zwischen erster und zweiter Runde in den einzelnen Themenblocken durchschnittlich etwa 60 bis 70% der Beurteilungen nicht mehr geandert wurden.

Tabelle 17.2 Stabilitat der Urteile der in beiden Runden verwendeten Items nach Themen­blacken (nur Teilnehmer beider Delphi-Runden, n = 41).

Themenblock

Demografie und Raumstruktur

Verkehrsarten und Mobilitatsanspruch

Steuerungsinstrumente und Verkehrsangebot

Technischer Fortschritt

Wirtschaftliches Umfeld und Mobilitatskosten

durchschnittlicher Anteil Range [%] unveranderter Urteile [%]

67 (51 ... 78)

60 (44 ... 75)

59 (51 ... 71)

60 (44 ... 72)

67 (54 ... 75)

Grundsatzlich wird mit der Delphi-Methode die Schaffung eines Konsens zwi­schen den beteiligten Experten angestrebt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich flir ein konvergentes Ergebnis aile Experten immer an eine gemeinsame Beurtei­lung annahem mussen (s.a. Hader u. Hader, 2000). Beispielsweise weisen bipolare Verteilungen der Urteile auf das Vorhandensein zweier kontroverser Grundpositi­onen hin. Die Konvergenz der Urteile lasst sich am einfachsten direkt anhand der Verteilungen der Urteile erkennen.

Eine hohe Konvergenz der Urteile bezuglich einer Ratingstufe wird im folgen­den als Trend bezeichnet. Entsprechend der gefundenen Konvergenzen werden aus den Ergebnissen Trends abgeleitet. Verteilungen, aus denen sich kein Trend erkennen lasst, werden hinsichtlich einer Bipolaritat gepriift und dargestellt. Die­jenigen Antwortverteilungen, bei denen weder ein Trend noch eine mehrgipflige Verteilung zu erkennen ist, werden als indifferent eingestuft und als solche disku­tiert.

17.4 Zuki.inftige Entwicklung des Verkehrs in deutschen Ballungsraumen aus Sicht der Experten

In diesem Abschnitt ist die quantitative Auswertung aller Items des Fragebogens der durchgeflihrten Delphi-Studie zusammengefasst. Gegliedert in die Bereiche Demografie und Raumstruktur, Verkehrsarten und Mobilitatsanspruch, Steue­rungsinstrumente und Verkehrsangebot, technischer Fortschritt, wirtschaftliches

- Wie werden sich die mit der Benutzung des OPNV verbundenen Kosten entwickeln? (sinken ... steigen)

Page 301: Kraftfahrzeugführung ||

298 17 Der Verkehr in Ballungsraumen im Jahre 2020

Umfeld und Mobilitatskosten werden die Hauptaussagen der Experten nachste­hend dargestellt.

Die Ergebnisse beziehen sich im wesentlichen auf die Beantwortung der ge­schlossenen Fragen der zweiten Befragungsrunde (vgl. Abschnitt 17.2.2), die i.a. als die "eigentlichen" Resultate einer Delphi-Studie aufgefasst werden konnen (vgl. Stratmann, 2000).

Die hier wiedergegebenen Antworten und - falls vorhanden - dargestellten Trends sind groBtenteils wortlich aus dem Fragebogen libemommen. Sofem groBe Abweichungen zur ersten Befragungsrunde vorliegen, finden diese Erwahnung.

17.4.1 Demografie und Raumstruktur

Die Mehrheit der Experten rechnet in den nachsten 20 Jahren mit einer steigenden Bevolkerungsdichte in deutschen Ballungsraumen. Nur in insgesamt 10% der Antworten wird von einer diesbezliglich riickgangigen Entwicklung ausgegangen.

Der Personenverkehr in deutschen Ballungsraumen wird auch innerhalb der nachsten 20 Jahre weiter wachsen. Einen wesentlichen Grund sehen die Experten darin, dass das Verkehrsautkommen in deutschen Ballungsraumen durch einen sich vergroBemden Einzugsbereich der deutschen Stadte steigen wird. 40% der Experten sehen in diesem Zusammenhang zudem eine Entwicklung in Richtung zunehmender Desurbanisierung. Die Durchsetzungschancen des stadtebaulichen Konzepts "Stadt der kurzen Wege" wird fUr die nachsten 20 Jahre von den Exper­ten eher skeptisch beurteilt. Gegenliber 76% der Experten, fUr die eine Durchset­zung dieses Konzepts nicht vorstellbar ist, glauben nur 7% an dessen EinfUhrung.

Gefragt nach einer Vergleichbarkeit der strukturellen Entwicklungen in ver­schiedenen deutschen Ballungsraumen sieht zwar die Mehrheit der Experten (58%) fUr deutsche Ballungsraume eine ahnliche Entwicklung innerhalb der nachsten 20 Jahre. Ein nicht zu vemachlassigender Teil von einem Viertel der Befragten erwartet dagegen, dass sich die deutschen Ballungsraume sehr unter­schiedlich zueinander entwickeln werden.

17.4.2 Verkehrsarten und Mobilitatsanspruch

Wie bereits dargestellt, herrscht unter den Experten groBe Einigkeit dariiber, dass die taglich zuriickgelegten Personenkilometer auch in Zukunft weiter ansteigen werden. Verteilt auf die verschiedenen Verkehrszwecke rechnen die Experten mit den starksten Zuwachsraten im Bereich des Freizeitverkehrs. Knapp ein Drittel der Experten prognostizieren hier fUr die nachsten 20 Jahre nicht nur ein leichtes, sondem sogar ein starkes Wachstum. In den Bereichen des Berufs- und Einkaufs­verkehrs sehen die Voraussagen weniger eindeutig aus: Zwar wird auch hier mehrheitlich davon ausgegangen, dass die Menschen in den nachsten 20 Jahren groBere Entfemung zum Einkaufen und Arbeiten zuriicklegen werden, 39% (Ein­kaufsverkehr) bzw. 32% (Berufsverkehr) der Experten glauben aber auch, dass die Personenkilometer fUr diese Verkehrszwecke gleich bleiben werden. Flir den Berufsverkehr wird sogar von 7% der Befragten ein auf die Kilometer bezogener

Page 302: Kraftfahrzeugführung ||

17.4 Zukiinftige Entwicklung des Verkehrs in deutschen Ballungsrliumen 299

riicklaufiger Trend vorhergesagt. Nicht nur der Personenverkehr wird zu einem steigenden Verkehrsaufkommen innerhalb der Ballungsraume fuhren. Auch in bezug auf den Lieferverkehr ist in den nachsten 20 Jahren mit einem ungebroche­nen Wachstum zu rechnen.

Wie wird versucht werden, dieses steigende Verkehrsaufkommen in den Griff zu bekommen? Ein wesentlicher Trend geht in Richtung Leitsysteme und nachfra­gegesteuerte OPNV-Systeme. Erstere werden sowohl passiv durch Informationen als auch aktiv durch elektronische Verkehrssteuerung den Verkehrsfluss versu­chen zu optimieren, wohin gegen letztere eher mittels nachfrageorientierter Ange­botsgestaltung das Ziel verfolgen, das Verkehrsaufkommen umzuverteilen bzw. den StraBenverkehr zu reduzieren.

Die ebenfalls in diesem Zusammenhang haufig diskutierte Vemetzung der ver­schiedenen Verkehrstrager, sprich die Durchsetzung der Intermodalitat, wird von 51 % der Experten fur wahrscheinlich gehalten. Demgegeniiber stehen aber auch 29%, die diese Entwicklung indifferent beurteilen und ein Fiinftel der Befragten, die sich auch fur die nachsten 20 Jahre die Moglichkeit des reibungslosen Umstiegs von dem einen auf das andere Verkehrsmittel nicht vorstellen konnen. Konkret bezogen auf das Konzept von Park-and-Ride-Systemen fallen diese Ein­schatzungen jedoch anders aus. Hier sehen die Experten einen klaren Trend in Richtung verstarkter Einfuhrung.

Die Entwicklungschancen von Car-Sharing werden tendenziell eher skeptisch beurteilt. 55% der Experten halten dessen Durchsetzung fur unwahrscheinlich, nur 28% fur wahrscheinlich und 18% sind indifferent (vgl. Abb. 17.7).

Die zukiinftige Durchsetzung von City-Logistik-Konzepten, beispielsweise der Nutzung der U-Bahn fur den Giitertransport, lasst sich nicht eindeutig beurteilen. Die Einschatzungen der Experten verteilen sich gleichma13ig - zu je einem Drittel -auf die Antworten "Durchsetzung unwahrscheinlich", "wahrscheinlich" und "mit­tel". ,.........

SO ~ ,--

. iii 40 ..... ....

SO ::J .... Q)

E 30 ~

Q) r---c

20 ~ - 25

'iii 10 ..... c

5 18 3

« n ,--, sehr unwahrscheinlich wahrscheinlich

unwahrscheinlich sehr wahrscheinlich

indifferent

Abb. 17.7 Bitte beurteilen Sie Car-Sharing beziiglich seiner Durchsetzung in den nlichsten 20 Jahren. (nur Teilnehmer beider Delphi-Runden, nur im Fragebogen fur die zweite Runde enthalten).

Page 303: Kraftfahrzeugführung ||

300 17 Der Verkehr in Ballungsraumen im Jahre 2020

17.4.3 Verkehrsangebote und Steuerungsinstrumente

Nahezu unabhangig von der Durchsetzung der im vorangegangenen Abschnitt dargestellten Konzepte ist davon auszugehen, dass das Auto als Verkehrsmittel innerhalb der Stadte nicht an Bedeutung verlieren wird. Die Bev6lkerung wird -so die mehrheitliche Meinung der Experten - auch in 20 Jahren noch ihre Mobili­tatsanspriiche in der Stadt primar mit dem Auto befriedigen, dies jedoch zu deut­lich erh6hten Kosten.

Die Ergebnisse zu der Frage, inwieweit der Mobilitatsanspruch der Bev6lke­rung zukunftig durch den motorisierten Individualverkehr befriedigt wird, sind in Abb. 17.8 dargestellt. Dieses Beispiel zeichnet sich durch eine starke Veranderung zwischen erster und zweiter Runde aus. Nach einem anfangs indifferenten Bild zeichnet sich in der zweiten Runde ein Trend abo

*' 50 ......... 50 (1) 40 40 49 .... L.. :I L.. -(1) 30 - 30 E

31 33 ..c r---(1)

20 c 23 20

~ r--- 22 20 (1)

10 13 10 .... c «

sehr gut befriedigend gut ausreichend

sehr gut befriedigend gut ausreichend

Runde I Runde 2

Abb. 17.8 Der Mobiltatsanspruch der Bey61kerung wird auch in Zukunft in den Stadten hauptsachlich yom motorisierten Indiyidualyerkehr befriedigt werden. Wie beurteilen Sie diese Aussage? (nur Teilnehmer beider Delphi-Runden).

80% der Experten gehen in diesem Zusammenhang davon aus, dass eine flachen­deckende Parkraumbewirtschaftung eingefUhrt wird. 43% vermuten zudem, dass die Autofahrer mit einer innerstadtischen StraBenbenutzungsgebuhr (City-Maut) rechnen mussen. Einen stark restriktiven V orsto13 der Politik, Innenstadte fUr den Autoverkehr ganzlich zu sperren, halten die Experten jedoch fUr au13erst unwahr­scheinlich. Schon bei der V orstellung, dass gewisse Innenstadtbereiche fUr den Autoverkehr gesperrt werden k6nnten, tun sich die meisten Experten schwer. Viel­mehr ist damit zu rechnen, dass einzelne StraBen I-zuge verstarkt verkehrsberuhigt sein werden.

Bezuglich der Infrastruktur in Ballungsraumen wird erwartet, dass die Ver­kehrspolitik in den nachsten 20 Jahre den Offentlichen Personennahverkehr und den nicht motorisierten Verkehr fordern wird. Die politische Richtung in bezug auf den Umgang mit dem motorisierten Individualverkehr beurteilten die Experten in der ersten Befragungsrunde relativ indifferent. Erst in der zweiten Runde wurde

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17.4 Zukiinftige Entwicklung des Verkehrs in deutschen Ballungsraurnen 301

ein sehr eindeutiger Trend in Richtung leicht restriktiver Handhabung deutlich. Sehr iihnlieh in bezug auf die erste und zweite Befragungsrunde, aber in sieh un­tersehiedlieh, verteilten sieh dagegen die Antworten zu dem Lieferverkehr: 40% der Experten sehen seitens der Verkehrspolitik eine leieht unterstiitzende Tendenz, 40% keine klare Linie und weitere 20% vennuten eher leicht restriktive MaBnah­men.

Der Trend innerhalb der Verkehrsangebote wird zunehmend in Richtung neue zielgruppenspezifisehe Mobilitiitsdienstleistungen gehen. Fur die bereits bekann­ten Ansiitze bedeutet dies, dass sowohl Mobilitiitsdienste flir Senioren als auch Sammeltaxen stark naehgefragt werden, wiihrend die Nutzung einer City-Mitfahr­zentrale flir innerstiidtisehe Fahrten eher gering ausfallen wird. Tendenziell eher negativ werden ebenfalls die Zukunftsehaneen flir Konzepte wie Cash Car oder Rent-a-bike bewertet. So konnen sieh 53% (Cash Car) bzw. 49% (Rent-a-bike) der Experten nieht vorstellen, dass zukiinftig vennehrt Personen einen Anreiz darin sehen, ihr Fahrzeug zu vennieten bzw. ein gemietetes Fahrrad innerstiidti­sehes als Verkehrsmittel zu nutzen. 26% bzw. 24% stufen die Marktehaneen von Cash Car bzw. Rent-a-bike als mittel ein und vergleichsweise nur 21 % (Cash Car) bzw. 27% (Rent-a-bike) halten diese flir hoch.

Aueh die Verkehrskonzepte werden in den niichsten 20 Jahren verstiirkt ziel­gruppenorientiert ausgeriehtet werden mussen, so die Mehrzahl der Experten. Daraus resultierend bedeutet dies flir die Verkehrsmittel, dass sich vor allem der Lkw, der Pkw, die Regionalziige und der Bus auf ein sich veriinderndes Umfeld und damit auf veriinderte Rabmenbedingungen einstellen mussen (Lkw: 95% der Experten gehen von einem starken bis sehr starken Veriinderungsdruek aus, Pkw: 86%, Regionalziige: 81%, Bus: 78%). Unter dem geringsten Veriinderungsdruck wird unter den sehienengebunden Verkehrsmittel die U-Bahn, unter den motori­sierten Verkehrsmittel der Roller bzw. das Motorrad und in bezug auf alle Ver­kehrsmittel das Fahrrad stehen. Diese Verkehrsmittel werden nach Ansieht der Experten in nahezu unterveriinderter Fonn aueh noeh in 20 Jahren die Mobilitiits­bedurfnisse der Stadter befriedigen und das Stadtbild in gewohnter Fonn priigen.

17.4.4 Technischer Fortschritt

Der flir die niiehsten Jahre zu erwartende verstiirkte Einsatz von Telekommunika­tion (z.B. E-Business, Teleshopping, Videokonferenzen, Telearbeit etc.) wird sieh naeh Einsehiitzung der Experten auf den Personen- und Lieferverkehr unterschied­lieh auswirken. Wiihrend die daraus resultierenden Veriinderungen des Personen­verkehrs mehrheitlich als quantitativ gering beurteilt werden (70% der Experten), prognostizieren die Befragten flir den Lieferverkehr eine deutliche Zunabme (86% der Nennungen). Die in der Offentliehkeit vielfach zu hOrende Hypothese, der verstiirkte Einsatz der Telekommunikation wird eine verkehrsreduzierende Wir­kung auf den Personenverkehr haben, wird somit von hier befragten Experten nicht bestiitigt. 28% der Befragten meinen sogar im Gegenteil, dass die Telekom­munikation aueh in Bezug auf den Personenverkehr eine verkehrsinduzierende Wirkung haben wird.

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302 17 Der Verkehr in Ballungsriiumen im Jahre 2020

Der Verkehrsfluss wird in den nachsten 20 Jahren durch den verstarkten Einsatz von Telematik im Stra13enverkehr, also auch von Technologien, die daraufhinaus­laufen, dass der Fahrer entlastet wird (sog. Fahrerassistenzsysteme), verbessert werden. Der Hypothese, dass eine solche Verkehrsflussoptimierung langfristig dadurch konterkariert wird, dass diese Verbesserung eine Verkehrszunahme nach sich zieht, schlieBt sich die Mehrzahl der Experten nicht an. Nur 20% der Befrag­ten gehen aufgrund des verstarkten Einsatzes von Telematik von einer Verkehrs­zunahme aus.

Ob die Verkehrsstrome ausschlieBlich iiber ein eher selbstorganisiertes Mana­gement organisiert werden oder ob zusatzlich dazu eine zentral gesteuerte Routen­beeinflussung zum Einsatz kommt, wird von den Experten unterschiedlich gese­hen. So halten es 52% der Experten fiir unwahrscheinlich, dass der Verkehrsstrom innerstadtisch durch den Einsatz von Verkehrsleitsystemen optimiert wird, 13% sind sich unsicher und 36% glauben, dass diese Technologien flachendeckend zum Einsatz kommen wird. Demgegeniiber sicher scheint die Entwicklung indivi­dueller Informationsbereitstellung beispielsweise iiber das Handy oder einem Personal-Travel-Assistent. Diese Innovationen werden zukiinftig ein wichtiger verkehrsflussoptimierender Bestandteil unserer eigenstandigen Routenplanung sein.

1m Modalsplit wird der OPNV gegeniiber dem MIV in den nachsten Jahren zu­legen. Die gemittelten Werte der Antworten lassen einen Anstieg des OPNV von heute 13% auf 22% und eine leichte Abnahme des MIV von derzeit 67% auf 62% erwarten. Die restlichen 16% verteilen sich auf den nicht motorisierten Individu­alverkehr und auf die FuBganger.

17.4.5 Wirtschaftliches Umfeld und Mobilitatskosten

Die Kosten fiir das innerstadtische Mobilsein werden steigen (vgl. Steuerungsin­strumente und Verkehrsangebote). In bezug auf das Autofahren rechnen 88% der Experten mit einem moderaten und 10% mit einem starken Anstieg der inflations­bereinigten variablen und fixen Kosten (Kraftstoffpreis, Parkgebiihren, Steuem, Versicherung etc.). In Abb. 17.9 sind die Ergebnisse zur Einschatzung der Kos­tenentwicklung des motorisierten Individualverkehrs als ein Beispiel fiir einen klaren Trend mit hoher Konvergenz der Urteile abgebildet.

Fiir den OPNV sehen diese Prognosen in der zweiten Befragungsrunde sehr ahnlich aus. Hier gehen 85% von einem moderaten Kostenanstieg fiir die Nutzung der offentlichen Verkehrsmittel im Sinne von Fahrpreisen aus und 5% von einem starken. Auch in der ersten Runde gab es schon einen Trend in Richtung steigen­der Kostenentwicklung, jedoch war dieser im Vergleich zu zweiten Runde deut­lich weniger stark ausgepragt.

Die Menschen werden jedoch trotz steigender Kosten unverandert we iter Auto fahren oder die Offentlichen Verkehrsmittel nutzen. So ist die Nutzung des motori­sierten Individualverkehrs und auch die des offentlichen Verkehrs nach Einschat­zung der Experten nicht preissensitiv. In bezug auf den offentlichen Verkehr rech-

Page 306: Kraftfahrzeugführung ||

17.5 Ausblick 303

nen sogar 34% der Experten trotz steigender Fahrpreise mit zunehmenden Fahr­gastzahlen .

........ ~ ........ .~ 75 L. :::J L.

E 50 ~ Q.I c:

~ 25 .~

c:

-70

5 8 o C"""J c-=1. « stark sinkend gleichbleibend stark steigend

sinkend steigend

Runde I

.---

75 88

50

25 10

0 0 2 In ..--..

stark sinkend gleichbleibend stark steigend sinkend steigend

Runde 2

Abb. 17.9 Wie werden sich die inflationsbereinigten Kosten flir die Benutzung des MIV (Kraftstoff u.a. variable Kosten) entwickeln? (nur Teilnehmer beider Delphi-Runden).

Dass die Kosten nach Sicht der Experten nicht ausschlieBlich bzw. erst an runfter Stelle die Wahl des Verkehrsmittels beeinflussen, zeigt auch das folgende abge­fragte Ranking. Hiemach ist rur die Wahl eines Verkehrsmittels das wichtigste Kriterium die Flexibilitat. Danach folgen seine Verftigbarkeit, Schnelligkeit, der Komfort und erst dann die Kosten. Gefolgt werden diese von der Sicherheit, den Transportmoglichkeiten, dem Status des Verkehrsmittels und den sich wahrend der Fahrt bietenden Arbeitsmoglichkeiten. Die Umweltvertraglichkeit rangiert an letzter Stelle und hat somit rur die Wahl eines Verkehrsmittels unter den aufge­ftihrten Kriterien - nach Sicht der Experten - die geringste Bedeutung.

Der vielfach diskutierte Zusammenhang zwischen dem Bruttoinlandsprodukt und der landesspezifischen Verkehrsleistung wurde von Experten nahezu ein­stimmig bestatigt. 93% der Befragten gehen davon aus, dass wachsender Wohl­stand zu einer Zunahme der Verkehrsleistung ftihrt .

AbschlieBend ist festzuhalten, dass die Verkehrspolitik in Ballungsraumen auch in den nachsten 20 lahren weiter Aufgabe der Regionalpolitik sein wird, wobei die Experten davon ausgehen, dass diese eher reaktiven als aktiven Charakter haben wird.

17.5 Ausblick

1m Rahmen dieser Delphi-Studie wurden einige der wichtigen Aspekte behandelt, die im Zusammenhang mit der Zukunft des Verkehrs in Ballungsraumen in der Bundesrepublik Deutschland von Interesse sein werden.

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304 17 Der Verkehr in Ballungsriiumen im Jahre 2020

Zunachst zeigen die Ergebnisse etwas selbstverstandliches, namlich dass es ne­ben einigen klaren Erwartungen z.T. unterschiedliche Vorstellungen dariiber gibt, wie bestirnmte Entwicklungen in der Zukunft verlaufen werden. Dies ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Indiz dafUr, dass es unumganglich ist, mit Unsicherheiten zu leben und zu planen und dass man Entwicklungen standig im Auge behalten und bereit sein muss, Plane und Vorstellungen iiber die Zukunft irnmer wieder anzupassen. Bezogen auf die beschriebene Studie heiBt das, dass man evtl. in ein paar lahren eine ahnliche Untersuchung mit vergleichbaren Frage­stellungen, aber auf Basis aktualisierter Erkenntnisse durchfiihren sollte, urn auf diese Weise sein Bild von der Zukunft an die zwischenzeitlich eingetretene Reali­taten anzupassen.

Ansonsten konnen die Ergebnisse ganz nach individuellem Interesse verwendet werden. Einerseits kann die Gesamtheit aller Aussagen zu einem Bild verkniipft werden, das als Input fUr Diskussionen zwischen Experten dienen konnte. Aber auch jede Einzelaussage oder einzelne Themenbereiche lassen sich herauslosen, diskutieren und beliebig vertiefen.

Aufgrund der eingangs beschriebenen Problematik, dass gleiche Sachverhalte ganz unterschiedlich beurteilt werden konnen, erscheint uns eine inhaltliche Wer­tung der von den Experten erwarteten Entwicklungen nicht angebracht. Inwieweit im Zusammenhang mit der Entwicklung des Verkehrs in Ballungsraumen etwas wiinschenswert ware oder moglichst vermieden werden sollte, muss der Wertung des Einzelnen vorbehalten bleiben.

Politiker allerdings, deren Entscheidungen die verkehrlichen Rahmenbedingun­gen in Ballungsraumen wesentlich beeinflussen, miissen in diesem komplexen, teilweise widerspriichlichen Zielsystem, eine moglichst klare Position beziehen, urn iiberhaupt entscheiden zu konnen. Dass dies haufig nur ein Kompromiss sein kann, ist aufgrund der Komplexitat des Themenfeldes nicht verwunderlich. Gera­de politische Entscheidungen im Zusammenhang mit der Organisation des Ver­kehrs werden wohl immer mit besonderen Emotionen registriert und kommentiert. Insofem kommt es gerade bei diesem Thema darauf an, friihzeitig in der Offent­lichkeit iiber die unterschiedlichen Sichtweisen zu informieren und sie zu diskutie­reno Allerdings diirfen dadurch Entscheidungen nicht auf Dauer verzogert oder verwassert werden. Schon die Kenntnis der Griinde, die zu einer Entscheidung gefUhrt haben, erhoht oft die Akzeptanz dieser Entscheidung, selbst wenn sich der Einzelne ein anderes Ergebnis gewiinscht hatte.

Wenn es gelange, mit dieser Studie die Auseinandersetzung in Fachkreisen undloder in der Offentlichkeit iiber ein Thema, das viele Menschen in der Bundes­republik angeht, ein Stiick voran zu bringen, hatte dieses Projekt sein wichtigstes Ziel erreicht.

Literatur

Bortz, J (1999). Statistikfilr Sozialwissenschajiler. Berlin: Springer

Page 308: Kraftfahrzeugführung ||

Literatur 305

Forschungsverbund Lebensraum Stadt (Hrsg.) (1994): Szenarien und Handlungswege (Band II). Berlin: Ernst & Sohn

Grupp, H. (1995). Der Delphi-Report. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt Hader, M. & Hader, S. (1994): Die Grundlagen der Delphi-Methode. Ein Literaturbericht.

ZUMA-Arbeitsbericht Nr. 94102. Mannheim Hader, M. & Hader, S. (1995): Delphi und Kognitionspsychologie. Ein Zugang zur theore­

tischen Fundierung der Delphi-Methode. In: ZUMA-Nachrichten 37, Mannheim Hader, M. & Hader, S. (1998): Neue Entwicklungen bei der Delphi-Methode: Literaturbe­

richt II. ZUMA-Arbeitsbericht 98105, Mannheim ifm (1999). Zukunji der Mobilitiit. Wien: Institut flir Motivforschung Projektleitstelle Mobilitat und Verkehr des Landes Brandenburg (2000): Mega-City Ber­

linBrandenburg - Risiko und Chance for die individuelle Mobilitiit? Fachtagung 29.August 2000, Henningsdorf

Stratmann, B. (2000): Die Delphi-Methode in der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung: Eine Illustration am Beispiel einer Studie zu den Olympischen Spielen in Sydney im Jahr 2000. In: M. Hader & S. Hader, Die Delphi-Technik in den SozialwissenschaJten. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag

Page 309: Kraftfahrzeugführung ||

Sachregister

A

Abduktion • 52 Absicht des Fahrers • 34 Adaptivitiit • 54 aktives Gaspedal • 166 aktives Stellteil • 172 Akzeptanzurteile • 201 Anmutungsqualitiit • 266, 268, 273 Assistenz • 43 Assistenzsysteme· 51,173,277,278 Automatisierung • 42 Automatisierungsgrad • 85

B

Ballungsriiume • 287 Bedienkonzepte

Sprachgestiitzte • 179 Bedienung· 195 Benutzungsschnittstellen· 137 Bewertung von Mensch-Maschine-

Systemen • 24 B1ickbewegungsmessung • 207 Blickbewegungstechnik im Kraftfahrzeug •

216 Blickverhalten • 203 Blickzuwendungen • 188 Bremsassistent·74 By-wire-Systeme· 165

c Citypilot • 59 Closed-loop-Verfahren • 256 Conjointanalyse • 267 Cornea-Reflex-Methode • 214

D

De1phistudie • 287 deskriptive Modelle • 98 Differential GPS • 65

Diskomfort • 161 doppe1ter Fahrspurwechse1· 258 Dreh-Driick-Steller· 66 Drive-by-wire • 170 Dynamik-Modelle • 98

E

Eigenfrequenz • 242 Elektrookulogramm • 214 Entscheidungsmodell • 87 Experten • 287 Extramotive· 120 Eyes-Off-the-Road-Time·213

F

Fahrdynamik·245 Fahrerassistenz • 31 Fahrerassistenzsysteme • 22, 71 Fahrerverhalten • 119 Fahrleistung • 188 Fahrsicherheit· 75 Fahrsimulatoruntersuchungen • 72 Fahrsituation·91 Fahrverhalten·74 Fahrzeugakustik • 273 Fahrzeugattraktivitiit • 268 Fahrzeugfiihrung· 13 Fehler·44 Fehlhandlung·44 fertigkeitsbasiertes Verhalten· 88 Fixationshiiufigkeit • 202 forma1e Modellbildung • 97 Fiihrungsaufgabe· 156 Fuzzy Decision Making· 123

G Global Positioning System· 61

H

Hand1ungsregulation • 122

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308 Kraftfahrzeugfiihrung

haptische Wahmehmung· 158 Hindemisassistent • 95 Hydropuls • 239

I

Informationsverarbeitung • 19 Informationszirkulation • 14 innere Modelle • 170 Intelligenz • 53 Interaktion

multimodale·181 visuell-manuelle· 183

Interpretation von Blickbewegungen • 208

K

Kartendarstellung • 64 kausale Systeme • 99 kinasthetische Wahrnehmung· 158 kognitive Automation· 82 kognitive Karten· 58 kognitives Assistenzsystem • 84 Komfort • 231 Komfortbeurteilung • 242 Komfortempfinden • 161 Kompetenzdelegation • 36 Komplemation· 35 Konstanzleistung • 158 Kontrolliiberzeugungen • 282 Korrelation • 246 Korre1ationsanalyse • 238 Kraft - und Wegservomechanismus • 171 Kraft-Weg-Verlauf· 160 Kundenanforderungen • 264 KUT·282

L

Lenkrad·235 Lenkverhalten • 255 Limbustracking • 214 LISB·61 I-m-Modell • 90

M

Mechanorezeptoren· 157

Mechatronik • 170 Mehrfachanforderungen·138 Meissner-Korper· 157 Mensch-Maschine-Regelkreis· 155 Mensch-Maschine-Systeme·14 mentale Faktoren • 96 Merkelzellen· 157 MMS-Konzept

schalterreduziertes • 182 Mobilitat • 288 Motivationsbasis • 17 Motive· 102 Motivkonstrukte

formale Erweiterung • III multimediales Informationssystem· 145 multimodal • 177 Multimodalitat

sequentielle • 200 multiple Ressourcen • 138 Muskelspindeln· 157

N

Navigationsaufgabe· 156 Navigationssysteme • 57 nichtformale Modellen • 97 nichtlineare Regressionsanalyse • 88 Nutzungskontext • 141

o Open-loop-Kennfeld·254 Open-loop-Kennwerte·251 Open-loop-Verfahren·256

p

Pacini-Zellen· 157 Parameter der Blickbewegungen • 212 periphere visuelle Wahmehmung· 208 Personlichkeit • 281 Personlichkeitsfaktoren· 120 Personlichkeitsmerkmale • 281 Point of Regard Measurement· 215 Potenzfunktion • 240 primare Fahraufgabe ·156 Produktakzeptanz • 265

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Prognose • 289 Psychophysik • 232, 239

Q qualitative Modelle • 98 Querdynamik • 255

R

Radio Data System (RDS) • 67 Regressionsnetze • 88 Reifenriickstellmoment • 168 RESPONSE· 77 Ressourcenmodell • 179 Roadster· 231 Robustheit • 197 Riickstellkraft • 167

s Schaltgefiihl • 161 Schnittstellengestaltung • 76 Scout· 68 sekundiire Aufgaben· 156 semantisches Differential· 232 Sidestick • 172 sinnliche Anmutung • 266 Situation· 31, 33 situation awareness· 21 Spiegel· 235 Spiegelzittern·237 Sprachbedienung • 67 Spracherkennung • 180, 199 Stabilisierungsaufgabe· 155 Standardisierung von Assistenzfunktionen •

36 Stuckern • 231, 242 Subjektive Einschiitzungen· 188

Sachregister 309

systemergonomisch • 171

T

taktile Wahrnehmung • 157,239 Tastsinn • 158 tertiiire Aufgaben • 156 Thermorezeptoren· 157 Tiefenwahrnehmung· 158 Transparenz • 50

u Umgebungseinfliisse • 219 Unfalldaten • 72 Unfalle·31 Unterstiitzungsbedarf

subjektiver • 278

v Verkehr • 287 Verkehrssicherheit·58 vibroakustische Abstimmung • 231 vibroakustisches Komfortmodell • 243 visuelle Wahrnehmung • 239

w Wahrnehmungsleistungen • 19 Wertanmutung • 264

z Zittermodell • 243 Zittern • 231, 232 Zitter-Rating·241 Zukunft • 287