Upload
klaus-peter
View
375
Download
7
Embed Size (px)
Citation preview
Thomas Jiirgensohn· Klaus-Peter Timpe (Hrsg.)
Kraftfahrzeugfiihrung
Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH
Thomas Jürgensohn· Klaus-Peter Timpe (Hrsg.)
Kraftfahrzeugführung
Mit 132 Abbildungen und 30 Tabellen
, Springer
Herausgeber
Dr.-Ing. Thomas Jürgensohn TU Berlin ISS-Fahrzeugtechnik, TIB 13 Gustav-Meyer-Allee 25 13355 Berlin [email protected]
Prof. Dr. rer.nat.habil. Klaus-Peter Timpe TU Berlin Jebensstraße 1
10623 Berlin [email protected]
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Jürgensohn, Thomas: Kraftfahrzeugführung 1 Thomas Jfugensohn ; Klaus-Peter Timpe. - Berlin ; Heidelberg ; New York ; Barcelona; Hongkong ; London ; Mailand ; Paris; Singapur ; Tokio: Springer, 2001
ISBN 978-3-642-62639-5 ISBN 978-3-642-56721-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-642-56721-6 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder Vervielfaltigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfaltigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Stratbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.
http://www.springer.de
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2001 Ursprünglich erschienen bei Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 2001 Softcover reprint ofthe hardcover 1st edition 2001
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Sollte in diesem Werk direkt oder indirekt auf Gesetze, Vorschriften oder Richtlinien (z.B. DIN, VDI,
VDE) Bezug genommen oder aus ihnen zitiert worden sein, so kann der Verlag keine Gewähr für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität übernehmen. Es empfiehlt sich, gegebenenfalls für die eigenen Arbeiten die vollständigen Vorschriften oder Richtlinien in der jeweils gültigen Fassung hinzuzuziehen.
Einbandgestaltung: medio Technologies AG Berlin Satz: Karl-Heinz Keller, TU Berlin Gedruckt auf säurefreiem Papier SPIN: 10832865 68/3020 Rw - 5 43210 -
Hans-Peter Willumeit 31.12.1937 -16.07.2000
Vorwort
1m Sommer 2000 verstarb vollig unerwartet Prof. Dr. Willumeit, Leiter des Fachgebiets Kraftfahrwesen am Institut fUr Fahrzeugtechnik der Technischen Universitat Berlin. Prof. Willumeit war einer der wenigen Ingenieure in Deutschland, die sich mit der besonderen Problematik des Zusammenspiels von Fahrer, Fahrzeug und Verkehr wissenschaftlich auseinander gesetzt haben. Sehr friih erkannte er, dass diese Problematik nur im interdisziplinaren Dialog gelost werden kann. Deshalb suchte er von Anfang an den Kontakt zu seinen Kollegen aus den Humanwissenschaften an der TU und war Initiator und Mitbegriinder einer Reihe von interdisziplinar orientierten Forschungseinrichtungen. Aus der Tradition der ingenieurorientierten FlugfUhrung kommend, war es besonders die Modellierung des Fahrerverhaltens, die ihn interessierte. Er offnete sich dabei sehr bald den in der psychologischen Forschung griindenden Zugangsweisen und pragte dadurch das Gebiet der KraftfahrzeugfUhrung entscheidend mit. Anfanglich als zweiter Forschungsschwerpunkt neben der Kraftfahrzeugdynamik begonnen, wurde die KraftfahrzeugfUhrung in den letzten Jahren zum zentralen Thema der wissenschaftlichen Tatigkeit Hans-Peter Willumeits.
Anliegen der Herausgeber ist es, mit diesem Buch und mit der gleichzeitig ins Leben gerufenen Willumeit-Stiftung die so jah unterbrochenen Forschungsaktivitiiten in seinem Sinne weiter zu fUhren. Fast aIle Autoren haben mit Prof. Willume it - oft tiber viele Jahre - wissenschaftlich zusammen gearbeitet. Ihnen sei fUr ihre fast durchweg spontane Zusage fur eine Mitwirkung an diesem Band gedankt. Besonderer Dank gilt femer den Firmen DaimlerChrysler AG, BMW Group, Hella KG Hueck & Co, Magneti Marelli GmbH, der Firma Bosch sowie dem Verein Deutscher Ingenieure, die mit groBztigigen Spenden die Herausgabe dieses Buches ermoglichten.
Die Thematik der "FahrzeugfUhrung" umfasst in diesem Band aIle Aspekte der Kraftfahrzeugtechnik, die nicht isoliert von den Erfordemissen, Eigenschaften und Grenzen des menschlichen Fahrers betrachtet werden konnen. Dies geht tiber das Spezialgebiet "Fahrermodellierung" von Prof. Willumeit weit hinaus und beinhaltet u.a. Probleme der Ergonomie, Fragen nach einer kognitionswissenschaftlich unterstiitzten Cockpitgestaltung sowie Untersuchungsergebnisse zur Automatisierung oder Bewertung von Fahrzeugen. Wir sind tiberzeugt, mit dieser thematischen Akzentuierung der von Prof. Willumeit vertretenen Auffassung von KraftfahrzeugfUhrung in ihrer vieWiltigen thematischen Auffacherung zu entsprechen. Verbunden sind damit der Wunsch und die Hoffnung, dass die von ihm angestoBenen, vorbereiteten und begonnenen Forschungsarbeiten weitergefUhrt und ausgebaut werden. Die Erinnerung an den Kollegen, Freund und Wissenschaftler Hans-Peter Willumeit wird damit fUr lange Zeit fortwirken und seine Tatigkeit in unserer Erinnerung bleiben.
Berlin, im Sommer 2001 Thomas Jiirgensohn Klaus-Peter Timpe
Autorenverzeichn is
Suat Akyol, Dipl.-Ing.
Rheinisch-Westfalische Technische Hochschule Aachen
Ahomstrasse 55, 0-52072 Aachen
E-Mail: [email protected]
Guido Beier
Akzeptanz und Verhaltensanalyse, OaimlerChrysler AG
Oaimlerstr.l43, 0-12274 Berlin
E-Mail: [email protected]
Klaus Bengler, Dr.
MMIlNutzerforschung, BMW Group
0-80788 Miinchen
E-Mail: [email protected]
Norbert Boemak
Akzeptanz und Verhaltensanalyse, OaimlerChrysler AG
Oaimlerstr.143, 0-12274 Berlin
E-Mail: [email protected]
Heiner Bubb, Prof. Dr. rer. nat.
Lehrstuhl fUr Ergonomie, Technische Universitiit Miinchen
BoltzmannstraBe 15,0-85747 Garching E-Mail: [email protected] WWW: http://www.ergonomie.tum.de
Gunter Debus, Prof. Dr.
Institut fUr Psychologie, Rheinisch-Westflilische Technische Hochschule Aachen
Jiigerstr. 17/19,0-52066 Aachen
E-Mail: [email protected]
Gundi Dinse, M.A.
Institut fUr Mobilitiitsforschung, BMW Group
Charlottenstr. 43, 0-10117 Berlin
E-Mail:
WWW:
http://www.ifmo.de/
X Autorenverzeichnis
Christoph Fankhauser, Dipl.-Ing.
NVH-Vorentwicklung, MAGNA Steyr Engineering, Steyr-Daimler-Puch
Fahrzeugtechnik AG & Co KG
Liebenauer HauptstraBe 317, A-8041 Graz
E-Mail: [email protected]
WWW: http://www.magnasteyr.com
Berthold Farber, Prof. Dr.
Institut fUr Arbeitswissenschaft, Universitiit der Bundeswehr Miinchen
D-85577 Neubiberg
E-Mail: [email protected]
Peter Frank, Dipl.-Ing.
Forschung und Technologie 1, DaimlerCbrysler AG
HPC G202, D-70546 Stuttgart
E-Mail: [email protected]
Hans-Gerhard Giesa, Dipl.-Ing.
Fachgebiet Mensch-Maschine-Systeme, Technische Universitiit Berlin
Sekr. J 2-1, Jebensstr. I, D-10623 Berlin
E-Mail:
WWW:
http://www.mms.tu-beriin.de/MMS/
Udo von Garrel
Institut fUr Systemdynamik und Flugmechanik, Universitiit der Bundeswehr Miinchen
D-85577 Neubiberg
E-Mail: [email protected]
WWW: http://www.unibw-muenchen.de
Rudolf Haller, Dr.
BMW Group
D-80788 Miinchen
E-Mail: [email protected]
Walter Hell, Dr.
Institut fUr Mobilitiitsforschung, BMW Group
Charlottenstr. 43, D-101l7 Berlin
E-Mail: [email protected] WWW: http://www.ifmo.de/
Autorenverzeichnis XI
Marita Irmscher, Dr.-Ing.
D-MC/P0202 (Vehicle Pre-Programs & Concepts Engineering), Ford Werke AG Spessartstr., D-50725 Kaln E-Mail: [email protected]
Thomas Jiirgensohn, Dr.-Ing.
AgeLab, Massachusetts Institute of Technology I Amherst Str., Room E40-29 I Cambridge, 02142-1309 MA
USA
E-Mail: [email protected];[email protected]
Raphael M. Jung, Dipl.-Ing.
Peter-Vischer-Str.6, D-12157 Berlin
E-Mail: [email protected]
Harald Kolrep, Dr. phil.
Ahomallee 6, D-12587 Berlin E-Mail: [email protected] WWW: http://www.Kolrep-Rometsch.de
Karl-Friedrich Kraiss, Prof. Dr.-Ing.
Lehrstuhl fUr Technische Informatik, Rheinisch-Westfalische Technische Hochschule Aachen Ahomstrasse 55, D-520n Aachen
E-Mail: [email protected]
WWW: http://www.techinfo.rwth-aachen.de
Hans-Peter KrUger, Prof. Dr.
Interdisziplinares Zentrum flir Verkehrswissenschaften (Center for Traffic Sciences), Psychologisches Institut, Universitat Wiirzburg Rantgenring II, D-97070 Wiirzburg E-Mail: [email protected]
Lars Libuda, Dipl.-Ing.
Rheinisch-WesWilische Technische Hochschule Aachen
Ahomstrasse 55, D-520n Aachen
E-Mail: [email protected]
Alexandra Neukum, Dipl. Psych.
Interdisziplinares Zentrum flir Verkehrswissenschaften (Center for Traffic Sciences),
Psychologisches Institut, Universitat Wiirzburg
Rantgenring II, D-97070 Wiirzburg E-Mail: [email protected]
XII Autorenverzeichnis
Reiner Onken, Prof. Dr.-Ing.
Institut fiir Systemdynamik und Flugmechanik, Universitiit der Bundeswehr Miinchen
D-85577 Neubiberg
E-Mail:
WWW:
http://www.unibw-muenchen.de
Hans-Jorg Otto
Institut fiir Systemdynamik und Flugmechanik, Universitiit der Bundeswehr Miinchen
D-85577 Neubiberg
E-Mail: [email protected]
WWW: http://www.unibw-muenchen.de
Werner Reichelt, Dr.-Ing.
Forschung und Technologie 1, Leiter Mensch-Maschine-Interaktion, DaimlerChrysler AG
HPC 0202, D-70546 Stuttgart
E-Mail: [email protected]
Gotz Renner, Dr.
Akzeptanz und Verhaltensanalyse, DaimlerChrysler AG
Daimlerstr.143, D-12274 Berlin
E-Mail: [email protected]
Matthias Rotting, Dr.-Ing.
Liberty Mutual Research Center for Safety and Health 71 Frankland Road, USA-Hopkinton, MA 01746
E-Mail: [email protected]
WWW: http://www.roetting.de
Kay Schattenberg, Dipl. Psych.
Forschung und Techno1ogie, DaimlerChrysler AG
Mercedesstr. 136, D-70322 Stuttgart
E-Mail: [email protected]
Katharina Seifert, Dipl. Psych.
Fachgebiet Mensch-Maschine-Systeme, Technische Universitiit Berlin
Sekr. J 2-1, Jebensstr. I, D-10623 Berlin
E-Mail:
WWW:
http://www.mms.tu-berlin.de/MMS/
Autorenverzeichnis XIII
Klaus-Peter Timpe, Prof. Dr.
Fachgebiet Mensch-Maschine-Systeme, Technische Universitiit Berlin
Sekr. J 2-1, Jebensstr. I, D-10623 Berlin E-Mail: [email protected]
WWW: http://www.mms.tu-berlin.de/MMS/
Alf Zimmer, Prof. Dr.
Lehrstuhl fUr Experimentelle Angewandte Psycho logie, Universitiit Regensburg
D-93040 Regensburg E-Mail: [email protected] WWW: http://www-zimmer.psychologie.uni-regensburg.de
In haltsverzeich n is
Hans-Peter Wiliumeit: Versuch einer Wiirdigung Thomas Jiirgensohn, Klaus-Peter Timpe, Raphael Jung, Marita Irmscher ...................... 1
Der Wissenschaftler und Lehrer ....................................................................................... 2 Der ideale Professor .......................................................................................................... 5 Der zweite Vater ............................................................................................................... 6 Der engagierte Lehrer ....................................................................................................... 7
1 Fahrzeugrdhrung: Anmerkungen zum Thema Klaus-Peter Timpe ............................................................................................................ 9
1.1 Vorbemerkung: Fahrzeugfiihrung an der TU Berlin ............................................... 9 1.2 Fahrzeugfiihrung als Tiitigkeit im Mensch-Maschine-System ............................. 10 1.3 Zur menschlichen Informationsverarbeitung bei der Fahrzeugfiihrung ................ 16 1.4 Einige Schlussfolgerungen fur die Interaktionsgestaltung .................................... 22 1.5 Ausblick. ................................................................................................................ 25
Teil I Assistenzsysteme
2 Fahrer-Assistenz versus Fahrer-Bevormundung: Wie erreicht man, dass der Fahrer Herr der Situation bleibt? Rudolf Haller .................................................................................................................. 31
2.1 Einleitung .............................................................................................................. 31 2.2 Formen der Fahrerassistenz ................................................................................... 31 2.3 Situationen - mehr als nur Datensatze .................................................................. 33 2.4 Komplemation statt Automation? ......................................................................... 35 2.5 Antworten zur Rollenverteilung Fahrer-Fahrerassistenz ...................................... 36 2.6 Fragen an die Forschung ....................................................................................... 37
3 Wie intelligent darflmuss ein Auto sein? Anmerkungen aus ingenieurpsychologischer Sicht AlfZimmer ..................................................................................................................... 39
3.1 Von der direkten Lenkung zur assistierten Regeiung ........................................... 39 3.2 Informationsverarbeitung und F ehlhandlungen .................................................... 44 3.3 Konsequenzen fur die Gestaltung von Assistenzsystemen .................................. .47 3.4 Schlussfolgerungen ............................................................................................... 53
4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen - psychologische Gestaltungskonzepte Berthold Farber ............................................................................................................... 57
4.1 Die Notwendigkeit von Navigationssystemen ...................................................... 57 4.2 Kognitive Karten ................................................................................................... 58 4.3 Erste Ansatze - Synergien aus der Luftfahrt ......................................................... 59 4.4 Bakengestiitzte Systeme ........................................................................................ 61
XVI Inhaltsverzeichnis
4.5 Ort und Art der Darstellung ................................................................................... 63 4.6 Stand und Zukunft von Navigationssystemen ....................................................... 65 4.7 Navigation durch Routenanfrage bei einer Leitstelle ............................................ 68
5 Fahrerassistenzsysteme im Entwicklungsprozess Peter Frank und Werner Reiche1t.. .................................................................................. 71
5.1 Einleitung .............................................................................................................. 71 5.2 Defizitanalysen ...................................................................................................... 72 5.3 Klassisfikation von Fahrerassistenzsystemen ....................................................... 74 5.4 Ideenfindung, Ideenbewertung und Akzeptanzabschatzung ................................ 76 5.5 Methoden und Tools zur Sicherstellung der Gebrauchssicherheit von
Fahrerassistenzsystemen in Fahrerhand ................................................................ 77 5.6 Zukiinftige Entwicklungen bei Fahrerassistenzsystemen ..................................... 78
Teil II Fahrermodelle
6 Adaptive Modellierung des Fahrerverhaltens - Ein Kernelement fiir die kognitive Kooperation bei zukiinftiger Fahrerassistenz Reiner Onken, Hans-Jorg Otto und Udo von Garre1 ...................................................... 81
6.1 Einleitung .............................................................................................................. 81 6.2 Kognitive Kooperation - Das besondere Potenzial der
kognitiven Automation .......................................................................................... 82 6.3 Adaptive Modellierung des Fahrzeugfiihrungsverhaltens ..................................... 85 6.4 Ergebnisse ............................................................................................................. 89 6.5 Schlussfolgerungen ............................................................................................... 92
7 Nichtformale Konstrukte in quantitativen Fahrermodellen Thomas Jiirgensohn ........................................................................................................ 95
7.1 Einleitung .............................................................................................................. 95 7.2 Modellbildung von Motiven ................................................................................ 101 7.3 Motive in quantitativen Modellen ....................................................................... 108 7.4 Grundregeln der formalen Modellbildung mit Berucksichtigung von Motiven. 113
8 Modellierung von Individualitiit und Motivation im Fahrerverhalten Marita Irmscher ............................................................................................................. 119
8.1 Einleitung ............................................................................................................ 119 8.2 Individuelles Fahrerverhalten .............................................................................. 120 8.3 Fuzzy-Modellierung ............................................................................................ 123 8.4 Ein Modell des individuellen Fahrerverhaltens .................................................. 124 8.5 Simulationsergebnisse ......................................................................................... 130 8.6 Zusammenfassung ............................................................................................... 132
Teil III Multimodale Interaktion
9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme Suat Akyol, Lars Libuda und Karl-Friedrich Kraiss .................................................... 137
Inhaltsverzeichnis XVII
9.1 Einleitung ............................................................................................................ 137 9.2 Multimodalitat und Adaptivitat in MMI ............................................................. 138 9.3 Konzept einer multimodalen und adaptiven Benutzungsoberflache fur
Bord-Dialogsysteme ............................................................................................ 144 9.4 Gesteneingabe ..................................................................................................... 146 9.5 Spracheingabe mit adaptivem Fehlermanagement.. ............................................ 148 9.6 Evaluation ............................................................................................................ 150 9.7 Zusammenfassung ............................................................................................... 152
10 Haptik im Kraftfahrzeug Heiner Bubb .................................................................................................................. 155
10.1 Der Informationsfluss im Mensch-Maschine-Regelkreis ................................... 155 10.2 Klarung des Begriffs "Haptik" ............................................................................ 156 10.3 Haptische Ruckmeldung bei sekundaren Bedienelementen ................................ 159 10.4 Haptik bei primaren Stellteilen ............................................................................ 164
11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte zur Steuerung technischer Systeme wiihrend der Fahrt im Kraftfahrzeug: Evaluationsbefunde zur Systemweiterentwicklung mit paralleler Sprachbedienung Kay Schattenberg und Gunter Debus ........................................................................... 177
11.1 Anzeige- und Bedienkonzepte ............................................................................. 177 11.2 Schnittstelle fUr multimodale Interaktion ............................................................ 181 11.3 Integriertes System und multimodale Interaktion ............................................... 190
12 Aspekte der multimodalen Bedienung und Anzeige im Automobil Klaus Bengler ............................................................................................................... 195
12.1 Einleitung ............................................................................................................ 195 12.2 Multimodale Mensch-Maschine-Interaktion ....................................................... 196 12.3 Technologische Aspekte ...................................................................................... 196 12.4 Multimodalitat im Automobil ............................................................................. 196 12.5 Verringerte Ablenkung durch sequentielle Multimodalitat ................................ 200 12.6 Zusammenfassung ............................................................................................... 203
13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug Katharina Seifert, Matthias Rotting und Raphael Jung ................................................ 207
13.1 Einfuhrung ........................................................................................................... 207 13.2 Definition von Augen- und Blickbewegungen .................................................... 207 13.3 Bedingungen fur die Interpretation von Blickbewegungsparametem ................ 208 13.4 Aussageebenen der Analyse von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug .............. 210 13.5 Messverfahren ..................................................................................................... 213 13.6 Spezifische Bedingungen im Kraftfahrzeug ....................................................... 216 13.7 Bestimmung der physiologischen Kosten ........................................................... 221 13.8 Resumee .............................................................................................................. 225
XVIII Inhaltsverzeichnis
Teil IV Systembewertung
14 Subjektive Bewertung von Zittervorgingen als Grundlage fUr die Voraussimulation Harald Kolrep und Christoph Fankhauser .................................................................... 231
14.1 Einfiihrung ........................................................................................................... 231 14.2 Zittem in Kraftfahrzeugen ................................................................................... 231 14.3 Untersuchung der Folgen von Zittem ................................................................. 232 14.4 Zusarnmenhang subjektiver Bewertung mit objektiven Zitterparametem .......... 232 14.5 Psychophysische Untersuchung des Zittems ...................................................... 239 14.6 Komfortsimulation auf der Basis der Kundenbediirfnisse .................................. 241
15 Bewertung von Handlingeigenschaften - zur methodischen und inhaltlichen Kritik des korrelativen Forschungsansatzes Hans-Peter KrUger und Alexandra Neukum ................................................................. 245
15.1 Grundfrage und Forschungsstand ........................................................................ 245 15.2 Zum Verstlindnis von Korrelation und Regression ............................................. 246 15.3 Der korrelative Ansatz in der Handlingforschung .............................................. 248 15.4 Die Bereichsabhlingigkeit der Priifung ............................................................... 253 15.5 Individuelle Rangreihen der Varianten und ihre Konsequenzen ........................ 255 15.6 Zusarnmenfassende Forderungen an einen korrelativen Ansatz ......................... 256 15.7 Von der Ergebnis- zur Prozessanalyse ................................................................ 257 15.8 Zusarnmenfassung ............................................................................................... 261
16 Sinn und Sinnlichkeit - psychologische Beitrige zur Fahrzeuggestaltung und -bewertung Guido Beier, Norbert Boemak und G6tz Renner. ......................................................... 263
16.1 Bedeutung der Psychologie fur die Fahrzeugforschung ..................................... 263 16.2 Die sinnliche Wahmehmung als Deterrninante der Fahrzeugakzeptanz ............. 268 16.3 Die kundenorientierte Entwicklung von Assistenzsystemen .............................. 277
Teil V Verkehr
17 Der Verkehr in Ballungsriumen im Jahre 2020: Perspektiven auf Basis einer Delphistudie aus dem Jahr 2000 Gundi Dinse, Hans-Gerhard Giesa und Walter Hell .................................................... 287
17.1 Einleitung ............................................................................................................ 287 17.2 Methodik Delphi-Studie ...................................................................................... 291 17.3 Ergebnisse zur Methode ...................................................................................... 294 17.4 Zukiinftige Entwicklung des Verkehrs in deutschen Ballungsraumen
aus Sicht der Experten ......................................................................................... 297 17.5 Ausblick. .............................................................................................................. 303
Sachregister ......................................................................................................................... 307
Hans-Peter Willumeit: Versuch einer WUrdigung
Thomas Jiirgensohn und Klaus-Peter Timpe
Versucht man aus Mitarbeiter- oder Kollegensicht ein typisches Merkmal zu nennen, das die Zusammenarbeit mit Prof. Willumeit auszeichnete, dann ist es ein durch tiefe Emotionalitat gepragtes Verhaltnis zu ihm. Prof. Willumeit hatte ein starkes Bediirfnis nach Harmonie, gleichzeitig aber einen der Studentenbewegung der 60er Jahre verpflichteten Kampfgeist und Gerechtigkeitssinn. Er war ein fast militanter Gegner engstimiger Biirokratie und kampfte auf diesem Feld oft mit Leidenschaft und Ausdauer. Aussagen wie "das ist nicht erlaubt", "das haben wir schon immer so gemacht" oder "das haben wir noch nie so gemacht" reizten seinen Widerspruchsgeist und spomten ihn zur unbedingten Durchsetzung seiner Ziele an. So bissig er Gegenmeinungen bekampfen konnte, so freundlich, ja herzlich war er zu denjenigen, die auf seiner Wellenlange lagen und die mit ihm an der Erfullung seiner wissenschaftlichen Ziele arbeiteten. Besonders in den letzten Jahren fuhrte er seine Mitarbeiter wie ein altersweiser Patriarch - im besten Sinne des Wortes.
Dieses Wesen im sozialen Vmgang spiegelte sich auch in seinem Verstandnis von Wissenschaft wider. Bar jeglicher Verknocherung und des Wissens urn den "wahren" Weg war er ein praktizierender Wissenschaftspluralist. Er suchte stets das Neue und war aufgeschlossen gegeniiber allen Ideen, von denen er glaubte, sie konnten die Forschung in seinen Gebieten bereichem. Aus diesem wissenschaftlichen Liberalismus resultierte letztlich auch seine mit den Jahren erfolgte Abkehr von den reinen ingenieurwissenschaftlichen Themen und damit die Hinwendung zu der interdisziplinar gepragten Beschaftigung mit dem Autofahrer in seiner Wechselwirkung mit dem Fahrzeug und dem Verkehr. Dabei blieb er durch und durch Ingenieur und suchte wissenschaftliche Erkenntnisse nicht urn ihrer Selbst willen, sondem deren praktische Anwendung. Er bewahrte sich immer eine notige wissenschaftliche Vnbekiimmertheit und die Begeisterung fur unbekannte Gebiete, die moglicherweise niitzlich fur eine geplante Anwendung sein konnten.
Nur aus dieser Offenheit waren die vielen engen Kontakte mit ahnlich denkenden Humanwissenschaftlem an der TV Berlin moglich. Prof. Willumeit war Mitinitiator und Grunder mehrerer interdisziplinar orientierter Forschungseimichtungen an der TV Berlin, zuletzt des Zentrums Mensch-Maschine-Systeme, das er jahrelang als stellvertretender Sprecher des Leitungsgremiums pragend mit formteo Diesem Zentrum, in dem Vertreter der Human- und Ingenieurwissenschaften sowie der Informatik im interdisziplinaren Diskurs zusammenarbeiten, galt in den letzten Jahren seine ganze Hingabe. Hier fand er Ansprechpartner fur seine Fragen nach dem We sen des Autofahrens. "Welche Informationen benotigt der Autofahrer? Warum fahrt er so, wie er fahrt?" Die Diskussionen erwiesen sich oft als miihselig und wegen des unterschiedlichen Hintergrundwissens und Wissenschaftsverstiindnisses manches Mal weniger fruchtbar als er wiinschte. Aber Prof.
2 Hans-Peter Willumeit: Versuch einer Wiirdigung
Willumeit blieb aus seinem Ingenieurverstandnis heraus hartnackig bei seinem Fragen und der Diskussion und trug damit dazu bei, ein neues, interdisziplinares Gemeinsames zu schaff en. Das vorliegende Buch kann in seinem breit gefacherten Inhalt als postume Frucht seiner Bemiihungen angesehen werden. Er harte sicherlich gerne als Herausgeber mitgearbeitet.
Will man das Wirken und die Verdienste von Prof. Willumeit wiirdigend zusammenfassen, dann muss dies auf der eben angedeuteten metawissenschaftlichen Ebene des Wissenschaftsmanagements geschehen. Sein besonderes Talent, Forschung zu initiieren, seine Mitarbeiter zu fOrdern und Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen zusammen zu bringen, waren wegweisend. Eine Wiirdigung gelingt nicht durch bloBes Aufziihlen von Daten und Fakten, sondern bedarf einer Kommentierung. Es werden deshalb nach einer Darstellung seines Werdegangs als Wissenschaftler und Lehrer sehr personlich gepragte Schilderungen aus Mitarbeitersicht folgen mit dem Zie1, den Menschen Hans-Peter Willumeit plastisch werden zu lassen.
Der Wissenschaftler und Lehrer
Hans-Peter Willumeit war ein echter Berliner. Geboren 1937 in Berlin, blieb er bis auf drei Jahre seiner Geburtsstadt treu. Nach einer durch Krieg und Nachkriegsjahre gepragten Kindheit beginnt er als begeisterter Motorradfahrer 1956 das Studium des theoretischen Maschinenbaus an der Technischen Universitat Berlin. Motorrad und Theorie wird er spater als Professor wissenschaftlich verkniipfen. Nach 16 Semestern kann er sein Studium mit "sehr gut" beenden und beginnt nach einem kleinen Ausflug an das Heinrich-Hertz-Institut in Berlin die Tatigkeit als einer der ersten wissenschaftlichen Mitarbeiter von Prof. Fiala am Institut fUr Fahrzeugtechnik, seiner spateren Wirkungsstelle als Professor. Sein eigentliches Spezialgebiet ist damals die Fahrzeugdynamik, und seine Promotion 1970 behande1t ein Thema aus dem Gebiet der Modellierung von Reifenverhalten. Aber noch als Assistent kiimmert er sich urn die Betreuung von Promovenden aus sehr unterschiedlichen Fachrichtungen. Er zeichnet sich aus als ein Mitarbeiter, der den Inhalt der Institutsarbeit aktiv pragt. Das auBert sich auch in der Art, wie er mit Ernst und Freude die Studierenden ausbildete.
Bei den vielfaltigen Kontakten mit seinen Kollegen und den zahlreichen industriegefOrderten Promovenden wird wahrscheinlich der Keirn fUr das Interesse an seinem spateren Hauptgebiet, der Fahrermodellierung, gelegt. Prof. Fiala ist einer der ersten, die sich in Deutschland diesem Grenzgebiet der Fahrzeugtechnik widmen. Hier wird von Franz Wallner, Freund, Studien- Assistent- und spater Promotionskollege von Hans-Peter Willumeit, der erste Fahrsimulator an einer Universitat in Deutschland aufgebaut. Damit werden Fragen untersucht wie beispielsweise die Lenkbarkeit eines Fahrzeugs oder die Auswirkung von Ermiidung auf das Fahrerverhalten.
Nach der Promotion folgt Hans-Peter Willumeit bald Prof. Fiala zum VWKonzern nach Wolfsburg in die dortige Forschung. Er ist maBgeblich bei der Entwicklung eines Fahrzeugkonzeptes beteiligt, in dem zum ersten Mal die Sicherheit des Fahrzeugs konsequent in den Vordergrund geriickt wurde. Seine theoretischen
Der Wissenschaftler und Lehrer 3
Fahigkeiten kann er dort gut bei der Berechnung der Kraftfahrzeugdynamik einsetzen. Drei Jahre spater folgt er 1973 einem Ruf als Professor fur das Fach Fahrzeugdynamik an sein "altes" Institut an der Technischen Universitat Berlin.
Die reine Technik wird Hans-Peter Willumeit aber schnell zu eng und so initiiert er immer neue Forschungsthemen. Er nennt sein Fachgebiet selbst "Kraftfahrwe sen" und will damit das tiber die Kraftfahrzeugtechnik Hinausgehende auch im Namen deutlich machen. Er beteiligt sich mit seinem Kollegen Prof. Appel an dem Projekt Unicar, beschiiftigt sich mit Problemen der Motortechnik, mit Fragen der Dynamik von Motorradem und schlieBlich mit dem Fahrer als Bediener des Kraftfahrzeuges. Er nimmt die Ideen von Prof. Fiala wieder auf und lasst mehrere Generationen von Fahrsimulatoren bauen, arbeitet mit der chemischen Industrie bei der Erforschung der Auswirkungen von Schlafmitteln auf das Fahrerverhalten zusammen, setzt EEG-Messmethoden zur Objektivierung von Fahrerzustanden ein und versucht diese am Fahrsimulator zu validieren. Hier entstehen die ersten Kontakte zu Nichtingenieuren wie Medizinem und Psychologen.
Noch ist es aber ein Herantasten an das, was er selbst spater unter KraftfahrzeugfUhrung versteht. Erst urn 1980 beginnt die Forschung in dies em Gebiet, das sich 20 Jahre spater zu seiner Altersleidenschaft entwickelte. Auslosendes Moment war wahrscheinlich - wie in der Folge sehr oft - die richtige Wahl der Mitarbeiter. Ein Ingenieur, Ulrich Kramer, und eine Psycho login, Gabi Rohr, arbeiten in einem Projekt zur Untersuchung und Modellierung der Informationsverarbeitung beim Fahren zusammen. Aus dieser fruchtbaren Zusammenarbeit entwickeln sich dann sehr schnell Kontakte zu anderen Gruppen in der TU Berlin und damber hinaus, in denen ahnliche Fragestellungen behandelt oder ahnliche Untersuchungsmethoden angewandt werden. So kommen Kontakte zu dem Institut fUr Luft- und Raumfahrt, zur Bionik und nicht zuletzt zum Institut fUr Psychologie zustande. Diese laufen zunachst auf der Ebene der wissenschaftlichen Mitarbeiter ab, werden aber 1983 auf Initiative von Prof. Willumeit in einen inneruniversitaren Forschungsschwerpunkt "Mensch-Maschine-Systeme" umgewandelt. Gemeinsamer Schwerpunkt der Untersuchungen ist die Belastung und Beanspruchung bei der visuellen Informationsaufnahme und die damit verbundenen Probleme der Messtechnik zur Messung von Gehimaktivitaten und Augenbewegungen. Ais treibende Kraft der Gruppe entwickelt sich sehr bald neben der Fahrzeugtechnik mit Prof. Willumeit die Psychologie unter der Leitung von Prof. Eyferth. Diese beiden sind es dann auch, die die Einrichtung eines Sonderforschungsbereichs der DFG und parallel eines fachtibergreifenden universitaren Zentrums vorantreiben. In beiden sollen Fragen der Mensch-Maschine-Systemtechnik in noch groBerer Breite der beteiligten Fachgebiete untersucht werden. Hinzu kommen beispielsweise die Arbeitswissenschaften, die Prozesstechnik und die Energietechnik.
Die Einrichtung des Sonderforschungsbereiches wird zwar nicht genehmigt, aber als Mitglied des Akademischen Senats der TU Berlin gelingt es Prof. Willume it mit seinen Kollegen, das "Zentrum Mensch-Maschine-Systeme (ZMMS)" ins Leben zu rufen. Er ist V orsitzender der Berufungskommission der parallel zum ZMMS initiierten Professur fUr Mensch-Maschine-Systeme und bis zu seinem Tode stellvertretender V orsitzender des Leitungsgremiums des ZMMS. Dieses Zentrum wird fortan zum Mittelpunkt seines wissenschaftlichen Engagements. Er
4 Hans-Peter Willumeit: Versuch einer Wiirdigung
ermutigt Mitarbeiter,ebenfalls aktiv daran Teil zu haben, er initiiert Tagungen und fordert die Entwicklung des Zentrums, wo er nur kann.
Obwohl in einem Buch "KraftfahrzeugfUhrung" natiirlich die Darstellung der Aktivitiiten von Hans-Peter Willumeit aus diesem Bereich im Vordergrund stehen sollen, wiirde ein vollig falsches Bild entstehen, wenn seine zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten in anderen Gebieten nicht wenigsten erwiihnt wiirden. Eines dieser Gebiete ist die Modellbildung der dynamischen Eigenschaften eines Motorrades. Hier konnte er sein Hobby des Motorradfahrens und seine Vorliebe flir theoretische Hcher der Mechanik kombinieren. Ebenfalls treu blieb er der Thematik seiner Doktorarbeit, der Reifendynamik. Weltweit groBtes Renommee erhielt er aber mit seinem Lehrbuchfiir Kraftfahrzeugdynamik, das unter anderem auch auf chinesisch und koreanisch erschienen ist. Diese Verbreitung im ostasiatischen Raum wurde maBgeblich gefOrdert einerseits durch Kontakte mit ehemaligen Promovenden, die in ihren Heimatliindem se1bst Professuren iibemehmen konnten, und andererseits durch seine vie1en Reisen als Gastprofessor nach China und Indien. Fiir sein Engagement in Peking wird ihm 1999 yom Beijing Institute of Technology der Titel eines Ehrenprofessors verliehen.
In einer Darstellung des wissenschaftlichen Werdegangs darf ebenfalls eine Betrachtung iiber den Lehrer Willumeit nicht fehlen. Prof. Willumeit selbst hat Wissenschaft und Lehre nie strikt getrennt. Er gestaltete seine V orlesungen immer wieder anders, immer die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse einbeziehend - bewusst nicht "vorlesend", sondem fesselnd erziihlend. Angeregt durch die Zusammenarbeit mit Psychologen im Zentrum Mensch-Maschine-Systeme Iud er beispielsweise mehrmals Assistenten aus der Psychologie ein, in der Vorlesung flir Kraftfahrzeugtechniker iiber typische psychologische Fragen wie Handlungstheorie oder Workload zu berichten.
Fiir seine Studenten hatte Prof. Willumeit immer Zeit - auch wenn sie ibn stundenlang mit Fragen be1agerten. Er war stolz darauf, dass sie ibn mochten und dass er in Studentenbeurteilungen immer sehr gut beurteilt wurde. Er liebte und verstand es, junge Leute zum wissenschaftlichen Arbeiten anzuregen und sie zu betreuen. Beredtes Zeichen sind mehr als 50 von ihm betreute Doktorarbeiten. Als beratender Mentor trug er auch wesentlich zum Entstehen und Festigen des Zentrums Mensch-Maschine-Systeme bei, das sich wiihrend seiner Startphase vorwiegend aus jungen Wissenschaftlem zusammensetzte.
Prof. Willumeit war bei den Studenten beliebt - obwohl er keine Riicksicht auf die Schwierigkeit des Stoffes nahm. Dem Vorwurf, dass er mit seinem schwierigen Stoff Studenten abschrecken wiirde, trat er mit dem Hinweis entgegen, dass es darauf ankomme, "richtig" auszubilden und nicht viele Studenten durchzuschleusen. Er war ein entschiedener Gegner eines kurzen Studiums. Seine ihm seitens der Universitiit auferlegte Pflicht, Langzeitstudenten zum Abschluss ihres Studiurns zu "iiberreden", handelte er gewohnlich mit einer kurzen, offiziellen Ermahnung ab und redete dem De1inquenten dann in einem anschlieBenden personlichen Gespriich zu, solange zu studieren, wie er es flir richtig hielt. "Was sie wahrend des Studiums nicht lemen, werden Sie spiiter entweder gar nicht oder nur mit Miihe nachholen konnen".
Der ideale Professor 5
Sein Ziel war eine Lehre, die nicht als reine Wissensverrnittlung Fakten behandelt, sondem das innere Verstiindnis, die logischen Zusammenhiinge und die wesentlichen Gedankengeriiste mitteilen will. Der Lehrer sollte bei ihm AnstoB zum Selbstlemen geben, und nicht alleinige Quelle des Wissens sein. Konsequenterweise gestaltete er noch zwei Semester vor seinem Tod seine Vorlesung "Fahrzeugdynamik" in eine von den Studenten selbst ausgearbeitete, von ihm nur korrigierte und kommentierte Lehrveranstaltung urn. Parallel dazu versuchte er als Dekan des Fachbereichs Fahrzeugtechnik, seine progressiven Ideen des selbstverantwortlichen Lemens allgemein im ganzen Aufbau des Studiums umzusetzen. Viele seiner Ansichten waren seinen Kollegen zu progressiv, aber es blieb ein gehOriges StUck seiner Vorstellungen ubrig. Seinen letzten Erfolg hat er leider nicht mehr selbst erleben durfen.
Der ideale Professor
Thomas Jiirgensohn
Mein erster Eindruck von Prof. Willumeit war der eines freundlich liichelnden Herm, der mir nach zwei Minuten Unterredung einen Vertrag als studentischer Mitarbeiter aushiindigte. Ich suchte 1986 als Student der Elektrotechnik einen Job und hatte zufallig von der Bibliothek kommend einen Anschlag flir eine freie Stelle gesehen. Es wurde ein Regelungs- und Systemtechniker gesucht, der in einem Projekt zur mathematischen Modellbildung des Fahrerverhaltens mithelfen sollte. Ich war der einzige Bewerber und weiB noch wie heute, was me in erster Gedanke nach Verlassen des Besprechungszimmers war: "Der ideale Professor!" Dabei hatte ich nicht viel in den zwei Minuten kennen lemen konnen. Das Urteil "ideal" habe ich dann spiiter naturlich relativiert, aber es blieb immer der Eindruck von Herzlichkeit und vor allem Menschlichkeit jenseits von sonst allzu bekannten Professorenalluren.
Das Themengebiet der Fahrerrnodellierung fand ich damals ziemlich langweilig, weil zuwenig technisch. Was ist schon am Fahrer interessant? Die wirklich interessanten Fragen liegen doch in der Entwicklung modemer Technik. Ich hiitte mir damals niemals triiumen lassen, dass diese als Job gedachte Tiitigkeit Anfang einer langjiihrigen Zusammenarbeit mit Prof. Willumeit sein sollte. Aber so ist das wahrscheinlich immer: man bleibt hiingen. Aber nur dann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Und die wurden von Prof. Willumeit in meinen Augen in hervorragender Weise geliefert. Neben der immer gesicherten Weiterfinanzierung meiner divers en Vertriige war es einerseits die weitgehende Freiheit in der Forschung, den die Mitarbeiter hatten und andererseits die Fiihigkeit, andere flir das jeweilige Themengebiet zu interessieren.
Prof. Willumeit war immer offen flir Anregungen seiner Mitarbeiter und konnte sich mit einer flir mich immer wieder verbluffenden Schnelligkeit in neue Gebiete einarbeiten. Ich erinnere mich noch sehr genau an eine Priisentation zur Einrich-
6 Hans-Peter Willumeit: Versuch einer Wiirdigung
tung einer DFG-Forschergruppe, in der er einen von Mitarbeitem ausgearbeiteten Forschungsvorhaben vor einer Gutachterkommision darlegen musste. Uns war allen klar, dass ihm eigentlich viel zu wenig Zeit fur die Vorbereitung zur Verfugung stand. Umso iiberraschter und geradezu fasziniert waren wir, wie er dann die Thematik so iiberzeugend und klar vortrug, wie es keiner der Autoren hiitte tun konnen.
Eine der Haupttugenden von Prof. Willumeit war seine Begeisterungsfahigkeit fur Neues, Unbekanntes. Alles war willkommen, wenn es fur das groBe Ziel, die Modellbildung des Autofahrers, eingesetzt werden konnte. Viele sahen dies als Schwiiche, als Fehlen einer Wissenschaftlichkeit an. Auch ich war anfangs nicht immer von allen seinen Ideen iiberzeugt. Heute denke ich, dass dies genau der richtige Weg war, aus den immer schmaler werdenden Gleisen diszipliniir wissenschaftlicher Forschung zu entfliehen. Diszipliniibergreifende Forschung erfordert eine groBe Offenheit gegeniiber Unbekanntem und den Mut, auch mitunter neb en die Wissenschaft zu treten und als bloB denkender Mensch zu handeln. Hans-Peter Willumeit war einer der wenigen, der diese Grenzen iiberschritten und damit Neues geschaffen hat.
Aus der personlichen Sicht eines Mitarbeiters war Hans-Peter Willumeit mehr als nur Chef, sondem zusiitzlich beratender Freund - auch in auBeruniversitiiren Angelegenheiten. Dieses Buch solI auch dazu dienen, den unterbrochenen Dialog in einer bestimmten Weise wieder aufleben zu lassen und dem Wunsch nach Dank Ausdruck zu verleihen.
Der zweite Vater
Raphael Jung
Es war mein erstes Semester im Hauptstudium Verkehrswesen und ich hatte mich gerade fur den Schwerpunkt Fahrzeugtechnik entschieden, als ich in das Institut fur Fahrzeugtechnik zur ersten Vorlesung "Dynamik der Kraftfahrzeuge" bei Prof. Willumeit kam. Nach der Frustration eines miiBig fesselnden Grundstudiums hatte ich die echte Hoffnung, nun mit interessanteren Inhalten als bisher konfrontiert zu werden. Ich sollte nicht enttiiuscht werden. Der freundlich liichelnde Herr gestaltete die Vorlesung so interessant, dass ich nicht wusste, ob ich mehr von seiner personlichen Art oder von der Priisentation der Inhalte gefesselt sein sollte.
Schon bald wurde mir eine besondere Eigenschaft von Prof. Willumeit klar. Er hatte die Fiihigkeit mit vollig unterschiedlichen Menschen faktisch ohne Anlaufzeiten in deren Sprache und auf deren intellektuellem Niveau zu kommunizieren. Unabhiingig davon, ob es sich urn Studenten, Werkstattmitarbeiter, Verwaltungsbeamte, Wissenschaftler oder einen der zahlreichen Besucher aus der Industrie handelte, traf er meist den richtigen Ton und gab einem dabei das Gefuhl, ernst genommen zu werden.
Der engagierte Lehrer 7
Nicht zuletzt fiir dieses Gefiihl war Prof. Willumeit bei den Studenten beliebt, deren Meinungen er aktiv einforderte und die er stets zur Neugier aufforderte. Dabei zeigte sich, dass er selbst haufig geistig junger und beweglicher war als viele der Studenten. Er forderte seine Studenten unermudlich auf, sich nicht von den Medien verriickt machen zu lassen, wenn es beispielsweise urn Jobaussichten ging, sondem nach dem eigenen Intellekt und der eigenen Meinung zu entscheiden und zu handeln.
Ich hatte viele Jahre das Gluck, in verschiedensten Projekten am Fachgebiet Kraftfahrwesen mitarbeiten zu durfen und empfand Prof. Willumeit immer starker als wissenschaftlichen Vater, der mir mit konstruktiven Auseinandersetzungen, Gute und unermudlicher Forderung half, meinen Weg zu finden. Er erkannte meine verschiedenen wissenschaftlichen Neigungen und begeisterte mich flir die Probleme in Mensch-Maschine-Systemen. Seine menschliche, stets groBziigige und unkomplizierte Art lieB eine tiefe Verbundenheit in mir wachsen. An der Vielfliltigkeit seiner Bildung, seiner Toleranz gegenuber Andersdenkenden, seines Interesses und seiner Offenheit Menschen gegenuber, mache ich - im nachhinein, muss ich es gestehen - meine Faszination flir diesen Menschen fest, der nicht nur eine Person, sondem eine Personlichkeit war.
Wir aIle, die wir ihn kannten und schiitzten, nannten ihn hinter seinem Rucken nur "Willu", ein Spitzname, der stets mit groBer Vertrautheit uber die Lippen kam. Aus dieser Vertrautheit und Sympathie entstanden auch unvergessene Vntemehmungen wie das aIljiihrliche Fachgebietssegeln auf seinem Segelboot. Jedes Mal, wenn wir das Schiff verlieBen, waren wir uns alle ein gutes StUck niiher gekommen, was sich nicht zuletzt auch in der gemeinsamen Arbeit zeigte.
In den letzten Jahren als mein Doktorvater war er mir endgiiltig auch zum Freund geworden, zu dem ich stets mit gewisser Ehrfurcht hinab sah (er war ca.20 cm kleiner als ich) und dessen Art, das Leben zu meistem und zu genieBen, ich bewunderte. Den geplanten gemeinsamen Segeltom zu den Virgin-Islands werde ich in seinem Gedenken und fiir ihn machen.
Der engagierte Lehrer
Marita Irmscher
Ich lemte Prof. Willumeit bei der offiziellen BegriiBung einer chinesischen Gastwissenschaftlerin in der Geschaftsstelle AuBenbeziehungen der TV kennen, wo ich damals arbeitete. Die normalerweise eher langweilige Fopnaliilit wurde von Prof. Willumeit zu einer frohlichen Runde in entspannter Stihtmung umfunktioniert, in der auch lebhaft uber Wissenschaft und Forschung diskutiert wurde. Er beflirwortete vehement spielerisches Ausprobieren und forderte einen gewissen Pioniergeist, mit dem sich Forscher vor allem urn Versilindnis und neue Erkenntnisse bemiihen sollten. Dieser Standpunkt war mir sehr sympathisch, und als ich eine Ausschreibung an seinem Institut zum Thema Interaktion zwischen Fahrer
8 Hans-Peter Willumeit: Versuch einer Wiirdigung
und Fahrzeug fand, bewarb ich mich sofort. Gefordert waren im Wesentlichen Kenntnisse iiber Mehrkorperdynamik und menschliche Kognition. Ich kannte den Begriff Kognition zwar iiberhaupt nicht (ein Lexikon und eine Einfiihrung in die Psychologie mussten bemiiht werden), aber ich hatte groBe Lust auf das spielerische Ausprobieren dieser spannenden Kombination aus technischen und humanwissenschaftlichen Fragen. 1m Oktober 1995 begann ich meine Tatigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut von Prof. Willumeit.
Wie ich schnell merkte, herrschte am Institut die gleiche entspannte Atmosphiire wie bei jener ersten Diskussion. Prof. Willumeit hatte das groBe Talent, alle Mitarbeiter in eine solidarische, fast verschworene Gruppe einzubinden. Eine ganz wichtige Institution war dabei unser wochentliches Arbeitsfriihstiick. Er strahlte richtig, wenn er seine Gruppe moglichst zahlreich urn sich versammelt hatte und iiber alte Geschichten oder neue Ideen mit uns sprach. Auch "seine" Studenten wurden mit einem "Angrillen" zu Beginn des Wintersemesters in die Institutsfamilie einbezogen. Man aB und trank, plauderte und lemte sich kennen. Prof. Willumeit ging davon aus, dass Studenten und Mitarbeiter, wie er selbst, eigene Ideen verfolgen wollten und SpaB daran hatten. Er lieB uns also vollig freie Hand und gab hochstens eine professorale Anordnung, wenn ausnahmsweise einmal eine Vorlesungsvertretung anstand oder wenn wieder einmal keiner am Freitag Nachmittag ins ZMMS-Kolloquium gehen wollte.
Prof. Willumeit nahm sich immer Zeit fiir Fragen und Diskussionen mit Studenten und war stolz darauf, dass seine Vorlesungen gut besucht waren. Trotzdem war er als Priifer ziemlich gefiirchtet, vielleicht weil er sich mit jedem Priifling einzeln beschiiftigte und zuweilen hartnackig herauszufinden versuchte, was derjenige wirklich begriffen hatte. Sorgfaltig auswendig gelemte Formeln beeindruckten ihn dabei iiberhaupt nicht.
Drei Jahre vor der Pensionierung fand Prof. Willumeit, dass er seine Lehrmethode vielleicht noch einmal andem sollte. Bei einem Besuch in seinem Hauschen in Schleswig-Holstein bei einem guten Wein entstand das neue Konzept. Die Studenten sollten nicht mehr vorgesetzt bekommen, was sie auch seiber lesen konnten, sondem den in Gruppen seIber erarbeiteten Stoff den anderen vortragen. Als Dekan wollte er eine sehr offene Studienordnung mit vieIen Wahlmoglichkeiten und wenig Biirokratie durchsetzen, schlieBlich diirfen Studenten heiraten, wahlen, aber nicht ihre Studienfacher bestimmen - absurd!
Prof. Willumeit war ein richtiger Weltenbummler und immer bereit, Vortrage auf intemationalen Konferenzen mit einer Reise durch das Land zu verbinden. Auch die Assistenten konnten davon profitieren. 1m Jahr 1999 kam er schmunzelnd mit einer Konferenzankiindigung, einem call for papers und einem Bildband zu mir und fragte nur: "Waren Sie schon mal in Siidafrika, Marita? Nein? 1m August fahren wir hin!"
1 Fahrzeugfuhrung: Anmerkungen zum Thema
Klaus-Peter Timpe
1.1 Vorbemerkung: FahrzeugfOhrung an der TU Berlin
Seit knapp einem halben Jahrhundert beschaftigt man sich in Deutschland intensiver mit dem Fahrer im Fahrzeug. Entsprechende Forschungen der damaligen Zeit sind mit den Namen Fiala oder Mitschke verbunden. Gegenstand ihrer Arbeiten war zumeist die Modellierung des Fahrerverhaltens, wobei haufig Anleihen an vergleichbaren Forschungen aus der Luftfahrt zu finden sind. Aber auch Untersuchungen am Fahrsimulator zur Bestimmung des Einflusses der Ermlidung auf das Lenkverhalten oder Vigilanzmessungen zahlten am Beginn der Arbeiten zur Fahrzeugflihrung zu den Schwerpunktthemen.
1m Jahre 1973 erhielt H.-P. Willumeit einen Ruf an die TU Berlin, Institut flir Kraftfahrzeugtechnik. Er griff diese Forschungsthematik aufund erweiterte sie auf Fragestellungen zum Einfluss von Psychopharmaka auf das Fahrverhalten. Schon Ende der 70er Jahre beginnt die auch formale Beschaftigung mit Problemen der Fahrermodellierung. Die Arbeiten wurden bis heute fortgesetzt, da H.-P. Willume it dieses Themengebiet als den Kern der Kraftfahrzeugflihrung ansah. In diese Zeit rallt auch der Beginn einer sehr fruchtbaren Zusammenarbeit mit Kollegen aus der Psychologie und der Arbeitswissenschaft. 1m Zuge dieser Forschungen gewinnt immer mehr die psychologieorientierte Fahrermodellierung an Bedeutung. Mit dies em Themenzuschnitt unterscheidet sich Willumeit wesentlich von seinen Kollegen in Deutschland, die fast ausschlieBlich auf der aIle in systemtheoretischen Form der Modellierung beharren. Die Idee und Notwendigkeit der Verbindung ingenieurwissenschaftlicher Herangehensweisen an die Fahrermodellierung mit den Humanwissenschaften vermittelte er sehr nachhaltig auch seinen Mitarbeitern. Pars pro toto umreiBen Jiirgensohn (Kap. 7) und Irmscher (Kap. 8) einige Ergebnisse dieser interdisziplinaren Themenbearbeitung und die synergetischen Effekte der Konzeption.
Mit dieser Einbeziehung der Humanwissenschaften in die Forschungen am Fachgebiet eng verkniipft ist die Suche nach neuen Beschreibungsmethoden ftir die Komplexitat, Entscheidungsfindung und Zielabhangigkeit des Fahrverhaltens. So wird die Modellierung des Fahrerverhaltens mit Methoden der FuzzyMathematik eines der Steckenpferde von H.-P. Willumeit und findet sich auch in vielen von ihm angeregten und betreuten Dissertationsthemen wieder. Hinzu kommen andere Methoden wie neuronale Netze oder maschinelle Lernverfahren als Darstellungsmittel flir Komponenten des Fahrerverhaltens.
10 1 Fahrzeugfiihrung: Anmerkungen zum Thema
Trotz der Hinwendung zu den Humanwissenschaften bleibt die Kraftfahrzeugfiihrung bei Willumeit immer eng mit der mathematischen Modellierung verkniipft. Andere Herangehensweisen wie sie aus der Verkehrspsychologie beispielsweise bekannt sind, werden von ihm nur am Rande aufgegriffen. In diesem Sinne unterscheidet sich die am Institut fUr Kraftfahrzeugwesen vertretene Auffassung von FahrzeugfUhrung auch von anderen angrenzenden Gebieten wie z.B. der Ergonomie im Kraftfahrzeugbereich oder der sog. Human-Factors-Forschung.
Sehr friih, etwa zu Beginn der 80er Jahre, baute Willumeit auch eine Lehrveranstaltung "Fahrzeugfiihrung" auf. Schwerpunkte dieser Vorlesung waren natiirlich die Modellierung des Fahrers, aber auch die Erkenntnisse der Humanwissenschaften zur Psychomotorik, Informationsverarbeitung und Motivation bei der Fahrzeugfiihrung wurden vermittelt. In einer zum Vorlesungsangebot konzipierten Obung konnten die Studierenden mittels eigener Versuche am Fahrzeug ihre Kenntnisse praktisch vertiefen. Dieses Lehrangebot wird auch im Rahmen der Neustrukturierung der Technischen Universitat Berlin entsprechend des Willumeitschen Grundkonzeptes weiterentwickelt.
1m Folgenden sollen einige Anmerkungen zum Gegenstandsbereich der FahrzeugfUhrung gemacht werden, die zum einen den interdisziplinaren Charakter dieses aktuellen Forschungsfeldes charakterisieren und zum anderen die Beitrage des Buches einordnen.
1.2 FahrzeugfOhrung als Tatigkeit im Mensch-Maschine-System
1.2.1 FahrzeugfOhrung im gesellschaftlichen Umfeld
Die Tatigkeit des Fiihrens eines Kraftfahrzeuges von einem Ausgangsort zu einem Zielort (im folgenden kurz als FahrzeugfUhrung bezeichnet) ziihlt neben der Flugftihrung zu den am meisten und besten untersuchten Tatigkeiten in einem MenschMaschine-System. Bruckmayr und Reker (1994) berichten, dass auf Grund der komplizierten Interaktionsprozesse wahrend der Fahrzeugfiihrung bereits bis 1994 38 Forschungsvorhaben zur menschlichen Informationsverarbeitung allein von der BAST ausgeschrieben wurden. Diese Zahl diirfte sich bis heute wesentlich erh6ht haben. Werden die international en Programme hinzugezahlt wird deutlich, dass diesem Problemkomplex von den Herstellern, den Organisationen, dem Gesetzgeber usw. sehr groBe Bedeutung beigemessen wird. Begriindet ist dieses Interesse im Kern mit dem Anliegen, Bedingungen fUr die anforderungsgerechte Nutzung der neuen Quantitat und Qualitat der Informationen zu schaffen, die die heutige und zukiinftige Informations- und Kommunikationstechnik (I&K-Technik) einem Fahrer fUr die ErfUllung einer Fahraufgabe zur Verfiigung stellt.
Informationen tiber Umweltbedingungen, Zustande von Fahrzeugkomponenten, Fahrdaten, Navigationsdaten (GPS), Flottenmanagement oder "Infotainment" fUhren zu weitreichenden Veranderungen der Fahraufgaben, deren Folgen nicht zwangslaufig die Sicherheit im StraBenverkehr erh6hen und positive 6konomische
1.2 Fahrzeugfiihrung als Tatigkeit 11
oder 6kologische Konsequenzen aufweisen. Projekte wie Prometheus, Drive oder IVHS wurden u.a. auch aufgelegt, urn derartige Sachverhalte zu untersuchen und Gestaltungslosungen fUr Fahrzeuge, StraBenverliiufe und Fahrerverhalten zu erarbeiten. Damit ist gleichzeitig der ganze Kanon der Mensch-Maschine-Systemtechnik angesprochen, vor allem:
• die Gestaltung neuer Interaktionsmoglichkeiten wie Steer-by-wire oder von Bedienoberfliichen,
• die anthropometrische Auslegung des Fahrerinnenraumes, • das menschliche Risikoverhalten, • die Wahl der optimalen Automatisierungsstufe unter besonderer Berucksichti
gung von Assistenzsystemen, • das Beanspruchungs-Belastungsdilemma, • die Fahrermotivation usw.
Verallgemeinert kann festgestellt werden, dass im Problembereich der FahrzeugfUhrung seitens der Fahrzeugindustrie und Hochschuleinrichtungen eine Verlagerung der Untersuchungsschwerpunkte von der Cockpitgestaltung hin zu Assistenzsystemen und rechnerunterstiitzten Bedienkonzepten stattgefunden hat und das Gebiet des Infotainment vol1ig neu ins Blickfeld ruckt.
Die Analyse, Bewertung und Gestaltung der Fahrzeugftihrung setzt vor diesem Hintergrund, gewissermaBen als Bezugssystem, ein elaboriertes WirkungsgefUge der Tiitigkeit voraus. Genauer: Erst die Kenntnisse der menschlichen Informationsaufnahme, -verarbeitungs- und -ausgabeprozesse erlaubt auch die anforderungsgerechte Gestaltung der Fahrzeugkomponenten sowie der Verkehrsumgebung. Das Paradigma des Mensch-Maschine-Systems ist hierfUr ein geeigneter Untersuchungszugang.
Ein Fahrer (gemeint als Repriisentant unterschiedlicher Fahrertypen) rallt entsprechend seiner Zielstellung, des Fahrauftrages und der wahrgenommenen Riickmeldungen iiber die Fahrsituation und des Fahrzeugzustandes Entscheidungen und "fUhrt" das Fahrzeug. Diese Tiitigkeit ist immer in das komplexe Verkehrsgeschehen einzuordnen (Abb. 1.1), wobei die Komplexitiit resultiert aus:
• der Zielstellung, Gestaltungslosungen fUr ein Gesamtverkehrskonzept unter Bewahrung der individuellen Freiheit zu finden,
• dem hohen Vemetzungsgrad der zahlreichen Untersysteme des Gesamtsystems "Verkehr" und
• den Besonderheiten der Informationszirkulation in einem Verkehrssystem, die sowohl technisch-physikalischen als auch organismusspezifischen und sozialen GesetzmiiBigkeiten gehorcht.
Verallgemeinert kann die Tiitigkeit des Menschen in komplexen Verkehrssystemen mit drei Ebenen beschrieben werden (Abb. 1.2):
• Mikroebene (Mensch und Maschine, z.B. Fahrer - Fahrzeug in definierter Umgebung)
• Mesoebene (VerkehrsfUhrung, organisationale Bestimmungen) und • Makroebene (Technik und Gesellschaft, z.B. StVO)
12 Fahrzeugfiihrung: Anmerkungen zum Thema
I I
+ -------------8a~:; _-----. .....- -:~ ~ ... ,... .
Politik ,," Verkehrswege- ,," StraBenneu ~ .... .... " ausstattung ..
I .... , I I ,
I _
I A ";' I " ... I konkurrierende ,," I Verkehrsteilnehmer " \ ~ " \ 7' ,,"
\ " , " " " " " " , "
" "
... '" "
, ... ... ... Navigationssystem
,JI.... Internetanschluss
Nuaer E-Mail Spracheingabe Telefon
" " ~
Abb.1.1 Subsysteme im Verkehrssystem (Ausriss)
Diese "Ebenen" sind Thema unterschiedlichster Wissenschaftsdisziplinen und unterscheiden sich hinsichtlich der Eindeutigkeit ihres Gegenstandes. Fur eine Abgrenzung zwischen den Betrachtungsebenen "Technik und Gesellschaft" gegenuber "Mensch und Maschine" gibt es daher keine klaren und eindeutigen Kriterien bzw. ErkHirungen. Entscheidend fUr das Handeln der Akteure in diesen Ebenen ist, dass ihre Wirkmoglichkeiten durch ein BedingungsgefUge bestimmt werden, das (mindestens) durch Wissen, Wertesystem, Markt und politische wie rechtliche Regelungen festgelegt ist.
Makroebene
~ ~------------ J Regierung. Rechtsprechung
..-------. Mesoebene
~------------
~ Organisationen J Mikroebene -------------
Mensch-Maschine-Syscem
Abb. 1.2 Ebenen technischen Handelns (in Anlehnung an Konig, 1993)
Abbildung 1.2 zeigt exemplarisch, wie die in dies en Ebenen handelnden Akteure im Rahmen eines solchen BedingungsgefUges agieren. Valide Aussagen zum Verhalten des Menschen im Fahrzeug und im Verkehrssystem sind nur dann moglich, wenn seine Vemetzung in und mit den entsprechenden Teilsystemen betrachtet wird.
1.2 Fahrzeugfiihrung als Tiitigkeit 13
Aus diesem Sachverhalt folgt eine wesentliche Schlussfolgerung fiir die Analyse und Gestaltung der Fahrzeugfiihrung: Der konzeptionelle Ansatz fUr die Betrachtung der konkreten Wechselwirkungen zwischen Fahrer und Fahrzeug muss immer in den iibergeordneten Zusammenhang technischer und gesellschaftlicher Entwicklungen eingebettet werden (Dinse et aI., Kap. 17). Nur so werden zu kurz greifende bzw. lokale oder eindimensionale Gestaltungskonzepte vermieden. Optimumnahe Fahrzeug- wie Verkehrsumgebungsgestaltung setzt daher die Kenntnis und Beachtung der Wechselwirkungen zwischen den relevanten Teilsystemen voraus, urn Aussagen hinsichtlich einer gewahlten Kriterienhierachie machen zu konnen. Denn der Innovationsdruck des Marktes wird dazu fiihren, dass auch in Zukunft neue I&K-Systeme immer wieder Anforderungsverlagerungen bei der Fahrzeugfiihrung nach sich ziehen. Exemplarisch solI an zwei Beispielen das Zusammenspiel der genannten unterschiedlichen Ebenen illustriert werden:
Automatisierung und Verantwortung Bei der Projektierung von Verkehrssystemen werden immer mehr Teilaufgaben den technischen Systemkomponenten zugeordnet. Beispielsweise sollen Unterstiitzungssysteme kognitive Anforderungen bei der Systemftihrung bewaltigen. Neben den bereits bekannten Problemen moglicher Unterforderung des Fahrers bei sehr hoher Automatisierung sowie seines bei dieser Automatisierungsstrategie drohenden Kompetenzverlustes fiir das Verhalten in besonderen Situationen treten ungeloste juristische und ethische Fragen auf, die sich aus der Verwischung des Begriffs der Verantwortung in komplexen und verteilten Systemen ergeben. Fragen der Produkthaftung bei der Einfiihrung neuer Assistenzsysteme miissen unter einer solchen Perspektive neu bewertet werden. Insbesondere bei verteilten Systemen, in denen mehrere Menschen bzw. Organisationen an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Aufgaben das Verkehrsgeschehen beeinflussen, muss der Frage der Teilbarkeit und Delegierung von Verantwortung nachgegangen werden (Timpe u. Rotting, 2000).
Sicherheit und menschliche Zuverliissigkeit Werden Unfrllle, Beinahe-Unfrllle oder ahnliche ungewollte Ereignisse analysiert, werden meist drei Fehlerursachen genannt:
menschliches Versagen technisches Versagen oder hOhere Gewalt.
Jedoch ist es nur in seltenen Fallen moglich, eine klare Ursachenzuschreibung vorzunehmen. Bekannt ist die Analyse des besonders tragischen Unfalls bei Herborn auf der Bundesstrasse 255. Sechs Menschen starben, als damals ein mit 36.000 Liter Treibstoff beladener Tanklastzug, ausgeriistet mit einem als besonders sicher geltenden elektropneumatischem Schaltgetriebe und gefahren von einem als besonders zuverlassig geltenden Fahrer, in ein Haus raste. Versagten die Bremsen, verhinderte das neue Schaltgetriebe ein Zuriickschalten oder war der Fahrer mit der neuen Technik des Getriebes ungeniigend vertraut (Brauner 1988)?
Zu diesen pars pro toto ausgewahlten Fragestellungen sind weiterfiihrende Problemeinsichten nur dann zu gewinnen, wenn nicht die einzelne Ursache in
14 1 Fahrzeugfiihrung: Anmerkungen zum Thema
einer Ebene gesucht wird, sondem Unfalle als multikausales Beziehungsgeflecht unterschiedlicher Verantwortungsebenen systemtechnisch aufgefa13t werden. Eine andere, hier nicht zu erortemde Frage ist es dann, wie entsprechende Klarungen juristisch herbeigeflihrt werden - womit auch die Makroebene angesprochen ware.
Ohne weitere Begriindung sei festgestellt, dass die Fahrzeugentwicklung auf die Mikroebene fokussiert und diese im Kontext der Meso-Ebene durchflihrt. Die Organisation wird damit zum Mittler zwischen der Betrachtungsweise von "Technik und Gesellschaft" und der konkreten Fahrzeugauslegung, die die Mikroebene in den Mittelpunkt stellt (ausflihrlicher s. Timpe u.a., 2000).
Die Perspektive der Darstellung in diesem Buch ist schwerpunktrnaBig auf die Mikroebene eingeengt, da flir ein Entwicklungsteam zunachst das Produkt "Einzelfahrzeug" im Mittelpunkt steht. Wenn nachfolgend immer von Fahrer-Fahrzeug gesprochen wird, ist dies immer vor dem angedeuteten methodologischen Hintergrund zu sehen. Es solI daher betont werden, dass Kundenakzeptanz, Markenphilosophie, Produkthaftung usw. selbstverstandlich entscheidende Rahmenbedingungen von Fahrzeugentwicklungskonzepten bilden (s.z.B. Beier et aI., Kap. 16) und fUr die Fahrer-Fahrzeug-Betrachtung unverzichtbar sind.
1.2.2 Oas Mensch-Maschine-System "Fahrer-Fahrzeug"
Der BegriffMensch-Maschine-Systeme bezeichnet eine zweckmiiBige Abstraktion des zielgerichteten Informationsaustausches von Arbeitspersonen mit technischen Systemen ("Maschinen") zur Erflillung eines selbst- oder fremdgestellten Arbeitsaufuages innerhalb festgelegter Systemgrenzen (Abb. 1.3). Die Aufnahme der Prozess- und Umgebungsinformationen durch den Fahrer erfo1gt entweder direkt (z.B. Wahmehmung eines veriinderten Motorengerausches) oder indirekt (z.B. Drehzah1anzeige ).
Anliegen der Mensch-Maschine-Betrachtung ist die Optimierung der Informationszirkulation in einem solchen System, hier also des Informationsflusses zwischen Fahrer-Fahrzeug und Umgebung.
Das Fahrzeug weist zahlreiche technischen Komponenten auf, deren Gestaltung flir diesen Informationsaustausch von Bedeutung sind und deren Ausformung von entscheidendem Einfluss auf die Giite der Fahrzeugfiihrung ist. Dazu zahlen beispielsweise Entwurfund die Auslegung von
• Anzeige- und Bedieneinheiten zur Erflillung der Fahraufgaben und Komfort-funktionen (Interface-Gestaltung im engeren Sinne)
• Assistenzsystemen (Hilfesystemen) flir unterschiedlichste Anforderungen • dynamischen Eigenschaften des Fahrzeuges und • Bewegungs- und Sichtbedingungen im Fahrzeuginneren und nach auBen.
Probleme und Ergebnisse hierzu liegen in groBer Zahl flir die unterschiedlichsten Branchen vor und geben begriindete Hoffnung, die Fehler relevanter Gestaltungslosungen fUr andere Verkehrssysteme im Rahmen der Fahrzeugfiihrung nicht zu wiederholen. Insbesondere ist es notwendig, dass der Fahrer seine Aufgaben auch in zeitkritischen Situationen innerhalb der Grenzen seiner Informationsverarbeitungskapazitat erfiillen kann.
1.2 Fahrzeugfiihrung als Tiitigkeit 15
, Umgebung Organisation
f
FAHRZEUG Motorische Sensorik Motorik
Fahrzeugdynamik Vermittlung
Wissensbasis Steuergerat Motivationsbasis
Hilfesystem indirekte Ziele
Benutzun~s- Sensorische schnittste Ie Vermittlung LKW-Fahrer
Lenkrad Taxi-Fahrer Vielfahrer Gaspedal direkte
Tacho .... ....
FAHRER
Abb. 1.3 Das Mensch-Maschine-System "Fahrer-Fahrzeug"
1.2.3 Aufgaben des Fahrers bei der FahrzeugfOhrung
Die Aufgaben des Fahrers haben sich in den letzten lahrzehnten auBerordentlich gewandelt. Zu den allgemein bekannten Primaraufgaben der Fahrzeugfiihrung sind zahlreiche Sekundaraufgaben im Zusammenhang mit den verschiedensten sog. Komfortfunktionen hinzugekommen (Bengler, Kap. 12; Schattenberg u. Debus, Kap. 11; Zimmer, Kap. 3). Tabelle 1.1 gibt einen Oberblick iiber die heute und in absehbarer Zeit wichtigsten Aufgaben bei der Fahrzeugfiihrung.
Tabelle 1.1 Aufgaben bei der Fahrzeugfiihrung
Pri maraufgaben Planen (z.B. Auswahl einer Fahrroute)
Manovrieren (z.B. Oberholvorgang einleiten)
Stabilisieren (z.B. Spur- oder Abstand halten)
Sekundaraufgaben Kommunizieren (z.B. Telefonieren. Routen erfragen)
Richtungsanderungen anzeigen
Oberwachen und Bedienen (z.B. Radio einschalten. Klimaanlage regeln usw.)
Informationen des Bordcomputers verarbeiten •...
Diese beiden Aufgabentypen k6nnen nicht unabhangig voneinander betrachtet werden. Es bestehen sowohl Wechselwirkungen innerhalb der drei Ebenen bei der
16 1 Fahrzeugfiihrung: Anmerkungen zum Thema
Primiiraufgabe als auch zwischen den beiden Aufgabengrundtypen. Dabei unterstiitzen die Sekundiiraufgaben hiiufig die Erfiillung der Primiiraufgaben. Hierzu liegen umfangreiche Erkenntnisse vor, auf die nur verwiesen werden kann. Es gilt aber herauszustellen, dass es trotz dieser teilweise sehr detaillierten Kenntnisse bis heute nicht gelungen ist, fUr die Simulation der Fahrzeugfiihrung bereits im Entwicklungsprozess ein normatives Fahrermodell ("Bedienermodell") zu schaff en. Die Fortschritte auf diesem Wege sind allerdings beachtlich und werden in mehreren Beitriigen in diesem Buch dargelegt (Onken, Irmscher; Jiirgensohn; Kap. 6-8).
1.3 Zur mensch lichen Informationsverarbeitung bei der FahrzeugfLihrung
1.3.1 Ein allgemeines Informationszirkulationsmodell
Die Giite der Fahrzeugfiihrung - definiert im wesentlichen durch Oberziele wle hohe Sicherheit, 6kologisches Fahren, groBe Fahrerzufriedenheit und hohe Wirtschaftlichkeit - resultiert sowohl aus den Prozessen der Informationsverarbeitung des Fahrers als auch den technischen Parametern eines Fahrzeuges. Wiihrend die technischen Parameter (kurzer Bremsweg, hohe Wendigkeit, gute Beschleunigung usw.) in den meisten Fiillen eindimensional und somit (relativ) einfach operationalisierbar sind, miissen Ansiitze fUr die Optimierung des Informationsaustausches Fahrer-Fahrzeug die relevanten Kriterien aus den Erkenntnissen humanwissenschaftlicher Disziplinen bzgl. der menschlichen Informationsverarbeitung zu Grunde legen. In der Allgemeinen Psychologie wurden iiber die GesetzmiiBigkeiten der menschlichen Informationsverarbeitung sehr differenzierte Vorstellungen erarbeitet. In noch zuliissiger Vereinfachung kann die Informationszirkulation zusammenfassend mit drei Komponenten beschrieben werden, die nur aus didaktischen Grunden getrennt werden:
• System zur Verarbeitung der Umgebungsreize zu Merkmalen (Informationsaufnahme)
• Gediichtnis mit seinen verschiedenen Substrukturen (lnformationsverarbeitung im engeren Sinne )
• System zur Handlungsausfiihrung
Dieses Wirkungsgefiige ist in Abb. 1.4 dargestellt. Es wird davon ausgegangen, dass aIle Mitteilungen und Handlungen eines Fahrers das Resultat von Informationsverarbeitungsprozessen (z.B. Vergleichen, Entscheiden oder Erkennen) im Nervensystem sind. Diese Prozesse werden im wesentlichen von Signalen aus der Umgebung und Kiniisthesie sowie durch das im Gediichtnis gespeicherte Wissen gesteuert. Weitere verhaltensregulierende Instanzen (wie die Erbanlagen) werden nachfolgend nicht beachtet.
Sensorik
1.3 Zur menschlichen Infonnationsverarbeitung 17
Langzeitgedachtnis
f····~·········: f-E~·;;~~~i~~~~;~1 r~~~di~~··~~: , Wlss~ns- ~ und SchlussJ;>ro-:-:program~e: : basIs : : zesse:Arbe.lts-: : Strategien 1 : __ ........... __ : : gedachtms : : ......•...... J
1 .. __ ....... _ ........... 1
Motivationsbasis:
Ziel
Motorik
Abb. 1.4 Schema der Infonnationszirkulation zwischen Fahrer und Fahrzeug
Wie in Abb. 1.4 dargestellt ist, werden die Informationen uber Rezeptoren (Sensorik) aufgenommen und dekodiert. Dominant fUr diese Wahmehmungsprozesse ist heute noch das Auge und, mit wesentlich geringerem Anteil, das Ohr. Aber auch das haptische und vestibulare System ist intensiv an der FahrzeugfUhrung beteiligt und es gibt nachhaltige Bemuhungen, vor allem das visuelle Rezeptorsystem zu entlasten und den haptischen bzw. kinasthetischen Sinn aktiv in die Informationszirkulation zu integrieren (Bubb, Kap. 10; Akyol et aI., Kap. 9; Kolrep u. Fankhauser, Kap. 14).
Die dekodierten Informationen gelangen in das Gedachtnis, wo sie mit den dort gespeicherten Informationen verglichen werden. Das Ergebnis eines solchen Vergleiches kann eine Erkennung oder eine Bedeutungserfassung sein, kann aber auch zu weiteren Verarbeitungsschritten fUhren, die Entscheidungen ermoglichen und motorische Aktivitiiten bewirken - z.B. im Form von Lenkbewegungen.
Weiterhin wurde nachgewiesen, dass die Bewertung der zu verarbeitenden und verarbeiteten Information von entscheidender Bedeutung fUr die Auseinandersetzung mit der Umgebung und damit die Gute der Fahrerleistung ist. Prinzipiell muss davon ausgegangen werden, dass die menschliche Informationsverarbeitung (also alle kognitiven Prozesse) nicht ohne Bezug auf die Motivationsbasis (Bewertungs- und Aktivierungsprozesse bzw. Beanspruchung) begreifbar sind. Diese Problematik ist fUr aIle verkehrspsychologischen Anliegen wohlbekannt, jedoch einer formalen Modellierung bis heute schwer zuganglich. 1m Zusammenhang mit der Entwicklung von Fahrersimulationsmodellen wird im vorliegenden Buch dieser Sachverhalt von Onken, Irmscher und JUrgensohn (Kap. 6-8) aufgegriffen.
1.3.2 Fahrzeugfuhrungstypische Wahrnehmungscharakteristika
Typisch fUr die ErfUllung der Primaraufgaben bei der Fahrzeugfuhrung ist die hohe Automatisierung der motorischen Handlungen. Diese in den sog. Ebenenmodellen (Hacker, 1973 oder Rasmussen, 1986) als fertigkeitsbasiert beschriebene
18 I Fahrzeugfiihrung: Anmerkungen zum Thema
Koordinationsleistung zwischen Wahmehmung (z.B. charakterisiert durch Augenbewegungen, Seifert u.a., Kap. 13) und Motorik (z.B. charakterisiert durch Handoder Armbewegungen) setzt eine anforderungsgerechte Wahmehmung der Information voraus. Das allerdings ist haufig nicht gegeben. So berichtet z.B. Fastenmeier (1995), dass Fahrer nur relativ ungenau Abstand und Relativgeschwindigkeit zu vorausfahrenden Fahrzeugen abschatzen konnen. Folgen dieser unzureichenden Wahmehmung sind ein inhomogener Verkehrsfluss mit vermindertem Verkehrsdurchsatz (Naab u. Reichart, 1998), der zu okonomischen (und okologischen!) Folgeschaden fUhren kann. Hilfesysteme fUr die Abstandshaltung einzusetzen Iiegt auf der Hand. Nur ungenau vermag der Fahrer auch Umgebungszustande einzuschatzen, z.B. Kurvenradien, StraBenzustande usw. Parameter dieser Wahmehmungsleistungen sind u.a. der Lemzustand und das Alter des Fahrers sowie seine sensumotorischen Leistungsvoraussetzungen. Nicht jeder kann, selbst bei beliebig hohem Trainingsaufwand, ein Schumacher werden!
Das jedoch in derartigen, anscheinend "alten" wahmehmungspsychologischen Problemen auch heute noch anspruchsvolle Forschungsthemen versteckt sind, belegen die sog. Baumunfalle. Handelt es sich dabei urn Wahmehmungstauschungen beim Fahrer auf Grund irrefUhrender Fahrbahnmarkierungen, beeinflusst bei Lichteinfallen durch die Baumkronen ein stroboskopischer Effekt seine Umgebungswahmehmung, entsteht bei Einfahrt in eine Baumallee moglicherweise eine Art Tunnelblick oder wirken diese und andere Einflussfaktoren zusammen - Antworten auf solche Fragen konnen sicher zur Verringerung der Unf1ille dieses Typs beitragen. Beier et al. (Kap. 16) skizzieren weitere, aktuelle WahmehmungsprobIerne, deren Losung fUr die Fahrzeugtechnik von hohem Interesse ist.
Abb. 1.5 Experimentell ermitteltes Blickfeld im Fahrzeugcockpit (nach Lambie, 1999). Zahlen in den Kreisen bezeichnen die Blickwinkel (in Grad).
1.3 Zur menschlichen Informationsverarbeitung 19
Andere auch heute noch relevante Fragestellungen flir fahrzeugflihrungstypische Wahrnehmungsleistungen betreffen die Anordnung (Abb. 1.5), Auswahl, Kodierung, Kompatibilitlit usw. der Anzeigen und Bedienelemente im Fahrercockpit. Zu diesen klassischen Fragestellungen ist die gestaltungsrelevante Information flir die Anliegen der Fahrzeugflihrung haufig bereits ingenieurmaBig aufbereitet, so das dieser Themenkreis nachfolgend nicht weiter verfolgt wird. Anders jedoch stellt sich dieser Sachverhalt flir Gestaltungsli:isungen im Kontext der Integration der I&K-Technologie im Fahrzeug dar. Zahlreiche Beitrage sind dieser Thematik gewidmet (z.B. Schattenberg u. Debus, Kap. 11; Farber, Kap. 4).
1.3.3 Informationsverarbeitung i.e.S.
Es gibt verschiedene Konzepte flir die Analyse und Erkllirung kognitiver Prozesse. Leider ki:innen sie nicht ohne wei teres miteinander in Beziehung gesetzt werden. Darauf kann hier nicht eingegangen werden (s. Muthig 1990), jedoch sollen aus dem in Abb. 1.3 dargelegten Rahmenmodell einige flir die Fahrzeugflihrung interessante Aspekte herausgestellt werden.
Spatestens seit Schneider u. Shiffrin (1977) werden bei der menschlichen Informationsverarbeitung zwei Systeme unterschieden (s. auch Rasmussen, 1986):
• Das eine System kann als bewusste, kontrollierte Informationsverarbeitung bezeichnet werden. Es ist quasi durch einen sequentiell arbeitenden Prozessor begrenzter Kapazitat und Schnelligkeit gekennzeichnet, der in Wechselwirkung mit dem Kurz- und Langzeitgedlichtnis steht. Damit wird die Informationsaufnahme und -verarbeitung in Situationen bestimmt, die u.a. logisches Schlussfolgern und symbolisches Denken verlangen. AuBerdem wird ihm die Zielbildung und Handlungsausflihrung zugeordnet. Durch dieses System wird auch die Arbeitsweise des zweiten Systems kontrolliert. (Beispiel: an Kreuzung links abbiegen).
• Dieses zweite System kann als automatische Informationsverarbeitung bezeichnet werden. Es wird als verteiltes, parallel arbeitendes System mit hoher Verarbeitungskapazitat interpretiert. Es leitet und orientiert die Wahrnehmung und steuert auf der Basis dieser Wahrnehmungen und einem internen Wissensmodell die Bewegungen und Handlungen. Die in diesen System ablaufenden Prozesse sind nicht bewusst und nur schwer verbalisierbar. Sie werden durch das erste System iiberwacht. (Beispiel: zum links abbiegen Auge mit Lenkbewegung koordinieren).
Hervorzuheben ist bei dieser Konzeption, dass die Prozesse bzw. Verarbeitungsstufen in vielen Anwendungsbereichen als Analyseparadigma aufgegriffen wurden. Dieser konzeptionelle Rahmen ermi:iglicht die Aufbereitung eines breiten Bereiches von Tlitigkeiten und bietet einen ordnenden Rahmen flir die Bearbeitung unterschiedlicher Aspekte der Tatigkeit.
Auch flir die Fahrzeugflihrung wird dieser Ansatz hliufig, natiirlich in modifizierter Form, zu Grund gelegt. Abbildung 1.6 zeigt beispielsweise ein sehr friihes
20 1 Fahrzeugfiihrung: Anmerkungen zum Thema
Model1, das fUr die Analyse und Gestaltung von Fahrzeug, Fahrumgebung und Fahrbahn gelten soli (s. auch Klebelsberg, 1982; oder Zimmer, Kap. 3).
Aktion
Handlungsentwurf r
Riickmeldung optisch. akustisch
Riickmeldun.g kinasthetiscll
Automatismen
Entscheidung
Stimuli der Verkehrslage
Motivationen Interessen Erfahrungen
Abb. 1.6 Ein friihes Modell der Fahrzeugfiihrung Cnach Burkardt, 1965)
Auf einige fUr die Fahrzeugftihrung relevante Sachverhalte soli kurz hingewiesen werden:
• 1m Langzeitgedachtnis als Trager der internen Reprasentation von Bedingungen der FahrzeugfUhrung ist das Wissen tiber die mit der ErfUllung der Fahraufgabe zusammenhangenden Sachverhalte als Fakten- oder prozedurales Wissen ("internes" oder haufig auch "mentales" Model1) gespeichert. Muthig (1990) weist in diesem Kontext darauf hin, dass es fUr eine effiziente Interaktion zwischen Mensch und Maschine entscheidend ist, die funktionalen Eigenschaften und Zusammenhange des technischen Systems einem Nutzer so zu prasentieren, dass er sie zu einem fUr die Integration hinlanglich geeigneten, funktionalen mentalen Abbild zusammenfUhren kann. Das gilt nattirlich auch fUr die Gestaltung von Umgebungseigenschaften, die jedoch nur teilweise beeinflusst werden konnen (z.B. StraBenfUhrung und -markierung, Beschilderung usw.). Wenig erforscht ist bis heute die "Dynamik" eines solchen mental en Model1s, insbesondere seine Vedinderung durch Lemen oder situative Veranderungen in der Zeit.
• Zwischen Wahrnehmung und interner Reprasentation besteht immer eine Wechselwirkung, in Abb. 1.4 durch einen Doppelpfeil gekennzeichnet. Das bedeutet u.a., dass die Wahrnehmung immer auf erwartete Veranderungen hin ausgerichtet wird wie auch umgekehrt, dass das sensorische System zum Auf-
1.3 Zur menschlichen Informationsverarbeitung 21
bau des mentalen Modells beitragt. Information und Verhalten sind daher eng verkniipft. Hieraus leitet sich u.a. ab, dass sehr haufig Augenbewegungen (wie andere Bewegungen auch) zu Recht als Indikator kognitiver Prozesse interpretiert werden k6nnen und ihre Messung sich zu einer Standardmethode fUr Gestaltungsanliegen und das usability engineering zu entwickeln scheint. Fiir die meisten Anliegen der FahrzeugfUhrung spielen daher, wie erwahnt, die Augenbewegungen bei der Analyse, Bewertung und Gestaltung sensumotorischer Koordinationsleistungen eine bedeutende Rolle (Seifert et aI., Kap. 13).
• Die Art und Weise der internen Reprasentation bestimmt in hohem MaBe das Fahrverhalten. Jeder Fahrer hat eine "Vorstellung" von den Eigenschaften seines Fahrzeuges, des Fahrauftrages und den Fahrbedingungen. 1m Rahmen eines Lernprozesses wird das mentale Modell aufgebaut, wobei die Merkmale der technischen Komponenten wie auch das Fahrerwissen (z.B. in der Fahrschule erworben) intern gespeichert werden. Daraus resultiert die schwierige Aufgabe bei der Fahrzeugentwicklung, die Merkmale eines fUr die FahrzeugfUhrung vorgedachten Interfaces so zu auszuwahlen und zu dimensionieren, dass der Fahrer sein internes Modell effizient aufbauen kann oder aber daftir zu sorgen, dass die Eigenschaften und Merkmale der technischen Komponenten mit einem schon vorhandenen internen Modell korrespondieren (z.B. bei einem Modellwechsel oder neuen Systemkomponenten).
• Von besonderem Belang fUr die Fahrsicherheit ist in diesem Kontext das sog. interne "Gefahrenmodell", iiber das jeder Mensch fUr jede Situation verfUgt. Seit der Wildeschen Hom60stasetheorie (Wilde, 1982) liegen dazu zahlreiche, auch widerspriichliche Erkenntnisse vor. Folgt man der Grundaussage von Wilde, so wahlt vereinfacht gesagt, der Fahrer sein Fahrrisiko immer in Abhangigkeit von den aktuellen Fahrzeugparametern. Mit jedem neuen Assistenzsystem wird somit auch fUr jeden Fahrer die M6glichkeit nahegelegt, sein Fahrverhalten so zu andern, dass die neuen, mit dem Assistenzsystem gegebenen M6glichkeiten der FahrzeugfUhrung ausgesch6pft werden. Der Versuch, diesen Gefahren durch Aufsetzen eines neuen Hilfesystems zu begegnen, sollte daher griindlich iiberdacht werden, da der Entwickler auf diese Weise in einen Circulus vitiosus gerat. Mmlich, wie Farber (1990) formulierte, dass jede Anzeige eine Aufforderung zum Hinsehen ist (und damit ablenkt), kann postuliert werden, dass j edes neue Assistenzsystem als eine M6glichkeit (oder Aufforderung?) zum Fahren im Grenzbereich aufgefasst werden kann. Zumindest zwei Fragestellungen sollten bedacht werden:
Kann ein Fahrer die Grenzen der Leistungsfohigkeit des aktuell, wiihrend der Fahrt, wirksamen Assistenzsystems abschiitzen? Kompensiert ein Assistenzsystem kritische Zustiinde wiihrend der Fahrt derart, dass der Fahrer sich infalscher Sicherheit wiegt?
Hierzu sind allerdings nur wenige Forschungsresultate bekannt (z.B. Nirschel u. Kopf, 1997, Haller, Kap. 2; Frank u. Reichelt, Kap. 5). Zu priifen ist, inwieweit die in der Luftfahrt bereits gewonnenen Erkenntnisse zur situation awareness einen Beitrag zu diesem Problembereich liefern k6nnen (vgI. z.B. HauB u.a., 2001).
22 1 Fahrzeugfiihrung: Anmerkungen zum Thema
1.4 Einige Schlussfolgerungen fur die Interaktionsgestaltung
1.4.1 Fahrerassistenzsysteme
Die Gestaltung der Interaktion zwischen Fahrer und Fahrzeug ist an den einleitend genannten Aufgaben orientiert. Konzeptuell steht die Erfiillung der Primaraufgaben im Vordergrund, die durch die Ausfiihrung der Sekundaraufgaben nicht negativ beeinflusst werden durfen. Uberwachungsaufgaben werden selten sein, da unerwiinschte Betriebszustande durch hohe technische Fertigungsqualitat nahezu ausgeschlossen werden konnen.
Urn neben der Steigerung der Leistungsflihigkeit vor allem hohe (aktive) Sicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltvertraglichkeit sowie groBen Komfort bei der ErfUllung der Fahraufgabe zu erreichen, wurden und werden zahlreiche Unterstutzungs- bzw. Assistenzsysteme entwickelt. Reister (1996) vergleicht die Funktion dieser Systeme mit der eines Stabes bei der AufgabenerfUllung. In Abhiingigkeit yom Gesamtziel sind sehr unterschiedliche Anforderungen zu erfiillen. Daten- bzw. Situationserfassung und -bewertung, Bestimmung der zielfUhrenden Sollwerte, deren Vergleich mit den Handlungen sowie Informationen uber Abweichungen und Auslosung von Korrekturen kennzeichnen potentielle Leistungsbereiche heutiger Assistenzsysteme. Wissen uber Nutzer, zu erfUllende Aufgaben und die aktuelle Situation mussen hiiufig in diesen Systemen implementiert werden. Prinzipiell konnen hierbei alle menschlichen informationsverarbeitenden Prozesse unterstUtzt werden (Tabelle 1.2).
Tabelle 1.2 Beispie1e fur die Unterstiitzung von Funktionen der menschlicher Informationsverarbeitung
Funktion
Wahrnehmung
(Sensu)motorik
Problemlosen
Arbeitsgedachtnis - langzeitgedachtnis
Entscheiden
Aktivierung
Beispiele
Pradiktoranzeigen, aufgabenbezogene Informationsdarstellung, multi modale bzw. okologische Schnittstellen
Kraftverstarkung
Automatisierte Interferenzen, Hinweise auf Inkonsistenzen, wissensbasierte Systeme, Auralisation bzw. Visualisierung von Information, Checklisten, Ablage von Faktenwissen, adaptierbare Informationsdarbietung, Glossar, lexikon, Fallsammlung
Zielstrukturierung, Alternativenbewertung, Gewichtung
Optische, akustische oder haptische Signale (Mehrfachkodierung)
Durchforstet man die bis heute bzw. in nachster Zeit erreichten technischen Losungen fUr die verschiedenen Stufen der Fahrerassistenz, so findet man tatsachlich sehr viele der notwendigen Fahreraktivitaten mit Hilfe technischer Losungen assistiert (Frank u. Reichelt, Kap. 5 oder Haller, Kap. 2). Von herausragender Be-
1.4 Einige Schlussfolgerungen 23
deutung sind hierbei Informations- und Kommunikationssysteme, die der Erfassung, Interpretation und Ubermittlung der Fahrumgebung (z.B. durch bildverarbeitende Sensorik) und Fahrzeugzustande dienen. Farber und Farber (1999) ste11-ten im Rahmen ihrer umfangreichen Analyse 20 Gruppen derartiger Systeme fest, weitere Innovationen sind zu erwarten. Diese reichen von autonomen Fahrzeugen iiber Miidigkeitswarner bis hin zum Verkehrsmanagement. Mit dieser Vielzahl neuer Systeme hat sich eine neue Qualitat in der Fahrzeugftihrung entwickelt, wobei durchaus nicht immer klar ist, ob ihre Nutzung einen Sicherheitsgewinn oder zusatzliche Ablenkung eines Fahrers bedeutet. Fehler, die aus neuen, zuvor unbekannten Fehlerque11en resultieren, konnen im Fahrzeugcockpit auftreten (Bengler, 1999). Paradox klingt daher nach dem Gesagten der Vorschlag, einen "Scheduler" einzuftihren, der eine gezielte Auswahl von Informationen ftir den Benutzer vornimmt, urn Uberlastungen zu vermeiden (nach Bengler, 1999).
Unter dem Aspekt der Informationsverarbeitung in der Fahrzeugftihrung interessiert hier vorwiegend, welchen Einfluss diese neuen Systeme auf das Fahrverhalten haben oder genauer, wie die Wechselwirkungen zwischen primarer und sekundarer Fahraufgabe durch sie beeinflusst werden. Diese Frage kann nur bei Kenntnis des Fahrauftrages beantwortet werden. A11gemein ist a11erdings davon auszugehen, dass die ftir die Unterstiitzung oder Realisierung der sekundaren Fahraufgaben entwickelten Unterstiitzungssysteme nur partiell die primare Fahraufgabe unterstiitzen. Auch verandern die im F ahrzeug zur Verftigung stehenden Datenmengen, seien es interne oder externe Informationen, das Beanspruchungsprofil und nachfolgend haufig auch das Aufmerksamkeitsprofil (d.h. die Aufmerksamkeitsverteilung) des Fahrers.
Vor dem Hintergrund dieser Situation und den zukiinftig zu erwartenden weiteren Telematiksystemen ist es notwendig, die Bewertung der Interaktionen FahrerFahrzeug-Umgebung und die ergonomische Gestaltung des Informationsaustausches zwischen diesen Systemen an den Kenntnissen iiber die menschliche Informationsverarbeitung zu orientieren und moglichst in Gesetzen oder Normungsempfehlungen zu fixieren.
Ein Beispiel: Einige Privatsender prasentieren Laufschriften mit verkehrsfremden Informationen auf dem Autoradio (Farber u. Farber, 1999). Werden diese wahrend der Fahrt eingespielt, kann eine Orientierungsreaktion mit unwi11kiirlicher Blickzuwendung ausgelost werden, die zu einer Ablenkung yom Verkehrsgeschehen ftihrt. Derartige negative Auswirkungen von Informationssystemen sol1-ten vermieden und untersagt werden, ahnlich wie erfreulicherweise auch das Telefonieren wahrend der Fahrt bereits in einigen Landern nicht mehr zulassig ist.
Eine weitere Moglichkeit, den Sicherheitsbeeintrachtigungen durch die zunehmende Informationsmenge zu begegnen, besteht im multimodalenl-medialen Informationsaustausch. So kann die ablenkende Wirkung visueller Anzeigen nicht nur durch Verzicht auf entsprechende Anzeigedisplays verringert werden, sondern auch durch die Nutzung anderer Informationskanale. Urn die visue11e Ablenkung einzuschranken, werden daher auch zunehmend akustische Ein- und Ausgaben mit in die Kommunikation einbezogen, auch der kinasthetische und haptische Kanal werden auf ihre Eignung fur den aktiven Informationsaustausch bei der Fahrzeugftihrung gepriift (Bubb, Kap. 10; Bengler, Kap. 12; Aykol et ai., Kap. 9). Akusti-
24 1 Fahrzeugfuhrung: Anmerkungen zum Thema
sche Signale, Sprachein- und -ausgabe, Multifunktionsdisplays u.a. werden gegenwartig von vielen Herstellern bzgl. ihrer Vor- und Nachteile getestet, wobei allerdings die Markterfordernisse oder -wunsche mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen kollidieren k6nnen. Es wird zunehmend wichtiger zu sichern, dass die urspriinglichen Ziele bei der EinfUhrung von Fahrerassistenzsystemen - wie Kompensation von Fahrfehlern, Vermittlung zusatzlicher Fahrerinformation usw. -weiterhin zentrales Anliegen fUr die Bestgestaltung der FahrzeugfUhrung bleiben.
1.4.2 Bewertungskriterien fur die Fahrzeugfuhrung
Fur die Bewertung von Mensch-Maschine-Systemen liegen zahlreiche allgemeine Kriterien, Verfahren, Empfehlungen, betriebliche Vorschriften und normative Vorgaben vor (s.z.B. im Uberblickbei Timpe u.a., 2000b). Einige fUr die FahrzeugfUhrung spezifische Beispiele seien erwahnt:
• Fur die Beurteilung von Kraftfahrzeugen wahlten Blum und Nirschel (2000) 58 fUr die Verkehrssicherheit relevante Kriterien aus, von denen 21 fUr die Bewertung in Form einer MMI-Priifliste auf die verschiedenen Interaktions16-sungen anwendbar sind, z.B. fUr Warnanzeigen, Displays und Eingabebedingungen, Systemausgaben usw.
• Einen anderen Ansatz verfolgt R6Bger (2000), der unter Bezug auf ISO 92411Teil 10 Items erzeugte, die zur Beurteilung von Fahrerinformationssystemen (FIS) herangezogen werden k6nnen (Abb. 1.7). Dieses und die meisten anderen Verfahren beruhen im Kern auf rechnergestiitzten Befragungen und Usability-Untersuchungen entsprechender Zielgruppen.
Fahrer-Informations-Systeme
Style.Guides Fahrzeugwelt
Anpassung an Nutzer
Benutzung mentaler Modelle Bindung Aktion-Reaktion
Abb. 1.7 Iternraum fur die Beurteilung von Fahrer-Informationssystemen (nach R6Bger, 2000).
1.5 Ausb1ick 25
• Farber und Farber (1999) berichten uber Ergebnisse einer Expertenbewertung von Kommunikations- und Informationssystemen hinsichtlich der Kriterien Sicherheit und Funktionalitat wahrend der Fahrt. Dabei wurden u.a. Navigationssysteme (nicht als Karten!), Sprachausgaben, automatische Distanzregelungen, automatisches Abblenden als besonders positiv eingeschatzt, Head-upDisplays oder Mudigkeitswarnsysteme wirken sich ungiinstig aus und das "mobile Buro" erhielt (nicht uberraschend) extrem negative Bewertungen (s. auch den Beitrag von Farber, Kap. 4).
Diese hier nur exemplarisch ausgewahlten Bewertungsmethodiken zeigen deutlich den mit dieser Fragestellung aufgespannten Problemraum, der in den Arbeiten von Farber (Kap. 4), Kolrep u. Fankhauser (Kap. 14), Beier et aI. (Kap. 16) oder KrUger u. Neukum (Kap. 15) differenziert bearbeitet wird. Fur den Entwicklungsund Gestaltungsprozess eines Fahrzeuges konkret nutzbare Aussagen konnen unter drei Bedingungen abgeleitet werden:
• Konkrete Definition der Fahraufgabe und des -zwecks einschlieBlich der Verkehrssituation (z.B. Lastentransport oder SpaBfahrt),
• Kenntnis der individuellen Dispositionen des Fahrers (z.B. Sinnestiichtigkeit, Alter, sensumotorische Fertigkeiten, Imagegehabe),
• Beriicksichtigung der GesetzmaBigkeiten im Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsprozess des Fahrers.
Hieraus leiten sich die Anforderungen an die Entwicklung eines Fahrzeuges abo Urn dabei zu sinnvollen Aussagen zu kommen, ist es notwendig, flir die Beriicksichtigung dieser Bedingungen von statistischen Durchschnittswerten entsprechender Messungen oder empirischer Untersuchungen auszugehen. Oberlagert werden diese Gestaltungsgrundlagen u.a. von den Markterfordemissen, der Markenphilosophie und den Kundenwiinschen. Fiir die Einbeziehung dieser Rahmenbedingungen und ihre Gewichtung erwies es sich als zweckmaBig, einige im Qualitatsmanagement genutzte Techniken bereits im Entwurfsprozess eines Fahrzeuges anzuwenden (z.B. Timpe et aI., 2000a).
1.5 Ausblick
Insgesamt ist der Bereich Fahrzeugflihrung von einer groBen Dynamik und einem hohen Entwicklungstempo in Forschung, Entwicklung und Fertigung gekennzeichnet. Auf dem Weg zum individuell gestalteten Fahrzeug sind heute bereits zahlreiche Optionen moglich. Der Kampf urn groBtmoglichen Absatz darf jedoch keineswegs dazu fiihren, dass sicherheitsrelevante Sekundaraufgaben oder okonomisch-okologische Kriterien einer hOheren "Individualisierung" geopfert werden. 1m Gegenteil: die strategische Orientierung bei der Gestaltung des Verkehrssystems (Abb. 1.1) muss verstarkt darauf abzielen,
• die nahezu unubersehbare Informationsmenge der im Bereich der Fahrzeugflihrung erarbeiteten Erkenntnisse so zu verallgemeinem und zu verOffentli-
26 1 Fahrzeugfuhrung: Anmerkungen zum Thema
chen, dass sinnvoll begriindete Zielsetzungen fUr die Entwicklung konkreter Kommunikations- und Informationssysteme moglich werden,
• dass die humanwissenschaftlichen Erkenntnisse iiber das menschliche Verhalten intensiv genutzt werden konnen und
• dass unabhangig von der Automatisierungsstufe die technischen Fahrzeugkomponenten so ausgelegt werden, dass der Fahrer stets das Fahrzeug ftihrt.
Die heute in allen groBen Untemehmen etablierten Labors zur MenschMaschine-Systemgestaltung, entsprechende Abteilungen in der Hochschullandschaft und Ingenieurbiiros arbeiten intensiv zu den hier umrissenen und vielen weiteren Themen. Erfreulich ist, dass dies zumeist in interdisziplinaren Teams geschieht. Denn, bedingt durch fundamentale Unterschiede in Sprache, Zielsetzung und der "Art zu denken" in den Ingenieur- und Humanwissenschaften, ist der Mangel an Fiihigkeiten zum interdisziplinaren Austausch oft eine Hauptursache fiir ein Scheitem gemeinschaftlichen Vorgehens. Auch erfordert dieses Vorgehen zusatzlichen Lemaufwand, womit notwendigerweise Ressourcen yom fachspezifischen Lemen abzogen werden.
Der vorgelegte Samme1band zur Fahrzeugfiihrung belegt den optimistischen Blick, dass zumindest auf diesem Gebiet derartige Hemmnisse gering geworden sind, die negativen Folgen und Risiken modemer Informations- und Kommunikationstechnologien fUr die Sicherheit bei der Fahrzeugftihrung konsequent minimiert werden und das es groBe Anstrengungen gibt, die Giite der Fahrzeugfiihrung an den Kriterien der Mensch-Maschine-Systemtechnik zu messen.
Literatur
Bengler; K. (1995): Gestaltung und experimentelle Untersuchung unterschiedlicher Priisentationsformen von Wegleitungsinformationen in Kraftfahrzeugen (Theorie und Forschung), Regensburg: S. Roderer Verlag
Blum,E. und Nirschel,G. (2000): MMI-Priifliste - Verfahren und Werkzeug zur Bewertung von Mensch-Maschine-Systemen im Kraftfahrzeug, In: Timpe, K. P., Willumeit, H.-P. und Kolrep. H. (Hrsg.): Bewertung von Mensch-Maschine-Systemen, Fortschritt Berichte VDI, Band 1, Reihe Mensch-Maschine-Systeme, Dusseldorf: VDI Verlag, 139-150
Brauner, Ch. (1988): Wir wiegen uns in falscher Sicherheit, Bild der Wissenschafl, H. 11, 131-146
Bruckmayr, E. & Reker, K. (1994): Neue Informationstechniken im Kraftfahrzeug. Zeitschriftjiir Verkehrssicherheit 40 (1), 12-23
Burkardt, F. (1965): Fahrbahn, Fahrzeug und Fahrverhaiten, in Hoyos, C. Graf (Hrsg.) Psychologie des StrajJenverkehrs. Bern, Huber-Verlag, 179ff
Fastenmeier, W. (1995): Die Verkehrssituation als Analyseeinheit im Verkehrssystem. In Fastenmeier, W. (Hrsg.) Autofahrer und Verkehrssituation, Verlag TOV Rheinland, Kaln
Farber, B (1990): Mehr Instrumente, mehr Sicherheit? Elektronik im Kraftfahrzeug, VDI Berichte, 819, VDI Verlag, Dusseldorf, 1-18
Farber, B. und Farber, B. (1999): Telematik-Systeme und Verkehrssicherheit, Berichte der Bundesanstalt filr StrajJenwesen, Heft 104, Wirtschaftsverlag NW
Literatur 27
Hacker W. (1973): Arbeits- und Ingenieurpsychologie. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaft
HauB, Y., Gauss, B. & Eyferth, K. (2001). The Influence of Multi-Sector-Planning on the controllers' representation. In: D. Harris (Ed.). Engineering Psychology and Cognitive Ergonomics, Volumes 5 & 6, Aldershot: Ashgate (im Druck)
Klebelsberg, D. (1982). Verkehrspsychologie. Berlin: Springer Konig, W. (1993): Technik, Macht und Markt. Technikgeschichte, 60 (3), 28ff. Lambie, D. (1999): Detection thersholds in a car following situations and peripheral visi
ons: implications for positioning of visually demanding in-car displays, Ergonomics, 42 (6), 807- 815
Muthig, K.-P. (1990): Informationsaufuahme und Informationsverarbeitung. In C. Graf Hoyos & B. Zimolong (Hrsg.). Ingenieurpsychologie (Enzyklopiidie der Psychologie, Bd. D/III/) Gottingen: Hogrefe, 92-120
Naab, K. und Reichart, G. (1998): Grundlagen der Fahrerassistenz und Anforderungen aus Nutzersicht, Seminar "Fahrerassistenzsysteme" ,Haus der Technik, Essen 16,/17. 11 1998
Nirschel, G. und Kopf, M. (1997): Untersuchung des Zusarnmenwirkens zwischen dem Fahrer und einem ACC-System in Grenzsituationen. VDI Berichte 1317 "Der Mensch im Verkehr", VDI Verlag, S. 119-148
Rasmussen, J. (1986): Skills, Rules and Knowledge; Signals, Signs and Symbols and other Distinctions in Human Performance Models. IEEE Transactions on Systems, Man and Cybernetics, 13, 257-266
Reister, D. (1996). Wird die Fahrzeugflihrung spater an Automaten delegiert? InformatikForum, 179-183
RoBger, P. (2000): Die Entwicklung von Tools flir die ergonomische Bewertung von Fahrer-Informationssystemen, In: Timpe, K. P., Willumeit, H.-P. und Kolrep. H. (Hrsg.): Bewertung von Mensch-Maschine-Systemen, Fortschritt Berichte VDI, Band I, Reihe Mensch-Maschine-Systeme, Dusseldorf: VDI Verlag, 241-251
Schneider, W.& Shiffrin, R. M. (1977): Controlled and Automatic Human Information Processing: I Detection, Search and Attention, Psychological Review, 84, 1-66
Timpe, K. P., Fessler, M. und Burmester, R. (2000a): Von Anfang an mit System, Zeitschriftfiir Qualitiitswissenschaft, Jahrgang 45, Heft 7,883-888
Timpe, K.-P., Jiirgensohn, Th. und Kolrep, H. (2000b): Mensch-Maschine-Systemtechnik, Dusseldorf: Symposion Publishing
Timpe, K. P., Willumeit, H.-P. und Kolrep. H.(2000c) (Hrsg.): Bewertung von MenschMaschine-Systemen, Fortschritt Berichte VDI, Band 1, Reihe Mensch-MaschineSysteme, Dusseldorf: VDI Verlag
Timpe, K. P. und Rotting, M. (2000): Verantwortung und Fiihrung in Mensch - Maschine - Systemen, ZMMS Spektrum (Band 7), Pro Universitate Verlag, Sinzheim
Wilde, G. J. S. (1982): The Theory of Risk Homeostasis, Risk Analysis, 2, 209-225
Teil I
Assistenzsysteme
2 Fahrer-Assistenz versus Fahrer-Bevormundung: Wie erreicht man, dass der Fahrer Herr der Situation bleibt?
Rudolf Haller
2.1 Einleitung
Die Frage im Titel dieses Beitrags enthalt die Unterstellung, Fahrerassistenz habe ein Potential zur Veranderung der Herrschaftsverhaltnisse, der Kompetenz zu ungunsten des Fahrers. Implizit enthalt der Titel aber auch eine zweite Annahrne: Der Fahrer ist ohne Fahrerassistenz immer Herr der Situation. Die beobachtbaren Verkehrskonflikte und Unfalle stiitzen letzteres allerdings nur bedingt. Dieser Beitrag geht beiden Annahmen nacho Es werden zunachst die zentralen Begriffe der Fahrerassistenz und Situation naher erlautert und anschlieBend einige Aspekte einer bevormundungsfreien Assistenz vorgestellt. Schwerpunkt der Uberlegungen bilden hier die aus der konkreten Interaktion des Fahrers mit dem Assistenzsystem ableitbaren Aspekte.
Daraus lassen sich einige Antworten oder Regeln ableiten, an denen sich heute im Einsatz befindliche Systeme messen lassen. Es zeigt sich dabei unter anderem, dass in der Ergonomie und Verkehrspsychologie verwendete Konstrukte wie Situationsbewusstsein und Beanspruchung zwar fUr die Evaluierung eines Systems brauchbar sind, fUr die Spezifikations- bzw. Entwicklungsphase aber ausreichend konkrete Aussagen und geeignete Methoden fehlen.
2.2 Formen der Fahrerassistenz
Der Begriff der Fahrerassistenz wurde gepragt durch das EUREKAForschungsprojekt PROMETHEUS [1]. Er bezeichnet dort Fahrzeugsysteme, die den Fahrer auf der Manover- bzw. BahnfUhrungsebene unterstiitzen. Exponierte Vertreter waren AICC (Autonomous Intelligent Cruise Control) - heute als ACC (Active Cruise Control) (bei BMW) oder Distronic (bei DaimlerChrysler) im Serien-Einsatz - aber auch QuerfUhrungssysteme wie Heading Control (HC). Vorher hatte es schon andere unterstiitzende Systeme gegeben, die aber noch nieht mit dem Begriff der Assistenz belegt waren, wie Servo-Systeme (Kraftverstarker), Geschwindigkeitsregler (Cruise Control), Stabilisierungssysteme wie z.B. ABS, ASC (Anti-Skid-Control) oder DSC (Dynamic-Stability-Control) oder ZielfUhrungssysteme. Abbildung 2.1 zeigt die Zuordnung dieser Systeme zu den drei groBen Teilaufgaben des Autofahrers.
32 2 Fahrer-Assistenz versus Fahrer-Bevorrnundung
"...----- .......
I 1 II DMRG I I RDS-TMC I I I I II BMw-Navigationssystemll
I~~~~~~~~~ I I I I I '-Abkiirzungen: DMRG: Dual Mode Route Guidance RDS-TMC: Radio Data System - Tnffic Message Channel ACC:Active Cruise Control CC: Cruise Control HC: Heading Control !': !,·Split·Control
DBC: Dynamic Bnke Control EDC: Electronic Damping Control DSC: Dynamic Stability Control ASC:Anti Skid Control ABS:Anti Blocking System
Abb. 2.1 Zuordnung heute verfiigbarer Fahrer-Untersrutzungssysteme zu den 3 Ebenen der Fahraufgabe.
Kern der Diskussionen und Befiirchtungen bildet heute der "automatisch" agierende (d.h. lenkende, beschleunigende oder verzogernde) Assistent. Automatisch wird dabei assoziiert mit selbsttiitig, aber auch unzureichend, undurchschaubar oder gar unzuverliissig. "Technology driven" statt "human centred automation" lautet das plakative Urteil.
Vor diesem Hintergrund wurden in MOnV, dem nationalen Nachfolgeprogramm von PROMETHEUS, unter der Uberschrift Fahrerassistenzstrategien umfangreiche Untersuchungen zur Systemauslegung, zum System- und Situationsverstandnis - auch in Grenzsituationen - durchgefiihrt [5,7].
Dabei wird sehr deutlich, dass Assistenz sehr eng an eine genaue V orstellung von Situation gekoppelt ist. Assistenz als "jemand in dessen Sinn an die Hand gehen" ist somit mehr als die Automatisierung einer Aufgabe, sie erfordert eine Ubernahme von Tatigkeiten unter Beriicksichtigung der Intentionen und Gepflogenheiten des Assistierten, also des Fahrers. Diese Aspekte sind allerdings nur bedingt unabhangige Parameter, an die ein Assistenzsystem anpassbar ware [4], sie sind auch konstituierende Merkmale der Situation.
Mittlerweile wird der Begriff der Fahrerassistenz we iter gefasst und umfasst auch Informations- und Warnsysteme (Abb.2.2). Ein Navigationssystem z.B. assistiert dem Fahrer mit situationsgerechten Empfehlungen zur Wahl der Strecke, iiberlasst aber die Ausfiihrung ganz dem Fahrer.
2.3 Situationen - mehr ais nur Datensatze 33
Fahren Verkehrs~ II II I heute info
Wamsystem ~I II I Fahrer
Assistenz- Navigation ~I I system
Heading ContrOl.ACC ~ Autopilot I Automatisches Fahren ~
Abb. 2.2 Assistenzformen bezogen aufUnterstiitzungsaspekte bei der Aufgabenausfiihrung
2.3 Situationen - mehr als nur Datensatze
Als Autofahrer assoziiert man mit Verkehrssituationen unreflektiert mehr oder weniger gut bewaltigte, kritische Situationen, die personlich erIebt wurden. Das plotzlich auftauchende Fahrzeug beim Uberholmanover, der tibersehene Radfahrer beim Abbiegen an einer Kreuzung, die untibersichtliche Kreuzung mit Rechts-vorIinks-Vorfahrtsregelung oder eine Fahrt urn den Jahreswechsel bei Temperaturen urn den Gefrierpunkt. Eine genauere Beschreibung liefert dann Angaben tiber Ortsiage, StraJ3entyp, -verhiiltnisse, andere Verkehrsteilnehmer und ihr Verhalten - alles Daten, tiber die ein gutes Bildverarbeitungssystem prinzipiell auch verfiigen konnte. Und die Forderung nach dem Kollisionsverhinderer ist der Schlusspunkt in einer derart angelegten Situationsanalyse. Als Ergebnis dieser Situationsanalyse wird in [8] die Aufgabe eines Assistenzsystems beschrieben:
,,Durchfiihren der als notwendig erkannten Manover mit oder ohne Einbeziehung des Fahrers"
In der zitierten Untersuchung wird beispielsweise geschlussfolgert, dass sich 70% aller Auffahrunfalle vermeiden lassen, wenn die Reaktionszeit des Fahrers urn 0,5s verringert ware. Ubersehen wird dabei, dass ein Fahrer, der sich in einer Verkehrssituation befindet, nur ausnahmsweise ein passives Element dieser Situation darstellt, dass er vielmehr durch sein Handeln oder Nichthandeln eine Verkehrssituation aktiv erzeugt, beeinflusst oder beendet. Bisherige Versuche, eine Situation zu beschreiben, sind in dieser Hinsicht unzureichend. Die umfangreichen Arbeiten, die von einem straJ3enseitigen Klassifikationsschema ausgehen [2],
34 2 Fahrer-Assistenz versus Fahrer-Bevormundung
beschranken sich auf eine Anforderungsanalyse. Daraus resultieren Beanspruchungsprofile, die sich auch experimentell belegen lassen. Und das Aufstellen von Ampelanlagen oder die Einflihrung von Zielflihrungssystemen kann mit diesem Situationsbegriff auch sicherheitsrelevante Erfolge vorweisen.
In [6] wird ein Akteur mit einem Plan als konstitutives Element einer Fahrsituation eingefiihrt. Dieser Plan oder die Absieht eines Fahrers ist aber normalerweise nur auf einer sehr hohen Abstraktionsebene verfUgbar, die fUr die Beschreibung von Aktionen auf der Manoverebene nicht ausreicht. Oberdies verandem Fahrerfahrung, Fahrstile, Zeitdruck, Ablenkung, Fahrerzustand die mehr oder weniger aktive Rolle eines Fahrers bei der Gestaltung oder Bewaltigung von Anforderungen im StraBenverkehr. Damit miissten also deutlich subjektivere Komponenten in eine Situationsbeschreibung eingefiihrt werden. Explizites Wissen hieriiber ist beim Fahrer normalerweise kaum vorhanden. Das zeigen zum Beispiel die umfangreichen Untersuchungen in [7], in denen versucht wurde, herauszuarbeiten, welche Parameter einer Situation den Fahrereingriff (Obemahme durch den Fahrer) bei einer Annaherung an ein langsamer vorausfahrendes Fahrzeug bestimmen - eine an und fUr sich fast triviale Situation mit dem Zeitpunkt des Bremseingriff als einzig offenem Parameter. Das Ergebnis, nach dem der yom Fahrer pradizierte, minimal erreichte Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug bei automatischer Bremsung seine Obemahmeaktion triggert, ist sehr plausibel, lasst aber keine Folgerungen zu fUr Folgefahrten in Kurven oder fUr das Annahem vor dem Oberholen.
Auf Basis dieser (prinzipiell) unvollstandigen Situationsbeschreibung sind Diskrepanzen zwischen erwartetem und realem Verhalten von Assistenzsystemen unvermeidlich, vor allem wenn Erwartungen geweckt werden wie: ,,Ein ACC kann die Aufgabe des Abstandhaltens auf der Autobahn ubernehmen". ACC-Systeme verfligen iiber eine Vielzahl von Regeln, an denen sich ihr Verhalten orientiert. Nur ein Teil dieser Regeln ist dem Fahrerverhalten nachgebildet, ein anderer Teil ergibt sich aus technischen Randbedingungen, ein dritter Teil schlieBlich muss gesetzlichen Vorschriften oder Produkthaftungsaspekten Rechnung tragen.
Unberiicksichtigt bleibt bei dieser Betrachtung, dass nicht nur die Absicht des Fahrers im Fahrzeug mit Assistenzsystem eine sehr begrenzt bekannte GroBe darstellt, auch das Verhalten und die Absichten der anderen Verkehrsteilnehmer sind fUr Fahrer und Assistenten nur in soweit verfUgbar, als ein Verhalten nach den Regeln der StraBenverkehrsordnung unterstellt werden kann oder muss (ansonsten ware jede Begegnung mit einem anderen Fahrzeug auf der LandstraBe ein todliehes Risiko)
Die Gratwanderung bei der Aufgabendelegation verlauft also nieht primar zwischen Potenz und Kompetenz, sondem auch zwischen Transparenz und Kompetenz. Da ein erheblicher Teil der an Assistenzsysteme delegierbaren Aufgaben yom geiibten Fahrer unbewusst bzw. teilbewusst ausgefUhrt wird, darf die Hinzunahme eines Assistenten nicht zu einer Verlagerung dieser Aktivitaten auf die bewusste Ebene fUhren. Der ansonsten erlebte Kontrollaufwand fUhrt dann zu keiner Beanspruchungsreduktion, sondem allenfalls zu einer Verschiebung, die nicht unbedingt positiv erlebt wird.
2.4 Komplemation statt Automation? 35
In der Literatur eXlstJeren kaum Arbeiten, die sich mit dem Komfort/Diskomfort von solchen zeitlich schnell veranderlichen Belastungsprofilen auseinandersetzen. 1st es gegenuber einer kontinuierlichen Geschwindigkeits- und Abstandsregelung fUr den Fahrer eine Entlastung, wenn er fur 3 Minuten den FuB vom Gas nehmen kann und dann per Tastendruck seinen Geschwindigkeitsregler ausschaltet? Oder wie genau kennt ein Fahrer intuitiv das Verhalten seines Fahrzeugs, z.B. fUr die Entscheidung uber einen Uberholvorgang, und worin unterscheidet sich eine solche Kenntnis von der uber das Verhalten seines Abstandsreglers oder ABS-Systems?
2.4 Komplemation statt Automation?
In [9] werden fUr die Unterstiitzungsfunktionen im Flugzeug unter dem Schlagwort complemation wenige ,,Human-centered design guidelines" fUr zukunftige Cockpitgestaltung auf Grundlage von Erfahrungen mit Piloten zusammengefasst:
• "The human operator should have final authority over all dynamic function and task allocation"
• ,,Different strategies should be supported for meeting mission objectives" • "The design should facilitate the development by the human operator of con
ceptual models of the .. system functions that are both useful and consistent with reality"
Der Begriff der complemation bzw. in deutscher Analogie der "Komplemation" wird als ein Kunstwort eingefUhrt, das auf Erganzung start auf Ersatz des Piloten zie1t. Verknupfung der Starken von Mensch und Technik setzt aber voraus, dass daraus ein stimmiges Ganzes wird und auch alle Aufgabenbereiche adaquat abzudecken sind.
Auch wenn man die allgemeinen Regeln und den darin enthaltenen Aspekt des Aufgaben-Managements als Aufgabe des Fahrers oder Piloten als richtig und wichtig akzeptiert, kann die andere Forderung nach Synergie von Fahrer und Assistenz im Automobil in absehbarer Zeit nur sehr bedingt umgesetzt werden: dort, wo der Fahrer stark beansprucht wird, etwa bei nachtlicher Fahrt im Regen, sind Assistenzsysteme kaum in der Lage, den Fahrer zu ersetzen. Fur die Fahrt im Cabrio auf einer einsamen BergstraBe bei Sonnenschein besteht dagegen seitens des Fahrers kein Bedarf an Assistenz. Es bleiben nur die Teilaufgaben, die fUr den Fahrer einerseits einfach bewaltigbar sind, andererseits aber in ihrer Dauer und Abfolge nicht vorhersehbar sind. Was ist ein Assistent wert, der eine Aufgabe nur in 90% der moglichen Situationen ubemehmen kann? 1st es fUr den Fahrer zumutbar oder gar komfortabel, den Assistenten statt den Abstand zum V ordermann zu "kontrollieren"? 1st dabei, wie oben erwahnt, Transparenz wichtiger als Kompetenz? Wie steht es urn die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Fahigkeiten und Grenzen eines Assistenten (Last oder Lust)?
36 2 Fahrer-Assistenz versus Fahrer-Bevorrnundung
2.5 Antworten zur Rollenverteilung Fahrer-Fahrerassistenz
Unabhiingig von der mehr auf die Funktion eines Assistenten ausgerichteten Diskussion zur Rollenverteilung zwischen Fahrer und Assistent in den vorausgegangenen Abschnitten muss aus juristischer Perspektive eine Maxime unangetastet bleiben:
Der Fahrer bleibt in der Verantwortung und es ist seine Pflicht, Herr der Situation zu sein.
Dies erfordert naturlich, dass der Fahrer hierzu die Kompetenz hat. Deshalb muss ein Fahrer ein Assistenzsystem ubersteuern konnen. Die aus ergonomischer Sicht hier genauer betrachteten Antwortaspekte zielen auf:
1. Standardisierung von Assistenzfunktionen Auch wenn eine Standardisierung kaum im Markt verfUgbarer und noch voll in der Weiterentwicklung befindlicher Systeme aus Entwicklersicht ein zwiespiiltiges Unterfangen darstellt, wurde doch aufISO-Ebene ein erster NormentwurffUr ACC [3] verabschiedet. Er legt Mindestanforderungen an ein ACC fest, liisst aber bewusst Spielraum etwa fUr den Funktionsbereich eines Systems (Geschwindigkeitsbereiche, StraBentypen). Die niichsten Jahre mussen zeigen, ob auch eine begriffliche Differenzierung der diskutierten Systemklassen erforderlich ist, oder ob es ganz selbstverstiindlich fUr einen Fahrer wird, dass es ACC mit oder ohne Bremseingriff gibt.
2. Klare und begrifJlich saubere Kommunikation in den Medien (Assistenz ist kein potenzsteigerndes Mittel)
Wiihrend sich bei ABS bis heute die Vorstellung yom verkurzten Bremsweg als Irrglaube hiilt, muss sowohl in der Werbung als auch im Verkaufsraum die assistierende Funktion im Mittelpunkt der Kommunikation stehen. Assistenten erweitern per Definition nicht den Kompetenzbereich ihres Chefs, sondern erleichtern die AusfUhrung von Aufgaben, die ohnehin anstehen. Deshalb ist es sehr wichtig, den Komfortaspekt im Zusammenhang mit Assistenzsystemen herauszuarbeiten.
3. Gezielte Kompetenzdelegation mit individuellem Zuschnitt (Kompetenzerwerb) Delegation von Aufgaben an einen Assistenten erfordert zweierlei: Die Fiihigkeiten eines Assistenten mussen der zu delegierenden Aufgabe angemessen sein und die zufriedenstellende AusfUhrung der Aufgabe ist zumindest anfangs zu kontrollieren. Diesen Prozess fahrerseitig in Gang zu setzen ist eine groBe Chance bei der EinfUhrung von Assistenzsystemen. Es geht dann nicht mehr urn eine abstrakte Kommunikation von Systemgrenzen, sondern der Fahrer ist gefordert zu priifen, ob ein Assistent bestimmte Teilaufgaben in seinem Sinn gut erledigt. Und diese Antwort kann fUr verschiedene Fahrer und Situationen unterschiedlich ausfallen. Fur den einen Fahrer ist dann ein ACC-System passend, das keinen Bremseingriff vornimmt, sondern nur im Bereich des Schleppmoments verzogert, ein anderer Fahrer setzt ein Abstandsregelsystem nur bei Fahrzeuggeschwindigkeiten unterhalb 130kmlh ein. Ein dritter Fahrer will bei allen Operationen seines Assistenten
Literatur 37
eine Riickmeldung iiber Art und Starke eines Eingriffs z.B. mittels aktivem Gaspedal. In jedem Fall fiihrt eine so stattfindende Auseinandersetzung mit einer Assistenz zur Erfahrungsbildung, einer Grundvoraussetzung fiir den Erhalt der Fahrerkompetenz auch bei Systemfehlem.
2.6 Fragen an die Forschung
Fiir die Entwickiung weiterer Assistenzsysteme ergeben sich aus den Aust'iihrungen auch eine Reihe wichtiger Fragen an die Forschung:
1. Situationsbewusstsein bei tei/weiser Delegation: Wie veriindert sich das Situationsbewusstsein, wenn die Abstandsregelung oder die Wegfindung delegiert werden? Reicht es aus, wenn allein Lenken als kontinuierliche Regelaufgabe erhalten bleibt?
2. Andere Fahrweise mit Assistenz Macht Assistenz abhiingig? Erfahrungen mit Einparkhilfen zeigen, wie schnell Assistenz selbstverstiindlich wird. Andererseits vermeidet ein Assistent mangels Kompetenz manche Situationen. Sieht die Gesamtbilanz fiir Beanspruchung und Verkehrssicherheit positiv aus?
3. Neues Aufgaben-Management Kann der Wegfall von Teilaufgaben genutzt werden fiir bisher schwierig oder nicht zu erledigende Tiitigkeiten wahrend einer Autofahrt? Hierzu zahlen neben Kommunikationstiitigkeiten auch Aufgaben mit Fahrtbezug wie Routenplanung oder Terminmanagement.
Die Liste dieser Fragen verdeutlicht die Herausforderungen an eine am Fahrer orientierten Entwicklung zukiinftiger Assistenzsysteme, eine Herausforderung auch und gerade an die interdiszipliniire Zusammenarbeit in der Forschung.
Literatur
[1] Braess, H.-H.; Reichart, G. (1995). PROMETHEUS - Vision des intelligenten Automobi1s auf intelligenter StraBe, ATZ 97, Heft 4+6
[2] Fastenmeier, W. (1995). Autofahrer und Verkehrssituation, Ko1n: Verlag TOV Rheinland
[3] ISO 15622 DIS (2000). Road vehicles - Adaptive Cruise Control- Performance requirements and test procedures, Stand Juni 2000
[4] Konig, W. (2000). SANTOS: SituationsangepaBte und Nutzer-Typ-zentrierte Optimierung von Systemen zur Fahrerunterstiitzung. GfA Herbstkonfernez, Miinchen
[5] Kopf, M. (2000). Fahrerassistenzstrategien, MOTIV-Broschiire, (www.motiv.de) [6] Nagel, H.-H. (1989). Zur Erkennung von Situationen durch Auswertung von Bildfol
gen, FhG-Berichte 1-89, 25-33 [7] Nirschl, G.; Kopf, M. (1997). Untersuchung des Zusammenwirkens zwischen dem
Fahrer und einem ACC-System in Grenzsituationen, VDI-Berichte, Nr. 1317, 119-148
38 2 Fahrer-Assistenz versus Fahrer-Bevonnundung
[8] Panik, F.: Automobiltechnik als Korrektiv menschlichen Unvennogens? FhG-Berichte 4-87,25-29
[9] Schutte, P.C. (2000). Better machines - or better humans?, Flight Deck International, July, 28-33
3 Wie intelligent dart/muss ein Auto sein? Anmerkungen aus ingenieurpsychologischer Sicht
AlfZimmer
3.1 Von der direkten Lenkung zur assistierten Regelung
Schon der erste Werbeprospekt fur Automobile aus dem Jahr 1888 spricht die Bewertungsdimensionen fur Kraftfahrzeuge an, die auch heute noch von zentraler Bedeutung sind: Zuveriiissigkeit ("immer sogleich betriebsfahig"), Komfort ("bequem") und Sicherheit ("absolut gefahrlos"), zusatzlich werden als werbliche Argumente Wirtschaftlichkeit ("Sehr geringe Betriebskosten. Vollstandiger Ersatz fur
Abb. 3.1 Erste Werbung fUr den "Patent-Motorwagen" von Benz & Co., 1888
40 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?
Wagen mit Pferden. Erspart den Kutscher, die teure Ausstattung, Wartung und Unterhaltung der Pferde. ") und leichte Bedienbarkeit ("Lenken, Halten und Bremsen leichter und sicherer als bei gewohnlichen Fahrzeugen. Keine besondere Bedienung notig") angefiihrt.
Assistenzssteme Zusatzdienste Fuhler fur Fahrzeugzustand Technisch AS Telefon Geschwindigkeit
vermittelte NaVi~ation Internet Fahrstand A C Verbrauch
Information HC ver.f1,bare Antriebsenergie RDS/TMC 01 ruck u. -temperatur
Verkehrsinformation Batterieladung
'---v----" '---v----" Kuhlerflussigkeit ~
Statusangabe Diagnose Statusangabe Assistenz durch (z.B. Anderung des System diagnose
Funktion haptische, akustische, Fahrzieles I -zweckes) Warnung visuelle Information, Unterhaltung Warnung fur Obergabe
\.. V"
/
Vorgabemodalitiit Prasentation Displaytechnologie
scii.ndig I situationsabhangig auditorisch ~~ analo~~ Zeiter I zahler prioricii.tsgesteuert taktil Warnampc en integriert zu Anweisungen -+ analog quali~tiv. ~ akustische Signale
symbolisch quantltatlv LEDs I LCDs ~rachausrrbe
ruck IVi ration
Signalcharakteristiken Psych. Prozesse
Intensicii.t Entdeckung Farbe Unterscheidung Kontrast GroBe Wiedererkennen Rauschabstand Interpretieren Ziffern Reagieren Texte Handeln Icons I Zeichen
Abb. 3.2 Der Verarbeitungsgang technisch vermittelter Information im Fahrzeug
Die angefiihrten relativen Vorteile von Automobilen gegeniiber Pferdefuhrwerken entsprechen auch heute noch zum groBen Teil dem, was yom Kaufer praferierte Fahrzeugtypen von nicht praferierten unterscheidet, wenn man von der "Fun"Komponente (mittels Sportlichkeit des Fahrzeugs etc.) absieht.
Betrachtet man das in der Werbung von 1888 gezeigte Fahrzeug (Abb. 3.1) genauer, dann wird deutlich, dass die angesprochene sichere Bedienbarkeit dort u.a. darauf beruht, dass die Funktionalitat aller Komponenten unmittelbar transparent ist, der Kraftfahrer damit zu jeder Zeit das Fahrzeug zumindest prinzipiell unter Kontrolle haben kann, und zwar aufgrund des sichtbaren Funktionierens und Interagierens der Einzelkomponenten.
3.1 Von der direkten Lenkung zur assistierten Regelung 41
Vergleicht man diese Systemtransparenz mit der Situation in modemen Fahrzeugen, dann sieht man, dass die zweifellos weiterhin gestiegene Zuverlassigkeit der Einzelkomponenten und der Sicherheit des Gesamtsystems dem Autofahrer heute nicht mehr direkt, sondem nur noch durch Instrumente (wenn iiberhaupt, wie z.B. bei automatisierten Komponenten) vermittelt wird (Abb.3.2). Damit verandert sich die Aufgabe des Kraftfahrers von der direkten (analogen) Regelung zunehmend in Richtung auf Kontrolle durch Uberwachung (supervisory control, Sheridan, 1992) bzw. assistierter Kontrolle.
Aus ingenieurpsychologischer Sicht ergibt sich damit das Problem, genau abzuklaren, welche Funktionen weiterhin direkt kontrolliert werden, welche wie assistiert werden und welche soweit automatisiert werden sollen, dass lediglich im Fehlfunktionsfall der Systemzustand durch Wamsignale angezeigt wird. Klassische MABA-MABA-Listen (machines !!re 12etter !!t - men !!re 12etter !!t, z.B. Lane, 1975) liefem zu dieser Problematik vergleichsweise wenig, weil immer mehr die Kraftfahrzeugergonomie als Systemergonomie im System "Gesamtverkehr" gesehen werden muss, so dass Aufgaben, aber auch Assistenzmoglichkeiten auftreten, die in der "klassischen" ergonomischen Literatur bislang kaum genannt werden, weil sich diese zum groBen Teil auf einze1n betrachtete psychophysische Funktionen und aufpsychologische Basisprozesse beschrankt haben. Einen vielleicht adaquateren Ansatz bietet Norman (1999), der die Eigenschaften von Menschen und technischen Systemen jeweils aus den entsprechenden Perspektiven auflistet (Tabellen 3.l und 3.2).
Diese Betrachtungsweisen sind komplementar, d.h. bei jeder einzelnen Systembewertung muss entschieden werden, welche Sicht angewandt bzw. wie zwischen diesen Sichtweisen abgewogen werden sollte.
Tabelle 3.1 Die technologiezentrierte Sicht
Mensch
ungenau
unsystematisch
ablenkbar
gefiihlsbestimmt
Maschine
prazise
systematisch
nicht ablenkbar
rational
Tabelle 3.2 Die menschzentrierte Sicht
Mensch
kreativ
flexibel
situationsadaptiv
einfallsreich
Maschine
standardisiert
rigide
nicht adaptiv
simplizistisch
42 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?
Die haufig beklagte Kommunikationsliicke zwischen Vertretem der technikorientierten und der menschzentrierten Sicht entsteht, wenn man die Tabellen 3.1 und 3.2 jeweils als Bestimmung der Vor- und Nachteile sieht und nicht als Komplementaritaten, die zeigen, wo der Mensch autonom handeln sollte, wo er durch Systeme assistiert werden kann, bzw. wo das System autonom, d.h. unsichtbar, agieren kann und lediglich dem Nutzer das aktuelle Systembild vermittelt wird.
Mit der Fortentwicklung der Dateniibertragung (speziell: drahtlose Kommunikation, aber auch z.B. schnellere und weniger storanflillige Dbertragung im Fahrzeug z.B. mittels Glasfaser) und der Miniaturisierung von Hochleistungscomputem ist auch im StraBenverkehr der Zugang zu praktisch allen modemen Informationsmedien offen und damit der Weg zu einer systemergonomischen Optimierung. Wenn man zusatzlich die Moglichkeiten der genauen Positionsbestimmungen von Fahrzeugen mit GPS (global positioning system) hinzunimmt, kann auf Dauer das schon jetzt im Transportgewerbe angewandte Rechner- und satellitengestiitzte Flottenmanagement auf den gesamten StraBenverkehr verallgemeinert werden, urn eine moglichst effektive Nutzung des vorhandenen StraBennetzes zu ermoglichen. Das US-Department of Transportation schatzt (1999), dass allein durch die flachendeckende Einfiihrung von intelligenten Transportsystemen (ITS) bis zum Jahr 2011 die jahrlichen volkswirtschaftlichen Staukosten (120 Mrd. US $) urn 20% und die Anzahl von Verkehrstoten und -verletzten urn 10% gesenkt werden konnen.
Wahrend die genannten Technologien primar das allgemeine Verkehrsmanagement unterstiitzen, lassen Fortentwicklungen der Sensorik im Fahrzeug, z.B. eine Automatisierung oder Unterstiitzung des Fahrers im Abstandsverhalten (ACC, Automatic Cruise Control) und bei der Spurfiihrung (Heading Control) zu (s. Beitrag von Haller, Kap. 2). Gemeinsames Merkmal dieser Systeme ist ihr Assistenzcharakter, d.h. die aktive Unterstiitzung des Fahr- und Navigationsverhaltens ohne Kontrollverlust des Fahrers wie z.B. bei vollstandiger Automatisierung.
Die Hauptvoraussetzung rur eine erfolgreiche und flachendeckende Umsetzung solcher Systeme ist die Akzeptanz durch den Kraftfahrer, die nur dann langfristig gegeben sein wird, wenn diese Systeme gleichzeitig hOchst verlasslich und nutzerfreundlich sind. Die Zuverlassigkeit eines solchen Systems hangt aber nicht nur von der zur Zeit noch mangelnden Verlasslichkeit der aktuellen Verkehrsdaten ab, sondem auch von deren Umsetzung durch den Kraftfahrer. Nur solche Systeme konnen den Kraftfahrer bei dieser Umsetzung effektiv unterstiitzen, bei denen der Zuwachs an Fahrqualitat deutlich groBer ist als die Ablenkungswirkung durch dieses System, wie sie z.B. durch die Einspiegelung von Daten oder Symbolen in die Frontscheibe (Head-up displays) infolge von Interferenz eintreten kann. Damit ein solches iibergreifendes Verkehrsmanagement allgemein verhaltenswirksam wird, ist es notwendig, dass der Kraftfahrer durch die Verarbeitung der relevanten Informationen nicht iiberfordert wird, was z.B. dann der Fall ware, wenn ein herkommliches Navigationssystem eine bestimmte Route vorschlagt, wahrend per Autotelefon eine staubedingte Umleitungsempfehlung gegeben wird.
Neben der Integration der verschiedenen Informationsquellen in eindeutige handlungsorientierte Botschaften ist auch eine nutzerfreundliche Bedienbarkeit
3.1 Von der direkten Lenkung zur assistierten Regelung 43
solcher Systeme notwendig, die u.a. beim Autofahrer nicht voraussetzt, dass er jeweils weiB, auf welcher Systemebene sich sein Bordcomputer gerade befindet, da sich ansonsten die sog. Modusfehler 1 (Sellen et aI., 1992; Norman, 1990) einstellen. Wenn Displays oder Gerate mit mehrfachen Bedienebenen notwendig sind, dann miissen diese jeweils sofort eindeutig identifizierbar sein und moglichst bei der Bedienung jeweils die spezifische haptische Riickmeldung geben, weil diese erstens direkt und schnell zugeordnet werden kann und zweitens keine symbolische Umsetzung erfordert, wie z.B. gesprochene Sprache oder Text.
Neben der Notwendigkeit einer Optimierung der Informationsaufuahme und Bedienung sind aber auch die Konsequenzen einer derartigen Fahrerunterstiitzung fUr die Aufrechterhaltung der Fahrkompetenz in Betracht zu ziehen: Das Verlassen eines Gebietes mit Navigationsunterstiitzung, das Aussetzen der Abstandsregelung beim Abfahren von der Autobahn oder das Versagen der Spurfiihrung in Haamadelkurven darf nicht dazu flihren, dass ein bis dahin optimal unterstiitzter Autofahrer plotzlich und unerwartet wieder die volle und direkte Kontrolle iiber sein Fahrzeug iibemehmen muss und damit iiberfordert wird. Die allgemeine Akzeptanz wird nur zu erreichen sein, wenn zum einen diese Ubemahmesituationen gleitend gestaltet, d.h. rechtzeitig vorher angekiindigt und auf die Kompetenz des Fahrers abgestellt werden, und wenn andererseits der Fahrer stets den Eindruck einer vollstandigen und verantwortlichen Kontrolle auch wahrend der Assistenz behalt. Insgesamt bieten also die Assistenzsysteme ein groBes Potential flir eine Effektivierung und Sicherheitserhohung im StraBenverkehr, dies setzt jedoch eine sehr gezielt nutzerorientierte Entwicklung voraus.
Wichtigstes Endkriterium flir die Optimierung des StraBenverkehrs durch Telematik und "Intelligenz" im Fahrzeug ist die Unfallvermeidung, dieses Kriterium ist jedoch flir die Evaluation von· Systemen kaum anwendbar, weil Unfalle poissonverteilte seltene Ereignisse sind, die in der Regel nicht durch eine klar zuzuordnende Ursache determiniert sind. Dazu kommt die schlechte Dokumentationslage bei Verkehrsunfallen, die auch durch aktuarische Analysen wie von WierwilIe u. Tijerina (1995) oder Lulay (1998) nicht hinreichend iiberwunden wird. Wenn man iiberhaupt flir die nutzerorientierte Gestaltung von Assistenzsystemen Konsequenzen aus Unfalldaten ziehen will, dann bietet es sich an, Flugunfalle zu analysieren, die wegen der mitlaufenden Registrierung (Flugschreiber und voice box) und der anschlieBenden Untersuchung einschlieBlich der Befragung der Unfallbeteiligten sehr gut dokumentiert sind.
Ein Modusfehler liegt z.B. vor, wenn ein Pilot meint, das flight management system befande sich im Modus descent, wenn es sich in Wirklichkeit im Modus level flight befindet. Die aus diesem Fehler resultierende gefahrdende Aktion besteht dann z.B. in der Eingabe '-3', was nicht wie vom Piloten intendiert als 3° Sinkwinkel, sondem als Veriinderung der Reiseflughohe urn -3000ft umgesetzt wird.
44 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?
3.2 Informationsverarbeitung und Fehlhandlungen
Bei der herkommlichen Art der Analyse von Unfallen ist es naheliegend, unmittelbar nach einem markanten, aber punktuellen Fehler im Mensch-MaschineUmwelt-System zu suchen (Fehlfunktion eines technischen Systems oder Fehlverhalten eines Operateurs, Fahrers, Piloten); hiiufig reicht dies fur eine rechtliche oder versicherungstechnische Abwicklung auch aus. Will man jedoch Unfalle durch Priivention verhindem, dann reicht diese punktuelle Betrachtung nicht aus. Auf der Grundlage von 1970 Flugunfallen von US Air Force und Marinecorps haben Wiegmann u. Shappell (1997) untersucht, inwieweit F ehlerkategorisierungssysteme geeignet sind, Unfallursachen zu identifizieren und hinsichtlich deren Schwere zu differenzieren. Die von ihnen verwandten Fehlerkategorisierungssysteme ergiinzen sich insofem, als ihnen das Informationsverarbeitungsmodell von Wickens (1992) (Abb. 3.3) zugrunde liegt: es stellt eine allgemeine Architektur von kognitiven Funktionen dar, auf der jede Form von Handlung - und damit auch fehlerhafte - basiert.
Reize Signal
Detektion Muster
erkennung ReaktionsausfUhrung
Eingriff
Ruckkopplung
Abb. 3.3 Vier-Stufen-Modell der Infonnationsverarbeitung nach Wickens (1988)
Einen altemativen Ansatz hat Rasmussen schon 1982 vorgeschlagen; dieses Modell des Handlungsablaufs bei Fehlern haben Wiegmann u. Shappell (1997) fUr die Untersuchung auf die FlugzeugfUhrung adaptiert. Das Modell des Handlungsablaufs bei Fehlern ist in diesem Beitrag fUr die FahrzeugfUhrung fortentwickelt worden (Abb. 3.4). Es zielt auf die Identifikation des Schrittes zwischen Informationsaufnahme und Handlungsausfiihrung, der fUr einen Unfall ursiichlich ist -wobei von einem rein sequentiellen Verlauf und entsprechender kausaler Verkniipfung ausgegangen wird.
3.2 Informationsverarbeitung und Fehlhandlungen 45
Konnte der Fahrer liberhaupt ~ eingreifen?
.. ja
Hat der Fahrer liberhaupt ~ Warnsignale wahrgenommen?
.. ja
Hat der Fahrer die Fehlfunktion ~ aufgrund der verfligbaren Infor-
mation korrekt diagnostiziert?
t ja
Hat der Fahrer eine ~ Situationsadaquate Intention
gebildet? . __ .. __ .. _-_ .. __ ... __ ... __ .. _-- .. ja .. _ ... __ ... _ ... __ .. __ .. _ ... __ .. __ ... _.
Hat der Fahrer eine ~ Vorgehensweise gewahlt. die mit
seiner Intention libereinstimmt?
t ja
Hat der Fahrer diese ~ Vorgehensweise korrekt in
Handlung libersetzt?
.. ja
Wurde die Bedienung wie inten-~ diert ausgefUhrt?
Mechanischer oder struktureller Fehler
Informationsfehler
Diagnosefehler
Zielsetzungsfehler
Fehler in Auswahl d. Vorgehensweise
Handlungsfehler
Bedienungsfehler
Abb. 3.4 Das Modell der intemalen Fehlfunktion adaptiert fUr die Fahrzeugftihrung nach Rasmussen (1982).
Ais dritter Ansatz wurde Reasons Modell (1990) (Abb. 3.5) der sicherheitsbeeintrachtigenden Verhaltensweisen gewahlt, hier wird zum einen nach der Rolle der Aufmerksamkeit (intendiert vs. nicht intendiert) und nach der Handlungsmotivation (prinzipiell sicherheitsorientiert vs. prinzipiell effektivitatsorientiert) unterschieden.
Man konnte das Informationsverarbeitungsmodell (Abb. 3.3) als die allgemeine Landkarte, das Rasmussen-Modell (Abb. 3.4) als die Liste von Wegabweichungen und das Reason-Modell (Abb. 3.5) als die Prozessmodellierung bei fehlerhafter Richtungskontrolle bezeichnen, dementsprechend erganzen sich die darauf basierenden Fehleranalysen von Wiegmann u. Shappell (1997). Bei der Unfallursachenklassifikation nach Informationsverarbeitung fUhren Fehler bei der Signaldetektion und den AuJmerksamkeitsprozessen signifikant haufiger zu besonders gravierenden Unfallen. Die darauf aufbauende Analyse nach der Informationsaufnahme und HandlungsausfUhrung zeigt, dass speziell die Detektion von Warnsignalen fUr Systemzustande und die dem zugrunde liegende Jehlerhafle Zielbildung zwischen schweren Unfallen einerseits und leichtenlmittleren andererseits diskri-
46 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?
miniert. 1m Modell der sicherheitsbeeintrachtigenden Verhaltensweisen wird die besondere Bedeutung von bewussten VerstofJen deutlich, die durch eine falsch verstandene Effektivitatsorientierung herbeigefUhrt worden sind.
I nicht intendierte Verhaltensweisen
gefahrdende Verhaltensweisen
I intendierte
--- ------ --- --- --- ---- --- ____ ~~~9l~!li:.~~ ____
I
Grundlegende Fehlertypen
Aufmerksam-keitsfehler
Informations-verarbeitungs-
fehler
Zielsetzungs-fehler
------------------------------------------
sicherheitsorientiert - --- ---eirekti~itiits;;;i e-;;-ti e~t ---
VerstoBe
Abb. 3.5 Modell def gefahrdenden Verhaltensweisen nach Reason (1990)
Bei aller notwendigen Vorsicht hinsichtlich der Ubertragbarkeit von Flugunfalldaten aufVerkehrsunfalldaten geben diese Ergebnisse dennoch Hinweise dafUr, an welchen Stellen im besonderen MaBe Assistenzbedarf gegeben ist:
1. Bei der Verbesserung der Informativitat von Signalen iiber Systemzustande, 2. beim Management der Aufmerksarnkeitsverteilung und 3. bei der Verhinderung von VerstoBen aufgrund von Effektivitats- oder Bequem
lichkeitsbediirfnissen.
Auf der Grundlage dieses Assistenzbedarfs und den Ergebnissen in Zimmer et al. (1999) lassen sich die fUr Cockpitgestaltung entwickelten Richtlinien von Wiener u. Curry (1980) zu den folgenden allgemeinen Gestaltungsgrundsatzen fUr Assistenzsysteme (Tabelle 3.3) fortentwickeln.
Folgt man diesen Richtlinien, dann ergeben sich nicht nur fUr die Gestaltung von Fahrzeugen Konsequenzen, sondem auch fUr die Gestaltung von Ausbildung und Verkehrsinfrastruktur. Bei lediglich punktuell optimierenden Losungsansatzen besteht dagegen die Gefahr, dass ein illusionarer Sicherheits- oder Assistenzgewinn wahrgenommen und entsprechend adaptiert wird. Aus diesem Grunde sind Systemlosungen anzustreben, die gegeniiber Risikoadaptation resistenter sind.
3.3 Konsequenzen fiir die Gestaltung von Assistenzsystemen 47
TabeUe 3.3 Vergleich der Erwartungen von Entwicklern neuer Automatisierungstechniken mit Problemen, die in der Praxis auftreten.
Displays sollen gut sichtbar, interpretierbar und handlungsbezogen sein.
2 Die Form der Assistenz soli durch den Fahrer bestimmt werden; d.h. unterschiedliche Fahrstile sollen zulassig sein, aber die Assistenz soli fUr aile funktioniereno
3 Belastungsspitzen sollen vermieden werden. Die Assistenz sollte fUr einen Ausgleich von Spitzen und Sen ken liber die Zeit sorgen; d.h. Uber- wie Unterforderung entgegenwirken.
4 Da ein technisches System nicht entscheiden kann, ob die momentanen situativen Anforderungen an den Fahrer zu hoch sind, mlissen diese darauf trainiert werden, solche Situation en zu erkennen und die Assistenz entsprechend einzustellen.
5 Die Arbeitsteilung zwischen Fahrer und System sollte derart sein, dass die Aufgaben des Fahrers sinnvolle Einheiten darstellen und ihn nicht nur einfach beschaftigen (wie z.B. bei der Bahn durch automatisierbare Vigilanz-Checks).
6 Die Falsch-Alarm-Rate muss niedrig gehalten werden.
7 Alarm-Signale mlissen diagnostisch fUr das sie auslosende Fehlverhalten des Systems sein.
8 Das System sollte in der Lage sein, Programmierungs- und Einstellungsfehler zu diagnostizieren und rlickzumelden.
9 Die Assistenzsysteme mlissen so integriert sein, dass der Fahrer schnelle Checks auf GUltigkeit von Diagnosen und Meldungen durchfUhren kann.
10 Die Form der Alarmsignale muss den Grad ihrer zeitlichen Dringlichkeit signalisieren.
3.3 Konsequenzen fur die Gestaltung von Assistenzsystemen
Woods et al. (1997) haben tabellarisch zusammengestellt, wie die von den technischen Gestaltem erwarteten Entlastungswirkungen infolge von Assistenz- und automatisierten Systemen von dem abweichen, was in konkreten Belastungssituationen infolge dieser Systeme wirksam wird (Tabelle 3.4).
Eine Automatisierung oder auch Assistenz Hisst sich am einfachsten fUr Situationen entwickeln, in denen sich das Fahrer-Fahrzeug-StraBe-System in einem voraussagbaren Zustand befindet. Weil in solchen Situationen der Kraftfahrer eher unterfordert ist, d.h. sich seine Aktivitat unterhalb des optimalen Niveaus befindet, fiihrt die zusatzliche Entlastung durch Assistenzsysteme zu einem weiteren Zuriickgehen der Aktivierung. Dieses daraus resultierende sehr niedrige Aktivitatsniveau wird besonders dann kritisch, wenn z.B. der Kraftfahrer plotzlich auf eine komplexe Verkehrssituation reagieren muss und dariiber hinaus gleichzeitig die bisherige Automatisierung bzw. Assistenz wegfallt: Hier wird ohne Dbergang von einer Unterforderungssituation mit dem entsprechenden niedrigen Aktivierungsni-
48 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?
veau zur Uberforderungssituation mit einem extrem hohen Aktivierungsniveau geschaltet.
Tabelle 3.4 Vergleich der Erwartungen von Entwicklem neuer Automatisierungstechniken mit Problemen, die in der Praxis auftreten
Erwarteter Nutzen
Reduziert die physischen Anforderungen der Arbeitstatigkeit (Entlastung der Ressourcen)
Reduziert die Aufmerksamkeitsanforderungen
Erfordert weniger Vorwissen
Arbeitet autonom
Integriert aile relevanten Informationen
Ermoglicht eine grundsatzliche Flexibilitat und damit eine bessere Anpassung an den Nutzer
Reduziert die Fehleranf<illigkeit des mensch lichen Operateurs
Probleme in der Praxis
Ersetzt physische Anforderungen durch neue kognitive Anforderungen haufig mit zeitkritischem Charakter(Verschiebung der Belastung. evtl. sogar VergroBerung)
Erfordert das aktive Nachvollziehen der Systemaktivitaten und die Integration mehrfacher Tatigkeiten und Veranderungen in der Systembedienung
Erfordert andere Formen des Wissens und der Bedienungsfertigkeiten
Erfordert eine enge Kopplung zwischen Menschen und Maschinen. ohne diese z.B. durch Systemtransparenz zu unterstiitzen
Erfordert neue und komplexere Formen Ruckmeldung. damit der Operateur erkennen kann. in welchem Kontext welches Signal informativ ist
Die Fulle von Eigenschaften. Optionen und Modalitaten fuhrt zu neuen. kognitiven Anforderungen. Fehlermoglichkeiten und Szenarien des Systemversagens
Entstehung neuer Formen von Fehlfunktionen aufgrund von Storungen in der MenschMaschine-Koordination (z.B. die Obernahmeproblematik)
Bezuglich des unmittelbaren Gefahrdungspotentials nicht ganz so extrem sind Situationen, die durch mangelnde Expertise bzw. Ausfall spezifischer situativer Information und einem Fehlen an technischer Assistenz auftreten. Dort muss auf Situationen, auf die ublicherweise nur durch direkte Musteranwendung reagiert werden kann, mit deduktiver oder sogar abduktiver Analyse und neuer Handlungsplanung reagiert werden; dies erfordert sehr viel mehr Zeit und gleichzeitig eine starke Fokussierung und damit das Ausblenden evtl. bedeutsamer anderer Information. Generalisiert man die Ergebnisse erinnerungsgesteuerten Entscheidens (recognition primed decision making, Klein, 1998) auf den Verkehr, dann muss man davon ausgehen, dass 80-90% aller Entscheidungssituationen aufgrund fester Aktionsmuster gel6st werden und dass auch in den meisten restlichen Entschei-
3.3 Konsequenzen fiir die Gestaltung von Assistenzsystemen 49
dungen keine vollstandige Analyse durchgefiihrt wird, sondern lediglich alternative Muster oder Szenarien aufgrund von vorher festgelegten Prioritaten gewertet werden.
Zusammen mit den Ergebnissen iiber die unterschiedlichen Formen der Informationsiibertragung in Abhangigkeit des Aktivierungsniveaus lassen diese Ergebnisse iiber das Entscheidungsverhalten die Regel- bzw. Musterebene des Kontrollverhaltens als besonders bedeutsam rur informationelle Assistenzsysteme erscheinen. Die hier vergleichsweise effektive Informationsiibertragung, verbunden mit situativer Flexibilitat und effektivem Entscheidungsverhalten, lasst diese Ebene des Kontrollverhaltens als besonders adaquat rur die komplexen, situativ flexiblen und gleichzeitig zeitkritischen Verkehrssituationen erscheinen. Demnach sollte es das Ziel effektiver Fahrassistenz sein, den Fahrer moglichst durchgangig in diesem Verhaltens- und Entscheidungsmodus zu halten. Einerseits sollte Assistenz auf der Fertigkeitsebene so integriert werden, dass es praktisch zu einer Optimalpassung von analoger Informationseingabe und analoger Regelung kommt, andererseits sollte auf der Wissensebene Assistenz dazu ruhren, dass Planungsphasen (zeitaufwendig und sequentiell) von Regelungsphasen (schnell und parallel) entkoppelt werden. Beispielsweise sollten vor Antritt der Fahrt die grundsatzlichen Entscheidungen iiber Zielbestimmung, Zielfiihrung und Optimierungskriterien gefallen sein, so dass dann unter Beriicksichtigung dieser Zielvorgaben eine Assistenz geleistet wird, die den Fahrer auf mittlerem Aktivierungsniveau halt und dementsprechend adaquate Informationsvorverarbeitung leistet, damit vorhandene Muster schnell erkannt und entsprechend vorhandener Regeln in Fahrentscheidung iiberfiihrt werden konnen.
Abgeleitet aus Untersuchungen zur sog. situational awareness bei Piloten (z.B. Sarter u. Woods, 1994) ist fUr das Autofahren zu fordern, dass durch schnelle und adaquate Riickmeldung rur den Fahrer immer ein mittleres Aktivierungsniveau sichergestellt ist, und dass der Fahrer sich immer iiber den jeweiligen Modus der Bedienung im Klaren sein kann, damit er situationsadiiquat entscheiden kann.
Einem sog. Modusfehler, wie er bei der modernen Fly-by-wire-Flugzeugruhrung auftreten kann, entspricht die Situation bei der Fiihrung eines Kraftwagens, in der sich der Fahrer durch Automatisierung oder Assistenzsysteme unterstUtzt glaubt, wahrend diese aufgrund von Fehlern oder ungiinstiger Situation rur die Informationsverarbeitung nicht oder nur unvollstandig arbeiten; in einer solchen Situation werden Einwirkungen von AuBen wie z.B. aufgrund von WindbOen oder Veranderungen des Reibbeiwerts aufgrund von Glatteis falsch interpretiert und konnen deshalb nicht durch adiiquates Regelungsverhalten aufgefangen werden. Dies wird speziell dann von groBer Sicherheitsrelevanz, wenn es mit dem Eintritt einer Notfallsituation (z.B. Stauende) zusammen fallt.
Zusammenfassend lasst sich sagen, dass eine Optimalgestaltung (s. z.B. Braess, 1998) darin bestehen sollte, den Fahrer durch Assistenz dadurch im Zustand mittlerer Aktivierung zu halten, dass Regelung und Entscheidung musterbasiert (recognition prime) erfolgen konnen. Situationen, wo dies wegen der Notwendigkeit ressourcenaufwendiger Anforderungen an Analyse (Diagnose und Planung) nicht moglich ist, sollten rechtzeitig und informativ signalisiert werden. Aus Reasons Modell der gefahrdenden Verhaltensweisen (Abb. 3.5) wird ein weiterer, rur die
50 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?
Gestaltung von Assistenzsystemen wichtiger Aspekt deutlich, dass namlich jede noch so gute Assistenz nur dann zu einem Gewinn an Sicherheit fUhren kann, wenn sich der Fahrer entsprechend den expliziten oder impliziten Prinzipien des Systems verhalt, d.h. keine Eigenschaften des Systems missbraucht. Die Untersuchungen von Reason (1990) u.a. in Kontrollstanden und bei der Qualitatssicherung haben deutlich gezeigt, dass solche "Verletzungen" (violations) in der Regel nicht auf Schadigungen abzielen, sondem auf dem Wunsch nach Effektivierung, gekoppelt mit mangelndem Systemverstandnis, basieren. Dies wird besonders haufig dann auftreten, wenn das Gesamtsystem so wenig transparent ist, dass eine Einhaltung von Regelungen bzw. die Beriicksichtigung von Randbedingungen als nicht notwendig oder sinnvoll erscheint. 1m Extremfall kann das Befolgen einer Regel unter bestimmten Randbedingungen nicht moglich erscheinen (z.B. wahrend der Fahrt ein neues Navigationsziel einzugeben, weil sich ein wichtiger Termin verschoben hat). Urn diesen sicherheitskritischen Regelverletzungen erfolgreich zu begegnen, muss also einerseits das Fahrzeug-Verkehrs-System fUr den Fahrer jeweils transparent sein und andererseits so weit von Beeintrachtigungen und Unbequemlichkeiten freigehalten werden, dass in gegebenem Zeitrahmen mit der zur VerfUgung stehenden Aktivitat die Aufgabe gelost werden kann.
Bine besondere Herausforderung fUr Handlungs-Assistenz bei wissensbasiertem Verhalten besteht darin, das "Fenster der Vorausschau" fUr den Fahrer genau so we it zu vergroBem, dass Situationen, die eine zeitkritische Regelung erfordem, nicht mit plotzlichen Notfallsituationen zusammenfallen.
Vergleicht man die Qualitatskriterien fUr ein Auto aus der ersten Anzeige (Abb. 3.1) mit dem Stand der Technik heute und den entwickelten Kriterien und Anforderungsprofilen fUr Fahrerassistenz, dann wird deutlich, dass die "Komplexqualitaten" wie Sicherheit, Zuverlassigkeit und Komfort die gleichen geblieben sind, dass sich aber die Rollen- und Arbeitsverteilung zwischen Fahrer und Fahrzeug gravierend geandert haben. Zu Beginn war die Funktionsweise des Fahrzeuges und sein Reagieren auf Eingriffe des Fahrers eindeutig und fUr den Fahrer transparent in ihrer Umsetzung. Dies implizierte auf der anderen Seite aber eine standige und direkte Kontrolle des Fahrers und die damit einher gehende hohe Anforderung an die Aufmerksamkeit. Ein modemes Fahrzeug ist in seiner mechanischen Funktionalitat fUr den Fahrer heute nicht mehr direkt, sondem fast ausschlieBlich nur noch iiber Servomechanismen oder "intelligente" Schnittstellen wahmehmbar. Dieser damit einhergehende Verlust an Transparenz sollte nicht dazu fUhren, dass sich der Fahrer als durch das System gesteuert erlebt, sondem durch eine Optimierung der Beziehungen zwischen dem Leistungsprofil des Fahrzeugs und dem Leistungsprofil des Fahrers aufgefangen werden, d.h. die mechanischen Eigenschaften des Fahrzeugs, die einzelnen Assistenzsysteme und ihre Interaktionen miissen fUr den Fahrer zu einem homogenen Fahrzeug integriert werden. Das von Sheridan (1992) beschriebene Konzept der Supervisory Control stellt diese Beziehung von Fahrer zu Fahrzeug sehr genau dar; wobei festzuhalten ist, dass Sheridan fUr das Fiihren von zu dieser Zeit gegebenen Fahrzeugen ohne modeme Assistenzsysteme supervisory control als ungeeignet ansah. Daher ist es fUr die jetzt gegebene Schnittstellen-Gestaltung mit ihrer hohen Dynamik und Komplexitat der Reizdarbietung notwendig, das Konzept der Supervisory Control
3.3 Konsequenzen fUr die Gestaltung von Assistenzsystemen 51
weiter zu entwickeln, da selbst verglichen mit Kontrollraumen hoher Komplexitat die Situation im Fahrzeug eine sehr vie1 starkere Gewichtung der Rolle des Fahrers notwendig macht.
Eine optimale Abstimmung von Fahrem und modemer Fahrzeugtechnik erfordert einerseits, dass die gesamte Palette der Informationskanale (vom visuellen bis zum taktilen Kanal) und der Bedienungsformen (von der klassischen motorischen Fiihrung bis zu Sprache oder Zeigen) angewendet wird, allerdings mit der Einschrankung, dass bei der Betonung der zentralen Rolle des Fahrers die Sinneskanale, wie von Gibson (1966) postuliert, als Systeme betrachtet werden und entsprechend auch die Formen der Bedienung. Konkret bedeutet dies, dass die Frage, wie Redundanzen vemiinftig eingesetzt werden und Interferenzen vermieden werden konnen, urn zu einem korrekten Systembild zu fiihren, fUr die Zukunft eine zentrale Aufgabe darstellt. Als moglicher Losungsansatz bietet es sich an, bei der Gestaltung von Schnittstellen Techniken anzuwenden, die im Rahmen von Virtual Reality entwickelt worden sind. Zur Zeit ist aber weder die dafiir notwendige direkte Riickmeldung moglich (notwendig waren maximale Verzogerungszeiten von ungeflthr l2ms; als technischer Standard (DoD) gelten noch IOOms),z noch die entsprechende raumliche Auflosung im taktilen (Vibrationen mit einer Amplitude von weniger als IJ..L konnen noch wahrgenommen werden) und im visuellen KanaP
Greenberg et al. (1995) machen fUr das Sicherheitsmanagement im Flugzeug iiberzeugend deutlich, dass eine effektive Assistenz nicht darin bestehen kann, dem Piloten jede anormale Eingabe als Fehler zuriickzumelden, sondem erst dann einzugreifen, wenn sich der Pilot aus dem Bereich der "sicheren Fiihrung" entfemt. Obertragen auf den StraBenverkehr bedeutet dieser Ansatz, dass integrierte Assistenzsysteme einerseits einen Geflthrdungsdetektor und andererseits ein "Beratungssystem" enthalten sollten, urn dem Fahrer Handlungsvorschliige (i.S.v. remedial action) zu geben, wie aus der Gerlihrdungssituation heraus gelenkt werden kann. Wie ausgefUhrt, ist die Modalitat der Vorgabe solcher Vorschlage fUr die effiziente Umsetzung entscheidend, es muss daher situationsspezifisch entschieden werden, auf welcher Handlungsebene welche Form der Assistenz gegeben wird.
Bei der Entscheidung iiber Inhalt und Form jeder Assistenz speziell auf der muster- bzw. regelorientierten Kontrollebene ist die Einbeziehung des Systembildes notwendig, wie es sich fUr den Fahrer darstellt. Urn den Fahrer im Raum moglicher Systemzust1lnde im Bereich des "sicheren Fahrens" zu halten, sind einerseits Beeinflussungen des direkten Regelungsverhaltens z.B. durch ACC oder Heading Control moglich, dariiber hinaus miissen wegen der Obemahme-
2 Geht man von der hirnphysiologisch gut belegten Synchronisationsdauer von 25ms aus, dann kannjede Verzogerung, die kleiner ist als die halbe Zeit (12.5ms) als problematisch angesehen werden.
3 Das menschliche Auge lost zumindest im Bereich des fovealen Sehens sowohl raumlich wie auch beziiglich der Farbdichte hOher auf als z.Z. technisch moglich ist. Wegen der hohen Geschwindigkeit der Augenbewegungen miisste diese Auflosung im groBten Teil der Sehhalbkugel erreicht werden.
52 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?
problematik entsprechende Zustands- oder Warnhinweise so gestaltet sein, dass sie moglichst effizient den Aufbau des jeweils aktuellen Systembildes ermoglichen.4 In Abb. 3.6 wird dargestellt, wie von einer Wamung auf den Systernzustand geschlossen werden kann.
- Information - Geschwindigkeit - Fahrstand - verfugbarer
Brennstoff
GI E3 iii c ~ B III C 0
~ 63 E ..
oS .s E:9 B System-
zustands-anzeige
Bediener
Abwarten, ob Wiederherstellung der Norm
;; ;
;;
~ ; Oberprufen der erwarteten
Veranderungen
System verhalt sich nicht wie erwartet
Systemfunktionen
Entscheidung fur die" beste'
Erklarung
Systembedienung
Abb. 3.6 Abduktives Sch1ieBen von den Anzeigen auf die Ursache, die einer Wamung zugrunde 1iegt (ergiinzt und angepasst nach Woods et ai., 1991).
Formal gesehen handelt es sich bei der richtigen Interpretation von Wamungen urn abduktives SchlieBen (Woods, 1993); d.h. aus allgemeinem Systemwissen und einer konkreten Wamung wird auf den zugrundeliegenden Systernzustand geschlossen, der die Wamung ausgelost hat. Abduktion fiihrt prinzipiell nicht zu eindeutigen, sondem nur zu besten oder akzeptablen (satisficing) Losungen. Die Eigenschaften des abduktiven SchlieBens als der zentralen kognitiven Anforder-
4 ANSI Z 535.4.-1991 beschreibt die Anforderungen an effektive Wamsysteme fo1gendermaBen: ,,A product safety sign or label should alert persons to a specific hazard, the degree or level of hazard seriousness, the probable consequence of involvement with the hazard, and how the hazard can be avoided. " Was diese Anforderungen nicht beriicksichtigen ist, dass Wamungen von besonderer Bedeutung in solchen Situationen werden, die zeitkritisch sind und auf den Operateur treffen, wo dieser an den Grenzen seiner Informationsverarbeitungskapazitat operiert.
3.4 Schlussfolgerungen 53
ung bei Supervisory Control helfen, die eingangs gestellte Frage nach dem notwendigen Umfang der "Intelligenz" von Fahrzeugen zu beantworten.
Einerseits erfordert Abduktion wegen der notwendigen Uneindeutigkeit der Losungen den verantwortlich entscheidenden Fahrer ("was ist ein akzeptabler Handlungsentwurf auf dem Hintergrund vorliegender Information?"); dies impliziert den Verzicht auf automatisiertes Fahren.
Andererseits miissen die Messwerte iiber den Fahrzeugzustand, geographischen Daten iiber die Strecke und Verkehrsfluss so integriert werden, dass daraus flir den Fahrer komplexe aber homogene Systembilder entstehen, die ihn auf der Ebene des mustergeleiteten Regelns agieren lassen, wo notwendige Flexibilitat und Situationsangepasstheit und vergleichsweise hohe kognitive Effizienz gegeben ist.
Die in Zimmer et al. (1999) zentrale Fragestellung be stand in der Untersuchung iiber die Auswirkungen von Ablenkung (ein externes Signal lost beim Fahrer eine Reaktion aus) im Gegensatz zu Abwendung (der Fahrer entscheidet sich aufgrund der augenblicklichen Situation, ein Gerat zu bedienen oder eine Anzeige zu lesen).
Aufgrund des Modells der Regelungsebenen ist zu erwarten, dass die Setzung externer Hinweissignale zu Verhaltensweisen auf der Fertigkeitsebene fiihrt mit der damit einhergehenden starren Kopplung von Signal und Reaktion. Die Informations- und Bedienzuwendung aufgrund interner Planung iiber den Einsatz kognitiver Ressourcen entspricht eher dem Regelungsverhalten auf der Musterebene und ist entsprechend flexibel gekoppelt. Fiir die Setzung von Warnhinweisen hat dies zur Konsequenz, dass nur eindeutig identifizierbare Zustande mit hoher Prioritat und engen Zeitfenstern durch ablenkende Reize (wie z.B. akustische Reize oder taktile Riickmeldungen) mit dem Ziel schneller und starr gekoppelter Reaktion signalisiert werden sollten. Nicht-zeitkritische Zustiinde sollten so angezeigt werden, dass sie bei der nachsten Zuwendung erfasst und hinsichtlich des Bedarfs nach Eingriff flexibel beurteilt werden konnen. Die Ergebnisse in Zimmer et al. (1999) deuten darauf hin, dass speziell Fahranfanger gegeniiber Experten iiberwiegend ihre Aufmerksamkeit extern steuern lassen und zu starrer Kopplung neigen.
Altere Fahrer dagegen haben die Strategie der selbstgesteuerten Zuwendung mit dem systematischen Ablesen der Kontrolle so generalisiert, dass sie die Vorteile externer Signalisation weniger nutzen, d.h. sie wenden sich der entsprechenden Anzeige auch dann zu, wenn diese z.B. nicht durch ein akustisches Signal als aktiv gekennzeichnet wird.
3.4 Schlussfolgerungen
Es lasst sich konstatieren, dass durch Assistenz im Manovrierverhalten (ABS, elektronische Schluptkontrolle bis hin zu ACC und He) einerseits und im Planungsverhalten (z.B. durch Navigationssysteme) andererseits der Fahrer zum effektiven Einsatz seiner Expertise in Form von Mustern beflihigt wird. Die besondere "Intelligenz" integrierter Assistenzsysteme besteht dann in der Vermittlung des jeweils aktuellen, d.h. handlungsbezogenen Systembildes, damit War-
54 3 Wie intelligent darf/muss ein Auto sein?
nungen beim Verlassen der "Region des kontrollierten Fahrens" korrekt interpretiert und durch adaquates Verhalten beantwortet werden k6nnen.
Fur die Gestaltung von Assistenzsystemen als Informationswerkzeuge (information applicances i.S.v. Norman, 1999) gelten in modifizierter Form die von Donald Norman aufgestellten "Gestaltungsaxiome":
1. Einfachheit. Die Komplexitat der Assistenzsysteme bezieht sich auf die zu 16sende Aufgabe, nicht auf ihren Werkzeugcharakter; d.h. die zugrundeliegende Technologie wird unsichtbar.
2. Adaptivitiit. Assistenzsysteme erlauben dem Nutzer die fUr ihn adaquate und flexible Funktionalitat.
3. Spa). Assistierende Systeme sollen das Fahren angenehmer machen, sollen in der Nutzung und im Besitz SpaB machen.
Literatur
Braess, H. (1998) Der Mensch als aktives und passives Element im Kraflfahrzeug. Vortrag an der Universitat Regensburg
Cannon, W.B. (1932) The wisdom of the body. New York: Norton Gopher, D. (1992) The skill of attention control: Acquisition and execution of attention
strategies. In: D.E. Meyer & S. Kornblum (Eds.) Attention and Performance XIV, 299-322. Cambridge, MA: MIT Press
Greenberg, AD., Small, R.L., Zenyuh, J.P. & Skidmore, M.D. (1995) Monitoring for hazard in flight management systems. European Journal of Operations Research 84 (1995) 5-24
Klein, G. (1998) Sources of Power. Cambridge, MA: MIT Press Kiipfmiiller, K. (1971) Grundlagen der Informationstheorie und Kybernetik. In: O.H. Grau
er, K. Kramer, R. lung (Hrsg.) Physiologie des Menschen, Vol. 10. Miinchen: Urban & Schwarzenberg.
Lulay, G. (1998) Unfalltypen und ihre Einfluj3groj3en im Straj3enverkehr ~ eine aktuarische Analyse von schweren Pkw-Unfollen. UnverOffentlichte Diplomarbeit der Universitat Regensburg
Norman, D.A (1990) The problem with automation: Inappropriate feedback and interaction not over-automation, Philosophical Transactions of the Royal Society of London, B 327,585-593
Norman, D.A (1999) The invisible computer. Cambridge, Mass.: MIT Press Posner, M.L (1980) Orienting of attention. Quarterly Journal of Experimental Psychology,
32,3-25 Posner, M.& Raichle, M.E. (1995) Precis of images of mind. Behavioral and Brain Scien
ces, 18(2),327-383 Rasmussen, l. (1982) Human errors: a taxonomy for describing human malfunction in
industrial installations. Journal of Occupational Accidents, 4, 311-333 Rasmussen, J. (1987) The definition of human error and a taxonomy for technical system
design. In: J. Rasmussen, K. Duncan & J. Leplat (Eds.) New Technology and Human Error. New York, N.Y.
Reason, J.T. (1990) Human error. Cambridge, Mass.: Cambridge University Press
Literatur 55
Sarter, N.B.& Woods, D.D. (1994) Pilot interaction with cockpit automation II: An experimental study of pilots' model and awareness of the flight management system. The International Journal of Aviation Psychology, 4, 1-28
Sellen, AJ., Kurtenbach, O.P.& Buxton, W.A (1993) An empirical evaluation of some articulatory and cognitive aspects of marking menus. Human Computer Interaction, 8 (1),1-23
Sheridan, T.B. (1992) Telerobotics, automation and human supervisory control. Cambridge, Mass.: MIT Press
Wickens, T.D. (1992) Engineering psychology and human performance (2nd. ed.). New York: HarperCollins Publishers Inc.
Wiegmann, D.A & Shappell, S.A (1997) Human factors analysis of postaccident data: Applying theoretical taxonomies of human error. International Journal of Aviation Psychology, 7 (1), 67-81
Wiener, E.L. & Curry, R.E. (1980) Flight-Deck automation: Promises and problems, NASA TM-81206, June
Wierwille, W.W.& Tijerina, L. (1995) Eine Analyse von Unfallberichten als ein Mittel zur Bestimmung von Problemen, die durch die Verteilung der visuellen Aufmerksamkeit und der visuellen Belastung innerhalb des Fahrzeugs verursacht werden. ZeitschriJt fur Verkehrssicherheit, 41, 164-168
Woods, D., Sarter, N. & Billings, C. (1987) Automation Surprises. In: O. Salvendy (Ed.) Handbook of human factors and ergonomics. 2nd Ed. New York: J. Wiley & Sons
Woods, D.D. (1993) Cognitive demands and activities in dynamic fault management: abductive reasoning and disturbance management. In: N. Stanton (Ed.) Human Factors in Alarm-Design. London: Taylor & Francis
Yerkes, R.M. & Dodson, J.D. (1908) The relation of strength of stimulus to rapidity of habit-formation. Journal of Comparative and Neurological Psychology, 18,459-482
Zimmer, A et al. (1999) Definition und Validierung von Kriterien for die Ablenkungswirkung von MMI-Losungen; Endbericht
4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen -psychologische Gestaltungskonzepte
Berthold Farber
4.1 Die Notwendigkeit von Navigationssystemen
Navigationssysteme finden sich mittlerweile bei fast allen Automobilherstellem als Sonderausstattung im Programm. Auch mehrere Ausriister bieten Systeme mit statischen oder dynamischen Wegleitinformationen als Nachriistsatz an. Verglichen mit anderen Sonderausstattungen, wie etwa Alufelgen bzw. im Vergleich mit technischen Errungenschaften wie etwa Handys nimmt die Verbreitung von Navigationssystemen im Fahrzeug nur langsam zu. Welche Griinde hat dies?
Zum einen sind sicherlich 6konomische Griinde fUr die Zuriickhaltung der Kraftfahrer verantwortlich. Der Anschaffungspreis von mindestens DM 2000.stellt zweifellos ein Hemmnis dar. ledoch gibt es psychologische Aspekte, die Kraftfahrer davon abhalten, sich fUr diese Ausstattungsvariante zu entscheiden. Alufelgen bringen - wie manch andere Ausstattungsvarianten - eine optische Aufwertung des Fahrzeugs. 1m Gegensatz dazu sind nicht oder nicht unmittelbar sichtbare Sonderausstattungen schwieriger am Markt durchzusetzen. Ein zweiter wesentlicher Aspekt umfasst die subjektive Notwendigkeit von Navigationssystemen. In einer Befragung von Kraftfahrem (Farber u. Farber, 1985) antworteten auf die Frage: "Wie gut kamen Sie bei den letzten Fahrten in fremder Umgebung zurecht?" mit:
- gut 78% - es gmg so 17% - schlecht 5%.
Dieses Antwortmuster bleibt stabil, wenn die Befragten unterteilt werden in Personen, die Navigationssysteme positiv oder negativ einschatzen. Unabhangig von ihrer Einstellung oder ihres Problembewusstseins sehen also die meisten Autofahrer keine dringende Notwendigkeit, ein Navigationssystem in ihr Fahrzeug einbauen zu lassen. Sie sind der Meinung, dass sie aufgrund des StraBennetzes, der Beschilderung oder anderer Hilfsmittel immer irgendwie zum Ziel gelangen.
Doch stimmen objektive und subjektive Sicht iiberein? Stellt das Zurechtfinden in fremden Stadten kein Problem dar? Mehrere Studien kommen zu einer v611ig anderen Einschatzung. Ellinghaus u. Welbers (1980) unterscheiden zunachst zwischen drei Problemen bei der Orientierung in fremden Stadten:
58 4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen - psychologische Gestaltungskonzepte
• die Zielsuche in einer Stadt, die sowohl fUr Ortsansassige als auch fUr Ortsfremde teilweise schwierig ist,
• das Durchfahren einer Stadt, • das Herausfinden aus einer Stadt.
Wie Ellinghaus und Welbers weiter berichten, haben Personen vor allem ProbIerne bei der Erkennung von Stadtteilen, mit Umleitungen, sowie mit Wegweisem, bei denen der Ortsnamen nicht konsequent wiederholt wird. Beriicksichtigt man ferner, dass Autofahren auch immer einen Leistungsaspekt hat, wird verstandlich, warum Frauen in Befragungen regelmaBig mehr Probleme bei der Orientierung in fremder Umgebung einraumen als Manner. Besteht das Orientierungsproblem demnach nur flir eine Minderheit, fUr die es kaum lohnt, Navigationssysteme nutzergerecht zu gestalten?
Zwei Studien zeigen anhand verschiedener Ansatze die Bedeutung mangelnder Orientierung fUr die Verkehrssicherheit. Engels u. Dellen (1989) pragten den Begriff "Fremdenrisiko", der besagt, dass Ortsfremde iiberproportional am Unfallgeschehen innerorts beteiligt sind.
Eine detaillierte Beschreibung der Griinde fUr das hOhere Risiko, das von Ortsfremden ausgeht, findet sich bei Popp (1988). In einer nichtreaktiven Verhaltensmessung Ortsfremder konnten eine Reihe von spezifischen Verhaltensweisen ausfindig gemacht werden, die sich zweifelsfrei negativ auf die Verkehrssicherheit auswirken. Typische Verhaltensweisen Ortsfremder sind:
• die Flucht nach vome, • das Tanzen zwischen den Spuren, • das Unterschatzen von Entfernungen in GroBstadten, das zu haufigen Abbiege
manovern in letzter Minute fUhrt.
Selbst wenn ein Beifahrer mit einem Stadtplan lotst, wollen die meisten Fahrer (wiihrend der Fahrt) selbst einen Blick in die Karte werfen; haufig nehmen sie dem Beifahrer gegen Ende der Fahrt die Karte weg und fahren nun mit der Karte auf dem Lenkrad.
Unter Beriicksichtigung des Aspekts "Verkehrssicherheit" ist demnach mangelnde Orientierung ein durchaus ernst zu nehmendes Problem. Wie miissen aber Systeme ausgestattet und gestaltet sein, urn den Fahrer maximal zu unterstiitzen? Ein kurzer Blick in die Literatur iiber kognitive Karten sowie ein Riickblick auf die Entwicklungsgeschichte von Navigationssystemen zeigt sehr deutlich, wo die Probleme von Fahrern im Umgang mit diesen Systemen liegen und welche Gestaltungsrichtlinien zu beachten sind.
4.2 Kognitive Karten
Ausgehend von der These von Boulding (1956), menschliches Verhalten sei viel starker durch das Bild, das man sich von der Welt mache, bedingt als durch die objektive Realitiit, pragten Downs u. Stea (1973) den Begriff cognitive map fUr menschliche Orientierung. Kognitive Karten sind nicht tatsachliche Gegebenhei-
4.3 Erste Ansatze - Synergien aus cler Luftfahrt 59
ten, sondem "Wissensstrukturen tiber diumliche Beziehungen, Wegenetze und Verkehrsmoglichkeiten, die man jederzeit aus dem Gedachtnis abrufen kann, urn eine Zielortbestimmung und eine Routenwahl vorzunehmen" (Janssen, 1984, S.3). Die Inhalte von kognitiven Karten werden von Lynch (1960) in fUnf Elementklassen eingeteilt:
1. Wege (paths) 2. Knotenpunkte (nodes) 3. Markante Punkte (landmarks) 4. Bezirke, Landstriche (districts) 5. Grenzen (boundaries).
Nach Downs u. Stea (1982) benotigen wir fUr die Losung raumlicher Probleme Informationen tiber das "Wo", das "Was" und das "Wann". Wir mtissen also wissen, wo sich Menschen oder Dinge befinden, die wir aufsuchen wollen, welche Dinge oder Menschen sich an welchem Ort befinden (was) und zu welchem Zeitpunkt das Ereignis stattfindet (wann). Inwiefem unterstiitzen nun Navigationssysteme den Aufbau kognitiver Karten? Oder anders gefragt: gibt es Systeme, die den Aufbau kognitiver Karten fordem, wahrend andere eher zu einer Dequalifizierung von Kraftfahrem fUhren?
Vor der Beantwortung dieser Frage ist es erforderlich, zunachst die verschiedenen Konzepte von Navigationssystemen naher zu beschreiben. Obwohl die Entwicklung ausschlieJ31ich von technischen Moglichkeiten bestimmt war, lassen sich an ihr trotzdem die Implikationen, Starken und Schwachen von Navigationssystemen aufzeigen.
4.3 Erste Ansatze - Synergien aus der Luftfahrt
Einen friihen Ansatz eines Navigationssystems fUr Kraftfahrer stellt cler Citypilot von VDO dar (Farber u. Farber, 1985). Nach Eingabe des Standorts und des Zielpunkts wird der Fahrer mittels Koppelnavigation geleitet - allerdings zeigt der Richtungspfeil immer nur die Himmelsrichtung zum Ziel sowie die Entfemung in Luftlinie - eine Vorgehensweise, die in der Luft- und Seefahrt durchaus erfolgreich angewandt wird. Auch Autofahrer, die nach dem Weg fragen, sind haufig damit zufrieden, die prinzipielle Richtung zum Ziel gezeigt zu bekommen, da sie sich die vielen Angaben wie "erste rechts, dann zweite links, dann an der dritten Ampel halbrechts und dann in die nachste StraBe einbiegen ... " ohnehin nicht merken konnen.
Wie agieren nun Kraftfahrer mit diesem System? Eine erste interessante Beobachtung war, dass Testfahrer verges sen hatten, ih
ren Standort, d.h. den Startpunkt einzugeben. Sie gingen ganz offensichtlich davon aus, dass sie wussten, wo sie sich befinden, und damit das System tiber das gleiche Wissen verfUgen muss. Man kann darin eine deutliche Parallele zur herkommlichen Auskunft nach dem Weg erkennen. Wer einen Passanten nach dem Weg fragt, muss auch nicht erst erklaren, wo er sich befindet. Das Ubertragen von All-
60 4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen - psychologische Gestaltungskonzepte
tagsverhalten und Alltagstheorien auf neue Technologien lasst sich hier sehr eindriicklich beobachten.
Da der Citypilot nur die Richtung und Entfemung zum Ziel als Luftlinie angab mussten die Autofahrer zusatzliche Orientierungsstrategien anwenden. Stimmen etwa optische Hauptachse der Stra13e und Anzeige des Citypilot nicht iiberein, so ist es bei gro13er Entfemung yom Ziel sinnvoll, der Hauptstra13e zu folgen und den Richtungspfeil zu ignorieren. Iedoch folgten im Experiment nur 31 % dem optischen Stra13enverlauf, wahrend sich 57% nach der Anzeige des Navigationssystems richteten. Auch hier ist das Verharren in naiven Alltagstheorien sichtbar. Obwohl den Fahrem die Technik und die damit zusammenhiingenden Probleme des Citypilot erlautert wurden, war der imperative Charakter der Anzeige haufig gro13er als die technischen Moglichkeiten.
Die Darstellung der Navigationsinformation erfolgt mit einem einfachen Richtungspfei1 in einer Windrose (Abb. 4.1). Wie gro13 ist die Ablenkung durch dieses vergleichbar einfache Symbol?
Abb. 4.1 Anzeige des Citypilot (links oben) mit StraBenszene
In einem Feldversuch war die mitt1ere Blickdauer 625ms, die durchschnittliche Blickhaufigkeit in Kreuzungssituationen 5,4 Blicke pro Fahrer und Kreuzung. Wie ist diese relativ gro13e Anzahl und lange Dauer von Blicken bei einem so einfachen Symbol zu erklaren? Ein wesentlicher Grund diirfte die Schwierigkeit der "Kopplung" der realen Welt mit der Anzeige sein, d.h. Stra13enverlauf, Anzeige und mentales Modell iiber das Ziel in Einklang zu bringen.
Zwei Schlussfolgerungen sind aus diesen fruhen Studien iiber Navigationssysteme zu ziehen:
• Sog. Synergie-Effekte durch Obertragungen von Erkenntnissen aus anderen Bereichen, wie etwa Luftfahrt, oder Seefahrt auf den motorisierten StraBenverkehr sind nur selten moglich,
• selbst einfache Pfeildarstellungen konnen schon zu langen Ablenkungen yom Verkehr fUhren.
Sprachausgaben sind daher eine unabdingbare Forderung fUr Navigationssysteme.
4.4 Bakengestiitzte Systeme 61
4.4 BakengestUtzte Systeme
Vor der zivilen Verfiigbarkeit von GPS (Global Positioning System) wurden versehiedene Ansatze untemommen, Kraftfahrem Wegleitinformationen mit exakten Abbiegehinweisen zur VerfUgung zu stellen. Der Ansatz von Blaupunkt sah eine elektronisehe Karte vor, auf dem das Fahrzeug als Leuehtpunkt dargestellt ist (Abb. 4.2). Da die Kartendaten nieht in einer Form vorlagen, die die Bereehnung und Ausgabe von Abbiegehinweisen ermogliehten, musste der Fahrer die elektronisehe Karte mit der AuBenwelt verkntipfen und Entseheidungen tiber die riehtige Route selbst treffen.
Abb. 4.2 Kartendarstellung des Trave1pilot
Bakengestiitzte Systeme verfolgen zwei Ziele: Bei bakengestiitzten Wegleitsystemen stellt der Fahrer eine Anfrage an eine Leitstelle. Er erhalt seine Navigationsinformationen mit zuverlassigen Abbiegeinformationen fUr jede Kreuzung und Abzweigung tiber Infrarotsender, die an Ampeln angebraeht sind. Ein prominentes Beispiel fUr dieses Navigationssystem stellt LISB (Leit- und InformationsSystem Berlin) dar. Neben der Ausgabe exakter Abbiegehinweise bestand ein wesentliehes Ziel von LISB in der Erprobung dynamiseher Wegleitung. Aus dem Wissen tiber das Ziel und die mittleren Reisezeiten lassen sieh Rtieksehltisse auf Staus und Behinderungen ziehen. Ubersehreiten mehrere Fahrzeuge die mittlere Reisezeit auf einer Streeke, so kann an die naehfolgenden eine Umleitungsempfehlung gegeben werden.
62 4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen - psychologische Gestaltungskonzepte
Wie bewahrt sich dynamische Wegleitung in GroBstadten? In einem groB angelegten Feldversuch konnten Popp et al. (1991) nachweisen, dass die Reisezeiten mit einem dynamischen Wegleitsystem im Vergleich zu Fahrten mit Karte signifikant kiirzer sind. Die Versuche mit dem USB-System, das als "Ursystem" dynamischer Navigationssysteme mit Abbiegehinweisen angesehen werden kann, wei sen eine Reihe von weiteren Vorteilen von Navigationssystemen gegeniiber der Orientierung mit Karte nacho Verkehrssicheres Verhalten (eingescMtzt anhand der Dimensionen der Verkehrskonflikttechnik) nimmt mit einem Navigationssystern zu (Abb. 4.3).
0
5
0
5
0
5
0
5
ml rh I I 6 8
o LlSB
o Kartenfahrt
I = Geschwindigkeit unangepasst hoch 2 "Geschwindigkeit unangepasst niedrig 3 " Abstand zum Vorausfahrenden zu gering 1 " Abstand zum Vorausfahrenden zu hoch 5 = M.nover zogerlich e ingeleitet 6 = Manover zu spat eingeleitet 7 = Manover abrupt. ohne Berucksichtigung
des ruckwartigen Verkehrs. eingeleitet
8 = riskante. Fahrmanover
Abb. 4.3 Fahrverhalten mit LISB und mit StraBenkarte
Dies ist urn so bemerkenswerter, als den Versuchspersonen ein Kartenstudium wahrend der Fahrt nicht gestattet war - ein Verhalten, das sie normalerweise praktizieren. Die subjektiv erlebte Belastung bei Fahrten mit dem USB-System sinkt signifikant, das objektive MaB "Herzrate" weist nach, dass vor allem die Orientierung mit der Karte (im Stand) zu hohen Belastungen ftihrt.
Aus den Feldversuchen mit USB sind zwei weitere Schlussfolgerungen fUr die Gestaltung von Navigationssystemen zu ziehen:
l. Fahrer mit dem Navigationssystem USB fUhrten vermehrt abrupte Fahrmanover, ohne Beriicksichtigung des nachfolgenden Verkehrs aus (Abb. 4.3).
Erklarbar wird dies einerseits aus der relativ spaten Ankiindigung der Manover sowie durch die Art der Sprachausgabe, die einen hohen Aufforderungscharakter aufweist. Bei der Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle fUr Navigationssysteme ist daher darauf zu achten, dass die Ankiindigung der Manover friihzeitig und in einer Form kommt, die den Fahrer nicht zu unkontrollierten Aktionen verleitet. Zum Beispiel sollte die Sprachausgabe fUr einen Spurwechsel statt "Rechts einordnen!" lauten: "Bitte wahlen Sie demniichst die rechte Spur".
4.5 Ort und Art der Darstellung 63
2. Die zu erwartenden Zeitvorteile durch dynamische Navigationsinfonnationen sind eher gering. Ein erfahrener Beifahrer, der nur die prinzipiellen Engpasse und Staugefahren in Berlin kannte, konnte die Testfahrer regelmaBig schneller zum Ziel fiihren als das System LISB, das theoretisch tiber OnlineInfonnationen zur Verkehrsbelastung verfiigte (Tabelle 4.1).
TabeUe 4.1 Mittlere Fahrzeit (in Minuten) fiir drei Wegleithilfen pro Strecke
Wegleithilfe ohne Obung mit Obung
LlSB 17,8 16,9
Beifahrer 13,0 11,9
Karte 29,4 29,4
Sicherlich war die geringe Ausstattungsdichte mit LISB Fahrzeugen einer der Griinde fiir dieses Ergebnis. Jedoch sollte beriicksichtigt werden, dass Wissen tiber Staus und Verdichtungen noch nicht gleichbedeutend ist mit einem sinnvollen Angebot zur Umfahrung. Zunachst stellt die Berechnung einer Altemativroute eine komplexe Modellierung dar, die mit vielen Unbekannten und Annahmen arbeiten muss. Zudem ist der Innerortsverkehr meist so dicht, dass die Umfahrungsmoglichkeiten von Staus beschrankt sind. Die Hoffnungen, durch dynamische Wegleitung den StraBenraum optimal zu nutzen und Staus und Behinderungen weitgehend zu venneiden, wird sich daher eher nicht erfiillen.
4.5 art und Art der Darstellung
Navigationssysteme sollen den Fahrer optimal bei der Zielfindung unterstiitzen, ohne ihn yom Verkehrsgeschehen abzulenken. Nur neue Fahrzeuge ab der gehobenen Mittelklasse bieten die Moglichkeit, im Kombiinstrument Navigationsinfonnationen darzustellen. In vielen Fahrzeugen ist ein Platz im Bereich der Mittelkonsole fiir Zusatzsysteme wie Navigation vorgesehen.
Abgesehen von Herstellem, die Navigationssysteme mit dem Autoradio kombinieren (z.B. Becker), bieten aIle Systeme die Moglichkeit der Kartendarstellung. Der Kunde, so lautet die Begriindung, wUnscht diese Option. Die Befragung von technisch Interessierten, die prinzipiell eher als Kaufer angesehen werden, zeigt auch, dass die Kartendarstellung als wichtiges Element fiir Orientiertheit betrachtet wird. Es besteht die Befiirchtung, bei ausschlieBlicher Routenfiihrung mit Abbiegepfeilen schlechter orientiert zu sein sowie den Uberblick und die Fiihigkeit zur Orientierung ohne Navigationssystem zu verlieren. Kartendarstellungen konnen sinnvoll nur auf einem Display im Bereich der Mittelkonsole dargestellt werden. Die Darstellung im Kombi-Instrument ist aufgrund der GroBe der verfiigbaren Displays und der Auflosung der LCD-Bildschinne nicht moglich (Abb. 4.4).
64 4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen - psychologische Gestaltungskonzepte
Abb. 4.4 Navigationssystem im zentralen Blickfeld des Fahrers (Mercedes C-Klasse)
Welche objektiven Vorteile hat die Moglichkeit der Kartendarstellung? In einem Simulatorexperiment mit einer Zielfindungsaufgabe mit und ohne zusatzliche Kartendarstellung konnten Popp et al. (1990) zeigen, dass Karten, selbst wenn sie gut gestaltet und auf die Benutzung im Fahrzeug zugeschnitten sind, keine positiyen Auswirkungen auf die Qualitat der Zielfindung zeigen. Die Orientiertheit der Fahrer beziiglich des eben befahrenen Gebiets wurde durch die Kartendarstellung nicht erhOht.
Die Darstellung eines Navigationspfeils und einer Karte im Bereich der Mittelkonsole lieB die Ablesezeiten signifikant ansteigen. Auch vorwiegend alphanumerische Darstellungen in Form von Listen (Abb. 4.5) fUhren zu signifikant Hingeren Blickabwendungen, verglichen mit der ausschlieBlich symbolischen Pfeildarstellung.
I Richtung A 3 Duisburg 'I j ~ I 1~I==o=k=m=b=iS==A=B=-K=re=U=Z=K=O=ln========~1
Abb. 4.5 Listenorientierte Darstellung von Navigationsinformationen
Aus Sicht der Ergonomie und der Verkehrssicherheit ist eine einfache pfeildarstellung mit einer Entfemungsangabe bis zum nachsten Entscheidungspunkt optimal. Eine interessante Erkenntnis fUr die Darstellung von Kreisverkehr kann aus dem Projekt LISB abgeleitet werden: Da ein Kreisverkehr mit vielen Ausfahrten schwieriger fUr die Orientierung ist als Kreuzungen, wurde bei LISB der Versuch untemommen, die Darstellung des Kreises im Display zu verbessem. Beim Durchfahren eines Kreisverkehrs wurde die Darstellung im Display entsprechend der Position des Fahrzeugs mitgedreht. Damit soUte dem Fahrer die Entscheidung erleichtert werden, welche Ausfahrten aus dem Kreis er bereits passiert hat und welche er nehmen muss. Obwohl die Idee zunachst nicht unplausibel klingt, hat sie einen entscheidenden Nachteil: Die "Welt" auf dem Display dreht sich. Die reale Welt bleibt hingegen stabil- der Fahrer bewegt sich in der Welt und nicht die Welt urn den Fahrer. Aus Kommentaren und Beobachtung von Fahrem konnte
4.6 Stand und Zukunft von Navigationssystemen 65
klar abgeleitet werden, dass diese Art der Veranderung von Navigationshinweisen nicht empfehlenswert ist.
4.6 Stand und Zukunft von Navigationssystemen
Zwei Technologien, die zunachst nicht fUr die ZielfUhrung von zivilen Kraftfahrzeugen entwickelt wurden, ermoglichten die Losung (nahezu) aller Probleme, mit denen friihere Entwicklungen zu kampfen hatten: die Compact Disc und GPS.
Die kostengiinstige Speicherung von groBen Datenmengen mit schnellem Zugriff war vor der Erfindung der CD ein schier unlosbares Problem. So mussten beim Citypilot die Navigationsdaten aus einem speziellen Stadtplan mit Strichcodierung in das System iibertragen werden. Bei ersten Prasentationen eines Navigationssystems von Blaupunkt auf Kongressen wurde auf die Frage: "Wie sollen die Daten gespeichert werden?" stets auf kiinftige technische Entwicklungen verwiesen, die dieses Problem sicher irgendwie losen wiirden. Was in den neunziger Jahren bedenkliches Kopfschiitteln hervorrief, ist inzwischen auf elegante Weise realisiert: die CD im Fahrzeug ist eine Selbstverstandlichkeit.
Die Positionsbestimmung iiber GPS (Global Positioning System) wurde zunachst fUr militarische Anwendungen entwickelt. 2l Satelliten, die auf 6 orbitalen Bahnen in ca. 20.000km Hohe die Erde umkreisen, senden ein Zeit- und ein Positionssignal. Aus dem Empfang der Signale von mindestens 3 Satelliten kann aufgrund der Laufzeitdifferenz die Position eines Fahrzeugs bestimmt werden. Bis vor kurzem waren die Signale fUr zivile Nutzer nur mit einer eingeschrankten Qualitat verfUgbar, so dass die Positionsbestimmung bis zu 300 Metem von der richtigen Position abweichen konnte. Da 300 Meter bei einer RoutenfUhrung in der Stadt nicht tolerierbar sind, wurde GPS nicht zur ausschlieBlichen Positionsbestimmung, sondem nur zur Stiitzung der Positionsbestimmung verwendet. Fahrzeugmanover, die beispielsweise aus den Radumdrehungen und den Lenkwinkeln abgeleitet werden konnen, werden mit den digitalen Karten auf der CD kombiniert. Aus der ZusammenfUhrung dieser Daten und einfachen Plausibilitatsannahmen kann die Position wesentlich praziser bestimmt werden. Da, einfach ausgedriickt, Fahrzeuge in der Regel nur auf StraBen fahren und nur in StraBen abbiegen, konnen viele falsche Positionen (z.B. in einem Haus) ausgeschlossen werden.
Mit Hilfe des sog. Differential GPS kann die Genauigkeit der Positionsbestimmung we iter erhOht werden. Da die Laufzeit der Signale von den Satelliten durch atmospharische Storungen beeinflusst sein kann, existiert auf der Erde ein Referenzempfanger, dessen Position bekannt ist. Er empfangt die Signale der Satelliten, berechnet daraus die Fehler aufgrund atmospharischer Storungen und gibt diese Korrekturwerte an alle bewegten GPS-Empfanger we iter.
Die Freigabe des sog. precision code durch das amerikanische Militar beseitigte einen Teil der Fehler bei der Positionsbestimmung. GPS-Empfanger benotigen aber quasi-optische Sicht zu den Satelliten, die in Innenstadten durch Hochhauser oder Tunnels verdeckt ist. Trotz der hohen Genauigkeit der Satellitensignale muss
66 4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen - psychologische Gestaltungskonzepte
also weiterhin auf Fahrzeugdaten fur die exakte Positionsbestimmung zuriickgegriff en werden.
Die intelligente Kombination existierender Technologien fuhrte zu einem neuen zuverIassigen Produkt, das zahlreiche Probleme- wie etwa das Vergessen der Eingabe des Startpunkts beim Citypilot oder die erforderliche teure Infrastruktur bei LISB - verschwinden lieB.
Drei Schwachpunkte bestehen bei den jetzt am Markt erhaltlichen Systemen mit bordeigener Navigation mittels GPS und digitaler StraBenkarte weiterhin:
• die Aktualitat der Navigations-CDs, • die Programmierung des Ziels, • eine qualifizierte dynamische Wegleitung mit zuverlassiger Erkennung von
Staus und Behinderungen.
Navigationsinformationen mit einem digitalisierten Stadtplan sind nur so gut wie das zu Grunde liegende Datenmaterial. Das Alter von Stadtplanen und Landkarten, die Autofahrer mit sich fuhren, betragt im Mittel 8 Jahre. Da NavigationsCDs teurer als Stadtplane sind, ist nicht damit zu rechnen, dass die Nutzer wesentlich aktuellere Versionen mit sich fuhren.
Die Eingabe des Ziels erfolgt bei den marktgangigen Systemen iiber einen "Dreh-Driick-Steller". Aus einem Alphabet, das am Bildschirm angezeigt wird, muss mit dem "Dreh-Driick-Steller" ein Buchstabe angewahlt und durch Driicken ausgewahlt werden. Zur Unterstiitzung des Benutzers werden die aktiven Buchstaben hervorgehoben oder nur die angezeigt, die im jeweiligen Auswahlschritt sinnvoll sind. Hat das System eine Zieleingabe eindeutig identifiziert, so erhalt der Nutzer dieses Ziel angeboten (Abb. 4.6). Mit dem "Dreh-Driick-Steller" konnen auch Ziele aus einer gespeicherten Zielliste, sowie aus einer Liste aller Orte ab einem bestimmten Anfangsbuchstaben (z.B. aile Orte, die mit "B" beginnen) ausgewahlt werden.
Abb. 4.6 Navigationseingabe mit dem System Command (Mercedes-Benz)
Trotz der Optimierung innerhalb des Bedienkonzepts "Dreh-Driick-Steller" fuhrt diese Art der Zieleingabe zu langen Blickzuwendungen und zur Ablenkung yom
4.6 Stand und Zukunft von Navigationssystemen 67
Verkehrsgeschehen. Sie sollte sie daher nur im Stand erfolgen. Die Praxis sieht aber anders aus. Speziell Fahrer, die das System beruflich nutzen, wollen wiihrend der Fahrt Ziele umprogrammieren oder die Fahrzeit zur Eingabe eines Ziels verwenden, da sie meist unter Zeitdruck stehen. Deshalb sind zwei Varianten der Zieleingabe zu diskutieren: Spracheingabe und Eingabe der Telefonnurnmer einer Person bzw. Firma am Zielort.
Die Bedienung per Sprache, die fiir die Eingabe von Telefonnummem oder die Auswahl von Personen aus einem eingespeicherten Namensregister im Handy schon zuverliissig funktioniert, ist fUr die Auswahl VOn Stiidten oder StraBennamen bis auf weiteres nicht moglich. Die Erkennenssicherheit bei der Sprachbedienung sinkt als Funktion der Anzahl iihnlicher Worter. Die Menge von Stiidte- und StraBennamen und ihre A.hnlichkeit schlieBt eine befriedigende Erkennenssicherheit bei den verfiigbaren Spracherkennungssystemen aus.
Die Eingabe einer Telefonnummer iiber eine Ziffemtastatur (z.B. iiber das Handy) konnte die langwierige Programmierung eines Ziels mit Stadtenamen und StraBennamen teilweise iiberfliissig machen. Nach Eingabe der Nummer und dem Driicken einer speziellen Taste konnte anstelle eines Anrufs das Navigationssystern mit den Zielkoordinaten programmiert werden. Bei Lieferfahrten kennt der Zusteller in der Regel Adresse und Telefonnurnmer, und bei Firmenbesuchen verfiigt der Besucher neben der Adresse iiber die Telefonnummer der Firma oder des Ansprechpartners.
Die Einfiihrung dieser ergonomisch sehr giinstigen Losung wird allerdings durch rechtliche Probleme verhindert. Es ist nicht zuliissig, VOn einer Telefonnummer auf eine Adresse zu schlieBen - was mit diesem System moglich wiire.
Ein lange verfolgtes Ziel der Gestaltung von Navigationssystemen ist die dynamische Wegleitung, die Staus und Behinderungen beriicksichtigt. Die Qualitat der dynamischen Wegleitung hiingt einerseits von der Verfiigbarkeit VOn Altemativwegen, andererseits von den Daten iiber die StraBenbelastung und den Verkehrsfluss-Modellen abo Zur Verbesserung der Datenbasis existieren auf allen wichtigen und staugerahrdeten Abschnitten von Bundesautobahnen mittlerweile Systeme zur Erfassung der Geschwindigkeit und Verkehrsbelastung. Uber das sog. Radio Data System (RDS) werden die Informationen, die jeder Autofahrer per Sprache abrufen kann, auch in digitaler Form an das Navigationssystem iibermittel, das dann entsprechende Umleitungsempfehlungen gibt. Diese per Infrastruktur gestiitzte Dynamisierung ist jedoch auf lange Sicht auf Autobahnen beschriinkt. Die mangelnde Dichte des Netzes iibergeordneter StraBen ermoglicht jedoch kaum Altemativen (ausgenommen Ballungszentren mit mehreren parallelen Autobahnen). 1m Innerortsbereich (etwa VOn GroBstiidten) existieren zwar mehr Alternativrouten, jedoch fehlt die Infrastruktur zur Erfassung der Verkehrsstrome.
Das zweite Problem ist die Qualitat der Prognose VOn Verkehrsbehinderungen. Die Verkehrsflussmodelle beabsichtigen prinzipiell, Behinderungen vorherzusagen, urn dem Autofahrer friihzeitig Empfehlungen fiir einer Umfahrung zu geben. Aufgrund VOn Querschnittsmessungen ohne Wissen iiber die Ziele der Fahrzeuge ist dies nur mit zahlreichen Zusatzannahmen moglich. Verkehrsstrome konnen sich an Autobahnkreuzen in viele verschiedene Richtungen verteilen und es ist
68 4 Navigationssysteme in Kraftfahrzeugen - psychologische Gestaltungskonzepte
daher oft schwer vorhersagbar, welche Route die Mehrzahl der Fahrzeuge nehmen wird.
4.7 Navigation durch Routenanfrage bei einer Leitstelle
Ein altemativer Ansatz zur Ausstattung mit digitaler Karte, GPS-Empfanger, Routenrechner und RDS-Empfanger im Fahrzeug ist ein System, bei dem fUr jede Route eine Anfrage bei einer Leitstelle erforderlich ist. Das System Scout der Fa. Tegaron beschreitet dies en Weg. Das Fahrzeug muss mit einem D-Netz-Handy, einem Organizer und einem GPS-Empfanger ausgeriistet sein. Der Nutzer gibt sein Ziel uber den Organizer ein oder ruft die Adresse aus dem Organizer abo Durch Driicken einer Taste wird eine Routenanfrage an die Leitstelle abgeschickt, von dort werden die erforderlichen Daten an das Fahrzeug ubermittelt und auf dem Display des Organizers dargestellt
Einige Probleme, die bei Onboard-Navigationssystemen auftreten, konnen mit Scout gelost oder zumindest gemildert werden: Zuniichst besitzt die Leitstelle stets die neuesten Informationen uber das StraBennetz - veraltete CDs sind kein Thema mehr. Die Eingabe uber den Touch-Screen des Organizers, der prinzipiell auch Handschriften erkennen kann, bzw. der Abruf aus dem Adressbuch des Organizers vereinfacht die Zielprogrammierung.
Bezuglich der Optimierung dynamischer Wegleitung sind liingerfristige Verbesserungen zu erwarten. Die Leitstelle kennt fUr jedes Fahrzeug, das eine Routenanfrage gestartet hat, die Start-Ziel-Beziehung. Wunscht der Fahrer eine dynamisierte ZielfUhrung, werden regelmiiBig Daten uber seinen Standort ubermittelt. Aus der Differenz zwischen errechneter und tatsiichlicher Reisezeit kann der zentrale Rechner der Leitstelle streckenbezogen Behinderungen ermitteln. Diese, mit dem Begriffjloating car data bezeichnete Methode, setzt nur relativ wenige Fahrzeuge voraus, die - bildlich gesprochen - wie Korken auf dem Fluss schwimmen und so Ruckschlusse uber die FlieBgeschwindigkeit ermoglichen. Der groBe Vorteil besteht in der Entbehrlichkeit von InfrastrukturmaBnahmen und der VerfUgbarkeit auch in Stiidten. Voraussetzung ist allerdings, dass genugend Fahrzeuge mit einem derartigen Navigationssystem ausgestattet sind.
Welches System langfristig besser sein wird, oder ob beide Systeme vereint werden, ist noch nicht sicher vorhersagbar. Denn das System mit der Anfrage bei einer Leitstelle hat einen wesentlichen Nachteil: es besitzt kein eigenstiindiges Wissen uber StraBen und Umfeld. Dies bedeutet, dass beim Verlassen der vorgeschlagenen Route das System den Fahrer nicht weiter zum Ziel fUhren kann. Falls der Fahrer die vorgeschlagene Strecke verliisst, erhiilt er einen einfachen Pfeil, der ihm die Himmelsrichtung zu dem Punkt weist, an dem er die korrekte Strecke verlassen hat. Altemativ kann er gegen Gebuhr eine neue Zielanfrage starten und erhiilt, ausgehend von seinem aktuellen Standort, eine neue ZielfUhrung.
Literatur 69
Literatur
Boulding, K.E. (1956). The image. Ann Arber: Univ. of Michigan Press Downs, R.M. & Stea, D. (1973). Image and Environment. Cognitive mapping and spatial
behavior. Chicago: Aldine Ellinghaus, D. & Welbers, M. (1980). Suche mit Hindernissen. Eine Untersuchung aber
Orientierungsprobleme in der GroJ3stadt. Aachen, Uniroyal Englebert Reifen GmbH Engels, K. & Dellen, R.G. (1989). Der Einfluss von Suchfahrten auf das Unfallverursa
chungsrisiko. Zeitschriftfor Verkehrssicherheit 35,3,93-100. Fiirber, B. & Fiirber, B. (1985). Psychologische Studie aber Navigationssysteme im Kraft
fahrzeug. Forschungsbericht. Psychologisches Institut der Universitat Tiibingen Farber, B. & Popp, M.M. (1991). Route guidance systems: Technical constraints and user
needs. In: Y. Queinnec & Daniellou (Eds.). Designing for Everyone. Proceedings of the I !th. Congress of the International Ergonomics Association, (1480-1482). London: Taylor & Francis
Janssen, J.P. (1984). Intellektuelle Bedingungen der Orientierung mit Karte und KompaJ3 im Wettkampfsport des Orientierungslaufs. Universitat Kie1
Lynch, K. (1960): Das BUd der Stadt. Braunschweig: Vieweg Popp, M.M. (1988). Orientierungsprobleme von Kraftfahrem in fremden Stadten: Subjekti
ve Einschatzungen und objektive Beobachtungen. In Kastner M. (Hrsg.). Fortschritte der Verkehrspsychologie '87. Mensch-Fahrzeug-Umwelt. Band 21, (385-394). K51n: Verlag TUV Rheinland
Popp, M.M. & Farber, B. (1990). Gesta1tung von Anzeigen fur die Wegleitung und deren Position im Kraftfahrzeug. In: Derkum H. (Hrsg.) Sicht und Sicherheit im StraJ3enverkehr Beitriige zur interdiszipliniiren Diskussion. (125-137). KOln: Verlag TOV Rheinland
Popp, M.M. & Schmitz, A. & Farber, B. (1991). Guiding Driver through metropolis: Traffic safety aspects of the guidance and information system, Berlin (LISP). 13th. International Technical Conference on Experimental Safety Vehicles, Paris
5 Fahrerassistenzsysteme im Entwicklungsprozess
Peter Frank und Werner Reichelt
5.1 Einleitung
Zum Thema Fahrerassistenzsysteme hat es in der Vergangenheit sehr viele Veroffentlichungen gegeben (z.B. [1]), die sich mit den Schwerpunkten Nutzen und Akzeptanz bei Autofahrern beschiiftigt haben. Diese ausfiihrliche Diskussion ist sicherlich sehr sinnvoll und hat flir die Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen den wichtigen Effekt gehabt, die Systeme nicht nur an den technologischen Moglichkeiten auszurichten, sondern auch die vielschichtigen Prozesse zwischen Fahrer und Fahrzeug im verkehrlichen Umfeld zu betrachten, wenn zunehmend komplexere Assistenzfunktionen zur Verfligung stehen.
Hier gibt es erheblichen Forschungsbedarf auch noch in der Zukunft, weil sich viele Fragen im Zusammenhang mit Fahrerassistenzsystemen erst in Liingsschnittuntersuchungen im Markt untersuchen lassen. Beispiele hierfUr sind mittel- und langfristige Fahrverhaltensiinderungen durch Fahrerassistenzsysteme, Einfluss auf das Situationsbewusstsein und die Fahrkompetenz etc [3].
In diesem Beitrag mochten wir zuniichst aus Sicht der Forschung eines Automobilherstellers aufzeigen, wie aus der Hille der heute technisch denkbaren Untersmtzungsmoglichkeiten die Ideen und Konzepte ausgewiihlt werden konnen, die einen wirklichen Nutzen, sei es unter Komfort- oder Sicherheitsaspekten, bringen. Danach wird die Prozesskette beschrieben, die wiihrend der Entwicklung sicherstellen soIl, dass das neue Fahrerassistenzsystem auch tatsiichlich die Erwartungen der Kunden an das System erflillt und dabei sicher und leicht zu bedienen ist, urn das gesetzte Ziel von mehr Komfort oder Sicherheit im StraBenverkehr zu erreichen.
Hierzu werden wir zuniichst auf die systematische Defizitanalyse im System Fahrer-Fahrzeug-Umfeld eingehen. AnschlieBend folgt der Prozess der Ideenfindung bzw. Ideenbewertung mit einer ersten Akzeptanzabschiitzung und anschlieBender Priorisierung. Hat sich ein Assistenz- bzw. Unterstiitzungssystem fUr den Entwicklungsprozess qualifiziert, muss wiihrend des Entwicklungsprozesses zusammen mit den Zulieferern sichergestellt werden, dass die Realisierung des Systems so erfolgt, dass trotz zu erwartender Funktionsgrenzen immer noch ein System entsteht, das auch in Fahrerhand die erwarteten Vorteile beziiglich Sicherheit undloder Komfort liefert. Die hierfiir einsetzbaren Methoden und Tools werden anschlieBend beschrieben. Hierbei hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass das Themenfeld Mensch-System-Interaktion (MMI) von hervorragender Bedeutung ist.
72 5 Fahrerassistenzsysteme im Entwicklungsprozess
5.2 Defizitanalysen
Ausgehend von einer zunehmenden technischen Realisierbarkeit von umfelderkennenden Sensoriken und fahrerunterstiitzenden Funktionen ergibt sich verstarkt die Fragestellung nach objektiven Kriterien zur Bewertung des Bedarfs an neuen Fahrerassistenzsystemen.
Insbesondere Analysen des Realunfallgeschehens und darauf aufbauende Feldund Fahrsimulatoruntersuchungen stellen eine Basis fur derartige Bewertungskriterien dar (Abb. 5.1).
Unfalldatenanalyse <40 .------35 30 25 20 15 10
t Markt
5 o
Fahrversuch
• GetOtete
• Schwervertettte
Szenarien
Fahrsimulatorversuch
Abb. 5.1 Methodik zur Untersuchung von Fahrerassistenzsystemen
Die Realunfallanalyse beinhaltet als eine Saule Auswertungen von reprasentativen Unfalldatenbanken (fur Deutschland z.B. Veroffentlichungen des statistischen Bundesamtes). Derartige Datenquellen geben aufgrund ihrer hohen Fallzahlen einen Aufschluss uber Unfallschwerpunkte bzgl. Unfalltyp (Beschreibung der Konfliktsituation) und Unfallart (Beschreibung des Kollisionsbildes) sowie deren Unfallfolgen (Verletzungsschwere). Fur eine Bedarfsanalyse von Fahrerassistenzsysteme ist allerdings der Unfallablauf mit dem Fokus auf die Pre-Crash-Phase erforderlich (Abb. 5.2).
Zur Analyse von Unfallablaufen bieten sich Datenbanken spezieller Institutionen an - z.B. European Accident Causation Survey (EACS-Datenbank), DEKRA, German in depth accident study (GIDAS), MHH - sowie Unfallanalysen von Fahrzeugherstellem, in denen verstarkt der Unfallentstehungsprozess neben dem klassischen Feld der passiven Sicherheit besondere Bedeutung gewinnt. Schwerpunkt ist dabei die Analyse charakteristischer Merkmale des Zusammenwirkens Fahrer-Fahrzeug-Umfeld in typischen kritischen Situationen. Hieraus haben sich
5.2 Defizitanalysen 73
in der Vergangenheit besonders Defizite beim Bremsverhalten und im Reaktionsverhalten gezeigt. Dies solI im Folgenden exemplarisch dargestellt werden.
Fahrerhandlung?
Cunfal~ Abb. 5.2 Prozessmodell der Gefahrdungszunahme in der Pre-Crash-Phase
In Feldversuchen von [7] wurde bereits 1983 das Bremsverhalten von Versuchsteilnehmem in iiberraschend auftauchenden Gefahrensituationen durch verdeckt auftauchenden FuBgangerpuppen untersucht.
Reaktionsaufforderung bei in die Fahrbahn laufenden Fussgangern stark mittel schwach
1
:~
1
1
I 1
1(8 Irg
I 1
1(8 Irg
Abb. 5.3 Feldversuch mit verdeckt auftauchenden FuBgangerpuppen (aus [3])
Sowohl in diesem Feldversuch als auch in neueren Fahrsimulatoruntersuchungen zum Fahrerverhalten in Notbremssituationen konnten typische Fahrerverhaltens-
74 5 Fahrerassistenzsysteme im Entwicklungsprozess
muster - zogerlicher bzw. unzureichender Bremsdruckautbau - identifiziert werden und mit der Bremspedalgeschwindigkeit ein primarer Parameter zur Situationserkennung ermittelt werden (Abb. 5.3). Diese Ergebnisse stellten die Basis dar zur Serieneinfiihrung des Bremsassistenten in Mercedes-Benz PKW [6].
1m Unfallentstehungsprozess ist neben der Eingriffsart durch den Fahrer die Reaktionszeit von erheblicher Bedeutung. In kritischen Situationen mit eingeschrankter Wahmehmbarkeit und mehreren Handlungsaltemativen kann sich die Reaktionszeit des Fahrers drastisch verlangem. Ursachen konnen Fehlinterpretationen der Manover anderer Verkehrsbeteiligten oder in fahrereigenen Defiziten liegen (z.B. Ablenkung, Miidigkeit, Alkohol).
Der Fahrereingriff mit den Handlungsmustem Bremsen/Beschleunigen undloder AusweicheniStabilisieren durch Lenkmanover ist der zweite bedeutende Einflussfaktor, der den Ablauf der Pre-Crash-Phase bestimmt. Fahrsicherheitssysteme wie ABS, ASR und ESP (s. Beitrag Haller, Kap. 2) unterstUtzen dabei den Fahrer, sein Fahrzeug in einer kritischen Situation zu beherrschen.
Ein erhebliches Problem stellt sich aber wahrend der Entwicklung dadurch, dass es nahezu unmoglich ist, alle im realen Verkehr auftretende Auspragungen der betrachteten kritischen Situation vorauszudenken. Das fiihrt dazu, dass immer eine Restunsicherheit iiber die Wirksamkeit eines neuen Systems im realen Verkehrsgeschehen erhalten bleibt. Hilfreich sind deshalb Situationskategorien, die wahrend des Entwicklungsprozesses systematisch untersucht werden konnen. Nach Farber [2] sind dabei die folgenden Beschreibungsdimensionen besonders wichtig:
- Vorhersehbarkeit - Manovrierraum - Geschwindigkeit
Unter Vorhersehbarkeit ist sowohl die Pradiktion des Verhaltens anderer Verkehrsteilnehmer als auch die Kenntnis des Fahrverhaltens des eigenen Fahrzeugs zu verstehen. Der Manovrierraum ist durch die StraBenbreite, Randbebauungen und der Gefahrlichkeit potenzieller Kollisionspartner definiert. Die Geschwindigkeit beinhaltet die Dynamik des Verkehrsgeschehens im gegebenen Umfe1d (visueller Fluss) mit KenngroBen wie "time to collision" in Langsrichtung und "time to line-crossing" in Querrichtung.
5.3 Klassisfikation von Fahrerassistenzsystemen
Bevor naher auf den Entwicklungsprozess fiir Fahrerassistenzsysteme eingegangen wird, solI hier ein in der DaimlerChrysler F orschung verwendetes Klassifikationsschema vorgestellt werden, das sich im Rahmen der notwendigen Priorisierung von Assistenzsystemen als sehr hilfreich erwiesen hat.
Die Klassifikation von Fahrerassistenzsystemen erfolgt unter Betrachtung des Zusammenwirkens von Fahrer-Fahrzeug-Umfeld aufmehreren Dimensionen. Die Fahrzeugfiihrung lasst sich dabei in drei Ebenen der Fahraufgabe unterteilen [4]:
Navigation Bahnfohrung Stabilisierung
5.3 Klassisfikation von Fahrerassistenzsystemen 75
Die Navigationsebene beinhaltet die Routenplanung und die Organisation der geplanten Fahrt. Die BahnfUhrung umfasst die Einhaltung von Zielgr6Ben hinsichtlich Fahrgeschwindigkeit, Abstand zu anderen Fahrzeugen und des vorgegebenen Fahrbahnverlaufs. In der Stabilisierungsebene ist die Regelung des Fahrzeugs bzgl. fahrdynamischer Grenzen enthalten. Unter Einbeziehung der Funktion bzw. des Automatisierungsgrades von Fahrerassistenzsystemen ist eine Unterteilung nach folgenden Kategorien sinnvoll:
Information Warnung EingrifJ
Unter der Kategorie Eingriff ist ein breites Spektrum von Fahrerassistenzfunktionen beinhaltet. Dabin sind sowohl fahrerunterstiitzende Funktionen mit dem Schwerpunkt Fahrentlastung (Geschwindigkeitsregelung, Abstandsregelung, u.a) und Fahrsicherheit (Bremsassistent, ESP, ABS) enthalten als auch zukiinftige Fahrerassistenzfunktionen, die automatisch in die FahrzeugfUhrung eingreifen k6nnen - ggf. auch ohne unmittelbare Aktivierung durch den Fahrer (Notbremsung, Spurhaltung, autonomes Fahrem, etc.).
Hinsichtlich der Anforderungen an den Fahrer sind folgende Dimensionen beispielhaft zu beriicksichtigen:
• Nutzungsdauer (ist z.B. mitbestimmend fUr das Lemverhalten des Fahrers, Fahrerassistenzsysteme situationsangemessen zu benutzen)
• Konsequenzen (z.B. eines "Fehlers" in dem Fahrerassistenzsystem-Einsatz) • Dringlichkeit (ist mitbestimmend fUr die Zeitreserve, die der Fahrer z.B. fUr
die Verantwortungsiibemahme vom Fahrerassistenzsystem hat).
Autbauend auf dies en Dimensionen zeigen Tabelle 5.1 und 5.2 einen Ansatz und ein Beispiel fUr eine Klassifikation von Fahrerassistenzsystemen.
Tabelle 5.1 Klassifikationsansatz fur unterschiedliche Typen von Fahrerassistenzsystemen.
Automatisierung Information Warnung Eingreifen
Handlungsebene Navigation Fuhrung Stabilisation
Nutzungsdauer selten haufig permanent
Konsequenzen keine Komfort Gefahr
Dringlichkeit nicht dringlich dringlich sehr dringlich
76 5 Fahrerassistenzsysteme im Entwicldungsprozess
TabeUe 5.2 Beispiele fiir Klassifikationen
System Navigationssystem
Dimension
Automatisierung Information
Handlungsebene Navigation
Nutzungsdauer permanent
Konsequenzen Komfort
Dringlichkeit dringlich
Adaptive Cruise
Control
Eingriff
Bah nfii h ru ng
haufig
Komfort
dringlich
5.4 Ideenfindung, Ideenbewertung und Akzeptanzabschatzung
ABS
Eingriff
Stabilisierung
selten
Gefahr
sehr dringlich
Nach der Defizitanalyse ergeben sich in aller Regel sehr schnell Ideen fUr technische Assistenzsysteme, die die Fahrer in den erkannten, problematischen Situationen unterstiitzen und zu einer sicheren Situationsbeherrschung fUhren sollen.
Ein ideales Tool, urn diese Ideen schnell auf tatsachlichen Nutzen untersuchen zu konnen, ist der Fahrsimulator der DaimlerChrysler Forschung in Berlin. Hierzu miissen die relevanten Verkehrssituationen nachgebildet werden und die AIgorithmen fUr die Funktion des Assistenzsystems programmiert werden. Die Umfelddaten, die in der Realitat iiber die Sensorik erfasst werden miissen, liegen in der Fahrsimulation meist schon vor oder konnen geeignet vorgegeben werde. So gelingt es sehr schnell, einen ersten virtuellen Prototypen des angedachten Systems zu erstellen.
Mit diesem Prototyp konnen dann die Entwickler erste Tests durchfUhren. Nach einer ersten Optimierungsphase werden dann Untersuchungen mit Normalfahrem durchgefUhrt. Hierbei ist es iiblich, dass eine Stichprobe die relevanten Fahrsituationen ohne das neue Assistenzsystem zu bewaltigen hat, eine andere mit dem neuen System. Hieraus lasst sich dann sehr schnell abschatzen, ob ein tatsachliches Potenzial in der Systemidee vorhanden ist. Da wahrend der Simulatorversuche objektive Messdaten des Fahrzeug- und des Fahrerverhaltens erhoben werden, lasst sich die Nutzenbewertung eines neuen Systems objektivieren und versachlichen.
Aber auch die Gesprache mit den Probanden aus den Zielgruppen bringen wichtige Informationen iiber spatere Akzeptanzprobleme und Hinweise fUr die Schnittstellengestaltung zwischen Nutzem und Assistenzsystem. Dabei ergeben sich auch sehr haufig schon Erkenntnisse iiber die Anforderungen an Systemkomponenten, beispielsweise Sensoranforderungen, Schalter- oder Displaybedarf und erste Angaben dariiber, wie teuer denn das System werden darf, urn am Markt auf Akzeptanz zu stoBen.
5.5 Methoden und Tools zur SichersteUung der Gebrauchssicherheit 77
Erst wenn eine Systemidee sich in diesen Simulatoruntersuchungen bewahrt hat, setzt die eigentliche Systementwicklung ein. Je erfolgversprechender ein System nach diesen Versuchen eingeschatzt wird, desto hoher ist die zukiinftige Entwicklungsprioritat.
5.5 Methoden und Tools zur Sicherstellung der Gebrauchssicherheit von Fahrerassistenzsystemen in Fahrerhand
In den letzten Jahren hat sich durch viele nationale und intemationale Forschungsprojekte (z.B. RESPONSE [5]) gezeigt, dass es fUr eine erfolgreiche Entwicklung von Assistenzsystemen sinnvoll ist, bereits friih im Entwicklungsprozess darauf zu achten, dass die folgenden vier wichtigsten Kriterien erfUllt werden:
1. Transparentes Systemverhalten 2. Erwartungskonformitat der Systemeigenschaften 3. Moglichst intuitive Bedienbarkeit und leichte Erlembarkeit 4. Erkennbarkeit und Kommunikation von Systemgrenzen
Urn diese Ziele sicher erreichen zu konnen, hat sich aus unserer Sicht folgende Prozesskette wahrend der verschiedenen Entwicklungsphasen als sehr effizient bewahrt:
1. Systembeschreibung als Basis fUr den RESPONSE-Fragebogen [5]. Diese Beschreibung liegt meist als Simulatorsimulation erlebbar umgesetzt vor.
2. Anwendung eines modifizierten REPONSE-Fragebogens mit MMI- und Systemexperten zur friihzeitigen Erkennung von Problemrallen und Akzeptanzhindemissen,
3. Optimierung des Systemkonzeptes, 4. Virtuelles Prototyping der Schnittstelle zwischen Fahrer und System (MMI
Entwicklung) mit ausfUhrlichen Probandentests im MMI-Labor, 5. Simulatorversuch mit mindestens 40 Normalfahrem am fertigen virtuellen
Prototyp, 6. Prototypenbau und erste Fahrversuche im real en Fahrzeug und in realen Fahrsi
tuationen mit Entwicklungsexperten, 7. AbschlieBender Feldversuch vor Marktfreigabe, 8. Marktbeobachtung und Kundenbefragungen zur Systemnutzung und An
wendungsproblemen, 9. Feldversuch mit Normalfahrem aus der Zielgruppe zur Wirksamkeit und Ak
zeptanz.
Diese systematische, iterative Vorgehensweise mit verschiedenen Optimierungsschritten sichert nicht nur eine hochwertige Produktqualitat und hohe Kundenakzeptanz, sondem fUhrt auch zu groBtmoglicher Sicherheit und Komfort bei der Nutzung von Fahrerassistenzsystemen.
78 5 Fahrerassistenzsysteme im Entwicklungsprozess
5.6 Zukunftige Entwicklungen bei Fahrerassistenzsystemen
Aufbauend auf dem hohen technologischen Know-how hat sich im Hause DaimlerChrysler die Zukunftsvision yom unfallfreien Fahren entwickelt. Ein hochgestecktes Ziel, das sich nur schrittweise erreichen Hisst. Eine Basis hierftir ist die Weiterentwicklung der technologischen Moglichkeiten wie Systemvemetzung und Sensorfusion sowie die erwartete Weiterentwicklung der Rechnerleistung, urn das Fahrumfeld identifizieren und analysieren zu konnen. Stichworte hierzu sind PreCrash-Sensorik, Rechnersehen, Systemvemetzung mit Navigation und Ortung (GPS), Nightvision und Drive-by-Wire bis hin zum teilautomatisierten Fahren in Situationen mit geringer Komplexitat.
Unumganglich und mindestens genauso wichtig wie die technologische Weiterentwicklung ist aber auch die Optimierung des Systems Mensch und Fahrzeug. Erst das fehlerlose Zusammenspiel zwischen Mensch und Technik wird die Unfallzahlen entscheidend senken konnen. Dies ist aber bei der groBen Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Autonutzer und der Nutzungsprofile eine immense Herausforderung an Forschung und Entwicklung. Hier sind Entwicklungen wie Fahrertyperkennung, robuste Bedien- und Anzeigekonzepte, individualisiertes MMI, situationsadaptives MMI sowie MMI-Konzepte, die einen wirklich einfachen und intuitiven Umgang mit den neuen Systemen ermoglichen, notwendig.
Literatur
[1] Becker, S. (1999) Methoden einer nutzerzentrierten Entwicklung von Elektroniksystemen und Abschatzung von Produktakzeptanz, 5. Euroforum- Jahrestagung Elektronik -Systeme im Automobil
[2] Farber, B. (1987). Geteilte Aufmerksamkeit. Verlag TOV Rheinland [3] Haller, R. (2001). Fahrer-Assistenz versus Fahrer-Bevormundung: Wie erreicht man
dass der Fahrer Herr der Situation bleibt? Beitrag in diesem Band [4] Johannsen, G.; Boller, H.E.; Donges, E.; Stein, W.H. (Hrsg.) (1977). Der Mensch im
Regelkreis, Lineare Madelle. Munchen, Wien: Oldenbourg Verlag [5] Kopf, M. & Becker, S. (2000). Versuch eines zweistufigen multidisziplinaren Bewer
tungsverfahrens fur Fahrerassistenzsysteme, In K.-P. Timpe, H.-P. Willumeit & H. Kolrep (Hrsg.), Bewertung van Mensch-Maschine-Systemen, 3. Berliner Werkstatt Mensch-Maschine-Systeme, 6.-8. Okt. 1999, Berlin (ZMMS-Spektrum, Band 11). Dusseldorf: VDI-Verlag, 254-268
[6] Reichelt, W. (1997). Der neue Brake Assist von Mercedes-Benz Steiner, M. ATZ 99, 12-18
[7] Zomotor, A. (1991). Fahrwerktechnik: Fahrverhalten. Vogel Verlag
leil II
F ah rermodelle
6 Adaptive Modellierung des FahrerverhaltensEin Kernelement fur die kognitive Kooperation bei zukunftiger Fahrerassistenz
Reiner Onken, Hans-J6rg Otto und Udo von Garrel
6.1 Einleitung
Die Zeit ist gekommen, dass der Einzug der Automatisierung in den Arbeitsprozess der Fiihrung eines Kraftfahrzeugs mit Nachdruck vorangetrieben wird. Adaptive Cruise Control (ACC) ist zur Zeit ein signifikanter Entwicklungsschritt in dieser Richtung (s. auch Kap. 2 und 3 in diesem Band). Andere Schritte werden folgen, wie zum Beispiel automatische Funktionen fUr Stop&Go (S&G) Stop&GoAutomatisierung, Spurhalten etc. (i.e. Hipp, 2001), Assistenzfunktionen mit kontinuierlicher Zunahme autonomer, kognitiver Fahigkeiten. In gleicher Weise vollzieht sich auch eine Entwicklung im Sinne automatischer Assistenzfunktionen mit autonomen, kognitiven Fiihigkeiten im Bereich der Fahrausbildung.
Angesichts dieser Entwicklung, fUr die gem das autonom fahrende Fahrzeug als erreichbares Endprodukt angefUhrt wird, ist doch immer noch zu berucksichtigen, dass die drei Komponenten Fahrzeugsystem einschlieBlich Automatisierung, Fahrer und umgebende Welt, in der sich das Fahrzeug bewegt, im Sinne der Erreichung einer bestm6g1ichen FahrzeugfUhrung als Gesamtheit zu betrachten sind. Es ist aber auch eine Tatsache, dass gerade die technischen Fiihigkeiten, die fUr das autonome Fahren unter Heranziehung von Automatisierungs- bzw. Informationstechnik und kognitivem "Engineering" aufgebaut werden k6nnen, unverzichtbar sind, urn das kooperative Zusammenspiel der drei fUr die FahrzeugfUhrung entscheidenden Komponenten zu bewirken.
Kognitive Automation im Unterschied zu Konventioneller Automation steht als neue Notation fUr diese technische Entwicklung in der Automatisierung wie auch die damit erreichbare Kognitive Kooperation zwischen Fahrer und Fahrzeugsystern (Assistenzsystem), was auch zu einer veriinderten Definition von Automation an sich fUhrt.
Kognitive Kooperation bei der FahrzeugfUhrung kann nur funktionieren, wenn beide kognitiven Wirkkomponenten, der Fahrer und die automatischen Funktionen des technischen Systems, geniigend voneinander wissen, d.h. ein ausreichend val ides Modell von der Leistungscharakteristik und dem Prozessverhalten des anderen haben. Deshalb wird eine Systemfahigkeit zum Erlemen von Verhaltenseigenschaften des Fahrers wahrend des Fahrbetriebs verlangt, urn sich im Sinne der Ko-
82 6 Adaptive Modellierung des Fahrerverhaltens
operationsfahigkeit und Fahrsicherheit an den Fahrer angemessen anpassen zu konnen. Darauf soil im Folgenden insbesondere eingegangen werden, nachdem erHiutert worden ist, was kognitive Kooperation, aufbauend auf kognitiver Automation, bedeutet.
6.2 Kognitive Kooperation - Das besondere Potenzial der kognitiven Automation
Zunachst ist naher darauf einzugehen, was kognitive Automation eigentlich bedeutet. Der Unterschied zwischen kognitiver und konventioneller Automation kann anhand des bekannten 3-Ebenen-Funktionsschemas zum kognitiven Verhalten des Menschen im Arbeitsprozess (Abb. 6.1) nach (Rasmussen, 1983) anschaulich umrissen werden.
Rule·Based Behaviour
Skill· Based Behaviour
kognitive Automation
Patterns
~~I~,---------------------, I konventionelle Automatisierung I
Abb. 6.1 Konventionelle versus kognitive Automation
Die Abb. 6.1 zeigt, dass mit der konventionellen Automation nur ein Teil - etwa die Halfte - der im Funktionsschema enthaltenen kognitiven Elemente abgedeckt wird. Bei der konventionellen Automation sind insbesondere diejenigen kognitiyen Funktionselemente nur sparlich ausgebildet, welche die Zielsetzungen des Arbeitsprozesses bereitstellen und welche zur Erzeugung eines Gesamtbildes der Situation des Arbeitsprozesses benotigt werden und sich iiber aIle drei Ebenen verteilen. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass konventionell automatisierte Funktionen das Situationsbewusstsein des Operateurs (Fahrers) nur sehr unvoIlkommen aktiv unterstiitzen konnen. Eine automatisierte Situationserfassung wird nicht geschlossen fUr aIle automatisierten Einzelfunktionen vorgenommen,
6.2 Kognitive Kooperation 83
sondern nur jeweils getrennt flir die einzelnen Teilfunktionen. Fiir jede Einzelfunktion werden nur diejenigen Teilziele beriicksichtigt (in der Regel nicht explizit) und diejenigen Situationsmerkmale registriert (deren Zahl ist in der Regel sehr klein im Vergleich zur Gesamtzahl der fUr den Arbeitsprozess relevanten Merkmale), die zur Ausfiihrung aus Sicht der jeweiligen Einzelfunktion verfolgt werden miissen. Beispielsweise bestimmt ein einfaches System als Einzelfunktion zur Geschwindigkeitsregelung die Abweichung von der vorgegebenen Sollgeschwindigkeit und veriindert entsprechend die Geschwindigkeit, urn die Sollgeschwindigkeit zu halten. Irgendein Hindernis, das im Wege ist, wird dabei nicht beriicksichtigt. Diese automatische Funktion verhindert somit nicht eine Kollision. Hier verHisst man sich darauf, dass der Fahrer von sich aus die Situation iibersieht. Ein ACC-System ist hier schon besser, wenn auch bisher bei weitem noch nicht in allen Situationen. Es macht auch keinen Sinn, Wissen zu den iibergeordneten Zielen des Arbeitsprozesses explizit in einer konventionell automatisierten Einzelfunktion verfiigbar zu haben, da aufgrund der mangelhaften Kenntnis der Gesamtsituation dieses Wissen nicht ausreichend zuverlassig verwertet werden kann.
1m Unterschied zur konventionellen Automation besitzen Systeme der kognitiyen Automation wissensbasierte Fahigkeiten, urn
• eigenstandig (autonom) dafUr zu sorgen, dass die in einer Fahrsituation erforderlichen situationsrelevanten Informationen zur Verfiigung stehen,
• die Fahrsituation auf der Grundlage der verfiigbaren Informationen vollstandig zu verstehen,
• Fehlverhalten des Fahrers zu erkennen, • zu erkennen, welche Information dem Fahrer helfen kann, • sinnvolle Empfehlungen an den Fahrer hinsichtlich des weiteren Vorgehens zu
erzeugen, und • die Kommunikation mit dem Fahrer in menschgerechter Form einzuleiten und
damit sicherzustellen, dass das technische kognitive System standig sein Situationsverstandnis mit dem des Fahrers abgleicht. Dabei wird standig festgehalten, was der Fahrer an Information benotigt und was er davon aufgenommen hat und somit wird er aktiv unterstiitzt, dass die wichtigen der prasentierten Informationen von ihm zum richtigen Zeitpunkt aufgenommen und richtig verstanden werden.
Das technische kognitive System arbeitet entsprechend Abb. 6.1 nach sehr ahnlichen funktionalen Prinzipien wie der Fahrer. Die Grundlage flir die Auslosung und das Agieren automatischer Funktionen sind die Zielsetzungen des zugrundeliegenden Arbeitsprozesses, wie sie auch der Fahrer kennt und als Grundlage seines Handelns sieht. Allerdings solI dabei die kognitive Automation in der Regel den Menschen nicht kopieren und ersetzen. Stattdessen konnen die in der technischen Umsetzung entstehenden Unterschiede in der funktionalen Leistungsfahigkeit moglicherweise so gezielt eingesetzt werden, dass Fahrer und kognitive automatische Funktionen sich hinsichtlich ihrer Leistungsfahigkeit komplementar erganzen. Die herausragenden kognitiven Fahigkeiten des Menschen werden dabei bewusst flir den Arbeitsprozess freigesetzt und die Schwachen mit den automatischen kognitiven Fahigkeiten gezielt unterstiitzt.
84 6 Adaptive Modellierung des Fahrerverhaltens
Letzteres ist der Kern der sog. kognitiven Kooperation, wie in der Abb. 6.2 fUr einen Arbeitsprozess mit Assistenzsystem dargestellt wird. Ein auf der Basis der kognitiven Automation erstelltes Vnterstiitzungssystem nimmt dabei die Rolle eines zwar untergeordneten, aber sehr fahigen, kooperierenden elektronischen Team-Mitglieds zur DurchfUhrung des Arbeitsprozesses wahr, in gleicher Weise, wie sie auch ein Mensch auszufUllen versuchen wiirde. Das elektronische TeamMitglied ist nicht nur dazu da, urn explizite Instruktionen des Menschen (Fahrers) auszuftihren, es versucht auch zu verstehen, warum diese Instruktionen gegeben wurden. Dariiber hinaus besitzt es auch das erforderliche Wissen, urn von sich aus eine Einschatzung zu gewinnen, ob die erhaltenen Instruktionen den iibergeordneten Zielsetzungen fUr den Arbeitsprozess entsprechen und ergreift u.V. eigene Initiativen, wenn es dies zur Erreichung der Zielsetzung fUr notwendig halt. Vltimativ, z.B. urn eine Katastrophe zu vermeiden, konnte sogar der Fall eintreten, dass es von sich aus ohne Autorisierung durch den Teamkollegen "Mensch" in den Prozess entscheidend eingreift. Trotz eindeutiger Hierarchie im Team kann die Rollenverteilung somit im Verlauf des Arbeitsprozesses grundsatzlich erheblich schwanken.
--... Planung und Scheduling
~ -r"'" ./ S· I S· " Ituat ons - Ituatlons-diagnose interpretation
~
Kognitives Assistenzsystem
~ Situations- Situations-
interpretation diagnosis
~ Planung und
Jf ~ Scheduling Entscheidung
~
Kognitives System Mensch
Abb. 6.2 Der kooperative kognitive Ansatz fur ein kognitives Assistenzsystem
Die Ausweitung der Automatisierung hin zur kognitiven Automation und kognitiyen Kooperation fUhrt auch zu einem neuen begrifflichen Verstandnis. Der Ersatz des Menschen im Arbeitsprozess durch Automatisierung ist nicht mehr das wesentliche Element, sondern die Kooperation:
Automatisierung ist eine technische Ressource ftir die Kooperation im Arbeitsprozess. Der Einsatz dieser Ressource geschieht so, dass die technische Wirkkomponente im Arbeitsprozess von eigenen Fahigkeiten niedrigen bis sehr hohen kognitiven Niveaus eigeninitiativ Gebrauch macht, urn im autorisierten Rahmen im Team mit der Wirkkomponente Mensch so zu agieren, dass die Zielsetzung des Arbeitsprozesses mit hochstmoglicher Produktivitat (Wirkungs-/Kosteneffektivitat und Sicherheit) erreicht wird. Der Autorisierungsrahmen wird spezifisch festgeiegt, einerseits im technischen Systemkonzept durch den Entwickler, zum anderen durch die Wirkkomponente Mensch im Verlauf des Arbeitsprozesses. Die Funkti-
6.3 Adaptive Modellierung des Fahrzeugfiihrungsverhaltens 85
onen der automatisierten technischen Wirkkomponente konnen pauschal zusammengefasst werden unter Funktionen zur
• Informationserfassung (Wahmehmung, Kommunikation) • Informationsverarbeitung ( Prozessflihrung, Entwicklung von Vorgehen und
Handlung) • Effektorik (Informationspriisentation, Aktuatorik)
Der Automatisierungsgrad (LoA, Level of Automation) ist dabei von verschiedenen Faktoren abhiingig und somit mehrdimensionaI. Die Dimension 1 des LoA mag dem bisherigen Verstiindnis entsprechen, wonach der Grad des Ersatzes des Menschen im Arbeitsprozess ausgewertet wird. Mit der Dimension 2 des LoA wird dem Niveau der kognitiven Fiihigkeiten Rechnung getragen (kognitive Kompetenz). Die Dimension 3 des LoA gibt Aufschluss liber den Umfang an funktionalen Fiihigkeiten, die zur Kooperation einsetzbar sind. (Kooperationskompetenz).
6.3 Adaptive Modellierung des Fahrzeugflihrungsverhaltens
Kognitive Kooperation ist vermutlich der mit Priiferenz einzuschlagende Weg bei der Weiterentwicklung von Fahrerassistenzsystemen. Dabei bedingt kognitive Kooperation die richtige Einschiitzung des Fahrerverhaltens durch das Assistenzsystem. Hierzu ist es erforderlich, dass ein individuelles Modell des Fahrzeugfiihrungsverhaltens der fahrenden Person in der Wissensbasis des Assistenzsystems zur Verfligung steht. Da dies bei Antritt der Fahrt nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann, muss davon ausgegangen werden, dass die adaptive Modellierung nur online in Form eines Lemvorgangs erfolgen kann.
Modelle des Fahrverhaltens von Kraftfahrem werden heute auf der Basis unterschiedlichster Konzepte und unter Verwendung verschiedenster Methoden entwickelt und flir eine Vielzahl von Anwendungsbereichen eingesetzt (Kopf, 1993; Jiirgensohn, 1997, Jiirgensohn et aI., 1997, Wolter et aI., 1997; Schreiner, 1999).
1m folgenden solI ein Modell priisentiert werden, das eine Weiterentwicklung bereits erfolgreich an der Universitiit der Bundeswehr getesteter Fahrermodelle darstellt (Feraric, 1996; Grashey, 1999) und der folgenden elementaren Zielsetzung entspricht (Otto et aI., 2001):
Situations- und fahreradaptive Modellierung des fertigkeits- und regelbasierten F ahrzeugfiihrungsverhaltens.
Es wird dabei eine fahreradaptive Modellierung fUr ein Innenstadtszenario angestrebt, was eine besondere Herausforderung hinsichtlich der Situationskomplexitiit darstellt. Dariiber hinaus solI das Modell ohne explizite Befragung des abzubildenden Fahrzeugfiihrers auskommen und fUr den fertigkeitsbasierten Modellanteil ein Modelltraining online ermoglichen. Das Modell solI in der Lage sein, sowohl eine Beschreibung des individuellen Fahrerverhaltens lief em zu konnen, als auch unter Echtzeitbedingungen als RegIer einsetzbar sein. Weiterhin wird eine Analysierbarkeit bzw. Weiterverarbeitbarkeit des abgebildeten Wissens
86 6 Adaptive Modellierung des Fahrerverhaltens
im Sinne der Anwendung gefordert. Vorlaufig wird die adaptive Modellierung fur eine Assistenzanwendung in einem weitgehend automatisierten simulatorbasierten Fahrausbildungssystem untersucht. Dies ist die Anwendung von kooperativer Kognition in einem intelligenten tutoriellen System. 1m Unterschied zur Anwendung in einem fahrzeugseitigen Assistenzsystem konnen hier Sensorprobleme zuniichst vemachliissigt werden, da die erforderlichen Informationen zu Situationsmerkmalen, auch solche in symbolischer Form, grundsatzlich im Simulator bereitgestellt werden konnen.
Das grundlegende Konzept zur Modellbildung beruht auf der Identifikation des Fahrerverhaltens durch Beobachten und Verwendung lemfahiger Komponenten. Die lemfahigen Komponenten sind in ein normatives Verhaltensmodell eingebettet (v. Garre! et ai., 2000). Der Basisautbau orientiert sich am Informationsverarbeitungsprozess des Menschen und bezieht sich auf die fertigkeits- und regelbasierte Verhaltensebenen des Rasmussenmodells.
Einem Fahrzeugfuhrer stehen in einer Verkehrssituation verschiedene Handlungsaltemativen zur Auswahl, von denen er eine entsprechend seiner Zie!e, Erfahrungen und Erwartungen auswiihlt und ausfuhrt. Weiterhin basiert die Mode!lierung der Verkehrssituationen auf der Theorie der prototypischen Fahraufgaben und wird ergiinzt durch eine objektorientierte Betrachtungsweise und eine strukturelle Dekomposition der Fahraufgaben (Abb. 6.3).
Fahrer/Fahrzeug/Umwelt
_______________________ Ges~tmode~
Abb. 6.3 Modellarchitektur
Damit erfolgt die der automatischen Wissensakquisition zugeordnete Modellbildungsphase in zwei Stufen. Zuerst erfolgt das Training des fertigkeitsbasierten Modellanteils unter Echtzeitbedingungen durch Beobachten des Fahrers. In einer nachfolgenden zweiten Phase wird der Modellteil, der die regelbasierte Fahrzeugfuhrungsebene erfasst, unter Verwendung der Ergebnisse der fertigkeitsbasierten Modellierung trainiert. Der Modellteil, der die Auswahl aus mehreren Handlungsaltemativen nach fahrerindividuellen Regeln beschreibt, wird im Folgenden auch mit Entscheidungsmodell bezeichnet. Die EingangsgroBen fur das Modell sind ZustandsgroBen tiber die "Fahrer-Fahrzeug-Umwe!t"-Situation und die AusgangsgroBen sind zum einen StellgroBen und zum anderen symbolische Informationen tiber den Fahrzeugfuhrungsprozess.
6.3 Adaptive Modellierung des Fahrzeugftihrungsverhaltens 87
Nach der Ermittlung aller relevanten ZustandsgroBen von "Fahrer-FahrzeugUmwelt" uber eine Sensorik erfolgt eine Situationsbeschreibung. Dort werden auf Basis aller relevanten Objekte der Verkehrszenerie sog. Fahraufgaben formuliert. Fur diese Fahraufgaben werden Handlungsaltemativen generiert und mit einem Merkmalsvektor attributiert. Eine solche Handlungsaltemative wird als geschlossene Einheit eines bestimmten zeitlichen Verlaufs von Stelleingriffen des Fahrers zur Losung der Fahraufgabe in Langs- und QuerfUhrung verstanden. Eine so definierte Handlung ist somit zielgerichtet und zeitlich ausgedehnt. Die Auswahl der gultigen Handlungsaltemative stellt einen regelbasierten Entscheidungsvorgang dar (Jensch et aI., 1978). Davon getrennt ist der fertigkeitsbasierte Anteil mit der DurchfUhrung der Handlung.
Werden die nacheinander ausgewahlten Handlungsaltemativen als Zustande im FahrzeugfUhrungsprozess betrachtet, so mussen die Zustandsiibergange festgelegt werden. Diese Ubergange werden als Entscheidungsvorgange des Fahrers interpretiert und adaptiv erlemt. Das entsprechende Entscheidungsmodell bildet das Verhalten des FahrzeugfUhrers bei der Auswahl aus mehreren fUr die gegebene Fahrsituation moglichen Handlungsaltemativen abo
Fahrer Fahrzeug Umgebung
r---+ Sensoren
+ Situations- Entscheidungs-interpretation Modell
+ t relevante Lern-Aktivitiits-alternativen algorithm us , 1
",- -.... Fertigkeits- ........ ."..
1-+ Aktiviriits-basiertes hypothesen Fallbasis Verhalten
........ ."..
Abb. 6.4 Lernvorgang des Entscheidungsmodells als Teilkomponente eines adaptiven Fahrerverhaltensmodells.
Zum Aufbau eines Entscheidungsmodells wird eine halbautomatisierte Lemkomponente verwendet (Abb. 6.4). Ausgehend von den bereits erlemten trainierten Modellbestandteilen zur Nachbildung des fertigkeitsbasierten FahrzeugfUhrungsverhaltens werden zur Bildung des Entscheidungsmodells zunachst die fUr den Fahrer aktuell giiltigen Handlungsaltemativen als Fallbeispiele identifiziert. Die identifizierten Handlungsaltemativen werden dann zusammen mit dem zugehorigen Merkmalsvektor einem Lemverfahren prasentiert. Die Auswahl einer Handlungsaltemative wird somit als Klassifikationsproblem behandelt. Ais mogli-
88 6 Adaptive Modellierung des Fahrerverhaltens
ches maschinelles Lemverfahren wurde ein Entscheidungsbaumlemverfahren ausgewiihlt.
Das fertigkeitsbasierte Verhalten, das den Verlauf der Aktionen des Fahrers zur Durchfiihrung einer ausgewiihlten Handlungsaltemative beschreibt, wird in einem separaten Lemvorgang modelliert. Fertigkeitsbasiertes Verhalten bei der Fahrzeugfiihrung ist das unbewusste Abbilden von einkommender Wahmehmungsinformation in Steueraktionen.
Ein solches Verhalten kann als eine Uberlagerung von deterministischen und stochastischen V organgen betrachtet werden und ist prinzipiell diskontinuierlich, nichtlinear und zeitvariant. Der Fahrer besitzt eine unbewusste mentale Erwartung hinsichtlich des dynamischen Systemverhaltens. Urn die Abbildung zwischen den Wahmehmungssignalen und Steuersignalen zu identifizieren, wird hier der Ansatz der Beobachtung gewahlt. Hierbei wird dem Fahrer ein technischer Verarbeitungsprozess parallel geschaltet, der die notwendigen Informationen iiber das Fahrzeug und die Umwelt erfasst. Auf der anderen Seite wird diesem System die momentane Aktion des Fahrers zugefiihrt.
Die Aufgabe der Identifikation des individuellen Fahrerverhaltens auf der Grundlage dieses Ansatzes stellt eine groBe Herausforderung fUr ein Online-Lemverfahren dar, weil folgende Gesichtspunkte beriicksichtigt werden miissen:
• Das Lemverfahren muss die zeitliche Struktur der Daten ( Y(X,tl) "* y(x,tz) ) beriicksichtigen; (Ohne Beriicksichtigung dieser Struktur ergabe sich lediglich ein Durchschnittsmodell).
• Das Verfahren muss die Fahigkeit besitzen, bereits bekannte Fakten weiter zu verfeinem und gleichzeitig neue Fakten aufnehmen. Viele Lemverfahren sind nicht in der Lage, bereits erlemtes Wissen dauerhaft zu speichem, oder dieses sogar zu verfeinem.
• Die Trainingsphase muss online und unter Echtzeitbedingungen moglich sein; Lange Trainingszeiten reduzieren den praktischen Nutzwert einer derartigen Komponente erheblich.
• Seltene Ereignisse miissen ebenso Beriicksichtigung finden wie hiiufige. (Etwa eine selten auftretende Vollbremsung bzw. Beschleunigungsspitzen).
Aufgrund dieser Anforderungen wurde ein neuer Ansatz zur Online-Modellbildung des Fahrerverhaltens entwickelt, welcher einen effizienten Trainingsalgorithmus fUr allgemeine neuronale Regressionsnetze verwendet.
Allgemeine neuronale Regressionsnetze (GRNN, s. Specht, 1991, bzw. Schioler, 1991) sind spezielle RBF-Netze zur linearen und nichtlinearen Regressionsanalyse, die eine zugrundeliegende Verteilungsdichtefunktion unter Verwendung der Parzen-Fenster-Methode (Parzen, 1962) approximieren. 1m Gegensatz zur statistischen Regression ist bei diesen Netzen keine Annahme hinsichtlich der Funktionsform fUr die abhiingige bzw. unabhangige Variable erforderlich. Insbesondere wegen ihres guten Extrapolationsverhaltens und der beweisbaren Stabilitat, haben sich GRN-Netze zur Funktionsapproximation etabliert. Fiir groBe Trainingsmengen sind einfache Regressionsnetze jedoch ungeeignet, da sie linear mit der Anzahl der eingehenden Trainingsmuster wachsen und somit die fUr die Regression benotigte Rechenzeit unverhiiltnismaBig hoch wird.
6.4 Ergebnisse 89
Dieser Algorithmus optimiert die NetzwerkgroBe und ermoglicht dadurch die Verarbeitung groBer Trainingsmengen. Die Methode kombiniert eine inkrementelIe Lernstrategie unter Beriicksichtigung der aktuellen Modellprognosegiite mit einer raumorientierten Datenstruktur zur effizienten Verarbeitung der Neuronen, die die aktuelle Approximation beeinflussen. Weil GRNN-Neuronen lokal begrenzte Einflussbereiche besitzen, wird die Approximation nur auf einer Teilmenge aller Neuronen durchgefiihrt. Das Verfahren bestimmt lokale Gliittungsparameter automatisch so, dass weitgehend "glatte" Funktionsverliiufe erzeugt werden. Hierbei wird eine Strategie verfolgt, die auf dem DDA- Prinzip (Berthold, 1997) basiert. Des weiteren passt es sich schnell neuen relevanten Daten an, ohne alte, immer noch relevante Informationen zu vergessen (Stabilitiits- vs. Plasitzitiitsdilemma, Carpenter, 1991).
Die Neuronen stellen lokale, lineare und nichtlineare Modelle dar. Neue Neuronen werden nur dann hinzugefiigt, wenn die Modellprognosegiite als nicht ausreichend eingeschiitzt wird. Die Priidiktion des Modells auf einen Eingabevektors x ergibt sich als normierte gewichtete Summe individueller lokaler Modellpriidiktionen Yk:
n
LAj(x)y/x) G(x) = ..<..j=-'-n----
LYj(x) j='
Y .(x) = exp( Ilx - cjll ] ] 20- 2
]
(6.1)
Hierbei ist 0" die Weite (Ausdehnung) und c das Zentrum (Stiitzstelle) eines 10-kalen Modells. Jedes lokale Modell approximiert eine einfache parametrische Funktion, wobei aus Griinden der Zeiteffizienz lineare Ansiitze Verwendung finden:
4(X)=w; ·X (6.2)
Die Gewichtsvektoren waller relevanten linearen Modelle werden nach jeder Priisentation einer neuen Eingabe adaptiert. Hierzu wird die Methode der rekursiyen kleinsten Quadrate (RLS) verwendet. Die rekursive Adaption konvergiert garantiert gegen den optimalen Gewichtsvektor, wobei auf die zeitkomplexe Matrixinversion der iiblichen multiplen Regression verzichtet werden kann. Fiir den Gleichungsfehler wird angenommen, dass er durch gleichverteiltes weiBes Rauschen mit dem Mittelwert null und einer konstanten Streuung beschrieben werden kann.
6.4 Ergebnisse
In diesem Abschnitt wird auf zwei Beispiele zu Ergebnissen der Modellierung des fertigkeitsbasierten Verhaltens kurz eingegangen. Diese Beispiele betreffen die Liingsfiihrung bei Fahrsituationen im Innenstadtszenario. Dabei wird die Bezie-
90 6 Adaptive Modellierung des Fahrerverhaltens
hung nach Gazis et ai. (1961) flir die Abbildung von den Situations stimuli auf Handlungsreaktionen des Fahrers benutzt:
Fahrerreaktion = art) . Situationsstimu/us, wobei a(t) eine zeitabhiingige fahreradaptive Funktion ist, die zu lernen ist. Die Situations stimuli konnen vieIniltig sein, wie z.B. die sog. Zeit bis zu einer Kollision, der Abstand zu einem vorausliegenden Hindernis usw.
In dem ersten Beispiel wird ein repriisentatives Ergebnis unter Benutzung der vorab beschriebenen Lernkomponente fUr die zwei Handlungsalternativen "Freies Fahren" und "Anhalten vor einer roten Ampel" dargestellt. Das entsprechende IRT-Netz flir die Handlungsalternative "Anhalten vor einer roten Ampel" wurde auf zwei Eingangsmerkmale und entsprechende Situations stimuli trainiert: Geschwindigkeit des eigenen Fahrzeugs und Abstand zur Ampel. Fiir die Handlungsalternative "Freies Fahren" wurde nur die Geschwindigkeit benutzt. Wie in der Abb.6.5 gezeigt, verhiilt sich das entsprechend trainierte Modell in der Vergleichsfahrt zum modellierten Fahrer stabil und im Verhalten sehr iihnlich.
~ 2 SI DO § 0 .~ ·1
ill ·2
ii -3 ., ~ -4
-5
-6
- Modell - Fahrer
-70~------I~OO------~2~OO------3~OO------~----~~----~~
Zeit [1/30s]
Abb. 6.5 Vergleich des Beschleunigungsverhaltens von Fahrer und fahreradaptivem Modell (freies Fahren und Abbremsen vor einer roten Ampel).
Das zweite Beispiel stellt ein Ergebnis fUr die Handlungsalternative "Folgefahren" dar. In diesem Fall wird ein spezieller Modellansatz (l-m-Modell) (Gazis et ai., 1961) direkt als Abbildungsbeziehung zugrundegelegt: Hiermit wird dargestellt, dass die Beschleunigung des eigenen Fahrzeugs zur Zeit t + T von der Geschwindigkeit zur Zeit t, der Geschwindigkeit relativ zu einem moglicherweise vorausfahrenden Fahrzeug und dem Abstand zwischen den Fahrzeugen abhiingt. T ist dabei die Reaktionszeit des Fahrers. Die Parameter T, a, m und 1 sind zu jedem Zeitpunkt an den Fahrer anzupassen. Leutzbach (1988) schlug ein psychophysikalisches Abstandsmodell vor, das auch auf gewisse Einschriinkungen des I-mModells hinsichtlich des tatsiichlichen Fahrerverhaltens beim Folgefahren in unterschiedlichen Abstiinden eingeht. Jenseits einer bestimmten Entfernung vom vorausfahrenden Fahrzeug versucht der Fahrer nicht mehr, im Sinne des FolgefahrenS den Abstand genau einzuhalten. Fritsche (1994) schlug ein psychophysiologisches Modell fUr das Folgefahren auf der Basis von Leutzbach (1988) und Wie-
6.4 Ergebnisse 91
demann (1974) vor, in dem funf Bereiche im Phasenraum entsprechend Abb. 6.6 definiert werden. Dieses Modell wird in dem hier behandelten Beispiel der adaptiyen Modellierung des fertigkeitsbasierten Verhaltens iibemommen und dahingehend erweitert, dass der Parameter a mit Hilfe des geschilderten Lemverfahrens fahreradaptiv modelliert wird.
6
3 Freies Fahren
'Vi' -. Bremsen .s > <l
-3 Auffahren Foigefahren II
10 20 30 so 60 tix [m]
Abb. 6.6 Fahrsituationen im & , ~ v -Phasenraum. Die Geschwindigkeit des vorausfahrenden Fahrzeugs betragt 20m/s.
Der Lemalgorithmus verwendet als Eingangsmerkmale fur diesen Fall den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug &, die Geschwindigkeit des eigenen Fahrzeugs X, die Relativgeschwindigkeit & und die Beschleunigung X des vorausfahrenden Fahrzeugs.
14~--------------------------------------
- Modell - Fahrer
20~--2~O--~4~O---6~OL-~8~O--~IOO~~12-0---1~40~~16~O--~ Zeit [s]
Abb. 6.7 Vergleich des Geschwindigkeitsverlaufs bei Fahrt mit Fahrer und fahreradaptivem Modell (Folgen hinter einem vorausfahrenden Fahrzeugs).
Abbildung 6.7 zeigt zur Einschatzung der Modellierungsgiite das Geschwindigkeitsverhalten eines auf eine Fahrerperson trainierten Modells im Vergleich zu dem Geschwindigkeitsverlauf des Verhaltens des Fahrers selbst bei einer dreimi-
92 6 Adaptive Modellierung des Fahrerverhaltens
niitigen Testfahrt in einem Innenstadtszenario. Diese Fahraufgabe ist charakterisiert durch ein voranfahrendes Fahrzeug, das die freie Geschwindigkeitswahl einschrankt.
6.5 Schlussfolgerungen
Kognitive Kooperation zwischen Mensch und automatischen Funktionseinheiten mit kognitiven Fahigkeiten flihrt zu einer neuen Qualitat von Automation im Arbeitsprozess. Kognitive Kooperation verlangt jedoch auch, dass auf beiden Seiten, dem Operateur und der automatischen Funktionseinheit, moglichst umfangreiches Wissen iiber die Verhaltensweisen des Team-Partners vorhanden ist. 1m Falle des Arbeitsprozesses Fahrzeugflihrung muss demgemass ein kognitives Assistenzsystern das Prozessverhalten des Fahrers, auch in seinen individuellen Auspragungen, erlemen bzw. modellieren konnen. 1m speziellen Fall eines kooperativen tutoriellen Assistenten als Teilelement eines Ausbildungssimulators flir die Fahrschulung, einer derzeit intensiver verfolgten Anwendung kooperativer Kognition im Bereich der Fahrzeugflihrung, ist es die Online-Bestimmung des Lemfortschritts des Fahrschiilers auf der Basis der adaptiven Modellierung und die Online-Modellierung von einzelnen ausgesuchten Fahrem unterschiedlichen Konnens, urn flir die Tutorfunktion ein abgestuftes Referenzmodell aus den Einzelmodellen oftline zu aggregieren. Die entsprechende Entwicklung flir Assistenzsysteme im Fahrzeug wird letztlich durch die Verfligbarkeit ausreichender Sensorik bestimmt.
Die Architektur des vorgestellten Modellbildungskonzepts reflektiert die Tatsache, dass der Fahrer zu jedem Zeitpunkt sich flir eine der moglichen der Fahrsituation angepassten Handlungsaltemativen personlich entschieden hat und der Fahrverlauf sich entsprechend gestaltet. Es wurde dargestellt, dass der Lemprozess flir den regel- und fertigkeitsbasierten Teil des Gesamtmodells online wahrend des Fahrbetriebs auf der Basis von allgemeinen Regressionsnetzen (IRT -Algorithmus) und von Entscheidungsbaumlemverfahren moglich ist.
Literatur
Berthold, M. (1997). Konstruktives Training von Probabilistischen Neuronalen NetzenjUr die Musterklassifikation, Infix, Sankt Augustin
Billings, C.E. (1997). Aviation Automatisierung - the search for for a human centered approach. Erlbaum, Mahwah, NJ
Carpenter, G. A., Grossberg, S., Rosen, D.B.(1991) Fuzzy ART: Fast Stable Learning and Categorization of Analog Patterns by an Adaptive Resonance System, Neural Networks, Vol. 4,759-771
Feraric, J.P. (1996). Echtzeitjiihige Modellierung des individuellen Fahrerverhaltens zur Realisierung adaptiver Unterstiitzungsfunktionen in einem Monitor- und Warnsystem, Dissertation, Neubiberg
Fritsche, H.T.,(1994). A model for traffic simulation. Traffic Engineering + Control
Literatur 93
Garrel, U. V.; Otto, H.J.; Onken, R. (2000). Adaptive Modeling of Driver Behaviour in Town Environment, 4th IFIPIIEEE International Conference on Information Technology for Balanced Automation Systems in Manufacture and Transportation, Berlin
Gazis, D. C.; Herman, R.; Rothery, R.W. (1961). Nonlinear follow-the-Ieader models of traffic flow, Operns. Res. 9, 545-567
Grashey, S. (1999). Ein Klassifikationsansatz zur fertigkeitsbasierten Verhaltensmodellierung beim Autofahren, Dissertation, Neubiberg
Hipp, B., K-V. Schaller, (2001) Fahrerassistenzsysteme flir Nutzfahrzeuge, Stand und Ausblick, Der Fahrer im 21. Jahrhundert, VDI-Berichte 1613
Jensch, M.; Spoerer, E .. (1978). Verkehrsverhaltenslehre; in: Unfall und Sicherheitsforschung Stra.f3enverkehr, BASt, Bereich Unfallforschung, Koln
Jiirgensohn, T. (1997). Hybride Fahrermodelle, Dissertation, ZMMS Spektrum Band 4 Jiirgensohn, T.; Irmscher, M.; Willumeit, H.-P. (1998). The Motivation Concept for Driver
Models in Driver Assistant Systems, Proceedings of the AVEC 98, Nagoya Kopf, M. (1993). Ein Beitrag zur modellbasierten, adaptiven Fahrerunterstiitzungfilr das
Fahren auf deutschen Autobahnen, Dissertation, Neubiberg Leutzbach, W. (1988), Introduction to the Theory of Traffic Flow, Springer-Verlag Otto, H.J.; Garrel, U. v.; Onken, R. (2001). Adaptive modeling of the skill- and rule-based
driver behavior, VD11SAEIJSAE Gemeinschaftstagung "Der Fahrer im 21. Jahrhundert ", Berlin
Parzen, E. (1962). On Estimation of a Probability Density Function and Mode. Annals of Mathematical Statistic, 33; 1065-1076
Rasmussen, J. (1983). Skills, rules and knowledge, signals, signs and symbols, and other distinctions in human performance models, IEEE Transaction on Systems, Man Cybernetics, volume SMC-13, 257-266
Schreiner, F. (1999). Automatische Fiihrung des Kraftfahrzeuges mit fahreradaptiven Eigenschaften, Dissertation, Forschungsberichte VDI Reihe 12, Nr. 404
Specht D.F. (1991). A General Regression Neural Network Derived from the Parzen Window Estimator. Neural Net-works. IEEE Transaction on Neural Networks, Vol. 2, No. 6,568-576
Wiedemann, R. (1974). Simulation des Stra.f3enverkehrsflusses, Schriftenreihe des Instituts fiir Verkehrswesen, Karlsruhe
Wolter, T. M.; Jiirgensohn, T.; Willumeit, H.-P. (1997). Ein auf Fuzzy-Methoden basierendes Situations-Handlungs Modell des Fahrerverhaltens, ATZ Automobiltechnische ZeitschriJt, Heft 3,142-147
7 Nichtformale Konstrukte in quantitativen F ah rermodellen
Thomas Jiirgensohn
Quantitativ-formale Modelle dynamischer Handlungen des Fahrers basieren in der Regel auf Formalismen, in denen physikalisch messbare oder aus physikalischen Messungen berechenbare Merkmale des Verhaltens in gegenseitige Beziehung oder in Beziehung zur Zeit gesetzt werden. Solehe Modelle werden seit ca. 40 lahren vomehmlich von Ingenieuren als Hilfsmittel zur Entwicklung von Fahrzeugkomponenten entwickelt. Eines der groBten Probleme in diesen Modellen war und ist die Abbildung von denjenigen Einfliissen auf den Fahrer, die nicht dynamischer, sondem mentaler, d.h. kognitiver, emotionaler oder motivationaler Natur sind. In dem anschlieBenden Beitrag von Irmscher in diesem Band wird gezeigt, wie mentale Einfliisse in einem Modell praktisch umgesetzt werden konnen. In dem folgenden Beitrag nun wird die gleiche Fragestellung von theoretischer Seite aus beleuchtet. Thema ist generell die Integration von nichtformal beschriebenen EinflussgroBen in quantitativ-formale Modelle dynamischer Handlungen des Autofahrers, beispielhaft festgemacht an der Problematik der Motivmodellierung. An einem hypothetischen Beispiel aus dem Bereich der Assistenzsysteme fur Kraftfahrzeuge werden die damit verbunden methodologischen Probleme dargestellt.
7.1 Einleitung
Ziel der Modellbildung des Fahrerverhaltens ist in der Regel dessen Vorhersage fur Situationen, die nicht oder nur mit unvertretbarem finanziellen oder zeitlichen Aufwand nachgestellt werden konnen. Dies gilt sowohl fur formale wie auch fur nichtformale Modelle. Formale Modelle werden dann benotigt, wenn es sich entweder urn kontinuierliche oder urn diskret-hochkomplexe, d.h. quasi-kontinuierliche Probleme handelt, die mit einer hoheren Genauigkeit bzw. Prazision vorhergesagt werden miissen, als es mit nichtformaler Modellierung moglich ist.
Typisches Beispiel formaler Modellbildung des Fahrerverhaltens ist die Modellbildung des kontinuierlichen Lenkverhaltens eines Fahrers bei einem unvorhergesehenen Hindemis bei schneller Fahrt. Ein moglicher Beweggrund fur die Entwicklung soleh eines Modells konnte darin liegen, ein technisches Unterstiitzungssystem, einen "Hindemisassistenten", fur diese spezielle Situation entwerfen zu wollen. Als Vorgabe sei angenommen, dass das System den Fahrer unterstiitzt, ohne ihn aus der vollen Verantwortung zu entlassen, d.h. dass der Fahrer zu jeder Zeit Teil des geschlossenen Regelkreises ist. Ich werde in diesem Beitrag dieses Beispiel als Authanger fur die Untersuchung bestimmter methodologischer Aspekte bei der Modellierung des Fahrers heranziehen. Die Frage, ob soleh ein System iiberhaupt sinnvoll ist, wie es ausgelegt sein miisste und was eine Einfuh-
96 7 Nichtfonnale Konstrukte in quantitativen Fahrennodellen
tern iiberhaupt sinnvoll ist, wie es ausgelegt sein miisste und was eine Einfuhrung fur rechtliche Konsequenzen haben wiirde, spielt dabei keine Rolle.
Fiir die Beurteilung des Systems ist es entscheidend zu wissen, ob ein Unfall durch das System im statistischen Sinne vermieden wird, oder ob es unter Umstanden sogar umgekehrt schadlich wirken kann, weil es den Fahrer in seinen Aktionen stort. Da ein Unfall im Allgemeinen eine Beriihrung mit dem Hindemis bedeutet, ist die Beantwortung der Frage nur moglich, wenn diese Beriihrung in Abhangigkeit der Konstellation der Situation berechnet werden kann. Dazu wiede rum ist es notig, den Kurs des Fahrzeugs bei dem Auftreten eines Hindemisses zu kennen (Abb. 7.1). Selbst fUr Aussagen nur im statistischen Mittel wird dazu auf jeden Fall ein Modell des Fahrzeugverhaltens benotigt. Da der Fahrer wahrend der Unterstiitzungsphase in das Gesamtsystemverhalten eingreifen kann, wird fUr eine Vorhersage des Gesamtverhaltens dariiber hinaus ein Modell des Bedieners benotigt. Schliel3lich muss selbstverstandlich auch das Verhalten des Unterstiitzungssystems berechenbar sein.
A
c Abb. 7.1 Vorhersagen des Verhaltens von Fahrzeug A bei dem plotz lichen Auftauchen eines Hindemisses B bei gleichzeitigem Fremdverkehr C. Bei bestimmten Konstellationen kommt es zu einer Kollision mit B oder C.
Der Fahrer bildet in unserem geschilderten Beispiel zusammen mit dem Fahrzeug und dem Unterstiitzungssystem ein kontinuierliches dynamisches System. Zu dessen Modellierung werden deshalb ebenfalls wie fUr das Fahrzeug kontinuierlich dynamische Modellierungsmethoden benotigt. Nehmen wir nun aber einmal an, dass wir Grund zu der Annahme haben, dass die kontinuierlichen Aktionen und Reaktionen des Fahrer davon abhangen, wie genau er die Situation einschatzen kann, ob er schon einmal in einer ahnlichen Situation war, also auf Erlemtes zuriickgreifen kann, davon, ob er ein angstlicher, geistesgegenwartiger, besonnener oder hektischer Fahrer ist oder ob er in Eile, unaufmerksam oder verliebt ist. Wir wollen diese EinflussgroBen im Weiteren mentale Faktoren nennen. Jedes Modell, das diese Faktoren nicht beriicksichtigt, kann nur so genau sein, wie die Spannweite des Einflusses der fraglichen mentalen Faktoren auf die Handlung.
Aufgrund dieser Einfliisse kann unser Unterstiitzungssystem - wegen deren Variabilitat zwischen verschiedenen Fahrem und eines einzelnen Fahrers in der Zeit - nur eingeschrankt wirksam sein. Erst dann, wenn es sich adaptiv auf die jeweilige "Fahrersituation" einstellt, kann das System optimal unterstiitzend wirken. Auch dazu ist ein Modell des Fahrerverhaltens und der mentalen Einfliisse notwendig. Je nach Dominanz der mentalen Faktoren kann bei fehlender Beriicksichtigung unter Umstanden die gesamte Niitzlichkeit des Unterstiitzungssystem in
7.1 Einleitung 97
Frage gestellt sein. Wenn es dagegen geliinge, mentale Merkmale des Fahrerverhaltens in dem Modell des Fahrerverhaltens abzubilden, konnte ein Unterstiitzungssystem entwickelt werden, das sich genauer an den Fahrer anpasst und deshalb ihm noch effektiver helfen konnte.
Als mentale Einfliisse wurden oben Einfliisse kognitiver, motivationaler oder emotionaler Art definiert. 1m Mittelpunkt dieses Beitrags stehen diejenigen mentalen Einfliisse, die nichtformal sind. Es wird die fundamentale Problematik der Einbeziehung nur nichtformal definierter mentaler Einfliisse in die Modellierung formal priizise abbildbarer kontinuierlich-dynamischer Eigenschaften untersucht. Es soIl der Frage nachgegangen werden, ob und wie beide Ebenen verkniipft werden konnen, urn beispielsweise die eben angedeutete Idee eines optimal angepassten Unterstiitzungssystem verwirklichen zu konnen bzw. Vorhersagen iiber das Zusammenspiel mit dem Fahrer in unterschiedlichen Situationen zu ermoglichen. Beispielhaft wird dies an der Abbildung motivationaler Einfliisse vorgefUhrt. Diese eignen sich besonders gut fUr dieses Vorhaben, weil der nichtformale Charakter von Motiven leicht darstellbar ist. Prinzipiell gelten die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen aber auch fUr kognitive Einfliisse. Am Ende des Beitrags wird darauf kurz eingegangen.
7.1.1 Klassifikationsschema von Modelltypen
Bevor ich auf diese eben skizzierte Kemproblematik genauer eingehen kann, ist es notwendig, einige Begrifflichkeiten und Basiseigenschaften von Modellen kurz zu kliiren. Fiir diesen Artikel relevant sind Modelle, auf deren Basis V orhersagen iiber Ereignisse in der Zukunft abgeleitet werden. Die in diesem Artikel vorrangigste Unterscheidungsdimension von Modellen ist die zwischen formalen und nichtformalen Modellen.
Formale Modellbildung ist im Gegensatz zu nichtformaler durch Fixierung von Merkmalen des zu modellierenden Systems an freie Elemente eines Formalismus bei gleichzeitiger Veriinderung dieser Merkmale auf Grund der Regeln des Formalismus gekennzeichnet. Durch die Fixierung kann die Veriinderung priizisionserhaltend und reproduzierbar sein, und es kann Neues geschaffen werden. Der Nachteil der Bindung ist, dass nur das abgedeckt wird, was auf der singuliiren Spur des Formalismus liegt. Nichtformale Modelle hingegen sind freier und weitspannender; sie umfassen auch vage Zusammenhiinge. Dem Vorteil des groBeren Giiltigkeitsbereichs steht aber eine Beschriinkung in der Aggregierbarkeit und kausalen Verkniipfbarkeit gegeniiber.
Typisches Merkmal formaler Modelle ist, dass das Verhalten des modellierten Objekts erst dann erkennbar wird, wenn es symbolisch oder numerisch berechnet wurde, d.h. wenn mehrere Verarbeitungsschritte mit dem Formalismus durchgefiihrt wurden. Beispielsweise wird bei einer Modellierung des Lenkverhaltens mit Differentialgleichungen dieses erst dann explizit, wenn die Differentialgleichung mit Zahlen aufgelost wird. Solches konnte durchaus auch rein mental erfolgen. Die Unterscheidung zwischen formal und nichtformal ist deshalb nicht mit der Unterscheidung in computerbasiert zu rein gedanklich gleichzusetzen.
98 7 Nichtformale Konstrukte in quantitativen Fahrermodellen
Nichtformale Modelle sind Modelle, die nicht formal sind, d.h. bei denen eines der tragenden Elemente von formalen Modellen, die Fixiertheit oder die Veranderung auf Basis festgeschriebener Regeln nicht zutrifft. Es kann also durchaus fixierte nichtformale Modell geben. Typisches Beispiel eines nichtformal-fixierten Modells sind deskriptive Modelle. Diese bestehen in der Regel aus einer Vielzahl von nichtformalen Satzen uber einen Sachverhalt und bilden in ihrer Gesamtheit ein Modell dieses Sachverhalts. Sie sind durch das Medium der Sprache fixiert, sie k6nnen aber nicht regelhaft verandert werden. In diesem Beitrag wird das deskriptive Modell des Konzepts 'Motiv' untersucht, bzw. es wird ein deskriptives Modell dieses Konzepts entwickelt. Andere fixierte Modelle, die nichtformal sind, treten beispielsweise in Computersimulationen auf.
Kennzeichen nichtformaler Modelle ist nicht unbedingt die "Formellosigkeit". Beispielsweise sind in Formeln ubersetzte sprachliche Ausdriicke ebenfalls nichtformal, wenn mit ihnen nicht formal operiert wird. So ist die Formel V .. 3F ~ r(t+) '# 0 nichtformal, wenn sie genau die Aussage ,,Fur fast aile Fahrer gilt, dass sie beim Platzen eines Reifons unmittelbar reagieren" ausdriickt und keine Eigenschaft des Formalismus in einer Weiterverarbeitung genutzt wird. Umgekehrt k6nnen sprachliche Ausdriicke durchaus formal sein, wenn sie regelhaft verandert oder kombiniert werden. Eine Menge von Satzen, die Implikationen ausdriicken und logisch kombiniert werden, k6nnen ein formales Modell bilden. Dies kann beispielsweise auch rein gedanklich "berechnet", d.h. gemaB des Formalismus verandert werden.
Die weitaus gr6Bte Klasse nichtformaler Modelle sind aile diejenigen Modelle, die auf anschaulicher Imagination oder anderem nichtsprachlichen Denken (eingeschlossen unbewusstem) basieren. Anschauliche Modelle sind Grundlage sowohl der deskriptiv nichtformalen als auch der formalen Modellbildung. Praktisch all unser Denken fuBt auf diesen nichtformalen nichtfixierten Modellen.
Oft wird nichtformal mit qualitativ gleichgesetzt. Dies ist aber nicht sinnvoll, da es auch formale qualitative Modelle geben kann. Die Unterscheidung qualitativ-quantitativ bezieht sich auf den Charakter messbarer Merkmale. Qualitative Modelle beschreiben messbare Merkmale durch eine kleine Anzahl diskreter Werte, auf denen eine Ordnungsrelation definiert ist. Sprachlich formulierte Modelle mit Ausdriicken wie klein, groB, dunn, dick, schnell, langsam sind ein Beispiel fUr qualitativ-nichtformale Modellierung, Modelle die mit Intervallmathematiken oder Regelnsystemen operieren, sind ein Beispiel qualitativ-formaler Modellierung.
Formale Modelle gelten in der Regel als validierbar bzw. uberpriifbar -nichtformale nur als "einschatzbar". Der Grund dafUr ist leicht an der Fixierung der formalen Modelle festzumachen. Es sei aber darauf hingewiesen, dass nur die Abarbeitung des Formalismus, nicht die zugrundeliegende Semantik, d.h. die Bedeutung der Elemente des Formalismus validiert werden k6nnen. Deshalb sind deskriptive Modelle - trotz ihrer Fixierung an Sprache - nicht in dem selben Sinne validierbar wie formale Modelle, weil der Inhalt des Modells in dem "Dahinter" der W orte liegt. Die Aussage "die Sonne scheint" kann nicht aus sich selbst heraus validiert werden, sondem nur daran, ob die Sonne scheint.
Fur das Thema dieses Beitrags ist schlieBlich noch ein weiteres Unterscheidungsmerkmal von Modellen relevant: Dynamik-Modelle und Statik-Modelle. In
7.1 Einleitung 99
Statik-Modellen werden statische und in Dynamik-Modellen dynamische Eigenschaften und in kausalen Abhangigkeiten eines Systems modelliert. Die Modelle selbst sind in beiden Fallen in der Regel statisch. Der Begriff der Dynamik ist heute mit verschiedenen Inhalten belegt. 1m Ursprung des Begriffs (bUVUl-ltcr) und noch heute in der Mechanik ist Dynamik mit Bewegungen verbunden, die durch Krafte erzeugt werden. In einigen Fachdisziplinen wird Dynamik wesentlich abstrakter aufgefasst - teilweise wird dynamisch mit zeitveranderlich gleichgesetzt. Ich verwende hier den Begriff Dynamik, wie er in der Systemtheorie benutzt wird: ,,Dynamik ist die in der Zeit beschriebene Regelhaftigkeit von Veranderung". Kann die Veranderlichkeit eines Systems nur auf Zeit bezogen dargestellt werden, ist ein Modell dieses Systems ein Dynamik-Modell. Es gibt danach also einen Unterschied zwischen dynamischen und zeitveranderlichen Systemen. Letzteres verandert sich zwar in der Zeit, es spielt aber keine Rolle, wann jede Veranderung geschieht. Sind beispielsweise von einem System die Regeln der Ubergange zwischen verschiedenen Zustanden bekannt, aber nicht die Zeitdauem jeden diskreten Zustands, ist das System nur kausal zeitveranderlich und nicht dynamisch.
Die bloB-zeitveranderlichen Systeme (bzw. die bloB zeitveranderliche Sicht auf Systeme), in denen Veranderungen nach Regeln oder einem Algorithmus erfolgen, sollen in diesem Beitrag kausale Systeme genannt werden. Zeitveranderliche Systeme ohne Regeln sind Systeme, die sich mit einer nicht bekannten Zuf<illigkeit verandem. Reale dynamische Systeme sind auch kausal und selbstverstandlich zeitveranderlich. Auch zufallig sich andemde Systeme konnen dynamische Systeme sein, wenn Regeln fUr die Zufalligkeit bekannt sind. Solche Systeme werden stochastische Systeme genannt.
Aile kontinuierlich sich andemden Systeme benotigen zur Beschreibung der Veranderlichkeit den Bezug zur Zeit, weil Kausalitat in einem kontinuierlichen Zustandsraum nicht durch Ubergangsregeln zwischen diskreten Zustanden ausgedriickt werden kann. Sie sind deshalb immer dynamische Systeme, die durch ihre Zustandsgroj3en beschrieben werden. So sind viele makroskopisch-physikalische Systeme dynamische Systeme, wenn sie kontinuierlich beschrieben werden und zeitveranderlich sind. Nur wenn die Anderungen zwischen diskreten Zustandsstufen erfolgen, konnen sie bloB zeitveranderlich und nichtdynamisch aufgefasst werden. Wird ein dynamisches System mit einem nichtdynamischen kausalen System in einem Modell verbunden, muss das Gesamtmodell ein dynamisches Modell sein, weil ein Zeitbezug nicht in einen Kausalbezug aufgelost werden kann.
In Simulationsmodellen ist der Zeitbezug oft durch einen Bezug auf einen (unabhangigen) Zeittakt realisiert. Rein kausale Modelle konnen in solchen Simulationen erst dann nachgebildet werden, wenn den rein kausalen Beziehungen zeitliche hinzugefUgt wurden. 1m einfachsten Fall sind dies Zeitintervalle zwischen den Zustandsiibergangen. Wird zusatzlich eine kontinuierliche Anderung in der Zeit gefordert, miissen Informationen iiber diese Anderungen hinzukommen.
Jedes System, von dem die kausalen Einwirkungen auf ein dynamisches System interessieren, ist selbst ein dynamisches System. Sein Verhalten muss deshalb in der Zeit beschrieben werden. Ebenfalls sind zwei oder mehrere kausale Systeme, die nicht vollstandig kausal (mitunter auch stochastisch kausal) verbunden
100 7 Nichtformale Konstrukte in quantitativen Fahrermodellen
werden konnen, nur nach Transformation zu einem dynamischen System in einem Gesamtsystem kombinierbar.
7.1.2 Modellbildung dynamischer Handlungen in maschinellen Systemumgebungen
Die Modellbildung dynamischer Handlungen in maschinellen Systemumgebungen wird seit Ende der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts untersucht und es existieren eine Reihe von zusammenfassenden VerOffentlichungen zu diesem Thema (z.B. Sheridan u. Ferrell, 1974; McRuer u. Krendel, 1974; Johannsen et aI., 1977; Cacciabue, 1998; Jiirgensohn, 2000). Da in diesem Beitrag das Hauptaugenmerk auf den nichtformalen Modelle liegt, solI die Problematik nur soweit behandelt werden, dass die Implikationen einer Verbindung nichtformaler mit formaldynamischer Modelle verstandlich ist.
Wie im vorherigen Abschnitt festgestellt wurde, kann zeitveranderliches Verhalten eines kontinuierlich-variablen Systems nicht bloB kausal beschrieben werden, sondern benotigt eine Dynamikmodellierung, d.h. einen expliziten Bezug zur Zeit. Das gilt natiirlich auch fiir das System "Autofahrer". AIle Modellansatze, die Bedienerverhalten in dynamischen Maschinenumgebungen abbilden, beschreiben den Bediener als dynamisches System. Der Grund dafiir ist nicht die Tatsache, dass auch ein Mensch immer ein dynamisches System ist, sondern dass er in einer Wechselwirkung mit einem dynamischen System steht. Dies solI im folgenden erlautert werden.
Dazu gehen wir zuriick zu unserem Beispiel: Ausgangspunkt unserer Betrachtung sind die in Abb. 7.1 eingezeichneten Fahrtrajektorien des Fahrzeugs A. Sie sind flir unsere Fragestellung wichtig, weil ihre Kenntnis eine Aussage fiber einen moglichen Unfall ermoglichen wiirde. Sie sind ohne Zweifel kontinuierlich und das Fahrzeug bewegt sich kontinuierlich in Raum und Zeit. Daraus folgt, dass das Fahrzeug beziiglich dieser Betrachtung ein dynamisches System bildet.5 Sein Verhalten kann recht genau auf Basis numerischer Modelle des Fahrzeugs berechnet werden. In ihnen werden eine endliche Anzahl von zeitveranderlichen kontinuierlichen ZustandsgroBen durch einem Satz von Differentialgleichungen und anderen quantitativen Beziehungen in Abhangigkeit von Einflfissen des Unterstiitzungssysterns oder des Fahrers beschrieben.
Da das Fahrzeug flir die Beschreibung der Fahrtrajektorien ein kontinuierliches dynamisches System bildet und der Fahrer auf diese Fahrtrajektorien einwirkt, ist - wie im vorherigen Kapitel festgestellt - der Fahrer auch ein dynamisches System - sein Verhalten muss auf eine unabhangige Zeit bezogen werden. Da die Fahrtrajektorien sich aus dem numerischen Modell des Fahrzeugs ergeben, muss
5 Es muss aber betont werden, dass sich dies nur daraus ergibt, dass die Fahrtrajektorien interessierende GroBen sind. Das Fahrzeug se1bst kann auch ein bloB kausales System sein. Dies ist beispielsweise so in dem Modell, das durch die Aussage "Ein Unfa11 entsteht, wenn das Fahrzeug A das Objekt B oder das Fahrzeug C beriihrt oder wenn es dies Strasse verlasst" gebildet wird.
7.2 Modellbildung von Motiven 101
in jeder Beschreibung des Verhaltens des Fahrers mindestens an einer Stelle eine kausale Verbindung zu dem Modell des Fahrzeugs vorhanden sein. In unserem Beispiel sind es Einflusse auf die Lenkung, das Bremsen und das Gasgeben.
Wir hatten als Voraussetzung angenommen, dass der Fahrer trotz Untersilitzungssystem immer in der vollen Verantwortung bleibt. Das bedeutet, dass sein Handeln von dem Ziel bestimmt ist, Schaden an seinem Fahrzeug und an Gegenstanden und Personen der Umgebung zu minimieren. Urn dies realisieren zu konnen, benotigt er Informationen aus der Umgebung und von dem Verhalten seines Fahrzeugs. Das Verhalten des Fahrers hangt also von Objekten oder Zustanden der Umgebung ab - sie wirken auf ihn kausal. In gleicher Logik wie eben aus der Tatsache der kontinuierlichen Fahrtrajektorie gefolgert wurde, dass der Fahrer ein dynamisches System ist, folgt, dass die Informationen aus der Umgebung ebenfalls dynamisch sein mussen. Sie sind es auch dann, wenn kein Objekt der Umgebung selbst dynamisch ist.
Die etwas umstandlich erscheinende Herleitung beschreibt nichts anderes als einen dynamischen Regelkreis. Ein Modell, das diesen Regelkreis abbilden solI, muss also ein Dynamikmodell sein. Das ist aber nicht selbstverstandlich. Es kann durchaus auch Modelle von Regelkreisen geben, die nicht dynamisch sind - dann namlich, wenn das Autofahren zwar als eine geschlossene kausale Kette modelliert wird, keines der Elemente aber dynamisch ist. Das kann z.B. ein sprachlich beschreibendes Modell der Kausalitat unserer Beispielsituation sein. Wir konnen durchaus kausale Schlussfolgerungen aus unserer durch das Modell erzeugten Vorstellung ableiten - aber keine auf eine unabhangige Zeit bezogenen, also keine dynamischen.
Die Dynamik von Fahrzeug, Fahrer und Umweist ist also nicht "naturgegeben", sondem ergibt sich aus einer bestimmten Fragestellung. Es ist nicht von Vomherein gesagt, dass die Anforderungen der Fragestellung in einem Modell immer erfUllt werden konnen. Es kann durchaus sein, dass auf eine prazise dynamische Modellierung verzichtet werden muss, wenn die Genauigkeit der Beschreibung wie sie fUr das Fahrzeugverhalten moglich ist, bei der Modellierung des Fahrers nicht realisiert werden kann. Wir gehen im Folgenden aber davon aus, dass eine dynamische Beschreibung moglich ist. AIle Aspekte des Fahrerverhaltens, auch nichtformale mentale, mussen sich in das dynamische Modell integrieren lassen.
7.2 Modellbildung von Motiven
Nach dieser EinfUhrung kommen wir nun zu der Modellbildung der mentalen Einflusse auf die Handlung, dargestellt an der Problematik motivationaler Einflusse, zurUck. Zum Verstandnis der Formalisierungsproblematik ist eine Darstellung der Motivationsforschung aus ubergeordneter Sicht notwendig. Es wird deshalb zunachst ein deskriptives Modell des Konzepts "Motiv" entwickelt. Darauf aufbauend werden dann die Konsequenzen fUr eine UberfUhrung in ein formales Modell abgeleitet.
102 7 Nichtfonnale Konstrukte in quantitativen Fahrennodellen
7.2.1 Motive
Eines der Griindbediirfnisse des Menschen ist es, Geschlossenheit in den Vorstellungen iiber die Welt zu erlangen. Die Suche nach Regeln iiber den Lauf der Welt, nach Griinden und Ursachen ist die wichtigste Triebfeder fragenden Denkens. Jede Suche nach Griinden muss zwangsHiufig - schon wegen Zeitbeschriinkungen - irgendwann zu einem Endpunkt kommen. Dies sind die letztendlichen Griinde, die Naturgesetze oder die gottliche Fiigung.
Unser Trieb zur Ursachenerforschung macht natiirlich auch vor uns selbst nicht Halt. Wir suchen nach den Ursachen dafiir, warum wir uns so verhalten, wie wir uns verhalten. In der Hauptsache hangt unser Verhalten von dem Zustand der Welt, von den iiuBeren Gegebenheiten ab - wir adaptieren unser Verhalten an die Notwendigkeiten der Welt. Wenn uns beispielsweise auf dem Biirgersteig laufend ein Fahrradfahrer in Kollisionskurs entgegenkommt, werden wir uns wahrscheinlich mit einem schnellen Schritt in Sicherheit bringen. Dies wiirden wir nicht tun, wenn er weit neben uns vorbeifahre. Unser Verhalten wird zum groBen Teil von der Welt urn uns determiniert.
Ein Teil der Griinde fiir eine spezifische Handlung liegt aber auch in uns selbst. Beispielsweise hiingt die Richtung, zu der wir ausweichen, davon ab, wie genau wir die Geschwindigkeit und Bahn des Fahrradfahrers einschatzen konnen. Die Richtung unseres Ausweichens wird ebenfalls dadurch bestimmt, wie gut wir die anderen Faktoren der Gesamtsituation kennen. 1st das Ausweichen nach links in Richtung StraBe oder nach rechts in Richtung der Hauser sinnvoller? Fiir eine Entscheidung miissen wir beispielsweise abwagen zwischen einem Risiko, von einem Auto erfasst zu werden, wenn wir nach links ausweichen, und dem Risiko, wegen anderer FuBganger dem Fahrradfahrer nicht vollsmndig ausweichen zu konnen, wenn wir nach rechts ausweichen. Diese Einfliisse auf Handlungen, die mit Wahrnehmen, Abwagen und Entscheiden zu tun haben, sind die kognitiven Determinanten der Handlung. Sie hangen zwar von uns ab, sind aber jeweils auf feste, auBere Gegebenheiten bezogen.
Wir konnen die Ursachenkette unseres Handelns noch weiter verfolgen und kommen irgendwann an einen Punkt, der entweder wieder zu schon abgearbeiteten Elementen der Ursachenkette oder zu auBerhalb von uns liegenden Ursachen zurUckfiihrt. An diesem Endpunkt stehen die Motive unseres Handelns. Motive sind kausale Quellen von Verhalten, die vollstiindig in uns liegen und nicht direkt auf eine iiuj3ere Situation bezogen sind.6 Wenn wir uns z.B. fragen, warum wir iiberhaupt dem Fahrradfahrer auszuweichen versuchen, konnte man als innere Ursache das Streben nach Unversehrtheit nennen. Dieses Streben ist sicherlich keine auBere Ursache und ist nicht auf eine spezifische iiuBere Situation bezogen.7
6 Diese Definition charakterisiert die "wesentlichste" Eigenschaft von Motiven iiber einen sehr breiten Gebrauch des Begriffs Motiv. Es gibt allerdings auch Abweichungen.
7 Man konnte sogar noch weiter fragen, was die Ursache des Selbsterhaltungsstrebens ist. Mit einer gottlichen oder evolutioniiren Erkliirung entfemen wir uns aber wieder yom Menschen.
7.2 Modellbildung von Motiven 103
Eng mit den Motiven verbunden sind Emotionen - vielfach werden beide nicht scharf voneinander getrennt, weil Emotionen ebenfalls als Ursache von Verhalten gedacht werden konnen. Das Zusammenspiel von Verstand bzw. Vemunft und Emotionen bzw. Motivationen ist in seiner Pdignanz wohl nicht eindringlicher als in der Platonischen Vorstellung (-380) von der Psyche als einem Gespann mit zwei Pferden gefasst: Der Wagenlenker "Vemunft" lenkt seinen Wagen, der durch die beiden Pferde "Mut" und "Gier" gezogen wird. Der Vemunft entspricht unsere heutigen Kognition, Mut und Gier wiirde man heute als Motive bezeichnen .
.Ahnlich einfach auf der obersten Ebene, aber wesentlich differenzierter in einem hierarchischen System ausgearbeitet, ist die Affektenlehre Spinozas (1665). An oberster Stelle steht bei ihm das Selbsterhaltungsstreben, das jeden Dings und auch des Menschen wirkliche Wesenheit ist. Dieses Streben als Affekt kommt nun in unterschiedlichen Gewiindem und Namen, wie Trieb, Wille oder Drang vor, die bei ihm aIle unter dem Begriff der Begierde zusammengefasst sind. Diesem nur die Veriinderung und Bewegung anzeigenden Affekt des Strebens stellt er die Affekte zur Seite, die einen Zustand des Menschen beschreiben und die Richtung der Forderung oder der Hemmung vorgeben. Den fOrdemden Grundaspekt nennt er Freude bzw. Lust und den hemmenden Trauer bzw. Unlust. Aus diesen drei Grundbausteinen, den primaren Affekten, leitet er je nach Begleitumstiinden eine Vielzahl weiterer Affekte, wie Liebe, Hass, Furcht, Gewissensbiss, Verzweijlung oder Sicherheit abo
Beim Studium der Literatur zu dem Thema Motivation und Emotion als Ursachen menschlichen Verhaltens findet man immer wieder Ansatze, die dieser Konzeption von Spinoza im Grundsatz entsprechen - allerdings in vielfachen Ergiinzungen und Wendungen. Es gibt aber auch Denkrichtungen, die eine vollig andere Sicht auf den Ursprung unseres Handelns haben. Beispielsweise werden in der angelsachsischen Tradition des Behaviorismus Motive als Ursachen von Handlungen fast vollig ausgeblendet. Handlungen ergeben sich dort als Folge auI3erer Situationen; Motive sind allenfalls moderierende Faktoren. Diese Uneinheitlichkeit ist wahrscheinlich eine der Ursachen, warum es tiber das Thema kaum kurze Uberblicksbeitrage gibt. Gelungen ist die kurze Zusammenfassung aus der rur diesen Aufsatz relevanten Perspektive der quantitativen Modellbildung bei Irmscher (2001). Eine Vielzahl der hier vorgestellten Fakten tiber Motive sind dieser Arbeit entnommen.
Es ist hier nicht der Platz vorhanden, die Charakteristika von Motiven in der Detailliertheit, wie sie in der Motivationspsychologie untersucht werden, zu referieren. Ich mochte stattdessen diejenigen Eigenschaften von Motiven theoretisch ableiten, die aus ihrer Definition (in uns liegende Ursache von Verhalten) geschlossen werden konnen. Ausgangspunkt der Uberlegungen sind solche heuristischen Vorstellungen von Motiven wie sie beispielsweise in den Modellen von Platon und Spinoza oder in einem "Jedermann-Verstiindnis" sichtbar werden.
Jede Handlung in der Welt ist einzigartig. In der unendlichen Vielfalt konnen wir aber bestimmte Regeln und Gesetzmiilligkeiten erkennen, die es uns ermoglichen, unser Verhalten und das anderer mehr oder weniger gut vorherzusagen. Ebenso wie wir aus Erfahrung oder durch Lemen vorhersagen konnen, dass Wasser immer nach unten flieBt, konnen wir vorhersagen, dass derjenige, dem ich eine
104 7 Nichtformale Konstrukte in quantitativen Fahrermodellen
Ohrfeige gebe, zUrUckschlagen wird. 1m Gegensatz zur Natur, die sich in Vielem sehr regelmaBig verMlt, sind die Gesetze des Verhaltens aber verzweigter, es gibt Ausnahmen und Nebenbedingungen. So gilt die Regel des Zuriickschlagens nicht generell, sondem nur fUr bestimmte Personen und bestimmte Situationen. Damit Motive als innere Erklarungshilfe fUr das Verstandnis spezifischer Handlungen dienen konnen, durfen sie nicht spezifisch an eine auBere Situation gebunden sein. Andemfalls ware es wesentlich leichter, auBere Aspekte als Grund der Handlung anzunehmen.
Da Motive nicht auf eine spezifische Situation bezogen sind, konnen einzelne Ursachen - wegen der groBen Variabilitat in den Bedingungskomplexen - nicht die Handlungen selbst, sondem nur Handlungsaspekte erklaren - bestimmte Aspekte einer Handlung werden wahrscheinlicher, andere weniger wahrscheinlich. Wenn wir beispielsweise uns selbstbeobachtend feststellen, dass der Wagenkorb im Supermarkt bei starkem Hunger anders gefUllt ist als bei Sattheit, werden wir unschwer eine kausale Verkniipfung folgem konnen. Was nachher aber wirklich im Wagen ist, hangt fast vollstandig von anderen Bedingungen abo Der Hunger erklart eine Tendenz der Auswahl, nicht die Auswahl selbst. Mit entsprechender Selbstbeherrschung kann man dies en Tendenzen kraft des eigenen Willens auch vollstandig entgegenwirken. Nur im Vergleich zu einem "Normeinkauf' und einem "Normwillen" lasst sich eine Tendenz feststellen. Motive erklaren nur Tendenzen und Aspekte von Handlungen und keine Handlungen selbst. Metaphorisch werden Motive deshalb oft als "Streben" oder "Krafte" bezeichnet.
Was ein Aspekt einer Handlung sein kann, hangt sehr von dem betrachteten Handlungstyp abo Ein Aspekt ware beispielsweise der Zeitpunkt des Starts einer Handlung, wenn es sich urn Handlungen mit freiem Anfang handelt. Ein anderer Aspekt ware - wie in unserem Einkautbeispiel - die Starke oder Anzahl eines bestimmten Merkmals der Handlung. Haufig sind die Aspekte hochdimensionale Muster von Merkmalen und nicht beschreibbar, sondem nur "fUhlbar". Beispielsweise sind die Merkmale, die eine Handlung als "mutig" beschreiben, in der Regel zu vielschichtig und voneinander abhangig, urn vollstandig beschreibbar zu sein. Die Motive selbst konnen dagegen, wenn sie als Ursache gedacht sind, immer nur eindimensional gedacht werden. Hunger als letztendliche Ursache ist aile in Hunger und hat nur den einen Aspekt der Starke - auch wenn mit Hunger natiirlich die vielf:iltigsten Aspekte, z.B. bestimmte Handlungstendenzen, verbunden sind. In ihrer Auswirkung auf Handlungen fassen Motive in der Regel eine Vielzahl von Merkmalen und Aspekten zusammen.
Mit der Feststellung des Motivs als Ursache einer Handlungstendenz ist automatisch ein Unterschied in der Dynamik von Motiven und Handlung verbunden. Nur durch langere Beobachtung sind mogliche Tendenzen in Handlungen erkennbar. So muss der Mut als eines der Motive in Platons Modell sich wesentlich langsamer andem als die hochdynamischen V organge im Schlachtgetiimmel, wenn er als Erklarung der Art des Kampfens dienen solI. Obersetzt in einen systemtheoretischen Jargon heiBt dies: Je starker ein Systemverhalten verrauscht ist, desto groBer ist die benotigte Beobachtungsdauer, urn die systembeschreibenden Parameter zu identifizieren. Singulare Faktoren als Erklarung komplexen Verhaltens miissen daher verhaltensiiberdauernd sein. Das heiBt nicht, dass sie zeitunabhan-
7.2 Modellbildung von Motiven 105
gig sein miissen. Wenn es gelange, eine zeitliche Tendenz in der Verhaltentendenz des mutigen Kriegers erkennen zu konnen, konnen wir auf einen ansteigenden Mut, d.h. ein zeitlich variables Motiv, schlieBen. Die zeitliche Tendenz muss aber wesentlich langsamer als die Dynamik der Handlungen sein. Es macht keinen Sinn, von einem Mut zu sprechen, der sich alle 30 Sekunden andert - er ware im Verhalten nicht erkennbar.
Da Motive Aspekte von Handlungen beschreiben, miissen sie immer auf Handlungen bezogen sein, wobei wir Denken als "mentale Handlung" dazuzahlen. Je nach Motiv ist der Bezug aber mehr oder weniger spezifisch auf eine bestimmte Handlungsklasse bezogen. Nimmt man beispielsweise "Gemeinsinn" als Motiv, dann wird man dieses Motiv wohl schwerlich als Ursache der Warenwahl beim Einkaufen identifizieren konnen. Umgekehrt kann man sich z.B. "Angst" als Motiv bei sehr vie len unterschiedlichen Handlungen vorstellen. Das allgemeinste Motiv ist sicherlich das Selbsterhaltungsstreben im Sinne Spinozas; alle Handlungen konnen in irgendeiner Fonn als Teil dieses Strebens aufgefasst werden.
Eine weitere wesentliche Schlussfolgerung fiir Motive leitet sich aus der Festlegung als innere Ursache her: Motive miissen als Entitaten unseres Korpers oder unseres Denkens identifizierbar, d.h. messbar sein - oder eine auBere Ursache muss ausgeschlossen sein. Messbar ist eine innere Ursache besonders gut, wenn sie mit Fiihlbarem verbunden ist. Das trifft beispielsweise auf den Hunger zu. Wiirden wir keinen Hunger spiiren, waren die darauf zuriickfiihrbaren Handlungstendenzen beim Einkaufen von den auBeren Bedingungen vollig iiberdeckt und nicht erkennbar, d.h. die Modellbildung ware wesentlich erschwert und nicht mehr heuristisch, sondem allenfalls wissenschaftlich durchfiihrbar. Wegen dieser Erfahrbarkeit und deswegen, weil sie zeitlich relativ langandauemd und kausal nicht weiter auflosbar sind, spielen in vielen Motivationstheorien auf den Korper bezogene Motive eine groBe Rolle. Mit gleicher Begriindung finden wir in der Literatur auch sehr viele mit Emotionen verbundene Motive, wie Angst, Trauer, Freude, etc.
AuBere Faktoren als Ursachen von Handlungen konnen auch dann ausgeschlossen werden, wenn unterschiedliche Menschen in identischen Situationen unterschiedlich handeln. Wenn sich Krieger A im Kampf anders verbalt als sein Nachbar B, dann kann die Ursache nicht in der auBeren Situation zu finden sein, sondem in der Verschiedenheit der Krieger. Deshalb werden auch pennanente oder temporare Verhaltensdispositionen als Motive bezeichnet. Ein pennanentes Motiv ware die Attributierung des Kriegers A als mutig und Krieger B als feige, wenn sie "in der Regel" im Kampf Mut bzw. keinen Mut zeigen. In einem speziellen Kampf kann das durchaus auch umgekehrt sein. Betrachtet man deshalb nur einen begrenzten Handlungsausschnitt kann zwischen pennanenten und temporaren Verhaltensdispositionen nicht unterschieden werden. Ob der Fahrer in unserem Hindemisbeispiel ein angstlicher Fahrer ist oder ob er zufallig Angst hat, ist an seinem Verhalten in der Situation nicht erkennbar, sondem nur an seinem Gesamtverhalten iiber einen langen Zeitraum. Eine generelle Zuordnung von Personlichkeitsmerkmalen iiber sehr unterschiedliche Handlungstypen hinweg ist aber generell nur selten moglich. Bekannt ist das Stereotyp des "mutigen" Kriegers, der aufgefordert wird, seiner Angebeteten ein Prasent zu iiberreichen.
106 7 Nichtformale Konstrukte in quantitativen Fahrermodellen
AuBere Ursachen konnen als Ursachen auch dann ausgeschlossen werden, wenn sich eine einzige Person in ahnlichen Situationen unterschiedlich verhalt. Wenn man zum Duschen normalerweise sieben Minuten benotigt, an einem speziellen Tag aber nur zwei Minuten, obwohl aIle Randbedingungen der Dusche und des Wassers gleich sind, dann muss das eine innere Ursache haben, die wir mit dem Motiv "Eile" bezeichnen konnten. Ein aus der Beobachtung intraindividueller Unterschiede geschlossenes Motiv muss natiirlich zeitveranderlich sein und kann deshalb gemaB der obigen Feststellung iiber die relative Konstanz gegeniiber der Handlung nur flir einen engeren Zeitrahmen handlungsbestimmend sein. Dies Beispiel zeigt deutlich, dass Motive auch Ursachen haben konnen. Die Eile hat natiirlich auch einen auBeren Grund. Entscheidend ist deshalb immer der Betrachtungszei traum.
Nicht in allen Fallen ist es moglich, intraindividuelle Unterschiede in den Handlungen auf allgemeine, das heiBt benennbare Motive zuriickzuflihren. Dann namlich nicht, wenn es sich urn ganz spezifische, nicht verallgemeinerbare Aspekte einer Handlung handelt, die aber dennoch unabhangig von auBeren Situationen variieren. Als Ursache kann man dann immer noch die Starke eines unspezifischen Antriebs angeben, oft mit Anregung oder Aktiviertheit bezeichnet. In unserem Ausweichbeispiel wiirde sich eine allgemeine Aktiviertheit eventuell auf die Reaktionszeit auswirken.
AIle bisher als Beispiele genannten Motive sind als Bestandteil des allgemeinen Wortschatzes entweder mit eigener Erfahrung oder erlemtem Wissen semantisch belegt. Aus diesem Grunde sollten die angeflihrten Beispiele von jedermann nachvollzogen werden konnen. Es ist ebenfalls anzunehmen, dass jedermann bei der Beobachtung irgend einer Handlung eines dieser Motive als Ursache der Handlung identifizieren kann. Dieser Akt der Motivzuschreibung wird aber im taglichen Leben praktisch nicht getan. Das bedeutet nicht, dass wir nicht dauemd kausale Ursachen in Handlungen finden, wir assoziieren sie aber nicht mit den hier als Motiven bezeichneten Begriffen.
Deutlich erkennt man dies en Unterschied zwischen einem bewussten und einem sich in Handlungen manifestierendem Wissen am Handeln im sozialen Umfeld. Obwohl wir im Verlauf des Lebens sehr differenzierte personenbezogene Ursachen von Verhalten gelemt haben und dies durch unser Verhalten auch beweisen, konnen diese Ursachen nur selten bewusst reflektiert und nur von wenigen allenfalls grob klassifiziert und mit Begriffen belegt werden. Abgesehen von unser prinzipiell beschrankten Moglichkeit der begrifflichen Auflosung sind die Ursachen von Verhalten oft so sehr situationsspezifisch, dass sich eine Begriffsbildung nicht lohnt. Nur die auf eine breite Palette von Handlungen und Situationen verallgemeinerbaren Aspekte konnen deshalb mit Begriffen belegt und so zu Motiven werden.
Welche das sind und wie viele, hangt von der "Niitzlichkeit" in der Praxis abo Als Konstrukt auf den Menschen bezogener Ursache miissen sie einerseits weitgehend unabhangig vom Handlungskontext sein. Je mehr andererseits die Klasse von Handlungen reduziert ist, auf die ein Motiv anwendbar ist, desto aussagekraftiger ist es. Platon will die ganze menschliche Seele beschreiben und belasst es bei zwei Motiven - am Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte die Triebpsychologie
7.2 Modellbildung von Motiven 107
mehrere Tausend Motive "entdeckt", die jeweils als ErkHirung nur in einem spezifischen Handlungsumfeld giiltig waren. Letzteres konnte sich aber nicht bewahren, weil es im allgemeinen nicht moglich war, zu entscheiden, welches der vielen Motive bei einer spezifischen Handlungssituation giiltig sein sollten. In der neueren Motivationspsychologie ist die Zahl wieder deutlich reduziert auf ca. 6-15 Motive fiir jeden Handlungskontext (z.B. Verhalten im Verkehr, Kaufverhalten, etc.). Addiert man die einzelnen Motive, die sich fiir spezifische Handlungskontexte etabliert haben, kommt man wieder auf eine wesentlich hOhere Zahl.
Motive hangen also nicht nur von unserem Verhalten, sondem auch davon ab, in welcher Form wir dieses bewusst im Sinne einer nichtformalen Modellbildung verallgemeinem und was wir erkliiren wollen. Sowohl ihre Anzahl als auch ihre Auswahl hangt entscheidend von unseren Fahigkeiten in der nichtformalen Modellbildung abo Zu der begrifflichen Separierbarkeit kommt die Problematik der Messbarkeit hinzu. Grundlage von Motiven sind wie festgestellt jeweils Handlungsmerkmale, die auf nichtformaler Messung basieren. Das schlieBt nicht aus, dass in einer mehr wissenschaftlichen Bearbeitung auch formale Messmethoden wie Reaktionszeit- oder Leistungsmessungen hinzutreten konnen. Sie konnen aber immer nur eine kleine Erganzung sein. Basis einer Motividentifikation sind Beobachtungen, die von Menschen durchgefiihrt werden, wobei Beobachtung weit iiber eine bloBe Messung "physikalischer" GroBen hinausgeht, sondem komplexe Interpretations- und Verarbeitungsschritte beinhaltet. Der V organg des Erkennens von Handlungstendenzen und -aspekten lasst sich als Modellbildung einer vagen kausalen Verkniipfung interpretieren.
Wegen der nur tendenziellen Wirkung konnen Motive einzelne Handlungen wie gesagt nur beziiglich eines Aspektes der Vielheit erklaren. Wenn die Anzahl von moglichen Motiven aber in einer nichtformalen Modellbildung insgesamt begrenzt sein muss, muss zur Abdeckung aller Handlungen jedes Motiv in sehr vielen unterschiedlichen Handlungen als Tendenz oder Aspekt erkennbar sein. Eine Vielzahl von Handlungen sind zusammen aber immer kontinuierlich oder quasikontinuierlich. Tendenzen oder Aspekte dieses Handlungsbiischels miissen dann ebenfalls kontinuierlich sein. Daraus folgt, dass Motive MaBe, d.h. ordinal denkbare Entitaten sind, auf die Modifikatoren wie "weniger" oder "mehr" angewandt werden konnen. In der Literatur finden sich nur wenige Motive, die nicht als kontinuierlich messbar gedacht sind. Aile Emotionen und mit Gefiihlen verbundene Reaktionen des Korpers sind mit Starke belegbar. Dies ist auch der Grund dafiir, dass sie so haufig als Motive bezeichnet wurden.
Ich habe hier Motive konsequent aus Sicht der Notwendigkeiten einer Modellbildung von Verhalten dargestellt. Motive ergeben sich daraus als bestimmte Elemente einer nichtformalen Modellbildung, basierend auf Beobachtung und Fiihlen. Sie liegen in ihrer Wirkung eine Ebene hOher als direkte Handlungen - vergleichbar etwa mit Parametem in Dynamikmodellen.8 Wegen der engen Verkniipfung
8 Erwiihnt solI noch werden, dass dann, wenn Motive selbst im betrachteten Zeithorizont Gegenstand einer Ursachenmodellbildung sind, ihre Veriinderung durch "Ubermotive" erkliirt werden kann. In Dynamikmodellen waren dies Metaparameter, die die Zeitveriinderlichkeit der Parameter beschreiben.
108 7 Nichtfonnale Konstrukte in quantitativen Fahrennodellen
mit dem Betrachtungshorizont ist ihre Abhangigkeit von den Zielen des Modellierers wesentlich groBer als bei der Modellierung von den auf konkrete Handlungen bezogenen Handlungsdeterminanten. Was als Motiv bezeichnet wird, hangt deshalb sehr stark davon ab, was damit erkUirt werden solI. Aus diesem Grund werden Motive in der psychologischen Literatur sehr oft als "Konstrukte" bezeichnet, was ihnen einen gewissen subjektiven Anstrich verleiht. Motive sind demnach sowohl an die handelnde Person als auch an den Modellierer gebunden. Demnach kann eine Person unterschiedliche Motive des Handelns haben, je nachdem welcher Modellierer dies betrachtet. Vom Modellierer unabhangig sind allein die mit eindeutigen GefUhlen verbundenen Motive, die von jedermann nachvollzogen werden konnen. Objektiv in dem Sinne einer "physikalischen" Uberprufbarkeit sind aber auch diese nicht, weil GefUhle hochgradig privat sind.9
In dieser kurzen Zusammenfassung konnen nicht aIle Aspekte von Motiven dargestellt werden. Weggelassen wurden insbesondere alle Mechanismen der Anregung und des Abbaus von Motiven. Motive sind zwar relativ statisch, aber eben nur relativ. Sie konnen sich auch - beispielsweise bei rascher Bedurfnisbefriedigung - sprunghaft andem und sie unterliegen Einflussen, die entweder von anderen Motiven kommen, in der Regel aber auBerhalb des Menschen, in der auBeren Situation liegen. Dadurch wird das Konzept der Kausalursache natiirlich verwassert, was in der Motivationsforschung immer fUr Verwirrung gesorgt hat. Bezogen auf unser Problembeispiel spielt die Motivbeeinflussung aber keine Rolle. Deshalb nehme ich im Folgenden statische Motive wie eben entwickelt an. Fur weiterftihrende Informationen sei hier wiederum auf Irmscher (2001) oder we iterfUhrend (Kuhl, 1983; Heckhausen, 1989; Kuhl u. Heckhausen, 1996; McClelland, 1985; Thomae, 1983; Domer, 1994) verwiesen.
7.3 Motive in quantitativen Modellen
Wir kommen nach dies em Exkurs in die Theorie von Motiven zu der eigentlichen Fragestellung zuruck, ob und wie wir Motive unseres Autofahrers in dem Hindernisbeispiel (Abb. 7.1) modellieren konnen. Festmachen wollen wir dies an der Frage, wie sich der Einfluss von A·ngst!ichkeit und Eile in dem Fahrermodell darstellen konnte.
Wir hatten festgesteIlt, dass die Modellbildung wegen des Untersuchungsziels der Kollisionsuntersuchung einerseits quantitativ-dynamisch sein muss. Wir hatten aber auch festgestellt, dass Motive wie Angst oder Eile Elemente nichtformaler Modellbildung, gebunden an das Messinstrument Mensch sind. Es gilt also zu untersuchen, wie nichtformale Motive quantitativ-dynamisch formalisiert werden konnen. Es sind drei mogliche Strategien daftir denkbar:
9 Das andert sich in letzter Zeit mit den Fortschritten in der Neurophysiologie. Beispielsweise lasst sich Schmerz heute schon sehr gut neurophysiologisch beschreiben und damit physikalisch-chemisch messbar machen. Die Empfindung selbst wird aber damit natiirlich nicht beschrieben.
7.3 Motive in quantitativen Modellen 109
l. Man iiberfUhrt die eigentlich nichtfonnalen Konstrukte 'Angst' und 'Eile' zunachst in ein fonnales Modell. Dieses fonnale Modell kombiniert man dann mit den fonnal-dynamischen Aspekten des Fahrennodells in einem Gesamtmodell.
2. Man fasst Angst und Eile ebenfalls als Zustande des Menschen, sichtbar in Attributen von Handlungen auf, verzichtet aber vollig auf einen Riickgriff auf die nichtfonnale Modellbildung auf Basis menschlicher Beobachtung und greift stattdessen allein auf Experimente mit physikalisch messbaren Merkmalen zuruck. Angst und Eile wiirden auf diese Weise vollig neu modelliert und damit auch neu definiert.
3. Man modelliert nicht die Motive selbst fonnal, sondem nur die Auswirkungen auf die Handlungen des betrachteten Handlungskontexts. Basis der Modellierung sind dann durchaus die nichtfonnalen Konstrukte, man verzichtet aber auf ihre explizite Modellierung. Fonnalisiert wird also die mentale Anwendung eines mental en Modells der Situation, das auch Motive als Elemente enthalt.
Variante 1 kann nach der Darstellung des Konstrukts Motiv in Kap. 7.2 nach kurzer Uberlegung als praktisch undurchfUhrbar ausgeschlossen werden: Da Motive wie Angst und Eile Aspekte einer nichtfonnalen Modellbildung sind, die wesentlich VOn dem Modellierer abhangen, miissen Modelle dieser Motive den nichtformalen Modellierungsvorgang mitmodellieren. Das wiirde beispielsweise bei dem Motiv Angst darauf hinauslaufen, dass der Verallgemeinerungsvorgang bei der Erkennung VOn Verhaltensaspekten, die mit dem "GefUhl" Angst verbunden sind, fonnal nachvollzogen wird. Es diirfte nicht bezweifelt werden, dass einerseits wegen der Breite moglicher Einfliisse von Angst auf die unterschiedlichsten Handlungen und andererseits wegen der prinzipiellen Unmoglichkeit, ein GefUhl Angst zu fonnalisieren, dies ausgeschlossen werden kann. Fonnalisierung von Motiven wiirde Fonnalisieren des gesamten denkenden Menschen bedeuten.
Man konnte nun einwenden, dass nicht unbedingt ein Motiv in seiner Ganze, sondem nur einzelne Aspekte fonnalisiert werden mussen. Ein Modell bildet ja generell das modellierte Objekt auch nicht vollstandig ab, sondem nur bestimmte seiner Eigenschaften. Wir werden sehen, dass diese Modellierung von bestimmten Aspekten VOn Motiven in der Tat genau der Variante 3 entspricht.
Variante 2 erscheint prinzipiell moglich. Das Konzept des Motivs als an eine Person gebundene Ursache von Verhaltensaspekten wurde einfach auf fonnale Modellbildung ubertragen - die nichtfonnalen Motive wiirden dabei keine Rolle spie1en. Das Vorgehen entsprache dabei im Prinzip vollig der nichtfonnalen Modellbildung: aus Beobachtung von unterschiedlichem Verhalten wird in einem Verallgemeinerungsprozess auf Variabilitat geschlossen, die nicht aus der auBeren Situation erklarbar ist. Wenn dann noch Konstanz der Variabilitat in unterschiedlichen Kontexten gefunden werden konnte, hatte man im Prinzip ein rein fonnales Motiv erzeugt. Aber auch fUr diese Variante zeigt eine kurze Uberlegung, dass dies entweder undurchfUhrbar ist oder nicht der eigentlichen Zie1stellung entspricht.
Zwar kann man sich durchaus vorstellen, Personlichkeitsmerkmale in physikalisch messbaren Merkmalen im Verhalten (in unserem Beispiel die Lenk-, Bremsund Gasgebeaktivitat) zu erkennen, und man diirfte Zusammenfassungen von
110 7 Nichtforma1e Konstrukte in quantitativen Fahrermodellen
ihnen unter Umstanden auch Motive nennen, weil sie dieselbe Rolle in der Verhaltensbeschreibung spielen wie "normale" Motive. Wegen der auBerst beschrankten Moglichkeit, Lebenssituationen in ihrer Breite experimentell untersuchen zu konnen, konnten aber immer nur "Mikromotive" gefunden werden. Solche umfassenden Motive wie beispielsweise Angst und Eile, die ja - nach den obigen AusfUhrungen iiber den Sinn von Motiven - nur deshalb Motive sind, weil sie im Leben in den unterschiedlichsten Situationen von Bedeutung sind, waren wegen der Begrenztheit einer experimentellen Erhebung nicht vollstandig abdeckbar. Die Mikromotive hatten auch nichts mehr mit den nichtformalen Motiven zu tun und diirften eigentlich auch nicht mit deren Bezeichnungen belegt werden. Zwar konnten diese neuen Motive wiederum mit den herkommlichen Motiven in Verbindung gebracht werden, implizit hatten man dann aber - wie wir gleich sehen werden -wiederum Variante 3 gewahlt.
Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Tatsache, dass wir iiberhaupt keinen Zugriff zu den fraglichen Situationen haben. Dass Eile und Angst einen Einfluss auf dass Verhalten in unserer Ausweichsituation haben werden, schlieBen wir nicht aus der Beobachtung solcher Situationen selbst, sondem aus der Extrapolation eines sehr allgemeinen Modells von Verhalten. Andere Moglichkeiten bestehen wegen der Besonderheit der Situation auch nur sehr bedingt. Dies gilt natiirlich auch fUr eine rein formale Modellbildung. Erst nach einer umfassenden formalen Modellbildung menschlichen Verhaltens in allgemeinen Umgebungen, aus denen dann ein Satz verhaltenserklarender Motive resultiert, konnte man extrapolierend auch unsere Ausweichsituation formal erfassen. Und damit waren wir wieder bei Variante 1 angelangt, die schon als undurchfUhrbar identifiziert wurde.
Bleibt zu untersuchen, ob wenigstens Variante 3 sinnvoll ist. Die Anforderungen hier sind die schwiichsten. Plakativ formuliert lauft es darauf hinaus, ein formales Modell zu erzeugen, das sich so verhalt, "wie man sich das vorstellt". Man kann sich beispielsweise vorstellen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass unser Fahrer als Strategie der Konfliktbewaltigung das Bremsen vor dem Objekt und nicht das Oberholen mit vorherigem Beschleunigen wahlt, davon abhangt, ob er mehr ein angstlicher Typ ist oder mehr ein furchtloser. Ebenfalls konnte man sich vorstellen, dass ein Fahrer, der in Eile ist, auf einem generell hoheren Aktivierungsniveau ist und deshalb schneller und praziser reagieren kann, bei zu hoher Eile aber eventuell unvorsichtig wird und sein eigenes Konnen nicht genau einschatzen wird. Diese Vorhersagen sind moglich aufgrund unseres nichtformalen Modells der Motive Angst und Eile und unseres generellen Weltwissens.
Eine formale Modellbildung gemaB Variante 3 ist nun nichts anderes als eine Modellbildung dieser V orstellungen. Die nichtformal geschlossenen Handlungsaspekte der spezifischen Situation werden in der formalen Modellbildung in irgend einer Weise abgebildet. Das heiBt, dass fixierte Elemente eines Modells als Motive oder Motivaspekte interpretiert werden. Das bedeutet noch nicht, dass die Motive selbst dadurch zu einem formalen Konstrukt werden. Beispielsweise wiirde auch niemand behaupten, dass 'Masse' eine formale GroBe ist, nur weil sie in formalen Modellen enthalten ist.
Wie bei jedem Modell muss auch bei der Abbildung von Motivaspekten die Abbildung nicht vollstandig sein. Da es in der Regel leicht ist, "irgendeinen" As-
7.3 Motive in quantitativen Modellen 111
pekt des Motivationseinflusses abzubilden, ist Variante 3 fast immer moglich. Unter dieser Sicht stellt sich Variante 1 im Nachhinein als doch machbar heraus. Da generell jede Modellbildung von Aspekten eines Objekts oder eines Sachverhalts eine Modellbild des Objekts oder des Sachverhalts selbst ist, ist Variante 3 mit Variante 1 identisch. Allerdings ist das so realisierte Modell unendlich weit von einer "tiberdeckenden" Modellbildung eines Motivs entfemt. Der Einfluss eines Motivs auf eine spezifische Handlung kann zwar als eine Eigenschaft des Motivs aufgefasst werde. Sie ist aber genauso marginal fUr das Gesamtkonstrukt wie die Eigenschaft einer Schraube fUr ein ganzes Auto.
Auf den ersten Blick scheint mit einer Realisierung einer Motivmodellierung gemaB Variante 3 von unserem Anliegen, Motive formal zu modellieren, nicht vie I tibrig geblieben zu sein. Da die nichtformalen Vorstellungen immer subjektiv sein mtissen und dariiber hinaus ebenfalls die Uberpriifung des formalen Modells im Verhaltnis zu diesen, mutet das ganze Unterfangen beliebig willktirlich an. Dieser "Mangel" lasst sich nach den obigen AusfUhrungen auch nicht beheben, solange man auf das nichtformale Wissen tiber Motive zuriickgreifen will. "Nichtobjektiv" darf aber nicht mit "beliebig" gleichgesetzt werden. 1m folgenden Abschnitt werde ich versuchen, einige "Richtlinien" der formalen Motivmodellierung aufzustellen und Konsequenzen fUr die Validierung abzuleiten. Vorher mochte ich aber noch auf die besondere Problematik dieses Beitrags, die Verbindung der Motive mit der Modellierung dynamischen Verhaltens, eingehen.
7.3.1 Formale Erweiterung der Motivkonstrukte
In Kap. 7.1.2 wurde gezeigt, dass zur prospektiven Beantwortung der Fragen, die im Zusammenhang mit der Entwicklung des hypothetischen Hindemisassistenten aufkommen, ein quantitativ-formales Modell des dynamischen Fahrerverhaltens notwendig ware. Grundlage dieses Modell ist wie bei jedem formalen Modell von Objekten der Natur ebenfalls ein nichtformales Modell, das sog. konzeptionelle Modell (Jtirgensohn, 2000). AIle Modelle, auch die physikalischen, entstehen vor dem Hintergrund eines nichtformalen Grundverstandnis von der Welt. Dariiber hinaus flieBt in die Modellbildung aber zusatzlich Wissen tiber quantitativdynamische Aspekte der Handlung ein, die auBerhalb der Sicht einer direkten Beobachtung liegen und deshalb prinzipiell nicht nichtformal modellierbar sind. Wenn beispielsweise in dem Dynamik-Modell des Lenkverhaltens das Wissen einflieBt, dass der Frequenzgang des Lenkverhaltens Tiefpass-Charakter mit einer bekannten Grenzfrequenz haben muss, dann wird damit ein Verhaltensaspekt nachgebildet, der auBerhalb des angenommen quantitativen Formalismus, also der Fouriertransformation, weder einen Sinn hat, noch validierbar ist. Umgekehrt hatten wir eben festgestellt, dass motivationale Verhaltensaspekte nur vor dem Hintergrund eines nichtformalen Modells validiert werden konnen.
Nun muss - wie in Kap. 7.1.2 erlautert - fUr unsere Fragestellung das gesamte Verhaltensmodell, eingeschlossen der motivationalen Aspekte, notwendig ein Dynamik-Modell sein. Somit mtissen sich die fUr die Modellierung ausgewahlten Aspekte der Motive notwendig in dem dynamischen Verhalten widerspiegeln. Es
112 7 Nichtfonnale Konstrukte in quantitativen Fahrennodellen
erscheint deshalb moglich und sogar wahrscheinlieh, dass die Motive auch einen Einfluss auf die quantitativ-formalen Aspekte des Verhaltens haben. Beispielsweise kann man sich vorstellen, dass eine hohe Eile zu einer Verschiebung des Frequenzgangs der Lenkbewegungen zu hOheren Frequenzen fiihren wird. Da Eile aber wie festgestellt ein niehtformales Konstrukt ist, liegt der quantitativ-formale Aspekt eigentlich au13erhalb des Konstrukts Eile. Das hat zur Folge, dass dieser Aspekt prinzipiell nicht validierbar ist. Oder anders formuliert: Ais niehtformales Konstrukt, fuBend auf menschlichen Beobachtungen, sind formal-quantitative Aspekte eines Motivs - weil au13erhalb des Denkhorizonts liegend - nicht integrierbar und jede Annahme dariiber reine Spekulation.
Hier besteht offensichtlich ein Widerspruch in der Schlussfolgerung aus der vemiinftigen Annahme einerseits, dass sich Motive auch auf physikalisch-formale Aspekte der Handlung auswirken, und dem grundsatzlieh nichtformalen Charakter von Motiven mit ihrer Bindung an den menschlichen Beobachter andererseits. Die Ursache fUr diesen Widerspruch liegt in unserer unzulassigen Extrapolation der Wirkung von Motiven auf die physikalisch-formalen Aspekte der Handlung. Was wir dabei gedanklieh namlich tun, ist die Bindung von Motiven allein an das Objekt, ohne Beriicksiehtigung der Tatsache, dass Motive zusatzlich vom modellierenden Subjekt abhiingen. Erst wenn wir gleichzeitig mit unserer Annahme einer Wirkung von Motiven aufphysikalisch-formale Aspekte der Handlung, auch eine Anderung der Motivkonstrukte, d.h. eine Modifikation des nichtformalen Modells und damit des Wissens des Modellierers, fordem, ist der Widerspruch aufgelost.
Was wir also brauchen, ist eine Erweiterung des Motivkonstrukts von einer rein nichtformalen zu einer gemischt formal-nichtfomalen Modellierung. Dies entspricht im Prinzip dem oben als Variante 2 bezeichneten Vorgehen der "Objektivierung" von Motiven. 1m Unterschied zu dem dort vorgeschlagenen Vorgehen, wird jetzt aber eine Modifikation und nieht eine Neudefinition des Motivkonstrukts gefordert. Das impliziert, dass die Basiseigenschaften von Motiven als Beschreibungsmittel iiber eine gewisse Breite von unterschiedlichen Handlungen erhalten bleiben. Andemfalls wiirde dies Vorgehen einem Miinchhausentrick gleich kommen: Man mache den Modellierer Glauben, dass das Objekt A die Eigenschaft B hat und schon hat A die Eigenschaft B. Eine Erweiterung eines nichtformalen Konstrukts mit formalen Elementen muss deshalb "vorsichtig" und generalisierend erfolgen und darf sich nicht an singularen Situationen festmachen.
Wie kann solche eine Erweiterung nun in der Praxis erfolgen? Bezogen beispielsweise auf den Einfluss des Motivs Angst auf die Lenkaktivitat ware ein mogliches Vorgehen die Verkniipfung von physikalisch-dynamischen Faktoren mit dem Motivkonstrukt iiber Expertenurteile. Dazu miissen unterschiedliche Situationen erzeugt werden, in denen Fahrer mit unterschiedlichen Graden der Angst agieren. Von dem Fahrer selbst oder von einem Experten, der eine sehr genaue Vorstellung von dem Motiv Angst hat, werden dann Einschatzungen iiber die Starke oder anderen Indikatoren der Angst abgegeben. Wenn es gelingt, eine generelle Verbindung dieser Einschatzung zu physikalisch-dynamischen Faktoren zu finden und diese im Wissen der Experten zu verankem, ist die geforderte Ausweitung des Motivkonstrukts gelungen.
7.4 Grundregeln der forrnalen Modellbildung mit Beriicksichtigung von Motiven 113
Dieses Vorgehen entspricht in Vielem dem Vorgehen bei der Objektivierung subjektiver Urteile, beispielsweise iiber die Fahrbarkeit yom Fahrzeugen (Riedel u. Arbinger, 1997; Jiirgensohn et aI., 2000; KrUger u. Neukum, Kap. 15 in diesem Band). 1m Unterschied zu den dort vertretenen Zielen sind die Anforderungen an die Allgemeingiiltigkeit bei der Motiverweiterung aber wesentlich groBer. A.hnlich sind auch die Bestrebungen der Kognitionswissenschaften, durch Formalisierung kognitive Aspekte objektiv zu machen, einzuschatzen. Wie Wolf (1994) aufzeigt, entfemt sich die Kognitionswissenschaft allerdings dadurch von den nichtformalen Grundlagen und erzeugt neue Konstrukte, die sich mehr und mehr von ihren Quellen entfemen.
Aus der Tatsache, dass eine Beriicksichtigung von Motiven in einer formalen Modellbildung nichts anderes ist als eine Interpretierbarmachung von Verhaltensaspekten des formalen Modells als Abbildung nichtformaler V orstellungen iiber motivgesteuertes Verhalten, darf nicht geschlossen werden, dass sich in den formalen Modellen nichts Neues ergeben kann (s. z.B. Domer, 1994). Da die dynamischen Aspekte des Gesamtmodells nicht nichtformal erfasst werden konnen, ist es durchaus moglich, dass sich in der dynamischen Simulation neue Aspekte ergeben. Eine Ausweitung des nichtformalen Motivkonstrukts kann deshalb nicht nur iiber den oben beschriebenen experimentellen Weg, sondem auch iiber den modellgestiitzten Weg moglich sein. Das wiirde bezogen auf unser Problem beispielsweise dadurch geschehen, dass sich in einer Simulation des modellierten VerhaItens bestimmte Verhaltensmuster bei bestimmten Motivkonstellationen ergeben, die nicht explizit programmiert wurde, sondem sich nur implizit ergeben.
Vorsicht ist allerdings geboten, wenn sich die neuen Konstrukte so verselbststandigen, dass die Verbindung zu den nichtformalen Konstrukten verloren geht. 1m Gegensatz zu den Konstrukten der Kognition, die wesentlich enger an spezifische Handlungen gebunden sind, kann es durchaus sein, dass bei einer zu starken Loslosung von der nichtformalen Konstrukten der eigentliche Sinn der Motive, ihre Allgemeingiiltigkeit, verloren geht. Erweiterung kann immer nur zwischen den "Stiitzstellen" der nur nichtformal-validen Wahrheit erfolgen.
Zusammenfassend kann also festgestellt werden: wenn wir Motive oder andere nichtformale Konstrukte in quantitativ-formalen Modellen abbilden, bewegen wir uns automatisch aus dem urspriinglichen nichtformalen Geltungsbereich hinaus und erzeugen modifizierte und erweiterte Konstrukte, die nur in ihrer Formalitat sinnvolle Elemente enthalten. Je mehr wir dies tun, desto mehr losen wir uns von den urspriinglichen Konstrukten und erzeugen dadurch neue.
7.4 Grundregeln der formalen Modellbildung mit Berucksichtigung von Motiven
In dem vorherigen Kapitel wurden ausgehend von einer Betrachtung des Motivkonzepts aus modelltheoretischer Sicht einige Bedingungen fUr eine Beriicksichtigung von Motiven in quantitativ-dynamischen Modellen zusammengestellt. Wesentlichstes Ergebnis war die Feststellung, dass sowohl die Modellbildung von
114 7 Nichtfonnale Konstrukte in quantitativen Falrrennodellen
Motiven als auch ihre Validierung in fonnalen Modellen wegen des nichtfonnalen Charakters von Motiven ebenfalls nur nichtfonnal erfolgen kann. Eine bedeutende Folge davon ist, dass eine personeniibergreifende ObjektiviHit der Modelle wie in fonnalen Modellen nicht mogliche ist.
AIle im vorherigen Kapitel als Variante 3 bezeichnete Interpretationen von Strukturen, Parametem oder Variablen in Modellen dynamischen Verhaltens als Ausdruck motivationaler Einfliisse sind zwar fixiert, wegen ihrer semantischen Anbindung an ein nichtfonnales Konstrukt bleiben sie aber nichtfonnal und damit eng an den Modellbilder gekoppelt. Sie sind aber dennoch nicht vollig willkiirlich, da man von einem irgendwie gearteten Konsens zwischen den Modellbildem ausgehen kann. Es wurde versucht, auf einer abstrakten Ebene, den minimalen Konsens zusammenzustellen. Daraus lassen sich nun einige grundlegende Regeln fUr die Beriicksichtigung von Motiven in fonnal-dynamischen Modellen zusammenstellen:
1. Parametrischer Einfluss Der Motiveinfluss liegt immer eine Ebene hOher als die zeitveranderlichen Variablen (Zustandsvariablen). In der fonnalen Umsetzung sind deshalb Motive immer durch Parameter einer bestimmten Verhaltensbeschreibung reprasentiert. Der parametrische Einfluss kann sehr unterschiedlich sein, von Parametem einer Bewegungsbeschreibung iiber Entscheidungsschwellen bis hin zu strukturellen Parametem. Die Parameter konnen selbst zeitveriinderlich sein. Auch eine Riickkopplung der Zustandsvariablen auf Motivparameter ist moglich, allerdings nur, solange die Dynamik beider Ebenen klar unterscheidbar bleibt.
2. Starke Motive sind eindimensionale, mit einer Starke behaftete Parameter. In einer formalen Modellierung bedeutet dies eine Abbildung auf eine MaJ3variable. Uhlich sind reelle positive Zahlen. In allen bekannten Ansatzen, in denen Motive in formalen Modellen vorhanden sind, ist dies so realisiert (z.B. Wiedemann, 1974; Kageyama u. Pacejka, 1991; Bosser, 1987; Jiirgensohn et al. 1997; Domer, 1999; Innscher, 2001; Innscher, Kap. 8 in diesem Band). Neben reellen MaJ3variablen sind aber auch qualitative MaBe denkbar (winzig ... gigantisch) oder FuzzyMaJ3zahlen. Ob die Motivstiirke nur Werte in einem Intervall (z.B. aus [0,1]) haben sollte oder nach oben offene, ist aus dem Motivkonstrukt nicht eindeutig ableitbar. Sinnvoll fUr eine Vergleichbarkeit erscheint eine prinzipielle Begrenzung.
3. Objektivierung und Validierung Prinzipiell sind Motive wie Eile oder Angst - weil Allgemeingut - auch ohne psychologische Spezialausbildung in fonnalen Dynamikmodellen abbildbar. Es wurden einige Beispiele fUr ein allgemeines Wissen urn den Einfluss von Angst auf Verhalten genannt. Eine Modellbildung kann aber nur dann "optimal" sein, wenn auch das nichtfonnale Basiswissen optimal ist. Je differenzierter die nichtfonnalen Modellvorstellungen iiber motivationale (oder auch kognitive) Einfliisse auf das Fahrerverhalten sind, desto valider wird auch die Umsetzung in einem fonnalen Modell sein. Da die nichtfonnalen Modelle nur in den Kopfen der Modellierer vorhanden sein konnen, bedeutet dies, dass eine Abbildung mentaler Einfliisse auf das Fahrerverhalten in fonnalen Modellen eine entsprechende Aus-
7.4 Grundregeln der formalen Modellbildung mit Beriicksichtigung von Motiven 115
bildung der Modellierer benotigt. "Objektivierung" der Modelle bedeutet in diesem Zusammenhang dann eine "Professionalisierung" in einem kommunikativen Austausch.
Die Schwierigkeiten mit einer Objektivierung durch Analyse von Expertenmeinungen sind hinreichend bekannt (s. hierzu Dinse et aI., Kap. 17 in diesem Band; oder Giesa u. Timpe, 2000). Vielfach sind die Streuungen der Meinungen so groB, dass dann praktisch von einem "Nichtwissen" gesprochen werden muss. Von Modellbildern, die Erfahrungen allein in der physikalisch-technischen Modellbildung haben, wird dies oft als Nachteil einer nichtformalen Modellbildung angefiihrt. Dem sei entgegengehalten, dass die hohe Validitat der Modelle im physikalisch-technischen Bereich nur dem (gliicklichen) Umstand zu verdanken sind, dass dort die formale mit der semantischen Validitat zusammenfallt. Wie in Kap. 7.1.1 schon bemerkt, erstreckt sich die Validitatspriifung eines formalen Modells allein iiber die Operationen des Formalismus und keineswegs iiber die dahinter liegende Semantik. Bei solchen Systemen wie dem Mensch, dem Verkehr oder der Gesellschaft ist die Gleichsetzung einer formalen mit einer semantischen Validitat eben nicht zulassig. In dieser Hinsicht ist deshalb eine Objektivierung eines Modells, das nichtformalisierbare Anteile enthalt, der bestmogliche Weg.
4. Formale Ausweitung Eine formale Ausweitung von Motiven benotigt einerseits eine Einbeziehung physikalisch messbarer und damit personenunabhangiger Variablen und Indikatoren fiir Motive bzw. Motivstarken und andererseits eine Integration dieser Indikatoren in die nichtformalisierbaren Anteile an den Motivkonstrukten. Formale und nichtformale Anteile miissen konsistent sein und dfufen sich nicht widersprechen.
Praktisch kann eine Ausweitung dadurch vollzogen werden, dass entweder in experimentellen Versuchen oder in (wiederum experimentell angesicherten) Simulationen ein systematischer Zusammenhang zwischen physikalisch validierbaren Indikatoren und den nur nichtformal einschatzbaren Motiven gefunden wird. Eine formale Ausweitung darf allerdings den Charakter der Breite von Motiven nicht zerstoren. Das bedeutet, dass die nur in eng begrenzten Handlungsdomanen gefundenen Korrespondenzen zwischen formalen und nichtformalen Elementen nicht als formale Ausweitung interpretiert werden darf. Sinnvoll ware beispielsweise eine Korrespondenz zwischen Motiven und generellen Bewegungsparametern, eventuell auch noch eingeschriinkt auf die Fahrzeugfiihrung. Nicht sinnvoll ware dies, wenn man sich beispielsweise nur auf Uberholsituationen beschranken wiirde.
Weiterhin kann eine formale Ausweitung nur langsam iterativ erfolgen. Solange das Konstrukt noch nichtformale Anteile enthiilt kann eine Veranderung nur iiber die Veranderung des Modellierers, das heiBt seinem Wissen, erfolgen. Die physikalisch-formalen Versuchsergebnissen werden dann jeweils mit einem Motivkonstrukt in Korrespondenz gebracht, das schon formale Elemente enthalt.
116 7 Nichtforrnale Konstrukte in quantitativen Fahrerrnodellen
Literatur
Basser, T. (1987). Gefohrliche und aggressive Verhaltensweise des Fahrers bei der Regelung des Abstandes auf der Autobahn, Koln: Verlag TUv Rheinland
Cacciabue, P.C. (1998). Modelling and Simulation of Human Behaviour in System Control. London: Springer-Verlag
Domer, D. (1999). Bauplanfilr eine Seele. Hamburg: Rowohlt Domer, Dietrich (1994). Eine Systemtheorie der Motivation. In J. Kuhl (Hrsg.), Enzyklopa
die der Psychologie, Motivationspsychologie. Gottingen: Hogrefe-Verlag Domer, Dietrich (1994). Heuristik der Theorienbildung. In Herrmann, T.; Tack, W.H.
(Hrsg.), Methodologische Grundlagen der Psychologie (343-388) (Enzyklopadie der Psycho logie, Bereich B, Serie I, Band I). Gottingen: Hogrefe
Giesa, Hans Gerhard & Timpe, Hans-Peter (2000). Technisches Versagen und menschliche Zuverlassigkeit. In K.-P. Timpe; T. Jurgensohn & H. Kolrep (Hrsg.), MenschMaschine-Systemtechnik (63-104). Dusseldorf: Gabler-Verlag
Heckhausen, Heinz (1989). Motivation und Handeln (2., viillig uberarb. u. erg. Aufl.). Berlin [u.a.]: Springer-Verlag
Irrnscher, Marita (2001). Modellierung und Simulation von Motivationseinflilssen auf das Fahrerverhalten, (VDI-Fortschrittberichte, Reihe MMS, ZMMS-Spektrum, Band 12). Dusseldorf: VDI -Verlag
Johannsen, G.; Boller, H.E.; Donges, E. & Stein, W.H. (Hrsg.) (1977). Der Mensch im Regelkreis, Lineare Modelle. Munchen, Wien: Oldenbourg Verlag
Jiirgensohn, T. (2000). Bedienerrnodellierung. In K.-P. Timpe; T. Jurgensohn & H. Kolrep (Hrsg.), Mensch-Maschine-Systemtechnik (107-148). Dusseldorf: Gabler-Verlag
Jiirgensohn, T.; Irrnscher, M. & Willumeit, H.-P. (1997). A Model of Individually Acting Drivers Influenced by Motivational Factors. In B.-B. Borys, G. Johannsen; C. Wittenberg, & G. Stratz (Eds.), Proceedings of the 16th European Annual Conference on Human Decision Making and Manual Control Dec. 9.-11. 1997, Kassel, Germany (260-267)
Jiirgensohn, T.; Willumeit, H.-P. & Irrnscher, M. (2000). Fahrerrnodelle als Hilfsmittel zur Objektivierung von subjektiven Bewertungen der Fahrbarkeit. In H.-P. Willumeit & H. Kolrep (Hrsg.), Bewertung von Mensch-Maschine-Systemen, 3. Berliner Werkstatt Mensch-Maschine-Systeme, 6.-8. Okt. 1999, Berlin, ZMMS-Spektrum Band 11 (340-358), Sinzheim: Pro Universitate Verlag
Kageyama, I. & Pacejka, H.B. (1991). On a New Driver Model with Fuzzy Control. Vehicle System Dynamics, Vol. 20, 314-324
Kuhl, J. & Heckhausen, H. (Hrsg.) (1996). In N. Nirbauer; D. Frey; J. Kuhl; W. Prinz & F. Weinert, Enzyklopadie der Psychologie. Gottingen, Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe Verlag fUr Psychologie
Kuhl, Julius (1983). Motivation, Konflikt und Handlungskontrolle. Berlin: Springer-Verlag McClelland, David C. (1985). Human Motivation. Glenview: Scott, Foresman and Compa
ny McRuer, D.T. & Krendel, E.S. (1974). Mathematical Models of Human Pilot Behavior.
AGARDograph, No. 188. London: Technical Editing and Reproduction Ltd. Harford House
Platon (-380). 7[oAlTE:ia. Riedel, A. & Arbinger, R. (1997). Subjektive und objektive Beurteilung des Fahrverhaltens
von Pkw, (FAT Schriftenreihe Nr. 139). Frankfurt am Main: FAT Sheridan, T.B. & Ferrell, W.R. (1974). Man-Machine-Systems: Information, Control, and
Decision Models of Human Performance. Cambridge, Ma: MIT Press
Literatur 117
Spinoza, B. de (1665,1977). Die Ethik (lateinisches Original: Ethica). Stuttgart: Phillip Reclamjun
Thomae, Hans (Hrsg.) (1983). Theorien und Formen der Motivation (Enzyklopiidie der Psychologie, Themenbereich C (Theorie und Forschung), Serie IV (Motivation und Emotion). Gottingen, Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe Verlag fur Psychologie
Wiedemann, R. (1974). Simulation des Verkehrsflusses, Habilitationsschrift, Universitiit Karlsruhe
Wolf, S. (1994). Mensch-Maschine-Metapher: Zur Exemplifikation des mensch lichen Geistes durch den Computer, Dissertation Universitat Bamberg
8 Modellierung von Individualitat und Motivation im Fahrerverhalten
Marita Irmscher
8.1 Einleitung
Die gegenwartig in der Fahrzeugentwicklung eingesetzten Fahrermodelle dienen meist als "virtuelle Fahrer" in Fahrdynamiksimulationen. Dabei wird der Fahrer als RegIer in einem Regelkreis Fahrer-Fahrzeug aufgefasst. "Menschlich" wird das Modell mitunter durch Einbeziehung von Wahmehmung und Motorik.
Mit dem verstarkten Aufkommen von Informations- und Unterstiitzungssystemen im Fahrzeug gewinnen die bisher vergleichsweise wenig beachteten kognitiyen und motivatorischen Verhaltensebenen des Fahrers an Bedeutung, denn die Forderung nach mehr Sicherheit und Komfort durch automatische Fahrhilfen fUhrt notwendig auf Fragen der Aufgabenteilung zwischen Fahrer und System, Fahrerbeanspruchung, Verhaltensanpassung sowie Akzeptanz. Fiir optimale Unterstiitzung bei der Fahraufgabe sollte sich ein System adaptiv an einen bestimmten Fahrer und seinen augenblicklichen mentalen Zustand anpassen. Dies erfordert aber Vorgaben iiber Verhaltensmerkmale des Fahrers in unterschiedlichen Situationen, also ein Modell des individuellen Fahrerverhaltens als Systembestandteil. Wie im vorherigen Beitrag erlautert wurde, kann Individualitat im Verhalten durch Motive abgebildet werden.
Anders als die Sensomotorik ist motiviertes Verhalten nicht ohne wei teres regelungstechnisch zu formulieren. Stattdessen ist verstarkt der Riickgriff auf Erkenntnisse der entsprechenden Grundlagenwissenschaften, d.h. der psychologischen Disziplinen angezeigt. Deren Theorien und Modelle liegen allerdings oft nicht in der fUr Entwicklungsingenieure wiinschenswerten Form von mathematischen Zusammenhangen oder ausftihrbaren Algorithmen vor. Fiir die praktische Anwendung humanwissenschaftlicher Erkenntnisse in einer Simulation von Fahrzeug und Fahrer oder als Bestandteil eines Assistenzsystems sind vorhandene Methoden daher zu evaluieren und gegebenenfalls neu zu formulieren.
Dies wird exemplarisch anhand der Einbeziehung von Motivationseinfliissen auf ein Modell des individuellen Fahrerverhaltens in einer typischen Verkehrssituation gezeigt. Neben situativen Faktoren, die ein bestimmtes Grundmuster an Verhaltensweisen im Verkehr bedingen, werden innere Dispositionen bzw. Motivationszustande des Fahrers als Erklarung fUr individuelle Unterschiede im Verhalten herangezogen.
120 8 Modellierung von Individualitlit und Motivation im Fahrerverhalten
8.2 Individuelles Fahrerverhalten
Autofahrer sind im Vergleich zu anderen Maschinenbedienem eine sehr heterogene Gruppe, da Autofahren Bestandteil vieler Lebensbereiche ist - von der Berufstiitigkeit iiber Freizeitaktivitiiten bis zur Liebhaberei. Neben dem reinen Beforderungszweck enthiilt das Fahren daher auch in starkem MaBe emotionale Komponenten, die sich auf das Handeln des einzelnen Fahrers im Verkehr auswirken. Die Fahrweise einer Person wird daher nicht nur durch Verkehrsregeln und situative Erfordemisse (iiuBere Faktoren), sondem auch durch den jeweiligen Tiitigkeitszweck und die augenblickliche Stimmung bestimmt (innere Faktoren). In der Person des Autofahrers sind auch weitere Unterschiede begriindet wie beispielsweise Alter, Fahrerfahrung, fahrerisches Konnen oder die jeweilige Einstellung zum Fahren (Personlichkeitsfaktoren). Hier stellen sich sofort zwei Fragen:
• Welches sind die entscheidenden Faktoren, die das Fahrverhalten einer Person in einer bestimmten Verkehrssituation beeinflussen?
• In welchen Verhaltensweisen manifestieren sich individuelle Unterschiede?
Da die Beantwortung dieser Fragen in starkem MaBe fiir die Erforschung von Unfallursachen relevant ist, gibt es hierzu aus der Verkehrspsychologie eine Reihe experimenteller Untersuchungen und handlungstheoretischer Erkliirungsansiitze. Dabei zeigen sich enge Beziige zur Motivationspsychologie, die sich generell mit Ursachen menschlicher Handlungen (Motive), Zusammenhiingen zwischen Motiyen und Handlung sowie interpersonellen Verhaltensunterschieden beschiiftigt. Die Erkenntnisse dieser Disziplinen iiber Motivationseinfliisse auf das Fahrerverhalten wird in den folgenden zwei Abschnitten etwas detaillierter dargestellt.
8.2.1 Einflussfaktoren auf das Fahrerverhalten
Bereits in den 70er Jahren wurden im Rahmen von Studien zur Verkehrssicherheit Einflussfaktoren auf Verhaltensunterschiede innerhalb einer untersuchten Fahrerpopulation identifiziert (Berger, et aI., 1974; Utzelmann, 1977). Niiiitanen u. Summala (1976) priigten den Begriff Extramotive fiir Verhaltenseinfliisse neben den "primiiren" Motiven des Transportzwecks und der Selbsterhaltung. Huguenin (1988) verwendet hierfiir die sog. Attitiiden, definiert als:
"iiberdauernde Organisation von kognitiven, motivationalen und emotionalen Anpassungsdispositionen, die auf gewisse Reizgegebenheiten gerichtet sind"
Die AttitUde entspricht damit im wesentlichen dem motivationstheoretischen Verstiindnis von Motiven als:
,,Determinanten von Verhalten und Erleben, die sowohl in der Situation als auch im Organismus liegen konnen und dort als iiberdauernde Wertungs- oder Verhaltensdispositionen konzipiert werden"
8.2 Individuelles Fahrerverhalten 121
Die Extramotive lassen sich entsprechend auch in eine Aufstellung fundamentaler Beweggriinde menschlichen Handelns der Motivationspsychologie - sog. Grundmotive - einordnen (Murray, 1938; McClelland, 1954), wie in der nachstehenden Tabelle 8.1 dargestellt.
Tabelle 8.1 Einflussfaktoren auf den Fahrer
Extramotive nach Einflussfaktoren auf das Fahrer- Grundmotive Naatanen u. Summala (1976) verhalten Utzelmann (1977) nach Murray (1938)
Risiko urn des Risikos willen Herausforderung durch Fahren
Leistung im Grenzbereich
Sicherheit und Entspannung durch ruhiges Fahren (Gleiten)
Geltungsdrang Konkurrenz und Rivalisieren Machtausubung
FahrspaB Vergnugen am gekonnten Fahren
Spiel. Unabhangigkeit (Pilotieren)
Selbstbestatigungsdrang Demonstration der Starke des
Selbstdarstellung eigenen Fahrzeugs
Aus dem heuristischen "Autofahrerwissen" kann diese Liste noch durch weitere Faktoren wie Eile, Angst, Frustration, Aggression und Bequemlichkeit ergiinzt werden, die ebenfalls Entsprechungen in den Grundmotiven haben.
Wegen dieser Ubereinstimmung bietet es sich daher an, zur Analyse und Beschreibung der Auswirkungen individueller Dispositionen auf Fahrerhandlungen in einer Situation auf motivationspsychologische Grundlagen zuriickzugreifen.
8.2.2 Manifestation von MotivationseinflUssen im Fahrerverhalten
Fahrerverhalten bedeutet konkret zielgerichtetes Handeln im Verkehr, das die Ausfiihrung zumindest der unten aufgefiihrten Teilaufgaben erfordert:
Vorgabe und Uberpriifung eines Zieles (z.B. Wunschgeschwindigkeit), - Beobachtung, Wahmehmung der Umwelt und des Verkehrsgeschehens, - Erkennung und Interpretation einer Situation,
Entscheidung zwischen mehreren Handlungsoptionen hinsichtlich des Ziels, - motorische Handlungsausfiihrung (Betiitigung von Lenkrad, Gas und Bremse),
Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmem.
Diese Teilaufgaben lassen sich zusammenfassen als Wahrnehmung, mentale Informationsverarbeitung und Motorik. Nach Huguenin (1988) beeinflussen Attitiiden den Informationsverarbeitungsprozess, die Entscheidungskriterien in einer Situation sowie die Sensomotorik der Fahrzeugfiihrung, also die vorher genannten Handlungselemente. Ausgehend von der Definition von Motivation als "einer Kraft, die Ziele generiert und Verhalten initiiert und moderiert" (Madsen, 1974) ist aber auch eine Gliederung der Handlung in Zielsetzung, Handlungsinitiierung (also Entscheidungsprozesse, die schlieBlich zu einer Handlung fiihren) und Hand-
122 8 Modellierung von Individualitat und Motivation im Fahrerverhalten
lungsmoderierung (Art und Intensitat der Handlungsausfiihrung) sinnvoll. Motivationseinfliisse konnen dann unter Einbeziehung vorhandener Erkenntnisse iiber Teilhandlungen des Fahrerverhaltens fiir jedes einzelne Handlungselement beschrieben werden.
Fiir eine Nachbildung des motivierten Fahrerverhaltens in einer Computersimulation wird es erforderlich, quantitative Zusammenhange zwischen Motivationseinfliissen und VerhaltensauBerungen zu formulieren. Diesem auBerst problematischen Bereich, namlich einer quantitativen Modellierung des motivgesteuerten menschlichen Verhaltens widmet sich die Arbeitsgruppe urn Dorner mit einem theoriegeleiteten und gleichzeitig pragmatischen Ansatz.
8.2.3 Motiviertes Handeln - das PSI-Modell der Handlungsregulation
Mit der PSI-Theorie der Handlungsregulation (Schaub, 1993; Dorner, 1998) wird ein Modell des menschlichen Handeln und interner psychischer Phlinomene aus psychologischem Grundlagenwissen zu Kognition und Motivation synthetisiert. Ausgangsbasis sind Erfordernisse an Organisation und Regulation der Aktivitaten eines autonomen Systems, das mit seiner Umgebung in stofflichem und informationellem Austausch steht und sich an wechselnde auBere Umstande anpassen solI. Anhand von wahrgenommenen inneren und Umgebungszustanden werden situationsangemessene, moglicherweise konkurrierende Ziele und Absichten erzeugt. Zur Auswahl einer handlungsleitenden Absicht dienen Kriterien wie diese:
• Motivstarke = Funktion von Sollwertabweichung und Dauer der Sollwertabweichung
• Auswahldruck = Funktion von Kompetenz, Motivstlirke, Dringlichkeit und Termindruck
Es handelt sich also urn ein parametrisches Modell, in welchem unter Anderem Motive als Parameter auf das Verhalten des Systems einwirken. Der Parametereinfluss wird groBtenteils heuristisch unter Riickgriff auf psychologische Grundlagen wie das Erwartung-mal-Wert-Prinzip formuliert. Die Theorie und damit die Modellannahmen werden anhand von Computersimulationen des Modells iiberpriift und interpretiert. Dazu muss die Theorie exakt, formalisierbar und konsistent sein, damit eine Implementation als Computerprogramm iiberhaupt moglich ist.
Ein solches Modell ist fiir die Simulation eines individuell handelnden Fahrers in einer Verkehrsurngebung sehr erstrebenswert. Der Modellierer steht dann aber vor dem Problem, entsprechende Funktionen zwischen Motivation und Handlung aufzustellen. Auswege aus dieser Schwierigkeit bieten lernende Verfahren wie kiinstliche neuronale Netze, aber auch Fuzzy-Methoden mit ihrem Ansatz der natiirlichsprachlichen Beschreibung des Systemverhaltens in unscharfen Regeln. Gegeniiber neuronalen Netzen bieten Fuzzy-Methoden den Vorteil, dass vorhandenes System- und Prozesswissen bei der Aufstellung des Modells verwendet werden kann.
8.3 Fuzzy-Modellierung 123
8.3 Fuzzy-Modellierung
Fuzzy-Methoden wurden in der kiinstlichen Intelligenz vor allem zur Beschreibung von Vagheit, Imprazision und Unsicherheit des menschlichen Wissens und Handelns aufgegriffen. Sowohl das Entscheidungsverhalten des Fahrers in einer Verkehrssituation als auch die motorischen Fahrerhandlungen sind durch unscharfe Regelbasen beschreibbar (Fuzzy Decision Making bzw. Fuzzy Control).
Prinzipiell konnen Fuzzy Control und Fuzzy Decision Making durch ein einheitliches Ablaufschema dargestellt werden, wie in Abb. 8.1 gezeigt.
Messgrossen
Fuzzy-Entscheider I Fuzzyregler
Inferenzma.schine
Entscheidungslogik
Stellgrossen
Defunifikation ~-+--
Abb. 8.1 Ablaufschema von Fuzzy Control und Fuzzy Decision Making
Der erste Schritt besteht darin, scharfe Eingangswerte anhand von Zugehorigkeitsfunktionen den Termen linguistischer Variablen zuzuordnen (Fuzzifizierung). Beispielsweise werden fiir die linguistische Variable Fahrzeugabstand Terme wie "weit", "nah", "knapp" etc. eingefiihrt. Die vom Modellierer festgelegten Zugehorigkeitsfunktionen beschreiben dabei, in welchem MaB ein Eingangswert einem Term einer linguistischen Variablen entspricht.
Die linguistischen Variablen fiir Eingang und Ausgang werden durch eine Regelbasis miteinander verkniipft, die eine Anzahl von Regeln enthalt wie beispielsweise:
WENN Fahrzeugabstand knapp UND Relativgeschwindigkeit positiv groB DANN Bremse sehr groB
Die einzelnen Regeln werden in der Inferenzmaschine (Entscheidungslogik) ausgewertet und anschlieBend zusammengefasst. 1m Faile von Fuzzy Decision Making bedeutet dies, dass jede Handlungsaltemative durch Attribute in Form linguistischer Variablen beschrieben ist, denen Nutzwertfunktionen zugeschrieben werden. Diese werden dann durch die Entscheidungslogik zu einem Gesamtnutzen verrechnet. Mit der Defuzzifizierung wird schlieBlich aus den ausgewerteten und zusammengefassten Regeln ein resultierender scharfer Ausgangswert errechnet. 1m Faile des Fuzzy Decision Making ist im allgemeinen eine einfache Ordnung der einzelnen Entscheidungsaltemativen nach Giitewert ausreichend.
124 8 Modellierung von Individualitat und Motivation im Fahrerverhalten
Die dargestellten Erkenntnisse der Motivationstheorie und der Verkehrspsychologie werden in einem Fuzzy-Modell des Fahrerverhaltens abgebildet, wie im Folgenden beschrieben.
8.4 Ein Modell des individuellen Fahrerverhaltens
Das Fahrermodell ist als Teil einer Mikroverkehrssimulation konzipiert, in der es sich zusammen mit anderen Verkehrsteilnehmem in einer virtuellen Simulationsumgebung autonom bewegt. Verkehrssituationen ergeben sich dabei vor allem aus dem Zusammenspiel der betrachteten Fahrer-Fahrzeug-Einheiten. Die maBgeblichen GroBen darur sind deren Abstand und Geschwindigkeit relativ zum eigenen Fahrzeug, die Eigengeschwindigkeit sowie die Einschatzung der beobachteten Konstellation durch den Fahrer. Die untersuchte Verkehrssituation ist eine typische Oberholsituation auf einer zweispurigen Autobahn. Einflusse des individuellen Verhaltens lassen sich hier besonders gut studieren.
r----------------------------------------j I I I I
: ~ouvo6on :
AusfUhrung
RegeJbosis: Situationswissen. Verhaltensmodelle. Motorprogramme
~----------------------------------- ______ I
Absriinde. Geschwindigkeiten •...
L~r~~ Fahrzeugmodell
Gas. Bremse. Lenkwinkel
Abb. 8.2 Modellstruktur der Mikroverkehrssimulation mit einem Fahrermodell individuellen Verhaltens.
Das Fahrerverhalten wird dabei - wie in der kognitiven Modellierung und auch in der Verkehrspsychologie ublich - in die Handlungselemente Sensorik, Kognition (Situationserkennung und Entscheidungsfindung) und Motorik gegliedert. Motiva-
8.4 Ein Modell des individuellen Fahrerverhaltens 125
tion wirkt sich auf die Zielsetzung, die kognitiven Prozesse sowie die Motorik aus. Exemplarisch wurden zwei Einflussfaktoren, niimlich Risikobereitschaft und Eile beriicksichtigt. Damit ist se1bstverstiindlich nicht das gesamte Spektrum individueller Unterschiede von Autofahrem erfasst, aber es lassen sich so schon sehr deutlich individuelle Unterschiede in der Fahrweise nachbilden.
Die Aspekte der Unschiirfe in der Sensorik des Fahrers und Ungenauigkeiten in der menschlichen Wahmehmung wird durch die Fuzzifizierung der exakt berechneten Fahrzeugdaten modelliert.
Die gezeigte Uberholsituation wird als Entscheidungsproblem aufgefasst und durch Fuzzy Decision Making beschrieben. Die anschlieBende motorische Ausf'iihrung der gewiihhen Aktion wird durch quasi automatisch ablaufende Handlungssequenzen, sog. generalisierte Motorprogramme (Schmidt, 1986) mit anschlieBender Regelung durch Fuzzy Control modelliert. Diese Motorprogramme sind zusammen mit Verkehrsregeln und Situationswissen in einer Wissensbasis gespeichert.
Individualitiit wird in dem vorgestellten Modell in Form von Motiven bzw. Motivationsfaktoren fUr Eile und Risikobereitschaft in der Entscheidungsfindung beriicksichtigt. 1m folgenden Abschnitt wird dies detailliert dargestellt.
8.4.1 Der Entscheidungsprozess
Entscheidungen sind dadurch gekennzeichnet, dass in einem bestimmten Kontext mehrere Handlungsahemativen existieren. Der durch die aktuelle Situation und die Fahrermotivation gesteuerte Entscheidungsprozess ist in der folgenden Abb. 8.3 dargestellt.
personliche Einschatzung und Erwartungen
Motive
~ ZustandsgroBen
Entscheidung Oberholen I Foigen
Geschwindigkeit, Position des eigenen Fahrzeugs
und der Fremdfahrzeuge
Motive
Foigen -----'---- Oberholen
Entscheidung Gasgeben I Bremsen
Entscheidung Spurwechsel I Spurhaltung
Abb. 8.3 Uberholverhalten als mehrstufiger Entscheidungsprozess
Die iibergeordnete Entscheidung ist die zwischen Uberholen und Folgen. Als nachgeordnete Entscheidung ist dann der Zeitpunkt des Uberholbeginns zu wiih-
126 8 Modellierung von Individualitat und Motivation im Fahrerverhalten
len, der hier mit dem Spurwechsel gleichgesetzt wird. Der Spurwechsel wird durch ein parametrisches Lenkman6ver modelliert, das gegebenenfalls noch nachgeregelt werden kann. Solange nicht uberholt wird, wird die Spur gehalten, was ebenfalls eine Regelung erfordert. Entscheidet sich der Fahrer, nicht zu uberholen und dem Vorderfahrzeug zu folgen, so reguliert er Geschwindigkeit und Abstand durch Gas und Bremse. Das ist hier ebenfalls als Entscheidung zwischen Gas und Bremspedal und anschlieBender Regelung modelliert.
Dabei Hisst sich die Uberholentscheidung als Handlungsausrichtung interpretieren, entsprechend die Spurwechselentscheidung als Handlungsinitiierung und die AusfUhrung des Folgens und des Lenkens als Handlungsmoderierung. GemaB der Definition von Motivation sind dies die Elemente der Handlung, in denen Motivation sich auswirkt.
Die einzelnen Handlungsaltemativen einer Entscheidung unterscheiden sich durch ihre Merkmale oder Attribute voneinander. Aus der Bewertung der Attribute hinsichtlich ihres Nutzen fUr den Handelnden lasst sich dann die Entscheidung ableiten. Den drei Entscheidungen gemaB Abb. 8.3 werden heuristisch die folgenden Attribute zugeordnet:
Tabelle 8.2 Handlungsaltemativen und Attribute des Fuzzy-Modells
Oberhoien/Foigen
TF: maximal tolerierte Folgezeit
FVL: Annaherung an langsameres Fahrzeug vorn
FVR: Annaherung an langsameres Fahrzeug rechts
GO: akzeptierte GeschwindigkeitsUberschreitung beim Oberholen
SPR: Position des eigenen Fahrzeugs (rechte Spur)
FzgV: Fahrzeug vorn vorhanden
Spurwechsel/Spurhaltung
AV/AH: Fahrzeug vorn/hinten schert aus
SV/SH: Sicherheitsintervall vorn/hinten
FHS: Annaherung eines Fahrzeugs auf der Zielspur
FVL: Auf der rechten Spur vorn befindet sich ein (weiteres) Fahrzeug
SPR: Position des eigenen Fahrzeugs (rechte Spur)
QS: querstabile Lage des eigenen Fahrzeugs
LH: Lichthupe von Fahrzeug F4
BL: Vorderfahrzeug hat Blinker gesetzt
Bremsen/Gasgeben
AG: Auffahrgefahr Vorderfahrzeug
SV: Sicherheitsintervall vorn
G: eigene Geschwindigkeit
A: eigene Beschleunigung
Fur jedes Attribut der Handlungsaltemativen wird eine Nutzwertfunktion definiert, die beim Fuzzy Decision Making durch Fuzzy-Mengen dargestellt werden, wie in der folgenden Abb. 8.4 gezeigt.
8.4 Ein Modell des individuellen Fahrerverhaltens 127
Langsameres Fahrzeug vorn: FVL
al bl TIC Max. Folgezeit iiberschritten :
~ TF
a3 b3 tFolgen
Langsameres Fahrzeug rechts: FVR
a2 b2 TIC Geschwindigkeit beim Oberholen :
~ GO
a4 b4 vTacho
Abb. 8.4 Nutzwertfunktionen fUr die Attribute der Spurwechselentscheidung
Die verwendeten Nutzwertfunktionen lassen sich folgendermaJ3en interpretieren: Das Attribut Anniiherung an ein langsameres Fahrzeug vorn (FVL) ist desto mehr erfiillt, je kleiner die TTC (Kollisionszeit) zum Vorderfahrzeug ist. Der Nutzen, ein solches Fahrzeug zu iiberholen, ist sehr groB. Ab einer bestimmten Kollisionszeit al sinkt dieser Nutzen, urn schlieBlich bei einem nicht mehr wahrgenommenen Geschwindigkeitsunterschied (ausgedrUckt durch einen groBen Wert b 1 rur die TTC) ganz zu verschwinden. In gleicher Weise wird das Merkmal der Anniiherung an ein langsameres Fahrzeug vorn (FVR) beschrieben. Es beeinflusst die Entscheidung, ob nach einem bereits erfolgten Uberholvorgang noch weiter iiberholt werden solI.
Der Nutzen des Uberholens ist erst nach Uberschreitung einer tolerierten Folgezeit a3 von Null verschieden (TF), bei noch langeren Folgezeiten steigt der Nutzwert dann bis zur maximal tolerierten Folgezeit b3 an und bleibt dann auf diesem Niveau.
Fiir den Uberholvorgang werden kurzzeitig hOhere Geschwindigkeiten akzeptiert, als es der eigenen Wunschgeschwindigkeit entspricht oder die Verkehrsregeln verlangen (GO). Urn Uberholvorgange mit iiberhOhter Geschwindigkeit oder sehr geringer Geschwindigkeitsdifferenz zum iiberholten Fahrzeug zu verhindern, wird der Nutzen eines Uberholvorganges mit sehr hoher Geschwindigkeit klein angesetzt.
Urn individuelle Unterschiede bei der Entscheidung zum Uberholen und zum Spurwechsel abzubilden, wurden die Parameter der Nutzwertfunktionen ai und hi
128 8 Modellierung von Individualitat und Motivation im Fahrerverhalten
in Abhangigkeit von Motivationsfaktoren vorgegeben. Akzeptierte Abstande zu einem Vorderfahrzeug flir die Kriterien FVL und FVR wurden Rekersbrink (1994) entnommen. Fiir die tolerierte Folgezeit TF sowie die akzeptierte Uberholgeschwindigkeit GO wurden entsprechende Parameter aus eigenen Fahrversuchen zur Uberpriifung des Modells abgeleitet (Tabelle 8.3).
Tabelle 8.3 Parameter der Nutzwertfunktionen
FVU FYR TTCknapp TTClang
TF (1,1- eile) . lOs (1,1 - eile) . 20 s
GO vwunsch (1,1 + 0,2 . eile) vwunsch
Die Einzelnutzwerte werden nun in Form sprachlich formulierter Regeln zu Gesamtnutzwerten der jeweiligen Alternative verkniipft. Ein Beispiel flir eine solche heuristische Regel formuliert in natiirlicher Sprache ist die folgende Aussage:
WENN UND
UND DANN
sich das eigene Fahrzeug auf der rechten Spur befindet, die Geschwindigkeit des Vorderfahrzeug kleiner ist als die eigene Wunschgeschwindigkeit ist, die tolerierte Folgezeit iiberschritten ist, soll iiberholt werden.
Diese Regellasst sich durch Verkniipfung der in Tabelle 8.2 angegebenen Merkmale einer Handlungsalternative in folgender Weise formalisieren:
SPR y FVL Y TF ¢ (j
Dabei wurde anstelle der Verkniipfung durch UND bzw. ODER der parametrische y-Operator verwendet, der auf einen Wert zwischen der optimistischen (risikofreudigen) ODER-Verkniipfung und der pessimistischen (defensiven) UNDVerkniipfung eingestellt werden kann. Die Parameterwahl folgt der Vorgabe flir die Risikobereitschaft (Truskawa, 1999).
In Tabelle 8.4 sind die flir die Oberholentscheidung relevanten Regeln zusammengestellt (bedeutet die Negation des Merkmals). Die einzelnen Spalten sind durch den y-Operator verkniipft. In der Spalte 0 ist die Alternative angegeben, flir welche die berechneten Gesamtnutzwerte gelten.
Tabelle 8.4 Entscheidungsregeln fur die Uberholentscheidung
TF FYL FYR GO SPR FzgY 0
x x Uberholen
x x x Uberholen
x x x weiter Uberholen
nicht Uberholen
8.4 Ein Modell des individuellen Fahrerverhaltens 129
Bei der Inferenzbildung werden die ermittelten Gesamtnutzen einer Handlungsalternative durch Maximumbildung defuzzifiziert. Falls es ein eindeutiges Maximum oberhalb eines vorgegebenen Schwellenwertes von 0,5 gibt, wird die zugehOrige Handlungsalternative gewahlt. Wird keine Alternative mit einem hinreichend groBen Nutzen bewertet, so wird als Default-Handlung Nicht-Uberholen ausgefiihrt. Das bedeutet fiir ein Fahrzeug auf der rechten Spur Folgen, also eine Rege1ung des Fahrzeugabstandes, fUr ein Fahrzeug auf der linken Spur einen Spurwechsel nach rechts.
Der Entscheidung fUr eine der moglichen Handlungsalternativen folgt deren motorische Ausfiihrung. Dies beinhaltet sowohl die Langs- als auch die Querfiihrung des Fahrzeuges. Die stabile Querfiihrung des Fahrzeugs ist fUr Simulationsrechnungen eine unverzichtbare Voraussetzung. Zudem ist die realitatsnahe Simulation der Fahrzeugbewegung ein Qualitatsmerkmal in einer Fahrsimulation und wurde daher eingehend untersucht.
8.4.2 Motorische AusfOhrung des Spurwechsels
Theoretische Grundlage fiir die Beschreibung der Lenkbewegung beim Spurwechsel sind wie bereits erwahnt die generalisierten Motorprogramme von Schmidt (1985, 1986). Diese Theorie besagt im wesentlichen, dass fUr hochtrainierte Bewegungsabfolgen Prototypen oder "ausfiihrbare Programme" in Form von zeitlichen Mustern in Zeit und Kraftverteilung existieren, die stiickweise aus Einzelbewegungen aufgebaut sind. Durch freie Parameter wie Gesamtdauer, Kraft, Weite (Amplitude) und Genauigkeit der Bewegung konnen diese Bewegungsmuster an aktuelle Anforderungen angepasst werden.
Aber auch hochtrainierte Bewegungen konnen nicht beliebig genau ausgefiihrt werden, unter anderem, weil die Parameter eines vorhandenen Motorprogramms nicht hinreichend genau verfiigbar sind. Es werden daher im Verlauf einer Handlungssequenz zusatzliche Korrekturen notwendig. Dies geschieht, indem das Ergebnis der Handlung iiberpriift und gegen Ende zunehmend geregelt wird. Der beobachtete Handlungsablauf weicht daher von dem urspriinglichen Motorprogrammab.
Ergebnisse eigener Fahrversuche zum Lenkverhalten bei Spurwechseln zeigten denn auch die erwarteten invarianten Lenkmuster, iiberlagert durch zusatzliche Korrekturbewegungen. Diese Lenkmuster sind individualtypisch und variieren zudem mit der Risikobereitschaft. (siehe auch Irmscher, 2001; Jiirgensohn, 1996; Jiirgensohn, et aI., 1997 sowie KrUger u. Neukum, Kap. IS). In Abb. 8.5 ist ein idealisiertes Motorprogramm fUr den Lenkwinkel eines zeitoptimalen Spurwechsels gezeigt, im Vergleich dazu gemessene Lenkwinkel bei Spurwechseln auf der Autobahn.
Die Lenkbewegung wurde entsprechend durch die folgenden Ansatze modelliert und implementiert:
• Vorgabe eines naherungsweise optimal parametrisierten Lenkmanovers fUr den Spurwechsel ohne Beriicksichtigung individueller Unterschiede.
130 8 Modellierung von Individualitat und Motivation im Fahrerverhalten
• Fuzzy Control zur Ausregelung abgeschiitzter Quer- und Gierwinkelabweichungen. Hier werden kleine Ausgleichsmanover ausgefiihrt, was zu kleinen Stufen und Wellen in dem beobachteten Manover fiihrt, wie sie in der Realitiit auch beobachtet werden.
~ c
] c OJ
....J
0.00 1.00 2.00 3.00 4.00
Zeit [5]
Abb. 8.5 Typische Lenkwinkelverlaufe fur Spurwechse1 bei etwa 100km/h auf der Autobahn im Vergleich zu einem idealisierten Lenkprogramm.
8.5 Simulationsergebnisse
Zur Verdeutlichung der Motivationseinfliisse auf das Verkehrsverhalten eines Fahrers in der simulierten Oberholsituation wurde der zeitliche Verlauf einer Verkehrssituation in Abhiingigkeit von unterschiedlichen Einstellungen fiir Eile und Risikobereitschaft simuliert. Zur Darstellung wurde hier eine Folge von "Schnappschiissen" besonders markanter Zeitpunkte im Simulationsverlauf gewiihlt. Abbildung 8.6 gibt die berechnete Verkehrssituation fiir einen Fahrer E (wie EGO) ohne Eile und mit geringer Risikobereitschaft fiir ausgewiihlte Zeitpunkte wieder.
8.5 Simulationsergebnisse 131
~4~-------------------------___ E ____ ~ ____ L-t l ~ - ____ _ If.
---------------~~----------------~~--------~==~
E "==--
_E ____________ +-____________________ ~4~-
t3~
Abb. 8.6 Simulierte Verkehrskonstellationen ftir eine typische Uberholsituation mit einem Fahrer (E) ohne Eile und niedriger Risikobereitschaft.
Zum Zeitpunkt t1 befindet sich EGO hinter einem langsameren Fahrzeug 1. Als nach einer gewissen Folgezeit die Uberholschwelle iiberschritten wird, hat sich auf der Uberholspur das schnellere Fahrzeug 4 genahert (t2). EGO rallt zurUck, lasst Fahrzeug 4 passieren und iiberholt erst danach (t3).
Anders verlauft die Situation bei gleicher Ausgangslage, aber hoher Risikobereitschaft. Aufgrund der etwas hoheren risikoabhangigen Wunschgeschwindigkeit entschlieBt sich EGO zum Zeitpunkt t2 zum Uberholen und rahrt mit Wunschgeschwindigkeit weiter. Dadurch nahert sich Fahrzeug F4 bis auf einen sehr geringen Abstand an (t3 und t4). EGO bleibt bei der Wunschgeschwindigkeit und wechselt nach Beendigung des Uberholmanovers zum Zeitpunkt t5 wieder auf die rechte Spur (Abb. 8.7) .
.. ----------------- E --~i~'.---LI -t l ----.. - _ - _
I
E t 5 ----. - ---
Abb. 8.7 Simulierte Verkehrskonstellationen fur eine typische Dberholsituation mit einem Fahrer (E) ohne Eile und mit hoher Risikobereitschaft.
132 8 Modellierung von Individualitat und Motivation im Fahrerverhalten
Als dritte Variante wurde ein eiliger und risikofreudiger Fahrer betrachtet (Abb. 8.8). Bis zum Zeitpunkt t4 ist hier kein Unterschied zum vorherigen Fahrertyp zu sehen. Zum Zeitpunkt t5 entschlieBt sich der eilige Fahrer allerdings nicht zu einem Spurwechsel auf die rechte Spur, sondem beschleunigt auf der Uberholspur, urn im Sinne einer maximalen zukiinftigen Handlungsfreiheit moglichst schnell den niichsten Uberholvorgang anschlieBen zu konnen.
~4~----------------------------- E ----~----~I -t l ----.. - - _ _ _ _ _ to. _ I
-4------------------------- E--------------t s ----.. --
Abb. 8.8 Simulierte Verkehrskonstellationen fur eine typische Uberholsituation mit einem Fahrer (E) mit hoher Eile und mit hoher Risikobereitschaft.
Als Ergebnis der Simulation werden schon bei nur zwei variierten Motiven sehr unterschiedliche Entwicklungen einer Verkehrssituation infolge eines veriinderten Fahrerverhaltens erkennbar. Die Ergebnisse sind plausibel und nachvollziehbar. Damit ist dieser Ansatz eine sehr okonomische Moglichkeit, durch die Vorgabe von Parametem tiber Fahrereigenschaften Individualitiit im Fahrerverhalten bei Simulationen des Systems Fahrer-Fahrzeug zu beriicksichtigen.
8.6 Zusammenfassung
Individuelles Fahrerverhalten wurde durch zwei Motive, niimlich Eile und Risikobereitschaft, formal beschrieben und als Fahrermodell in einem Berechnungsprogramm fur eine Mikroverkehrssimulation implementiert. Dafur wurden technische und psychologische Ansiitze der Fahrermodellierung zusammengefUhrt. Eine Leitidee war dabei die PSI-Theorie der Handlungsregulation von Domer, da auch hier psychologische Theorien des individuellen motivierten Verhaltens fUr eine Umsetzung in eine Computersimulation formuliert wurden.
Als Anwendungen ftir die Verkehrssimulation mit individuell handelnden Fahrermodellen sind insbesondere Simulationen in den Gebieten der Unfallforschung
Literatur 133
oder fiir die Untersuchung von Fahrerassistenzsystemen in einem Verkehrszusammenhang denkbar, in denen individuelle Eigenschaften des Fahrers eine besondere Rolle spie1en. Hier konnte auch die Definition und Vorgabe von "intelligentem" Fremdverkehr besonders interessant sein.
Literatur
Berger, H.-J.; Bliersbach, G.; Dellen, R. G.; Kroj, G. & Pfafferott, I. (1974). Psychologische Forschung zum Sicherheitsgurt und Umsetzung ihrer Ergebnisse (Schriftenreihe Unfall- und Sicherheitsforschung im StraBenverkehr, Berichte der Bundesanstalt fur StraBenwesen, Heft 2)
Domer, D. (1998). Ein Bauplanfor eine Seele. Reinbek: Rowohlt Huguenin, R.D. (1988). Fahrerverhalten im StrafJenverkehr. Braunschweig: Rot-Ge1b
Griin Irmscher, M. (2001). Modellierung und Simulation von Motivationseinflussen atif das
Fahrerverhalten, (VDI Fortschrittberichte, ZMMS Spektrum Bd. 12) Dusseldorf: VDI-Verlag
Jiirgensohn, T. (1997). Hybride Fahrermodelle, (ZMMS-Spektrum Bd. 5), Sinzheim: pro universitate
Jiirgensohn, T.; Jung, R.; Willumeit, H.-P. (1997). Die Handschrift des Lenkens. ATZ Au-tomobiltechnische Zeitschrift 99, Nr. 4, 216-219
Madsen, K.B. (1974). Modern Theories of Motivation. Kopenhagen: Munksgaard McClelland, D.C. (1985). Human motivation. London: Scott, Foresman & Co. Murray, H.A. (1938). Explorations in personality. New York: Oxford University Press Niiiitanen, R.; Summala, H. (1976). Road user behavior and traffic accidents. Amsterdam:
North Holland Publishing Company Rekersbrink, A. (1994). Verkehrsflusssimulation mit Hilfe der Fuzzy-Logic und einem Kon
zept potentieller Kollisionszeiten. Dissertation, Universitiit Karlsruhe Schaub, H. (1993). Modellierung der Handlungsorganisation. Bern: Huber Schmidt, R.A. (1985). The search for invariance in skilled movement behavior. Research
Quarterly for Exercise and Sport, 56, 188-200 Truskawa, S. (1999). Entwicklung eines Modells zur Nachbildung des Fahrerverhaltens mit
Hilfe von Fuzzy Decision Making. TU Berlin, Dip10marbeit am Institut fur StraBenund Schienenverkehr
Utze1mann, H.D. (1977). Merkma1e des Fahrerverha1tens und ihre Zuordnung zu motivationa1en Bedingungen. Symposium uber Sicherheit im StrafJenverkehr, 127-136
Teilill
Multimodale Interaktion
9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme
Suat Akyol, Lars Libuda und Karl-Friedrich Kraiss
9.1 Einleitung
Mit der Entwicklung modemer Bordsysteme ist auch im Kraftfahrzeug der Bedarf an benutzergerechten Schnittstellen gewachsen. Neue Hilfsmittel, wie etwa das Navigationssystem, machen zunehmend Gebrauch von multimedialen Ausgabetechniken, wahrend die Eingabe des Benutzers noch mittels mechanischer Bedienelemente erfolgt. Wegen der steigenden Funktionalitat solcher Bordsysteme und der damit verbundenen hohen Anzahl von Bedienelementen, wird die Bedienung des Bordsystems komplizierter.
Fahrer
multimediale Anzeigen
multimodale Eingaben
Inter- Kfz pretation I----~ DialogEingaben systeme
Abb. 9.1 Generelle Architektur multimodal-adaptiver Benutzungsschnitlstellen im Kfz
Zusatzlich wird der Benutzer wahrend der Fahrt durch konkurrierende Zugriffe auf die gleichen Ressourcen von seiner Hauptaufgabe abgelenkt. Seine Hiinde miissen gleichzeitig das Fahrzeug lenken und Bordsysteme bedienen. Hierzu ist eine Blickabwendung vom Verkehrsgeschehen erforderlich. Einen Ansatz zur Vermeidung der genannten Probleme bieten multimodal-adaptive Benutzungsschnittstellen. Eine generelle Architektur daf'iir zeigt Abb. 9.1, auf die im Abschnitt 9.3 noch ausf'iihrlich eingegangen wird.
Die Verwendung mehrerer Modalitaten, wie z.B. Sprache und Gestik, kann die Bedienung komplexer Systeme intuitiver gestalten. Ebenso ist eine hOhere Bedie-
138 9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme
nungseffizienz zu erwarten, weil unabhiingige Ressourcen zum Einsatz kommen. Durch die Adaptation der Systemfunktionen und der Informationsdarstellung an den Nutzungskontext solI zudem die Arbeitslast verringert und ein aufmerksames Fahren ermoglicht werden. Dieser Beitrag beginnt mit einer allgemeinen Einfiihrung in multimodale und adaptive interaktive Systeme. AnschlieBend wird eine elektronische Bedienanleitung fiir das Kfz vorgestellt. Diese Anwendung stellt multimodale Eingaben zur Verfiigung und bietet bei der Behandlung der Fehler des Spracherkenners auch adaptive Elemente. AbschlieBend wird uber empirische Erfahrungen mit diesem System berichtet.
9.2 MultimodaliUit und Adaptivitat in MMI
Dieses Kapitel stellt die Thematik der Multimodalitiit und Adaptivitiit in der Mensch-Maschine Interaktion mit Schwerpunkt auf Fahrzeugflihrung dar. Zu beiden Themengebieten werden auch allgemeine Beispiele priisentiert.
9.2.1 Multimodale Bedieneingabe
Die Hauptaufgabe eines Kfz-Benutzers ist das Fahren. Sie erfordert eine moglichst ununterbrochene visuelle Aufmerksamkeit und beansprucht die Hiinde zur Lenkung des Fahrzeugs. Gleichzeitig sind wiihrend des Fahrbetriebs oft Nebenaufgaben zu erfiillen, wie etwa die Bedienung von Radio und Klimakontrolle. In der Regel mussen auch diese mit den Hiinden und mit kurzen Kontrollblicken bearbeitet werden. Das kann zu Konflikten fiihren, weil die LeistungsHihigkeit einzelner Ressourcen begrenzt ist.
Das Verhalten des Benutzers bei Mehrfachanforderungen wird im allgemeinen als POC-Kurve dargestellt. Abbildung 9.2 zeigt eine POC-Kurve flir den Fall von zwei gleichzeitig zu bearbeitenden Aufgaben, die jeweils flir sich genommen zu 100% erfiillbar sind. Es sind drei qualitativ unterschiedliche Fiille eingezeichnet. Die FaIle (a) und (b) ergeben sich bei Zugriff auf abhiingige Ressourcen. Der Einsatz von Kapazitiiten flir die eine Aufgabe flihrt dabei zu einer Reduktion der Leistungsfahigkeit bei der anderen. 1m Gegensatz zu (a) deutet (b) auf ein Timesharing von Ressourcen oder auf teilweise unabhiingige Ressourcen hin und damit auf eine effizientere zeitgleiche Bearbeitung beider Aufgaben. (c) steht flir optimales Timesharing oder unabhiingige Ressourcen.
Aus dieser Betrachtung wird klar, dass eine effizientere Bearbeitung multipler Aufgaben nur durch die Steigerung der Timesharingfahigkeit oder durch die Verwendung unabhiingiger Ressourcen ermoglicht wird. Dies bestiitigt auch die Theorie der multiplen Ressourcen von Wickens [29], der zufolge der Mensch verschiedene unabhiingige Ressourcen besitzt, mit denen er diese Effizienzsteigerung erreichen kann. Fur den Informationsaustausch unterscheidet Wickens zwischen sensorischen und effektorischen Ressourcen, die wiederum nach Modalitiiten
9.2 Multimodalitat und Adaptivitat in MMI 139
aufgeteilt sind (Abb. 9.3). Demnach besteht eine intermoda1e Unabhangigkeit, durch die simultanes Sprechen und Gestiku1ieren oder auch Horen und Sehen ohne LeistungseinbuBen mog1ich ist. Ebenso ist eine gewisse Unabhangigkeit zwischen der sensorischen und der effektorischen Verarbeitung zu beobachten. So wird z.B. die Seh1eistung nicht durch zeitg1eiches Sprechen vermindert. Dies gilt vor allem dann, wenn keine menta1en Ressourcen gemeinsam genutzt werden.
Aufgabe B
AufgabeA
Abb. 9.2 Drei qualitativ unterschiedliche POC-Kurven (Performance Operating Characteristic) fUr zwei mehr oder weniger stark konkurrierende Aufgaben.
paralleler Zugriff
Sensorische Ressourcen
Akustische Wahrnehmung
Visuelle Wahrnehmung
Haptische Wahrnehmung
Mentale Ressourcen
Gedachtnisprozesse
Mentale Arithmetik
Denkprozesse
Abb. 9.3 Multiple Ressourcen in Anlehnung an Wickens [29]
Effektorische Ressourcen
Korpermotorik
Es ist demnach theoretisch moglich, die Arbeits1ast durch ein mu1timoda1es Eingabesystem zu senken und dadurch die Bedienungseffizienz zu steigem. 1m Kfz wird die mu1timoda1e AufnahmeHihigkeit des Menschen durch Multimedia bereits genutzt. Fur die Eingabe zum System stehen dem Fahrer jedoch in der Regel nur mechanische Schnittstellen zur VerfUgung. Einige Beispiele fUr die Verwendung von Gestik oder Sprache im Fahrzeug sind zwar bekannt [1, 28], ein multimoda1es Bediensystem gibt es bisher aber noch nicht.
140 9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme
TabeUe 9.1 Ubersicht tiber multimodale Anwendungen
Anwendung Beschreibung
Manipulation von Objekten auf einer Leinwandprojektion. Dies Put-That-There [4] erfolgt per Kombination von Sprache und Zeigegesten z.B. "Ver
schiebe dieses Rechteck 'dort' hin".
VoiceLog [3]
VoicePaint, NoteBook [9]
QuickSet [23]
[8]
MSVT [14]
[22]
Webbasierte Abfrage von Fahrzeugblaupausen. Eingabe in Form von Sprache und Ortswahl per Stift. Es existiert eine simple Grammatik, die nach einem Timeout Riickfragen stellt, falls die zweite Modalitiit ausbleibt.
Malprogramm und Elektronisches Notizbuch. Eingabe iiber Sprache, Maus und Tastatur.
Werkzeug zur militiirischen Kartenplanung. Eingabe mit Sprache und Stift, wobei damit sowohl direkte Ortsangaben als auch ikonische Eingaben moglich sind. Redundante Eingaben werden ausgewertet, urn Eingabefehler zu entdecken und Riickfragen an den Benutzer zu stellen.
Graphik Editor. Sprache, Stift fUr ikonische Eingabe. Es existiert eine Grammatik. Die Erkennungsergebnisse fUr jede Modalitiit werden friih, d.h. vor ihrer Kombination zu einem Befehl, an den Benutzer zuriick gemeldet.
VR Visualisationswerkzeug, in dem der Arbeitsbereich mit Sprache und Gestik manipuliert werden kann. Fiir die Gesteneingabe wird ein Datenhandschuh benutzt.
Auswertung von Wettervorhersage Videos. Kombinierte Erkennung von Sprache und Gestik. Letzteres wird mit einer Videokamera erfasst.
Ein weiteres Motiv fiir die Entwicklung von multimodalen Mensch-Maschine Schnittstelle liegt im Vorbild der Kommunikation von Menschen untereinander. Es werden dabei grundsatzlich mehrere Modalitaten kombiniert genutzt. Dies erlaubt kiirzere Aussagen, so ist z.B. die Aussage "Dieser Stuhl" mit Zeigegeste deutlich kiirzer als "Der Stuhl am linken Kopfende des Tisches". Ebenso kann durch redundante Information Missverstandnissen vorgebeugt werden, indem etwa in lauten Umgebungen die Frage "Wie spat ist es?" durch das Tippen auf das linke Handgelenk unterstiitzt wird. Zusammenfassend lasst sich sagen, dass von multimodalen Schnittstellen folgende Vorteile zu erwarten sind:
Effizienz durch die Nutzung von unabhangigen Ressourcen Kiirzere Bedienzeiten durch die Kombination von Modalitaten Fehlervermeidung durch die Ubermittlung redundant kodierter Informationen Natiirlichkeit / Intuitivitat in Anlehnung an Mensch-Mensch-Kommunikation
Ais Voraussetzung fiir die Entwicklung von multimodalen Mensch-MaschineSchnittstellen ist die Erfassung der natiirlichen menschlichen Ausdrucksmittel zu nennen. Dies wurde im einzelnen fUr viele verschiedene Anwendungen realisiert.
9.2 Multimodalitat und Adaptivitat in MMI 141
Eine gute Obersicht zu Sprach-, Gesten-, und Mimikerkennung bieten z.B. [20, 21, 30]. Die Idee, diese zu kombinieren hat Bolt bereits 1980 formuliert und umgesetzt [4]. Seine mit "Put-That -There" titulierte Anwendung erlaubt die Manipulation von Objekten auf einer Leinwandprojektion durch verbundene Sprach- und Zeigegesten-Befehle. Dazu wird eine Software zur automatischen Spracherkennung und ein elektromagnetisches Ortungsgerat zur Erfassung der Zeigerichtung benutzt.
Eine umfassende Darstellung der Motivation fUr multimodale EingabeSchnittstellen und ein Oberblick der Aspekte einer technischen Umsetzung sind in [26] zu finden. Eine kritische Betrachtung der zu erwartenden Vorteile bietet [19]. In Tabelle 9.1 sind verschiedenen existierenden Anwendungen aus diesem Themengebiet (ohne Anspruch auf Vollstiindigkeit) mit kurzen Beschreibungen zusammengefasst von.
9.2.2 Adaptive Systeme: Anpassung an einen Nutzungskontext
Die Charakterisierung "adaptiv" trifft auf interaktive Systeme zu, die sich an den Nutzungskontext anpassen lassen oder selbstandig anpassen. Dabei bezieht sich die Anpassung auf die Systemfunktionalitat und die Darstellung von Informationen. Der Nutzungskontext ist durch die Situation, die Aufgabe und den Benutzer bestimmt (Abb. 9.4). 1m Folgenden werden Situationsadaptivitat, Benutzeradaptivitat und Aufgabenadaptivitiit genauer betrachtet.
Situation
Fahrzeugsysteme Passagiere Verkehr
Fahrvorgang Umwelt
Fahrer
Priiferenzen Gewohnheiten
Anthropometrie Geschlecht
Alter Ziele/Absichten Beanspruchung Qualifikation
Personlichkeitsstruktur
Abb. 9.4 Definition des Nutzungskontexts
Aufgabe
Navigation Lenkung
Stabilisierung Kommunikation
Fehlermanagement
142 9 Multimoda1e Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme
Situationsadaptivitat
Situationsadaptivitat ist die Anpassung des Systems an System- und UmweltgroBen. Bezogen auf Kraftfahrzeuge konnte das z.B. die Tankflillung, die aktuelle Geschwindigkeit oder die Oltemperatur sein. Entsprechende relevante UmweltgroBen waren AuBentemperatur, Witterung, Verkehrsdichte, u.a. In heutigen Kraftfahrzeugen gibt es bereits mehrere situations adaptive Systeme wie z.B.:
• das Autoradio, welches seine Lautstarke automatisch dem Umgebungsgerauschpegel anpasst
• das Display des Autoradios, welches sich der Umgebungshelligkeit anpasst, so dass es immer optimal hell erscheint
• die automatischen Scheibenwischer, die ihr Wischintervall der Starke des Niederschlags anpassen
• das Antiblockiersystem, das bei blockierenden Reifen eingreift und das Fahrzeug in der Spur halt.
Benutzeradaptivitat
Benutzeradaptive Systeme versuchen, den Zustand des Benutzers zu erkennen und diesen bei der Interaktion zu beriicksichtigen. Zum Zustand des Benutzers gehoren kurzfristige und langfristige Merkmale [12]. Zu den kurzfristigen Merkmalen zahlen z.B. die momentane Arbeitslast, das aktuelle Ziel des Benutzers und Beanspruchung. Langfristige Merkmale sind z.B. personliche Eigenschaften, Wissen und Interessen.
Der Belastungszustand des Benutzers kann aus physiologischen GroBen (Blutdruck, PuIs, Lidschlag, etc.) erschlossen werden. Hier konnen kontaktlose (z.B. Videouberwachung) sowie kontaktbehaftete (z.B. Blutdruckmessgeriit) Methoden zum Einsatz kommen. Die letzteren sind auf spezielle Anwendungen begrenzt, bei denen es dem Benutzer zuzumuten ist, Korpersensoren zu tragen, z.B. in der Raumfahrt.
Fur den Einsatz im Kfz eher praktikabel ist die Beobachtung der Interaktion des Benutzers mit dem System (Tastendriicke, etc.). Aus den aufgezeichneten Interaktionsdaten konnen individuelle Merkmale flir jeden Benutzer abgeleitet werden. Dazu gehoren z.B. Bedienfehler, Fehlerhaufigkeit, Interaktionsfrequenz, Arbeitsstil und das aktuell verfolgte Ziel.
Die Merkmale, die ein adaptives System aus den Beobachtungen ableiten kann, sind haufig unsicher. Nur auf der Grundlage von mehreren unabhangigen Beobachtungen ist es moglich, diese Merkmale sinnvoll abzuschatzen, wobei immer noch eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Korrektheit verbleibt. Daher mussen flir die Schlussfolgerung aus den Beobachtungen auf den Zustand des Benutzers Methoden eingesetzt werden, die Unsicherheit beriicksichtigen. AuBerdem ist es unmoglich, jedes beliebige Benutzerverhalten schon beim Systementwurf zu beriicksichtigen und zu modellieren. Daher ist der Einsatz von lemfahigen Verfahren gegenuber heuristischen Ansatzen zu bevorzugen. Zuletzt sollten diese lemf:i-
9.2 Multimodalitat und Adaptivitat in MMI 143
higen Verfahren generalisierend sein, d.h. die Adaption auf Grundlage weniger Beobachtungen abschlieBen konnen.
Der Forschungsbereich der kiinstliche Intelligenz unterscheidet drei grundlegende Verfahren, die im Bereich der adaptiven Systeme erfolgreich angewendet werden:
1. Bayesian Belief Networks (eine Einflihrung findet sich z.B. in [17]) 2. Dempster-Shafer-Theorie ([25, 6]) 3. Fuzzy-Sets (Einfiihrung z.B. in [13])
Eine gute Ubersicht iiber die verwendeten Verfahren mit vielen Beispielen bietet z.B. [11].
Beispiele fUr benutzeradaptive Systeme im Kraftfahrzeugbereich gibt es kaum. Die meisten benutzeradaptiven Systeme stammen aus dem Bereich der OnlineHilfe, Informationssuche und Lernsoftware, da sie hier ihren Ursprung haben. Zu nennen sind z.B.:
• ADAPTIVE ROUTE ADVISOR [24]: Dies ist ein Navigationssystem flir Kraftfahrzeuge, welches die Wiinsche des Fahrers bei der Berechnung nach einer optimalen Fahrtroute beriicksichtigt. Dazu gehort z.B., ob der Fahrer gerne Autobahn fahrt oder LandstraBen bevorzugt.
• FLEXEL [18]: Diese erweiterte Version von MS Excel erkennt regelmaBige Handlungsmuster des Benutzers und schliigt Veriinderungen der Benutzungsoberfliiche vor (neue Meniieintriige, Shortcuts, Macros, etc.), urn somit die Interaktion zu optimieren.
• KNOME [5]: KNOME ist ein natiirlich-sprachliches Hilfesystem fUr UNIX. Es versucht, die Kenntnisse des Benutzers anhand der eingegebenen Befehle einzuschiitzen und bei Hilfestellungen nur die Fakten zu priisentieren, die der Benutzer nicht kennt. Bekannte Fakten werden nicht angezeigt.
Aufgabenadaptivitat
Die Aufgabenadaptivitiit bezieht sich auf die Anpassung an eine bestimmte Aufgabe. Die im Kfz anfallenden Aufgaben sind Navigation, Lenkung, Stabilisierung, Kommunikation und Fehlermanagement. Die Identifikation der aktuell vorliegenden Aufgabe ist in der Regel schwierig, deshalb gibt es sehr wenige Beispiele fUr aufgabenadaptive Systemfunktionen, vor allem im Kfz-Bereich.
Ein bekanntes Beispiel aus einem anderen Bereich ist der MICROSOFT OFFICE ASSISTENT als ein Produkt des Lumiere-Projektes [10]. Wird in Word z.B. "Sehr geehrte Darnen und Herren" eingegeben, so bietet der Office-Assistent Hilfe zur Verfassung von Briefen an. Der Assistent ist nicht benutzeradaptiv, da diese Hilfe jedesmal angeboten wird, wenn der Benutzer den entsprechenden Satz eingibt. Ein weiteres System ist PHI [2]. Es ist Teil eines intelligenten Hilfe-Systems zur Erkennung von Aufgaben, die ein E-Mail Benutzer verfolgt.
CAMA [27] ist ein Cockpit-Assistenz-System fUr militiirische Transportflugzeuge. Es ist dafUr ausgelegt, das Situationsbewusstsein der Piloten zu verbessern. Ein Teil des Assistenzsystems ist ein Modul zur Bewertung der Aktivitiiten des Piloten
144 9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme
und der Missionsereignisse, urn die Aktionen des Piloten in Zusammenhang mit der Flugsituation interpretieren und verstehen zu konnen.
9.3 Konzept einer multimodalen und adaptiven BenutzungsoberfUiche fur Bord-Dialogsysteme
Fahrer
Text Grafik Ani~ation
Sprache Ton
Vibration Riickstellkraft
cken---+ Drehen/Drii I---Sprache ...... --Gesten
Inter-retation
ingaben
I Handlungsprotokolle
.~
Identifikation Dialog-
situation
L Prasentations-
I manager ~
i I nformations-
~ manager
i Elektronische
Bedienanleitung
Abb. 9.5 Konzept des Kfz-Informationssystems auf Basis einer multimodal-adaptiven Benutzungsschnittstelle.
Das allgemeine Konzept einer multimodal-adaptiven BenutzungsoberfUiche wurde bereits in Abb.9.1 dargestellt und ist in Abb.9.5 auf das in diesem Beitrag zugrunde liegende Anwendungsszenario eines Informationssystems zugeschnitten. Dariiber kann zum Beispiel eine elektronische Version des obligatorischen Bordhandbuchs eingesehen oder ein Nachrichtenspeicher mit Verkehrsnachrichten und E-Mails abgehort werden [15, 16].
Zentrales Element ist der Interpreter, der siimtliche Eingabeereignisse empfringt und daraus Kontrollkommandos fur die angeschlossenen Kfz-Systeme, wie in diesem Fall die elektronische Bedienungsanleitung, generiert. Der Interpreter akzeptiert in dieser Anwendung neben Eingaben von herkommlichen mechanischen Bedienelementen auch die Eingabe per Sprache und Gestik. Die von der Bedienungsanleitung generierten Ausgaben werden von einem Informationsmanager gefiltert und somit auf die Dialogsituation zugeschnitten. Der Priisentationsmanager wiihlt die fliT die Dialogsituation angepasste Informationsdarstellung aus. Sie kann optisch undloder akustisch erfolgen. Die Dialogsituation wird aus den
9.3 Konzept einer multimodalen und adaptiven Benutzungsoberflache 145
Aktionen des Benutzers anhand aufgezeichneter Handlungsprotokolle ennittelt und dem Infonnations- sowie Prasentationsmanager zur Verfiigung gestellt. Sie reprasentiert fUr diese Anwendung den Nutzungskontext.
Fur die visuelle Darstellung sind zwei Monitore in der Mittelkonsole des Fahrzeugs untergebracht. Die grafische Oberflache ist in Abb. 9.6 zu sehen. Links ist der Interaktionsbildschinn, in dem der Fahrer durch ein thematisch geordnetes Menu navigieren kann. Ein History-Bereich halt dabei aIle zuvor besuchten Menupunkte fest, urn einen Rucksprung in hohere Ebenen zu ennoglichen. Die Statuszeile kann zur Darstellung unterschiedlicher Nachrichten verwendet werden. Der rechte Monitor dient ausschlieBlich der Infonnationsprasentation. In Abb. 9.6 ist z.B. eine Vorschau auf die nachst tiefere Menuebene des Themas "Notfall" zu sehen. Ferner werden hier Grafiken und Animationen angezeigt.
Navigation Information
Abb. 9.6 Grafische Oberflache des multimedialen Informationssystems
Das Menu und die History sind kreisfonnig angeordnet, urn die Kompatibilitat zwischen der Anzeige und einem mechanischen Bedienelement zu gewahrleisten, das zwei translatorische und einen rotatorischen Freiheitsgrad sowie eine Druckfunktion bietet. Das Bedienelement ist neben dem Schalthebel in der MittelkonsoIe untergebracht (Abb. 9.7).
Abb. 9.7 Mechanisches Bedienelement in der Mittelkonsole
146 9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme
Zusatzlich ist die Eingabe per Sprache und Gesten moglich, wie in den Abschnitten 9.4 und 9.5 noch im Detail beschrieben wird. Die Modalitaten konnen altemativ verwendet werden, d.h. alle Funktionen des Systems sind mit jeder Modalitat erreichbar und ein Modalitatswechse1 ist stets moglich. Es ergeben sich dadurch zwei positive Eigenschaften:
1. Situationsbedingte Nachteile einer Modalitat konnen durch eine andere ausgeglichen werden, z.B. kann der Benutzer das Bedienelement verwenden, wenn die Erkennungsrate des Gestenerkenners durch auBere Umstiinde zu niedrig ist.
2. Aufgabenabhangig kann eine geeignete Modalitat gewahlt werden. So erlaubt Sprache die direkte Referenzierung von Meniieintragen unter Umgehung einer Suche in der Meniihierarchie. Gestik ist z.B. fUr die unmittelbare Kontrolle der Videosteuerung von Animationen besser geeignet. Das Bedienelement ist stets eine gute Riickfallposition bei schlechter Erkennung seitens Sprach- und Gestenerkenner.
9.4 Gesteneingabe
Aus ergonomischen Gesichtspunkten kommt fUr die Gesteneingabe als physikalische Schnittstelle nur eine Videokamera in Frage. Die Verwendung eines Datenhandschuhs ist im Fahrzeug nicht praktikabel, obwohl dieser zuverlassigere Daten fUr eine Erkennung liefem wiirde.
1m Folgenden wird von einem am Lehrstuhl fUr Technische Informatik der RWTH Aachen entwickelten Gestenerkenner berichtet. Das Augenmerk lag dabei auf den hohen Anforderungen fUr diesen Anwendungsfall, die durch intensive plotzliche Beleuchtungsschwankungen und unstrukturierte Hintergriinde gegeben sind. AuBerdem musste mit wechse1nden Benutzem gerechnet werden, denen weder Bekleidungsvorschriften noch Kalibrierungs- und Lemaufwand zugemutet werden diirfen. Es wurde eine Gestenerkennung realisiert, die ...
kontaktlos funktioniert, den Fahrer nicht stort (unsichtbare Beleuchtung), unabhiingig yom Benutzer ist,
- sich unkompliziert bedienen lasst und in Echtzeit reagiert.
Es werden statische Einhand-Gesten erkannt, die horizontal iiber der Mittelkonsole auszufUhren sind. Die Ausfiihrungsstelle fUr die Gesten ist aus Griinden der Verkehrssicherheit mit Bedacht gewahlt worden, denn sie ist von AuBen nicht beobachtbar und es kann daher nicht zu Missverstandnissen zwischen den Verkehrsteilnehmem kommen. AuBerdem ist dadurch gewahrleistet, dass der Fahrer immer eine Hand am Steuer hat und gleichzeitig Gesten eingeben kann.
Eine im Fahrzeughimmel integrierte infrarotempfindliche CCD-Kamera zeichnet den Gestenraum auf, der durch einen entsprechenden Infrarotstrahler zusatzlich ausgeleuchtet wird. Das Infrarotlicht ist fUr den Menschen vollig unsichtbar. Die Bilddaten werden mit Methoden der digitalen Bildverarbeitung analysiert und klassifiziert und das Ergebnis an eine Anwendung zur Verwertung weitergegeben.
9.4 Gesteneingabe 147
Abbildung 9.8 vermittelt einen Eindruck von Aufbau und Funktionsweise des Gestenerkenners. Weitere Details sind in [I] zu finden.
Abb. 9.8 Der Gestenerkenner. Kleine Bilder: Kamera und Strahler, Darstellung der Verarbeitungs- und Erkennungsergebnisse.
Der Gestenerkenner wurde urspriinglich entwickelt, urn gespeicherte Nachrichten verschiedener Art, wie E-Mail und Verkehrsfunk, abzufragen. Diese Anwendung ist rnittlerweile in das Gesarntkonzept des rnultirnedialen Informationssysterns eingebunden. Uber Gesten ist es nun auch rnoglich, die Wiedergabe von Videos und Anirnationen zu steuem oder durch die Meniihierarchie des Informationssysterns zu navigieren. Dabei sind die folgenden Gesten mit den entsprechend zugewiesenen Funktionen verwendbar.
Tabelle 9.2 Gesten zur Steuerung des multimodalen Demonstrators
Gesten
Anwendung
Nachrichten- vorige nachste Pause Abbruch
vorige nachste speicher Nachricht Nachricht Nachricht Nachricht
Animations- schneller schneller Pause Abbruch
schneller schneller steuerung RUcklauf Vorlauf RUcklauf Vorlauf
MenU- MenUpunkt MenUpunkt MenUebene MenUpunkt bedienung nach oben nach unten zurUck aktivieren
148 9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme
9.5 Spracheingabe mit adaptivem Fehlermanagement
Das Problem bei heutigen Spracherkennem ist immer noch die nicht ausreichende Erkennungsrate. Trotz modemster Technik treten Fehler regelmaBig auf. Urn eine Anwendung mit Sprachsteuemng trotzdem zum Erfolg zu fuhren, durfen die Erkennungsfehler nicht ignoriert werden.
Bei der hier beschriebenen Anwendung wird deshalb ein adaptives Fehlermanagement verwendet. Dieses hat die Aufgabe, die Erkennungsrate des eingesetzten Spracherkenners zu steigem, den Benutzer bei der Entdeckung von Erkennungsfehlem zu unterstutzen und falsche Aktionen des Systems aufgmnd von Erkennungsfehlem soweit wie moglich zu reduzieren. Urn dies zu erreichen werden ein kontextadaptives Vokabularmanagement und adaptive Interpretationsstrategien eingesetzt.
9.5.1 Bedienkonzept der Spracheingabe und adaptives Vokabularmanagement
Die Dialogsysteme im Auto sollen schnell und ohne groBe Umstande bedient werden konnen. Durch die Sprachsteuemng ist das leicht erreichbar, dajede Funktion des Fahrerassistenzsystems direkt angesprochen werden kann, ohne sich durch die Menustmktur arbeiten zu mussen, wie dies bei der Bedienung mit Hilfe eines mechanischen Bedienelements oder mit Gestik notwendig ist. Da die Eingabe in technischen Systemen meist intuitiv in Befehlsform passiert, wurde eine kommandoartige Spracheingabe gewahlt.
Das Vokabular setzt sich aus den Namen der Menupunkte des Fahrerassistenzsystems und Systembefehlen ("aktivieren", "abbrechen", etc.) zusammen. Da dem Benutzer am Anfang das Vokabular unbekannt ist und er auch bei Kenntnis der Menustmktur sich nicht unbedingt an die genauen Namen der Menueintrage erinnert ist es wichtig, fur jeden Befehl gebrauchliche Synonyme zu berucksichtigen sowie Begriffe, die einzelne Inhalte eines Menupunktes beschreiben.
Durch diese Auswahl des V okabulars werden Erkennungsfehler aufgmnd unbekannten V okabulars verringert. 1m Gegenzug fuhrt eine VergroBemng des Vokabulammfangs aber zu einer steigenden Anzahl von Fehlerkennungen bei den bekannten Begriffen. Urn diesen Effekt zu mildem, wird ein kontextadaptives V okabularmanagement eingesetzt. Es schrankt das aktive V okabular des Spracherkenners ein, welches fur Mustervergleiche mit dem neuen Sprachsignal verwendet wird. Das gesamte Vokabular ist in Gmppen unterteilt, die je nach Kontext aktiviert oder deaktiviert werden. Diese Einschrankung ist moglich, da nicht jeder Befehl injedem Kontext mit der gleichen Wahrscheinlichkeit verwendet wird.
Der eingesetzte Spracherkenner ist fur die kommandoartige Form der Spracheingabe ausgelegt, unterstutzt ein aktives Vokabularmanagement und ist sprecherunabhangig. Er wird yom Benutzer aktiviert, indem er einen Knopf am Lenkrad betatigt und dann seinen Befehl auBert. Das Ende des Befehls erkennt der Spracherkenner automatisch. Nach dem Erkennungsvorgang liefert er mehrere erkann-
9.5 Spracheingabe mit adaptivem Fehlermanagement 149
te Begriffe mit Vertrauenswerten (Wertebereich: 0-100) zuriick. Von dies en wird derjenige mit dem hOchsten Vertrauenswert ausgewiihlt. 1st dieser Begriff falsch, muss der Benutzer im niichsten Befehl einen Widerspruch einlegen. Die Anzahl der Widerspriiche werden vom System geziihlt und charakterisieren die momentane Verstehensleistung des Spracherkenners. Sie ist ein Ansatzpunkt fUr adaptive Interpretationsstrategien.
9.5.2 Adaptive Interpretationsstrategien
In der Theorie der Informationsdialoge werden drei Interpretationsstrategien unterschieden [7]:
1. defensive Interpretation: Der Benutzer muss einen erkannten Begriff explizit bestiitigen. Falls diese Bestiitigung nicht vorliegt, wird ein weiteres Mal ausdriicklich nach der Korrektheit des Ergebnisses gefragt. Das System fUhrt die korrespondierende Aktion erst aus, nachdem es eine positive Bestiitigung erhalten hat. Bei einer negativen Bestiitigung wird die Aktion nicht ausgefUhrt.
2. offensive Interpretation: Diese Strategie liisst weitgehende Freiheiten des Benutzers zu. Ein erkannter Begriff wird vom System als korrekt angenommen, solange der Benutzer nicht ausdriicklich widerspricht. Das System wartet ein bestimmtes Zeitintervall ab, in dem er seinen Widerspruch iiuBem kann. 1st dies nicht der Fall, wird die Aktion nach Ablauf der Zeit ausgeftihrt.
3. aggressive Interpretation: Das System fragt nicht nach einer Bestiitigung und liisst auch keine Korrekturen durch den Benutzer zu. Die Gefahr einer falschen Systemaktion ist hier direkt vom Erkennungsergebnis des Spracherkenners abhiingig.
Eine vierte Interpretationsstrategie lehnt die AusfUhrung der Systemaktion ab und fordert den Benutzer dazu auf, die Modalitiit zu wechseln, d.h. das Bedienelement oder die Gestik zu benutzen. Sie wird allerdings nur verwendet, wenn die Verstehensleistung des Systems sehr schlecht ist.
Eine bestimmte Interpretationsstrategie wird anhand von zwei Kriterien ausgewiihlt. Zum einen wird der Vertrauenswert des erkannten Begriffs mit einem Schwellwert verglichen. Liegt der Vertrauenswert oberhalb der Schwelle, wird das Ergebnis als "sicher erkannt" klassifiziert, sonst als "unsicher erkannt". Zum anderen wird die Anzahl der Widerspriiche seitens des Systems registriert. Aus den beiden Kriterien resultiert ein zweidimensionales Adaptionsschema, in dem die verschiedenen Interpretationsstrategien angewendet werden (Abb. 9.9). Wird z.B. der niichste Begriff als "sicher erkannt" klassifiziert, der Benutzer hat aber die fUnf vorherigen Begriffe abgelehnt, wird die defensive Strategie verwendet. Wiire dieser Begriff als "unsicher erkannt" klassifiziert worden, hiitte das System den Benutzer aufgefordert, die Modalitiit zu wechseln.
Der "normale" Arbeitsbereich ist durch die aggressive Strategie gekennzeichnet. Da die Sprachbefehle hier direkt ausgefUhrt werden, tritt keine Verz6gerung zwischen Eingabe und Systemreaktion auf. Allerdings werden keine Systemaktionen aufgrund von Erkennungsfehlem verhindert. Insofem liisst das System in
150 9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme
dieser Konfiguration zwei Fehler zu, bevor es die Strategie wechselt. Da eine falsche Systemaktion den Benutzer verwirren kann, fiihrt ein Widerspruch zu einer direkten Stomierung der letzten Aktion. Durch die anderen Strategien verzogert sich die Systemaktion, der Benutzer gelangt aber nicht in falsche Menus.
sicher erkannter aggressive Strategie offensive Strategie
Begriff
unsicher erkannter offensive Strategie defensive Strategie
Begriff
o 2
Abb. 9.9 Adaptionsschema fiir die Interpretationsstrategien
defensive Strategie
Modalitatswechsel
4 6
• Anzahl der Widerspruche
Die offensive und defensive Interpretationsstrategie prasentieren sich dem Benutzer in Form von Bestatigungsdialogen, die auch per Sprache bedient werden konnen. Die Aufforderung, die Modalitat zu wechseln erscheint in der Statuszeile des Displays. Bei der aggressiven Strategie wird der erkannte Begriff angezeigt, damit der Benutzer Erkennungsfehler schnell entdecken kann. Zusatzlich werden alle optische Ausgaben in akustischer Form ausgegeben, damit der Blick nicht yom Verkehrsgeschehen abgewendet werden muss.
Auf weitere Unterstiitzung bei der Fehlerbehebung wie z.B. die Prasentation einer N-Best-Liste (Liste aller erkannten Begriffe, sortiert nach Vertrauenswert) wurde bewusst verzichtet, da dies die Interaktion unnotig verlangert, was wiederurn mehr Ablenkung yom Verkehrsgeschehen bedeutet. AuBerdem verwenden Menschen intuitiv sehr effektive Korrekturmechanismen, wie z.B. die Wiederholung des Begriffs oder die Verwendung von Synonymen.
9.6 Evaluation
Die beschriebene multimodale und adaptive Benutzungsoberflache fUr interaktive Bordsysteme wurde im Rahmen einer empirischen Untersuchung daraufhin untersucht, welche Modalitaten von Benutzem akzeptiert werden und inwieweit die einzelnen Modalitaten den Fahrer yom Verkehrsgeschehen ablenken. Zu diesem Zweck wurde das System in eine Sitzkiste integriert, urn den Versuchspersonen eine moglichst realistische Umgebung zur VerfUgung zu stellen (Abb. 9.8).
Ais Nebenaufgabe diente eine einfache "Fahrsimulation", bei der Versuchspersonen ein Auto zwischen zwei horizontal beweglichen Baken halten mussten (Abb.9.1O). Das Bild wurde mit einem Videoprojektor auf die Wand vor der Sitzkiste projiziert.
9.6 Evaluation 151
Die Versuche wurden von insgesamt 16 Probanden durchgeftihrt. Diese waren in zwei Gruppen mit unterschiedlichem Durchschnittsalter und Erfahrung eingeteilt. Die jiingere Gruppe kannte das System schon von vorhergegangenen Versuchen, wogegen die altere Gruppe keine Erfahrung damit hatte. Die letztgenannte Gruppe reprasentiert potentielle Kaufer eines PKWs der Oberklasse, in das das System spater integriert werden soil.
Abb. 9.10 Fahrsimulation als Primaraufgabe
Die Versuche gliedem sich in zwei Teile: Der erste Teil untersucht die Akzeptanz der verschiedenen Eingabemodalitaten im stehenden Fahrzeug. Hierbei miissen die Probanden mehrere Fragen zu ihrem "Auto" beantworten. Die daflir benotigten Informationen miissen sie in der elektronischen Bedienungsanleitung suchen. Dabei werden zunachst die zu verwendenden Modalitaten vorgegeben. Beim letzten Teil der Fragen ist die Wahl der Modalitat frei.
Der zweite Teil beinhaltet die Bedienung des Fahrerassistenzsystems wahrend der Fahrsimulation. In diesen Versuchen erhalten die Probanden wahrend der Fahrt akustische Meldungen iiber den Empfang neuer E-Mails, Termine und Verkehrsnachrichten, die sie darauf hin abrufen sollen. Hier absolviert jeder Proband drei Fahrversuche, in denen jede Modalitat jeweils exklusiv verwendet wird und einen Versuch, bei dem aile Modalitaten benutzt werden durfen.
Erste Ergebnisse deuten an, dass vor all em die Spracheingabe eine hohe Akzeptanz erhalt, obwohl Erkennungsfehler trotz des Fehlermanagements nicht vollstandig verhindert werden konnen. Bei der Bedienung des Systems wahrend der Fahrsimulation hat die Sprachsteuerung erhebliche Vorteile, da hierbei andere menschliche Ressourcen beansprucht werden als diejenigen, die flir die Wagenlenkung zustandig sind.
Das mechanische Bedienelement ist unkompliziert zu handhaben, wie aile Probanden bestatigen. Die Gesteneingabe wird dagegen als gewohnungsbediirftig empfunden, weil die Einhaltung des Gestenraums ein entsprechendes Training benotigt. Dies ist bei der Spracheingabe nicht erforderlich. Daflir bietet der Gestenerkenner eine geringere Fehlerrate als der Spracherkenner. Zwischen den beiden Gruppen existieren signifikante Unterschiede hinsichtlich der Bediengeschwindigkeit, aber nicht bezuglich der Fehlerhaufigkeit.
1m Ganzen wird das vorgestellte Bedienkonzept positiv bewertet. Durch die Bereitstellung mehrerer Modalitaten flihlen sich die Probanden bei der Bedienung stets sicher, da sie die Modalitat wechseln konnen, wenn sie mit einer anderen nicht gut zurecht kommen. Auch der Aufbau des Informationssystems entspricht
152 9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme
den Erwartungen der Benutzer. Sie finden sich in der Menustruktur schnell zurecht und wahlen in der Regel intuitiv die richtigen Menupunkte aus, hinter denen sie auch die benotigten Informationen vermuten.
9.7 Zusammenfassung
Wegen der zunehmenden Komplexitat modemer Kfz-Bordsysteme ist der Bedarf an verbesserten Mensch-Maschine-Schnittstellen groB. Diese sollen die Komplexitat der Bordsysteme vor dem Benutzer verbergen und eine einfache und intuitive Bedienung ermoglichen. Dabei erlaubt die Nutzung mehrerer Modalitaten die Konstruktion intuitiverer Schnittstellen, die uber adaptive Elemente die Komplexitat des bedienten Systems verbergen. Hierzu passt sich die Schnittstelle nach Form und Inhalt dem Benutzer, seiner Aufgabe und der Situation an.
Diese Arbeit stellt ein Konzept fUr eine multimodale adaptive Schnittstelle im Kraftfahrzeug vor. Samtliche Funktionen des Bordsystems sollen mittels Sprache, Gestik und einem mechanischen Bedienelement unter Beriicksichtigung des aktuellen Dialogkontexts angesprochen werden konnen.
Vorlaufig steht die Integration der verschiedenen Modalitaten im Mittelpunkt. Vor allem bei der Sprache und der Gestik ist eine sichere Erkennung nicht gewahrleistet, so dass hier entsprechende MaBnahmen zur Fehlervermeidung getroffen werden mussen.
Als Anwendungsszenario liegt ein Informationssystem zugrunde, dass unter anderem den Inhalt des herkommlichen Bordhandbuchs in multimedialer Form prasentiert und das Abfragen von Nachrichten unterschiedlicher Art erlaubt.
Ebenso liegen Ergebnisse einer ersten Evaluierung zu Akzeptanz und Effizienz des Bedienkonzepts vor. Diese zeigen, dass das Konzept vom Benutzer angenommen wird und auch bei Mehrfachanforderungen komfortabel bedienbar ist.
Die zukunftige Entwicklung wird sich auf die Eingabemodalitaten konzentrieren, urn vor allem die Spracheingabe und die Aufgaben- und Situationsadaptivitat zu erweitem.
Literatur
[1] Akyol, S.; Canzler, U.; Bengler, K. & Hahn, W. (2000). Gesture Control for use in Automobiles. Proceedings of the IAPR MVA 2000 Workshop on Machine Vision Applications, 349-352
[2] Bauer, M. (1995). A Dempster-Shafer approach to modeling agent preferences for plan recognition. User Modeling and User-Adapted Interaction, 5 (Issue 3/4), 317-348
[3] Bers, J.; Miller, S. & Makhoul, J.(1997). Designing Conversational Interfaces for Mobile Networked Computing. Proceedings of the Workshop on Perceptual User Interfaces,61-64
[4] Bolt, R.A. (1980). Put that there: Voice and gesture at the graphics interface. ACM Computer Graphics, Voll4., No.3, 262-270
Literatur 153
[5] Chin, D. N. (1989). KNOME: Modeling what the user knows in UC. In A Kobsa & W. Wahlster, (Eds.), User models in dialog systems (74-107). Berlin: Springer Verlag
[6] Dempster, A P. (1967). Upper and lower probabilities induced by a multivalued mapping. Annals of Mathematical Statistics, 38, 325-339
[7] Eckert, W. (1996). Gesprochener Mensch-Maschine-Dialog (Dissertation, Universitat Erlangen). Aachen: Shaker Verlag
[8] Faure, C. & Julia, L.(1994). An Agent-Based Architecture for a Multimodal Interface. Proceedings of AAAI'94 - IM4S, 82-86
[9] Gourdol, AP. 1; Nigay, L.; Salber, D. & Coutaz, 1 (1992). Multimodal Systems: Aspects of Events Fusion and a Taxonomy. IFIP Congress, Vol. 1, 156-162
[10] Horvitz, E.; Breese, J.; Heckerman, D.; Hovel, D. & Rommelse, K. (1998). The Lumiere Project: Bayesian User Modeling for Inferring the Goals and Needs of Software Users. Proceedings of the 14th Conference on Uncertainty in Artificial Intelligence, 256-265
[11] Jameson, A (1995). Numerical Uncertainty Management in User and Student Modeling: An Overview of Systems and Issues. User Modeling and User-Adapted Interaction, 5 (Issue 3/4),193-251
[12] Jameson, A (2001). Modeling Both the Context and the User. Personal Technologies, 5 (Issue 1),29-33
[13] Klir, G. 1 & Yuan, B. (1995). Fuzzy Sets and Fuzzy Logic - Theory and Applications. New York: Prentice Hall PTR -=:::::::.
[14] LaViola, 1 1 Jr. (1999). A Multimodal Interface Framework For Using Hand Gestures and Speech in Virtual Environment Applications. The 3rd Gesture Workshop 99, 303-314
[15] Marrenbach, 1; Kraiss, K.-F.; Libuda, L. & Bengler, K. (2001). Development and Multimodal Operation of a Multimedia Car Instruction Manual. Proceedings of the 8th IFACIIFIPIIFORSIIEA Symposium on Human-Machine Systems, in Druck
[16] Marrenbach, J.; Kraiss, K.-F.; Hahn, W. & Bengler, K. (2000). Entwicklung und Evaluierung einer multimedialen Betriebsanleitung fUr Kfz-Bordsysteme. In K.-P. Giirtner, (Hrsg.), 42. FachausschujJsitzung Anthropotechnik (139-159), Volume 2000-02
[17] Mitchell, T. M. (1997). Machine Learning. Boston: WCBlMcGraw-Hill [18] Oppermann, R. (1994). Adaptively supported adaptability. International Journal of
Human-Computer Studies, 40,455-472 [19] Oviatt, S. (1999). Ten Myths of Multimodal Interaction. Communications of the ACM,
Vol. 42, No. 11,74-81 [20] Pantic, M. & Rothkrantz, L.-1M. (2000). Automatic Analysis of Facial Expressions:
The State of The Art. IEEE Transactions on Pattern Analysis and Machine Intelligence, Vol. 22, No. 12, 1424-1445
[21] Pavlovic, V.; Sharma, R. & Huang, T. (1997). Visual Interpretation of Hand Gestures for Human-Computer Interaction: A Review. IEEE Transactions on Pattern Analysis and Machine Intelligence, Vol. 19, No.7, 677-695
[22] Pavlovic, V.I.; Berry, G.A.; Huang, T.S.; Devi, L.; Sethi, Y. & Sharma, R. (1998). Speech/gesture integration for display control. Proceedings of Advanced Display Federated Laboratory Symposium, 79-84
[23] Pittman, 1; Smith, I.; Cohen, P.; Oviatt, S. & Yang, T.(1996). Quickset: A multimodal interface for millitary simulations. Proceedings of the 6th Conference on ComputerGenerated Forces and Behavioral Representation, 217-224
[24] Rogers, S.; Fiechter, C. N. & Langley, P. (1999). An Adaptive Interactive Agent for Route Advice. Proceedings of the 3rd International Conference on Autonomous Agents, 198-205
154 9 Multimodale Benutzung adaptiver Kfz-Bordsysteme
[25] Shafer, G. (1976). A Mathematical Theory of Evidence. Princeton: Princeton University Press
[26] Sharma, R.; Pavlovic, V. 1. & Huang, T. S. (1998). Toward Multimodal HumanComputer Interface. Proceedings of the IEEE, special issue on Multimedia Signal Processing, Vol. 86, No.5, 853-869
[27] Strohal, M. & Onken, R. (1998). Intent and Error Recognition as part of a knowledgebased cockpit assistant. Proceedings of SPIE: Applications and Science of Computational Intelligence, Vol. 3390,287-299
[28] Westphal, M. & Waibel, A. (1999). Towards Spontaneous Speech Recognition for onboard Car Navigation and Information Systems. Proceedings of EUROSPEECH 1999, Vol. 5, 1955-1958
[29] Wickens, C.D (1992). Engineering Psychology and Human Performance (2nd Edition). New York: Harper Collins
[30] Young, S. (1996). Large vocabulary continuous speech recognition. IEEE Signal Processing Magazine, Vol. 13, No.5, 45-57
10 Haptik im Kraftfahrzeug
Heiner Bubb
10.1 Der Informationsfluss im Mensch-Masch i ne-Regelkreis
Das Steuem eines Kraftfahrzeugs kann man - wie die Betatigung jeder Maschine - als eine Regelung auffassen (Abb. 10.1). Der StraBenverlauf, Fahrzeuge und sonstige Verkehrsteilnehmer, aber auch Umgebungsbedingungen wie die Witterung, bestimmen die FiihrungsgroBe oder anders gesagt die Fahraufgabe. 1m Detail wird dadurch die seitliche Sollposition des Fahrzeugs auf der StraBe sowie die Position in Uingsrichtung, gleichbedeutend mit der Geschwindigkeit, festgelegt. Der Fahrer hat die Aufgabe, diese Information aus dem visuellen Umfeld zu detektieren und in entsprechende Bedienelementbetatigungen umzusetzen, so dass das Fahrzeug in der tatsachlich realisierten seitlichen Lage und Langsposition, dem sog. Ergebnis bzw. der NachfuhrgroBe, der Forderung der Aufgabe entspricht. Diese kann wiederum auf die Forderung reduziert werden: jede Beriihrung mit stehenden oder sich bewegenden Objekten im Verkehrsraum ist zu vermeiden.
mwet
Fahraufgabe Ergebnis
Fahrer Fahrzeug Voraussicht IA IV IU seitliche Lage
traBenverlauf ~LiingSrichtun&. optisch
Querdynamik Langsr htung
seitliche La~e Arm-===!! Lenkrad
Muskulatur r=="' Schalthebel
kinasthetisch Langsdynamik Langs- -r=" Gaspedal
beschl.
akustisch Quer-andere Fahrzeu~e -- FuB· ;==" beschl. -
Bremspedal und Gegenstin e r haptisch
Muskulatur G." .. , 1 fr=. Kupp.pedal spektrum
Abb. 10.1 Fahrer-Fahrzeug-Regelkreis mit den den Fahrer charakterisierenden Elementen: Informationsaufnahme (IA), Informationsverarbeitung (IV) und Informationsumsetzung (IU).
Die soeben geschilderte Aufgabe entspricht der sog. "Stabilisierungsaufgabe". Voraussetzung fur ihre Erfullung ist die Festlegung eines vom Fahrer gewiinschten Kurses, der im unmittelbaren Umfeld von ca. 200m in Ort und Zeit festlegt,
156 10 Haptik im Kraftfahrzeug
wie sich das Fahrzeug bewegen solI. Dieser Teil der Fahraufgabe wird "Flihrungsaufgabe" genannt. Ihr hierarchisch vorgesetzt ist die "Navigationsaufgabe", durch die liberhaupt festgelegt wird, wie das vorhandene StraBennetz verknlipft: werden solI, urn das gewiinschte Zie1 zu erreichen. Der Ist-Zustand, also die augenblickliche Position des Fahrzeugs auf der StraBe muss mit all diesen Niveaus der Aufgabe libereinstimmen.
Ihre Rlickmeldung erfolgt immer liber den optischen Sinneskanal. Ein Teil relevanter Information wird aber auch - quasi redundant - liber andere Sinneskanale vermittelt. So wird die Information liber den Bewegungszustand nicht nur optisch erfasst, sondern auch kinasthetisch liber das Vestibularorgan und die Maculaorgane (s.u.). Zusatzlich spielt das liber den akustischen Sinneskanal vermittelte Gerausch flir die Geschwindigkeitswahrnehmung - im Verbund mit der optisch vermittelten Information - eine herausragende Rolle. Die Stellung der Bedienelemente wird durch die Stellungsrezeptoren der Gelenke und die Beriihrrezeptoren auf der Haut haptisch erfasst. Erst das Zusammenspie1 all dieser Sinnesorgane vermittelt das Erleben der eigenen Bewegung mit dem Fahrzeug im Raum.
Unter dem Aspekt der flir den Fahrer notwendigen Aktivitiiten lasst sich die Aufgabe zusatzlich in folgende Unteraufgaben gliedern: Die primare Fahraufgabe besteht in dem eigentlichen Fahrprozess, der oben geschildert worden ist. Daneben sind aber yom Fahrer auch noch Aufgaben zu erledigen, die zwar im Rahmen der Fahraufgabe verkehrs- bzw. umweltbedingt anfallen, die aber nicht dem eigentlichen Halten des Fahrzeugs auf der StraBe dienen. Dazu gehOren beispie1sweise die Betiitigung des Blinkers, des Wischers, des Lichtschalters und der Hupe aber ggf. auch des Tempomats oder des ACC-Systems (bzw. der Distronic). All diese Stellteile sind immer in direkter und indirekter Abhangigkeit von der Fahraufgabe zu betatigen. Sie werden deshalb den sekundiiren Aufgaben zugerechnet. Als tertiiire Aufgaben werden demgegenliber solche bezeichnet, die nicht mit der Fahraufgabe in Verbindung stehen, sondern lediglich dem Zufriedenstellen des Komfort-, Unterhaltungs- oder Informationsbediirfnisses dienen. Dazu gehOren die Betatigung der HeizunglKlimaanlage, des Radios und der Telefonanlage sowie weitere in Zukunft: hinzukommender Gerate wie Internet, sowie Kommunikation mit Bliround Haustechnik.
10.2 KUirung des Begriffs "Haptik"
Information liber die mechanische Relation des menschlichen Korpers zu seiner Umgebung wird liber verschiedene, sehr unterschiedliche Sinnesorgane vermittelt. Die Maculaorgane, die von ihrer Funktion her einen ahnlichen Aufbau haben wie auf das Tragheitsprinzip zurUckgreifende technische Beschleunigungsaufnehmer, ermoglichen die Wahmehmung von Translationsbeschleunigungen in allen drei Raumrichtungen. Sie sind ebenso im Innenohr lokalisiert wie die Bogengange, welche in ihrer Wirkung drei auf einander senkrecht stehenden Rotationsbeschleunigungsaufnehmern entsprechen. Mit dieser Sinnesorgankombination ist der
10.2 Kliirung des Begriffs "Haptik" 157
Mensch in der Lage, Translations- und Rotationsbeschleunigungen (natiirlich einschlieBlich der Schwerkraft) in GroBe und Richtung zu erfassen.
Daneben spielen aber auch die Muskelspindeln, die in den Muskeln der Willkiirmotorik als Messelemente fUr deren Uingendehnung dienen, ebenso wie die Gelenkrezeptoren eine wichtige Rolle, Information iiber die Stellung des Skelettsystems zu vermitteln. Auf diese Weise werden auch Kriifte (Triigheitskriifte wie Reaktionskriifte), die auf das Skelettsystem wirken, erfasst. Zu diesen Rezeptortypen gesellen sich noch die Mechanorezeptoren der Haut, die Information iiber den Druck (Merkelzellen), Beriihrung, d.h. Druckiinderung (Meissner-K6rper) und Vibration (frequenzproportionale Reaktion der Pacini-Zellen) vermitteln.
Obwohl nicht direkt mechanische Reize vermittelnd, sind in diesem Zusammenhang die Thermorezeptoren zu erwiihnen. Die sog. Kaltrezeptoren sind auf der Hautoberfliiche sehr viel zahlreicher vertreten als die Warmrezeptoren. Kaltrezeptoren zeigen eine zunehmende Reaktion bei Temperaturen unter 33°C, wiihrend Warmrezeptoren bei Temperaturen iiber ca. 35°C ansprechen. Das Verhalten der Thermorezeptoren ist ebenso wie das der Mechanorezeptoren (insbesondere das der Merkelzellen und der Gelenkrezeptoren) durch eine sehr starke PDCharakteristik beschrieben, d.h. Anderungen werden ungleich stiirker wahrgenommen als ein gleichbleibendes Reizniveau.
Die hier beschriebenen Sinnesorgane erm6glichen in ihrer Kombination ein Empfinden der mechanischen Relation des K6rpers zur Umgebung. Diese Relation verursacht unterschiedliche Wahrnehmungsqualitiiten (in Analogie beispielsweise zur akustischen Empfindung, wo wir auch nicht in der Lage sind, die Amplituden- und Frequenzzusammensetzung eines Geriiusches zu schildern, sondern Wahrnehmungsqualitiiten wie "brummig", "hell" "dumpf" usw. ). Es ist deshalb sinnvoll, die kombinatorische Wirkung dieser Sinnesorgane hinsichtlich der Wahrnehmungsqualitiit zu verbalisieren.
In der Literatur haben sich unterschiedliche Begriffswelten flir den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung von mechanischen Krafteinwirkungen herausgebildet. In der englischsprachig-psychologisch orientierten Literatur wird hiiufig mit kinesthetic das Zusammenspiel aller Stellungs- und Bewegungsrezeptoren des menschlichen K6rpers bezeichnet (Handwerker, 1993). Sie charakterisiert somit die Wahrnehmung der Bewegung unserer K6rperteile. Unter tacti! versteht man in diesem Kontext die Vermittlung einer Empfindung allein durch die Beriihrrezeptoren der Haut.
Diese sehr weitverbreitete Terminologie hat den Nachteil, dass sie die Empfindungsqualitiit, d.h. die Art der subjektiven Wahrnehmung von physikalischen Kraftreizen nur unzureichend beriicksichtigt. Yom subjektiven Erleben her k6nnen wir niimlich sehr deutlich zwischen Beschleunigungskriiften, die auf den ganzen K6rper wirken und die zu der Empfindung einer Bewegung des K6rpers im Raum flihren, von solchen unterscheiden, bei denen Kriifte nur auf einzelne Korperteile wirken und die zur Empfindung einer Korperhaltung fiihren. Beim Befahren einer Kurve beispielsweise werden die Beschleunigungskriifte nicht nur durch das Vestibularorgan (Rotationsbeschleunigung) und die Maculaorgane (Querbeschleunigung), sondern auch durch die Mechanorezeptoren im GesiiB als Druck wahrgenommen, was in Kreisen von Fahrwerksspezialisten zu der semiwissen-
158 10 Haptik im Kraftfahrzeug
schaftlichen Bezeichnung "Popometer" fUr die Fiihigkeit fiihrt, die Bewegung des Fahrzeugs durch Reize in der Hautoberfliiche zu spiiren. Betiitigen wir nun wiihrend dieser Kurvenfahrt den SchaIthebel oder Stellhebel der Heizungsanlage, so wird die zugehi:irige Korperhaltung als vollkommen unabhiingig von den Reaktionskriiften der Bewegung verspiirt. Demgegeniiber erfahren wir die Oberfliichenqualitiit von Objekten, die wir beriihren, in Kombination mit der erfUhIten Form als eine von dem zuvor Geschilderten, vollkommen getrennte Wahrnehmungsqualitiit. Die traditionelle Bezeichnung "Tastsinn" bezeichnet diese Art der Wahrnehmung viel besser: wir sind in der Lage, die Form und die Art der Oberfliiche von angefassten Gegenstiinden unabhiingig von Bewegungseinfliissen und auch von Korperhaltungen zu erfassen. Allerdings spielen fUr diese Wahrnehmungsqualitiit sowohl die Mechanorezeptoren in der Haut als auch die Stellungsrezeptoren in den Gelenken und Muskeln sowie die Thermorezeptoren in einer ganz spezifischen Weise zusammen. Mittels der Thermorezeptoren wird beispielsweise Information iiber das Wiirmeleitvermogen der beriihrten Gegenstiinde vermittelt. Es erzeugt so den Eindruck, dass sich ein Gegenstand "kaIt" (Gegenstand mit hohem Wiirmeleitvermogen, wie z.B. Metall bzw. mit Fliissigkeit benetzter Gegenstand) oder "warm" (Gegenstand mit geringem Wiirmeleitvermogen, wie z.B. Holz oder Styropor) anfiihlt. Dieser Tastsinn kommt im Detail auf ganz komplexe Weise zustande: so spielen beispielsweise auch geringe Bewegungen iiber die Oberfliiche ("BefUhlen") und die dabei erzeugten Frequenzen eine entscheidende Rolle fUr das Empfinden der Oberfliichenqualitiit.
Es gehort ganz allgemein zu der besonderen Fiihigkeit der sog. "Konstanzleistung" unseres Organismus, Informationen aus verschiedenen Sinnesorganen so zu interpretieren, dass Objekteigenschaften unabhiingig von sonstigen Einfluss nehmenden GroBen wahrgenommen werden (im Bereich der optischen Wahrnehmung konnen wir beispielsweise die Farben von Gegenstiinden weitgehend unabhiingig von der Farbe der Beleuchtungsquelle wahrnehmen, was als "Farbkonstanzleistung" bezeichnet wird). Fiir die Belange der Ergonomie ist es deshalb sinnvoll zu definieren:
• Die kiniisthetische Wahrnehmung erlaubt dem Organismus, Eigenbewegungen des Korpers im Raum zu erfassen. DafUr werden Informationen aus dem Vestibularorgan, den Maculaorganen, den Stellungsrezeptoren in Muskeln und Gelenken und den Mechanorezeptoren in der Haut adiiquat verrechnet.
• Die Tiefenwahrnehmung ermoglicht es dem Organismus, die Korperhaltung unabhiingig von iiuBeren Krafteinwirkungen zu erfassen. DafUr wird in geeigneter Weise die Information aus den Muskelspindeln und den Gelenkrezeptoren mit Information aus dem Vestibularorgan, den Maculaorganen und den Beriihrrezeptoren verarbeitet.
• Die haptische Wahrnehmung erlaubt es dem Organismus, die Form und Oberfliichenkonsistenz von beriihrten Objekten zu erfassen. DafUr werden die Informationen aus Stellungsrezeptoren in Muskeln und Gelenken (speziell der Finger), den Mechanorezeptoren in der Haut aber auch der Thermorezeptoren in der Hautoberfliiche in adiiquater Weise miteinander verrechnet (Revesz, 1950).
10.3 Haptische Riickmeldung bei sekundaren Bedienelementen 159
In diesem Beitrag erfolgt ausschlieBlich eine Betrachtung der haptischen Riickmel dung im zuletzt definierten Sinne.
10.3 Haptische Ruckmeldung bei sekundaren Bedienelementen
10.3.1 Bedeutung von Oberflache und Schaltgeflihl
Abb. 10.2 Beispiel eines forrnkompatibel kodierten Schalters im Kfz (Schalter zur elektrischen Sitzverstellung in Mercedes-Fahrzeugen).
Ein Hinweis, der in keinem Standardwerk der Ergonomie zu dem Kapitel "Haptik" fehlt, bezieht sich auf die Empfehlungen von Jenkins (1947), der fUr Flugzeugstellteile eine formkodierte Oberfliichengestaltung vorschlug, die sogar das jeweilige betiitigte Objekt symbolisch wiedergibt. So empfiehlt er z.B. am Stellhebel fUr die Betiitigung des Fahrwerks ein kleines Rad anzubringen. Der Schalter fur die elektrische Sitzverstellung, wie er in Mercedes-Benz-Fahrzeugen Verwendung findet, ist ein Beispiel fUr eine entsprechende Anwendung im Kraftfahrzeug. Es ist allerdings niemals wissenschaftlich untersucht worden, ob eine solche formkompatible Haptik auch wirklich die entsprechenden Assoziationen hervorruft. Vielmehr diirfte die riiumliche Kompatibilitiit zu der entsprechenden Bewegung des betiitigten Objektes im Faile des Beispiels der Abb. 10.2 die entscheidende Rolle fUr die hohe Akzeptanz dieses Schalters spielen. Unbestritten ist jedoch, dass eine haptische Unterscheidbarkeit fur die Verwechslungssicherheit von Stellteilen eine entscheidende Rolle spielt, wobei durchaus in Kauf genommen werden kann, dass eine gewisse Lemperiode abgewartet werden muss, bis die Relation "betiitigte Funktion" - "haptische Riickmeldung" zum unbewusst verfugbaren Erfahrungsbereich gehort. Wenn aus Grunden des Designs (Eindruck einer "Klaviatur von Schaltem") oder der Kosteneinsparung Gleichteile verwendet werden, ist der Verwechslung von Schaltem, die noch dazu in etwa an gleicher riiumlicher Position angebracht sind, Tiir und Tor geoff net.
Eine iihnliche Argumentation ist fur das SchaltgefUhl, also fUr den ortlichzeitlichen Verlauf des zur Betiitigung notwendigen Kraftverlaufes anzufUhren: die
160 10 Haptik im Kraftfahrzeug
haptische Wiedererkennung ist fUr die Bediensicherheit von auBerordentlicher Bedeutung. Dazu kommt, dass der Kraft-Weg-Verlauf der damit initiierten Funktion entsprechen muss. D.h. bei digitalen Schaltvorglingen muss die Rasterung den entsprechenden Schaltspriingen entsprechen. Insbesondere miissen sich die Stellen der Unstetigkeit des Kraft-Weg-Verlaufs genau an der Stelle befinden, wo die Schaltvorglinge erfolgen. Moderne Bedienkonzepte (Ashley, 2001) iibertragen diese Forderung auf Bedienelemente mit elektronisch gesteuerter Riickstellkraft, die von der jeweilig beeinflussten Funktion abhlingt (z.B. wenn nur zwischen 6 Alternativen gewlihlt werden kann, existieren auch nur 6 Schaltstufen; wenn aber 10 Alternativen existieren, werden 10 mechanische Schaltstufen simuliert).
Ais Beispiel fUr Bemiihungen urn einen optimalen Kraft-Weg-Verlauf sei eine Untersuchung von Osumi et ai. (1990) zitiert. Ihr Ziel war die optimale Position der Schalter und komfortable Kraftverlliufe dafUr bei der Gestaltung von Autoradios (unter der Voraussetzung Linkslenker, Radio rechts vom Fahrer) zu untersuchen. 1m wesentlichen hlingt danach die Position vom vertikalen Winkel unter der horizontalen Normalsehachse und der horizontalen Handreichweite gemessen vom rechten Schulterdrehpunkt abo Der optimale Bereich ist bei vertikalen Winkeln unter 44° und Reichweiten unter 750mm zu finden. Heute k6nnen solche Angaben sehr spezifisch auf den jeweiligen Fahrzeugtyp mittels CAD-Hihiger Menschmodelle wie beispielsweise RAMSIS (Seidl et aI., 1995) gefunden werden.
Weg [mm]
Abb. 10.3 Typischer Weg-Kraft-Verlauf eines Druckschalters
1m Weg-Kraftverlauf (Abb. 10.3) charakterisiert FI dabei die Intensitlit der Beriihrung, das Verhliltnis FI/F2 die Empfindlichkeit, FI/sl den Anfangswiderstand und S2 bzw. S3 den gesamten Wegverlauf. Fiir den Kraftwert FI konnte ein Optimum bei 2,4N gefunden werden. Das stimmt sehr gut mit den im HDE (Schmidtke u. Riihmann, 1989) ver6ffentlichten Richtwerten fUr Fingerdruckkrlifte iiberein, die aus Grunden einer hinreichenden haptischen Riickmeldung - bei Dauerbetlitigung - Werte von 0,4 - 2N fUr Frauen bzw. 0,6 - 3N fUr Manner nicht unterschreiten sollten.
10.3 Haptische Riickmeldung bei sekundiiren Bedienelementen 161
10.3.2 Schaltkomfort
Die Haptik des Schalters hat auch Einfluss auf das Komfortempfinden. Ohne eine wissenschaftliche Prazisierung zu wagen, entspricht es der Erfahrung, dass manche Schalter als "billig" und "einfach" empfunden werden und andere als "hochwertig". Was allerdings die objektiven Ursachen fUr diese Beurteilung ist, entzieht sich bisher einer griindlichen wissenschaftlichen Analyse. Einen entscheidenden Betrag mittels der in der Ergonomie ublichen Methoden der Psychophysik auch fUr das SchaltgefUhl objektive Angaben zu erarbeiten wurde von Kosaka und Watanabe (1996) geleistet: sie untersuchten an einem Schaltersimulator, der frei programmierbare Ruckstellkraftverlaufe zulieB, den Zusammenhang zwischen den Kraften, wie sie in Abb. 10.3 definiert sind, und entsprechenden verbalen Bezeichnungen. Mit Hilfe der Methode des semantischen Differentials (s. den Beitrag von Kolrep und Fankhauser, Kap. 14) konnten sie sieben, das SchaltgefUhl wesentlich beschreibende Bezeichnungen herausfinden: "Anfangsweichheit (Initially Smooth)", "Weichheit (Smooth)", "Tiefe (Deep)", "Klickend (Clicking)", "Steifheit (StifJ)", "Endanschlag (Arriving Shock)" und "Scharfe (Clear),'. Diese Begriffe lassen sich mittels der Faktoranalyse auf zwei unabhangige Faktoren reduzieren:
• Faktor I mit den Randem: weich, glatt, nicht klickend, nicht scharfhart, scharf, klickend, nicht glatt
• Faktor 2 mit den Enden: kein deutlicher Endanschlagdeutlicher Endanschlag
Der Zusammenhang zwischen den Kraften und den entsprechenden Abstufungen der Bezeichnungen ("sehr", "mehr", "weder noch", "weniger", "wenig") war meist linear. Fur jede Bezeichnung konnten auf regressionsanalytischer Basis Gleichungen erarbeitet werden, die eine Prognose des MaBes des jeweiligen GefUhls aus gemessenen Kraftwerten ermoglichen.
Mit diesem psychophysischen Ansatz wird allerdings nur ein Aspekt des Komfortempfindens einer Analyse unterzogen. Zhang et al. (1996) haben namlich herausgefunden, dass Komfort und Diskomfort keineswegs GroBen sind, die auf einer linearen Skala angeordnet werden durfen. Vielmehr ist eher anzunehmen, dass diese beiden GroBen unabhangig voneinander sind. So bezeichnet Komfort mehr den Bereich des "Gefallens" wahrend Diskomfort das "Erleiden" einer Situation beschreibt. Mit den naturwissenschaftlich orientierten Methoden der Psychophysik kann man jedoch nur den Diskomfort (s.u.) erfassen. Gerade was das SchaltgefUhl und dessen Wertigkeit anlangt, ist aber auch der Aspekt des Komforts, also der des Gefallens, von groBer Bedeutung. Urn nun diesen Aspekt einer wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen, wurde von Bubb (1995) und Borschlein (1995) in Anlehnung an die Methode der Klimakomfortbewertung von Fanger (1973) eine Methode vorgeschlagen, deren Grundlage der komparative Vergleich mit dem Ziel der Erstellung einer Ordinalskala ist. Daftir wurden 8 Fahrzeuge mit unterschiedlicher Realisierung von Schaltem ausgewahlt. Versuchspersonen hatten die Aufgabe, verschiedene Schalter dieser Fahrzeuge hinsichtlich des Materials, der Form und des BetatigungsgefUhls zu bewerten. Fur
162 10 Haptik im Kraftfahrzeug
jedes Stellteil wurde dabei ein schematisch gleicher, aber speziell angepasster Fragebogen verwendet. Es war eine dreistufige Antwortmoglichkeit vorgegeben: "zu gering" (z.B. "zu leicht", "zu bilIig", "zu weich" usw.), "richtig" und "zu stark" (z.B. "zu schwer", "zu dumpf", "zu hart"). Ausgezahlt wurde die Haufigkeit der Antworten. Damit ergibt sich beispielsweise ein Bild, wie in Abb. 10.4 wiedergegeben.
~ ... 'Qj .0.: 00
<;:: ~ 't.
::r:
100
80
60
40
20
Mercedes Golf Lexus Mazda 929 BMW Cadillac Xed os Honda
erwas zu rauh
richtig
c::::J etwas zu glatt
Abb. 10.4 Beurteilung des Lenkstockhebels hinsichtlich der "Oberfliichenreibung"
Mit dieser Methode ist es nun moglich, die physikalischen GroBen, die bei den meisten Nutzem zu einem optimal en Komforteinfluss fiihren, abzuschatzen. Abb. 10.5 zeigt dies am Beispiel der Breite des Lenkstockhebels. Mit einer Breite zwischen 22mm und 28mm sind mindestens 60% der Befragten einverstanden.
100
90
~ 80 DO
70 c ::J '0
60 c <;::: a.
50 E w <I) 40 ... tl 30 , ... ~ u 20 VI IV DO 10
0 10 14
o etwas zu groB
o etwas zu klein
richtig
18 22 26 30 34 38 42 Breite des Lenkstockhebels [mm]
Abb. 10.5 Prozentualer Anteil der Urteile in Abhiingigkeit von der Breite des Lenkstockhebels.
Nimmt man an, dass einem physikalisch beschreibbaren Parameter prinzipiell immer eine entsprechende Empfindung "etwas zu klein" bzw. "etwas zu groB" zugeordnet werden kann und diese prozentualen Empfindungen beziiglich des
10.3 Haptische Riickmeldung bei sekundaren Bedienelementen 163
physikalischen Parameters symmetrisch verteilt sind, dann konnen folgende Grenzfalle unterschieden werden (Abb. 10.6):
• Uberlappen sich die beiden Kurven bei einem Beurteilungsanteil von ca. 50% (oder knapp darunter), so kann sich kein Anteil "behaglich" ausbilden. Man muss dann versuchen, der individuellen Empfindung durch Einstellbarkeit gerecht zu werden. Klassisches Beispiel dafUr ist die Sitzeinstellung.
• Schneiden sich die beiden Kurven deutlich unterhalb des 50% Anteils beziiglich des physikalischen Messparameters, so bildet sich eine Kurve "behaglich" aus. Das Maximum dieser Behaglichkeitskurve ist urn so groBer, je weiter die beiden Kurven auseinander liegen. In diesem Fall kann gemaB einer globalen Firmenphilosophie fUr einen vorher bestimmbaren Anteil an Nutzem ein hinreichender Komfort gewahrleistet werden.
~ 90 -
~ 80 -QJ t 70 -
iil 60
~ SO
.jg 40
..!!! 30 -
.~ 20 c:
<: 10
Empfindung individuelle Unterschiede
Empfindung individuelle Unterschiede
O~~~~~~~~============
100
~ 90
..:! 80 ·iii
-2.4 ·0.4 0.6 2.6 4.6
Kriterium z-transformiert
Empfindung individuelle Unterschiede
~ 70 ~twaS zu gr~B QJ 60 ----- ------ ----
~ 50 -
.jg40
..!!! 30
.~ 20 -c: <: 10-
.2.4 -0.4 0.6 4.6
Kriterium z-transformiert
6.6
100
-------- ~ 90
~ 80 QJ t 70 -
~ 60 til
s.... 50 -
.jg 40
..!!! 30
.~ 20 -----c:
<: 10
Kriterium z-transformiert
Empfindung individuelle Unterschiede
6.6
6.6 0-·~.=2.4~--.0-.4-=0.6~~-====4~.6~~6~.6~-
Kriterium z-transformiert
Abb. 10.6 Behaglichkeit und Abstand der begrenzenden Funktionen in Abhangigkeit von dem einflussnehmenden physikalischen Kriterium (nach Bubb, 1995).
Wie Abb. 10.4 ausweist, ist es bei der beschriebenen Methode nicht unbedingt notwendig, auf der Abszisse physikalische GroBen, wie in Abb. 10.5 geschehen, aufzutragen. Der Ausgangspunkt sind vielmehr immer reale Beispiele. Das bedeutet, dass auch dann, wenn sich eine genaue physikalische Metrisierung verbietet, wie es bei allen Fragen der Fall ist, die den Komfort, also das "Gefallen" anlangen, ein Auffinden des Optimums dennoch moglich ist. Tabelle 10.1 zeigt am Beispiel des Lenkstockhebels das Ergebnis einer solchen Erhebung: In der ersten
164 10 Haptik im Kraftfahrzeug
Spalte sind die Items dargestellt, nach denen gefragt wurde. Die zweite Spalte zeigt die Fahrzeuge, die bei der Untersuchung in der jeweiligen Kategorie die besten Ergebnisse zeigten (zwei oder mehrere Fahrzeuge in einer Zeile bedeutet, dass zwischen diesen kein statistischer Unterschied feststellbar war). Die dritte Spalte enthiilt mogliche Verbesserungen, die sich aus den Diagrammen wie Abb. 10.6 ergeben.
Tabelle 10.1 Empfeh1ung fiir das Stellteil "Lenkstockhebel"
Item
Material: "Oberflachenreibung"
Material "Gesamtbeurteilung"
Form: "GroBe"
Form: "Flachenauspragung"
Betatigungsgefiihl "Gerausch-Lautstarke"
Betatigungsgefiihl: " Gerausch-Klangbild"
Betatigungsgefiihl: "Druckkraft"
Betatigungsgefiihl: "Betatigungsweg"
Betatigungsgefiihl: "Einrasten"
Betatigungsgefiihl: "Betatigungsbewegung"
Betatigungsgefiihl: "Gesamturteil"
Am besten bewerteter Lenkstockhebel
Mercedes BMW
Mercedes
Mercedes
Mercedes
Mercedes Honda, Lexus
Mercedes
Honda Lexus
Lexus
Honda
Honda Lexus Mercedes
Honda Lexus
1 0.4 Haptik bei primaren Stellteilen
Optimierung in Richtung:
minimal rauer; etwas rauer
-/-
etwas kleiner
etwas runder
etwas leiser etwas leiser etwas leiser
-/-
etwas leichter etwas leichter
etwas kiirzer
weicher
etwas glatter etwas glatter etwas glatter
-/--/-
Die Betiitigung der SteHteile fiir die ErfiiHung der primaren Fahraufgabe unterscheidet sich im Kraftniveau erheblich von dem fiir die der sekundaren Aufgabe. Das hat im wesentlichen historische Griinde: die SteHteile, fiber die auf den Bewegungszustand des Fahrzeugs Einfluss genommen wurde, waren urspriinglich nur mechanisch mit den entsprechenden "ausfiihrenden" Organen (SteHung der gelenkten Vorderriider, Starke des Anliegens der Bremsbacken, SteHung der Drosselklappe im Vergaser) verbunden, so dass der dafiir notwendige Kraftaufwand von der jeweiligen Konstruktion des Fahrzeugs bestimmt war. Erst mit der Entwicklung diverser Servosysteme erhielt die Gestaltung der SteHteilkriifte eine besondere eigene Aufmerksamkeitszuwendung. Erwiihnt werden mfissen in die-
10.4 Haptik bei primiiren Stellteilen 165
sem Zusammenhang insbesondere die servo-hydraulische Bremsanlage und die Servolenkung. Mit den Moglichkeiten der modemen sog. By-wire-Systeme, d.h. der volligen Auftrennung einer mechanischen Verbindung zwischen Stellteil und ausfUhrendem Organ und deren Ersatz durch im wesentlichen elektrische Aktuatoren, die mittels regelungstechnischer Methoden mit dem Stellteil verbunden werden, eroffnen sich der Gestaltungsmoglichkeit ganz neue Perspektiven. Dabei sind zwei grundsatzlich verschiedene Wege zu unterscheiden: zum einen kann man versuchen, mit den neuen Freiheiten ein Stellteil mit "optimalem" Kraft-WegVerlauf zu konzipieren, das sich aber aus der Sicht des Nutzers nicht anders verhiilt als das entsprechende bisherige "konventionelle" Stellteil. Zum anderen kann man die neuen Freiheiten nutzen, die Bedienphilosophie der Fahrzeugsteuerung ganz neu zu iiberlegen. In den folgenden Abschnitten werden Ergebnisse beziiglich beider Wege zusammengetragen.
10.4.1 Optimierung der Haptik bei konventioneller Kraftfahrzeugsteuerung durch By-wire-Systeme
Uingsdynamik
Die beiden wesentlich die Langsdynamik des Fahrzeug beeinflussenden Stellteile, namlich Gaspedal und Bremspedal (von den nur die "Technik" des Fahrzeugs bedienenden Stellteilen "Kupplung" und "Schalthebel" solI hier abgesehen werden), heben sich yom die Querdynamik beeinflussenden Lenkrad wesentlich dadurch ab, dass sie - bedingt durch die verwendete Technik - selbst dem Fahrer keinerlei Riickmeldung iiber die Wirkung seiner Handlung vermitteln, sondem nur iiber den Umweg der Wirkung auf das Fahrzeug. Sie liefem mehr oder weniger prazise (s.u.) nur Information iiber die Stellung des Pedals und die damit verbundene Riickstellkraft. Das Lenkrad liefert demgegeniiber in gewisser Weise Information tiber den aktuellen fahrdynamischen Zustand (s.u.).
Die Gestaltung der Riickstellkrafte beim Gaspedal ist dabei vergleichsweise einfach, da es hier nur auf die Starke der Riickholfeder ankommt. Wang et al. (1996) haben sich in ihren Untersuchungen mit der subjektiven Empfindung von Kraften auf der Basis der Beurteilung nach der Borg-Skala (Borg, 1982) beschaftigt. Diese liegen bei kurzfristiger Betatigung fUr "sehr starke" Krafte bei 48N, was nach der Borg-Skala zwischen der Bezeichnung "schwach" und "moderat" liegt. Fiir Dauerbetatigung diirften jedoch nur 15% dieser Kraft, also 7,2N zugemutet werden. Wenn man allerdings bedenkt, dass nach der erwahnten Erhebung die Ruhekraft des linken FuBes durchschnittlich bei 20N liegt, erschient es akzeptabel, fUr Dauerbetatigung bei 2/3 der Gaspedalstellung einen Wert von ca. 27N zu postulieren. Das entspricht auch dem Wert, der in den meisten Kraftfahrzeugen realisiert wird. Auch dies stimmt gut mit Richtwertangaben des HDE (Schmidtke und Riihmann, 1989) iiberein, die bei sicherheitskritischer Pedalbetatigung fUr Frauen ein Uberschreiten von 26N fUr nicht geboten halten.
In Verbindung mit dem sog. elektronischen Gaspedal besteht zusatzlich die Moglichkeit, die Verbindung zwischen Gaspedalstellung und Drosselklappe nicht-
166 10 Haptik im Kraftfahrzeug
linear und zudem noch abhiingig von weiteren Parametem (z.B. Motordrehzahl, Lastzustand) relativ frei zu gestalten. Dadurch eroffnet sich die Chance, den nichtlinearen Zusammenhang von Drosselklappenstellung bzw. Einspritzmenge, Motordrehzahl und Drehmoment fiir das Empfinden des Fahrers quasi zu linearisieren. Er bekommt dadurch das Gefiihl vermittelt, dass der Motor scheinbar besser "am Gas hiingt". Dabei konnen unterschiedliche Taktiken zur Anwendung kommen: man kann einerseits versuchen, einen moglichst linearen Zusammenhang zwischen der Gaspedalstellung und dem Drehmoment zu erreichen, wobei man sich auf die Drehzahl mit der jeweiligen Drehmomentspitze bezieht. Aus ergonomischer Sicht ist diese Auslegung zu bevorzugen, weil sie der grundsiitzlichen menschlichen Annahme eines linearen Zusammenhangs von Stellteilbewegung und damit erreichtem Effekt entgegenkommt. Man kann aber auch eine nichtlineare Charakteristik bevorzugen, urn dadurch eine eventuell gegebene Antrittsschwiiche des Motors zu kaschieren. Der Motor des Fahrzeugs erscheint dann auf Kosten des Verbrauchs "spritziger" als er ist.
Neuere Entwicklung gehen noch einen Schritt weiter: sie fiihren zum sog. "Aktiven Gaspedal". Hier wird im Extremfall die Rtickstellkraft vollkommen synthetisch produziert. Dadurch eroffnet sich die Moglichkeit, zusiitzlich fahrdynamische Information tiber das Gaspedal riickzumelden. So wird schon liingere Zeit diskutiert, das Unterschreiten des Sicherheitsabstandes zum vorausfahrenden Fahrzeug, das beispielsweise tiber ein Radarabstandswamsystem (ACC bzw. Distronic) situationsabhiingig bestimmt ist, durch eine ErhOhung der Gaspedalriickstellkraft anzuzeigen, was wie ein veriinderter Druckpunkt im Gaspedal empfunden wird. (Reichart, 2000; Haller, 2000). Versuche mit solchen Anordnungen zeigen im Realfahrzeug wie im Simulator eine hohe Akzeptanz. Eine andere Anwendung des Aktiven Gaspedals kann darin liegen, Strategien fiir verbrauchsoptimiertes Fahren dem Fahrzeugfiihrer situationsangepasst zu vermitteln (Samper u. Kuhn, 2001). Wie entsprechende Versuche zeigen, konnen derartige haptische Anzeigen zwar zu einer Verbrauchsminderung von ca. 10% fiihren, allerdings nur dann, wenn seitens des Fahrers eine Bereitschaft vorhanden ist, den Empfehlungen zu folgen, durch die eine eher ruhige Fahrweise vorgegeben wird. Wenn allerdings solche Techniken eines situationsabhiingigen kiinstlichen "Druckpunktes" im Gaspedal angewendet werden, so darf sich das nur auf eine Information beziehen. Bedenklich wiire auch, wenn verschiedene Fahrzeughersteller hier unterschiedliche Ziele verfolgen wiirden.
In jtingerer Zeit wird auch diskutiert, das Bremsgefiihl durch die Einfiihrung einer elektrischen Bremse zu gestalten. Abbildung 10.7 gibt den gemessenen Kraft-Weg-Verlauf einer konventionellen Servobremse fUr unterschiedliche Bremsbetiitigungen wieder. Diese ist - durch die mechanischen und hydraulischen Eigenschaften des Systems bedingt - unabhiingig von der Art der Betiitigung immer durch eine starke Hysterese gekennzeichnet. Hinzu kommt, dass sich diese Charakteristik erheblich in Abhiingigkeit von der Betiitigungsgeschwindigkeit veriindert. 1m Hinblick auf die schon erwiihnte grundsiitzliche menschliche Erwartung eines linearen Verhaltens ist dies natiirlich von Nachteil. Mit Hilfe elektrischer by-wire-Bremsen mit elektronischer Regelung kann dies kompensiert werden. In Abb. 10.7 ist zusiitzlich der elektronisch verwirkliche Optimalverlauf ein-
10.4 Haptik bei primiiren Stellteilen 167
gezeichnet, der weder eine Hysterese noch eine Abhangigkeit von der Betiitigungsgeschwindigkeit zeigt. Sein progressiver Verlauf ist auf Arbeiten von Goktan (1987) zuriickzufiihren, wo in simulierten Nachfahrversuchen und Bergabfahrten diese Charakteristik als bester Kompromiss gefunden wurde. Wie allerdings Bill et al. (1999) betonen, hangt das Pedalgefiihl erheblich von der Bauart des Fahrzeugs (z.B. Pkw oder Lieferwagen) abo Deshalb werden z.Z. in einem eigens modifizierten Versuchsfahrzeug mit einer mechatronischen Verbindung zwischen Pedal und Aktuator verschiedene softwaretechnisch realisierbare Charakteristiken getestet, urn so zu einem Brake Feel Index zur Objektivierung des Bremspedalgefiihls zu kommen.
Betiitigung langsam sehr schnell mittel . _. ' •• I, .,
~ ... ,,"'j'i , . ~ ". I l"
I \ • I f1 1 • " I :1' _. .. I : 1
1 "-' ",,,"~,,,/ .}'/
.... ...i 1 .-----::-::-::-::"--~ ...... . .... " ,.
\.L. ."".. _.".. •••• • •• ~.
~ ...... ~ .. ;..:.;..::::::::;;;:~:~:~:~.::..~.:::" / Pedalweg
Abb. 10.7 Weg-Kraft-Verlaufe am Bremspedal eines modernen PKW mit Servobremse in Abhangigkeit der Betatigungsgeschwindigkeit.
Querdynamik
1m Gegensatz zu den Bedienelementen fUr die Beeinflussung der Langsdynamik liefert das Lenkrad Information iiber Reaktionskriifte zwischen den gelenkten Vorderriidem und der StraBe und damit in gewissen Grenzen Information iiber fahrdynamische GroBen. Allerdings sind die Verhiiltnisse sehr verwickelt und konnen in diesem Ubersichtsartikel nur sehr verkiirzt wiedergegeben werden. Durchrahrt niimlich das Fahrzeug einen Kreisbogen, entsteht eine mit dem Quadrat der Geschwindigkeit ansteigende Querkraft (Zentrifugalkraft), die von den Riidem mittels der Haftreibung iibertragen werden muss. Fiir die am Lenkrad spiirbare Riickstellkraft ist diese Ubertragung der Seitenkraft S in der Aufstandsfliiche der Vorderriider von besonderer Bedeutung. Wenn vom Reifen quer zur Fahrtrichtung gerichtete Kriifte iibertragen werden, verspannt sich der elastische Reifen vom Beginn der Beriihrfliiche ausgehend solange, bis die quer gerichtete Tangentialspannung den durch die Reibungszahl gegebenen Maximalwert iibersteigt. Mit zunehmender von der Aufstandsfliiche iibertragener Kraft ist dieser Kraftanstieg innerhalb der Aufstandsfliiche steiler und erreicht ggf. einen Wert, der durch die wirksame Reibungszahl begrenzt ist. Befindet sich Wasser auf der
168 10 Haptik im Kraftfahrzeug
Fahrbahnoberflache, so verschiebt sich der beschriebene Verspannungsvorgang in Abhangigkeit von der Wasseraufnahmefahigkeit der Drainagekanale im Reifenprofil nach hinten. In der nun hinzukommenden ersten Annaherungszone schwimmt der Reifen auf, dort konnen praktische keine Querkrafte iibertragen werden. In jedem Fall jedoch existiert bei der Ubertragung von Querkraften ein Richtungsunterschied zwischen der Reifenebene ("Rollrichtung") und der Laufrichtung ("Fahrtrichtung"), welcher "Schraglaufwinkel" genannt wird (Abb. 10.8)
Fahrtrichtung
Rollrichtung
Abb. 10.8 Reaktion der Seitenkraft S und der Radlast P in der Beriihrflache des geienkten Vorderrades.
In Abhiingigkeit von der - wie oben angedeutet - auf verwickelte Weise entstehenden Seitenkraft S baut sich ein Reifenriickstellmoment MR auf, das den Reifen aus der Schraglaufstellung herauszudrangen versucht. Zu diesem Reifenriickstellmoment addiert sich nun noch das aus dem konstruktiven Nachlauf (sog. "Teewageneffekt") entstehende Riickstellmoment MK, das praktisch nur geschwindigkeitsabhiingig ist. Auf diese Weise entsteht am Lenkrad ein Riickstellmoment, das vom Lenkwinkel, der Geschwindigkeit und dem Reibbeiwert abhangt. Es kommt sehr kompliziert zustande und ist in mehrfacher Hinsicht nichtlinear mit den Einfluss nehmenden GroBen verbunden. Nur nach sehr viel Erfahrung, die auch ein hiiufiges Fahren im sog. Grenzbereich bei unterschiedlichen StraBenbedingungen und StraBenzustanden voraussetzt, wobei durchaus auch ofters die Grenze zur Instabilitat iiberschritten werden miisste, diirfte es moglich sein, ein Gefiihl flir diesen komplexen Zusammenhang aufzubauen. Fiir berufsmaBige Rallyefahrer oder geschulte Versuchsfahrer in Automobilwerken mag dies Voraussetzung gelten. Bei den meisten, auf Grund langjahriger unfallfreier Fahrpraxis als erfahren anzusehenden Fahrern diirfte jedoch, gerade weil sie den Ubergang zum instabilen Fahrzustand normalerweise meiden, eine sehr viel einfachere Erfahrung gespeichert sein:
"Wenn beim Drehen des Lenkrades nach anfonglichem Zunehmen das Rilckstellmoment plotzlich geringer wird, ist die Straj3e glatt oder rutschig"
Nach der obigen Erklarung des Zustandekommens des Riickstellmoments tritt dieser Fall ein, wenn praktisch in der gesamten Reifenaufstandsflache die maximal mogliche Querspannung iiberschritten ist. Die Erfahrung beinhaltet aber kei-
10.4 Haptik bei primiiren Stelltei1en 169
nerlei Wamung im Vorfeld des Eintreten dieses Zustands. Das Lenkradriickstellmoment liefert also keine ausreichende und Sicherheit gewahrleistende Information iiber den StraBenzustand.
Donges (1982) weist darauf hin, dass heutige Fahrzeugauslegungen zwar fUr Extremmanover einen groBen Spielraum lassen, weil im "normalen" StraBenverkehr maximal 40%-50% der objektiv vorhandenen Reserven wirklich genutzt werden. Bedingt durch die mechanischen Zusammenhiinge sind aber die Riickmeldungen fUr den Fahrer in diesen fahrdynamischen Extrembereichen stark nichtlinear. So steigt beispielsweise bei stationarer Kreisfahrt der Lenkradwinkel bei fast allen Fahrzeugen mit zunehmender Querbeschleunigung (hier erreicht durch zunehmende Geschwindigkeit) zunachst linear an, erhOht sich dann aber iiberproportional im Grenzbereich. Das Lenkradriickstellmoment steigt zunachst ebenfalls quasilinear an, im Grenzbereich ist das Verhalten dann aber umgekehrt zum Lenkradwinkel (s.o.). Der Fahrer ist somit bei dem Versuch, aus dem linearen Erfahrungsbereich in den Grenzbereich zu extrapolieren iiberfordert. Als Losung dieses Dilemmas schlagt Donges schon damals eine synthetische Kraftriickkopplung vor.
Bei der EinfUhrung der hydraulischen Servolenkung hat man sich sehr bemiiht, die Reaktionskrafte zwar zu reduzieren, aber ansonsten moglichst unverfalscht auf das Lenkrad zu iibertragen. Die motordrehzahlabhiingig betatigte Servopumpe hat dabei allerdings den Effekt, dass diese Riickstellkraft zusatzlich zu den oben geschilderten fahrdynamisch bedingten Einfliissen auch noch von der Motordrehzahl abhiingt. Modeme Servolenkungen, die durch die EinfUhrung von elektrohydraulischen bzw. rein elektrischen Servoaggregaten nun auch in den preiswerteren Fahrzeugklassen eingefiihrt werden konnen, werden deshalb so modifiziert, dass die Servowirkung mit der Fahrgeschwindigkeit abnimmt (bereits 1981 von Adams vorgeschlagen und von Hackenberg 1983 erstmals fUr den UNI-CAR verwirklicht).
Schon seit sehr langer Zeit wurden auf wissenschaftlicher Ebene Versuche untemommen,l-enkiibersetzung und Riickstellkrafte zu variieren, urn so zu einer optimalen Inteiaktion von Fahrer und Fahrzeug zu kommen. Am hiiufigsten wird dabei eine variable Lenkiibersetzung vorgeschlagen, in dem Sinne, dass mit zunehmenden Lenkwinkel die Umsetzung in den Radeinschlag direkter wird (z.B. Hackenberg, 1983). Als Vorteil fUr eine solche Auslegung wird der geringe Bewegungsaufwand bei Rangierarbeiten und die Unempfindlichkeit der Lenkung bei normalen Fahrmanovem angefiihrt (Friedrich et aI., 2001). Bereits Wallner (1972) konnte aber in Simulatorversuchen in Ubereinstimmung mit den bereits erwahnten allgemeinen ergonomischen Erkenntnissen, welche fUr nichtlineare Ubertragungscharakteristiken schlechtere Steuereigenschaften vorhersagen, keine positiven Effekte fUr eine solche Lenkungsauslegung beobachten.
Von Schultze (1981) und Temming (1984) wurde ein weiterer Versuch veranderter Lenkiibersetzung berichtet: Sie variierten diese in Abhiingigkeit von der Geschwindigkeit, so dass sie mit zunehmender Geschwindigkeit direkter wurde. Dadurch wird die normalerweise geometrisch gegebene Verkopplung der Langsorientierung mit der Geschwindigkeit vollkommen eliminiert, die der Querbeschleunigung wird von einer quadratischen auf eine lineare Geschwindigkeitsabhiingigkeit reduziert (Bubb, 1993). In den experimentellen Untersuchungen konn-
170 10 Haptik im Kraftfahrzeug
ten die positiven Erwartungen, die sich durch diese Form der Linearisierung ergeben, bestatigt werden.
Die meisten Experimente und Uberlegungen zur Gestaltung der haptischen Riickmeldung am Lenkrad beziehen sich jedoch auf die kiinstliche Zusammensetzung eines haptischen GefUhls. Schon Segel und Bundorf (1966) stellten ein Versuchsfahrzeug vor, bei dem die Lenksaule mechanisch vollkommen getrennt war von einer Servoeinrichtung zur Verstellung der Spurstange. Durch einen Drehmomentmotor wurde kUnstlich eine Riickstellkraft fUr den Fahrer bereit gestellt. Durch diese Versuchsanordnung waren bereits modeme Vorstellungen des Driveby-wire vorweggenommen worden. Die Lenkradstellung beeinflusste zwar direkt die Servoeinrichtung fUr die Spurstange, auf den Drehmomentmotor, der die Riickstellkraft simuliert, werden aber mit einstellbarem Gewicht Informationen iiber Rollwinkel und Rollwinkelanderung, Gierwinkel, Gierwinkeliinderung, Querbeschleunigung, Fahrzeuggeschwindigkeit und Riickstellkrafte in der Spurstange gegeben. Ziel ist dabei, ein optimales LenkgefUhl experimentell zu synthetisieren. Mit den heute erweiterten Moglichkeiten des Drive-by-wire und der Aussicht auf eine gesetzliche Anderung, die eine Abkehr von der mechanisch starren Verbindung von Lenkrad und Spurstange ermoglicht, werden in allen Fahrzeugfirmen Versuche der geschilderten Art durchgefUhrt. So wurde von Friedrich et al. (2001) von einem VW-Bus berichtet, der mit einer derartigen Lenkung ausgeriistet ist. Versuchsfahrer konnten bei entsprechender Einstellung des Systems den Unterschied zu einer konventionellen Lenkung nicht erkennen.
10.4.2 Verbesserte Einbindung des Fahrers in den Mensch-Maschine-Regelkreis durch das "Aktive Stellteil"
Wie bereits angedeutet, bietet die By-wire-Steuerung neuartige Moglichkeiten, dem Fahrer eine weitaus intuitivere und damit bediensicherere Einwirkung auf das Fahrzeug zu gestatten als dies bei dem konventionellen Konzept moglich ist, die ja letztlich auf Grund der historisch-technischen Entwicklung des Fahrzeugs und nicht aus grundsatzlichen bedientechnischen Uberlegungen zustande gekommen ist. Das neue Argument ist: mit den Moglichkeiten modemer Mikroelektronik in Verbund mit dem ausgefeilten Potential der Mechanik (Stichwort: Mechatronik) kann technisch fast jede Form der Bedienung realisiert werden. Deshalb ist es nun moglich, aus der Sicht der physiologischen und psychologischen Eigenschaften des Menschen diese Bedienung zu gestalten.
Die Sicherheit natiirlicher menschlicher Bewegung im Alltag, ohne Nutzung technischen Umsetzungswerkzeugs, kommt im Wesentlichen dadurch zustande, dass durch Erfahrung sog. "innere Modelle" aufgebaut worden sind, die im Detail bestimmen, welcher Muskel zu welcher Zeit betatigt werden muss und gleichzeitig vorherzusagen erlauben, welche Riickmeldung bei der entsprechenden Bewegung zu erwarten ist (Bubb, 1993). Solche Erfahrung liegt fUr alltagliche Bewegungen in bedeutend umfangreicherem MaBe und viel tiefer verwurzelt vor als bei spater erlemten Betatigungen (z.B. wahrend der Fahrschule). So ist es zu erklaren, dass der Mensch mit derselben Sicherheit ein leichtes Wasserglas (sowohl gefUllt,
IDA Haptik bei primiiren Stelltei1en 171
als auch leer), einen Brietbeschwerer oder einen schweren Koffer manovrieren kann. Systemergonomisch betrachtet handelt es sich in allen drei Hillen urn eine Beschleunigungssteuerung, da die Kriifte zuniichst dazu verwendet werden, den Gegenstand zu beschleunigen und spiiter zeitgerecht so zu verzogern, dass er an der beabsichtigten Stelle abgesetzt werden kann. Dies geschieht mittels der in der friihesten Kindheit erworbenen inneren Modelle und auf Grund der im Rlickenmark vorhandenen Unterregelkreise des Kraft- und Wegservomechanismus vollkommen unbewusst mit groBter Priizision. Dieser natiirliche Regelkreis wird bei der Bedienung technischer Geriite aufgebrochen; er gilt zwar immer noch fiir die Betiitigung des Bedienelements selbst; beziiglich des gewiinschten Effekts der mit der Maschine erreicht werden solI, ist aber keine solche direkte, propriozeptive Rlickmeldung gegeben. Diese Rlickmeldung erfolgt nun liber einen iiuBeren, liingeren Weg auf dem optischen bzw. gegebenenfalls akustischen und dem kiniisthetischen Informationsaufnahmekanal. Erst wenn flir diese Version neue innere Modelle aufgebaut sind (= Lemen), ist wieder ein sicheres unbewusstes Handeln moglich. Naturgegeben sind diese im spiiteren Lebensalter erworbenen inneren Modelle weniger stabil, d.h. es kann leichter eine Alternative in Erwiigung gezogen werden als bei den zuerst genannten. Die in Abb. 10.9 gezeigte Version stellt die Situation dar, bei der liber das Bedienelement keinerlei maschinenrelevante Information libertragen wird. Sie ist in der Flugzeugtechnik als der Nachteil des sog. Fly-by-wire bekannt. In der Kraftfahrzeugtechnik stellt die Betiitigung von Brems- und Gaspedal ein solches System dar (s.o.). In vielen Fiillen enthiilt die Rlickstellkraft des Bedienelements aber doch Information liber den Betriebszustand der Maschine - allerdings in verschllisselter Form. Das ist bei der Kraftfahrzeuglenkung der Fall, die bereits ausflihrlich diskutiert wurde.
Kraft Aufgabe Ergebnis
Mensch Maschine
Abb. 10.9 Infonnationsfluss bei der Bedienung einer Maschine mit herkomm1ichem Stellteil.
Die Grundliberlegung flir das aktive Bedienelement besteht nun darin, die urspriinglichen, in der Kindheit erworbenen, inneren Modelle flir die Maschinenbedienung zu nutzen. Dazu befindet sich am aktiven Bedienelement ein Kraftsensor, durch den die Information der intendierenden Kraft liber entsprechende Servoaggregate zur Steuerung der Maschine benutzt wird. Der von der Maschine bewirkte Effekt wird gemessen und liber einen Servomotor in eine entsprechende WeggroBe des aktiven Bedienelements umgewandelt. Der Mensch hat also sozusagen informationstechnisch gesehen die Maschinendynamik in der Hand (Abb. 10.10).
172 10 Haptik im Kraftfahrzeug
Kraft
Aufgabe VtktiVeS
Bedienelement Ergebn is
~ Mensch / Bedien-element Maschine
t Servo-motor
• ""'-We1.
Abb. 10.10 Infonnationsfluss beim aktiven Stellteil
Auf der Grundlage dieser Uberlegungen und der Anwendung systemergonomischer Regeln (Bubb, 1993) kann eine ganz neuartige Steuerung des Kraftfahrzeugs konzipiert werden. Ausgangspunkt ist die systemergonomische Regel, dass eine zweidimensionale Aufgabe, wie das Fiihren eines Kraftfahrzeugs (eine willentliche Beeinflussung ist unter normalen Verkehrsbedingungen nur in Langs- und Querrichtung moglich) optimal auch dutch ein zweidimensionales Stellteil betatigt wird. Neben anderen Versionen (Bubb, 1985) kommt hierfUr in erster Linie der Joystick in Frage. Bereits 1958 wurde von General Motors ein Versuchsfahrzeug vorgestellt, das tiber eine solches Bedienelement zur Lenkung des Fahrzeugs verfugte. Erst mit den Moglichkeiten der Mechatronik und der Realisierung dieses Bedienelements als "Aktives StellteilH konnte diese Art der Fahrbewegungsbeeinflussung fur das Kraftfahrzeug interessant werden. Versuche in dieser Richtung wurden zuerst von Bolte (1991) am Simulator durchgefUhrt. Eckstein (2000) installierte das "Aktive StellteilH zum erstenmal in verschiedene reale Fahrzeug (Mercedes-Benz 200, 500 SE und 500 SL) und Friedrich (2001) berichtet yom Aufbau ahnlicher Versuchsfahrzeuge bei VW bzw. AUDI. In allen Fallen wird die paarweise Bestiickung eines Fahrzeugs mit einem derartigen Sidestick bevorzugt (Abb. 10.11).
Bolte (1991) schildert vor all em Handlingvorteile. So zeigt er, dass die Querdynamik des geschlossenen Fahrer-Fahrzeug-Regelkreises bei der konventionellen Lenkung bei ca. O,4Hz eine Resonanzstelle besitzt (s.a. Donges, 1982), die beim aktiven Stellteil vollig verschwindet. Erklart wird dies mit der wesentlich kiirzeren Reaktionszeit des haptischen Sinneskanals, der im Gegensatz zu den anderen Sinnesorganen (Augen, aber auch Manual-lVestibularorgan) tiber das Rtickenmark einen eigenen Unterregelkreis (sog. "EigenreflexbogenH) besitzt, der eine ca. vierfach schnellere Reaktion erlaubt. Eckstein (2000) fand - ebenfalls in Simulatorexperimenten - fur Fahranfanger eine ktirzere Eingewohnungszeit. Er schildert zudem deutliche Eingewohnungsproblem fur altere, an das konventionelle System gewohnte Personen. Dies weist auf das hohe Habituationsniveau des haptischen Sinneskanals hin.
10.4 Haptik bei primaren Stellteilen 173
Abb. 10.11 Beispiel fur Versuchsfahrzeug mit Sidestick-Steuerung (Mercedes 500 SL; Eckstein, 2000).
1m Hinblick auf die zunehmende Entwicklung von Assistenzsystemen hat jedoch dieses neue System wichtige theoretische Vorteile aufzuweisen. So haben z.B. radargestiitzte automatische Abstandshaltesysteme (ACC, Distronic) den systemergonomischen Nachteil, keine haptische Riickmeldung iiber den Antriebs- bzw. Bremszustand des Fahrzeugs liefem zu konnen. Das bereits erwiihnte "aktive Gaspedal" liefert nur Information iiber die Notwendigkeit "Gas wegzunehmen"; ein eingeleiteter Bremsvorgang kann jedoch nicht angezeigt werden. Das aktive Stellteil wiirde dem gegeniiber diese Information haptisch unmittelbar vermitteln und zudem eine sehr intuitive Reaktion erfordem, falls aus menschlicher Einsicht der Empfehlung des Assistenzsystems entgegen gehandelt werden muss. Noch bedeutender wird diese Uberlegung in Verbindung mit einem Assistenzsystem fiir die Spurhaltung ("Heading Control", entwickelt u.a. bei BMW im Rahmen des PROMETHEUS-Projektes). Penka (2001) hat deshalb am Simulator verschiedene Situationen untersucht, die ein Ubersteuem von Assistehzsystemen notwendig machen. Sie zeigen, dass das aktive Stellteil unter soIchen Bedingungen generell eine groBere Akzeptanz erhiilt als die konventionelle Bedienung. Allerdings wird gegeniiber den Assistenzsystemen ganz allgemein ein gewisses Misstrauen gehegt, so dass - wegen seiner groBeren Vertrautheit - (noch) der konventionellen Bedienung der Vorzug gegeben wird.
Trotz dieser einschriinkenden Befunde lohnt es sich, mit Blick auf die zukiinftige Entwicklung von Assistenzsystemen, durch die ein kiinstlicher dynamischer, durch elektronische Distanzmessungen realisierbarer Schutzwall urn das in Bewegung befindliche Fahrzeug aufgebaut wird (Labahn u. Boehlau, 2001), mit dem aktiven Stellteil in dieser oder jener Ausfiihrungsform auseinander zu setzen. Ergibt sich doch dadurch die Chance, das Eindringen des eigenen Fahrzeugs in diesen Schutzwall unabhiingig von der jeweiligen Fahrsituation immer auf gleiche Weise situationsadiiquat iiber den haptischen Sinneskanal an den Fahrer riickzu-
174 10 Haptik im Kraftfahrzeug
melden. Wie dargelegt, werden dadurch nicht nur schnellere Reaktionen moglich, sie sind wegen der Konformitat zu den Inneren Modellen aus dem Alltagserleben zudem intuitiv richtig. Zudem konnen jederzeit die technischen Empfehlungen ohne irgendwelche Umdenken iibersteuert werden. Der Fahrer bleibt also trotz Assistenz Herr der Situation.
Literatur
Adams, F. J. (1981). Automotive Power Steering Feel. Proc. Inst. Mech. Engrs., Automobile Division, Vol 195, 29-36
Ashley, S. (2001). Symplitying Controls. In Automotive Engineering International, March 2001, Society of Automotive Engineers. 123-126
Bill, K. H.; Leber, M.;Becker, H.; Breuer, B. (1999). Forschungswerkzeug zur Untersuchung der Schnittstelle FahrerlBremspedal. Automobiltechnische Zeitschrijt 101/2, 86-93
Bolte, U. (1991). Das aktive Stellteil - ein ergonomisches Bedienkonzept (FortschrittBerichte VDI, Reihe 17 "Biotechnik"), VDI-Verlag, Dusseldorf
Borg, G. (1982). A category scale with ratio properties for intermodal and interindividual comparison. In Geisler, H. G. and Petzold, P (Eds.). Psychophysical Judgement and the Process of Perception, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaft, 25-34
Borschlein, E.M. (1995). Haptischer Komforteindruck von Handstellteilen in Personenkraftwagen. In Haus der Technik e.V. (Hrsg.). Band zur Tagung "Komfort und Ergonomie in Kraftfahrzeugen" im Februar 1995 in Essen
Bubb, H. (1985). Arbeitsplatz Fahrer - Eine ergonomische Studie. Automobil Industrie, 30, 265-275
Bubb, H. (1993). Systemergonomie. Teil 5. In Schmidtke, H. (Hrsg.): Ergonomie. Hanser Verlag, Munchen, Wien
Bubb, P. (1995). Komfort und Ergonomie in Kraftfahrzeugen. In Haus der Technik e.V. (Hrsg.). Band zur Tagung "Komfort und Ergonomie in Kraftfahrzeugen" im Februar 1995 in Essen
Donges E. (1982). Aspekte der Aktiven Sicherheit bei der Fiihrung von Personenkraftwagen. In Automobil-Industrie (2/82), 183-190
Eckstein L. (2000). Sidesticks im Kraftfahrzeug - ein alternatives Bedienkonzept oder Spielerei? In Bubb, H. (Hrsg.). Ergonomie und Verkehrssicherheit. Beitriige der Herbstkonferenz der Gesellschaft fUr Arbeitswissenschaft. Herbert Utz Verlag, Miinchen. 65-96
Fanger, P. O. (1973). Thermal Comfort. Analysis and Applications in Enviromental Engineering. New York, McGraw-Hill
Friedrich, H.; Hoffmann, l; Kreft, l; Semmler, C.; Witte, B. (2001). Auf dem Weg zum intelligenten Auto - Steer-by-Wire als Basis zukiinftiger Assistenzfunktionen. In VDI (Hrsg.). Der Fahrer im 21. Jahrhundert. VDI-Berichte Nr. 1613, VDI Verlag GmbH, Dusseldorf. 277-296
Goktan, A. G. (1987). Optimale Bremspedal-Kraft-WegCharakteristiken bei PkwBremsanlagen. In Automobil-Industrie (2/87), 161-169
Hackenberg, U. (1983). The Steering System of the UNI-CAR under Aspects of Manual Control. Proceedings of the Third European Annual Conference on Human Decision Making and Manual Control, Roskilde (Denmark), 409-417
Literatur 175
Haller, R. (2000). Wie erreicht man bei Fahrerassistenz, dass der Fahrer Herr der Situation bleibt? In Bubb, H. (Hrsg.). Ergonomie und Verkehrssicherheit. Beitriige der Herbstkonferenz der Gesellschaft fur Arbeitswissenschaft. Herbert Utz: Miinchen. 55-64
Handwerker, H. O. (1993). Somatosensorik. In: Schmidt, R. F. Neuro- und Sinnesphysiologie. Springer Berlin, Heidelberg, 221-247
Jenkins, W.O. (1947): The tactual discriminationof shapes for coding aircrafttype controls. In P. M. Fitts (ed.), Psychological research on equipment design, Army Air Force, Aviation Psychology Program, Research Report 19
Kosaka H.; Watanabe K. (1996). Reaction Forces of Switches and Push Feeling. Automotive Design Avancements in Human Factors: Improving Drivers' Comfort and Performance. SAE, Warrendale, Publication No.SP-1155, 169-174
Labahn, N.; Boehlau, C. (2001). Unterstiitzung des Fahrers durch Umweltsensorik und intelligente Lichtsteuerung. In VDI (Hrsg.). Der Fahrer im 21. Jahrhundert. VDIBerichte Nr. 1613, VDI Verlag GmbH, Dusseldorf, 315-332
Osumi, Y.; Inuzuka, Y.; Hideichi, I. (1990). Operability of Car Audio Controls. In Countdown to the 21st Century. Proceedings of the Human Factors Society 34th Annual Meeting, Orlando (USA). The Human Factors Society, Santa Monica, California, Vol. 1,618-622
Penka, A. (2001). Vergleichende Untersuchung zu Fahrerassistenzsystemen mit unterschiedlichen aktiven Bedienelementen. Dissertation an der TU Miinchen
Reichart, G. (2000). Menschliche Zuverliissigkeit beim Filhren von Kraftfahrzeugen -Moglichkeiten der Analyse und Bewertung. Dissertation an der TU Miinchen
Revesz, G. (1950). Psychology and art of the blind. New York. Longmens, Green and Co. (Translated from: Die Formenwelt des Tastsinnes. The Hague: Martinus Nihoff, 1933)
Samper, K.; Kuhn K.-P. (2001). Reduktion des Kraftstoffverbrauchs durch ein vorausschauendes Assistenzsystem. In VDI (Hrsg.). Der Fahrer im 21. Jahrhundert. VDIBerichte Nr. 1613, VDI Vetiag GmbH, Dusseldorf, 79-94
Schmidtke, H.; Riihmann H. P. (1989). Kriifte an FuBstellteilen. In Bundesamt fur Wehrtechnik und Beschaffung (Hrsg.). Handbuch der Ergonomie, Abschnitt B-4.5.1., 2. Auflage, Carl Hanser Verlag, Miinchen
Schulze, B. G. (1981). The Application of Ergonomic Principles in the Design of Operating Controls. In Oborne, D. J., Jevis, 1. A. (Eds.): Human Factors in Transport Research, Vol. 1,337-344
Segel, L.; Bundorf, R. Th. (1966). Variable Stability Auto tests Behavior of Vehicles before they are built. SAE Journal, 88-91
Seidl, A.; Speyer, H.; KrUger, W. (1995). RAMSIS - a New CAD-Tool for Ergonomic Analysis of Vehicles Developed by Order of the German Automotive Industry. In Proceedings of the 3rd International Conference on Vehicle Comfort and Ergonomics, Bologna, Italy, 29-31 March 1995
Temming, J. (1984). Bedienungserleichterungen beim Beschleunigen, Bremsen,Lenken und Schalten. InADAC Schriftenreihe Nr. 29,219-229
Wallner, F. (1972). Uber den Einjluss unkonventioneller Lenksysteme auf die Lenkbarkeit des Fahrzeugs. Dissertation an der TU Berlin
Wang, X. G.; Mick, F.; Vernet, M.; Fraigneau, F. (1996). Experimental Investigation of the Relationship between the Sensation and the Force Applied to a Pedal. In Ozok, A. F.; Salvendy, G. (Eds.). Advances in Applied Ergonomics. USA Publishing, West Lafayette, India, USA, 572-575
Zhang, L.; Helander, M. G.; Drury, c. g. (1996). Identifying Factors of Comfort and Discomfort in Sitting. In Human Factors 38(3), 377-389
11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte zur Steuerung technischer Systeme wah rend der Fahrt im Kraftfahrzeug: Evaluationsbefunde zur Systemweiterentwicklung mit paralleler Sprachbedienung
Kay Schattenberg und Giinter Debus
11.1 Anzeige- und Bedienkonzepte
11.1.1 Visuell-manuelle versus multimodale Interaktion
Mensch-Maschine-Schnittstellen (MMS) sind hiiufig so ausgelegt, dass visuell Information aufgenommen und manuell Stellteile bedient werden. Einschliigige Ergonomie-Literatur befasst sich entsprechend mit der optimalen Gestaltung dieser visuell-manuellen Schnittstelle (z.B. Dix et aI., 1998; Sanders u. McCormick, 1992; Wickens et aI., 1998; Wickens u. Hollands, 2000). Diese visuell-manuelle Interaktionsmodalitiit ist z.B. auch kennzeichnend flir den Computer- oder den Fahrerarbeitsplatz. Die manuelle Bedienung eines Computers geschieht iiber Tasten, Tastatur, Touchscreen, Computermaus oder Trackball. Beispiele hierfUr sind die Interaktion mit graphischen Benutzeroberfliichen wie dem Betriebssystem Microsoft Windows (2001) oder dem K-Desktop Environment fUr Linux (2001). 1m Kraftfahrzeugbereich stehen dem Fahrer viele unterschiedliche Bedienelemente zur Verfligung, urn technische Systeme zu steuem, wie Lenkrad, Pedalerie, Schalter, Tasten. Informationen am PC Arbeitsplatz werden iiberwiegend visuell dargeboten. Graphische Benutzeroberfliichen am PC priisentieren dem Bediener Systemzustiinde und -reaktionen (Microsoft Windows, 2001). 1m Kraftfahrzeug werden Systemzustiinde iiberwiegend durch Anzeigen und Kontrolllampen dargestellt. Es werden jedoch zunehmend Systeminformationen in komplexen Fahrerinformationssystemen wie dem COMAND System von Mercedes-Benz integriert, die wie bei dem PC Arbeitsplatz, Informationen iiber eine graphische Benutzeroberfliiche priisentieren (DaimlerChrysler, 2001).
Krogh (1995) beschreibt den Trend der stetig steigenden Anzahl von Bedienkomponenten und Anzeigen im Kraftfahrzeug. Bei verschiedenen Fahrzeugmodellen steht auf der Armaturentafel und der Mittelkonsole kein Bauraurn mehr zur VerfUgung. 1m Cockpit des BMW M5 platzierte der Autohersteller insgesamt 98 Bedienelemente und im Mercedes E 500 befinden sich 63 Schalter.
Ein multimodales Anzeige- und Bedienkonzept ermoglicht eine Interaktion zwischen Mensch und Maschine unter Verwendung von mehr als einer Interaktionsmodalitiit (Dix et aI., 1998; Hedicke, 2000). Einbezogen werden neben visuel-
178 11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte
ler auch auditive (Gerliusche, Sprachausgabe) und haptische Information. Neben manueller Bedienung wird vokale (Spracheingabe) und gestische Bedienung (gestische Handbewegung) beriicksichtigt.
Inzwischen ist es moglich, iiber sprachverstehende Schnittstellen Systemparameter zu modifizieren. Fiir PC Anwendungen gibt es hier eine Reihe von Produkten, wie die Spracherkennungssoftware Dragon Naturally Speaking (2001). Mit dieser Software und einem an den PC angeschlossenen Mikrofon konnen alternativ zu den Mauseingaben auch Befehle per Sprache an die graphische Benutzeroberflliche iibermittelt werden. 1m Kraftfahrzeugbereich sind auch bereits sprachverstehende Systeme integriert. Das Sprachbediensystem LINGUATRONIC (DaimlerChrysler, 2001), das bisher nur fUr das Telefon lieferbar war, steuert in der C-Klasse von Mercedes-Benz auch Autoradio und CD-Spieler.
Neben den beschriebenen Interaktionsmodalitliten gibt es weiterfiihrende Anslitze der Systembedienung iiber Augenbewegungen oder Handgesten (HeinrichHertz-Institut, 2001, Seifert u.a. in diesem Band). Die Informationsreprlisentation wird im Rahmen der Steuerung von Computerprogrammen z.B. durch eine Maus mit aktiver Kraftriickkopplung erweitert (Immersion, 2001).
Neben der visuellen Prlisentation werden Informationen auch auditiv yom technischen System zum Bediener iibermittelt. Die Firma Microsoft hat im Internet Designrichtlinien veroffentlicht, die auditive Signale als effektive Unterstiitzung einer visuellen Informationsprlisentation beschreiben (MSDN Online, 2001). Auch Fahrzeugsysteme iibermitteln Informationen iiber auditive Signale (MercedesBenz, 1999). Hierzu zlihlen sowohl Pieptone in Verbindung mit Warn- und Stormeldungen als auch Sprachausgabe zur Unterstiitzung von Wegleitsystemen (Mercedes-Benz, 1998).
Multimodale Interaktion kann allgemein fUr verschiedene Ziele genutzt werden (Hedicke, 2000):
• Wiederherstellung des direkten Kontakts zum Prozess: Die auf visuellmanuelle Interaktion reduzierte Auslegung der MMS fiihrte zur Entkopplung des Bedieners yom Prozess. 1m Kraftfahrzeug wurde diese Entkopplung durch die Fahrerassistenzsysteme (z.B. Antiblockiersystem) verstlirkt. Durch die WiedereinfUhrung prozess- und aktionsbezogener sensorischer Information kann eine originlire Wahrnehmungs- und Aktions-Interaktion hergestellt oder zurnindest simuliert werden.
• ErhOhung der Systemsicherheit durch redundante Information und prozesskompatibler Aktion: Vielmehr als bisher kann das Prinzip der gleichzeitig iiber verschiedene Sinnesmodalitliten iibermittelten Information, sei sie prozess- 0-
der aktionsbezogen, genutzt werden, urn Sicherheit zu erhOhen. Experimentelle Untersuchungen belegen den Vorteil dieses Prinzips (z.B. Selcon u. Taylor, 1995).
• ErschlieBung von Optionen fUr unterschiedliche Nutzungen von Wahrnehmungs- und Aktions-Modalitliten: Das auf visuell-manuelle Interaktion reduzierte MMS beriicksichtigt keine Einschrlinkungen in Wahrnehmungs- und Aktionskompetenzen (z.B. unfall-, krankheits- und altersbedingte Behinderun-
11.1 Anzeige- und Bedienkonzepte 179
gen). Multimodale Erweiterungen der Interaktion wiirden eine flexible Anpassung bei eingeschrankten Kompetenzen erlauben.
• Optimierung der Beanspruchung durch Reduktion einseitig belastender und Erh6hung vieWiltig wechselnder Anforderungen: Die Analyse gleichzeitiger Tatigkeiten (Doppeltatigkeits-Paradigma) hat die menschlichen Leistungsgrenzen offengelegt und zu Modellen optimaler Ressourcenverteilung gefiihrt, z.B. Wickens' multiples Ressourcenmodell (siehe z.B. Wickens, 2000). Durch die Inanspruchnahme verschiedener, miteinander nicht konkurrierender Ressourcen bei multiplen Wahmehmungs- und Aktionsmodalitaten kann die Beanspruchung optimiert werden. Experimentelle Untersuchungen belegen dies auch fiir die Beanspruchung des Fahrers im Fahrzeug (z.B. Debus et aI., 1998).
Die folgenden Ausfiihrungen greifen den Punkt der Beanspruchungs-optimierung als Ziel einer multimodalen Interaktion des Mensch-MaschineSystems, hier des Fahrer- Fahrzeug-Systems, auf. Sie beschranken sich auf die manuelle Bedienung und die Sprachbedienung sowie die visuelle und auditive Anzeige von Informationen. Diese Modalitaten sind zum einen bereits im Lieferumfang von Anzeige- und Bedienkonzepten im Kraftfahrzeug realisiert worden (DaimlerChrysler, 2001). Zum anderen stehen diese Bedien- und Anzeigemodalitaten im Zentrum experimenteller Studien zur effektiven Nutzung multimodaler Mensch-Maschine-Schnittstellen (Dillon et aI., 1997; Gerson et aI., 1988; Simpson et aI., 1985).
Die so im Ansatz bislang entwickelte multimodale Fahrer-Fahrzeug-Schnittstelle wird in den folgenden Ausftihrungen zunachst auf der Grundlage des gegenwartigen Forschungsstandes theoretisch betrachtet und analysiert. Es wird eine neue Schnittstellengestaltung mit zunachst visuell-manueller Interaktion vorgeschlagen und evaluiert. Sowohl die theoretischen Betrachtungen multimodaler Schnittstellen als auch die Ergebnisse der Evaluation des visuell-manuellen Anzeige- und Bedienkonzeptes flieBen in eine Weiterentwicklung des Systems mit paralleler Sprachbedienung ein.
11.1.2 SprachgestOtzte Anzeige- und Bedienkonzepte
Simpson et aI. (1985) bezeichnen die Sprachein- und -ausgabe als interessantes Werkzeug zur Bearbeitung von Aufgaben, bei deren Ausfiihrung die visuellmanuelle Interaktionsmodalitat iiberlastet ist. Die Autoren unterstreichen jedoch, dass es von der Art der Aufgabe abhangt, ob Sprachbedienung eine Optimierung der Aufgabenleistung nach sich zieht. Simpson et aI. (1985) beschreiben eine Reihe von Zwei-Aufgaben-Experimenten mit einer Tracking- und einer Dateneingabe-Aufgabe. In einer Umgebung mit Helikoptergerauschen und Helikopterbewegung war die Leistung in der Tracking-Aufgabe weniger reduziert, wenn die Dateneingabe per Sprache gemacht wurde im Vergleich zur Dateneingabe iiber eine Tastatur. Andere Untersuchungen, die sich mit der Geschwindigkeit und der Prazision von Dateneingabe beschiiftigten, stellten fest, dass die manuelle Dateneingabe zur Steuerung eines Computerspiels schneller war als die Eingabe iiber
180 11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte
Sprache (Simpson et aI., 1985). Besonders bei der simultanen Bearbeitung einer manuellen Aufgabe ist haufig, wie auch im Kraftfahrzeug, die Geschwindigkeit der Systembedienung nicht das primare Optimierungskriterium. Vielmehr steht hier die zuvor beschriebene Entlastung der visuell-manuellen Interaktionsmodalitat im Vordergrund. Die Sprachsteuerung zieht nur dann eine Optimierung der Mensch-Maschine-Interaktion nach sich, wenn es sich urn eine komplexe Aufgabe handelt, die hohe kognitive, visuelle und manuelle Anforderungen an den Bediener stellt (Simpson et aI., 1985). Dies trifft insbesondere auf den Fahrerarbeitsplatz zu, bei dem eine Entlastung der visuell-manuellen Interaktionsmodalitat ein Zuwachs an Sicherheit in der Bearbeitung der Fahraufgabe bedeutet (Gerson et aI., 1988).
Bei der Entwicklung einer sprachbasierten Menseh-Masehine-Sehnittstelle gibt es einige wiehtige Gestaltungsaltemativen in Bezug auf den W ortsehatzumfang des Spracherkenners, den direkten Zugriff auf Elemente des W ortsehatzes und den Umfang der auditiven Riickmeldungen.
Wortschatzumfang des Spracherkenners
Dillon et aI. (1997) beschreiben, dass die Variabilitat der Selektion von Wortem zur Bezeiehnung eines Objektes oder einer Funktion ein fundamentales Kennzeichen mensehliehen Verhaltens ist. Daher muss der W ortschatz eines Spracherkenners diese Variabilitat beriieksichtigen, urn die Benutzerleistung zu steigem und die Akzeptanz zu erhohen. Bei der Gestaltung einer spraehbasierten MenschMasehine-Sehnittstelle zur Bearbeitung einer medizinischen Befundungsaufgabe zeichneten Dillon et aI. (1997) die gesprochenen Worter herkommlicher Befundungssituationen auf. Das verwendete Vokabular bildete dann den W ortsehatz des Spracherkenners.
Es ist wiehtig festzuhalten, dass die Mensch-Masehine-Sehnittstelle von Dillon et aI. (1997) dem Benutzer keine visuelle Riiekmeldung zur Verfiigung gestellt hat. Bei der Verwendung eines Informationsdisplays konnten dem Bediener die Funktions- und Funktionszustandsbezeiehnungen auf dem Display dargestellt werden. Auf diese Weise ware der W ortschatz des Spracherkenners eindeutig definiert und miisste nieht die Variabilitat in der Selektion von Wortem beriieksiehtigen. 1m experimentellen reil dieser Betraehtungen wird ein MenschMasehine-System evaluiert und weiterentwiekelt, das eine solche visuelle Riickmeldung zur Prasentation des W ortschatzes beinhaltet.
Direkter Zugriff auf Elemente des Spracherkenner Wortschatzes
Gerson et aI. (1988) besehreiben eine sprachbasierte Menseh-Maschine-Sehnittstelle, deren Kontrollwi:irter des Wortsehatzes hierarehisch gegliedert sind. D.h., dass der Spracherkenner in jedem Systemzustand lediglieh einen Aussehnitt des gesamten W ortschatzes erkennt. Die Aussehnitte entspreehen den Hierarehiestufen eines hierarehiseh aufgebauten Meniibaums. Diese Form der Konfiguration eines Spracherkenners bietet dem Benutzer in jeder Hierarehieebene eine begrenzte Auswahl von Kommandos an und bietet so eine streng gegliederte Sehnittstelle.
11.2 Schnittstelle fiir multimodale Interaktion 181
Fiir den Anfanger ist eine solche rigide und strukturierte Schnittstelle einfacher zu bedienen, erfahrene Bediener hingegen benotigen diese Schritt-fiir-Schritt Vorgehensweise nicht und betrachten eine solche Schnittstelle als langweilig und uneffektiv (Dillon et aI., 1997).
In den weiteren Ausfiihrungen wird eine Mensch-Maschine-Schnittstelle vorgeschlagen, die sowohl den Anforderungen des Anfangers, durch einen streng hierarchisch gegliederten Wortschatz, als auch denen der erfahrenen Benutzer, durch den direkten Zugriff auf Funktionen, Rechnung tragt.
Umfang und Art der auditiven ROckmeldung
Dillon et ai. (1997) integrierten eine auditive Riickmeldung in ihre sprachbasierte Mensch-Maschine-Schnittstelle zur Bearbeitung einer medizinischen Befundungsaufgabe. Nach der erfolgreichen Erkennung des gesprochenen Kommandos wurde ein Piepton vom System generiert, urn dem Bediener die erfolgte Spracherkennung zu signalisieren. Bei Ausbleiben des Pieptons sollten die Benutzer das Sprachkommando erneut in einer etwas deutlicheren Form sprechen oder ein alternatives Kommando ausprobieren, das ebenfalls Teil des Wortschatzes ist.
Auditives Feedback kann auch genutzt werden, urn inhaltliche Informationen iiber den Systernzustand zu iibermitteln, der das Resultat des erkannten und ausgefiihrten Sprachkommandos ist. Gerson et ai. (1988) fiihren als Beispiel die sprachbasierte Navigation innerhalb einer hierarchisch gegliederten Verzeichnisstruktur an. 1m System wurden Sprachausgaben hinterlegt, die alle moglichen Verzeichnisnamen beinhalten. Nach Erkennung eines Verzeichnisnamens wurde dieser vom System auditiv zurUckgemeldet. Auf diese Weise wurde der Benutzer iiber die erfolgreiche Erkennung des Sprachkommandos und iiber den aktuellen Systernzustand informiert. Diese Form der inhaltlichen auditiven Riickmeldung wird in der we iter unten folgenden Beschreibung einer multimodalen MenschMaschine-Schnittstelle wieder aufgegriffen.
11.2 Schnittstelle fur multimodale Interaktion
11.2.1 Konzeption: Schalterreduziertes integrales System
In den weiteren Ausfiihrungen wird ein manuelles Anzeige- und Bedienkonzept entwickelt, das fiir die Bedienung wahrend der Fahrt im Kraftfahrzeug optimiert ist. Die Ergebnisse einer benutzerbasierten Evaluation werden aufgegriffen, urn - in Verbindung mit den vorigen Betrachtungen - einen Vorschlag fiir eine multimodale Mensch-Maschine-Schnittstelle zur Bedienung technischer Systeme im Kraftfahrzeug zu beschreiben.
Drei wesentliche Probleme mit der herkommlichen Schalterbedienung technischer Systeme im Fahrzeug machen es notwendig, alternative Konzepte zu entwickeln. Zum einen ist im Greifraum des Fahrers kein Platz mehr fiir Bedienelementeo Der nicht abreiBende Einzug neuer technischer Systeme in das Kraftfahrzeug
182 II Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte
brachte immer auch zusatzliche Bedienelemente in das Cockpit. Es existiert bis heute kein integrales Anzeige- und Bedienkonzept, das es ermoglicht, neue Funktionen aufzunehmen, ohne zusatzliche systemspezifische Bedienkomponenten einbauen zu mussen. Das fUhrte zum zweiten Problem, das sich aus der Schaltervielfalt ergab. Die Bedienung der Systeme im Fahrzeuginnenraum ist ohne zu starke Ablenkung vom Verkehrsgeschehen nicht mehr fiir aIle Kundengruppen moglich. Die Ursache der erschwerten Bedienung liegt nicht nur in der hohen Anzahl der Schalter, sondem auch in der Unterschiedlichkeit der Schalter. Die Anforderungskombination von Fahrzeugfiihrung und Systembedienung macht eine Reduktion der Ablenkungswirkung von technischen Systemen im Kraftfahrzeug unbedingt notwendig. Werden weiterhin Systeme mit ihren eigenen Benutzerschnittstellen in das Fahrzeugcockpit integriert, ohne sie in einheitliche Bedienkonzepte einzubinden und die sichere Bedienung wahrend der Fahrt zu gewahrleisten, wird der Fahrer bald an die Grenze seiner Informationsverarbeitungskapazitat gebracht. D.h. der Fahrer wird mit der Informationsflut einer hohen Anzahl von technischen Systemen konfrontiert, die in Konkurrenz zu den fiir die sichere Fahrzeugfiihrung relevanten Informationen steht.
Ein erhebliches Optimierungspotential der Mensch-Maschine-Schnittstelle liegt in der sicherheitsorientierten Platzierung der Anzeigekomponenten. Die Platzierung der Anzeigekomponenten in raumlicher Niihe zu der fiir die Spurhaltung relevanten StraBeninformation bietet ein nutzbares Optimierungspotential, da hier die peripher wahrgenommene Spurinformation wahrend der Systembedienung eine sicherere Fahrzeugfiihrung zur Folge hat (vgI. Summala et aI., 1996; Seifert et. aI, in diesem Band). Voraussetzung fiir eine freie Platzierung von Informationsdisplays ist die Trennung der Anzeige- von den Bedienkomponenten in einer schalterreduzierten integralen Mensch-Maschine-Schnittstelle.
Die Trennung der Anzeige- von den Bedienkomponenten solI anhand eines schalterreduzierten MMS-Konzeptes zur Bedienung von Fahrzeugfunktionen dargestellt werden. Unter Verwendung eines Softwaretools zur Programmierung von interaktiven Prototypen wurde der Funktionsumfang einer herkommlichen Mittelkonsole einer Mercedes S-Klasse (WI40) in eine graphische Benutzeroberflache integriert. Bei diesem ersten Gestaltungsansatz wurde versucht, sowohl die intuitive Bedienbarkeit der neu entwickelten Systemvariante wie auch die Positionierung des Informationsdisplays optimal zu realisieren. Eine Bedienung von fahrzeugtypischen Funktionen wwend der Durchfiihrung einer Fahraufgabe sollte aufzeigen, inwieweit die optimierte Gestaltung und Positionierung der MenschMaschine-Schnittstelle im Kraftfahrzeug zu einer sichereren Bedienung des Gesamtsystems fiihrt.
Zur Veranschaulichung solI an dieser Stelle die raumliche Aufteilung der Anzeige- und Bedienkomponenten der altemativen Mensch-Maschine-Schnittstellen schematisch dargestellt werden (Abb. 11.1).
Das Schalterkonzept mit integrierter Anzeige findet sich in dem V organger der S-Klasse (WI40). Das zentrale Bedienelement mit abgesetzter Anzeige stellt eine Konzeptaltemative dar, die auf einer raumlichen Trennung von Anzeige und Bedienung basiert. In einer evaluativen Studie wurde die Spurhaltung als reprasentativer Leistungsindikator innerhalb des Tiitigkeitskomplexes Fahrzeugfiihrung
11 .2 Schnittstelle fUr multimodale Interaktion 183
(Reed et a!., 1999) und die Anzahl der von den Probanden bearbeiteten Displayaufgaben als GiitemaB fiir die Gestaltung von Anzeige- und Bedienkomponenten in den zu vergleichenden fahrzeugintemen Mensch-Maschine-Systemen untersucht. Dariiber hinaus wurde das Blickverhalten als 1ndikator der visuellen 1nformationsaufnahme registriert.
Anzeige und Bedienung
(a) (b)
Abb. 11.1 RiiumJiche Aufteilung der Anzeige- und Bedienkomponenten eines Schalterkonzeptes mit (a) integrierter Anzeige (alt) und eines (b) zentralen Bedienelementes mit abgesetzter Anzeige (neu).
Die Ergebnisse dieser Untersuchung machen deutlich, dass der hier gewahlte erste Entwurf einer Trennung der Anzeige- und Bedienkomponenten in einem schalterreduzierten Anzeige- und Bedienkonzept neue Probleme aufwirft, die moglicherweise mit Hilfe der Sprachbedienung gelost werden konnen. Obwohl das neue Konzept tendenzweise gegeniiber dem alten von den Probanden fiir das eigene Fahrzeug praferiert wurde, bestehen fiir das neue doch gravierende Nachteile in objektiven Kriterien. Fiir die weitere Systementwicklung sind diese Daten von groBer Bedeutung, weil sie Grenzen optimaler Schnittstellengestaltung aus kognitiv-ergonomischer Sicht offen legen.
11.2.2 Evaluation eines Entwurfs mit visuell-manueller Interaktion
Methode
Die Untersuchung wurde im Ergonomiepriifstand der Abteilung FTl /FM der DaimlerChrysler Forschung durchgefiihrt. Der Ergonomiepriifstand ist eine variable Sitzkiste, in der unterschiedliche Fahrzeuginnenraume dargestellt werden konnen.
Dariiber hinaus ist es moglich, mit Hilfe der Pedalerie und des Lenkrades eine virtuelle Fahrszene zu manipulieren, die durch einen Videobeamer auf eine Lein-
184 11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte
wand vor dem Priifstand projiziert wird. In der virtuellen Welt war ein rechteckiger Kurs dargestellt, den man bei einer Geschwindigkeit von 60kmlh in ca. 4 Minuten umfahren konnte.
Herkommliches Anzeige- und Bedienkonzept
In den Priifstand wurde eine Mittelkonsole einer S-Klasse (WI40) mit nahezu Vollausstattung eingebaut. Zu den Funktionen gehOrte u.a. die Klimaanlage, das Adaptive Dampfungssystem, die Heckscheibenheizung, der Abschleppschutz, die Sitzheizung und das Heckrollo. Es fehlten lediglich die Standheizung und das Tastenfeld des Reiserechners. Die in der Mittelkonsole vorhandenen Kontrollleuchten der Taster wurden von einen Microcontroller so angesteuert, dass sie bei Betatigung genau das Systemfeedback im Fahrzeug nachbildeten.
Schalterreduziertes Anzeige- und Bedienkonzept
Der Funktionsumfang des schalterreduzierten MMS-Konzeptes basierte auf den Schaltem und Tasten der Mittelkonsole einer S-Klasse (WI40) mit nahezu Vollausstattung.
Das Anzeige- und Bedienkonzept sollte, wie die Tasten und Schalter der SKlasse Mittelkonsole, der Manipulation von Schaltzustanden eines oder mehrerer Systeme oder Systemkomponenten und zur Darstellung des jeweiligen Systernzustandes dienen. Sowohl diskrete als auch kontinuierliche Funktionseinstellungen sollten variiert und angezeigt werden.
Eine Reihe von softwareergonomischen Prinzipien wurden bei der Entwicklung der Mensch-Maschine-Schnittstelle besonders in den Vordergrund gestellt. Weimer (1993) gibt einen Uberblick der bei der Displaygestaltung zu beachtenden Richtlinien, wie z.B. BuchstabengroBe in Abhangigkeit von der Entfemung des Betrachters und die Auswahl von Text- und Hintergrundfarbe. Dariiber hinaus wurden aus den Empfehlungen zur Formkodierung von Bedienkomponenten Gestaltungsrichtlinien flir die Multifunktionsbedienkomponente abgeleitet, die eine Blindbedienung, also eine Bedienung ohne visuelle Kontrolle, ermoglichen. Besonders wichtig war auch die Beriicksichtigung eines eindeutigen Mapping zwischen Bedienkomponenten und Anzeigekomponenten. Auf diese Weise sollte eine intuitive Mensch-Maschine-Interaktion unterstiitzt werden.
In Bezug auf die Displaypositionierung wurden die Empfehlungen von Weimer (1993) durch die Untersuchungsergebnisse von LambIe et al. (1999) erganzt. Weimer (1993) empfiehlt eine Platzierung von visuellen Displays innerhalb von 30 Grad urn die normale Sichtlinie, die sich in dieser Empfehlung 10 Grad unter der Horizontalen befindet. Die Ergebnisse von LambIe et al. (1999) und die Blickuntersuchungen von Cohen (1985) gehen dort we iter ins Detail und lief em eine flir die Fahraufgabe optimierte Positionierungsempfehlung. Insgesamt ergibt sich aus diesen unabhiingigen Studien eine sicherheitsoptimierte Position, die sich rechts oben neben dem Lenkrad befindet. Dort kann wahrend der Systembedienung die flir die Regelung der lateralen Position des Fahrzeuges relevante rechte Fahr-
11.2 Schnittstelle fUr multimodale Interaktion 185
bahnmarkierung peripher wahrgenommen werden (Schattenberg, 2001). Die konkrete Umsetzung erfolgte in der folgenden Weise:
• Die Bedieneinheit wurde auf der Mittelkonsole angebracht. Sie besteht aus drei Bedienkomponenten. Ein 4-Wege Steller dient zur direkten Auswahl von vier am Rand des Displays angeordneten Schaltfliichen. Ein kleiner quadratischer Taster links dariiber bringt den Bediener bei Betiitigung zuriick in das Grundmenii. Ein liingerer rechteckiger Taster rechts neben dem Menii-Taster dient zur Auswahl der zuvor dargestellten Ehene in der Funktionshierarchie.
• Die Anzeigeeinheit besteht aus einem 6-Zo11-Farbdisplay mit einer Auflosung von 320x240 Pixeln, auf dem dynamisch Informationen dargestellt werden konnen. Positioniert wurde das Display rechts neben dem Lenkrad oberhalb der Mittelkonsole. Bei einer Fixation auf diese Position ist die rechte Fahrbahnmarkierung direkt iiber dem Display im unmittelbaren peripheren Blickfeld.
Das Bedienkonzept ermoglicht die direkte Manipulation der Schaltzustiinde iiber den 4-Wege Steller. Das Konzept ist damit eine Optimierung gegeniiber der Cursorsteuerung, d.h. der Positionierung einer Funktionsmarkierung, auf die eine Bestiitigung durch Tastendruck erfolgt. Die direkte Manipulation reduziert die Anzahl der Bedienschritte. Dariiber hinaus ist durch die hierarchische Funktionsintegration eine intuitive Manipulation von mehreren System- und Schaltzustiinden mit nur einer Bedienkomponente moglich.
Das neue schalterreduzierte Anzeige- und Bedienkonzept solI die Anzahl der Bedienelemente auf ein MindestmaB reduzieren, die Bedienung vereinheitlichen und durch eine hierarchische Funktionsanordnung intuitiv gestalten. Die "Blindbedienbarkeit" giht dem Systementwickler die Moglichkeit, die Aufmerksamkeit des Benutzers wahrend der Systembedienung durch gezielte Positionierung der Anzeigekomponente in Richtung StraBe zu leiten.
11.2.3 Versuchsdesign
Das alte und neue Anzeige- und Bedienkonzept wurde in einer Untersuchung mit zwei unabhiingigen Gruppen miteinander verglichen. In jeder Gruppe wurden jeweils vier unterschiedliche Aufgabentypen priisentiert. Somit ergab sich ein zweifaktorieller Plan mit Anzeige- und Bedienkonzept als Between-Faktor mit zwei Stufen und Aufgabentyp als Within-Faktor mit vier Stufen. Die Aufgaben hoher und niedriger Exzentrizitiit orientierten sich an der Position der Schalter auf der herkommlichen Mittelkonsole. Es wurden zwei Schaltergruppen gebildet. Die Schaltergruppe niedriger Exzentrizitiit schloss die Bedienelemente der Klimatisierung und alle in der Mitte1konsole dariiber liegenden Schalter mit ein. Die Schaltergruppe hoher Exzentrizitiit schloss die Tasten der Klimatisierung und aIle in der Mittelkonsole darunter liegenden Taster his zur Armablage mit ein. Die Klimatisierungstaster wurden in beide Schaltergruppen mit einbezogen, da sonst der geringe Funktionsumfang der beiden Schaltergruppen mit 5 Funktionen hOchster und
186 11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte
4 Funktionen niedrigster Exzentrizitat zu einer stark erhohten Lemleistung gefUhrt hiitte. Deshalb wurden die Klimafunktionen beiden Schaltergruppen zugeteilt.
Die Aufgaben hoher und niedriger hierarchischer Tiefe orientierten sich an der Anzahl der notwendigen Tastenbetiitigungen bis zur Funktionsauswahl mit dem altemativen Anzeige- und Bedienkonzept. Die Schaltergruppe niedriger hierarchischer Tiefe schloss Funktionen ein, deren Schaltzustiinde mit 3 oder 4 Tastenbetiitigungen manipuliert werden konnen. Die Schaltergruppe hoher hierarchischer Tiefe beinhaltete ausschlieBlich Funktionen die 7 Tastenbetiitigungen bis zur Funktionseinstellung benotigten.
Damit ergeben sich 4 Aufgabentypen, die einen jeweils spezifischen Umfang an Funktionen enthalten. Aufgrund des identischen Funktionsumfanges der beiden altemativen Bedienkonzepte konnen aIle spezifischen Funktionsumfange mit beiden MMS-Konzepten bedient werden. Die folgende Tabelle 11.1 zeigt BeispieIe der jeweiligen Funktionsgruppen:
Tabelle 11.1 Beispiele der 4 Aufgabentypen, die zum einen basierend auf dem Schalterkonzept mit integrierter Anzeige (alt) und zum anderen auf dem zentralen Bedienelement mit abgesetzter Anzeige (neu) generiert wurden.
Aufgabentyp I Aufgabentyp 2 Aufgabentyp 3 Aufgabentyp 4
Hohe hierarchische Niedrige hierarchische Hohe Exzentrizitat Niedrige Exzentrizi-Tiefe Tiefe tat
Aktivkohlefilter Heckscheibenheizung Adaptives Damp- Heckscheibeheizung - an - an fungssystem - an
T emperatur Fahrer Klimaautomatik Fahrer - ein T emperatur Fahrer - senken - ein T emperatureinheit - senken
Aktivkohlefilter Heckscheibenheizung _ OF
Heckscheiben-- aus - aus Adaptives Damp- heizung
fungssystem - aus - aus
Beide Versuchspersonengruppen bearbeiteten aIle 4 Aufgabentypen. Auf diese Weise bietet sich die Moglichkeit, neben den Auswirkungen der Funktionen hoher hierarchischer Tiefe bei der Displaybedienung auch den Einfluss der Bedienung dieses speziellen Funktionsumfanges mit der Schalterbedienung auf die Spurhalteleistung zu uberpriifen. Das gleiche gilt fUr das Kriterium der Exzentrizitiit mit den entsprechenden Funktionsumfangen. So lassen sich die Problembereiche beider MMS-Konzepte mit den korrespondierenden Funktionsumfangen miteinander vergleichen. An dieser Stelle ist es wichtig zu beachten, dass aIle Aufgaben, die mit dem neuen MMS-Konzept ausgefUhrt werden, bis zu 7 Bedienschritte benotigen. Bei vergleichbarem Funktionsumfang verlangt das alte Schalterkonzept hingegen nur einen Bedienschritt pro Aufgabe. Urn die Auswirkung von Lemeffekten zu balancieren, wurde die Aufgabenreihenfolge fUr die Hiilfte der Versuchspersonen in jeder Gruppe in umgekehrter Reihenfolge priisentiert.
11.2 Schnittstelle fur multimodale Interaktion 187
11.2.4 Durchflihrung und Auswertung
Naeh der Beantwortung des demographisehen Fragebogens setzten sieh die Versuehspersonen auf den Fahrersitz des Priifstandes und der Versuehsleiter auf den Beifahrersitz. Von dort aus erklarte der Versuehsleiter die Bedienung des jeweiligen MMS-Konzeptes. Diese Erlauterung war funktionsunabhangig und sollte lediglieh das Interaktionsmodell der jeweiligen Menseh-Masehine-Sehnittstelle vermitteln. Naeh dieser standardisierten Besehreibung sollten die Versuehspersonen ohne weitere Erlauterungen zur Funktionalitat 4 Funktionen suehen und jede in einen vorgegebenen Sehaltzustand bringen. Auf diesen Test der intuitiven Bedienbarkeit der Systeme folgte die komplette Erlauterungjeder einzelnen Funktion und der zugehOrigen Sehaltzustande.
Naeh kurzer Eingew6hnungszeit wurden die Versuehspersonen gebeten, die Aufgaben die vorher zur Uberpriifung der intuitiven Bedienbarkeit gestellt wurden, nun wahrend der Fahrt noehmals zu betatigen. So hatten sie die Gelegenheit, die Versuehsaufgabe kennen zu lemen. Die eigentliehe Versuehsfahrt bestand aus insgesamt seehs Runden. Eine Runde sollte die Versuehsperson nur fahren, wiihrend der zweiten und dritten Runde erhielt sie kontinuierlieh Aufgaben, die vierte Runde beinhaltete wieder keine Aufgabenstellungen und wahrend der letzten zwei Runden wurde die Versuehsperson wieder aufgefordert, kontinuierlieh Funktionen in die angewiesenen Sehaltzustiinde zu bringen.
Zum Ende der Untersuehung wurden die Versuehspersonen noeh gebeten, einen Absehlussfragebogen zu Ihren Eindriieken des Versuehes auszufiillen.
Relevante Fahrdaten, wie Lenkwinkel, die Gesehwindigkeit, die Koordinaten des Fahrzeuges im virtue lien Raum der Fahrsimulation und alle Betatigungen der Taster auf der Mittelkonsole und der Displaybedieneinheit wurden mit 50Hz aufgezeiehnet
11.2.5 Ergebnisse
Aufgabenbearbeitung
Das neue integrierte System erwies sieh gegeniiber dem konventionellen System in mehrfaeher Hinsieht als nieht effektiv. Die Anzahl der Blieke zum Display war fast doppelt so hoeh (112 zu 64) als die Anzahl der Blieke auf die verteilten Anzeige- und Bedienelemente. Entspreehend war aueh die Gesamt-bliekzuwendungszeit (188s zu 76s) hOher. Aufgrund der Beobaehtungen kann man davon ausgehen, dass die Blickzuwendungen im neuen System aussehlieBlieh auf das Display reehts neben dem Lenkrad oberhalb der Mittelkonsole und nieht auf das Bedienelement auf der Mittelkonsole erfolgten. In dem herk6mmliehen System richteten sieh die Blieke auf die Bedienelemente auf der Mittelkonsole.
Trotz des Mehraufwandes an Bliekbewegung beim integrierten System betrug die Anzahl der insgesamt bearbeiteten Aufgaben weniger als die Halfte (14 zu 33 Aufgaben) im Vergleich zum alten System. In dem herk6mmliehen Sehaltersystern bearbeiteten die Probanden in einer Gesamtzeit von 5.1 Minuten pro Stre-
188 11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte
ckenabschnitt 33 Aufgaben und zeigten dabei 64 Blickabwendungen in den Fahrzeuginnenraum. Sie brauchten demnach durchschnittlich fUr eine Aufgabenbearbeitung 9.3 Sekunden und zwei Bliekabwendungen. In dem neuen System wurden lediglich 14 Aufgaben in 5.1 Minuten bearbeitet. Die Probanden brauchten also 21.9 Sekunden je Aufgabenbearbeitung. Die Anzahl der Blicke stieg insgesamt auf 112, das heiBt, auf 8 Blickzuwendungen pro Aufgabe. Betrachtet man die Unterschiede hinsichtlich der Anzahl der manuellen Handlungsschritte, so sind es beim alten System mit einem Schritt pro Aufgabe insgesamt nur 33 Schritte, dagegen beim neuen System bei durchschnittlich 5.25 Schritten pro Aufgabe insgesamt 14 x 5.25 = 73.5 Schritte. Foiglich ist der mentale Aufwand in Schritten fUr das neue System erheblich groBer als fUr das alte.
Die Aufgabenhierarchie hatte einen vergleichsweise miiBigen Effekt: es wurden etwa 50% mehr Aufgaben bei niedriger als bei hoher Hierarchie (6 zu 9) bearbeitet. Ein Unterschied zwischen niedriger und hoher Exzentrizitiit bei dem herkommlichen Schaltersystem bestand nicht.
Fahrleistung
Die Lenkwinkelstandardabweichung als MaB der Spurhaltung war in den Runden mit und ohne Aufgabenbearbeitung nieht signifikant unterschiedlich. Sie war in dem neuen integrierten System tendenzweise, jedoch nicht statistisch bedeutsam, hOher als in dem herkommlichen Schaltersystem. Auch die beiden Aufgabenmerkmale, Hierarchie und Exzentrizitiit, wiesen keinen nachweisbaren Einfluss auf. Dies Ergebnis ist allerdings unter Beriicksichtigung der Fahrgeschwindigkeit zu interpretieren. In der Geschwindigkeit zeigte sich ein weiterer Beleg fUr die erh6hte mentale Beanspruchung durch die integrierte Systemvariante. In den Runden mit Aufgabenbearbeitung lag die Fahrgeschwindigkeit urn 24km1h niedriger als in den Norm-Runden. In der neuen Version wurde die Fahrgeschwindigkeit etwa doppelt so stark reduziert wie in der Schalterversion (Reduktion urn 32 zu 16km1h). Sie fiel konkret von 85km/h auf61km1h abo
Subjektive Einschatzungen
Die Beanspruchung durch die Aufgabenbearbeitung wiihrend der Fahrt wurde in beiden Bedingungen durchweg hoch eingeschiitzt, jedoch nicht signifikant unterschiedlich. Subjektiv wurde die Geschwindigkeitsreduktion nicht verschieden beurteilt. Demgegeniiber wurde die Gefahrdung beim integrierten System hOher eingestufi als beim Schaltersystem (3.4 zu 2.5 bei Skalenwerten von 1 bis 5).
In den Bewertungen der Systeme ergaben sich keine nachteiligen Einschiitzungen fUr das integrierte System. Die intuitive Bedienbarkeit wurde vergleiehbar beurteilt. Die Antwort auf die Frage nach der Priiferenz des Systems fUr das eigene Fahrzeug fiel sogar positiver fUr das integrierte System aus (3.2 zu 2.4 bei Skalenwerten von 1 bis 5).
11.2 Schnittstelle fiir multimodale Interaktion 189
11.2.6 Zusammenfassung und Diskussion
Die Vorteile, die mit der neu gestalteten Menseh-Maschine-Schnittstelle fUr die Bedienung von Fahrzeugfunktionen erwartet worden waren, konnten empiriseh nieht belegt werden. 1m Gegenteil, die Trennung der Anzeige- und Bedienkomponenten in einer sehalterreduzierten integralen MMS gegeniiber einer herkommlichen Schalterbedienung zeigte in den Evaluationskriterien gravierende Naehteile.
In der Untersuehung hatten die Probanden wiihrend des Fahrens, unterbrochen durch zwei Normspuren, d.h. Fahrzeugfiihrung ohne Aufgabenbearbeitung, und mit einer Durehschnittsgesehwindigkeit von 85km/h, fortlaufend durch manuelle Bedienung Fahrzeugfunktionen einzustellen. Dies wurde bei beiden Systemkonzepten als beanspruchend erlebt. Bei beiden Systemkonzepten wurde die Fahrgeschwindigkeit bei der Aufgabendurchfiihrung verlangsamt, fiihrte jedoch nicht zur Verschlechterung der Spurhalteleistung, die immer relativ zur individuellen Normspur der Probanden betraehtet wurde.
Die Unterschiede zwischen altern und neuem System sind drastisch: Mit der neuen Version wird haufiger und insgesamt langer von der StraBe weggeblickt und es werden weniger Aufgaben bearbeitet. Die Aufgabenvariationen selbst wiesen nur einen maBigen oder keinen Einfluss auf. Wahrend sich fUr die Hierarehietiefe der Funktionen im neuen System noeh ein Effekt wie erwartet zeigt, ist fiir die Exzentrizitat im herkommliehen System kein Effekt nachweisbar.
Die Ergebnisse in den Fahrdaten spiegeln den erhOhten Aufwand der Aufgabenbearbeitung nur zum Teil wider. Die Gesehwindigkeit wird bei dem neuen System gegeniiber dem alten drastiseh reduziert. 1m Spurhalten zeigen sich dagegen trotz groBer Beanspruchungsunterschiede in der Aufgabenbearbeitung keine statistisch nachweisbaren Unterschiede.
Das Ergebnismuster von Aufgabenbearbeitung (Blickbewegung und Leistung), Fahrgesehwindigkeit und Spurhalten im Vergleich zwischen neuem und altern System bedarf einer Erklarung. Mangelnde Sensitivitat des SpurhaltemaBes kann nieht unterstellt werden, weil in einer Vielzahl von Untersuchungen die Sensitivitat in Abhiingigkeit von Zusatzbelastungen belegt ist. Die Erkliirung kann darin gesehen werden, dass Fahrgesehwindigkeit und Aufgabenbearbeitung frei gewiihlt werden konnten, nieht aber das Spurhalten. Da Spurhalten die primare Aufgabenanforderung war, kann das Ergebnismuster im Sinne eines Speed-AccurracyTrade-Offs interpretiert werden: Bei Zusatzbelastung wird weiterhin genau (Spurhalten), aber weniger schnell gefahren. Dafiir, dass dies ein nieht notwendigerweise bewusster Anpassungsvorgang ist, sprieht die subjektive Beurteilung der Fahrgeschwindigkeit. Hier gab es keine nachweisbaren Unterschiede zwischen den beiden Systemversionen.
Offen bleibt die Frage, ob die Spurhaltung beim neuen System alleine aufgrund verringerter Fahrgeschwindigkeit konstant gehalten wird. Moglich ist auch, dass die Position des Displays die Leichtigkeit einer Konstanthaltung des Spurhaltens beeinflusst hat. Die Konfundierung zwischen Displayposition als Zielort der Blickbewegungen und GroBe verringerter Fahrgeschwindigkeit lasst eine weitergehende Erkliirung nicht zu. Sie wird zudem noch durch die Uberlegung ersehwert, dass die kognitive Belastung durch die Displayinhalte des neuen Systems
190 11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte
zu einer starken Einengung des funktionalen, visuellen Fe1des, dem sog. Tunnelphiinomen, gefuhrt haben k6nnte (Stokes et aI., 1990; Webster et aI.,1964; Leibowitz et aI.,1969; Ikeda et aI., 1975; Williams et aI., 1985). Die Folge wiire eine verringerte Wahmehmung von Information aus der displaynahen spurrelevanten Information im peripheren Gesichtsfeld. Der Vorteil der Positionierung des Displays mit der M6glichkeit der Informationsaufnahme spurrelevanter Information aus der peripheren Wahmehmung ist naturlich nur dann zu erwarten, wenn die foveale Belastung bei Blick auf das Display nicht zu groB ist.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das neue System das Fahren erschwert start erleichtert. Die Griinde dafur miissen wohl darin gesehen werden, dass die Aufgabenbearbeitung nach dem neuen System die Beanspruchung so erh6ht, dass die Fahraufgabe anders erbracht wird: Spur halten, aber langsamer fahren. Wiihrend im alten System die Position eines Bedienelements offenbar leicht aus dem Gediichtnis abgerufen und die geforderte Funktion durch eine einzige manuelle Handlung eingestellt werden kann, wird durch die Menu-Navigation eine erhebliche visuell-mentale Belastung erzeugt. Vor diesem Hintergrund uberrascht, dass das neue System hinsichtlich der intuitiven Bedienbarkeit tendenzweise eher besser beurteilt und fur das eigene Fahrzeug eher priiferiert wird. So ergeben sich positive Einschiitzungen bei negativen Leistungen.
Eine offene Frage betrifft die Displaypositionierung. Die riiumliche Trennung von Anzeige- und Bedienelement im neuen System unterstUtzt nur dann die Sicherheit, wenn die Positionierung des Displays rechts oben neben dem Lenkrad nachweislich eine Optimierung der Fahrgiite wiihrend der Systembedienung bewirkt. In einer Serie von Untersuchungen wurde dieser Frage nachgegangen, indem gepriift wurde, inwieweit beim Blick auf das Display noch spurrelevante Information uber Wahmehmung aus dem peripheren Gesichtsfeld aufgenommen und verarbeitet wird (Schattenberg, 2001).
Als zweites wird die Frage gestellt, ob das neue System beziiglich seiner Menubasierten Belastung entlastet werden kann. Dazu werden die nachfolgenden Uberlegungen zur Gestaltung einer multimodalen Interaktion unter Einbeziehung von Sprache angestellt.
11.3 Integriertes System und multimodale Interaktion
Die Weiterentwicklung sieht die Beibehaltung des schalterreduzierten, integrierten Systems mit riiumlicher Trennung von Anzeige und Bedienung vor. Ebenso wird die hierarchische Meniistruktur beibehalten, die sich in der intuitiven Bedienbarkeit als vergleichbar mit den bekannten Schaltem gezeigt hat. Umgestaltet wird die Modalitiit der Interaktion, von einer visuell-manuellen zu einer multimodalen Interaktion unter Einbeziehung der Sprache. Die manuelle Funktionsmanipulation wird durch eine Sprachsteuerung erweitert. Die visuelle Anzeige durch das Display wird durch eine auditive Anzeige, die akustische Sprachausgabe, ergiinzt. Ziel ist, die visuelle Ablenkung wiihrend der sprachlichen Interaktion zu minimiereno Abbildung 11.2 veranschaulicht das Prinzip der Mensch-Maschine-Schnittstelle.
11.3 Integriertes System und multi modale Interaktion 191
Manuelle Bedienung Sprachbedienung
5 Bedienschritte " luftmenge Maximum"
Multifunktions-Bedieneinheit Sprache
Abb. 11.2 Parallele Sprachbedienung des schalterreduzierten MMS-Konzeptes
Das dargestellte Konzept soli die Interaktion in folgenden Punkten erleichtem: Parallel zur manuellen Interaktion bietet die Sprachbedienung die Moglichkeit der Systemmanipulation durch Aussprechen der yom Informationsdisplay abgelesenen Menii- und Funktionsbezeichnungen. Bisherige Spracherkennungssysteme ermoglichen es dem Benutzer, nur nach der Studie der Bedienungsanleitung und der dort aufgefUhrten Sprachkommandos mit einem Spracherkenner zu interagieren, da die Sprachbefehle nicht auf dem Display dargestellt sind. Das hier entwickelte Anzeige- und Bedienkonzept bietet dem Benutzer eine hierarchisch strukturierte Auflistung aller ihm zur Verftigung stehenden Sprachbefehle. So ist sowohl das Aufrufen einer Funktion als auch die Kopplung von Funktions- mit Zustandsbezeichnungen moglich. Diese konsistente Parallelitat der manuellen Bedienung und der Sprachbedienung ermoglicht eine benutzerspezifische Auswahl der individuell praferierten bzw. aktuell verkehrsangemessenen Bedienmodalitat. Urn die Interaktionszeiten und damit die Ablenkung zu minimieren, kann der Benutzer auch jede Funktion von jedem beliebigen Systemzustand aufrufen und direkt in eine tiefere Meniiebene springen. So ist zu erwarten, dass sich die Interaktions- und die Blickabwendungszeiten wahrend der Systemmanipulation drastisch reduzieren.
Nach einer Sprachbedienung soli zur zusatzlichen Optimierung der Bediensicherheit eine auditive Riickmeldung iiber die yom Benutzer initiierte Systemmanipulation ausgegeben werden. Die sprachlich eingegebene Funktions- bzw. Zustandsbezeichnung ist dann nicht nur auf dem Display abzulesen, sondem wird durch die Sprachausgabe gesprochen. Durch die Nutzung dieser redundanten Modalitat ist eine Interaktion mit dem System durch einen geiibten Benutzer ohne jegliche visuelle Ablenkung moglich.
1m allgemeinen lasst sich fUr multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte festhalten, dass deren Funktionsumfange in einer hierarchischen Meniistruktur untergliedert sein sollten. Aile Funktionen und deren yom Benutzer wahlbaren Zustande sollten yom Display abzulesen sein, so dass die intuitive Bedienbarkeit und
192 11 Multimodale Anzeige- und Bedienkonzepte
eine umfassende Parallelitat von manueller Bedienung und Sprachbedienung gewiihrleistet werden kann. Auch die in der Einleitung diskutierte Variabilitiit des Wortschatzes (Dillon et aI., 1997) wiirde durch die Einbindung aller Sprachkommandos auf dem Informationsdisplay reduziert werden. Durch die manuelle "Erkundung" der Hierarchieebenen lernt der Benutzer die Sprachkommandos. Bei einer fehlerhaften Spracherkennung ist somit fur ihn jederzeit nachvollziehbar, warum ein Befehl nicht erkannt wurde und wie das korrekte Kommando lautet. Die Spracherkennung so lIte es zudem ermoglichen, sowohl Funktionen als auch Funktionen in Verbindung mit einem Zustand aufzurufen, die sequentiell in der auf dem Display dargestellten Funktionshierarchie folgen. Diese Gestaltungsvariante wird auch von den Betrachtungen von Dillon et aI. (1997) gestiitzt, die eine weniger streng gegliederte Aufgabenstruktur fur erfahrene Benutzer vorgeschlagen haben. Ein auf diese Weise gestaltetes MMS-Konzept sollte die situationsangemessene Verwendung der manuellen und der sprachlichen Bedienmodalitiit erlauben, die Defizite des in dieser Studie vorgestellten MMS-Konzeptes kompensieren und so die Ablenkungswirkung auf ein MindestmaB reduzieren.
1m Rahmen der Entwicklung des hier vorgestellten neuen Anzeige- und Bedienkonzeptes wurden bereits die Grenzen der herkommlichen Schalterbedienung aufgezeigt. Auch die Integration immer komplexerer Aufgaben, wie z.B. der alpha-numerischen Eingabe, machen es unumgiinglich, dem Fahrer neue displaybasierte MMS-Konzepte zur Verfugung zu stellen. Trotz dessen sollte es nicht das Ziel sein, aIle Taster im Fahrzeug in Mentistrukturen zu integrieren. Der manuelle Direktzugriff auf fahrrelevante Funktionen tiber Taster ist ebenfalls ein wichtiges Gestaltungskriterium von MMS-Konzepten zur Bedienung wiihrend der Fahrt. Es so lIte vielmehr das Ziel zukiinftiger Forschungsansiitze sein, der Aufgabe angemessene Kombinationsvarianten aus Tasten und einem erweiterbaren Displaybasierten MMS-Konzept zu entwickeln und zu evaluieren.
Literatur
Cohen, AS. (1985). Visuelle Informationsaufnahme wiihrend der Fahrzeugsteuerung in Abhiingigkeit der Umweltmerkmale und der Fahrpraxis. Schweizerische ZeitschriJt for Psycho logie, 44 (4), 249-288
DaimlerChrysler (2001). COMAND. Intemetdokument. Debus, G. Frohlich, 1., Renner, G. & Normann, M. (1998). Grundlagen-Untersuchungen
zur kognitiv-ergonomischen Gestaltung von Verkehrsleitsystemen - die vertriigliche Kombinierbarkeit von Fahr- und Zusatztiitigkeiten. In U. Schulz (Hrsg.), Wahrnehmungs-, Entscheidungs- und Handlungsprozesse beim Fiihren eines Krafifahrzeugs (223-240). Munster: Litt
Dillon, T.W. & Norcio, A F. (1997). User Performance and Acceptance of a Speech-Input Interface in a Health Assessment Task. Int. J. Human-Computer Studies, 47, 591-602.
Dix, A, Finlay, 1., Abowd, G. & Beale, R. (1998). Human-computer interaction. N.Y.: Prentice Hall
Gerson, I. & Mikulski, J. (1988). Voice-Activated Controls in an Automotive Environment. 18th Int. Symposium on Automotive Techno!. And Automation (Florenz), 1, 837-851
Literatur 193
Hedicke, V. (2000). Multimodalitat in Mensch-Maschine-Schnittstellen. In K.-P. Timpe, T. Jiirgensohn & H. Kolrep (Hrsg.), Mensch-Maschine-Systemtechnik (203-232). Dusseldorf: Symposion Publishing
Heinrich-Hertz-Institut (2001). Intemetdokument. http://atwww.hhi.de Ikeda, M. & Takeuchi, T. (1975). Influence of foveal load on the functional visual field.
Perception & Psychophysics, 18 (4), 255-260 Immersion (2001). Intemetdokument. http://www.immersion.com K-Desktop Environment flir Linux (2001). Intemetdokument. http://www.kde.org Krogh, H. (1995). VIP-Schalter. Manager Magazin, 2, 184-186 Lambie, D., Laakso, M. & Summala, H. (1999). Detection thresholds in car following
situations and peripheral vision: Implications for positioning of visually demanding incar displays. Ergonomics, 42 (6), 807-815
Leibowitz, H.W. & Appelle, S. (1969). The effect ofa central task on luminance thresholds for peripherally presented stimuli. Human Factors, 11 (4), 387-392
Lemout & Hauspie (2001). Dragon Naturally Speaking. http://www.lhsl.com Mercedes-Benz (1998). COMAND Betriebsanleitung, RedaktionsschluB: 30.06.1998 Mercedes-Benz (1999). S-Klasse Betriebsanleitung, RedaktionsschluB: 15.10.1999 Microsoft Windows (2001). Intemetdokument. http://www.microsoft.com MSDN Online (2001). Intemetdokument. http://msdn.microsoft.com Reed, M.P. & Green, P.A. (1999). Comparison of driving performance on-road and in a
low-cost simulator using a concurrent telephone dialing task. Ergonomics, 42 (8), 1015-1037
Sanders, M.S. & McCormick, EJ. (1992). Humanfactors in engineering and design. New York: McGraw-Hill
Schattenberg, K. (2001). Fahrzeugftihrung und gleichzeitige Nutzung von Fahrerassistenzund informationssystemen: Untersuchungen zur sicherheitsoptimierten Gestaltung und Positionierung von Anzeige- und Bedienkomponenten im Kraftfahrzeug. Dissertation. RWTH-Aachen
Selcon, S.l, Taylor, R.M. & McKenna, F.P. (1995). Integration multiple information sources: using redundancy in the design ofwamings. Ergonomics, 35 (11), 2362-2370
Simpson, C.A., McCauley, M.E., Roland, E.F., Ruth, lC. & Williges, B.H. (1985). System Design for Speech Recognition and Generation, Human Factors, 27 (2), 115-141
Summala, H., Nieminen, T. & Maarpet, P. (1996). Maintaining lane position with peripheral vision during in-vehicle tasks. Human Factors, 38 (3), 442-451
Stokes, A., Wickens, C. & Kite, K. (1990). Display technology - human factors concepts. Society of Automotive Engineers: Warrendale: PA
Webster, R. G. & Haslerud, G. M. (1964). Influence on extreme peripheral vision ofattention to a visual or auditory task. Journal of Experimental Psychology, 68 (3), 269-272.
Weimer, J. (1993). Handbook of ergonomic and human factors tables. Prentice Hall: New Jersey
Wickens, C.D., Gordon, S.E. & Liu, Y. (1998). An introduction to human factors engineering. N.Y.: Longman
Wickens, C.D. & Hollands, lG. (2000). Engineering psychology and human performance. London: Prentice Hall
Williams, L. l (1985). Tunnel Vision Induced by a Foveal Load Manipulation. Human Factors, 27 (2),221-227
12 Aspekte der multimodalen Bedienung und Anzeige im Automobil
Klaus Bengler
12.1 Einleitung
Die Interaktion zwischen Mensch und Maschine im Automobil stellt sehr spezifische Anspriiche an die verwendeten Technologien und ihren Einsatz in diesem Umfeld. Mit der zunehmenden Zahl an Telematikdiensten miissen immer mehr Informationen unterschiedlichster Qualitat verkehrsicher verfligbar gemacht werden. Damit taucht immer wieder die Frage auf, wie das Zusammenspiel zwischen "Fahraufgabe" und "Bedienbarkeit" erfolgreich gesteigert werden kann. Die Bedienung im Automobil soll dabei natiirlich auch komfortabel und intuitiv sein. 1m folgenden wird das Potential multimodaler Interaktion flir den Spezialfall der Mensch-Maschine-Interaktion (MMI) im Automobil diskutiert werden.
Wichtig ist die Feststellung, dass Multimodalitat kein Giitekriterium an sichwie Fehlerrobustheit oder Erwartungskonformitat - flir Interaktionskonzepte darstellt, sondem als eine mogliche technologische Losung zu verstehen ist. Angewandt auf die zunehmend komplexe Funktionsvielfalt im Automobil wird sie die Interaktion im Automobil revolutionieren. Allerdings miissen sich multimodale Systeme dazu an den Anforderungen im Automobil orientieren, urn einen sinnvollen Fortschritt und keine Verschiebung von Problemen zu verursachen.
Die Entwicklung von der Schreibmaschine zur Diktiersoftware iiber ein PCbasiertes Textverarbeitungssystem mit Tastatur und Maus verdeutlicht nur in manchen Aspekten diesen Verlauf. Zusatzliche Funktionen wurden regelmaBig begleitet von der Erweiterung der Moglichkeiten in Anzeige und Bedienung.
Es ist offensichtlich, dass diese Erweiterung aber auch spezifische Funktionen wie beispielsweise im Fall der Texterstellung spezielle Korrekturfunktionen und Konfigurationsfunktionen flir die Spracherkennung erzwungen hat - von der Umstellung der traditionellen Arbeitsweisen der Nutzer ganz zu schweigen.
1m Zusammenhang mit dem Automobil diskutiert der Beitrag daher zwei Fragen:
1. In welcher Weise kann MMI im Automobil sinnvoll mit multimodalen Interaktionskonzepten gelost werden?
2. Welche spezifischen Anforderungen stellen diese multimodalen Interaktionskonzepte an den Nutzer und auch an den Entwickler?
196 12 Aspekte der multimodalen Bedienung und Anzeige im Automobil
12.2 Multimodale Mensch-Maschine-Interaktion
Mit dem Konzept der Multimodalitat wird sicherlich kein vollig neues Konzept diskutiert. Biiroanwendungen und Entertainment versuchen seit geraumer Zeit dem Nutzer verschiedene Wege zur Verfiigung zu stellen, urn Eingaben vorzunehmen und Informationen von der Maschine zu erhalten.
Beispiele hierfiir sind multimodale Diktiersysteme aber auch Alltagsgerate wie sprachbediente Mobiltelefone und Organizer. 1O Ziel ist es dabei eine natiirlichere, intuitivere und vielleicht auch emotionalere Interaktion zwischen Mensch und Maschine zu erzeugen. Ais Paradigma dient haufig die dyadische Interaktion von Mensch zu Mensch mit allen mehr oder weniger bekannten Regelmafiigkeiten im Bereich der nonverbalen Kommunikation (Geiger et aI., 2001; Oviatt, 2000).
12.3 Technologische Aspekte
Die zum Zweck der multimodalen Bedienung eingesetzten Erkennungstechnologien in den Bereichen Sprache, Gestik und Mimik haben ebenso eine deutliche Weiterentwicklung erfahren wie die Pendants auf der Ausgabeseite. Hier sind verbesserte Sprachsyntheseverfahren, taktiles force feedback und sehr weitreichende grafische Verfahren zu nennen. Mit deren Hilfe kann dem Nutzer der Eindruck eines dynamischen Interaktionspartners mit einer eigenen Personlichkeit vermittelt werden.
Der Einsatz der oben erwahnten Technologien im Automobil ist in erreichbare Niihe geriickt bzw. bereits moglich. Mit Sicherheit weckt die Machbarkeit multimodaler Interaktionskonzepte zum gegenwiirtigen Zeitpunkt eben so groBe Hoffnungen, die allgegenwiirtigen Probleme der MMI zu losen, wie dies auch mit der aufkommenden Spracherkennungstechnologie der Fall war. Die weiteren Ausfiihrungen werden zeigen, dass der Beweis durch geeignete Losungen noch zu erbringen ist.
12.4 Multimodalitat im Automobil
Fiir die Gestaltung der MMI ist zu beriicksichtigen, dass das Fiihren des Automobils die Hauptaufgabe des Nutzers darstellt, die sich aus mehreren Wahrnehmungs-, Regelungs- und Planungsaufgaben zusammensetzt. Diese Hauptaufgabe ist visuell dominiert und begleitet von kontinuierlicher Regelungs- und Steuerungsaktivitiit des Fahrers. Sie beansprucht in verschiedenen Fahrsituationen mehr oder weniger die ungeteilte Aufmerksamkeit des Nutzers. Hinzu kommt,
lOEine Zusammenstellung verschiedenster Systeme ist zu finden bei Benoit et al. (1996) unter http://coral.lili.uni-bielefeld.deIEAGLESIWP5Imultimodal.
12.4 Multimodalitat im Automobil 197
dass unterschiedliche Fahrsituationen in diesem Zusammenhang deutlich verschiedene Anforderungsprofile zeigen.
In diesem Zusammenhang ist auBerdem zu beachten, dass generell die Anzahl der Funktionen im Automobil zunimmt. Dieser Prozess steigert zwar zunachst den Nutzwert des Fahrzeugs, er wird allerdings auch begleitet von einer Vedagerung der Aufgaben des Fahrers Die stark fahrzeugbezogenen Aufgaben treten zu Gunsten fahrtbezogener Planungsaufgaben sowie nieht fahrtbezogener Alltags- und Kommunikationsaufgaben zuriick.
Die Einflihrung neuer Kommunikationswege (GPRS, UMTS, DAB) begleiten diesen Prozess: ,,As a general rule increased functionality normally produces higher complexity for handling" (Haller, 1999). Es stellt sich die Frage, ob Multimodalitat Moglichkeiten liefert, diesen unerwiinschten Zusammenhang zwischen Funktionalitat und Komplexitat aufzulosen?
Hinzu kommt, dass zukiinftige Funktionalitaten auch andere Losungen flir Bedienung und Anzeige nahe legen, da immer haufiger nicht fahrzeugbezogene Betriebsdaten, sowie komplexe und abstrakte Inhalte aus fahrzeugfremden Domanen (Parkplatze, Wetter, Office, Nachrichten, Unterhaltung) darzustellen und zu bedienen sind. Die Dialogfiihrung im Automobil hat - im Gegensatz zu anderen Domanen - im Sinn des Bedienungskomforts und der Verkehrssicherheit einigen speziellen Aspekten Rechnung zu tragen (s.a. ISO TC22 SC13 WG8, 2000).
Die Empfehlung der Kommission der Europaischen Gemeinschaften (1999) umreiBt, wodurch die Qualitat einer MMI -Losung flir das Automobil bestimmt wird. Hier werden vor allem die Minimierung der Ablenkung von der Fahraufgabe, fehlerrobuste Gestaltung der Interaktion und erwartungskonforme, nutzerkontrollierte Bedienkonzepte gefordert.
12.4.1 Robustheit durch Redundanz
Prinzipiell besteht die Moglichkeit, durch multimodale Konzepte, die Interaktion zwischen Fahrer und Fahrzeug robuster zu gestalten, da multimodale Systeme ein vollig anderes AusmaB redundanter Informationen beziiglich des Nutzerverhaltens lief em:
"Gestik und Mimik wahrend einer Spracheingabe" "Sprachliche AuBerungen wahrend der manuellen Sendersuche"
Durch sinnvolle Fusion von Informationen kann die Robustheit gegen Fehlerkennungen eventuell auch Fehlbedienungen erreicht werden. Oviatt (2000) beschreibt in diesem Zusammenhang das Konzept der mutual disambiguation, wahrend Noyes u. Frankish (1994) sieh der unimodalen Fehlerkorrektur im Fall der Spracheingabe zuwenden. 1m Vergleieh stellt der multimodale Ansatz klare Anforderungen an die einzelnen Komponenten und den Nutzer:
• Die Informationsqualitat einer Einzelmodalitat darf das Gesamtsystem nicht negativ beeinflussen.
198 12 Aspekte der multimoda1en Bedienung und Anzeige im Automobil
• Welches Altemativkonzept garantiert akzeptables Systemverhalten, wenn eine ModaliHit fehlen sollte? Bisher ist die Spracheingabe im Automobil noch eine Sonderausstattung und keine Serienausstattung. Unter lauten Umgebungsbedingungen ist das Sprachsignal in diesem Sinn u.D. nicht verwertbar.
Geeignete Versuche mussen zeigen, ob diese und weitere Anforderungen im Automobil erfiillt sind. Andere Erfahrungen herrschen im Fall der multimodalen Ausgabe. Hier wird seit liingerem erfolgreich die Robustheit der MMI durch Redundanz gesteigert.
Am Beispiel des Autoradios zeigt sich Redundanz in Form "disjunkter" Ausgaben. Wiihrend die grafische Anzeige sich auf den gewiihlten Sender und Status beschriinkt, konzentriert sich die akustische Ausgabe auf Inhalte und gibt nur im Ausnahmefall Statusmeldungen aus (Hinweiston: "Verkehrsfunk nicht moglich").
Ergebnisse von Green u. Williams (1992), Parkes u. Coleman (1990) und Bengler (1995) zeigen sehr deutlich den Vorteil einer Kombination aus Grafik und Akustik bei der Priisentation von Navigationshinweisen im Vergleich zu unimodalen Varianten. Blickdauer und Blickhiiufigkeit auf die Anzeigen konnen ebenso reduziert werden wie die Anzahl der Fehlentscheidungen.
12.4.2 Intuitivitat durch variable Zugange
Fiir den Fahrer entsteht zuniichst eine groBere Variationsbreite in der Benutzung der Funktionen im Fahrzeug. Multimodaliilit im Automobil impliziert mit Sicherheit den Einsatz von Spracherkennung. Hier muss allerdings die derzeitige technische Machbarkeit in diesem Bereich beriicksichtig werden. Deshalb sind natiirlichsprachliche Systeme flir die niihere Zukunft nicht zu erwarten - mit Sicherheit aber Spracheingabesysteme, die unter Verwendung eines festgelegten Vokabulars sehr gute Erkennungsleistungen lief em werden. Wie wird diese Variationsbreite genutzt, die sicherlich auf Seiten des Nutzers erhOhten Lemaufwand und zuniichst bewusstere Bedienung erfordert?
Insbesondere Spracheingabe und Gestikerkennung im Fahrzeug erfordem gestalterische MaBnahmen, die den Zugang zum Gesamtsystem flir den Nutzer erleichtem. Einige Fragen, die von Nutzem im Zusammenhang mit Spracherkennung und Gestikerkennung gestellt werden, verdeutlichen diese Problematik:
- Welches Vokabular kann in der aktuellen Dialogsituation genutzt werden? - Welche Sprach- oder motorisches Verhalten konnen verarbeitet werden? - Wie ist der aktuelle Systernzustand? - Was wurde erkannt?
Auf weitere Aspekte und Losungen gehen Bengler et al. (2000) ein. Niedermaier 1999 beschreibt ein weiteres Verfahren urn den unerfahrenen Nutzer erfolgreich zu unterstiitzen. Hiisitationen des Nutzers werden genutzt urn das aktuell verfiigbare Funktionsvokabular via Sprachsynthese anzusagen. Dadurch kann die Hiiufigkeit falsch eingesetzter Kommandos deutlich verringert werden.
12.4 Multimodalitat im Automobil 199
12.4.3 Erweiterbarkeit und Komplexitat multimodaler Systeme
Multimodale Systeme sind durch eine deutlich h6here Systemkomplexitat gekennzeichnet als traditionelle unimodale Systeme. Neben den Einzelkomponenten (Spracherkenner, Gestikerkenner, Eingabeelement usw.) nimmt die Komplexitat der notwendigen Interaktionsmodule zur Synchronisation der Einzelkomponenten zu. Bengler et al. (2000) diskutieren am Beispiel eines multimodalen Demonstrators einen auf Statecharts basierenden und deshalb vollkommen deterministischen L6sungsansatz zur Realisierung multimodaler Bediendialoge. Andere Systeme beruhen auf agentenbasierten und heuristischen Verfahren.
Interface Systemmanager
Abb. 12.1 Systemarchitektur multimodaler Demonstrator
Interface TTS
Der Dialog wird in Form eines hierarchischen Zustandsautomaten reprasentiert. Er muss hierzu in einzelne Dialogzustande unterteilt werden, wobei jeder Dialogzustand einem determinierten Zustand des Zustandsautomaten entspricht. Das Verhalten der einzelnen Dialogkomponenten kann dann fur jeden dieser Dialogzustande einzeln konfiguriert werden.
Wie in Abb. 12.1 zu sehen zeichnet sich der gewahlte Ansatz weiterhin dadurch aus, dass einzelne - stark gekapselte - Module (TextToSpeech, Spracherkennung, Visualisierung, Systemmanager/Fahrzeughardware) und durch einen DialogGuider zentral verwaltet und gesteuert werden. Die Kommunikation iibemimmt zu den Einzelmodulen iibemimmt dann ein wiederum modularisierter Dialogmanager. Durch diese starke Modularisierung und Kapselung der Einzelmodule k6nnen ohne gr6Beren Aufwand die dargestellten Inhalte geandert und das Dialogmodell zu erweitert werden. Neben der Stabilitat der Implementierung sind diese beiden
200 12 Aspekte der multimodalen Bedienung und Anzeige im Automobil
Aspekte wichtige Anforderungen fUr den Einsatz im Entwicklungsprozess, der auch verteiltes Arbeiten und Testen unterstiitzt.
12.5 Verringerte Ablenkung durch sequentielle Multimodalitat
Durch die Auswahlm6glichkeit der fUr ihn am besten geeigneten Modalitiit kann der Nutzer in bestimmten Fahrsituationen das Zusammenspiel zwischen "Fahraufgabe" und "Zusatzaufgaben" erfolgreich steigem. Hier liegt mit Sicherheit eines der gr6Bten Potenziale multimodaler Bedienung im Automobil.
Kann beispielsweise auf einer kurvigen LandstraBe nicht mehr per Hand bedient werden, weil aufgrund der Lenkaufgabe beide Hande am Steuer bleiben mussen, dann ermoglicht Spracheingabe fUr bestimmte Funktionen trotzdem eine komfortable Bedienung. 1m umgekehrten Fall kann auch in gerauschvollen Umgebungen manuell weiterbedient werden.
Urn dieses Potenzial allerdings auszusch6pfen, muss der Nutzer fUr dieselbe Aufgabenstellung verschiedene L6sungsstrategien verfolgen k6nnen. AuBerdem muss der Benutzer eine klare Vorstellung beziiglich der Passung der jeweiligen Modalitaten zur aktuellen Situation herstellen k6nnen. Bestimmte Umgebungsbedingungen k6nnen den Einsatz einer Modalitat stark behindem. Dies solI wiederum am Beispiel der Erkennungstechnologien verdeutlicht werden:
Welche Gerauschbedingungen behindem eine erfolgreiche Spracheingabe? - Erlaubt ein bestimmtes Fahrman6ver eine gezielte Gestikeingabe?
Baber et al. (1996) zeigen sehr deutlich, dass die Qualitat der Sprachproduktion der Nutzer in Dual-task-Versuchen zu wiinschen ubrig lasst. Vor allem Unterbrechungen und Wiederholungen fUhren zu unerwiinschten Erkennungsproblemen. Die Ergebnisse von Christoph Draxler et al. (2001) bestatigen diesen Effekt fUr das Automobil. Gerade in innerstadtischen Fahrsituationen sind Spracheingaben haufig von langen Pausen unterbrochen. In der Praxis fUhren diese Unterbrechungen zu einem Anstieg der Erkennungsfehler.
Bereits die Diskussion der "My then urn Multimodalitat" (Oviatt, 1999) zeigt, in welchem MaB die Nutzer zwischen verschiedenen Modalitaten wechseln. Versuche, die im Projekt FERMUS (Fehlerrobuste multimodale Sprachdialoge)ll an einem multimodal bedienten Audiogerat durchgefUhrt wurden, zeigen laut Althoff u. McGlaun (2001), dass die Nutzer nur in seltenen Fallen bereit sind, die gewahlte Eingabemodalitat im Fall einer Fehlerkennung zu wechseln. Wie in Abb. 12.2 zum Teil erkennbar erfolgte die Interaktion dabei mittels Gestik, Sprache und herk6mmlichen Bedienelementen. Der Versuch wurde im Fahrsimulator durchgefUhrt.
11 Eine Kooperation zwischen zwischen der BMW AG, der Siemens AG, der DaimlerChrysler AG, der Mannesmann VDO AG und dem Lehrstuhl fUr Mensch-Maschine-Kommunikation der TV Miinchen
12.5 Verringerte Ablenkung durch sequentielle Multimodalitat 201
Abb. 12.2 Versuchsaufbau FERMUS mit Spracheingabe, Gestik, Touchscreen und Tastenblock.
Abbildung 12.3 lasst eine deutliche Praferenz zur Modalitat Sprache in verschiedenen Kombinationen erkennen. Weiterhin zeigen die Versuche, dass die Nutzer nur selten das zur Verfiigung stehende Spektrum der Eingabemodalitaten nutzen und stattdessen unimodal bedienen. Ziel muss es daher sein, dass durch gezielte Hinweise im Dialog und der grafischen Darstellung sowohl die Wahl als auch der Wechsel zu einer geeigneteren Modalitat unter Umstanden durch das System unterstUtzt wird.
6
~
......----5
r--
......-....--
- ....--
2
n Hand- u. ~prache u. Tasten u. Touch u.
Kopfgestik Kopfgestik Kopfgestik Sprache .Sprache u. SRrache u. Touch u. Touch u. Handgestik Tasten Kopfgestik Tasten
Modalitiiten
Abb. 12.3 Akzeptanzurteile beziiglich der einzelnen Modalitaten (Bewertung: sehr gut: 1; extrem schlecht: 6).
Es ist offensichtlich, dass Bildschirmausgaben und Tasteneingaben die visuelle Zuwendung des Fahrers erfordem. Diese Notwendigkeit lasst sich durch geeignete
202 12 Aspekte der multimodalen Bedienung und Anzeige im Automobil
Gestaltung reduzieren. Die Integration von Spracheingabe und Sprachausgabe geht einher mit dem Grundsatz ,,Eyes free - Hands free ". Mit Sicherheit fUhrt sprachliche Interaktion zu einer Reduktion von Blickabwendungen und erleichtert beidhandiges Fahren. Allerdings verursachen Spracheingabe und Sprachausgabe in gewissem Umfang mentale Belastung.
Blickbewegungsstudien geben Aufschluss tiber den Grad der Beanspruchung durch Sprachein-/ausgaben und zeigen, dass gezieltes Zuhoren zu einer Reduktion von Blickzuwendungen auf Gerate und Bildschirm im Fahrzeuginnenraum fUhrt. Dies wird allerdings durch eine Verringerung der Fixationshaufigkeit und eine Verlangerung der Verweilzeit auf Einzelobjekten wahrend des Zuhorens begleitet (Recarte et aI., 1999).
I.~
1.2 • Fahrt mit vis. Aufgabe
o Referenmhrt
~ 1.0 L. .. '" ..
0.8 "S: c 0 ... .. 0.6 x
u::
tl 'E 0."
0.2
0.0
Aerea of interest
Abb. 12.4 mittlere Fixationsdauem fur die unterschiedlichen Objekte im Vergleich Referenzfahrt / Fahrt mit visueller Aufgabe.
Schweigert (1999) repliziert dieses Ergebnis fUr die Bearbeitung einer manuellen Aufgabe mit Display (visueIl) im Vergleich mit einer einfachen akustischen Aufgabe. Dieser Vergleich wurde in verschiedenen Verkehrssituationen vorgenommen. Die Abb. 12.4 und 12.5 zeigen die Auswirkung der beiden Aufgaben (visuell vs. akustisch) auf die Fixationsdauer beziiglich verschiedener Objekte in der Umgebung des Fahrers im Vergleich zur Referenz (keine Zusatzaufgabe). Relevante Objekte der Verkehrsumgebung wie "Verkehrsteilnehmer voraus" und "StraBe" werden deutlich langer wahrend der akustischen Aufgabe fixiert. Die tibrigen Objekte wie Armaturen und Spiegel werden nahezu unverandert zur visuellen Aufgabe fixiert. Dies zeigt, dass auch das Horen wenig redundanter Informationen - und hierbei handelt es sich im Fall der Sprachein-/ausgabe - Einfluss auf das
12.6 Zusammenfassung 203
Blickverhalten des Fahrers hat, sich jedoch meist positiv im Vergleich zur manuelllgrafischen L6sung zeigt.
1.04
• FaIlrt mit aku. Aufgabe 1.2 o Referenzfahrt 1---+-----------
,......., ~ L. 1.0 Q.I ::J
'" ~ 0.8 <II c 0 ... '" 0.6 X
u::: -.:; ... 0.1
·E 0.2
0.0
"", ",~IIO
s°<:'
Aerea of interest
Abb. 12.5 mittlere Fixationsdauem fur die unterschiedlichen Objekte im Vergleich Referenzfahrt / Fahrt mit akustischer Aufgabe.
Ein zweites Ergebnis dieser Studie zeigt, dass der Fahrer nach wie vor der Fahraufgabe Priori tat einraumt. 1m Gegensatz zu anderen Einsatzfeldem hat die Spracherkennung im Automobil also mit verlangerten und variablen Reaktionszeiten des Fahrers umzugehen. Hinzu kommen Fehler, die aus der Unterbrechung des Dialogs resultieren.
12.6 Zusammenfassung
An der Beschreibung des Konzeptes "Multimodalitat" im Kontext des Automobils wird deutlich, dass sich ein gro8es Potenzial abzeichnet. Diese M6glichkeiten k6nnen allerdings nur ausgesch6pft werden, wenn gezielt multimodale Dialoge gestaltet und die einzelnen Modalitaten aufeinander abgestimmt werden. Ziel bleibt nach wie vor, den Zusammenhang aus steigender Komplexitat und Effizienz und Komfort der Benutzung zu entkoppeln.
Ein weiterer Aspekt, der nicht we iter vertieft wurde, stellt sich mit der Frage, ob die Orientierung zukiinftiger Konzepte an der "Mensch-Mensch-Interaktion" als Paradigma ausreichend und passend ist, weil sich mittlerweile Kulturstereotype der MMI etabliert haben, die in keiner Weise ihr Vorbild in der natiirIichen Kom-
204 12 Aspekte der multimodalen Bedienung und Anzeige im Automobil
munikation haben aber trotzdem allgemein akzeptiert sind. Eine lange Tradition im Umgang mit Maschinen im allgemeinen und Autos hat hier sicherlich deutliche Spuren hinterlassen, die in neueren Interaktionstechnologien beriicksichtigt werden mussen.
Dabei ist zu beachten, dass rur den Entwickler allein aufgrund der Einfiihrung von MultimodaliHit schon bei gleichbleibender Funktionalitat die Komplexitat der Systeme sprunghaft zunehmen wird. Bei steigender Funktionalitat ist zu priifen, ob der vorgestellte Ansatz der Dialogreprasentation in Form eines Zustandsautomaten den steigenden Anforderungen gerecht werden kann.
Mit Sicherheit ist es erforderlich, multimodale Konzepte an die automobilen Erfordemisse anzupassen. Dies betrifft sowohl die Optimierung der Einzelkomponenten als aueh intensive Arbeiten im Bereich der Dialogentwieklung und Intentionserkennung. Die gezielte Sammlung und Analyse multimodaler Daten im Kontext Automobil ist hier unumganglieh.
Nieht nur die Entwicklung, sondem aueh die Bewertung implementierter Konzepte wird neue Wege gehen mussen, urn mit der steigenden Komplexiilit mit vertretbarem Aufwand Sehritt zu halten. Sowohl die Einzelmodalitaten als aueh das Zusamrnenspiel der versehiedenen Modalitaten mussen in versehiedenen Verkehrssituationen untersueht werden.
Multimodale Interaktion wird im Automobil vollig neue Mogliehkeiten erOffnen, urn zukiinftige Bedienung und Anzeige sieher und komfortabel zu gestalten. Hinzu kommt, dass gut geloste Multimodalitat dem Nutzer bisher nieht erlebte Variations- und Erlebnismoglichkeiten im alltagliehen Gebraueh des Automobils geben wird.
Literatur
Althoff, F. und McGlaun, G. (2001). Abschlussbericht FERMUS Phase 1. Projektbericht. Technische Universitat Miinchen
Amtsblatt der Europiiischen Gemeinschaften (1999). Empfehlung der Kommission an die Mitgliedsstaaten und die Industrie iiber sichere und effiziente On-board-Informationsund Kommunskationssysteme: Europiiischer Grundsatzkatalog zur Mensch-MaschineSchnittstelle. Aktenzeichen K(1999) 4786
Baber, C. (1996). Automatic Speech Recognition in Adverse Environments. Human Factors, 38, 1 (142-155)
Bengler, K. (1995). Gestaltung und experimentelle Untersuchung unterschiedlicher Priisentationsformen von Wegleitungsinformation in Kraftfahrzeugen. Regensburg. RodererVeriag
Bengler, K., Geutner, P., Niedermaier, B. & Steffens, F. (2000). "Eyes free-Hands free" oder "Zeit der Stille". Ein Demonstrator zur multimodalen Bedienung im Automobil, DGLR-Bericht 2000-02 "Multimodale Interaktion im Bereich der Fahrzeug und Prozessfiihrung", (299-307), Deutsche Gesellschaft fur Luft- und Raumfahrt e.V. (DGLR), Bonn
Benoit, c., Peiachaud, C. & Suhm, B. (1996). Multimodal Speech Systems. http://coral.lili.uni-bielefeld.deIEAGLESIWP5/multimodal
Literatur 205
Draxler, C., Bengler, K., Johansen, F.T., Sanders, E. u. Tropf, H.S. (2001). Speechdat Multilingual Speech Databases for Teleservices: Across the Finish Line. Beitrag eingereicht zur Tagung Eurospeech 2001. Aalbourg
Geiger, M., Zobl, M., Bengler, K. & Lang, M. (2001). Intermodal differences in distraction effects while controlling automotive user interfaces. Beitrag eingereicht zur HCI2001 New Orleans
Green, P. & Williams, M. (1992). Perspective in orientation/navigation displays: a human factors test. The 3rd international conference on vehicle navigation systems and iriformation systems, Oslo, 221-226
Haller, R. (2000). HMI New Technologies and Safety Aspects. Ujh International Conference Traffic Safety on Two Continents, Linkoping: VTI - Swedish National Road and Transport Research Institute, 5-16
ISO TC22 SCl3 WG8 (2000). Dialogue Management Compliance. Draft version published at the Task Force Meeting 2000
Niedermaier, B. (1999). Entwicklung und Bewertung eines nutzerorientierten Dialogkonzepts zur Sprachbedienung eines Autotelefons. Diplomarbeit. Technische Universitat Miinchen
Noyes, lM. & Frankish, C.R. (1994). Errors and Error Correction in Automatic Speech Recognition Systems, Ergonomics 37,11, 1943-1957
Oviatt, S. (1999) Ten Myths of Multimodal Interaction, Communications of the ACM, Vol. 42, No. II, 74-81
Oviatt, S. (2000). Multimodal System Processing in Mobile Environments, erscheint in: Proceedings of 6th International Conference on Spoken Language Processing (ICSLP 2000), October 16-20, 2000, Beijing, China
Parkes, A & Coleman, G. (1993). Route guidance systems: a comparison of methods of presenting directional information to the driver. In EJ. Lovesey (Hrsg.) Contemporary ergonomics. Proceedings of the ergonomic society 1990. Annual conference. London: Taylor and Francis
Recarte, M.A, Nunes, L.M., Lopez, R. & Recarte, S. (1999). Effects of Two Different Mental Tasks on Visual Search Behaviour While Driving. In: Gale, AG., Brown, I.D, Haslegrave, C.M. & Taylor, S.P. (Hrsg.). Vision in Vehicles - VII Amsterdam: Elsevier
Schweigert, M. (1999). Fahrerverhalten beim Fiihren eines Kraftfahrzeuges unter gleichzeitiger Bearbeitung von Zusatzaufgaben. (MOTIV MMI AP8: Projektbericht), Technische Universitat Miinchen
13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug
Katharina Seifert, Matthias Rotting und Raphael Jung
13.1 Einfiihrung
Die visuelle Wahmehmung der relevanten Umwelt stellt eine zentrale Anforderung bei der Fiihrung eines Kraftfahrzeuges dar. Bei der analytischen Betrachtung der Fahrzeugfiihrungsaufgabe werden hiiufig drei Prozesse unterschieden: Planung (navigation), Steuerung (guidance) und Stabilisierung (control) (vgl. z.B. Sheridan, 1992). Sowohl bei der Planung einer Fahrt und der Auswahl einer Fahrtroute als auch bei der Steuerung, aber auch bei der Stabilisierung des Fahrzeuges beziiglich der Sollspur, werden optische Merkmale der Umgebung analysiert. So geben beispielsweise Ortseingangsschilder Hinweise fiir die Einhaltung der gewiihlten Fahrtroute und der als zu gering wahrgenommene Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug fiihrt zu Aktivitiiten auf der Steuerungsebene wie dem Abbremsen des Fahrzeuges. Auf der Kontrollebene werden dynamische GroBen des Fahrzeuges wie das Gieren ausgeregelt, die eher durch periphere visuelle Wahmehmung beeinflusst werden (Miura, 1986).
Die Erfassung von Blickbewegungen ermoglicht es, Riickschliisse auf die menschlichen Informationsverarbeitung bei der Bewiiltigung der Fahraufgabe, besonders fiir die Prozesse der Navigation und Steuerung, zu ziehen. Auch die Aufnahme von Informationen bei hochgeiibten Tiitigkeiten, die bei erfahrenen Fahrzeugfiihrem auf den Ebenen der Navigation und der Steuerung auftritt, kann mittels dieser Messmethode genauer als durch Befragung oder bloBe Beobachtung erhoben werden.
1m Folgenden werden die mit der Blickbewegungsmessung verbundenen definitorischen und physiologischen Sachverhalte sowie verschiedene Ebenen der Interpretation der Messdaten kurz dargestellt. Die iiblicherweise im Fahrzeug eingesetzten MeBmethoden werden erliiutert und die speziellen Bedingungen bei der Blickbewegungsmessung verdeutlicht. AbschlieBend zeigen einige Beispiele die vielseitige Einsetzbarkeit der Methode zur Untersuchung verschiedener Fragestellungen bei der Gestaltung von Kraftfahrzeugen und bei der Fahrzeugfiihrung.
13.2 Definition von Augen- und Blickbewegungen
Augenbewegungen sind alle Bewegungen des Auges, die allein durch Beobachtung des Auges erfasst und interpretiert werden konnen. 1m Gegensatz dazu werden als Blickbewegungen solche Bewegungen des Auges bezeichnet, die in Ver-
208 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug
bindung mit den yom Auge aufgenommenen Informationen interpretiert werden. Bei der Erfassung von Blickbewegungen muss neben der Augenbewegung definitionsgemiill also immer auch der Zielort des Blickes mit erfasst oder anderweitig bestimmt werden.
Die menschlichen Blickbewegungen sind durch einen steten Wechsel von sog. Fixationen und Sakkaden gekennzeichnet. Eine Fixation wird definiert als der Zustand, bei dem sich das Auge beziiglich eines Sehobjektes in "relativem" Stillstand befindet. Dazu gehOren auch Folgebewegungen (pursuit movements), die die andauernde Fixierung eines sich langsam bewegenden Objektes ermoglichen. Die Sakkaden (sehr schnelle Blickspriinge) dienen dazu, neue Objekte, die sich im Gesichtsfeld befinden, in dem Bereich der Netzhaut abzubilden, wo scharfes Sehen moglich ist: der Fovea.
Ubliche Parameter der Blickbewegungen werden aus den zeitlichen und ortlichen Eigenschaften der Fixationen, den Sakkaden und dem Wechsel von Fixationen und Sakkaden, dem sog. Suchpfad (scan path), gebildet.
13.3 Bedingungen fur die Interpretation von Blickbewegungsparametern
Die Interpretation von Blickbewegungen als Indikatoren fiir die visuelle Informationsaufnahme und -verarbeitung setzt Grundannahmen voraus, die die Ausrichtung des Blickes mit den momentan ablaufenden mentalen Prozessen verbindet. Bei Just und Carpenter (1980), Schroiff (1986) und Liier (1988) wird von folgenden Voraussetzungen ausgegangen:
1. Das angeblickte Objekt ist Gegenstand der momentanen mentalen Verarbeitung (eye-mind assumption)
2. Die Dauer, wiihrend der das Auge auf einem Ort verweilt, entspricht der Dauer der mentalen Verarbeitung (immediacy assumption)
3. Fixationssequenzen spiege1n serielle Prozesse der Informationsverarbeitung wider.
Die Analyse von Sakkaden und Fixationen beriicksichtigt nur den Teil der visuellen Wahrnehmung, bei dem Information foveal verarbeitet wird. Allerdings werden auch auBerhalb des Bereichs scharfen Sehens in der Netzhaut optische Merkmale aufgenommen und verarbeitet.
13.3.1 Die Rolle der peripheren visuellen Wahrnehmung
Bei vielen Tiitigkeiten - insbesondere bei Fahrzeugfiihrungsaufgaben - spielt die periphere visuelle Wahrnehmung eine wichtige Rolle, indem sie z.B. die Aufmerksamkeit auf neue zu fixierende Ziele lenkt. Damit spiegelt sich die Wirkung dieses Anteils der peripheren Wahrnehmung auch recht unmittelbar in den Blickbewegungen (z.B. Sakkade zu dem neuen Ziel) wider. Miura (1986) hat fiir das
13.3 Bedingungen flir die Interpretation von Blickbewegungsparametern 209
Autofahren Fahrsituationen und Fahrrnanover danach charakterisiert, inwieweit dort foveale und periphere visuelle Wahmehmung wichtig sind (Tabelle 13.1). Die periphere visuelle Wahmehmung unterstiitzt danach die Kontrolle der eigenen Fahrzeugposition (Geschwindigkeit und Spurhaltung) in Relation zur Strasse und zu anderen Fahrzeugen.
Tabelle 13.1 Visuelle Aufgaben bei verschiedenen Fahrsituationen und Fahnnanovern Cnach Miura, 1986).
Fahrsituation und -
manover
Geradausfahrt
Vorbeifahrt an
parkenden Fahr
zeugen
Einfahrt in eine
engere Stral3e
Oberholen
Visuelle Aufgabe
F
F
F
F
~ a n; ..r:: ... :::l a.
II) ... QI -0 c: QI
..r::
~ QI .0 :::J
p p
p p
pFp
pFp
F
F pFp F
F
F
<II QI
~ c: :::l
~ c: QI c: W <II QI
-0 c:
~ II)
F
F = foveales Sehen; p p = peripheres Sehen; pFp = foveales I peripheres Sehen
pFp
Die Bedeutung der peripheren Wahmehmung flir die Geschwindigkeits- und Entfemungswahmehmung unterstreicht auch eine Untersuchung von Groeger und Brown (1988). Die Beurteilung, wann sich das eigene Fahrzeug auf gleicher Hohe mit einem zweiten Fahrzeug befindet, gelang bei einem weiteren Sichtfeld (400 vs. 100 ) mit signifikant geringerer Fehlerrate. Dieser Befund legt nahe, dass der Leistungszuwachs auf peripher wahrgenommene Umgebungsmerkmale zuriickzuflihren ist. In einem Vergleich zwischen realer Fahrsituation und einem Fahrsimulator ohne periphere Sicht haben Carter und Laya (1998) signifikant hiiufigere Fixationen des Tachometers gefunden - ebenfalls ein Indiz flir die Wichtigkeit der peripheren Wahmehmung flir die Beurteilung der Geschwindigkeit. Auch flir die Spurhaltung konnen erfahrene Fahrer periphere visuelle Inforrnationen nutzen,
210 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug
wiihrend unerfahrene Fahrer dafUr die foveale visuelle Wahmehmung einsetzen. Mourant und Rockwell (1970, 1972) stellten eine entsprechende Hypothese auf, die durch Untersuchungen von Summala (1998) und Summala et al. (1996) gestUtzt wurde.
Diese Funktionen der peripheren visuellen Wahmehmung spiegeln sich normalerweise nicht im Fixationsverhalten wider. Die Untersuchungsergebnisse unterstiitzen jedoch die Annahme, dass bei unerfahrenen Personen und bei besonders anspruchsvollen Bedingungen die foveale visuelle Wahmehmung auch fUr diese Funktionen mit eingesetzt wird.
13.4 Aussageebenen der Analyse von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug
Augen- und Blickbewegungsdaten konnen auf verschiedenen aufgabenanalytischen Ebenen (vgl. Luczak, 1997, 1998) interpretiert werden, die jeweils einen spezifischen Fokus haben (Rotting, 2001).
• Ebene 1, Informatorische und energetische Kosten: Typisierung und Beschreibung der physiologischen Kosten bei der Bearbeitung von Aufgabenelementen, Aufgabenkomponenten und gesamten Aufgaben.
• Ebene 2, Zeitverbriiuche: Erkliirung, Bemessung und Prognose des Zeitverbrauchs fUr die Bearbeitung von Aufgabenbestandteilen und kombinierten Aufgaben.
• Ebene 3, Mensch-Maschine Interaktion: Analytische Beschreibung und Vergleich unterschiedlicher Bedingungen der Mensch-Maschine-Interaktion in mehreren Dimensionen (z.B. Anforderungen, Stabilitiit, Fehler).
Rotting (2001) hat eine Vielzahl von Augen- und Blickbewegungsparametem beschrieben und den drei Analyseebenen zugeordnet (Tabelle l3.2). Die Augenund Blickbewegungen konnen in unterschiedlicher zeitlicher Auflosung analysiert werden. Ihre Parameter konnen dabei sowohl als Beobachtung des Handlungsvollzuges als auch als physiologische Veriinderung interpretiert werden. 1m Sinne des Handlungsvollzuges interpretiert, spiegelt ein Parameter wie die Fixationsdauer -mit Variationen im Millisekundenbereich - u. a. Unterschiede beim Erkennen einfacher Objekte wider. Die Analyse der Folge von einigen wenigen Fixationen und Sakkaden im Bereich von Sekunden erlaubt Riickschliisse auf Handlungen (vgl. auch Hayhoe, 2000). Die Analyse der Augenbewegungen im Sinne eines physiologischen Parameters betrachtet z.B. die Veranderung der physiologischen Aktivierung durch liingerfristigere Aufgabenbedingungen. Herangezogen wird bei solchen Betrachtungen beispielsweise die Veranderung des Mittelwertes von Fixationsdauem iiber Abschnitte im Bereich von Minuten (z.B. Unema, 1995).
13.4 Aussageebenen der Analyse von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug 211
Tabelle 13.2 Zusammenfassende Ubersicht tiber die Verwendbarkeit von Parametem der Augen- und Blickbewegungen im Rahmen der Aufgabenanalyse unter ebenenspezifischen Fragestellungen (nach Rotting, 2001).
Ebene I: Bestimmung der informatorischen und energetischen Kosten
Veranderungen des arousal Sakkadenlatenz Anzahl der Sakkaden
Sakkaden pro Zeiteinheit
Fixationsdauer
Fixationen pro Zeiteinheit
"Aufwand" der Bewegung des Auges Fixationsvektor
Gewichtetes Suchgebiet
Veranderungen des visue"en Feldes Sakkadenweite
Sakkadenausdehnung
Veranderungen des Blickverhaltens bei einer zusatzlichen Aufgabe
Obergangshaufigkeiten Autokorrelation
Entropie
Markov-Matrizen
Ermiidung und Vigilanz Sakkadengeschwindigkeit
Sakkadendauer
Genauigkeit der Sakkade
Anzahl glissadischer Augenbewegungen
Ebene 2: Erklarung, Bemessung und Prognose von Zeitverbrauchen
Dauer von Informationsaufnahme und -verarbeitungsprozessen
Fixationsdauer Fixationen pro Zeiteinheit
Sakkaden pro Zeiteinheit
Kumulierte Fixationsdauer Verweildauer
Dauer von Obergangszeiten Sakkadendauer
Sakkadenweite
Kumulierte Obergangszeit
Fixationen-Sakkaden-Verhaltnis
Dauer von Suchzeiten Blickpfaddauer Suchzeit
Ebene 3: Analyse der Bedingungen der Mensch-Fahrzeug-Interaktion
Analyse der ortlich-raumlichen Gestaltung Verteilung der Augenbewegungsdaten Fixationsort
Fixationsdichte
Raumliche Dichte
Kumulierte Fixationsdauer Verweildauer
Relative Haufigkeit der Fixation von Objekten oder Regionen
Obergangshaufigkeiten Analyse von Suchprozessen
Anzahl der Fixationen
Anzahl der Sakkaden
Lange des Blickpfades
Obergangsdichte
Konvexe Hlillflache
Sakkadenweite
Kumulierte Obergangszeit
Fixationen-Sakkaden-Verhaltnis
Augenbewegungsgeschwindigkeit
Analyse von Informationsaufnahme und -verarbeitungsprozessen
Statistische Analyse der Obergangs
haufigkeiten
Sakkadenweite-Fixationsdauer-Diagramm
Autokorrelation Raumliche Clusterung Lokale Fixationspfade
Richtungsanderungen Markov Matrizen
Entropie der relativen Haufigkeit der Fixation
von Objekten oder Regionen
Analyse der "Ebenen" der Informationsverarbeitung
Fixationsdauern
Fixationen pro Zeiteinheit
Sakkaden pro Zeiteinheit
Verteilung der Fixationsdauern
Laterale Augenbewegungen
212 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug
Nachfolgend werden einige der Parameter der Blickbewegungen naher erlautert, die bei der Analyse von FahrzeugfUhrungsaufgaben besonders haufig eingesetzt werden.
13.4.1 Fixationshaufigkeit und Fixationsdauer
Es ist iiblich, die absolute und relative Haufigkeit der Fixation bestimmter Objekte zu ermitteln (s. z.B. Gengenbach, 1999; Seifert u. Eyferth, 1999). Aus der Haufigkeit und der Dauer der Fixationen wird sehr oft die durchschnittliche Fixationsdauer pro Blickobjekt errechnet. Des weiteren konnen die Variation und die Verteilung der Fixationsdauern pro Blickobjekt ortlich und zeitlich ermittelt werden, wenn die Fixationsdauer auf ein Objekt bezogen wird.
Die Bestimmung der Dauer einer Fixation erfolgt iiblicherweise iiber die Abgrenzung zur den vorhergehenden bzw. nachfolgenden sakkadischen Augenbewegungen. Fiir bestimmte Tatigkeiten, z.B. Verfolgung eines Fahrzeugs mit niedriger Relativgeschwindigkeit oder querenden Verkehrs, kann es sinnvoll sein, das Abgrenzungskriterium zu den Sakkaden so zu definieren, dass die langsamen Folgebewegungen ebenfalls als Fixation gewertet werden.
Die minimale Fixationsdauer wird iiblicherweise durch das zeitliche Kriterium des Algorithmus zur Fixationserkennung festgelegt. Haufig werden als minimale Fixationsdauer lOOms genannt (z.B. Karsh u. Breitenbach, 1983; Young u. Sheena, 1975). Maximale Fixationsdauern konnen mehrere Sekunden betragen. Ubliche Fixationsdauern liegen im Bereich mehrerer 100 Millisekunden.
Die Fixationsdauer ist der wohl am haufigsten benutzte Parameter der Blickbewegungen und wird in vielen Untersuchungen als MaB fUr die Dauer der Bearbeitung der betrachteten Information interpretiert (vgI. eye-mind assumption). Da wahrend der Sakkaden das Sehvermogen weitgehend ausgeschaItet ist, findet die visuelle Informationsaufnahme fast ausschlieBlich wahrend der Fixationen statt. Unter dieser Annahme ist also die Fixationsdauer identisch mit der Dauer der Informationsverarbeitung.
13.4.2 Verweildauer und "Eyes-Off-the-Road-Time"
Die Verweildauer, im englischen gaze duration, time spend in areas of interest (vgI. Goldberg u. Kotval, 1999) oder auch glance duration (Farber et aI., 1993; Fairclough et aI., 1993), ist die Dauer aller aufeinanderfolgenden Fixationen, die auf ein Objekt fallen oder die innerhalb eines zuvor definierten ortlichen Kriteriurns (z.B. innerhalb eines Radius von 1,5°) bleiben (vgI. Liier, 1988). Die Verweildauer pro Blickobjekt ist die Gesamtsumme der Zeiten, die ein Objekt oder eine Gruppe von Objekten fixiert wird.
Die Verweildauer fasst mehrere aufeinanderfolgende Fixationen eines Blickobjektes oder -gebietes zu einem Wert zusammen. Sie wird als MaB fUr die Schwierigkeit der Aufnahme der Information angesehen, wobei langere Verweildauern auf groBere Schwierigkeiten hindeuten. Die Schwierigkeit kann durch schlechte
13 .5 Messverfahren 213
Les- oder Erkennbarkeit, schlechtes Layout oder durch eine zu hohe Inforrnationsdichte verursacht sein (Fairclough et al., 1993).
1m Rahmen der Untersuchung von Fahrzeugfuhrungsaufgaben hat eine Variante der Verweildauer, die sog. Eyes-OfJ-the-Road-Time, eine besondere Relevanz. Sie fasst Verweildauem all jener Objekte zusammen, die nicht innerhalb des StraBenbereiches liegen und keine unmittelbar fur die Fahraufgabe notwendige Information liefem.
13.5 Messverfahren
Zur Bestimmung der Augen- und Blickbewegungen wurden fur unterschiedliche Anwendungsfalle verschiedene Verfahren entwickelt (vgl. auch Rotting, 1999; 2001). 1m Folgenden werden ausgewahlte Verfahren kurz vorgestellt, deren Einsatz im Kraftfahrzeug ublich sind oder moglich erscheinen.
13.5.1 Elektrookulogramm (EOG)
Blickwinkel
~
u u
(a) (b)
Abb. 13.1 (a) Entstehung des Elektrookulogramms bei Veranderung der Blickrichtung (aus Zipp, 1988). (b) Platzierung der EOG-Elektroden.
Zwischen Homhaut und Netzhaut des Auges besteht eine Potentialdifferenz von bis zu 20mV, wobei die Homhaut positiv geladen ist. Das Auge kann als Dipol aufgefasst werden, des sen an die Korperoberflache weitergeleitetes elektrisches Feld mit Oberflachenelektroden nahe am Auge messbar ist (vgl. Shackel, 1967, und Abb. 13.1). Zur Bestimmung von Bewegungen und Position des Auges sollte mit Gleichspannungsableitung gearbeitet werden. Das registrierbare Gesichtsfeld beim EOG betragt bis zu ±80°, wobei im Bereich uber ±30° nicht mehr sehr genau gemessen werden kann. Die Genauigkeit bei der Verwendung von Oberflachenelektroden betragt durchschnittlich 1° bis 2° (vgl. Mickasch u. Haack, 1986; Oster u. Stem, 1980). Die Person wird in ihrem Blickfeld durch die Abnahme des E-
214 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug
lektrookulogramms nicht eingeschrankt und im Vergleich mit anderen Methoden kaum beeintrachtigt.
13.5.2 Limbus-, Pupillen- oder Augenlidregistrierung
Einige Charakteristika des Auges sind optisch sehr leicht erkennbar und haben sich daher flir die kontinuierliche Registrierung von Augenbewegungen bewahrt. Die Grenzlinie zwischen Augapfel und Iris, der Limbus, eignet sich besonders flir die Registrierung horizontaler Bewegungen. Das Augenlid folgt den vertikalen Augenbewegungen, so dass dessen Beobachtung Informationen tiber die vertikale Komponente der Augenbewegungen Iiefert. Sowohl zur Bestimmung der horizontalen, als auch der vertikalen Augenbewegungen kann die Pupille dienen.
Die eigentliche Registrierung der Bewegung kann in allen drei Fallen entweder mittels einer Videokamera und anschlieBender Auswertung mit einer Bildverarbeitungskarte oder tiber photoelektrische Registrierung erfolgen (Abb. 13.2) (vgl. auch Carpenter, 1988). Das Ausgangssignal der photoelektrischen Sensoren ist iiblicherweise eine Spannung oder eine Widerstandsanderung. Diese werden dann AlD-gewandelt und in einen Rechner iibertragen und dort weiter verarbeitet.
Die photoelektrischen Sensoren sind vergleichsweise leicht und klein und lassen sich daher in brillenahnliche Gestelle einbauen, die die Trager nur wenig behindem (vgl. z.B. Yamada u. Fukuda, 1986). Da auch die zeitliche und ortliche Auflosung hoch genug ist, erscheint das Limbustracking als gut flir Untersuchungen in Fahrzeugen geeignet, obwohl es im Vergleich zur Blickachsenmessung und Comea-Reflex-Methode (siehe unten) deutlich seltener angewandt wird.
(a) (b)
Abb. 13.2 (a) Der Aufbau fUr Limbus-, Pupillen- oder Augenlidregistrierung. Ein definierter Lichtpunkt beleuchtet das Auge und wird von diesem reflektiert. Ein lichtempfindliches Element gibt eine dem reflektierten Licht proportion ale Spannung aus. Da Augapfel/Iris, Augenlid/Iris sowie Iris/Pupille jeweils unterschiedlich viel Licht reflektieren, hiingt die Gesamtmenge des reflektierten Lichtes von dem Anteil der jeweiligen Fliichen im Lichtpunkt abo Die Fliichenanteile veriindem sich mit den Augenbewegungen. (b) Konfiguration mit zwei Lichtpunkten und zwei lichtempfindlichen Elementen (aus Carpenter, 1988).
13.5 Messverfahren 215
13.5.3 Cornea-Reflex-Methode
Da die Oberfliiche der Hornhaut (Cornea) des Auges gliinzend ist, spiegeJt sich dort auftreffendes Licht einer punktf6nnigen QueUe. Dieser Cornea-Reflex verschiebt sich in charakteristischer Weise mit der Bewegung des Auges (s. z.B. Rotting, 1999).
Mit einer Feldkamera wird in etwa das Blickfeld der Person aufgenommen. Die linke und rechte Augenbewegungsregistriereinheit zeichnen den corneal en Reflex auf. Die Signale der drei Kameras werden zusammengebracht und Marker fUr das linke undJoder rechte Auge in das Bild der Feldkamera eingeblendet.
Die zeitliche Messgenauigkeit liegt ublicherweise zwischen 25Hz und 60Hz, kann aber durch eine besondere Verschaltung der CCD-Sensoren, wie sie z.B. von der Finna NAC eingesetzt wurde, aufbis zu 600Hz gesteigert werden.
13.5.4 Blickachsenmessung
Abb. 13.3 Verkabelungsschema des Systems iView (SMI) mit Head tracking
Fur Messsysteme, bei denen aus einem festen Punkt des Auges und einem Lichtreflex auf die Blickachse geschlossen wird, hat sich der Name Blickachsenmessung (Point of Regard Measurement) eingeburgert. Ublich ist die Messung der Distanz zwischen Cornea-Reflex und Mittelpunkt der PupiUe oder zwischen
216 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug
Lichtreflex auf der Netzhaut und einem charakteristischem BlutgefaB auf der Netzhaut (vgl. Carpenter, 1988).
Bei Bewegungen des Kopfes verandert sich die relative Position der beiden Messpunkte nicht. Bei Bewegungen des Auges hingegen verschiebt sich der Cornea-Reflex gegeniiber dem gewahlten Fixpunkt (Pupillenmittelpunkt oder BlutgefaB) systematisch, woraus die Blickposition bestimmt werden kann. Die Ermittlung der Lage beider Bezugspunkte erfolgt iiblicherweise durch Verfahren der automatischen Bildverarbeitung (Abb. 13.3). Die zeitliche Auflosung der Messgerate betragt bis zu 50Hz. Fiir die ortliche Genauigkeit werden Werte deutlich unter 10 Sehwinkel angestrebt, die jedoch nur bei giinstigen Messbedingungen zu erreichen sind. Die Messvorrichtung braucht nicht notwendigerweise am Kopf des Probanden angebracht zu sein, es ist auch eine kontaktfreie Messung moglich. Allerdings treten bei der beriihrungslosen Messung Ungenauigkeiten und Datenausfall besonders dann auf, wenn Kopfbewegungen des Probanden yom Messsystern verfolgt werden miissen. Die Blickachsenmessung ist das neben der ComeaReflex-Methode zur Zeit wohl am haufigsten eingesetzte Messverfahren im Bereich der FahrzeugfUhrung (Abb. 13.4).
(a) (b)
Abb. 13.4 (a) Proband mit iView-Kopfband im Fahrzeug. (b) Kontrollmonitor und Transmitter des Head-Trackers.
13.6 Spezifische Bedingungen im Kraftfahrzeug
Der mobile Einsatz von Blickbewegungstechnik im Kraftfahrzeug ist in der Regel schwierig. 1m Folgenden sollen einige fUr die Auswahl eines geeigneten Messsysterns und die DurchfUhrung einer Messung relevanten Aspekte thematisiert werden.
Zunachst konnen im Kraftfahrzeug sowohl die Blicke von Interesse sein, die der Fahrer auf Orte auBerhalb des Fahrzeugs richtet, als auch jene, die er auf Bedienelemente, Instrumentierung und Zusatzsysteme im Fahrzeug richtet. Die derzeitig verfUgbaren Blickbewegungssysteme sind nur fUr eine bestimmte Entfer-
13.6 Spezifische Bedingungen im Kraftfahrzeug 217
nung parallaxenfrei kalibrierbar. Daher ist es nicht moglich, die gleiche Messgenauigkeit fUr Blicke auf unterschiedlich we it entfemte Objekte zu erzielen. Abb. 13.5 verdeutlicht das Problem.
Objekt· Ka librier· ebene ebene
Blickpunkt:
visiert
angezeigt r:.;..~.~ .. ?.:.:. ~.~.:.: .. J;:::::::::::-:~::. __ t ~ ._-------------a : augenbezogener
Messfehler
0 "",
000;
Feldkamera
Dc.m
Auge
IX = arc:tan[ tana - Dc- + Dc.m] - a a: Auslenkung des Auges 0 /(0/ Doo;
Abb. 13.5 Systematischer Parallaxenfehler aufgrund des Unterschieds zwischen Kalibrierebene und Objektebene und dem Abstand zwischen Auge und Feldkamera. Die Blickbewegungskamera wird auf eine bestimmte Entfemung (Kalibrierebene) so kalibriert, dass der Blickort der Person und der mit der Feldkamera aufgenommene Blickort dort iibereinstimmen. In einer anderen Entfemung (hier z.B. in der Objektebene) fallen der anvisierte und der angezeigte Blickpunkt auseinander. Die Abweichung ~a ergibt sich nach der angegeben Formel (aus Gobel, 1999).
Werden fUr eine Untersuchung die Blickbewegungsdaten fUr Objekte innerhalb und auBerhalb des Fahrzeug benotigt, so muss entschieden werden, wo die raumlichen Genauigkeitsanforderungen hoher sind. Dabei ist auch von Interesse, nach welchen Blickbewegungsparametem gesucht wird.
In der iiberwiegenden Mehrzahl der Untersuchungen, insbesondere aus der Ergonomie, wird nach Blickzuwendungen auf sog. areas of interest (AOI) gesucht (z.B. Bubb, 2000). Dies ist beispielsweise fUr die Analyse der Blickzuwendungen auf StraBe, Kombiinstrument und Spiegel unprablematisch.
13.6.1 Systeme im Fahrzeug
Grundsatzlich konnen fUr die Blickbewegungsmessung im Fahrzeug kopfgebundene Systeme mit Kopfband oder Helm sowie beriihrungslose Systeme zum Einsatz kommen (Abb. 13.4). Da beriihrungslose Systeme den Kopfund die Augen nur in einem eingeschranktem Bereich erfassen konnen, sind sie fUr Untersuchungen, die groBe Kopfbewegungen mit moglicherweise gesenkten Augenlidem erfordem, ungeeignet. Bei graBen Kopfbewegungen konnen sie nur schwierig oder gar nicht nachgefUhrt werden, da im Fahrzeug zusatzliche Restriktionen bzgl. der giinstigen Anbringung des MeBsystems bestehen.
218 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug
Weitere Probleme beriihrungsloser Systeme bestehen darin, dass Rotationsbewegungen des Kopfes algorithmisch schwieriger auszugleichen sind als bei kopfgebundenen Systemen und die Systeme unter realen Stral3enbedingungen eine andere dynamische Anregung erfahren als der Fahrer. Dies beeintriichtigt die Genauigkeit der Blickbewegungsmessung. Beriihrungslose Systeme sind weniger beeintriichtigend fUr den Fahrer und daher fUr Untersuchungen im frontalen Blickfeld der StraBe und des Kombiinstruments geeignet. Bei kopfgebundenen Systemen tritt die Anregungsproblematik insbesondere bei schlechten StraBenbeliigen auf. Sie verrutschen bei groBen dynamischen Anregungen, was nur durch ein enges Befestigen der Messvorrichtung am Kopf des Probanden zu verringem ist. Insbesondere bei kopfgebundenen Systemen mit Kopfband ist davon auszugehen, dass den Probanden aufgrund des permanenten Drucks auf den Kopf nur 30 bis 45 Minuten Tragedauer (Kalibrierung und Versuch) zugemutet werden konnen. Liingere Versuchsdauem fUhren zu Kopfschmerzen (vgi. Partmann et ai., 1996). Daher sollte fUr liingere Messungen der Einsatz eines beriihrungslosen Systems gepriift werden. Nachteilig an fahrzeugfest verbauten, beriihrungslosen Systemen ist, dass sie nicht in kurzer Zeit in verschiedenen Fahrzeugen einsatzbereit sind. Kopfgebundene Systeme sind wesentlich schneller in neue Fahrzeuge zu adaptieren (z.B. Janus-System: ca. 5min., Gengenbach, 1999) und zu kalibrieren.
13.6.2 Kalibrierung
Die Kalibrierung findet iiblicherweise iiber das serielle Fixieren definierter Punkte bei statischer Kopfposition statt. Die Kalibrierebene (Kalibrierplatte, Monitor o.ii.) sollte im Zentrum des interessierenden Untersuchungsbereichs liegen, da dort die Messgenauigkeit am hOchsten ist und kaum Parallaxenfehler auftreten. Fiir Untersuchungen mit Fokus auf Objekten auBerhalb des Fahrzeugs ist es giinstig, die Kalibrierung mit einer Ebene vorzunehmen, die ca. 10m vor dem Fahrzeug liegt. Die Qualitiit der Kalibrierung bestimmt entscheidend die nachfolgende Genauigkeit der Messungen.
13.6.3 Erfassung der Kopfposition (Head-Tracking)
Fiir bestimmte Anwendungen (automatisierte Auswertung, Modellierungen u.ii.) ist iiber die Blickbewegungen hinaus die Kopfposition und die dazu relative Augenposition von Interesse. Bei beriihrungslosen Systemen kann die Kopfposition durch die Verschiebung der Augenvektoren zueinander bestimmt werden, solange beide Augen fUr das System sichtbar sind. Bei kopfgebundenen Systemen kann die Kopfposition mittels eines elektro-magnetischen Messsystems iiber einen am Kopfband oder Helm mitgeflihrten Transponder erfasst werden, der mit einem in der Niihe stationiir montierten Transmitter korrespondiert (Abb. l3.6). Das System besteht aus dem Transmitter (TX) und dem Transponder, der am Kopf des Fahrers angebracht ist. Der Messbereich erstreckt sich iiber eine Halbkugel mit einem Radius von ca. 1m urn den Transmitter.
· · · , " ..........
13.6 Spezifische Bedingungen im Kraftfahrzeug 219
. ...... .
, · · · . . . '
Abb. 13.6 Bestimmung der Kopfposition mit Hilfe eines elektromagnetischen HeadTrackers.
Je nach den Gegebenheiten im Fahrzeug sollte der Transmitter hinter (links) oder neben (rechts) dem Fahrer angebracht werden. Fiir eine automatische Erkennung von Objekten miissen virtuelle Ebenen definiert werden, auf denen wiederum Objekte bestimmt werden konnen (z.B. Ebene "Kombiinstrument", Objekt "Tachometer"). Die Einmessung der Ebenen erfordert einen nicht unerheblichen zusatzlichen Kalibrierungsaufwand. Die Ebenen miissen moglichst genau eingemessen und der Kopf wahrend der Blick-Kalibrierung trotz Head-Trackings stillgehalten werden, da die hier auftretenden Fehler potenziert in die Messung eingehen und unter Umstanden eine automatisierte Auswertung verhindern. Die haufig eingesetzten elektromagnetischen Head-Tracker reagieren empfindlich auf metallische Gegenstande in ihrer Umgebung. Wird der Abstand von Transponder und Transmitter zum Fahrzeugdach kleiner als 20cm, werden die Messfehler in einem normalen Kraftfahrzeug zu gro/3. Nach Moglichkeit sollte fUr Untersuchungen mit elektromagnetischem Head-Tracking auf offene Fahrzeugtypen (z.B. Cabriolets mit Stoffverdeck, Abb. 13.4) zuriickgegriffen werden. Optische Head-TrackingSysteme (vgl. Bala, 1997) bieten eine Alternative, wenn sie ausreichend robust gegen Beleuchtungsunterschiede in der Umgebung sind.
13.6.4 UmgebungseinflUsse
Bei der Registrierung von Blickbewegungen miissen noch weitere Umgebungseinfliisse beachtet werden. Systeme, die auf der Cornea-Reflex-Methode basieren, konnen zuveriassig nur bei ma/3iger Tageshelligkeit (diffuses Licht, keine Sonne) verwendet werden. Dadurch wird ein ausreichend gro/3er Pupillendurchmesser (> 3mm), ein guter Kontrast zwischen der Pupille und der umgebenden Iris und damit eine stabile Blickpunkterkennung sichergestellt.
Weiterhin ist zu beachten, dass das verwendete System die auftretenden Augenwinkel messen kann. Bei innerstadtischen Messfahrten ist das Blickfeld mit
220 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug
Koptbewegungen groBer als 1800 , diese Winkel sind von beriihrungslosen Systemen nicht zu erfassen. Versuche auf SchnellstraBen und Autobahnen hingegen konnen generell als gUnstig fUr die Blickbewegungsmessung betrachtet werden, da hierbei seltener Koptbewegungen notwendig sind.
13.6.5 Auswertung
Zur Auswertung der erhobenen Blickbewegungsdaten, die in der Regel aus Videofilmen der Szenenkamera mit iiberlagertem Blickpunkt und den Dateien mit Rohdaten bestehen, gibt es zwei grundsatzliche Moglichkeiten:
1. Die manuelle Auswertung (frame by frame) und Interpretation durch einen erfahrenen Auswerter.
2. Die automatische Zuordnung von Blickbewegungsparametem zu Objekten (erfordert Head-Tracking oder die Erfassung optischer Marker im Szenenvideo).
Bei der Entscheidung fUr eine der Vorgehensweisen spielt auch die Anzahl der Untersuchungsteilnehmer eine Rolle, da der manuelle Auswertungsaufwand fUr eine groBe Personenzahl schnell sehr viel groBer ist als der erhohte Versuchsaufwand fUr die Erfassung der Kopfposition (Unema et aI., 1988).
Bevor Bild- und Blickbewegungsdaten generiert werden, muss bedacht werden, wie diese im Anschluss an die Datenaufzeichnung weiterverarbeitet werden sollen. Dabei ist der Aspekt der Synchronisation der Bilddaten (aus unter Umstanden mehreren Quellen, z.B. mehreren Szenenvideofilme) mit den rechnergestiitzt aufgezeichneten Rohdaten von Interesse. Einige Varianten:
• Datenaufzeichnung mit HiFi-Videorekordem auf Videobandem, zwei Audiospuren, zwei Datenspuren, Synchronisation iiber in das Videobild eingeblendete Zahler oder Synchronisationsschnittstellen. Dies ist eine gute Variante ftir lange Fahrversuche mit sehr groBen Bilddatenmengen. Die Synchronisation ist bei der technischen Losung von vomherein gegeben. Die Auswertung erfolgt iiblicherweise manuell und erfordert erheblichen Aufwand.
• Bilddatenaufzeichnung mit Videorekordem, Blickdatenaufzeichnung im Computer, Synchronisation iiber Optik (z.B. Blitzlicht und Auslose-Bit, vgI. Gengenbach, 1999; im Videobild eingeblendeter Zahler) oder timecode (automatischer Abgleich der Videoaufzeichnungen). Die eingesetzten Aufzeichnungssysteme werden unabhangig voneinander betrieben, so dass der Aufwand einer Kopplung entfallt. Der Aufwand der Datenauswertung entspricht der ersten Variante.
• Bilddatenaufzeichnung mittels Framegrabber-Karten im Computer (ggf. mit Hardware-Kompression), synchrone Rohdatenaufzeichnung im Computer. Die Methode eignet sich nur fUr zeitlich begrenzte Versuchssequenzen, da die anfallenden Bilddatenmengen sehr groB sind. Vorteilhaft ist die direkte digitale VerfUgbarkeit der Daten.
13.7 Bestimmung der physiologischen Kosten 221
13.6.6 Systemeigenschaften
Zusammenfassend sind bei der Auswahl eines geeigneten MeBsystems fUr Untersuchungen im Fahrzeug je nach Art der Untersuchung folgende Anforderungen zu beachten:
- Keine Beeintrachtigung der Fahrtiichtigkeit - Universe lIe Einsetzbarkeit in verschiedenen Fahrzeugen
GroBes Blickfeld: ca. 1800 , natiirliche Kopfbewegungen zulassig Keine besonderen Voraussetzungen an die Probanden (z.B. Normalsichtigkeit)
- Beeintrachtigungsfrei und komfortabel tragbar (moglichst beruhrungslos oder mit Helm)
- Synchronisationsmoglichkeit mit externen (Mess-)Systemen - Einsetzbar iiber Versuchsdauern von mindestens 30min - Videoiiberblendung von Szene und Blickpunkt
Einfache und schnelle Kalibrierung Stromversorgung mit 12V Gleichstrom und geringer Leistungsaufnahme Benutzungsfreundlichkeit der Mess- und Auswertungssoftware
- Qualitat des Handbuchs - Herstellerservice fUr die Anwender
Weitere Informationen zu verschiedenen Systemen und deren wesentlichen Eigenschaften finden sich u.a. bei Partmann et al. (1996), der Eye Movement Equipment Database im Internet (http://ibs.derby.ac.uk/emedJ) und auf den Internetseiten der Veranstaltung "Eyes Tea" (http://www.zmms.tu-berlin.de/Eyes-Teal).
In den folgenden Abschnitten werden beispielhaft Untersuchungen vorgestellt, die Augen- und Blickbewegungsparameter zur Analyse von FahrzeugfUhrungsaufgaben nutzen.
13.7 Bestimmung der physiologischen Kosten
Viele Einfliisse bestimmen die Augen- und Blickbewegungen beim Fiihren eines Fahrzeuges. Die Interpretation der verschiedenen Parameter wird durch eine entsprechende Modellvorstellung vereinfacht. Unema und Rotting (1990) beziehen sich auf das kognitiv-energetische Stufenmodell menschlicher Informationsverarbeitung, das von Sanders (1983) entwickelt wurde. In diesem Modell werden die drei Zustande Erregung (arousal), Anstrengung (effort) und Aktivierung (activation) den Stufen men schlicher Informationsverarbeitung zugeordnet. Erregung ist typischerweise mit den fruhen Informationsaufnahmeprozessen, der sensorischen Reizvorverarbeitung und der Merkmalsextraktion, verbunden. Aktivierung ist an der AusfUhrung von Reaktionen beteiligt. Anstrengung dient zum einen der Kontrolle der fUr zentrale Informationsverarbeitung zur VerfUgung stehenden Ressourcen und zum anderen der Zuweisung von Ressourcen zu den beiden anderen Zustanden.
222 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug
Je erfahrener oder geiibter eine Person ist, desto weniger neu erscheint ihr eine Situation und sie hat ein vergleichsweise geringeres Erregungsniveau. Da die selben Gehimregionen sowohl an der Erregung als auch an der Steuerung der Augenbewegungen beteiligt sind, erscheint es plausibel, dass ein geringeres Erregungsniveau zu weniger Sakkaden und damit zu Uingeren Fixationsdauem fiihrt.
In zwei Untersuchungen mit Busfahrem und PKW-Fahrem konnten Unema und Rotting (1990) die beiden Hypothesen (I): ,,Fahrer haben mehr kiirzere Fixationen und dam it eine kiirzere mittlere Fixationsdauer, wenn eine Situation schwieriger und komplexer ist" und (2): "erfahrene Fahrer haben liingere mittlere Fixationsdauern" bestatigen.
o Fahrschiiler • Fahrlehrer
300 r---------------------------------~
250 1---~
1 200 L. OJ :::J
{:l 150 VI c o
.~ 100 x
LL 50
OL......L._-
Linksabbiegen
Schwierigkeit
Rechtsabbiegen
~
Abb. 13.7 Unterschiede der Mittelwert der Fixationsdauern zwischen Fahrschiilern und Fahrlehrern in Abhangigkeit der Schwierigkeit der Fahraufgabe (nach Unema u. Rotting, 1990).
Abbildung 13.7 zeigt den Mittelwert der Fixationsdauem im Unterschied zwischen 15 Fahrschiilem (Mittelwert zweier Fahrten) und 5 Fahrlehrem in Abhangigkeit von der Schwierigkeit der Fahraufgabe. Von den Fahrlehrem wurde die Geradeausfahrt als einfachste, das Rechtsabbiegen als schwierigste Situation bewertet. (1m Gegensatz zu einem PKW ist das Rechtsabbiegen mit einem Bus schwieriger als das Linksabbiegen, da mit dem Bus ein Ausscheren auf die Fahrspur des Gegenverkehrs notwendig ist). Bei den Fahrlehrem wurden kaum Veranderung iiber die unterschiedlich schwierigen Fahrsituationen beobachtet. Es ist zu vermuten, dass die Fahrlehrer mit allen Fahrsituationen gleichermaBen gut vertraut sind, so dass keine Veranderungen im Erregungsniveau erkennbar werden.
Analog zeigt Abb. 13.8 die Ergebnisse der zweiten Untersuchung mit jeweils 6 Fahrem mit viel Erfahrung (mehr als 5 Jahre im Besitz der Fahrerlaubnis und mehr als 15.000 gefahrene krn/Jahr) und wenig Erfahrung (weniger als 5 Jahre im Besitz der Fahrerlaubnis und weniger als 6.000 gefahrene krn/Jahr). Als am einfachsten wurde die Fahrt auf der Autobahn, als am schwierigsten die Fahrt in einem Kreisverkehr beurteilt.
300
250 ';;;'
6200 ... 41 ::J ... ISO " '" c 0
100 .;:; ... x u:::
so
0
o Wenig Erfahrung
,.,<> #~
JS# ~
Schwier igkeit
13.7 Bestimmung der physiologischen Kosten 223
Viel Erfahrung
Abb. 13.8 Unterschiede der Mittelwert der Fixationsdauem zwischen Fahrem mit wenig und viel Erfahrung in Abhlingigkeit der Schwierigkeit der Fahraufgabe (nach Unema u . Rotting, 1990).
13.7.1 Erklarung, Bemessung und Prognose von Zeitverbrauchen
5 -r---------------" ,---,
Glance Frequency [%] (b)
(a)
Unacceptable Region
Grey Area
Acceptable Region
---0-- LlSB • TRAVELPILOT
Abb. 13.9 Kurve der kumulierten Hliufigkeit von Verweildauem im Vergleich zweier unterschiedlicher Fahremavigationssysteme. (a) kennzeichnet das 50. Perzentil, wo beide Systeme noch in der akzeptablen Region sind. (b) und (c) kennzeichnen das 82. bzw. das 93. Perzentil, wo die Systeme jeweils in die unakzeptable Region von mehr als 2 Sekunden Verweildauer kommen (Fairclough et aI., 1993).
Fairclough et al. (1993) schlagen im Kontext des Vergleiches unterschiedlicher Fahremavigationssysteme vor, die Verweildauer (glance duration) tiber die pro-
224 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug
zentuale Haufigkeit (glance frequency) aufzutragen (Abb. 13.9). Die von Faiclough et al. (1993) vorgenommene Kennzeichnung der Regionen als akzeptabel, Grauzone und unakzeptabel stUtzt sich auf eine Untersuchung von Zwahlen et al. (1988). Bei einer Abwendungszeit von der StraBe, im englischen eyes-off-the-road time (vgl. auch Kiefer u. Angell, 1993), von mehr als 2 Sekunden kann es zu nicht mehr akzeptablen Spurabweichungen des Fahrzeuges kommen.
13.7.2 Analyse der Bedingungen der Mensch-Fahrzeug-Interaktion
Mit Hilfe der Blickbewegungsmessung lasst sich die Gestaltung von MenschMaschine-Schnittstellen auf vieWiItige Art und Weise beeinflussen. Bei der Evaluation von bildschirmgestUtzten - und damit blickzuwendungsintensiven - Elektroniksystemen im Kraftfahrzeug kann die Blickbewegungsmessung wertvolle Erkenntnisse sowohl fUr die ergonomische Gestaltung der Bedienelemente und Anzeigesysteme (Gengenbach, 1997) als auch fUr die Bedienlogik liefem. Wird bei der Bearbeitung einer Aufgabe ein irrelevantes Anzeige- oder Bedienelement wiederholt fixiert, weist das auf Dberarbeitungsbedarf der Gestaltung hin (Bengler, 1995).
Eine Moglichkeit zur Untersuchung der Komplexitat der Bedienung insbesondere beziiglich der Bedienlogik besteht in der Verwendung von Blickzuwendungen als EingangsgroBe fur psychologisch orientierte Modelle der MenschMaschine-Interaktion. Die aus den Modellen generierten KomplexitatsmaBe konnen durch Korrelation in Beziehung zu subjektiven Benutzerurteilen tiber Rtickmeldungen, Bedienelemente und Bedienlogik gesetzt werden (Abb. 13.10) und erlauben so eine fruhe Bewertung der Systeme mit wenigen Probanden ohne zeitaufwendige Versuchsreihen mit Endbenutzem im Feld (Jung u. Willumeit, 2000).
0,8 Q. ... c:
.~ 0,6 IE
CIJ
j 0,4 '" c: o 'p '" 0,2 ~
o Ruckmeldung
~ o h-+--
o Bedienelemente • Bedienlogik
-0,2 '--------r------..... --------' Sender wahlen und speichern
Klangeinstellung Navigationsziel andern abrufen
Abb. 13.10 Korrelation eines blickzuwendungsbasierten Komplexitiitsmafies (nach lung u. Willumeit, 2000) mit subjektiven Bewertungen der Riickmeldungen, Bedienelemente und Bedienlogik durch Versuchspersonen (N=l3) fur drei verschiedene Aufgabentypen.
Literatur 225
Entscheidenden Einfluss auf die Komplexitat der Bedienung hat auch, ob die jeweilige Teilhandlung (Suchen und Betatigung eines Bedienelements) innerhalb der objektiv verfligbaren « 2s) und subjektiv benotigten Zeitspanne durchgeflihrt werden kann. Jeder Wechsel zwischen der Fahrzeugflihrungsebene und der Systembenutzungsebene stellt flir den Benutzer einen zusatzlichen kognitiven Aufwand dar, der zu vermeiden ist (Krems et aI., 2000).
13.8 Resumee
Die Messung der Blickbewegungen im Fahrzeug protokolliert zeitlich hochaufgelost den Prozess der visuellen Informationsaufnahme und macht eine detaillierte Analyse der Fahrzeugflihrung unter variierenden Personen- und Situationsbedingungen oder bei neuen Varianten der Cockpitgestaltung moglich. Die unterschiedlichen Blickbewegungsparameter konnen auf verschiedenen Ebenen der Tatigkeitsanalyse interpretiert werden. Sie liefern bedeutsame Informationen, die durch andere psychologische oder physiologische Messverfahren nicht hinl1inglich abgedeckt werden konnen. Heutige Messsysteme sind jedoch im Fahrzeug nicht flir jede Fragestellung oder Situation adaquat einsetzbar. Daher ist es notig, im Einzelfall abzuwagen, wie die Augen- und Blickbewegungen erfasst und ausgewertet werden sollen. Ein zunehmendes Interesse an der Bewertung von innovatiyen Gestaltungslosungen im Kraftfahrzeug und an der Erkennung des psychophysiologischen Zustandes des Fahrzeugflihrers lasst erwarten, dass die Blickbewegungsmessung eine haufig eingesetzte Methode fliT empirische Untersuchungen im Fahrzeug wird.
Literatur
Bala, L.-P., Talmi, K. & Liu, J. (1997). Automatic detection and tracking of faces and facial features in video sequences, Picture Coding Symposium 1997, Berlin, Germany, 10-12 September 1997
Bengler, K. (1995). Gestaltung und experimentelle Untersuchung unterschiedlicher Priisentationsformen von Wegleitungssystemen in Kraftfahrzeugen. Dissertation Universitiit Regensburg, (Theorie und Forschung; Bd. 376: Psychlogie, Bd.126), Regensburg: Roderer
Bubb, H. (2000). Blickanalyse zur Ermittlung der Aufmerksamkeitszuwendung zu Informationssystemen. Informations- und Assistenzsysteme im Auto benutzergerecht gestalten - Methoden fiir den EntwicklungsprozeB. FAT Schriftenreihe Nr. 127, 2000, 33-41
Carpenter, R.H.S. (1988). Movements of the Eyes. 2nd Edition. London: Pion Limited Carter, C.J. & Laya, O. (1998). Drivers' visual search in a field situation and in a driving
simulator. In A.G. Gale, LD. Brown, C.M. Haslegrave & S.P. Taylor (Eds.). Vision in Vehicles - VI (21-31). Amsterdam: Elsevier
Fairclough, S.H., Ashby, M.C. & Parkes, A.M. (1993). In-vehicle displays, visual workload and usability evaluation. In A.G. Gale, LD. Brown, C.M. Haslegrave, H.W. Kruysse & S.P. Taylor (Eds.), Vision in Vehicles - IV (245-254). Amsterdam: Elsevier
226 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug
Farber, B., Farber, B. & Schweiker, H. (1993). The reduction of driver's visual load using new control technologies. In AG. Gale, LD. Brown, C.M. Haslegrave, H.W. Kruysse & S.P. Taylor (Eds.), Vision in Vehicles - IV (343-350). Amsterdam: Elsevier
Gengenbach, R. (1997). Fahrerverhalten im PKW mit Head-Up-Display. Dissertation am Lehrstuhl fUr Ergonomie, TU Miinchen, (Fortschritt-Berichte des VD!, Reihe 12, VerkehrstechniklFahrzeugtechnik, Nr. 330), VD! Verlag GmbH, Diisseldorf, 1997
Gengenbach, R. (1999). Blickerfassung im Kraftfahrzeug - Ein Anwendungsbeispiel fUr das Blickerfassungssystem Janus. In M. Rotting & K. Seifert (Hrsg.) Blickbewegungen in der Mensch-Maschine-Systemtechnik (133-142). Sinzheim: Pro Universitate Verlag
Gobel, M. (1999). Blickbewegungsregistrierung bei der Gestaltung von FahrerarbeitspHitzen des OPNV. In M. Rotting & K. Seifert (Hrsg.). Blickbewegungen in der Mensch-Maschine-Systemtechnik (118-132). Sinzheim: Pro Universitate Verlag
Goldberg, J.H. & Kotval, X.P. (1999). Computer interface evaluation using eye move-ments: methods and constructs. International Journal of Industrial Ergonomics.,24 (6), 631-645
Groeger, lA. & Brown, LD. (1988). Motion perception is not direct with indirect viewing systems. In AG. Gale, M.H. Freeman, C.M. Haslegrave, P. Smith & S.P. Taylor (Eds.). Vision in Vehicles - II (27-34). Amsterdam: Elsevier
Hayhoe, M.M. (2000). Vision using routines: A functional account of vision. Visual Cognition, 7(1/2/3), 43-64
HOfner, K.J. & Hoskovec, J. (1973). Registrierung der Blickbewegungen beim Autofahren - bisherige Forschungen. Zeitschriftfor Verkehrssicherheit 19 (1973) 4, 222-241
Jung, R. & Willumeit, H.-P. (2000). Objective Evaluation of the Complexity of Usage for Car Infotainment Systems. Proc. of the lh IFIP/IEEE Int. Conf. on Information Technology for Balanced Automation Systems, Berlin, Germany, 2000,369-375
Just, M.A & Carpenter, P.A (1980). A Theory of Reading: From Eye Fixations to Comprehension. Psychological Review, 87, 329-354
Karsh, R. & Breitenbach, F.W. (1983). Looking at the amorphous fixation measure. In R. Groner, C. Menz, D.F. Fisher & R.A Monty (Eds.), Eye Movements and Psychological Functions: International Views (53-64). Hillsdale NJ: Erlbaum
Kiefer, R.J. & Angell, L.S. (1993). A comparison of the effects of an analog versus digital speedometer on driver performance in a task environment similar to driving. In AG. Gale, LD. Brown, C.M. Haslegrave, H.W. Kruysse & S.P. Taylor (Eds.), Vision in Vehicles - IV (283-290). Amsterdam: Elsevier
Krems, J. F., Keinath, A, Baumann, M., Gelau, Ch. & Bengler, K. (2000). Evaluating Visual Display Designs in Vehicles: Advantages and Disadvantages of the Occlusion Technique. In L. M. Camarinha-Matos, H. Afsarmanesh & H.-H. Erbe (Eds.) Proceedings of the 4th IFIP/IEEE International Conference on Information Technology for Balanced Automation Systems, Berlin, Germany, 2000 (361-368). Boston, Dordrecht, London: Kluwer Academic
Luczak, H. (1997). Task Analysis. In G. Salvendy (Ed.). Handbook of Human Factors and Ergonomics (340-415). Chichester: Wiley
Luczak, H. (1998). Editorial: Aufgabenanalyse auf unterschiedlichen Ebenen - Eine ordnungsstiftende Struktur zur Integration interdisziplinarer Ansatze in der Arbeitswissenschaft. Zeitschrift for ArbeitswissenschaJt, 52(3), 129-131
Luczak, H., Volpert, W., Raeithel, A & Schwier, W. unter Mitarbeit von Miiller, T. und Rotting, M. (1987). ArbeitswissenschaJt, Kerndefinition - Gegenstandskatalog - Forschungsgebiete. Eschbom: Rationalisierungs-Kuratorium der Deutschen Wirtschaft
Liier, G. (1988). Kognitive Prozesse und Augenbewegungen. In H. Mandl & H. Spada (Hrsg.). Wissenspsychologie (386-422). Miinchen: Psychologie Verlags Union
Literatur 227
Mickasch, H.D. & Haack, J. (1986). Blickbewegungsforschung - Einfiihrung in die Physio-10gischen Grundlagen, Techniken und in die Problem- und Anwendungsbereiche. In L.J. Issing, H.D. Mickasch & J. Haack (Hrsg.), Blickbewegung und Bildverarbeitung (11-36). Frankfurt am Main, Bern & New York: Peter Lang
Miura, T. (1986). Coping with Situational Demands: A Study of Eye Movements and Peripheral Vision Performance. In A.G. Gale, M.H. Freeman, C.M. Haslegrave, P. Smith & S.P. Taylor (Eds.), Vision in Vehicles (205-216). Amsterdam: Elsevier
Mourant, R.R. & Rockwell, T.H. (1970). Mapping eye-movement patterns to the visual scene in driving: An exploratory study. Human Factors, 12, 81-87
Mourant, R.R. & Rockwell, T.H. (1972). Strategies of visual search by novice and experienced drivers. Human Factors, 14, 325-335
Oster, P.J. & Stem, lA. (1980). Measurement of Eye Movement - Electrooculography. In I. Martin & P.H. Venables (Eds.). Techniques in Psychophysiology (275-309). Chichester: Wiley
Partmann, T., Reinig, H.-J. & Struck, G. (1996). Blickbewegungsmessung als Werkzeugfor die Gestaltung und Bewertung von bord- und strafJenseitigen Informationssystemen for den Kraftfahrer (FAT Schriftenreihe Nr.127)
Rotting, M. (1999). Methoden zur Registrierung von Augenbewegungen. In M. Rotting & K. Seifert (Hrsg.). Blickbewegungen in der Mensch-Maschine-Systemtechnik (19-34). Sinzheim: Pro Universitate Verlag
Rotting, M. (2001). Parametersystematik der Augen- und Blickbewegungenfor arbeitswissenschaftliche Untersuchungen. Aachen: Shaker
Sanders, A.F. (1983). Towards a model of stress and human performance. Acta Psychologica, 53, 61-97
Schroiff, H.-W. (1986). Zum Stellenwert von Blickbewegungsdaten bei der Mikroanalyse kognitiver Prozesse. In Lol. Issing, H.D. Mickasch & 1 Haack (Hrsg.). Blickbewegung und Bildverarbeitung (57-82). Frankfurt am Main, Bern & New York: Peter Lang
Seifert, K. & Eyferth, K. (1999). Vergleich zweier Methoden zur Kontrolle visueller Suchprozesse: Blickbewegungsmessung und Demaskierungstechnik. In M. Rotting & K. Seifert (Hrsg.). Blickbewegungen in der Mensch-Maschine-Systemtechnik (71-86). Sinzheim: Pro Universitate Verlag
Shackel, B. (1967). Eye movement recording by electro-oculography. In P.H. Venables & I. Martin (Eds.). A Manual of Psychophysiological Methods. Amsterdam: North HoIland
Sheridan, T. (1992). Telerobotics, automation and human supervisory control. Cambridge, MA: MIT -Press
Summala, H. (1998). Forced peripheral vision driving paradigm: Evidence for the hypothesis that car drivers learn to keep lane with peripheral vision. In A.G. Gale, I.D. Brown, C.M. Haslegrave & S.P. Taylor (Eds.). Vision in Vehicles - VI (51-60). Amsterdam: Elsevier
Summala, H., Nieminen, T. & Punto, M. (1996). Maintaining lane position with peripheral vision during in-vehicle tasks. Human Factors, 28(3), 442-451
Unema, P.lA. (1995). Eye Movements and Mental Effort. Aachen: Shaker Unema, P. & Rotting, M. (1990). Differences in eye movements and mental workload
between experienced and inexperienced motor-vehicle drivers. In D. Brogan (Ed.). Visual Search. London: Taylor & Francis
Unema, P., Rotting, M. & Luczak, H. (1988). Eye Movements and Mental Workload in Man-Vehicle Interaction. In A.S. Adams, R.R. Hall, Bol. McPhee & M.S. Oxenburgh (Eds.). Ergonomics International 88, Proceedings of the Tenth Congress of the Inter-
228 13 Registrierung von Blickbewegungen im Kraftfahrzeug
national Ergonomics Association (463-465), 1-5 August 1988, Sydney, Australia: Ergonomics Society of Australia Inc., Sydney
Yamada, M. & Fukuda, T. (1986). Quantitative Evaluation of Eye Movements as Judged by Sight-Line Displacements. SMPTE Journal, Dec.1986, 1230-1241
Young, L.R. & Sheena, D. (1975). Survey of eye movement recording methods. Behavior Research Methods & Instrumentation, Vol. 7 (5),397-429
Zipp, P. (1988). Optimierung der Oberfliichenableitung bioelektrischer Signale (Fortschrittberichte VDI, Reihe 17: Biotechnik, Nr. 45), Dusseldorf: VDI Verlag
Zwahlen, H.T., Adams, C.C. & DeBald, D.P. (1988). Safety Aspects of CRT touch panel controls in automobiles. In A.G. Gale, Freeman, M.H., Haslegrave, C.M. Smith, P. & Taylor, S.P. (Eds.). Vision in Vehicles - II (335-344). Amsterdam: Elsevier
Teil IV
Systembewertung
14 Subjektive Bewertung von Zittervorgangen als Grundlage fur die Voraussimulation
Harald Kolrep und Christoph Fankhauser
14.1 EinfLihrung
Die vibroakustische Abstimmung von Fahrzeugen hat spiirbare Folgen fUr den sUbjektiven Komforteindruck von Fahrerinnen oder Fahrern. Phiinomene wie Zittern, Stuckern oder Wummern konnen als unangenehm und storend empfunden werden. Bislang ist unklar, welcher Zusammenhang zwischen den physikalischen Eigenschaften der Schwingungsphanomene und dem subjektiven Komforteindruck besteht. 1st ein solcher Zusammenhang bekannt, lassen sich bereits in sehr fruhen Entwicklungsphasen auf der Basis geeigneter Simulationsmodelle Vorhersagen iiber das Schwingungsverhalten des Gesamtfahrzeuges und die Wirkungen auf den empfundenen Komfort ableiten.
Die hier vorgestellten Untersuchungen sind die ersten Schritte in Richtung auf die Simulation und Vorhersage von vibroakustischen Komfortbeeintrachtigungen in beliebigen Fahrzeugtypen und fUr unterschiedliche Anregungsformen. Urn sinnvolle Simulationen zu ermoglichen, werden die simulierten Objekte durch Zielparameter beschrieben. Fiir jeden Parameter, einschlieBlich der subjektiven Urteile, wird dann ein Messverfahren definiert. Fiir die Simulation dienen die Verfahren als Referenz, urn konstruktive Varianten von Fahrzeugen zu bewerten.
14.2 Zittern in Kraftfahrzeugen
In Kabrioletts und Roadster treten auf Grund der fehlenden Dachsteifigkeit starkere Torsionsschwingungen auf als in geschlossenen Fahrzeugen. Die Torsionsschwingungen bewirken Querbewegungen am Frontscheibenrahmen und dem damit verbundenen Riickspiegel, sowie Querbewegungen an Armaturenbrett, Lenkrad und Sitz. Diese Bewegungen bezeichnen wir als Zittern. Die Intensitat von Zittern reicht - abhangig von konstruktiven Merkmalen des Fahrzeuges und von der Beschaffenheit der StraBe - von eben wahrnehmbaren, aber nicht als storend empfundenen Bewegungen, bis hin zu einer Starke, die im Riickspiegel quer verzerrte Bilder und Erkennungsprobleme oder am Lenkrad ein als sehr storend empfundenes Pendeln bewirkt. Turner u. Griffin (1999) berichten, dass bei Busreisen die Querbewegungen bei niedriger Frequenz die, verglichen mit den anderen Bewegungsachsen, wichtigste Ursache fUr Unwohlsein der Reisenden ist. Bei der Konstruktion und Entwicklung von Cabriolets und Roadstern gilt es, geeignete MaBnahmen zu ergreifen, urn das Zittern so weit zu reduzieren, dass Fahrerinnen
232 14 Subjektive Bewertung von Zittervorgiingen
und Fahrer sich nicht beeintrachtigt flihlen und damit Fahrsicherheit und -komfort jederzeit gegeben sind.
14.3 Untersuchung der Foigen von Zittern
Ziel der hier dargestellten Studien ist es, einen moglichen Zusammenhang zwischen objektiven Merkmalen des Zittems einerseits und der Wirkung des Zittems auf die subjektive Bewertung des Fahrkomforts andererseits aufzudecken. Wir untersuchten insbesondere das Zittem von Lenkrad, Riickspiegel bzw. Frontscheibenrahmen, Sitz und Armaturenbrett.
Die Wahmehmung des Zittems wird durch auBere Einfliisse wie z.B. die Verkehrssituation, Fahrgerausche und Cockpit-Innengerausche beeinflusst. Bei Versuchen auf der StraBe sind diese Storeinfliisse nicht kontrollierbar, nicht exakt quantifizierbar und nicht reproduzierbar. Versuche im Labor dagegen erlauben zwar eine genaue Kontrolle von Storeinfliissen, doch sind die Simulation der Fahrgerausche und eine realistische Sichtsimulation sehr aufwendig. Fiir den Versuchszweck wurde ein gemischter Versuchsplan von Testfahrten auf realer StraBe und Laboruntersuchungen auf einer Hydropulsanlage entwickelt. Die Untersuchungen gliedem sich in zwei Teilstudien:
1. Subjektive Bewertung des Zitterns: Die Methode eines Semantischen Differentials (Osgood, 1952; Osgood et aI., 1975) erscheint geeignet, die subjektive Bewertung des Zittems durch den Fahrer zu erfassen. In drei Serien von Fahrversuchen aufNormalstraBe entwickelten wir einen Fragebogen, bestehend aus Adjektiv-Gegensatzen, der die subjektive Einschatzung des Zittems durch den Fahrer in reliabler und valider Weise erfasst und gleichzeitig unterschiedliche Strecken und unterschiedliche Fahrzeuge differenziert. Die Versuchsbedingungen sollen dabei moglichst realistisch eine Fahrsituation nachbilden.
2. Taktile und visuelle Wahrnehmung von Zittern: 1m zweiten Untersuchungsteil untersuchten wir auf einer Hydropulsanlage Zitterwahmehmung unter Laborbedingungen. Mit der aus der Psychophysik stammenden Methoden der direkten GroBenschatzung nach Stevens (1975) wurde fiir die taktile Wahmehmung von Zittem am Lenkrad und die visuelle Wahmehmung von Zittem im Spiegel der Zusammenhang von Anregungsstiirke und Empfindungsstarke ermittelt.
14.4 Zusammenhang subjektiver Bewertung mit objektiven Zitterparametern
Eine Methode zur subjektiven Bewertung von Zitterphanomenen durch Fahrer liegt bislang nicht vor. Wir entwickelten in einer Serie von Fahrversuchen ein Semantisches Differential, mit dessen Hilfe wir das Zittem an den Fahrzeugelementen Lenkrad, Spiegel, Sitz und Armaturenbrett einschiitzen lieBen.
14.4 Zusammenhang subjektiver Bewertung mit objektiven Zitterparametern 233
14.4.1 Entwicklung eines Semantischen Differentials
Die Methode des Semantischen Differentials (SD) oder Eindrucksdifferentials ist eine Technik zur Analyse von Bedeutungen. Es besteht aus einer nicht verbindlich festgelegten Zahl von bipolaren Ratingskalen, deren Endpunkte in der Regel durch Adjektive gekennzeichnet sind. Die SD-Technik wurde entwickelt von Osgood und Mitarbeitem (Osgood, 1952; Osgood, u.a., 1957; Osgood et aI., 1975) zur Analyse der dem sprachlichen Bedeutungsverhalten zugrundeliegenden Dimensionalitat. Seitdem wird die Methode auch auBerhalb der Psycholinguistik in nahezu allen Bereichen der psychologischen Forschung eingesetzt (Schafer, 1983). In der Automobilindustrie wurde das Semantische Differential u.a. zur Bewertung von Fahrzeuginnengerauschen verwendet (Kuwano et aI., 1994; Takao u. Hashimoto, 1994).
1m Zusammenhang mit der Untersuchung des Fahrkomforts scheint eine mehrdimensionale Bewertung, wie sie mit einem Semantischen Differential erhoben werden kann, auch deswegen sinnvoll, weil die Bewertungen der Attribute Komfort und Diskomfort beim Sitzen unabhangig voneinander zu sein scheinen (Helander u. Zhang, 1997, Zhang et aI., 1996). Wahrend Komfort mit asthetischen Aspekten zusammenhangt, wird Diskomfort als abhangig von Ermudung und k6rperlichen Unwohlsein beschrieben. Diese unterschiedliche Dimensionalitat der Komfortbewertung sollte in der erwarteten EPA-Faktorstruktur (evaluation, potency, activity; siehe Osgood et aI., 1975) eines Semantischen Differentials erfasst werden k6nnen. Die Entwicklung des Semantischen Differentials erfolgte in drei Schritten:
1. Zunachst wird durch ofJene Interviews mit naiven Versuchspersonen eine Beschreibung des Zittems an den verschiedenen Fahrzeugelementen erhoben. Wir gehen dabei davon aus, dass die in den Interviews verwendeten Beschreibungskategorien in der Summe geeignet sind, urn das Phanomen Zittem aus der Sicht von Fahrem umfassend zu beschreiben. Die Interviews dienen als Grundlage fur die Auswahl von Adjektiven. Insgesamt verwendeten wir 23 Gegensatzpaare im ersten Entwurf(Tabelle 14.l).
2. 1m zweiten Schritt wird eine Rohversion des Semantischen Differentials erprobt. 30 Probanden bewerteten die Fahrzeugelemente Lenkrad, Spiegel, Sitz und Armaturenbrett jeweils getrennt voneinander nach Fahrten auf StraBen mit unterschiedlichen Anregungsprofilen und in unterschiedlichen Fahrzeugen hinsichtlich Zittem an Hand der 23 Adjektivpaare. Von den Gegensatzpaaren wahlten wir jene fUr die Endversion des SD aus, die den Testgutekriterien12 entsprachen. AuBerdem sollte eine Faktorenanalyse mit anschlieBender Varimaxrotation eine klare und reliable EPA-Faktorstruktur aufweisen. Fur jedes Fahrzeugelement wahlten wir auf diese Weise zwischen 10 und 12 Gegensatzpaare fUr die Endversion des SD (Tabelle 14.l).
3. 1m dritten Fahrversuch wurde das so gewonnene Semantische Differential eingesetzt, urn Zittem in drei Fahrzeugen auf drei unterschiedlichen Strecken
12Gepriift wurden die Anzahl fehlender Antworten, die (Normal-)Verteilung und Streuung, die Faktorstruktur und -ladungen, die Trennschiirfe und die Reliabilitat.
234 14 Subjektive Bewertung von Zittervorgangen
zu bewerten. Gleichzeitig wurde das SD hinsichtlich seiner Faktorstruktur val i-diert.
Tabelle 14.1 Gegensatzpaare von Adjektiven und Auswahl der Paare fur die Bewertung der einze1nen Fahrzeugelemente. Bei den ausgewiihlten Paaren ist jeweils die Zuordnung zu Faktoren aus der Faktorenanalyse angegeben.
Nr. Bezeichnung lenkrad Sitz Spiegel Armaturen
Aa Fb A F A F A F
I sportlich - bequem x 2 x 3
2 wabbelig - fest
3 gutmutig - widerspenstig x x x
4 unmerklich - feststellbar
5 straff - locker x 2 x 3 x 2
6 kritisch - problemlos x
7 massiv - hohl x 2 x 2 x 2 x 2
8 spartanisch - luxurios x 3 x 3 x 3
9 schnell - langsam
10 vertraut - fremd x 3
II scharf - verschwommen x 2 x 2 x
12 hoch - tief
13 grob -fein
14 glatt - rau
15 ruhig - unruhig x x x
16 stabil - instabil x I x x x
17 direkt - indirekt x 2 x 2 x 2
18 kontrolliert - unkontrolliert x x x x
19 billig - gediegen x 3 x 3 x 3
20 griffig - rutschig x
21 hart- weich x 2
22 stark - schwach
23 angenehm - unangenehm x x x X
a Auswahl, b Faktor
14.4.2 Methode
Wir arbeiteten mit einem 3x3-Versuchsdesign mit vollstiindiger Messwiederholung. Es standen drei Roadster-Fahrzeuge gleichen Typs zu Verfiigung, die sich durch konstruktive MaBnahmen in ihrer ZitteranHilligkeit unterschieden. Wir bezeichnen die Fahrzeuge an Hand ihrer Farbe:
14.4 Zusammenhang subjektiver Bewertung mit objektiven Zitterparametem 235
Gelb: 4x4-Antrieb, weiche Lenksaule, starke Zitteranfalligkeit Silber: 4x4-Antrieb, normale Lenksaule, mittlere Zitteranfalligkeit Griin: Frontantrieb, steife Lenksaule, Hardtop, versteifte StoBstange, geringe Zitteranfalligkeit
Fiir die Durchfiihrung der Fahrversuche wahlten wir drei Strecken mit unterschiedlichen Anregungsprofilen. Aile Strecken wurden mit Tempo 80 kmlh befahren und waren so lang, dass die Fahrtenjeweils etwa vier Minuten dauerten:
• Geringe Zitteranregung: LandstraBe mit neuem Asphaltbelag ohne StaBe, weitgehend frei von Kurven.
• Mittlere Zitteranregung: LandstraBe mit vielfach ausgebessertem Asphaltbelag aber ohne Schlaglocher, viele einseitige Anregungen durch Asphaltflicken, iiberwiegend gerade Strecke.
• Starke Zitteranregung. Autobahn bestehend aus Platten mit starkem Versatz an den Nahtstellen (bis zu 4cm). Rechte und linke Fahrspur unterscheiden sich im Versatz der Platten. Sie wurden versetzt befahren, so dass wir eine unsymmetrische Anregung erreichten.
An der Untersuchung nahmen 30 Probanden teil. Ihnen wurde zunachst der Zweck der Untersuchung und die Bedienung der Fahrzeuge erlautert. AnschlieBend demonstrierten wir das Zittem anhand von einseitigen und beidseitigen Latteniiberfahrten. Danach fuhren die Probanden nacheinander in jedem Fahrzeug die drei Teststrecken. Wahrend der Fahrt auf den Teststrecken wurde die Aufmerksarnkeit der Probanden durch eine standardisierte Instruktion gezielt auf die Fahrzeugelemente Lenkrad, Spiegel, Sitz und Armaturenbrett gelenkt. Nach jeder Teststrecke wurde das Fahrzeug angehalten, um das semantische Differential auszufUllen.
Um die objektiven Merkmale des Zittems wahrend der Versuchsfahrten erfassen zu kannen, war jedes der drei Testfahrzeuge mit piezoelektrischen Beschleunigungssensoren und einer Messstrecke in jeweils identischer Anordnung ausgestattet. An den folgenden Punkten wurde gemessen:
- Sitzschiene in Y- und Z-Richtung - Lenkrad, 12Uhr-Position, X-; Y- und Z-Richtung
Armaturenbrett, hOchster Punkt, Y- und Z-Richtung - SpiegelfuB an der Windschutzscheibe, Y-Richtung
14.4.3 Ergebnisse
Abbildungen 14.1 und 14.2 zeigen die Profile des semantischen Differentials fUr die Fahrzeugelemente Lenkrad und Spiegel. Es wird deutlich, dass das SD gut geeignet ist, zwischen den drei Fahrzeugen zu differenzieren. Insbesondere das griine Fahrzeug, bei dem durch mehrere MaBnahmen Torsionsschwingungen gemildert werden, wurde in allen Belangen besser bewertet. Bei allen Gegensatzpaaren, mit Ausnahme der Paare sportlich-bequem und straff-Iocker am Lenkrad, sind die Bewertungsunterschiede zwischen den Fahrzeugen statistisch bedeutsam.
236 14 Subjektive Bewertung von Zittervorgiingen
Kaum Unterschiede zwischen Fahrzeugen und Strecken wurden in der Bewertung von Armaturenbrett und Sitz gefunden. Die Probanden berichteten, dass sie kaum Zittern wahrnehmen konnten bzw. keinen Unterschied zwischen den Fahrzeugen erkannten. Hier sind die Unterschiede zwischen den Fahrzeugen nicht ausreichend, urn an Hand eines SD differenzierbar zu sein. Die weitergehenden Analysen konzentrieren sich auf die Bewertung von Lenkrad und Spiegel.
gutmutig I widerspenstig
ruhig I unruhig
stabil instabil I
kontrolliert \ unkontrolliert
angenehm unangenehm
sportlich bequem
straff locker Lenkrad
massiv hohl
scharf I verschwommen gelb
direkt I
indirekt silber
spartanisch luxuries griin
billig gediegen I 2 3 4 5 6
Abb. 14.1 Profile der Antworten im Semantischen Differential (Lenkrad)
kritisch
scharf
stabil
kontrolliert
angenehm
massiv
direkt
spartanisch
vertraut
I
\ I L ..
c ... .. billig L-_----'-__ --'---__ L-_----'-_---'
I 2 3 4 5 6
problemlos
verschwommen
instabil
unkontrolliert
unangenehm Spiegel
hohl
indirekt gelb
luxuries silber fremd griin gediegen
Abb. 14.2 Profile der Antworten im Semantischen Differential (Spiegel)
Interessant waren statistisch bedeutsame Interaktionen zwischen den Faktoren Fahrzeug und Strecke. Bei dem Gegensatzpaar ruhig-unruhig rur die Bewertung des Lenkrades wurde das silberne Fahrzeug auf der Strecke mit mittlerer Anregungsstiirke besser bewertet als das gelbe Fahrzeug. Auf der Strecke mit starker Anregung kehrte sich dieses Verhiiltnis urn. Einen iihnlichen Bezug der Bewertungen fanden wir rur das Gegensatzpaar vertraut-fremd bezogen auf den Ruckspiegel. Beide Interaktionen sind statistisch bedeutsam. Fur das Ziel, die subjekti-
14.4 Zusammenhang subjektiver Bewertung mit objektiven Zitterparametern 237
ve Bewertung des Zittems durch objektive MaBe vorherzusagen, sind diese Interaktionen von besonderer Bedeutung, wird es doch darauf ankommen, eine iihnliche Interaktion auf der Seite der objektiven MaBe zu identifizieren und zu den subjektiven Werten in Bezug zu setzen. Auch der Einfluss von Personenvariablen auf die subjektive Bewertung wurde gepriift. Direkte Korrelationen waren statistisch nicht bedeutsam. Doch in Kovarianzanalysen binden die Variablen K6rpergr6Be, jiihrliche Fahrleistung und Bruttojahreseinkommen einen Teil der Varianz. Die K6rpergr6Be hatte Einfluss auf die Bewertung des Sitzes bei den Gegensatzpaaren aus Faktor 1. Das Bruttojahreseinkommen bindet einen Teil der Varianz bei den Gegensatzpaaren aus Faktor 3. Fur die jiihrliche Fahrleistung konnte ein systematischer Bezug zu einzelnen Faktoren nicht errnittelt werden. Ohne erkennbaren Einfluss bleiben in unseren Analysen die Personenmerkmale Geschlecht, Alter, Familienstand, K6rpergewicht, Schulabschluss, Dauer des Fuhrerscheinbesitzes sowie Typ und Alter des eigenen Wagens.
Eine Oberpriifung der Faktorstruktur der Semantischen Differentiale fUhrte zu einer Modifikation der Faktoren. Wiihrend fUr die Einschiitzung von Lenkrad, Arrnaturen und Sitz die Faktorstruktur weitgehend bestiitigt werden konnte, hatte bei der Bewertung des Spiegelzittems nur noch ein Faktor einen Eigenwert gr6Ber als 1. Dieser Faktor kliirt 60% der Varianz auf und umfasst aile Gegensatzpaare. Bei allen Bewertungen fiel das Gegensatzpaar massiv-hohl aus der Faktorstruktur heraus. Es liidt auf keinem der gefundenen Faktoren und scheint daher fUr den subjektiven Eindruck eine untergeordnete Rolle zu spielen.
Zusammenfassend ist das SD gut geeignet, zwischen den Strecken und den Fahrzeugen zu differenzieren. Insbesondere die Gegensatzpaare aus Faktor 1, der sich stark auf die Fahrsituation bezieht, differenzieren gut. Das griine Fahrzeug wird erwartungsgemiiB in allen Belangen am besten beurteilt, im silbemen Fahrzeug werden Unterschiede zwischen den Teststrecken am deutlichsten empfunden.
Tabelle 14.2 Aufteilung der Frequenzbander in der Analyse der Beschleunigungsmessung
Band Frequenz [Hz]
0-15 2 15 - 19 3 19- 22 4 22 - 30 5 30-40 6 40- 60 Master 0- 100
Fur die Berechnung der Korrelationen objektiver und subjektiver Daten wurde die Beschleunigungsmessung spezifisch autbereitet: Wir unterteilten die Aufzeichnungen in 0,2s groBe Zeitfenster und fouriertransforrnierten sie. Die Ergebnisse wurdenje Frequenzband (Tabelle 14.2) nach zwei Methoden ausgeziihlt:
238 14 Subjektive Bewertung von Zittervorgangen
1. Absolut: In wie vielen Zeitabschnitten wird ein vordefinierter Schwellwert der Intensitat iiberschritten?
2. Relativ: In wie vie len Zeitabschnitten ist der Abstand zur Gesamtintensitat geringer als ein definierter Wert?
Fiir das Zittern am Lenkrad nahmen wir an, dass die Bewertung durch Probanden mit der Beschleunigung zusammenhangt und weniger mit der Geschwindigkeit oder dem Weg der Bewegungen am Lenkrad. Die Bewegungswahrnehmung am Lenkrad ist eine taktile, deren adaquater Reiz Druck bzw. Kraftausiibung ist. Wir nehmen an, dass der Druck unmittelbar mit der Zitterbeschleunigung zusammenhangt. Die Korrelationsanalyse ergab nur geringe Unterschiede der Vorhersagegiite durch Weg, Geschwindigkeit oder Beschleunigung.
Da die Einzelmeinungen unsere Probanden nicht im Vordergrund der Untersuchungen standen, mittelten wir sowohl die objektiven Beschleunigungswerte als auch die subjektiven Bewertungen iiber die 30 Probanden. Dieses Verfahren ware in der psychologischen Forschung zur Urteilsbildung nicht statthaft, doch wird dadurch die hier nicht zentrale interindividuelle Varianz aus der Korrelationsberechnung eliminiert und lediglich die auf Strecken- und Fahrzeugunterschiede zuriickzufUhrende Varianz in der Analyse belassen.
Tabelle 14.3 zeigt die Korrelationswerte der Lenkradbewertung bei Vorhersage mit den nach der Absolutmethode bestimmten Beschleunigungswerten in yRichtung mit einem Schwellwert von 61db.
Tabelle 14.3 Korre1ation von subjektiven Bewertungen des Lenkrades mit den nach der Abso1utmethode ermitte1ten Besch1eunigungswerten bei einem Schwellwert von 61dB. Statistisch bedeutsame Korre1ationen sind grau unterlegt. Werte mit Varianzaufkllirung groBer a1s 85% sind invers gedruckt.
Fak1:or Band I Band 2 Band 3 Band 4 Band 5 Band 6 Maste r
guuniitig-widerspenstig 0.767 0 .. 462 0.555 -0 .600
ruhig-unruhig 0.783 0.55<4 0.622 -0.555
sabil-Insabil 0 .679 0.~85 0.553 -0 .<4<46
kontrolliert-unkontrolliert 0.568 0.679 0.387 0.<490 -0.532
1 0.6H 0.771 0.<455 0.5H -0.605
sportlich-bequem 2 -0.841 -0.794 -0.725 -0.830 -0.837 -0.780 0.589
scrolf-Iocker 2 0.<438 0.777 0.851 0.622 0.187 '0.302 -0.539
massiv-hohl 0.586 0.809 0.826 0.775 0550 0.59<4 -0.675
scharl-verschwommen 2 0.580 0.880 0.907 0.787 0.371 0.506 -0.724
d lrekt-Indlrekt 2 0.578 0.866 0.919 0_703 0.285 0.<415 -0.577
spartan Isch-Iux u rlOs 3 -0.718 -0.868 -0.850 -0.818 -0.539 -0.591 0.655
billig-gediegen 3 -0.589 -0.895 -0.916 -0.800 -0.376 -0.-490 0.7141
Die besten Varianzaufklarungen finden sich in den Frequenzbandern 2 und 3 fUr die Gegensatzpaare des Faktor 1. Bei dem Gegensatzpaar ruhig-unruhig fanden wir auf der Seite der objektiven Beschleunigungswerte zudem eine Interaktion der Effekte von Strecke und Fahrzeug, die sehr gut der bereits erwahnten Interaktion der subjektiven Bewertungen entspricht. Es ist gelungen, mit den Frequenzbandern 2 und 3 MessgroBen zu identifizieren, die geeignet sind, den subjektiven
14.5 Psychophysische Untersuchung des Zittems 239
Eindruck der Probanden, insbesondere in Bezug auf den ersten Faktor im Semantischen Differential, vorherzusagen. Bei der Vorhersage des Faktorscores zu diesem Faktor fanden wir eine Korrelation von .977, also eine Varianzautldarung von iiber 95%.
Bei der Bewertung des Spiegelzittems gingen wir analog vor. Wir stellten zunachst fest, dass bessere Vorhersagen erreicht werden, wenn wir den Zitterweg (und nicht die Geschwindigkeit oder Beschleunigung) als Pradiktor verwenden. In der Analyse arbeiteten wir mit den nach der Relativmethode ermittelten Zitterwerten in Y-Richtung bei einem Abstand von -5db (Tabelle 14.4). In einer multiplen Korrelation mit den Werten der Bander eins bis drei als Pradiktoren fanden wir fiir den Faktorscore eine multiple Korrelation von .990, also eine Varianzaufklarung von 98%.
Tabelle 14.4 Korrelationen von subjektiven Bewertungen des Spiegel mit nach der Rela-tivmethode bestimmten Zitterwegen bei einem Abstand von -5db. Statistisch bedeutsame Korrelationen sind grau unterlegt. Werte mit einer Varianzaufklarung groBer als 85% sind invers gedruckt.
Bezeichnung Faktor Band I Band 2 Band 1 Band 4 Band S Band 6 Haster
kritlsch-problemlo, 0.857 I' · -0.834 0.031 0.55 I nb nb
$charf-verschwommen -0.866 0.913 0.823 0.102 -0.527 nb nb
stabll-instabil -0.911 0.068 -0.600 nb nb
kontrolliert-unkontrolliert -0.909 0.056 -0.63 ~ nb nb
angenehm-unangenehm -0.894 0.038 -0.695 nb nb
massiv-hohl -0.913 0.077 -0.607 nb nb
direkt-indlrekt -0.732 0.005 -0.6-49 nb nb
spananisch-luxuriOs 0.870 0.005 0.621 nb nb
vertnut·fremd -0.862 -0.01-4 -0.686 nb nb
billig-gediegen 0.877 -0.911 -0.796 -0.123 0.605 nb nb
Auffallig ist, dass die Werte fiir die Bander 1 und 2 durch die Relativmethode jeweils umgekehrte Vorzeichen haben. Die nach der Relativmethode ermittelten Werte sind Indikatoren dafiir, wie stark ein gewahltes Frequenzband in der Gesamtbewegung auffallt. Die Probanden fiihlten sich gest6rt, wenn Bewegungen im zweiten Frequenzband einen groBen Anteil der Gesamtbewegung ausmachen. Bewegungen in diesem Frequenzband sind visuell gut diskriminierbar.
14.5 Psychophysische Untersuchung des Zitterns
1m zweiten Teil der Studie wurden auf einer Hydropulsanlage die taktile und visuelle Wahmehmung des Zittems unter Laborbedingungen untersucht. Mit der aus der Psychophysik stammenden Methode der direkten Gr6Benschatzung nach Stevens (1975) wurde in jeweils zwei Frequenzbandem fiir die taktile Wahmehmung von Zittem am Lenkrad und die visuelle Wahmehmung von Zittem im Riickspiegel der Zusammenhang von Anregungsstarke und Empfindungsstarke ermittelt.
240 14 Subjektive Bewertung von Zittervorgangen
16 Probanden nahmen an der Untersuchung teil. Die Anregungssignale waren Sinus-Sweeps in den Frequenzbandern 15-22Hz und 22-30Hz fUr die taktile Wahrnehmung am Lenkrad sowie 15-19Hz und 19-22Hz fUr die vi sue lIe Wahrnehmung im Riickspiegel. In jedem Frequenzband wurden fUnf Signalstarken so gewahlt, dass die Unterschiede klar iiberschwellig waren. Angeregt wurde das rechte Hinterrad. Jedes Signal wurde den Probanden dreimal eingespielt. Fiir jeden Probanden wurde der individuelle Mittelwert der Schatzungen pro Signal berechnet und in den weiteren Analysen verwendet.
Abbildung 14.3a zeigt die Mediane der GroBenschatzung fUr das Lenkradzittern bei Anregung im Frequenzband 15-22Hz sowie die Kurvenanpassung mit einer Potenzfunktion mit dem Exponenten 1,0868. Die aufgeklarte Varianz durch die Potenzfunktion betragt 97,4%. Die Abb. l.3b zeigt die Mediane der GroBenschatzung fUr das Spiegelzittern bei Anregung im Frequenzband 15-19Hz sowie die Potenzfunktion mit einem Exponenten von 2,7090. Die Varianzaufklarung betragt hier 98,3%.
20
18
M 16 r::::
~ 14 :ol
-5 12 '" r:::: ~ 10 :0
~ 8
6
4
2
Lenkrad
./ ./
/ /.
L /
!
00 0,5 1,5 2 Beschleunigung [m/s2]
(a)
20
18
M 16 r::::
~ 14 :ol
-5 12 '" r:::: ~ 10 :0
~ 8
6
4
2
Spiegel
• empirisch - Potenzfunktion
.j
/ / t I
J I
0,5 I Beschleunigung [m/s2]
(b)
Abb. 14.3 GroBenschatzung des Zittems: (a) taktil am Lenkrad im Frequenzband IS-22Hz (b) visuell im Spiegel im Frequenzband IS-19Hz sowie Kurvenanpassungen mit Potenzfunktionen
Die psychophysischen Untersuchungen des Zitterempfindens ergaben fUr die taktile Wahrnehmung eine nahezu lineare Beziehung zwischen der Anregungsstarke und der empfundenen Starke des Zitterns. Dagegen wurde bei der visuellen Einschatzung des Zitterns im Spiegel fUr das niedrigere Frequenzband (15-19 Hz) eine wesentliche hOhere Differenzierungsfahigkeit der Anregungsstarke gefunden. Wir errnittelten eine exponentielle Beziehung mit einem Exponenten von 2,7. Offensichtlich ist das menschliche Auge fUr Zittern in diesem Frequenzband hochgradig sensibel. Die Kurvenanpassungen sind durchweg mit hoher Varianzaufklarung gelungen.
14.6 Kornfortsirnulation 241
14.6 Komfortsimulation auf der Basis der Kundenbedurfnisse
Die von den Probanden abgegebenen mittleren GroBenschatzungen des Zittems am Spiegel und am Lenkrad konnten durch eine einfache Umrechnung in das von MAGNA-Steyr (MSE) eingefuhrte Zitter-Rating iiberfuhrt werden. Die Analyse der Messfahrten ergab, dass Amplituden ab O,5mJs2 von typischen Kunden bemerkt werden. Dieser Amplitude konnte daher das MSE-Rating von 7,5 zugeordnet werden. Abbildung 14.4 zeigt die Beziige nach der Transformation.
10 10 -9
8
7 t)O c 6 '4:1
'" ex: 5 w
'\ I\. '\
I\. I-
~ ,. \
9
8
7 t)O c
6 '4:1
'" ex: 5
w
" r. \ '\ ,~
Vl 4 L
3
2
.~
~
Vl 4 L 3
2
I" \
o 0 0 .5 I 1.5 2 0 0 0 .25 0.5 0.75 Amplitude [m/s2] Amplitude [m/s2]
[ - Anpa::..:ss:..::u.:..:lng'L-_ .=---=e.:.:.m:..cp.:.:.ir_is-'-ch.....J1
(a) Lenkrad (b) Ruckspiegel
Abb. 14.4 Beziige zwischen Schwingungsarnplituden des Zittems (a) am Lenkrad, (b) irn Spiegel zurn MSE-Zitterrating.
Abbildung 14.5 zeigt die fur ein vollstandiges Fahrzeugmodell zur Simulation von komfortrelevanten Vibrationen benotigten Teilmodelle. Die Teilmodelle wurden in einem ADAMS-Modell zusammengefugt (Wolauschegg, 2001). Das vollstandige Fahrzeugmodell wurde auf einem Hydropuls sowie durch Messungen beim Oberfahren eines Hindemisses validiert. Die typischen Effekte, die bei Versteifung eines Fahrzeuges festgestellt werden, konnten bei Simulationen einer Hydropulsanregung gut nachgebildet werden: Die Schwingfrequenz steigt bei der steiferen Variante der Karosserie und die Amplitude am Komfortpunkt nimmt dabei aufgrund der Oberlagerung von Fahrwerks- und Karosserieresonanzen zu. Der Vergleich des simulierten und gemessenen Beschleunigungsspektrums an der Windschutzscheibe beim Oberfahren eines Hindemis ergab eine gute Ubereinstimmung im Frequenzbereich bis etwa 25Hz, der fur die Komfortbeurteilung
242 14 Subjektive Bewertung von Zittervorgangen
relevant ist. Die Details der Validierungsstudien werden bei Fankhauser et al. (200 I) berichtet.
FEM Body
Abb. 14.5 Hybrides Finite-Elemente- und Mehrkorpersystem-Modell fur die Komfortsimulation von Vibrationsphanomenen.
Abb. 14.6 Vibrodummy bei einer Eigenfrequenz von 10Hz
In weitergehenden Untersuchungen wird das Komfortphanomen Stuckern analysiert. Beim Stuckem handelt es sich urn Vibrationen im Frequenzbereich urn 10-15Hz durch Schwingungen des Aggregats in seiner Aufhangung. Es ubertragt sich meist durch vertikale Schwingungen des Sitzes auf den Korper des Fahrers. Es zeigte sich, dass Fahrer das Stuckem nicht nur als Schwingung der Fahrzeugstruktur wahmehmen, sondem auch als Bewegungen des eigenen Korpers. Auch diese bedarf der Simulation, urn eventuelle Komfortbeeintrachtigung erfassen zu konnen. Fur die Korperbewegungen wurde ein sog. Vibrodummy entwickelt, der einen sitzenden Fahrer mit den Handen am Lenkrad reprasentiert. Er wurde speziell darauf optimiert, Schwingungen in niedrigen Frequenzen urn 10Hz nachzubilden und besteht aus 14 Massen mit 15 Dampfungselementen (Abb. 14.6)
Literatur 243
Die Korrelationen subjektiver und objektiver ZittermaBe und die Empfindlichkeitsstudien fur Zittern im Hydropuls bieten zusammen mit dem hybriden Fahrzeugmodell die Grundlage, urn Komfortbeeintrachtigung durch Zittern in sehr friihen Entwicklungsphasen von Fahrzeugen vorherzusagen. Die Integration des Vibrodummys wird es erlauben, das Zittermodell zu einem umfassenden vibroakustischen Komfortmodell zu erweitern.
Oanksagung
Die Konzeption der in diesem Kapitel dargestellten empirischen Untersuchungen ist ganz wesentlich von Prof. Dr.-Ing. Hans-Peter Willumeit beeinflusst. Seine Zuversicht, dass die Zusammenarbeit von Ingenieuren und Humanwissenschaftlern fruchtbar sein wiirde, war nicht zu erschiittern. Als er bereits schwer erkrankt war, hat er die in Zusammenarbeit von MAGNA-Steyr Engineering und der Kolrep-Rometsch Unternehmensberatung durchgefuhrten Studien unterstiitzt und ermutigt.
Karl Leiter und Klaus Kauermann von MSE/EEN haben nicht nur durch ihr umfassendes Wissen iiber Komfort zum Gelingen der Untersuchungen beigetragen. Die Simulationen waren ohne die Erfahrung und die Ideen von Dr. Riepl und die Modellierungsarbeit von Stefan W olauschegg und Bernd Kastreuz nicht moglich gewesen.
Literatur
Fankhauser, C.; Riepl, A. & Wolauschegg, S. (2001). Simulation of Vibrational Driving Comfort Criteria. MAGNA Steyr Engineering, Symposium "Computersimulation in der Fahrzeugtechnik" (FH-Zentrum, Graz-West, 25. April). Graz
Helander, M.G. & Zhang, L. (1997). Field studies of comfort and discomfort in sitting. Ergonomics, 40 (9), 895-915
Kuwano, S.; Namba, S.; Hato, T.; Matui, M.; Miura, K. & Imai, H. (1994). Psychologische Bewertung von Uirm in Personenwagen: Analyse nach Nationalitat, Alter und Geschlecht. ZeitschriJt fur Liirmbekiimpfung, 41, 78-83
Osgood, C.E. (1952). The nature and measurement of meaning. Psychological Bulletin, 49, 197-237
Osgood, C.E.; May, W.H. & Miron, M.S. (1975). Cross-Cultural Universals of Affective Meaning. Urbana: University of Illinois Press
Osgood, C.E.; Suci, G. & Tannenbaum, P. (1957). The Measurement of Meaning. Urbana: University of Illinois Press
Schafer, B. (1983). Semantische Differential-Technik. In H. Feger & 1. Bredenkamp, Datenerhebung (154-211) (Enzyklopadie der Psycho logie, Themenbereich B, Serie I, Band 2). Gottingen: Hogrefe
Stevens, S.S. (1975). Psychophysics. New York: Wiley
244 14 Subjektive Bewertung von Zittervorgiingen
Takao, H. & Hashimoto, T. (1994). Die subjektive Bewertung der Innengeriiusche im fahrenden Auto - Auswahl der Adjektivpaare zur Klangbewertung mit dem Semantischen Differential. Zeitschrifl for Liirmbekiimpfung, 41, 72-77
Turner, M. & Griffin, M.l (1999). Motion sickness in public road transport: the effect of driver, route and vehicle. Ergonomics, 42 (12), 1646-1664
Wolauschegg, S. (2001). Hybrides Fahrzeugmodell mit Koppelung von MehrkorpersystemFahrwerk und Finite-Elemente-Karrosserie zur Beschreibung des Phiinomens Zittern. (Diplomarbeit bei Magna-Steyr Fahrzeugtechnik), Graz
Zhang, L.; Helander, M.G. & Drury, C.G. (1996). Identitying Factors of Comfort and Discomfort in Sitting. Human Factors, 38 (3),377-389
15 Bewertung von Handlingeigenschaften -zur methodischen und inhaltlichen Kritik des korrelativen Forschungsansatzes
Hans-Peter KrUger und Alexandra Neukum
15.1 Grundfrage und Forschungsstand
Die Frage des Zusammenhangs zwischen Fahrerurteil und "objektiven", d.h. physikalischen KenngroBen, ist seit Jahrzehnten Forschungsgegenstand auf dem Gebiet der Fahrdynamik. Seit den 60er Jahren finden sich intensive Bemiihungen, das Subjektivurteil, das nach wie vor unbestritten das wichtigste Kriterium zur ,,Feinabstimmung der Fahreigenschaften und Anpassung des Fahrzeugs an den Menschen" (Zomotor, 1991) ist, durch physikalisch messbare, objektive KenngroBen des Fahrverhaltens zu erganzen bzw. auch zu ersetzen.
Die zu dieser Thematik durchgefUhrten Studien verfolgten unterschiedliche Zielsetzungen, z.B. die Normierung von Testverfahren, die Objektivierung und Standardisierung der Beurteilungsmethodik oder den Vergleich von KenngroBen aus Open-loop-Messungen mit Ergebnissen aus Untersuchungen im geschlossenen Regelkreis (z.B. Willurneit u.a., 1991). Mittlerweile liegt eine Vielzahl von Testverfahren zur Beurteilung fahrdynamischer Merkmale von Pkw vor (im Oberblick hierzu Zomotor u.a., 1997/98). Bei all diesen Tests, die zum Teil einer intemationalen Normung unterzogen wurden, handelt es sich jedoch ausschlieBlich urn Open-loop-Methoden, in denen definierte fahrphysikalische Messungen ohne Fahrereinfluss vorgenommen werden.
Die von Ronitz (1986) gegebene Zusammenfassung der Resultate umfangreicher Versuchsreihen der 70er Jahre kennzeichnet damit auch heute noch treffend den aktuellen Forschungsstand: ,,Dieser erste Ausjlug in den Bereich der geschlossenen Regelkreisbetrachtungen hat das SC9 13 in der Erkenntnis bestiirkt, moglichst nur noch offene Regelkreisverfahren so lange weiter zu verfolgen, bis bessere Erkenntnisse fiber den Fahrer vorliegen. "
Bis dato besteht im Gegensatz zu Open-loop-Manovem weitgehend Unklarheit iiber die Relevanz verschiedener Bewertungskriterien fUr den geschlossenen Regelkreis. Beziiglich der aus den Zeitverlaufen fahrdynamischer MessgroBen zu extrahierenden Parameter kam es bislang nicht zu einer Einigung. Trotz intensiver Bemiihungen ist weiterhin nur ein geringer Standardisierungsgrad erreicht. Beispielhaft wurden fUr den doppelten Fahrspurwechsel, urn den wichtigsten Vergleichstest anzufUhren, bisher lediglich die Streckenabmessungen in den Normvorschriften (ISO/DIS 3888, 1997) festgelegt. Einer Normierung stehen nach ISO-
13ISO-Komitee TC 22/SC9 "Vehicle Dynamics and Road Holding Ability".
246 15 Bewertung von Handlingeigenschaften
Kommentar vor allem drei wesentliche Probleme entgegen: zum Einen die geringe Validitat und Reliabilitat fahrphysikalischer KenngroBen, weiter die zur subjektiyen Beurteilung eingesetzten Skalierungsverfahren und insbesondere der starke Fahrereinfluss auf das Ergebnis der Messung.
Zum Fortschritt der Erkenntnisse, den die bisherigen Ansatze erbracht haben, finden sich in der Literatur sehr unterschiedliche Meinungen. Wahrend z.B. Jiirgensohn (1997) der Auffassung ist, die Bemiihungen seien als "gescheitert" zu betrachten, vertreten Zomotor u.a. (1998) in einem Resiimee des derzeitigen Forschungsstands eine sehr viel positivere Ansicht. Dieser unbefriedigende Erkenntnisstand steht in Kontrast zur zunehmenden Dringlichkeit der Frage nach den Zusammenhiingen zwischen subjektiven und objektiven Kriterien, die sich aus der steigenden Bedeutung geregelter Fahrwerks- und Antriebssysteme (z.B. Braess u. Seiffert, 2000, Reichelt u. Strackerjan, 1992) sowie aus dem Bestreben ergibt, Bewertungskriterien rur die Ergebnisse aus der Fahrsimulation und der Fahrermodellierung zu gewinnen (vgl. auch Willumeit u. liirgensohn, 1997).
Wenn nach dreiBig lahren Forschung eine Frage immer noch so unentschieden ist, wie die nach der Objektivierung subjektiver Fahreindriicke, sei es erlaubt, sich noch einmal in sehr einfachen Schritten das Zie1 dieser Forschung zu erarbeiten. Dabei kommt den Grundannahmen des methodischen Zugangs zu dieser Fragestellung besondere Bedeutung zu. Etabliert hat sich auf diesem Gebiet ein Untersuchungs- und Auswertungsansatz, der iiber Korrelations- und Regressionsanalysen eine direkte Verkniipfung zwischen objektiven und subjektiven Kriterien sucht (vgl. z.B. Bergman 1973, 1978).
Die grundsatzliche Fragestellung des "Subjektiv-Objektiv"-Ansatzes lautet: Gibt es ein fahrdynamisches Merkmal 0, dessen Variation bei gleichbleibender Fahrsituation die Variation der subjektiven Bewertung s bestimmt? Idealiter wird modellhaft ein Zusammenhang s = f(o) unterstellt, der rur aile Fahrer ge1ten soil. Mit der Entscheidung rur einen korrelativen Ansatz geht gleichzeitig die Annahme ein, dass der funktionale Zusammenhang linearer Natur ist, da nur ein solcher erschOpfend von der Korrelation dargestellt werden kann. 1m Folgenden wird dargestellt, welche Voraussetzungen auf der inhaltlichen Seite gemacht werden miissen, damit der iibliche Untersuchungsansatz - unter der Annahme der Giiltigkeit der Hypothese, dass s mit 0 iiber eine Korrelation verkniipft sind - iiberhaupt in der Lage ist, diesen Zusammenhang nachzuweisen.
15.2 Zum Verstandnis von Korrelation und Regression
Die Werte einer Messwertreihe werden iiblicherweise als Xi bezeichnet, ihr Mittelwert als mx und ihre Standardabweichung als sx. Durch Lineartransformation in derForm
(X; -a) z - mit a = mx und b = Sx ;- b (15.1)
15.2 Zum Verstiindnis von Korrelation und Regression 247
erhiilt man standardisierte Messwerte mit dem neuen Mittelwert m' = 0 und der neuen Standardabweichung s' = 1. Diese Lineartransformation ist erlaubt, wenn die Messwerte mindestens auf Intervallniveau skaliert sind (d.h. Differenzen zwischen Messwerten bedeutsam sind). Die Korrelation ist definiert als
(15.2)
und stellt damit nichts anderes dar als das mittlere Kreuzprodukt aus den standardisierten Variablen x und y. Der Korrelationskoeffizient kann folglich auch geschrieben werden als
(15.3)
Aus dieser Definition des ZusammenhangsmaBes ergeben sich sofort einige Besonderheiten:
• 1st eine der beiden Standardabweichungen Sx oder Sy Null, ist der Korrelationskoeffizient nicht definiert. Die Messwertreihen miissenjeweils Varianz enthalten.
• Die Korrelation zwischen Originalwerten und lineartransformierten Werten ist identisch, da in die Korrelationsberechnung nur standardisierte Werte eingehen.
• Da die Korrelation nur den Zusammenhang zwischen standardisierten GroBen betrachtet, resultiert als weitere Besonderheit des korrelationsstatistischen Ansatzes: Die Korrelation ist eine dimensionslose GroBe und kann daher nur iiber die Enge eines Zusammenhangs Aussagen machen.
Sehr hiiufig wird auch ein regressionsanalytischer Ansatz verfolgt, der versucht, aus den fahrdynamischen GroBen 0 als Pradiktoren die subjektiven GroBen s als Priidikanden "vorherzusagen". Benutzt wird dazu die lineare Modellgleichung der Form s = a ·0 + b. Gehen mehrere fahrdynamische GroBen als Pradiktoren ein, resultieren multiple Regressionen. Die Regression von x auf y versucht, die Messwerte y als lineare Funktion der Werte von x auszudriicken, lasst also nur Abweichungen empirischer y-Werte von vorhergesagten Werten zu. Aus diesem Grunde resultiert auch eine andere Regressionsgleichung, wenn von y auf x geschlossen wird, die Abweichungen also in x-Richtung zugelassen werden Bei der Regression bleiben die Dimensionen und Einheiten der beteiligten Variablen erhalten. Z-standardisiert man die beteiligten Variablen, entstehen dimensionslose GroBen Zx und Zy. Die Regressionsgleichung von x aufy wird in diesem Fall zu:
z z =r z bzw z =~ y xyx ·x
rxy
(15.4)
Aus diesen Definitionen geht hervor, dass die folgenden Uberlegungen der inhaltlichen Voraussetzungen bei der Uberpriifung eines korrelativen Modells auch flir den regressionsanalytischen Ansatz gelten.
248 15 Bewertung von Handlingeigenschaften
15.3 Der korrelative Ansatz in der Handlingforschung
Prinzipiell muss die Entstehung eines fahrdynamischen Merkmals 0 aus der Interaktion zwischen Fahrzeugvariante V, Fahrsituation S und Fahrer F begriffen werden, so dass 0 = j(V,S,F) ist. In den tiblichen Versuchsanordnungen werden aber lediglich zwei dieser Dimensionen thematisiert, niimlich V und F. Dies geschieht etwa so, dass eine Gruppe von Fahrem eine bestimmte Fahraufgabe mit verschiedenen Fahrzeugvarianten absolviert. Eine solche Anordnung ist daher nur insoweit bedeutsam, als es gelingt, die Fahrsituation S konstant zu halten (ceteris paribusBedingung). Dies wird tiblicherweise dadurch erreicht, dass der Fahrversuch so weit wie moglich standardisiert wird (etwa: gleiche Abmessungen, gleiche Geschwindigkeiten).
1m Versuch geben die Fahrer Fi mit i = 1, 2, ... , n tiber die Varianten Vj mit} =
1,2, ... , k jeweils subjektive Urteile sij ab, die den objektiven Messgr6Ben oij gegentiber gestellt werden. Das Ergebnis ist eine Datenmatrix der folgenden Form (Tabelle 15.1):
Tabelle 15.1 Allgemeiner Autbau der Datenmatrix
I 2 3 4 5 6 7
2 Variante I Variante 2 Variante 3 Mittel
3 Fahrer 5ubj obj 5ubj obj 5ubj obj 5ubj obj
4 FI 511 011 521 021 531 031 r(5F I of I) 51. 01.
5 F2 512 012 522 022 532 032 r(5F20F2) 52. 02.
6 F3 513 013 523 023 533 033 r(5F30F3) 53. 03.
7 r(5VloVI) r(5V20V2) r(5V30V3) r(5FAoFA)
8 Mittel 5.1 0.1 5.2 0.2 5.3 0.3 r(5VAoVA) 5 .. 0 ..
9 aile r(5VoV)
In dieser Matrix steht s fUr subjektive Bewertung, 0 fUr objektiven Kennwert, der erste Index i bezeichnet den Fahrer, der zweite Indexj die Variante. Offensichtlich k6nnen eine ganze Reihe von "Subjektiv-Objektiv"-Korrelationen berechnet werden:
1. die Korrelationen tiber die Fahrer innerhalb jeder Variante r(sVpVj) in Zeile 7, 2. die Korrelation der Subjektiv-Mittelwerte pro Variante mit den Objektiv
Mittelwerten pro Variante in Zeile 8, gekennzeichnet als r( s VA OVA), 3. die Korrelation innerhalb jeden Fahrers, gekennzeichnet als r(sFjoFj) in der
SpaJte 6, 4. die Korrelation tiber aIle Subjektiv-Objektiv-Messwertpaare r(sVoV) in Zeile
9 und schlieBlich
15.3 Der korrelative Ansatz in der Handlingforschung 249
5. die Korrelation der Subjektiv-Mittelwerte eines Fahrers tiber alle Varianten mit den entsprechenden Objektiv-Mittelwerten tiber alle Varianten in Spalte 7, gekennzeichnet als r(sF AoF A).14
Wie ist die eingangs gestellte Fragestellung zu priifen? Als Voraussetzung geht ein, dass die Fahrversuche in gleichbleibender Fahrsituation stattfinden. In strenger Form wiirde dies bedeuten, dass innerhalb einer Variante die fahrdynamische GroBe nicht variiert, mithin die Varianz Null wird. Dies ware der Fall im Openloop-Manover mit einem lediglich beurteilenden, aber nicht selbst handelnden Fahrer. Unter den weiteren Voraussetzungen, dass alle Fahrer ein gemeinsames Urteilsbezugssystem haben und die Varianten sich unterscheiden, mtisste eine Matrix der folgenden Form (Tabelle 15.2) entstehen: 15
Tabelle 15.2 Datenmatrix unter der Voraussetzung von Variantenunterschieden sowie eines gemeinsamen Urteilsbezugssystems
I 2 3 4 5 6 7
2 Variante I Variante 2 Variante 3 Mittel
3 Fahrer subj obj subj obj subj obj subj Obj
4 FI I 10 2 20 3 30 r = 1.00 2 20
5 F2 I 10 2 20 3 30 r = 1.00 2 20
6 F3 I 10 2 20 3 30 r = 1.00 2 20
7 r = n. d. r = n. d. r = n. d. r = n. d.
8 Mittel I 10 2 20 3 30 r = 1.00 2 20
9 aile r = 1.00
Unter diesen Voraussetzungen ergeben eine ganze Reihe von Korrelationen keinen Sinn. Die Korrelationen der Zeile 7 sindjeweils nicht definiert, da keine Varianz vorliegt. Ebenso ist die Korrelation in Spalte 7 nicht definiert (n. d.), da im Mittel alle Fahrer die gleiche Variantenbewertung und den gleichen Kennwert haben. Die Korrelationen der Spalte 6 sind jeweils identisch (hier r = 1), da keine Fahrerunterschiede vorliegen. Das heiBt, der Mittelwert der individuellen Korrelationen r(sFioFi) in Spalte 6 entspricht genau der Korrelation der Mittelwerte r(sVAoVA) in Zeile 8. Ftir die Korrelation tiber aIle Messwertpaare ergibt sich unter den vorliegenden Bedingungen ebenfalls ein Koeffizient von 1.
14Dieser fur die Praxis nicht relevante Fall sei lediglich aus Grunden der Vollstandigkeit aufgefuhrt.
15Die in der Tabelle aufgefiihrten Zahlenwerte sind willkurlich. Aus den weiteren Darstellungen wird ersichtlich, dass start der hier gewahlten Werte auch so1che verwendet werden konnen, die sich aus Lineartransformationen dieser Werte ergeben, ohne dass der Inhalt der Aussagen dadurch verandert wfude.
250 15 Bewertung von Handlingeigenschaften
Weiter wird aus der Tabelle deutlich, dass die individuellen Korrelationen in Spalte 6 nur definiert sind, wenn sowohl in der Variantenbeurteilung wie in den Variantenkennwerten pro Fahrer Varianz enthalten ist. Notwendige Voraussetzung flir das Entstehen von Individualkorrelationen ist deshalb, dass die Fahrer die Unterschiede in den Varianten "herausfahren", urn sie dann auch beurteilen zu kannen.
Es sei angemerkt, dass ublicherweise eine Vielzahl von objektiven Parametern bestimmt wird, ebenso der Fahreindruck uber mehrere Urteilsskalen erhoben wird. Haufig entsteht der Eindruck, dass bei der Auswahl der MessgraBen nach dem "Schrotschuss-Prinzip" vorgegangen wird, ohne dass inhaltliche Hypothesen bestehen, welche Variablen denn einschlagig sein kannten.16 Der Preis einer solchen hypothesenfreien Vorgehensweise ist eine Vielzahl von Korrelationen innerhalb der objektiven und subjektiven Messwerte, die erhebliche Probleme bei der Auswahl der relevanten GraBen stellen. Fur die Betrachtung der Voraussetzungen eines korrelativen Ansatzes ergeben sich daraus keine substantiell neuen Fragen, weswegen hier von einer Diskussion dieser V orgehensweise abgesehen wird.
Beim jetzigen Stand der Betrachtung sind deshalb nur die Korrelationen in Spalte 6 bzw. Spalte 9 flir die Priifung der Modellannahme bedeutsam, wonach zwischen objektiven und subjektiven GraBen ein linearer Zusammenhang besteht. Die der Modellrechnung zu Grunde liegenden Annahmen sind jedoch unrealistisch. Aus der Urteilspsychologie ist bekannt, dass die auBerlich gleiche Urteilsskala sehr unterschiedlich benutzt wird (eine immer noch gultige Darstellung dieser Effekte findet sich bei Guilford, 1954, 302 ff.).
Fahrer unterscheiden sich sowohl in ihrem Einstiegsniveau auf der Skala als auch in der Art, wie sie Unterschiede ausdriicken. Es gibt eine Vielzahl von Versuchen, diese Effekte zu minimieren, etwa dadurch, dass man die Skalenpunkte "verankert". Dies geschieht etwa bei der in der Fahrzeugforschung we it verbreiteten 10-Punkte-Skala, deren Stufen durch verbale Beschreibungen etikettiert werden und damit gemeinsame "absolute" Standards setzen sollen. Sehr haufig tritt jedoch der Fall auf, dass Fahrer eine gegebene Skala nur komparativ verwenden, so dass die Skalenbreite dazu eingesetzt wird, die in einem Versuch vorgefundenen Unterschiede zwischen Varianten maximal abzubilden. Andererseits verrneiden einige Urteiler, extreme Urteile zu verwenden und halten sich - vor allem bei Mehrfachurteilen - die Skalenenden frei, urn noch Raum flir kunftige extremere Varianten zu haben. Insgesamt hat dies in der Urteilspsychologie dazu geflihrt, regelhaft - auBer in hochkontrollierten psychophysischen Untersuchungen - die Urteile auf einen individuellen Standard zu beziehen. Dies geschieht entweder
16Diese Hypothesenfreiheit ist vor aHem unter dem Gesichtspunkt verwunderlich, dass es sich bei einem Fahrzeug urn ein in weiten Teilen berechenbares Instrument handelt, mithin auch klar sein miisste, we1che GraBen bei welchem Manaver relevant sind. Wenn trotzdem eine Vie1zahl von Kennwerten - und vor aHem auch noch abgeleitete GraBen aus diesen Kennwerten - eingefuhrt werden, kann dies eigentlich nur bedeuten, dass im Gegensatz zum Fahrzeug keine Hypothesen dariiber bestehen, welche GraBen fur den Fahrer relevant sind. Welche Drehbeschleunigungen, welche Momente werden vom Fahrer wie wahrgenommen? - solange fur Fragen dieser Art keine Antworten vorliegen, ist die Auswahl der einschHigigen Parameter weitgehend be1iebig.
15.3 Der korre1ative Ansatz in der Handlingforschung 251
dadurch, dass man die Urteile als Differenz zum individuellen Urteilsmittelwert ausdriickt oder sie individuell z-standardisiert.
Ais weitere Modellannahme geht bis jetzt ein, dass die fahrdynamischen GroBen innerhalb einer Variante nicht variieren. Das Verlassen dieser Annahme ist der eigentliche Dbergang yom Open zum Closed-loop. 1m geschlossenen Regelkreis wird es dem Fahrer durch seine Bedienhandlung ermoglicht, in der identischen Variante bei sonst gleichen Bedingungen unterschiedliche fahrdynamische GroBen zu erzeugen. Beispielhaft kann dies dadurch geschehen, dass ein Fahrer mit heftigen Lenkbewegungen stets groBere Querbeschleunigungen erzeugt als ein Fahrer mit sanftem Lenken. Unterstellen wir der Einfachheit halber, dass dieser Fahrereinfluss sich als lineare Transformation der Open-Ioop-Kennwerte darstellt, so ware er durch z-Standardisierung der individuellen Kennwerte wieder zu eliminieren. 17
Unter realistischen Bedingungen muss also damit gerechnet werden, dass sowohl auf Seiten der Urteile wie auf der der Kennwerte fahrerspezifische Effekte aufireten, die sich darin ausdriicken, dass pro Fahrer die Urteils- und Messwerte linear transformiert werden miissen. Es gelte weiterhin die Modellannahme, dass zwischen objektiven und subjektiven Werten eine lineare Beziehung herrsche. Die Auswirkung dieser neuen Annahmen auf die Korrelationsbetrachtung wird deutlich, wenn beispielhaft folgende Transformationen eingefiihrt werden:
Fahrer 1: s' = s, 0' = 0 (keine Transformation) Fahrer 2: s' = s + 3, 0' = 1.50 + 1 Fahrer 3: s' = 3s + 1,0' = 0.50 + 4
Daraus folgert dann die Form von Tabelle 15.3. Durch diese Transformationen treten bei den Korrelationen innerhalb der Varianten (Zeile 7) Werte auf, die sehr heterogen und deutlich von Null verschieden sind. Sie andem sich, wenn andere Transformationen gewahlt werden und sind deshalb offensichtlich von den Transformationsparametem abhangig. Diese stell en inhaltlich Beschreibungen der Urteils- und Fahrsystematik der einzelnen Fahrer dar und hangen deswegen vollstandig von den Eigenschaften der untersuchten Fahrer abo Foiglich sind sie durch die Zusammenstellung der untersuchten Fahrergruppe (also durch eine Intervention des Untersuchers!) auch direkt in ihrer Hohe beeinflussbar.
Wenn - wie etwa bei Riedel u. Arbinger (1997, 2000) - Items wie "Das Fahrzeug schleudert" eingefiihrt werden, die untersuchten Normalfahrer sich aber gar nicht in diesen fahrdynamischen Grenzbereich begeben, resultiert eine IntraVarianten-Korrelation von Null. Wiirde die Untersuchung nur an einer Gruppe von Testfahrem durchgefiihrt, die das Fahrzeug im Grenzbereich bewegen, wiirde bei allen Schleudem auftreten und wiederum ware die Intra-Varianten-Korrelation Null. Fiigt man beide Gruppen in einer gemeinsamen Auswertung zusammen, resultiert eine hohe Korrelation, die nur auf der Auswahl der Personen beruht, aber
17Diese Annahrne ist vor aHem dann problematisch, wenn in die Untersuchung fahrdynamische Grenzbereiche einbezogen werden, in denen sich das Fahrzeug nicht mehr linear verhiilt. Methodisch bedeutet dies, dass die lineare Korre1ation die entstehende fahrdynamische Funktion nicht mehr erschopfend abbilden kann.
252 15 Bewertung von Handlingeigenschaften
sonst keine inhaltliche Bedeutung hat (HeterogeniHitskorrelation). Korrelationen innerhalb von Varianten sind daher nicht geeignet, die Hypothese eines linearen Zusammenhangs zwischen objektiven und subjektiven GraBen zu iiberpriifen.
Tabelle 15.3 Datenmatrix nach linearer Transformation der subjektiven und objektiven Werte.
I 2 3 4 5 6 7
2 Variante I Variante 2 Variante 3 Mittel
3 Fahrer subj obj subj obj subj Obj subj obj
4 FI I 10 2 20 3 30 r = 1.00 2 20
5 F2 4 16 5 31 6 46 r = 1.00 5 31
6 F3 4 9 7 14 10 19 r = 1.00 7 14
7 r = 0.38 r = -0.24 r = -0.48 r = -0.24
8 Mittel 3.00 11.67 4.67 21.67 6.33 31.67 r = 1.00 4.67 21.67
9 aile r = 0.19
Wie Spalte 6 zeigt, hat sich durch die Transformation auf Seiten der Individualkorrelationen wie bei der Korrelation der Mittelwerte (alles Spalte 6) nichts verandert. Das heiBt, dass der den Ausgangsdaten unterstellte line are "SubjektivObjektiv"-Zusammenhang unter den bisherigen Annahmen unbeeinflusst davon ist, (1) welche fahrdynamischen Bereiche ein Fahrer realisiert und (2) welche Urteilsbereiche er wahlt, solange sich beides als lineare Transformation darstellt. Das heiBt, dass ein Ergebnis der in der Abb. 15.1 (a) dargestellten Art unter korrelativer Betrachtung eine Bestatigung der Ausgangshypothese darstellt, wonach die Bewertung eine line are Funktion der fahrdynamischen GraBen ist.
Es ist zu beachten, dass diese Aussage nur gilt, wenn unter den angegebenen Bedingungen die Korrelationen pro Fahrer gerechnet und dann gemittelt werden oder wenn pro Variante die Mittelwerte fur subjektive und objektive Werte berechnet und dann diese Mittelwerte miteinander korreliert werden. Korreliert man direkt die einzelnen Wertepaare der Fahrer iiber alle Varianten (Zeile 9), erhalt man die Abb. 15.1 (b) mit einer Korrelation von r = 0.19. Auch diese Korrelation ist direkt von der Art der linearen Transformation abhangig, die man einfuhrt.18
18Ein 1ihnliches Vorgehen ist bei Zomotor (1991, S. 229) zu tinden. Zuerst wird tiber eine multiple Regression bestimmt, welche Linearkombination fahrdynamischer Werte am besten das Urteil erkl1irt. Dann wird pro Variante der Urteilsmittelwert bestimmt und tiber diesem werden dann die fahrdynamischen Kennwerte abgetragen. Uber die Punkteschar wird dann eine Regression berechnet, die den Zusammenhang objektiv-subjektiv belegen soil. Der deutliche Anstieg der Regressionsgeraden sagt aber nichts anderes aus, als dass die multiple Regression in der Lage war, einen Teil der Urteilsvarianz zu erkl1i-
15.4 Die Bereichsabhiingigkeit der Priifung 253
Das heiBt, die bisher aufgeftihrten Restriktionen des korrelativen Ansatzes gelten in gleicher Weise fUr den Regressionsansatz, der haufig auf der Suche nach einer "allgemeinen Handlingformel" angewendet wird.
o~--~----~--~------~
(a) 0 I 0 20 30 40 50 Kennwerte objektiv
10.----.------------~----. t>O c:
f 8 Q)
~ 6 '" ~ 4'==-""-~ E2 ::J en o~--~--~~--~------~
(b) 0 10 20 30 40 50 Kennwerte objektiv
Abb. 15.1 Individualkorre1ationen (a) und Korrelation iiber alle Varianten (b)
15.4 Die Bereichsabhangigkeit der Prufung
Dass die dargestellte Abhiingigkeit von Regression und Korrelation von der Art der linearen Transformationen nicht nur eine statistische Spielerei ist, sondem fUr die Frage der Zusammenhange zwischen subjektiven und objektiven GraBen im Fahrversuch relevant ist, belegen Untersuchungsergebnisse, die wir bei der Uberpriifung der Wahmehmbarkeit und der Bewertung der Aktiven HinterachsKinematik (ARK, vgl. z.B. Donges, 1993) im doppelten Fahrspurwechsel erhielten (Neukum u.a., 2001).19 Die ARK erzeugt Hinterachslenkwinkel in Abhiingigkeit von Fahrgeschwindigkeit und Lenkradwinkel. Das Ergebnis ist, dass unter sonst gleichen Bedingungen geringere Giergeschwindigkeiten und Querbeschleunigungen resultieren und der Zeitverzug zwischen Lenkeingabe und Fahrzeugreaktion weitgehend unabhangig wird von der Querbeschleunigung. Schickt man unterschiedliche Fahrer bei gleicher Geschwindigkeit jeweils mit und ohne ARK in den doppelten Fahrspurwechsel, erhalt man auBerordentlich unterschiedliche Ergebnisse (Abb. 15.2). Wahrend Fahrer A einen deutlich positiven Effekt der ARK herausfahrt, iiberlagem sich fUr Fahrer B die Verlaufe der Giergeschwindigkeit ununterscheidbar. Der Grund liegt in einem wesentlich ruhigeren Lenkverhalten, bei dem die Lenkeingaben so moderat sind, dass die ARK noch keinen Unterschied produziert. Foiglich kann Fahrer Bauch keinen Unterschied wahmehmenund erst recht nicht beurteilen.
reno Wie hoch dieser Anteil ist, kann nach der obigen Darstellung aber nicht entschieden werden.
19Die Untersuchungen wurden im Auftrag der BMW Group unter der Projektleitung von Dr. Jiirgen Schuller durchgefiihrt.
254 15 Bewertung von Handlingeigenschaften
~ 30 ';;;' 30
L.. 20 f::~\ Fahrer A L 20 ... ,. ... ]
10 ] 10
"" .~ '5 "tJ
Fahrer B
<: 0 <: 0 .~ .~
~ ~ 10 u -10 ~ '" Q) Q)
~ -20 ~ 20
6 -30 6 30
0 20 40 60 80 100 120 0 20 40 60 80 100 120 Meter Meter
Abb. 15.2 Giergeschwindigkeiten zweier Fahrer bei 80kmlh (durchgezogene Linie: mit AHK, gestrichelte Linie: konventionelle Auslegung).
Dies geht deutlich aus der folgenden Abb. 15.3 hervor, in der fur zwei andere Fahrer die Maximalwerte der Giergeschwindigkeiten tiber denen der Lenkradwinkel im doppelten Fahrspurwechsel aufgetragen sind. Ganz generell zeigt sich, dass der Variantenunterschied umso deutlicher wird, je haher die Lenkradwinkel sind. Es zeigt sich weiterhin, dass Fahrer D auf Grund seiner Lenkeigenschaften den Variantenunterschied gar nicht herausfahren kann. Die Personspezifitlit des Lenkverhaltens fuhrt also dazu, dass bei gleichen Geschwindigkeiten unterschiedliche, tiber das Open-loop-Kennfeld zu bestimmende Giergeschwindigkeiten resultieren.
25,-----~,------,-----.------,-----,
I ... ' , Iv v~ , iV,
20 .................................. ,; ................................... ; ............. .f1-iVV ····
I v
] 15
"" '5 <:
1 10 u '" ~ o 5
....................................... ! ............................. ", .......................... ,+ ........ ······r'············· ... ~·O···
·································I~J. ~r·
·······································i··· .. ·
OL-----~ ____ -L ____ ~ ______ ~ ____ ~
20 30 40 50 60 70
Lenkradwinkel n
v Fahrer C konventionell o Fahrer C AHK .,. Fahrer D konventionell • Fahrer D AHK
Abb. 15.3 Zusammenhange zwischen Maximalwerten von Lenkradwinkel und Giergeschwindigkeit bei Fahrten mit AHK bzw. konventioneller Hinterachse
Unterstellt man, dass die Giergeschwindigkeit eine wichtige Grundlage der Bewertung darstellt, ergeben sich fur die einzelnen Fahrer ganz unterschiedliche Bewertungen bei gleicher Geschwindigkeit. 20
20Dies hat fur die Berechnung der "Subjektiv-Objektiv"-Korrelation auBerordentlich unerwiinschte Konsequenzen. Fahrer B kann keinen Unterschied erleben, folglich enthalten seine Urteile nur Zufallsvarianz. Demgegeniiber ist in den Urteilen von Fahrer A sowohl Varianten- wie Zufallsvarianz enthalten. Durch die Berechnungsmethodik der Korre1ati-
15.5 Individuelle Rangreihen der Varianten und ihre Konsequenzen 255
Bei dieser Sachlage ist die eingangs genannte Voraussetzung der Ceteris-paribusBedingung elementar verletzt, wenn die Situationsgleichheit uber gleiche Geschwindigkeiten hergestellt werden solI. Die eigentliche Fahrsituation entsteht erst aus dem Zusammenwirken von Geschwindigkeit und Lenkverhalten des Fahrers und ist deshalb in der daraus resultierenden Querdynamik zu suchen. In Anerkennung dieser Tatsache hat bereits Bergman (1978) gefordert, Untersuchungen querdynamischer Handlingeigenschaften nur unter Kontrolle der Querbeschleunigung durchzuruhren. D.h. in den Variantenvergleich durfen nur querdynamisch vergleichbare Situationen eingehen. Dies begriindet weiterhin, dass Fahrer in solchen Untersuchungen nicht nur punktuell bei einer Geschwindigkeit gepriift werden durfen, sondem rur jeden Fahrer ein individueller querdynamischer Leistungsbereich festgestellt und untersucht werden muss. Einen entsprechenden Vorschlag haben wir mit der Einruhrung individueller Steigerungsreihen gemacht (KrUger et aI., 2000a,b; Neukum et aI., 2001).
15.5 Individuelle Rangreihen der Varianten und ihre Konsequenzen
Eine zusatzliche Komplikation wird im korrelativen Ansatz eingeruhrt, wenn erlaubt wird, dass die Fahrer mit unterschiedlichen Varianten unterschiedlich zurecht kommen, mithinjeder Fahrer eine eigene Rangfolge zwischen den Varianten aufmachen kann. Schwierigkeiten ergeben sich auch, wenn sich die Rangfolge der Varianten auf einem fahrdynamischen Parameter (etwa beim Schwimmwinkel) in Abhangigkeit von einer weiteren GroBe (etwa der Querbeschleunigung) andert. In beiden Fallen resultieren Rangvertauschungen zwischen den Varianten. Die Konsequenzen rur den korrelativen Ansatz gehen aus Tabelle 15.4 hervor.
War in der Ursprungstabelle rur jeden Fahrer die Rangfolge der Varianten gleich (VI - V2 - V3), so hatjetzt Fahrer 1 die Rangfolge VI - V3 - V2, Fahrer 2 die Folge V2 - VI - V3 und Fahrer 3 die Folge V3 - V2 - VI. Es werden lediglich individuell die Reihenfolgen vertauscht, ansonsten bleiben alle Messwerte gleich. Folgerichtig bleibt auch der individuelle Zusammenhang zwischen fahrdynamischer GroBe und Bewertung gleich und ist bei allen Fahrem wie im vorigen Beispiel r = 1. Ebenso andert sich nichts an der Korrelation der Messwerte uber alle Varianten (Zeile 9) mit r = 0.19. Allerdings wird jetzt die Korrelation zwischen den Variantenmittelwerten in Spalte 6 zu r = -0.87. Es Hisst sich zeigen, dass der Mittelwert der Individualkorrelationen nur dann der Korrelation der Mittelwerte entspricht, wenn alle Fahrer die gleiche Rangfolge der Varianten aufmachen. Sobald diese Rangfolge zwischen den Fahrem unterschiedlich ist, kann die Korrelation zwischen den subjektiven und objektiven Mittelwerten nicht mehr zur Uberpriifung der Frage herangezogen werden, ob ein fahrdynamischer Kennwert mit den Bewertungen zusammenhangt.
on werden die Urteile beider Fahrer auf die gleiche Standardvarianz von 1 gebracht und damit der Zufallsanteil in gleicher Weise gewichtet wie der wahre Variantenanteil des Urteils.
256 15 Bewertung von Handlingeigenschaften
Tabelle 15.4 Datenmatrix bei Vertauschung der Varianten-Rangfolgen
I 2 3 4 5 6
2 Variante I Variante 2 Variante 3
3 Fahrer subj obj subj obj subj obj
4 FI I 10 3 30 2 20 r = 1.00
5 F2 5 31 4 16 6 46 r = 1.00
6 F3 10 19 7 14 4 9 r = 1.00
7 r =0.37 r = -0.77 r = 0.68
8 Mittel 5.33 20.00 4.67 20.00 4.00 25.00 r = -0.87
9 aIle r = 0.19
15.6 Zusammenfassende Forderungen an einen korrelativen Ansatz
7
Mittel
subj obj
2 20
5 31
7 14
R = -0.24
4.67 21.67
Der "Subjektiv-Objektiv"-Ansatz versucht zu kliiren, welche fahrdynamischen Eigenschaften eines Fahrzeugs flir dessen Bewertung ausschlaggebend sind. Bei korrelativer Priifung wird ein linearer Zusammenhang zwischen Eigenschaft und Bewertung angenommen. 1m Open-Ioop-Verfahren werden die fahrdynamischen Eigenschaften unter kontrollierten Bedieneingaben untersucht, woraus entsprechende Kennfelder entstehen. Das Closed-loop-Verfahren unterstellt, dass der Bewertung die Auspragung der zu beurteilenden fahrdynamischen Eigenschaft zugrunde liegt, die als Ergebnis aus der fahrerspezifischen Bedienung resultiert. Der Urteilsgegenstand ist in diesem Modell der fahrerspezifische Kennwert des Fahrzeugs in einer fUr die unterschiedlichen Fahrer vergleichbaren Untersuchungssituation. Die Modellbetrachtung hat ergeben, dass die Korrelation dann ein brauchbares MaB darstellt, wenn
1. der Zusammenhang zwischen fahrdynamischer GroBe und Bewertung linear und wenn
2. dieser Zusammenhang auf Individualniveau nachweisbar ist.
Dazu ist notwendig, dass bei jedem Fahrer
3. Urteile und Kennwerte in den einzelnen Varianten variieren, was bedeutet, dass diese Varianz vonjedem Fahrer "herausgefahren" werden muss.
SchlieBlich wird verlangt, dass
4. die Fahrer die gleiche Rangreihe der Varianten sowohl in fahrdynamischen GroBen wie in den Bewertungen aufmachen.
Aus der Bedingung (4) resultiert, dass bei einer korrelativen Studie die Korrelation der Mittelwerte liber die Varianten nicht als die zentrale PriifgroBe betrachtet werden darf. Die richtige PriifgroBe ist die Verteilung der Korrelationen zwischen
15.7 Von der Ergebnis- zur Prozessanalyse 257
subjektiven und objektiven GroBen auf Individualebene. Je enger sich diese individuellen Korrelationen urn einen hohen Mittelwert gruppieren, desto besser ist der aufgefundene Zusammenhang. Weiter gibt der Vergleich zwischen diesem Mittelwert der Individualkorrelationen und der Korrelation aus den Mittelwerten einen Eindruck davon, inwieweit die Fahrer die Varianten in der gleichen Bewertungsfolge ordnen. Bei hohen Diskrepanzen zwischen diesen beiden Werten liegen Wechselwirkungen zwischen Fahrem und Varianten vor, die sich inhaltlich als personspezifische Praferenzen fUr einzelne Varianten darstellen.
Da die Korrelation invariant ist gegen Lineartransformationen sowohl der Bewertungen wie der fahrdynamischen GroBen, verandert sie sich in ihrem Betrag nicht, wenn:
5. jeder Fahrer einen eigenen Ausschnitt aus der gemeinsamen Urteilsskala benutzt und die Abstande zwischen den Varianten durch unterschiedlich hohe Urteilsdifferenzen abbildet.
Dies gilt auch fUr die fahrdynamische GroBe:
6. die Korrelation ist unbeeindruckt von dem fahrdynamischen Bereich, den ein Fahrer in den unterschiedlichen Varianten realisiert.
Aus den Eigenschaften (5) und (6) folgt, dass das Vorliegen einer Korrelation zwischen fahrdynamischer GroBe und Bewertung keine Aussage mehr zur Frage machen kann, urn wie viel die Bewertung steigt, wenn eine fahrdynamische GroBe konstruktiv urn einen bestimmten Betrag verandert wird. Die Korrelation kann nur die Enge des Zusammenhangs ausdriicken, aber keine Information fiber den quantitativen Zusammenhang zwischen den beteiligten GroBen geben. Ganz offensichtlich ist bei dieser Sachlage fUr die Ausgangsfrage nach dem Einfluss eines fahrdynamischen Unterschieds auf die Bewertung nur gewonnen, dass die fahrdynamische GroBe einen direkten Zusammenhang mit der Bewertung im Sinne eines je -desto hat. Dieser Zusammenhang ist aber in seiner Quantitiit nicht zu beurteilen.
Liegen die oben unter (1) bis (4) genannten Voraussetzungen vor, ist der regressions- und korrelationsstatistische Ansatz geeignet, die Zusammenhange zwischen fahrdynamischen GroBen und Urteilen zu beschreiben. Allerdings muss nachgewiesen werden, dass der behauptete Zusammenhang auf Individualebene gilt.
15.7 Von der Ergebnis- zur Prozessanalyse
Der Closed-loop-Ansatz rekurriert auf die Basisvorstellung, wonach eine fahrdynamische GroBe in einer Fahrsituation sich als bislang noch nicht naher spezifizierte Resultante aus Varianteneigenschaft und Fahrereingabe darstellt. Formal dargestellt bedeutet dies, dass ein Messwert oij der Person i mit der Bedieneingabe ei in der Variante j begriffen wird als
(15.5)
258 15 Bewertung von Handlingeigenschaften
Dies ist zu lesen als: die individuelle Bedieneingabe erzeugt die individuelle fahrdynamische GroBe, diese geht in eine individuelle Bewertungsfunktion hi ein und ergibt die subjektive Bewertung sij. Als Pradiktoren flir das Urteil werden in der Regel fahrdynamische Kennwerte verwendet.
Dieser Ansatz ist insoweit unvollstandig, als er auBer Acht lasst, dass die Fahrhandlung sich in der Zeit abspielt. Die Bedieneingabe ist im Closed-loopVerfahren ebenso wie die fahrdynamische Reaktion als zeitlicher Vektor zu begreifen. Der Kennwert-Ansatz verkiirzt die zeitliche Dimension, indem er aggregierte Parameter aus diesem Vektor bestimmt, wie etwa Maximalwerte, mittlere Werte, Varianzen. Er ist deshalb vollstandig am Ergebnis orientiert und kann so nur noch sehr vermittelt Aussagen damber machen, wie eine Veranderung der Bedienung zustande gekommen ist.
90 0
] 30 c: .~ 0 "tJ .. -30 ... .>I. c:
'" ...J
-90
'" 0 400 ... ] 200 .~ "tJ c: .~
.s::; u
'" -200 ., '!i c: .,
-400 ...J
"",
L. 3000 t>O c: :::J .~ 1000 c: :::J 0 ., ~ -1000 '" ., .ll .>I.
~ -3000 ...J
II
0
III/IV
2 Zeit [sl
V VI
3 4
Abb. 15.4 Lenkradwinkel, -geschwindigkeit und -beschleunigung bei Fahrten mit AHK (durchgezogene Linie) und bei konventioneller Auslegung (gestrichelte Linie).
Zur Demonstration ziehen wir Befunde aus der oben beschriebenen Studie heran, in der die Wahmehmbarkeit und Bewertung der ARK im doppelten Fahrspurwechsel untersucht wurde. Der zeitliche Verlauf der Lenkeingaben eines Fahrers bei lOOkm/h mit und ohne AHK ist in der folgenden Abb. 15.4 dargestellt. 21
21Die Einteilung des doppelten Fahrspurwechseis in sechs Phasen weicht von der bei Riedel u. Arbinger (1997) vorgenommenen Einteilung in drei Klassen ab, die an den Lenk-
15.7 Von der Ergebnis- zur Prozessanalyse 259
In der ersten Einlenkphase sind in beiden Varianten Lenkradwinkel und Lenkgeschwindigkeit vollig identisch. Bereits in Phase 2 zeigt sich aber der erste Unterschied. Mit ARK bleibt das Lenkradwinkelmaximum von etwa 50 Grad fur etwa 100 Millisekunden stehen, wahrend ohne ARK ohne Raltephase "durchgelenkt" wird. Auch bleibt das Winkelmaximum in Phase 2 ohne ARK nicht stehen, sondem wird sofort wieder ab- und neu aufgebaut, wahrend mit ARK der maximale Lenkradwinkel fur etwa 200 Millisekunden konstant bleibt. Offensichtlich gelingt es dem Fahrer, die erforderlichen Lenkradwinkel mit der ARK so prazise herzustell en, dass er sie fur einige Zeit stehen lassen kann, urn dann erst wieder eine neue Lenkbewegung einzuleiten. Eine Erklarung dafur ware, dass der Fahrer schon in der Bewegung entscheiden kann, wie das Fahrzeug der Lenkbewegung folgt und dadurch in die Lage versetzt wird, die Lenkbewegung so genau zu dosieren, dass kompensatorische Aktionen aus einem Uberlenken heraus unnotig werden. Diese Systematik setzt sich im weiteren Verlauf des Manovers immer deutlicher fort. Die Lenkbewegungen ohne ARK werden immer heftiger mit immer groBer werdenden Geschwindigkeiten und immer hoher werdenden Lenkbeschleunigungen.
Offensichtlich fuhren die Lenkbewegungen bei konventioneller Auslegung zu Fahrzeugreaktionen, die selbst immer wieder starkere Lenkbewegungen auslosen. Der Schliissel zur Losung liegt im Zeitverzug zwischen Lenkeingabe und querdynamischer Reaktion. Ohne ARK steigt dieser Zeitverzug von etwa 60 Millisekunden bei Querbeschleunigungen bis 4m/sec2 auf fast 180 Millisekunden bei 9m/sec2
an, wahrend er im Fahrzeug mit ARK iiber den gesamten Bereich bei etwa 60 Millisekunden konstant bleibt. Deshalb bekommt der Fahrer mit ARK vor allem bei hOheren Querbeschleunigungen die Fahrzeugreaktion sehr vie I friiher riickgemeldet und erhalt dadurch die Moglichkeit, sein Lenken genauer an den Stabilisierungsbedarf anzupassen. Dadurch vermindert sich die Notwendigkeit zu kompensatorischen Regelungen, was dem Fahrer Zeit verschafft und zu einer wesentlich ruhigeren Lenkdynamik verhilft. Da gerade die kompensatorischen Lenkbewegungen haufig zu einer hoheren Querdynamik fuhren, sich dadurch die Zeitverziige ohne ARK standig vergroBem, kommt der Fahrer sehr leicht in einen Circulus vitiosus, der ihm den Grenzbereich sehr schnell nahe bringt.
Diese verlaufsbezogene Phanomenologie des Lenkverhalten zeigt auf, dass die eingefuhrte Variante nicht nur unterschiedliche fahrdynamische Werte erbringt, sondem dass sich der zeitliche Verlauf des Bedienverhaltens andert. Offensichtlich ist der bisherige Ansatz, wonach eine fahrdynamische Reaktion sich als Resultante aus einer personspezifischen Bedien- und einer variantenspezifischen Fahrzeugeigenschaft im Closed-Ioop-Verfahren gar nicht zu halten, da die Fahrer ihr Bedienverhalten variantenspezifisch andem. Diese Uberlegung fuhrt zu einer interessanten Unterscheidung in den Priifverfahren. 1st der Open-loop dadurch zu charakterisieren, dass er definierte Bedieneingaben einfuhrt und lediglich die fahrdynamischen Reaktionen aufzeichnet, konnte in einem Open-Ioop-Ansatz 2. Ordnung ein Fahrer in das Fahrzeug gesetzt werden, der lediglich die Fahrzeugre-
radwinke1nulldurchgangen orientiert ist. Die neue Einteilung basiert auf psychomotorischen Analysen des Bewegungsverlaufs.
260 15 Bewertung von Handlingeigenschaften
aktionen zu beurteilen hat, ohne selbst tatig zu werden. 1m Closed-Ioop-Ansatz 1. Ordnung heiBt die Instruktion an den Fahrer, eine (und wirklich nur eine!) Bedieneingabe zu ilitigen und darauthin die Reaktion zu beurteilen. Beispielhaft ware dies gegeben, wenn der Fahrer bei einer bestimmten Querbeschleunigung in der Kreisfahrt aufgefordert wiirde, eine Lastwechselreaktion einzuleiten, ohne diese dann kompensatorisch auszugleichen. Nur unter dieser Bedingung geht der Closed-loop in den Open-loop 2. Ordnung iiber. Ab dem Moment, in dem eine fahrdynamische Reaktion eine weitere, modifizierte Eingabe erzeugt, befinden wir uns im Closed-loop 2. Ordnung, der sich dadurch auszeichnet, dass sowohl fahrdynamischer Kennwert wie Bedienung nur noch aus der Wechselwirkung zwischen Fahrer und Variante zu erklaren sind.
Da sich im Closed-loop 2. Ordnung die Bedienung variantenspezifisch andert, konnte man konsequenterweise dazu iibergehen, die Kennwerte fUr eine Variante nicht mehr aus den fahrdynamischen Parametem, sondem aus solchen des Bedienverhaltens zu berechnen. So wiirde etwa die Lenkradwinkelgeschwindigkeit beim Einlenken in die dritte Gasse in gleicher Weise wie etwa die Querbeschleunigungen an dieser Stelle einen deutlichen Variantenunterschied erbringen. Entsprechende Vorgehensweisen sind in der Literatur auch zu finden. Dabei werden diese BedienkenngroBen als weitere Pradiktoren fUr die subjektive Bewertung verwendet. Unterstellt wird damit, dass das Ergebnis eines Closed-Ioop-Verfahrens sowohl aus den aus oij berechenbaren fahrdynamischen Kennwerten wie aus den aus eij bestimmbaren Bedienkennwerten beschreibbar ist. Werden beide Typen von Kennwerten berechnet, erhalt man einen weiteren Pradiktorsatz aus der Bedienung, der extrem hoch mit dem Pradiktorsatz aus der Fahrdynamik korreliert und bezogen auf die iiblichen Parameter (Maximalwerte, Mittelwerte und Varianzen) lediglich eine andere Beschreibungsform des Fahrergebnisses ist.
Ganz konsequent auf die Bedienseite wechseln Jiirgensohn u.a. (1999), wenn sie fordem, kiinftig fahrzeug- und manoverunabhangige Kennwerte zu berechnen, die allein aus dem Bedienverhalten abzuleiten seien und diese dann in die Bewertungsfunktion einzusetzen. Sicherlich ist darin eine kontrapunktisch fruchtbare Position zu sehen, die aber - sollte sie iiberhaupt empirisch darstellbar sein - weiterhin auf "zeitlose" Kennwerte setzt. Sie ist damit wie aIle bisherigen Ansatze sicherlich geeignet, die Beurteilung im Closed-loop 1. Ordnung zu beschreiben, nicht aber die in dem 2. Ordnung. Der Grund ist einfach darin zu sehen, dass bei einmaliger Bedieneingabe und anschlieBender Beurteilung der fahrdynamischen Reaktion die zeitliche Folge im Sinne einer Ursache-Wirkungs-Beziehung eindeutig ist. Genau dies fUhrt dazu, dass die Bedieneingabe ei unabhangig ist von der Variante. Dadurch wird die Interpretation eindeutig. Bereits beim nachsten zeitlichen Schritt einer emeuten Bedieneingabe wird diese von der vorausgegangenen fahrdynamischen Reaktion abhangig und wir kommen in einen systemischen Zusammenhang, der nur noch iiber eine Sequenz von Input-Output-Variablen zu beschreiben ist. Werden wie iiblich aggregierende Kennwerte aus bebachtbaren GroBen berechnet, geht dieser zeitliche Bezug verloren. Ein korrelativer Ansatz mit solchen KenngroBen kann dann nur noch Zusammenhange beschreiben, nicht aber mehr Ursache-Wirkungs-Beziehungen priifen, die eine eindeutige Bestimmung des Vorher-Nachher voraussetzen. Die entscheidende Frage im Closed-Ioop-An-
Literatur 261
satz ist deshalb, wie sich der Interaktionsprozess zwischen Fahrer und Fahrzeug abspielt. Die Antwort ist nur durch Betrachtung des zeitlichen Verlaufs selbst zu finden. Der Ansatz iiber "zeitlose" Kennwerte ist bestenfalls als eine heuristisch fruchtbare Niiherung an dieses Ziel zu sehen. Er muss in die eigentliche Frage des "Subjektiv-Objektiv"-Ansatzes bei querdynamischen Manavem miinden, ob ein Fahrzeug in der Lage ist, die individuelle Handschrift des Lenkens so zu modifizieren, dass ein fahrdynamisch unkritischerer Zustand erreicht wird. Hierzu sind zuniichst verlaufsbezogene Kennwerte zu entwickeln. Diese sind dann darautbin zu iiberpriifen, ob sie nicht die eigentliche Grundlage der subjektiven Bewertung von Handlingeigenschaften darstellen.
15.8 Zusammenfassung
Die Modellvorstellung einer allgemeinen "Handlingformel", die iiber regressionsund korrelationsstatistische Verfahren bestimmt werden kann, wird methodisch und inhaltlich untersucht. Die statistische Modellierung ist bei niiherer Betrachtung von einer Reihe von Voraussetzungen abhiingig, die vor einer Interpretation von Regressions- und Korrelationskoeffizienten empirisch iiberpriift werden miissen. Mehrere in der Literatur angegebene Auswerteverfahren miissen vor diesem Hintergrund in Zweifel gezogen werden. Weiter wird gezeigt, dass der iibliche Ansatz der Kennwertberechnung nur dann eine Interpretation erlaubt, wenn die Bedieneingaben unabhiingig sind von den fahrdynamischen Reaktionen des Fahrzeuges. Dies liegt daran, dass die Kennwertberechnung rein ergebnisorientiert ist und keine Aussagen iiber die prozessuale Abhiingigkeit zwischen BedienungsgraBen und fahrdynamischen GraBen macht. Eine Detailanalyse des Fahrens zeigt aber auf, dass nicht nur die fahrdynamischen GraBen durch die Bedienung beeinflusst werden, sondem unterschiedliche Varianten auch die Bedienung selbst iindemo Bedienung und fahrdynamische Reaktion sind im Closed-loop als ein riickgekoppeltes System zu begreifen, dessen Struktur sich nur in der verlaufsorientierten Betrachtung enthiillt. Der eigentliche Gegenstand der Forschungen zu den Handlingeigenschaften - und damit auch zu deren Bewertung - ist deshalb die manaverspezifische Interaktion von Fahrer- und Fahrzeugeigenschaften. Hierrur ist eine neue Untersuchungs- und Auswertungsmethodologie zu entwickeln.
Literatur
Bergman, W. (1973). Measurement and subjective evaluation of vehicle handling. SAE Report, 730492
Bergman, W. (1978). Correlation between vehicle tests and subjective evaluation. In: TUV Rheinland. Entwicklungsstand der objektiven Testverfahren for das Fahrverhalten, 28-78
Braess, H.-H. & Seiffert, U. (2000). Vieweg Handbuch Kraftfahrzeugtechnik. Wiesbaden: Vieweg.
262 15 Bewertung von Handlingeigenschaften
Donges, E. (1993). Das Prinzip Vorhersehbarkeit als Auslegungskonzept flir MaBnahmen zur Aktiven Sicherheit im StraBenverkehrssystem (Teil 1 und 2). Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik, 9,241-246 und 10,277-280
Guilford, J.P. (1954). Psychometric Methods. (2nd ed.). New York: McGraw-Hill Jiirgensohn, T. (1997). Hybride Fahrermodelle. Sinzheim: Pro Universitate Verlag Jiirgensohn, T., Willumeit, H.-P., Irmscher, M. (2000). Fahrermodelle als Hilfsmittel zur
Objektivierung von subjektiven Bewertungen der Fahrbarkeit. In Willumeit, H.-P.; Kolrep, H. (Hrsg.), Bewertung von Mensch-Maschine-Systemen, 3. Berliner Werkstatt Mensch-Maschine-Systeme, 6.-8. Okt. 1999, Berlin (340-358) (ZMMS-Spektrum, Band 11). Sinzheim: Pro Universitate Verlag.
Kriiger, H.-P., Neukum, A & Schuller, 1. (2000a). Bewertung von Fahrzeugeigenschaftenvom Fahrgefiihl zum Fahrergefiihl. In Willumeit, H.-P.; Kolrep, H. (Hrsg.), Bewertung von Mensch-Maschine-Systemen, 3. Berliner Werkstatt Mensch-Maschine-Systeme, 6.-8. Okt. 1999, Berlin (269-282) (ZMMS-Spektrum, Band 11). Sinzheim: Pro Universitate Verlag.
Kriiger, H.-P., Neukum, A & Schuller, J. (2000b). A Workload-Approach to the Evaluation of Vehicle Handling Characteristics. SAE-Paper, 2000-01-0170
Neukum, A, Kriiger, H.-P. & Schuller, 1. (2001). Der Fahrer als Messinstrument fUr fahrdynamische Eigenschaften? VDI-Bericht, 1613, 13-32. Diisseldorf: VDI-Verlag
Reichelt, W. & Strackerjan, B. (1992). Bewertung der Fahrdynamik vom Pkw im geschlossenen Regelkreis mit Hilfe von Fahrsimulatoren und Fahrermodellen. VDI-Bericht, 948,251-273. Diisseldorf: VDI-Verlag
Ronitz, R. (1986). Objektive Priifverfahren zum Fahrverhalten von Kraftfahrzeugen und ihre intemationale Normung. Automobil-Industrie, 263-273
Riedel, A & Arbinger R. (1997). Subjektive und objektive Beurteilung des Fahrverhaltens von Pkw. (FAT Schriftenreihe, Nr. 139), Frankfurt am Main: FAT
Riedel, A & Arbinger R. (2000). Ergiinzende Auswertungen zur subjektiven und objektiven Beurteilung des Fahrverhaltens von Pkw, (FAT-Schriftenreihe, Nr. 161), Frankfurt am Main : FAT
Willumeit, H.-P., Matheis, A & Miiller, K. (1991). Korrelation von Untersuchungsergebnissen zur Seitenwindempfindlichkeit eines Personenwagens im Fahrsimulator und Priiffeld. ATZ, 93,28-35
Willumeit, H.-P. & Jiirgensohn, T. (1997). Fahrermodelle - ein kritischer Uberblick. Teil 1 und 2. ATZ, 99, 425-428 und 552-560
Zomotor, A (1991). Fahrwerkstechnik: Fahrverhalten. Wiirzburg: Vogel Zomotor, A, Braess, H.-H. & Ronitz, R. (1997). Verfahren und Kriterien zur Bewertung
des Fahrverhaltens von Personenkraftwagen. Ein Riickblick auf die letzten 20 Jahre. Teill und 2. ATZ, 99 (12), 780-786; 100 (3), 236-243
16 Sinn und Sinnlichkeit - psychologische Beitrage zur Fahrzeuggestaltung und -bewertung
Guido Beier, Norbert Boemak und Gotz Renner
16.1 Bedeutung der Psychologie fOr die Fahrzeugforschung
Die Art und Weise, wie ein Fahrzeug erfolgreich am Markt platziert werden kann, hat sich drastisch gewandelt. Dies gilt insbesondere seit sich die Zahl der unabhlingigen Automobilhersteller mehr und mehr verringert, Automobilmarkennamen entweder ganz verschwinden oder unter einer Dachmarke vereint werden und die Zulieferer der Automobilhersteller einen erheblichen Teil der technischen Entwicklung von Fahrzeugen iibemommen haben. Die Fahrzeuge verschiedener Hersteller werden fUr den Kunden technologisch immer weniger differenzierbar, da ganze Module oder Plattformen zwischen Fahrzeugen ausgetauscht werden und technische Innovationen wegen der enormen Entwicklungskosten nur fUr kurze Zeit einem einzelnen Fahrzeug oder einer Fahrzeugmarke als Alleinstellungsmerkmal zur Verfiigung stehen.
Daran wird deutlich, dass eine rein "technologiegetriebene" Entwicklung von Fahrzeugen aufgrund des immer geringeren Differenzierungsvorteils in Bezug auf den Markterfolg in eine Sackgasse fUhren wiirde. Der Weg, diese Sackgasse zu vermeiden, besteht darin, so fruh wie moglich die Marktbediirfnisse - genauer: die Anforderungen und Wiinsche des Kunden und Nutzers - in die Entwicklung mit einzubeziehen.
Es geht dabei urn die Vermittlung zwischen "Sinn und Sinnlichkeit" des Produkts - den rationalen Anforderungen an das Fahrzeug einerseits und dem subjektiven Erleben des Fahrzeugs mit den fUnf Sinnen des Menschen (einschlieBlich eines "intuitiven Bauchfaktors") andererseits. Ein Fahrzeug muss fUr den Kunden attraktiv sein, also in der When Annliherungsphase eine Anziehungskraft im Sinne einer Qualitlits- und Stilanmutung haben. Spliter muss es den Besitzer zufriedenstellen, was nicht nur die Grundlage fUr eine loyale Kundenbeziehung schafft, sondem z.B. auch den Wiederkaufund das cross-selling sicherstellt.
Die technologiegetriebene Fahrzeugentwicklung muss also in einem stlirkeren MaBe durch einen kundengetriebenen Ansatz erglinzt werden. In genau diesem Spannungsfeld zwischen Technik und Kunde sind die Haupttlitigkeitsfelder der psychologischen Forschung in der Fahrzeugentwicklung angesiedelt.
264 16 Sinn und Sinnlichkeit
16.1.1 Tatigkeitsfelder psychologischer Forschung in der Fahrzeugentwicklung
Die Tatigkeitsfelder psychologischer Forschung in der Fahrzeugentwicklung lassen sich entlang des gesamten Produktentstehungsprozesses eines Fahrzeugs beziehungsweise Fahrzeugsystems (z.B. eines Assistenzsystems) anordnen. Am Anfang dieses Prozesses steht grundsatzlich die Frage, welches Fahrzeug fiir welches Kundensegment entwickelt werden solI (im Falle der Neuproduktentwicklung), beziehungsweise wie ein Fahrzeugtyp weiterentwickelt werden sollte, urn das entsprechende Kundensegment zu halten oder zu erweitem. Hier sind die ganzheitlichen, also sowohl die rationalen wie auch die emotionalen Kundenanforderungen zu beschreiben.
In den weiteren Prozessstufen der Produktentstehung werden verschiedene Fahrzeugentwiirfe in Form von Skizzen visualisiert und danach in sog. "Mockups" beziehungsweise "Sitzkisten" modelliert, wodurch die ersten Bewertungen aus Kundensicht moglich werden. In dieser ersten Realisierung von Produktentwiirfen lassen sich erstmals zwei Felder der psychologischen Arbeit differenzieren. Eine Richtung besteht im kognitiv-ergonomischen Ansatz, der sich mit der Bedienbarkeit des Fahrzeugs auseinandersetzt und damit den Hygienefaktor Bedienkomfort und Bediensicherheit betrifft, wahrend ein zweites Feld die Attraktivitiit und Akzeptanz des Fahrzeugs oder eines Fahrzeugaspekts zum Gegenstand hat. Dieses Feld geht tiber Einzelaspekte wie den der Bedienbarkeit hinaus und befasst sich z.B. mit der Qualitiit des Interieurs. Dabei stehen Fragen im Mittelpunkt wie: 1st die empfundene InnenraurngroBe ausreichend, welche von ergonomisch gleich guten Cockpitaltemativen hat die hOchste Qualitiitsanmutung und passt am besten zurn Fahrzeugkonzept, welche Oberflachen der Innenraumverkleidung sind unter Gesichtspunkten der haptischen Wertanmutung optimal, welches Sicherheitsgefiihl haben Insassen in einem B-Saulen-freien Fahrzeug? Die zuverliissige Erfassung solcher "Soft-Faktoren" setzt umfangreiches Erfahrungswissen voraus, wobei hier in methodischer Hinsicht eine Mischung aus qualitativ-explorativen und quantitativ-experimentellen Vorgehensweisen zu bevorzugen ist.
Entstehen in der weiteren Entwicklung die ersten fahrtiichtigen Prototypen, konnen unter anderem die dynamischen Eigenschaften des Fahrzeugs psychologisch bewertet werden, wobei hier der Bereich des Fahrkomforts (z.B. sportlich vs. komfortbetont) im Vordergrund steht. Diese Aspekte unterliegen primiir kinasthetischen Empfindungen (Beschleunigungen in den Raumachsen) oder auch akustischen Eindriicken yom Antriebstrang (vgl. dazu auch Kap. 16.2). Hierbei stellt sich die Frage nach den physikalischen Determinanten des subjektiven und damit psychologisch wirksamen Fahreindrucks. Die dafiir notwendigen Messverfahren sind einerseits exakt parametrisierte Messfahrten und andererseits validierte Fragebogenskalen zur Erfassung der jeweiligen Eindrucksaspekte. Derartige Erhebungen konnen gegebenenfalls mit physiologischen Beanspruchungsmessungen gekoppelt werden, die anhand der K6rperfunktionen des Fahrers oder der Passagiere deren objektive Beanspruchung erfassen.
Ais abschlieBendes psychologisches Tatigkeitsfeld im Rahmen der Fahrzeugentwicklung sollte ein Ansatz nicht vergessen werden, der hiiufig erst in einer sehr
16.1 Bedeutung der Psychologie 265
spaten Phase, manchmal sogar erst nach der Markteinfuhrung zur Anwendung kommt: die Verhaltensbeobachtung und Befragung des Kunden beim Langzeitgebrauch eines Fahrzeugs oder Fahrzeugsystems. Solche Studien ermoglichen Aussagen dariiber, ob ein Produkt - jenseits der anfanglichen Attraktivitat fur den Kaufinteressenten - den Besitzer und Nutzer auch langfristig zufrieden stellt. Der Input aus dem Langzeitgebrauch gibt die entscheidenden Hinweise fur die Weiterentwicklung des Produkts, urn eine maximale Obereinstimmung zwischen Kundenanforderungen und technischer Ausgestaltung zu erzielen.
Was sind nun die Besonderheiten des Produkts Fahrzeug, die diese breite Palette an psychologischen Fragestellungen und Tatigkeitsfeldern ausmachen?
16.1.2 Besonderheiten bei der Gestaltung von Fahrzeugen als Gegenstand der Alltagstechnik
Die ergonomische Gestaltung von technischen Systemen im Arbeitsumfeld hat eine weitreichende Tradition und fuhrte unter anderem zur Festlegung zahlreicher verbindlicher Normen (etwa der DIN EN ISO 9241 uber "Ergonomische Anforderungen fur Burotatigkeiten mit Bildschirmgeraten"). Der Bereich der alltaglichen (und zumeist rein privaten) Techniknutzung weist demgegenuber einige Besonderheiten auf. Drei Spezifika von Alltagstechniken soil en im folgenden kurz skizziert werden.
• Vielfalt der NutzerHihigkeiten Alltagstechnik wird von jedem benutzt. Daraus ergibt sich eine groBe Bandbreite an Erfahrungen und Fahigkeiten im Umgang mit technischen Geraten, was zur Konsequenz hat, dass eine einheitliche Beschreibung von Benutzerfahigkeiten kaum moglich ist. Fur die Technikgestaltung im Automobil bedeutet dies zum einen, dass Losungen gefunden werden mussen, die ohne hohen Lernaufwand bedienbar sind. Des weiteren gewinnen Nutzerklassifikationen an Bedeutung, die - neb en der reinen Wissens- und Fiihigkeitsebene - auf Personlichkeitsmerkmale als anniihernd stabile Klassifizierungskriterien rekurieren (vgl. dazu auch Abschnitt 16.3.2).
• Vielfalt von Nutzungszielen und -motiven 1m Arbeitsleben resultieren die Aufgaben und Ziele von Benutzern technischer Gerate uberwiegend aus den jeweiligen betrieblichen Erfordernissen. Diese lassen sich zumeist gut beschreiben und eingrenzen. Bei der Alltagstechnik zeigt sich ein anderes Bild: hier entscheidet der Benutzer entsprechend seinen personlichen Motiven. Fur die eine Person mag das Auto primar ein zweckmaBiges Transportmittel sein, einer anderen Person mag es als Statussymbol dienen, eine dritte Person mag sich vor aHem an den technischen Fahreigenschaften erfreuen. Die daraus resultierende Konzeption von Gestaltungsvarianten, die den individueHen Nutzerzielen Rechnung tragen muss, ist somit eine groBe Herausforderung.
• Produktakzeptanz Die Akzeptanz eines technischen Systems ist fur dessen Einfuhrung im Arbeitsbereich durchaus fOrderlich - fur die Alltagstechnik ist sie aber die ent-
266 16 Sinn und Sinnlichkeit
scheidende GroBe. 1m betrieblichen Kontext hangt die Akzeptanz neuer Systeme insbesondere davon ab, in welchem Umfang sie die Arbeitsablaufe erleichtern. Dabei spielen vor allem die an den Arbeitsaufgaben orientierten Bewertungsprozesse eine Rolle. Bei einer Vielzahl von technischen Systemen im Alltagsleben - und dazu zahlt auch das Auto - hiingt die Akzeptanz insbesondere von emotionalen Faktoren abo Das Produkt muss seinen Zweck erfiilIen, aber es muss vor allem auch gefallen. Fiir beide Bereiche - fiir die Arbeit und fUr den Alltag - gilt: durch die Einbeziehung der Nutzer in den Entwicklungsprozess kann die Akzeptanz erheblich gesteigert werden.
Welche Bedeutung haben diese Kriterien alltaglicher Techniknutzung fUr die psychologische Gestaltung von Kraftfahrzeugen? Diese Frage solI am Beispiel von drei Aspekten diskutiert werden, die im Zentrum dieses Kapitels stehen:
1. Bedeutung der sinnlichen Anmutung fUr die Produktakzeptanz, 2. Subjektiver Unterstiitzungsbedarf durch Assistenzsysteme als aufgaben- und
benutzerorientierter Zugang sowie 3. Einfliisse der Personlichkeit auf den Unterstiitzungsbedarf durch Assistenz
systeme.
Bevor wir naher auf die genannten Aspekte eingehen, solI ein kurzer Uberblick iiber ausgewahlte methodische Ansatze der psychologischen Fahrzeugbewertung gegeben werden.
16.1.3 Methodenbeispiele psychologischer Fahrzeugforschung
Die psychologische Analyse von Fahrzeugen und fahrzeugtechnischen Innovationen hat stets mit der Beziehung zum Menschen (als Kaufinteressent, Fahrer oder Kunde) zu tun - mit seinenlihren Motiven, Einstellungen, Werten, Fahigkeiten und Wahrnehmungsstilen. Wegen der Komplexitat und Vielfliltigkeit von Fragestellungen, denen man in diesem Bereich gegeniibersteht, kommt ein breites Spektrum an ergonomischen, psychologischen und sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden in Betracht. Tabelle 16.1 zeigt eine Auswahl von Verfahren, die in der Fahrzeugakzeptanzforschung haufig zurn Einsatz kommen.
Bei der Analyse von Wahrnehmungsleistungen geht es urn die Frage: was kann vom Autofahrer wie gut identifiziert und differenziert werden? Ein Beispiel hierfUr ist die Erkennbarkeit von Anzeigen oder die Differenzierung von haptischen Qualitaten flachiger Interieurmaterialien. Hier sind vor allem die zahlreichen Verfahren der "Psychophysik" von Bedeutung.
Bei der Analyse von fahrzeugbezogenen Anmutungsqualiiliten und Assoziationen geht es z.B. urn die psychologische Wirkung optischer Erscheinungsbilder oder urn die Analyse akustischer Eindrucksqualitaten fUr das Sounddesign von fahrzeugspezifischen Zielgerauschen. Dafiir stehen zahlreiche Methoden zur Verfiigung. So ist das Polaritatsprofil (oder Semantisches Differential, s. auch den Beitrag von Kolrep und Fankhauser, Kap. 14) eine beliebte Methode, urn Assoziationen und Bedeutungen in einem mehrdimensionalen Wahrnehmungsraum darzustellen. Multidimensionale Skalierung (MDS), Faktorenanalyse, Clusteranalyse
16.1 Bedeutung der Psychologie 267
und auch die Conjointanalyse sind in erster Linie statistische Verfahren, mit denen man die wechselseitigen Bedingungszusammenhange zwischen Eindrucksqualitaten und ihre psychologische Bedeutsamkeit untersuchen kann. Die Grid-Technik ist eine Methode, mit der man auf der Grundlage von Ahnlichkeitsvergleichen zunachst die fur den Kunden relevanten Beurteilungsdimensionen von Produkten (Fahrzeugen) auf qualitative Weise erheben kann, urn dann in einem weiteren Schritt die wahrgenommenen Produktahnlichkeiten auf den eruierten Dimensionen quantitativ darzustellen.
Tabelle 16.1 Methoden- und Anwendungsbeispiele psychologischer Fahrzeugforschung
Wahrnehmungs- Anmutungs- Werthaltungen Nutzer-
leistungen qualitaten Einstellungen anforderungen
Methodenbeispiele
- Psychophysische - Polaritatsprofil - Validierte Frage- - Focusgruppen
Verfahren. z.B. - Faktoren- und bogenskalen - Situationsanalysen
- Signaldetektion Clusteranalyse - Psychologische - Defizitanalysen - Konstanz- - Multidimensionale T estverfahren - Nonverbale Me-
methode Skalierung (MDS) - Computergestiitz- thoden - Magnitude- - Conjointanalyse te Assoziations- - Blickbewegungen.
Skalierung - Grid-Technik tests physiologische
Beanspruchungs-
messung
Anwendungsbeispiele
- Erkennbarkeit - Stilistischer Ein- - Markenimages - Bewertung neuer
von Anzeigen druck von Interi- - Einstellungen Fahrzeugkonzepte
- Rauhigkeit von eur- und Exterie- gegeniiber Pro- - Ableitung und
Motorgerauschen urmerkmalen duktkategorien Gestaltung von - Haptische Unter- - Sound design von - Werthaltungs- Assistenzsyste-
schiede von fla- Motorgerauschen typologien von men chigen Interieur- - Taktile Wertan- Konsumenten - Bewertung von materialien mutung technischen Neu-
- Differenzierung - Neuwagengeruch erungen von Duftnuancen
im Fahrzeug
Ein wei teres Thema ist die Analyse von Werthaltungen, Erwartungen und Einstellungen des Kunden. Dazu gehOrt z.B. die Einstellung gegenuber der Marke oder einzelner Produktkategorien. Fur die Erfassung solcher Einstellungen sind FragebOgen und psychologische Tests geeignet, die nach "Testgutekriterien" (Reliabilitat, Validitat, Trennscharfe usw.) uberpriifbar sein mussen.
Fur die Ableitung und Gestaltung erfolgreicher Fahrzeuge oder Fahrzeugssysteme ist schlieBlich die Analyse der Nutzeranforderungen unabdingbar. Neben Methoden, die Informationen aus verbalem Datenmaterial gewinnen (wie etwa der moderierten Diskussion in Focusgruppen), kommen auch hier nonverbale Metho-
268 16 Sinn und Sinnlichkeit
den zum Einsatz. Beispiele sind die Beanspruchungsmessung durch physiologische Parameter oder die Analyse von Blickbewegungen als Indikator kognitiver Vorgange.
16.2 Die sinnliche Wahrnehmung als Determinante der Fahrzeugakzeptanz
Autos sind - wie andere gegenstandliche Produkte auch - Objekte der menschlichen Wahmehmung. Gegenuber anderen Produktkategorien definieren sie sich primar durch ihren zweckrationalen Wert als Fortbewegungs- und Transportmittel, wahrend sie sich untereinander in vieWiltiger Weise unterscheiden. Mit dem Auge lassen wir uns von ihrem Erscheinungsbild beeindrucken, mit dem Ohr erleben wir ihr Gerauschverhalten, beim Beruhren von Oberflachen und Bedienelementen im Fahrzeuginnenraum gewinnt man einen Eindruck von den Materialeigenschaften und den mechanischen Funktionen, beim Sitzen kann man sich einen Eindruck uber ihren Komfort verschaffen, beim Fahren und Beschleunigen gewinnt man ein Gefiihl von ihrer Dynamik und StraBenlage, und schlieBlich wird auch der Geruchssinn angesprochen, was insbesondere bei Neuwagen gelegentlich die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Durch die sinnlichen Erlebnisse wird der psychologische Zugang zum Objekt Auto hergestelIt, und wenn man den Gedanken konsequent we iter verfolgt, wird man zu der Feststellung kommen mussen, dass das Auto aus psychologischer Sicht ein Komplex unzahliger sensorischer Empfindungen und Eindrucksqualitaten ist, die in der Wahmehmung zu bedeutungshaltigen Einheiten verdichtet und schlieBlich als eine komplexe Gestalt erlebt werden. Das schlieBt nicht aus, dass das gesamte "Bild", das sich jemand von einem Fahrzeug macht, auch von den Erfahrungen und Wissensbestanden abhangig ist, die er oder sie mit den sinnlichen Produktbotschaften verbindet.
Es liegt deshalb auf der Hand, dass die Wechselwirkungen und Beziehungen zwischen Mensch und Fahrzeug - insbesondere wenn es urn Fragen der Produktakzeptanz und der Fahrzeugattraktivitat geht - nicht zureichend beschrieben werden k6nnen, wenn man die subjektiv erlebten Eindrucke und Anmutungsqualitaten seitens des Kaufinteressenten, Fahrzeugbesitzers oder Passanten auBer Acht lieBe.
Bei der konzeptionellen Analyse von Kaufmotiven wird oft zwischen "rationalen" und "emotionalen" Motiven unterschieden. Obwohl diese Unterscheidung aus psychologischer Sicht nicht ganz unproblematisch ist, hat sie doch deutlich gemacht, dass sich ein Kaufinteressent nicht nur von Produktmerkmalen wie dem Preis, den Unterhaltskosten oder der Wertbestandigkeit leiten laBt (rationale Motive). Die eigentliche Faszination, die von einem Auto ausgehen kann, wird oftmals durch solche Produktmerkmale ausgel6st, die im unmittelbaren Kontakt mit dem Objekt erlebt werden - und dies sind in aller Regel die sinnlichen Botschaften (vgl. hierzu auch Spiegel, 1998). Ein attraktives Erscheinungsbild kann faszinieren und ein gesteigertes Interesse am Auto bewirken, wahrend ein zu brummiger Sound in unangenehmer Weise auf fallen und ein ursprunglich vorhandenes Interesse im Extremfall vielleicht zunichte machen kann.
16.2 Die sinnliche Wahrnehmung 269
Die Forschungsfragen und Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Gestaltung und Optimierung sensorisch erIebbarer Eigenschaften des Autos stellen, sind auBerordentlich vieiHiltig und komplex. Wir konnen in diesem Kapitel nicht auf die Zie1e, die Arbeitsmethoden oder gar auf die zahlreichen Zielkonflikte von Automobildesignern, F ahrzeugakustikern, Materialforschern, F ahrwerkskonstrukteuren und anderen Fachkraften im Automobilbau eingehen. Sie aIle haben es aber in zunehmendem MaBe mit dem Thema "Kundenorientierung" zu tun. Die Wiinsche und Erwartungen des Kunden, seine Einstellungen und seine BeurteilungsmaBstabe sind bei der Entwicklung eines neuen Fahrzeugmodells oder beim Facelift einer am Markt befindlichen Baureihe mit zu beriicksichtigen.
16.2.1 Einige grundlegende Aspekte menschlicher Wahrnehmung
1m Folgenden wird naher auf einige grundlegende wahrnehmungspsychologische Aspekte eingegangen, die fUr die kundenorientierte Gestaltung sensorischer Produktqualitaten niitzlich sein konnen. Selbstverstandlich ist dies nur eine begrenzte Auswahl dessen, was die Wahrnehmungsforschung in diesem Zusammenhang anzubieten und zu leisten vermag.
• Informationsverdichtung und Kanalkapazitat 1m sinnesphysiologischen Modell wird der Mensch als ein informationsverarbeitendes System konzipiert, das Sinnesreize empfangt, filtert und verdichtet, fUr eine kurze Zeitdauer bewusst erIebt, einen geringen Anteil dieser ErIebnisse im Langzeitgedachtnis speichert und auf der Grundlage dieser Informationen sein Verhalten steuert. Was in diesem Prozess geschieht, ist eine gewaltige Informationsverdichtung. Uber die riesige Anzahl von Rezeptorzellen - insgesamt etwa 300 Millionen allein fUr die fUnf AuBensinne des Menschen - konnen bis zu 10 Millionen bits in der Sekunde empfangen werden, wahrend unser Bewusstsein aber nur bis zu 100bits/s verarbeiten kann (z.B. Keidel, 1976, S. 47ff). Durch die Augen ge1angen dabei etwa 40bits und durch die Ohren etwa 30bits ins Bewusstsein, wahrend es bei den Hautsinnen nur etwa 5 und bei der Nase und der Zunge jeweils nur 1 bis 2bits sind. Unter Kapazitlitsgesichtspunkten dominieren also der optische und der akustische Sinn.
• Sensorische Differenzierungsleistungen Wie fein kann der Mensch mit seinen Sinnessystemen differenzieren? Der amerikanische Psychophysiker Stanley S. Stevens (z.B. Stevens, 1961) hat hier einen Ansatz entwickelt, mit dem die verschiedensten Wahrnehmungsqualitliten hinsichtlich ihres "Dynamikbereiches" verglichen werden konnen. Zum Beispiel wurde die Intensitat von Lichtquellen variiert, und die Testpersonen sollten angeben, urn welchen Betrag sich ihre Helligkeit im Vergleich zu einem Standardreiz verandert. Das Verfahren wurde auf verschiedenste Sinnesqualitaten angewandt, und iiberall konnte der Zusammenhang zwischen Reizintensitat und wahrgenommener Empfindungsintensitat durch eine Potenzfunktion beschrieben werden (Abb. 16.1).
270
2.0
., .... "' E .~
w ., ] 1.0 '2 bO
"' I: go -'
0 0
16 Sinn und Sinnlichkeit
1.0 2.0 Log Stimulus Intensity
c: o .~
'"
Electric Shock
g 1.01-------::I~ VI
o 1.0
Physical Intensity
Abb. 16.1 Zusammenhange zwischen Reiz- und Empfindungsintensitaten
Vibration
Nach Logarithmierung beider Gleichungsseiten der Potenzfunktion erhalt man lineare Funktionen, deren Steigung durch den Exponenten definiert ist. Fur die Helligkeitswahmehmung ergibt sich eine Steigung von 0.5, fiir die Liingenwahmehmung eine Steigung von 1.0 und fiir die durch elektrische Schocks induzierte Schmerzwahmehmung eine Steigung von 3.5 (Abb. 16.2).
Helligkeit
Uingenwahrnehmung
FlachengroBe
Rotsiittigung
Geruch am Beispiel
Lautheit
Geschmack
Vibrationsempfindung
Harte elastischer Materialien
Druckempfindung
W armeempfindung
Kalteempfindung
Rauhigkeit von Textilien
Schwere von Gegenstanden
Schmerzempfindung
~
:::::::::J
===:J
0,0 O,S 1,0
Sehen
Riechen
Horen Schmecken
Tasten und Flihlen
I,S 2,0 2,S 3,0 3,S
Exponent der Stevens'schen Potenzfunktion
Abb. 16.2 Differenzierungsleistung fUr verschiedene Wahmehmungsqualitaten
Was bedeuten diese Koeffizienten? Eine Gerade wird umso steiler, je geringer der Reizstarkenzuwachs ist, der von der eben iiberschwelligen Empfindung zu
16.2 Die sinnliche Wahrnehmung 271
der maximal maglichen Empfindungsstiirke fiihrt. Bei einer sehr steilen Geraden - wie beim Schmerz - liegen minimale und maximale Reizstiirke sehr nahe beieinander, und das bedeutet nichts anderes, als dass es beim Schmerz nur sehr wenige unterscheidbare Reizstufen gibt. Der Schmerz ist demnach ein Wamsignal, bei dem man sofort mit Macht reagiert, schon wenn er sich nur ein wenig verstiirkt. Dagegen bilden sich bei der Helligkeits- und Lautheitswahrnehmung die Unterschiede der Umwelt in einer hochdifferenzierten Empfindungsstiirkenskala abo Dies ist ein weiteres Indiz dafiir, wie leistungsrlihig das Auge und das Ohr ist. Bei den Hautsinnen zeigen sich ganz unterschiedliche Differenzierungsleistungen, was z.B. fur die Komfortwahmehmung im Auto von erheblicher Bedeutung ist.
• Reiziiberflutung und Reizarmut Sinneserlebnisse kannen auch liistig werden. Den ohrenbetiiubenden Krach eines Schlagbohrers hiilt man nur fiir kurze Zeit aus, zu laute Fahrgeriiusche bei einer mehrstiindigen Autobahnfahrt kannen den Fahrer miirbe machen, und zu intensive Lichtreize werden als unangenehme "Reiziiberflutung" erlebt (Abb. 16.3). Der akustische Sinn ist hier besonders betroffen, wohl vor aHem deshalb, wei I das Ohr keine Verschlussvorrichtung wie das Auge hat. Man sagt deshalb auch, dass durch das Ohr die Welt zu uns kommt, wiihrend wir mit dem Auge in die Welt hineingehen und sie aktiv erkunden. Am anderen Ende der Unannehmlichkeiten liegt die "Reizarmut". Ein Autofahrer, der in seinem Auto kaum noch etwas hart oder keine Vibrationen mehr verspiirt, wird iiber einen Mangel an Orientierung und wohl auch iiber Langeweile klagen. Menschen, denen es elementar an Sinneseindriicken fehlt, beginnen allmiihlich damit, sich das erforderliche MaB an Sinnesreizen durch Halluzinationen selbst "herbeizuzaubem". In der Konsequenz heiBt das: man braucht auch als Autofahrer ein "gesundes" MaB an Sinneserlebnissen, was bei der Fahrzeugkonzeption beriicksichtigt werden muss.
Wohlempfinden
Reizarmut Reizuberflutung
! Orientierungsdefizit Belastigung Langeweile Stress Deprivation Schmerz
Abb. 16.3 Reiziiberflutung und Reizarmut
272 16 Sinn und Sinnlichkeit
• Kognitive und motivationale Einfliisse Die menschliche Wahmehmung ist ein ausgesprochen subjektiver Vorgang, weshalb es auch so schwierig ist, die Asthetik von Farben und Formen, die Liistigkeit von Gediuschen oder die taktilen Qualitaten von Materialoberflachen durch physikalisch messbare Reizeigenschaften vorherzusagen. Wir wollen auf drei Einflussgro13en etwas naher eingehen, die die Subjektivitat der mensch lichen Wahmehmung ausmachen (vgl. Abb. 16.4).
Da ist zum einen das Universum von Erfahrungsbestanden, die man im Langzeitgedachtnis gespeichert hat. Wenn eine Person das Gerausch eines Fahrzeuges hort, kann sie in der Regel ohne gro13e Schwierigkeiten erkennen, ob es sich urn einen Lkw oder einen Pkw handelt. Und was geschieht, wenn sie danach beurteilen soil, wie laut sich das Gerausch anhOrt? Dann wird sie unmittelbar auf ihre Erfahrungen mit diesen Fahrzeugkategorien zUrUckgreifen, was dazu fUhrt, dass ein Pkw-Gerausch von 85dB als sehr laut, ein Lkw-Gerausch mit demselben Pegel dagegen als moderat oder sogar leise beurteilt wird. In der Psychologie spricht man hier von subjektiven Bezugssystemen.
Wahrnehmungskontexte
Motive Bedurfnisse Handlungsziele
storend? aufregend?
Abb. 16.4 Kognitive und motivationale Einfliisse aufWahrnehmung und Bewertung
Ein zweites Beispiel sind die Wahrnehmungskontexte. Die menschliche Wahrnehmung ist immer ganzheitlich und relativ, sie nimmt Bezug auf alles, was sich in ihr abspielt. Der schwarze Mann in Abb. 16.4 ist stets gleich gro13, aber seine Gro13e erscheint dem Betrachter sehr unterschiedlich - je nachdem, vor welchem Hintergrund man ihn sieht. Den Begriff des "Hintergrundes" kann man auch allgemeiner fassen, und dann kommt man zu der Einsicht, dass ein sinnliches Erlebnis niemals fUr sich alleine steht, sondem fortwahrend mit aHem verglichen wird, was an Informationen im Sensorium oder im Gedachtnis zur VerfUgung steht (Prinzip der Ganzheitlichkeit).
16.2 Die sinnliche Wahrnehmung 273
SchlieBlich wird die Wahmehmung auch durch Motive, Bediirfnisse und Handlungsziele beeinflusst (s. auch die Beitrage von Jiirgensohn und Irmscher in diesem Band, Kap. 7,8). Will man Klavier spielen, wird das Gerausch eines iiberfliegenden Hubschraubers we it mehr storen, als wenn man selbst als Pilot in dies em Hubschrauber sitzt. Wenn man abends spazieren geht und Ruhe haben will, werden Autogerausche weit mehr storen, als wenn man im abendlichen Femsehen ein spannendes Autorennen verfolgt. Und derjenige, der grundsatzlich etwas gegen Verkehr oder Dynamik hat, wird die Welt ganz anders wahmehmen als jemand, fUr den oder die der Verkehr zum Leben gehort oder eventuell sogar das Leben bedeutet.
16.2.2 Die Analyse sinnlicher Anmutungsqualitaten am Beispiel von Motorgerauschen
1m Folgenden solI etwas naher auf einen Bereich des sinnlichen Produkterlebens von Fahrzeugen eingegangen werden, der gegeniiber der Stilistik und dem optischen Erscheinungsbild oft als weniger bedeutsam eingeschatzt wird. Dabei nimmt die Akustik im Rahmen der Fahrzeugentwicklung einen nicht unerheblichen Stellenwert ein. Aufgrund der hohen Anzahl von bewegten Teilen im Kraftfahrzeug gibt es eine Vielzahl VOn schwingungstechnisch relevanten Bauteilen. Von den etwa 10.000 Einzelteilen eines Automobils sind ungefahr 200 Bauteile von entscheidender Bedeutung fUr die Gerauschemissionen eines Fahrzeuges. Dabei haben Motor, Fahrtwind und Reifen den groBten Einfluss auf das Innengerausch, aber auch aIle weiteren am Antrieb beteiligten Komponenten - wie Ansaug- und Abgasanlage, Ventilator, Getriebe, Antriebswellen sowie Radaufhangungen, Nebenantriebe und Betatigungselemente - tragen zum Gesamtgerausch eines Fahrzeuges bei.
Eine wichtige Aufgabe der Fahrzeugakustik ist es auch heute noch, durch "passive" MaBnahmen der Schallreduzierung (z.B. durch konstruktive Eingriffe direkt an der Schallquelle oder durch "SekundarmaBnahmen" wie etwa der Motorkapselung) die strengen gesetzlichen Vorschriften iiber zuliissige Emissionsgrenzwerte beim Auj3engeriiusch zu erfUllen (die einschlagigen Messvorschriften hierfUr sind in zahlreichen Normen festgelegt, z.B. DIN ISO 362, ISO 5130, ISO 7188). Seit Beginn der 90er Jahre hat sich aber auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Qualitiit des Innengeriiusches ein wichtiger Bestandteil fUr den erlebten Fahrkomfort ist. Neben den Komfortaspekten des Fahrzeuginnengerausches geht es, insbesondere bei Pkws, in zunehmendem MaBe auch urn die Gestaltung eines herstellertypischen und fahrzeugspezifischen Gerauschbildes (Corporate Sound). "Nur leise, das ist Schnee von gestem" - so wurde diese Zielvorgabe einmal in einem Zeitungsartikel betitelt (von Dahlem, 1997).
Die Autoindustrie und die Hausgeratehersteller hatten sich als erste dem Problem des Soundengineerings angenommen (einen guten Uberblick fUr den Fahrzeugbereich gibt das Buch VOn Vo (1994) und die beiden Kongressbande der AVL List, 1996 und 1998). Es wird zumeist versucht, mit den BewertungsgroBen der psychoakustischen Forschung (wie z.B. Lautheit, Rauhigkeit, Scharfe, Impulshal-
274 16 Sinn und Sinnlichkeit
tigkeit, vgl. dazu Zwicker u. Fastl, 1990) den akustischen Komfort und die Gerauschqualitat im Fahrzeug zu verbessem. Allerdings fallt auf, dass es sich bei diesen GroBen fast ausschlieBlich urn "negative" Gerauschqualitaten handelt. Gerauschdesign im umfassenden Sinne bedeutet jedoch, ein insgesamt positives und zum Fahrzeug passendes Akustikszenario zu schaffen. Inzwischen weiB man recht gut, dass die psychoakustischen Parameter nur einen Teil dessen zu erklaren vermogen, was den Prozess der subjektiven Gerauschbewertung beim Kunden ausmacht. Dass z.B. ein Staubsauger nicht so klingen darf wie ein Rasierapparat, ist eine oft bemiihte Einsicht, die darauf hinweist, wie sehr die subjektive Gerauschakzeptanz von den produktbezogenen Erfahrungen und Erwartungshaltungen des Horers gepragt ist. Und dass eine Person A ganz andere akustische Vorlieben und Empfindlichkeiten haben kann als die Person B oder C, ist ein Sachverhalt, der wiederholt beobachtet wird, und der dem Konstrukteur deshalb gewisse Schwierigkeiten bereitet, weil er die Generalisierbarkeit von akustischen Zielvorgaben in Frage stellen kann.
Unter psychologischen Gesichtspunkten muss man sich klar machen, dass die Gerauschentfaltung im Kraftfahrzeug keineswegs nur eine storende Produkteigenschaft ist, die es so weit wie moglich zu beseitigen gilt. Gerausche iibermitteln dem Fahrer auch eine Vielzahl von handlungsrelevanten Informationen, und sie konnen den FahrspaB und die emotionale Stimmungslage in positiver oder negativer Weise beeinflussen. Es ist ein weites Fe1d, das sich hier aufiut, und wir haben in einer friiheren Arbeit (Boemak, 1994) bereits darauf hingewiesen, dass Bemiihungen zur Verbesserung der subjektiven Fahrzeugakustik nur dann langfristig erfolgreich sein werden, wenn auch die informativen Funktionen von Fahrzeugund Verkehrsgerauschen beriicksichtigt werden. In der Folgezeit haben wir zu diesem Thema umfangreiche Interviewstudien durchgefUhrt, in denen Autofahrer unter anderem danach befragt wurden, welche Fahrzeuggerausche ihnen im Detail einfallen, wenn sie an das Thema "Akustik im Auto" denken, und was noch wichtiger ist, ob es Gerausche im Auto gibt, die nicht fehlen diirfen beziehungsweise bOrbar sein sollten.
Abbildung 16.5 zeigt beispielhaft ein Ergebnis dieser Studien, welches deutlich macht, dass es Gerauschphanomene gibt, die Autofahrer bOren wollen und horen miissen. Dass das Klicken des Blinkers als unentbehrlich eingestuft wurde, wird nicht sonderlich iiberraschen. Wichtiger ist der Befund fUr das Motorengerausch. In zahlreichen Untersuchungen zum subjektiven Erleben von Motorgerauschen konnten wir zeigen (z.B. Boemak, 1998), dass die "instationaren" Gerausche (also vor allem die Anfahr- und Beschleunigungsgerausche) von besonderer Bedeutung fUr die akustische Differenzierung zwischen Fahrzeugen und Baureihen - mithin auch fUr den fahrzeugtypischen Sound - sind, wahrend "stationare" Gerausche (hier vor allem die Konstantfahrgerausche bei bOheren Geschwindigkeiten) eine wichtige Rolle fUr das akustische W ohlbefinden und den Gerauschkomfort spielen. Mit Blick auf zukiinftige Entwicklungen im Bereich altemativer Antriebe (wie etwa dem stufenlosen CVT-Getriebe oder den batteriegetriebenen Elektromotoren) tut sich hier ein weites Feld offener Forschungsfragen auf.
Motorgerausche
Blinkergerausche
Verkehrsgerausche
Hubsignal
Funktionsfeedback
Bremsgerausche
Abrollgerausche
Tlirgerausche
Startergerausche
t::::J t=J p p 0 o
J
J
16.2 Die sinnliche Wahrnehmung 275
I 1 I I I I
J
.. Welche Gerausche dlirfen im Auto nicht fehlen"
I I 20 40 60 80 100
Nennungshaufigkeiten in %
Abb. 16.5 Infonnationsbedarf in Bezug auf Fahrzeuggerausche
Urn die Gerauschqualitat von Motoren - also den Fahrkomfort, die akustische Attraktivitat und die allgemeine Gerauschakzeptanz - zu verbessem, sind im Prinzip drei Arbeitsschritte erforderIich:
1. die subjektive Charakterisierung von Motorgerauschen durch Wahmehmungsattribute, Eindrucksqualitaten und fahrzeugbezogene Assoziationen aus Kundensicht,
2. die Identifizierung von Schallkennwerten, welche mit den subjektiven Eindrucksqualitaten kovariieren, und
3. die Identifizierung von Motorbauteilen und Fahrzeugkomponenten, deren Schwingungsverhalten die physikalischen und psychologischen Gerauscheffekte verursachen.
Flir den Fall, dass bereits konkrete technische Ma13nahmen zur Qualitatsverbesserung ins Auge gefasst wurden, stellt sich primar die Aufgabe, den Nutzen dieser Ma13nahmen aus Sicht des Fahrers oder Kunden zu bestimmen. In methodischer Hinsicht konnen dabei zahlreiche Wege beschritten werden. Aus praktischen Griinden wird zumeist der "Horversuch" im Mittelpunkt stehen, also die Beurteilung von Gerauschproben im Akustiklabor. 1m Folgenden wollen wir am Beispiel einer Studie zur Gerauschverbesserung bei Transporterfahrzeugen das Vorgehen flir diesen Fall etwas naher skizzieren.
Die Studie gliederte sich in zwei gro13e Phasen. In der ersten Phase wurde eine umfangreiche Anzahl von Fahrzeuginnengerauschen aufgezeichnet, in der zweiten Phase wurden die Gerausche aufbereitet und von Transporterfahrem im Akustiklabor bewertet. Es wurden drei Fahrzeuge beriicksichtigt, wobei zwei Fahrzeuge als Referenz dienten und am dritten Fahrzeug die nachfolgend beschriebenen Gerauschma13nahmen realisiert wurden. Mit der Stirnwanddiimmung (Anbringen von Dammmaterial im Front- und Bodenbereich des Fahrerhauses) war vor allem eine Absenkung des vom Motorraum her abgestrahlten Gerausches intendiert, die
276 16 Sinn und Sinnlichkeit
Windschalldiimmung (Abkleben von Tur- und Fensterdichtungen einschlie/31ich Dammmaterial an beiden Turen, vgl. Abb. 16.6) sollte die besonders bei hoheren Fahrgeschwindigkeiten auftretenden Windgerausche reduzieren, und mit der Trennwanddiimmung (Belegung der Trennwand zum Fahrerhaus mit Schwerdammmatte) war eine Verringerung der yom Laderaum eines Transporters her stammen den Karosserie- und Fahrbahngerausche beabsichtigt. Neben diesen "konstruktiven" Ma13nahmen interessierte damber hinaus die sog. zweite Motorordnung. Sie ist eine sich mit der Drehzahl verandemde Frequenzkomponente, die vor all em bei Vierzylindermotoren fur deren akustische Dominanz verantwortlich ist. Die zweite Motorordnung wurde hier offline durch nachtragliche Modifikation des aufgezeichneten Gerauschsignals variiert (Absenkung urn 6dB, Absenkung urn 3dB, Anhebung urn 3dB).
Abb. 16.6 Beispiel fUr eine GeriiuschmaBnahme (Windschalldiimmung durch Abkleben von Tur-IFensterdichtungen und Belegung der Turen mit Schwerdiimmmatte).
Fur die drei Testfahrzeuge und die beschriebenen Gerauschma13nahmen wurden die Innengerausche in verschiedenen Fahrsituationen aufgezeichnet. Die Aufzeichnungen erfolgten mithilfe eines Kopfbugelmikrofons, urn die tatsachliche Gerauschsituation am Ohr des Fahrers im nachfolgenden Horversuch originalgetreu wiedergeben zu konnen. Urn ein reprasentatives und umfassendes Bild von der jeweiligen Innengerauschsituation zu erhalten, wurden drei Fahrsituationen definiert: eine Autobahnfahrt mit 80kmlh im 5. Gang, eine Autobahnfahrt mit 120kmlh im 5. Gang, und eine "Bergfahrt" mit 3000U/min bei 70kmlh im 3. Gang. Urn den Motor bei der Bergfahrt zusatzlich zu belasten, wurden die Fahr-
16.3 Die kundenorientierte Entwicklung 277
zeuge hier mit einem 2-Tonnen-Anhanger gefahren. Fiir jede Fahrsituation standen 13 Gerauschproben, fiir den Horversuch insgesamt also 39 Priifgerausche zur Verfiigung. Jedes Gerausch hatte eine Lange von etwa 20 Sekunden.
Fiir die Beurteilung der Fahrgerausche im Horversuch wurde eine Zufallsstichprobe von Transporterfahrem akquiriert, die groB genug war, urn statistisch zuverlassige und valide Aussagen machen zu konnen. Fiir die subjektive Beschreibung und Skalierung von Gerauschqualitaten gibt es eine Vielzahl von Methoden, von denen sich zwei Ansatze als besonders praktikabel erwiesen haben: die "Absolutbeurteilung" auf psychologisch relevanten Skalen (wie z.B. laut, raub, drohnend usw.), und der "Paarvergleich", bei dem samtliche Gerauschproben hinsichtlich eines oder mehrerer Eindrucksqualitaten paarweise miteinander verglichen werden (einen guten Uberblick iiber psychologische Skalierungsansatze vermittelt das Buch von Borg u. Staufenbiel, 1989). Welches Verfahren sich am besten eignet, hangt in spezifischer Weise von der jeweiligen Fragestellung, dem maximal moglichen Versuchsaufwand, dem Gerauschmaterial und weiteren Randbedingungen abo Da es in der skizzierten Studie primar urn eine Beschreibung des ganzheitlichen Qualitatseindrucks und urn eine moglichst prazise Eindrucksdifferenzierung zwischen den Gerauschen ging, wurde die Paarvergleichsmethodik herangezogen. Die vergleichende Beurteilung jedes Innengerausches mit allen anderen Gerauschproben (einer bestimmten Fahrsituation) hatte zum Ziel, die "relative Gerauschqualitat" der einzelnen Horproben exakt quantifizieren zu konnen. Der hier berechnete Index basierte darauf, wie hiiufig ein Gerausch gegeniiber allen anderen Gerauschen als qualitativ hochwertiger eingeschatzt wurde. Durch eine Mittelwertsbildung iiber N-l "Bevorzugungswahrscheinlichkeiten" pro Gerausch (mit N = Anzahl von Gerauschproben) erhielten wir sehr zuverlassige Qualitiitsindizes.
Durch umfangreiche statistische Analysen dieser Indizes konnte der Wert verschiedener GerauschmaBnahmen in der Wahmehmung der beriicksichtigten Fahrerstichprobe exakt bestimmt werden. Vnter anderem konnte nachgewiesen werden, dass jede "passive" MaBnahme ftir sich genommen deutlich mehr zur Verbesserung der subjektiv erlebten Transporterakustik beitragt als eine Absenkung der zweiten Motorordnung, wobei die Hohe des maBnahmenbezogenen Verbesserungspotentials in moderater Weise auch von der jeweiligen Fahrsituation abhangt. In der Gesamtschau lieBen sich klare Empfehlungen ftir die Gestaltung eines angenehmen und "sympathischen" Transporterinnengerausches ableiten.
Nachfolgend wollen wir ein weiteres Arbeitsgebiet psychologischer Fahrzeugforschung diskutieren - die Analyse von Fahrerassistenzsystemen.
16.3 Die kundenorientierte Entwicklung von Assistenzsystemen
Die Entwicklung neuer Systeme im Automobilbau erfolgt traditionell technologiegetrieben. Dies trifft auch auf Assistenzsysteme zu, die den Fahrer bei der Ausiibung seiner primiiren Fahrtatigkeit und den immer wichtiger werdenden Nebentatigkeiten - etwa der Nutzung von Entertainment- oder Kommunikations-
278 16 Sinn und Sinnlichkeit
funktionen - unterstiitzen. Aber kann eine Fahrzeugentwicklung, die sich allein am technisch Realisierbaren orientiert, heute noch erfolgreich sein? Die Technik macht immer mehr moglich - fraglich ist jedoch, ob die mit hohem Aufwand entwickelten Systeme tatsiichlich die Bediirfnisse der Kunden treffen. Dies gilt insbesondere fur Assistenzsysteme. Wenn es darum geht, den Fahrer zu unterstiitzen, muss man wissen, wobei und auf welche Weise solche Unterstiitzung erfolgen soIl. Dies erfordert die Ergiinzung einer rein technologiegetriebenen Entwicklung durch einen kunden- bzw. nutzerorientierten Ansatz (Beier, 1999 a).
16.3.1 Subjektiver Unterstutzungsbedarf durch Assistenzsysteme im "Verhaltensbereich Autobahn"
1m Projekt "Fahren auf der Autobahn" wurde der Unterstiitzungsbedarf in diesem Erlebens- und Verhaltensbereich ermittelt. Es wurde ein Konzept zugrunde gelegt, welches sich an der Beanspruchungsforschung orientiert (Hacker, 1986) und sowohl situations- wie auch personenbezogene Aspekte beriicksichtigt. Eine vereinfachte Darstellung dieses Modells erfolgt in Abb. 16.7. Aus dem Zusammenspiel von stabilen und variablen Merkmalen des Fahrers und der Fahrsituation ergibt sich eine Beanspruchung. Uber- oder unterschreitet die Beanspruchung einen optimalen Wertebereich, resultiert daraus Unterstiitzungsbedarf. Es ist dann zu kliiren, welche Handlungen in welcher Form unterstiitzt werden sollen.
Person MotivelMerkmale
Einstellungen F.ihigkeiten
Zustand
Verkehrssituation Stabile Anforderungen Variable Bedingungen
Beanspruchung physisch
psychisch
Assistenz-/lnformationssysteme Fur welche Handlungen?
Welcher Automatisierungsgrad? Information vs.Automatisierung
Abb. 16.7 Ein vereinfachtes Modell zur Entstehung von Unterstiitzungsbedarf bei der Fahrzeugfiihrung.
16.3 Die kundenorientierte Entwicklung 279
Zur Erhebung des Unterstiitzungsbedarfs wurde eine eigene Methodik entwickelt, die "Funktions-Assistenz-Matrix" (FA-Matrix). Bei diesem Verfahren handelt es sich urn einen strukturierten Fragebogen, bei dem zum einen die zu unterstiitzenden Funktionen und zum anderen die Abstufungen der Assistenz (von keinem Assistenzbedarf, iiber eine reine Informationsdarbietung, bis hin zur vollautomatischen Handlungsausfuhrung durch das System) dargestellt werden. Die FA-Matrix zeichnet sich durch eine hohe Komplexitiit aus und stellt entsprechend groBe Anforderungen an den Probanden. Das Verfahren bildet die Unterstiitzungswiinsche von Teilnehmern und Nutzergruppen auf sehr differenzierte Weise abo Die FAMatrix kann als "Paper-Pencil"-Version oder in computergestiitzter Form dargeboten werden. Tabelle 16.2 zeigt eine Teildarstellung der FA-Matrix, die im Projekt "Fahren auf der Autobahn" zum Einsatz kam. In den Zeilen stehen verschiedene Handlungen bzw. Funktionen, in den Spalten sind Assistenzgrade aufgelistet. Die Abbildung enthiilt die iiber Personen aggregierten relativen Wahlhiiufigkeiten fur die Situation Kolonnerifahrt auf der Autobahn. Der einzelne Teilnehmer markiert seine favorisierte Assistenzvariante, die iiber aIle Personen hiiufigsten Assistenzgrade pro Handlung sind fett gedruckt.
Tabelle 16.2 Teilweise Darstellung einer Funktions-Assistenz-Matrix (FA-Matrix)
Tritt hier Keine Nur VorschlageAutoma- Automa- Immer nicht auf Unter- warnen machen tisch bei tisch wenn automa-
stiitzung Problemen ich es will tisch
Lenken 0,00 0,30 0,30 0,00 0,10 0,20 0,10
Bremsen 0,00 0,20 0,10 0,00 0,50 0,00 0,20
Gas geben 0,00 0,60 0,00 0,00 0,00 0,20 0,20
Urn den Einfluss der fahrsituationsspezifischen Anforderungen auf den Unterstiitzungsbedarf zu erfassen, wurden fur 21 prototypische Autobahn-Verkehrssituationen schriftliche Szenarien entworfen, in die sich die Probanden hineindenken sollten. AnschlieBend erfolgte die Befragung mithilfe der FA-Matrix zu Unterstiitzungswiinschen fur insgesamt 22 repriisentative Fahrfunktionen. Als Ergebnis dieser Untersuchung konnten differenzierte Aussagen damber getroffen werden, welche Fahrfunktionen in welchen Situationen auf welche Art und Weise unterstiitzt werden sollen. Natiirlich muss man sich im Klaren damber sein, dass die Aussagen der Probanden ihr subjektives Meinungsbild widerspiegeln, das sich veriindern kann, wenn konkrete Nutzungserfahrungen mit Assistenzsystemen gewonnen werden. Die Ergebnisse sind aber zumindest aus drei Grunden wichtig:
1. Als "Experten fur Fabrzeugfuhrung" konnen Autofahrer fundierte Angaben zu Problemen formulieren, die sie alltiiglich erleben.
2. Die Meinung der Fahrer wird zu einem wichtigen Zeitpunkt in der MenschTechnik-Beziehung erfasst - niimlich dem der Anniiherung an ein neues System. Dieser Zeitpunkt wird bei jeder Markteinfiihrung durchlaufen, und er spiegelt die anfangliche Attraktivitat des Systems wider.
280 16 Sinn und Sinnlichkeit
3. Durch Verallgemeinerung der Ergebnisse lassen sich schlieBlich Erkenntnisse auf der Einstellungsebene von Kundengruppen generieren - etwa durch Aggregation von Daten tiber einzelne Fahrfunktionen, Assistenzgrade oder Personen.
Abbildung 16.8 zeigt, dass fUr komplexe Funktionen - wie Abstandsregulation und Spurhalten - ein starkerer Unterstiitzungswunsch existiert als fUr die Elementarfunktionen Gasgeben, Bremsen und Lenken. Beim Nachdenken tiber Abstandsregulation und Spurhalten werden vor all em mentale Sicherheitskonzepte aktiviert, und hier kann ein Fehler fatale Folgen haben. Spricht man aber tiber Gasgeben, Bremsen und Lenken, so sind dies Funktionen, die vor all em auf FahrspaJ3 und Situationskontrolle abzielen. Diese Unterscheidung spricht fUr ein Assistenzkonzept, welches FahrspaJ3, Entscheidungsautonomie und Kontrolle beim Fahrer belasst und die elementaren Funktionen, die die Bewegung in Raum und Zeit bestimmen, vorrangig in Gefahrensituationen unterstiitzt.
Unterstutzungsbedarf fur Fahrhandlungen beim Fahren auf der Autobahn
-I' ·a. ,,' '. . , .. ' '.' ..... ;-" ':-:"
. - ',.. "~a :;;
Fahrzeugzustand
Verkehrsfunk
Abstandsregulation
.... .;~ •• --"-"->" .-~ ~"'."'.'~ i· . •• " ~~f .... ,p ~ .. -: t Landkarte lesen
" .::. :~ Verkehrsbeobachtung
Bremsen
Gas geben
Lenken
20 30 40 50 60 70 80 90 100
Unterstutzungsbedarf in %
Abb. 16.8 Darstellung der Handlungen mit dem groBten und dem geringsten Unterstiitzungsbedarf. Die Ergebnisse sind iiber aile Personen, Situationen und Assistenzgrade aggregiert.
Der Wunsch nach Assistenz ist ebenfalls abhangig von der Fahrsituation. Abbildung. 16.9 zeigt Situationen mit besonders hohem und besonders niedrigem Unterstiitzungsbedarf.
In Abb. 16.9 bleiben allerdings diejenigen variablen Bedingungen einer Fahrsituation unerwahnt, die sich durch eine bloJ3e Beschreibung der Verkehrskonstellation nicht erfassen lassen. Der Einfluss von extemen Faktoren auf den Unterstiitzungsbedarf bei Autobahnfahrten - wie etwa die Beleuchtung oder die Witterung,
16.3 Die kundenorientierte Entwicklung 281
aber auch der psychische Zustand des Fahrers (z.E. Miidigkeit, Stimmung, Stress) - wurde mit einem strukturierten Tagebuchverfahren ermittelt. Als wichtigste Pradiktoren fUr einen hohen Unterstiitzungsbedarf wurden durchgangig interne Faktoren wie Miidigkeit und Stress genannt.
Zusammenfassend zeigte sich, dass der Wunsch nach Unterstiitzung durch Assistenzsysteme sowohl von den Fahrsituationen als auch von den zu unterstiitzenden Fahrhandlungen abhangig ist. Wie steht es aber urn den Fahrer selbst? Gibt es stabile Personlichkeitsmerkmale, die auf die Akzeptanz von Fahrerassistenzsystemen Einfluss haben?
Unterstutzungsbedarf in Fahrsituationen beim Fahren auf der Autobahn
Autobahnkreuz
Hindernis
Baustelle - Gegenfahrbahn Staubeginn
Kolonnenfahrt
Sicherheitsabstand Langstrecke
Spurverengung
Abfahren
Unbekannte Strecke Parken I Rasten
Rauffahren ;;h ., .. h .... l.
so 60 70 80 90
Unterstutzungsbedarf in %
100
Abb. 16.9 Darstellung der Situationen mit dem groBten und dem geringsten Untersttitzungsbedarf. Die Ergebnisse sind tiber alle Personen, Handlungen und Assistenzgrade aggregiert.
16.3.2 Personlichkeitsmerkmale und UnterstOtzungsbedarf durch Assistenzsysteme
Auf der Suche nach Eigenschaften der Personlichkeit, die die Akzeptanz neuer technischer Systeme erklaren und prognostizieren konnen, wurde haufig auf Merkmale wie Neurotizismus, Extraversion, Offenheit oder ahnliches zUrUckgegriffen. Es gelang jedoch fUr keine dieser generalisierten Personlichkeitsvariablen (und ebensowenig fUr eine Kombination aus mehreren solcher Variablen), stabile Zusammenhange mit Gestaltungsmerkmalen technischer Gerate nachzuweisen.
282 16 Sinn und Sinnlichkeit
Die QueUe des Problems liegt in den unterschiedlichen psychologischen Beschreibungsebenen generalisierter Personlichkeitsmerkmale auf der einen und dem spezifischen Bereich der Mensch-Technik-Interaktion auf der anderen Seite. Urn diesen Mismatch zu iiberwinden, entwickelte Beier (1999 b) den KUT, einen Fragebogen zur Erfassung von Kontrolliiberzeugungen im Umgang mit Technik. Dieses Erhebungsinstrument verbindet die Operationalisierung des handlungsnahen Konstrukts "Kontrolliiberzeugungen" (vgl. z.B. Krampen, 1979) mit der Spezifitiit des Situationsbereiches Techniknutzung. Der KUT© umfasst nach einigen Revisionsuntersuchungen noch acht Items und ist somit in vielen praktischen Untersuchungen leicht einsetzbar. Mittlerweile wurde der Fragebogen in verschiedensten Erhebungen von insgesamt iiber 1000 Probanden bearbeitet und in fiinf Sprachen iibersetzt, darunter auch Japanisch und Chinesisch.
Was bedeutet nun das Personlichkeitsmerkmal "Kontrolliiberzeugung im Umgang mit Technik" (der Einfachheit halber nachfolgend als "technische Kontrolliiberzeugungen" bezeichnet)? Einfach formuliert: eine Person, die im Umgang mit technischen Gediten hiiufig subjektiv erfolgreich war, bildet die Oberzeugung aus, dass sie die Technik im Griff hat. Dies fiihrt in der Regel dazu, dass sie gem mit Technik interagiert und neuen technischen Losungen offen gegeniibersteht. Erlebt eine Person dagegen hiiufig Misserfolge, so bildet sich ein Gefiihl der Ohnmacht beziehungsweise Hilflosigkeit gegeniiber Technik heraus. Situationen, in denen der Umgang mit Technik erforderlich ist, werden deshalb gemieden.
Es stellt sich die Frage, ob das Konzept der technischen Kontrolliiberzeugung prognostischen Wert fUr die Akzeptanz neuer Assistenzsysteme im Fahrzeug besitzt. Auf den ersten Blick offenbart sich hier ein Widerspruch: Assistenzsysteme nehmen dem Fahrer bestimmte (Teil)- Handlungen ab, die daraus resultierende Entlastung sollte besonders von Personen mit niedrigen technischen Kontrolliiberzeugungen begriiBt werden. Andererseits handelt es sich urn neue Systeme, und diese werden von Personen mit hohen technischen Kontrolliiberzeugungen eher akzeptiert.
Auch fUr diese Fragestellung konnte die Methode der FA-Matrix gewinnbringend eingesetzt werden. Die Unterteilung der Assistenz in verschiedene Stufen der Informationsdarbietung beziehungsweise der automatischen Ausfiihrung (vgl. Sheridan, 1988) fiihrte konsistent iiber verschiedene Untersuchungen zu folgenden Erkenntnissen (vgl. Abb. 16.10):
• Personen mit hohen technischen Kontrolliiberzeugungen zeigen generell eine groBere Akzeptanz fiir neue Assistenzsysteme im Fahrzeug.
• 1m Vergleich zu Personen mit niedrigen KontroUiiberzeugungen wird von Fahrem mit hohen Werten deutlich mehr Assistenz durch Informationsdarbietung gewiinscht. Personen mit hohen technischen Kontrolliiberzeugungen wollen im Fahrprozess aktiv bleiben.
• Personen mit niedrigen Kontrolliiberzeugungen sind zogerlicher in der Annahme neuer Assistenzsysteme. Wenn sie ein neues System akzeptieren, solI es moglichst automatisch funktionieren und nicht durch zusiitzliche Informationsdarbietung beanspruchen.
70
60
~ 50 .s N 40 c ~ fr 30 ~ « 20
10
0
Literatur 283
Kontrolluberzeugungen im Umgang mit Technik und Assistenzbedarf
_.--
I------.... ---... ----,:_==__
- ._---_._--,::;;;;:
f- ._-...... - ...-.. __ ... I-- r-..... -
f- -- _. __ ...... -I
Unterstutzungs· bedarf gesamt Information Automatisierung
Hohe technische Kontrolluberzeugungen
o Niedrige technische Kontrolluberzeugungen
Abb. 16.10 Der Einfluss von Kontrolliiberzeugungen im Umgang mit Technik auf den Wunsch nach Unterstiitzung durch Fahrerassistenzsysteme.
Was bedeuten diese Ergebnisse? Sie sprechen generell daflir, Unterschiede zwischen Fahrem bei der Entwicklung von Assistenzsystemen mit zu beriicksichtigen. Ein Assistenzsystem, das flir aile gleichermaBen optimal ist - also einen One-bestway - wird es nicht geben. Fiir die Gestaltung eines konkreten Assistenzsystems k6nnen die geschilderten Zusammenhange Perspektiven aufzeigen. Die Spezifik eines jeden Systems erfordert eine genaue Analyse der zu unterstiitzenden Prozesse und deren Anforderungen, die Pers6nlichkeit des Fahrers ist in diesem Mosaik ein wesentlicher Baustein.
Neben den Hinweisen flir die Gestaltung neuer Techniksysteme ist die Einbeziehung von Pers6nlichkeitsmerkmalen hilfreich, urn die Varianz aufzuklaren, welche nicht durch die zu bewertenden Systeme verursacht wurde. Nicht selten stellt sich in Evaluationsstudien die Frage, ob die Teilnehmer Aussagen iiber das Gerat oder eher iiber sich selbst gemacht haben. Das Pers6nlichkeitsmerkmal "Kontrolliiberzeugung im Umgang mit Technik" kann hier als eine erkliirende Variable wirken.
Literatur
AVL List (Hrsg.) (1996). The Sound of Silence - Wege zum angenehmen Fahrzeuggerausch, Proceedings "Motor und Umwelt". Graz: AVL List GmbH
AVL List (Hrsg.) (1998). Der Fahrzeugantrieb - Subjektive Kundenbediirfnisse erfassen und in der Entwicklung umsetzen, Proceedings "Motor und Umwelt ". Graz: A VL List GmbH
284 16 Sinn und Sinnlichkeit
Beier, G. (1999 a). From Solution to Problem or from Problem to Solution? A Driver orientated Approach to create new Assistance Systems. In LIR ltd. (Eds.), Proceedings "Latest Innovations in Car Safety Systems" .London: IIR Ltd.
Beier, G. (1999 b). KontroIliiberzeugungen im Umgang mit Technik. Report Psychologie, 9,684-694
Boemak, N. (1994). Bewertung von Motorgerauschen durch subjektiven Vergleich im Akustiklabor. Zeitschriftfur Liirmbekiimpfung, 41,84-88
Boemak, N. (1998). Motorgerauschbewertung aus Kundensicht. In A VL List (Hrsg.), Proceedings "Motor und Umwelt" (59-77). Graz: A VL List GmbH
Borg, I. & StaufenbieI., Th. (1989). Theorien und Methoden der Skalierung. Bern: HuberVerlag
von Dahlem, I. (1997). Nur Ieise - das ist Schnee von gestern. Der Tagesspiegel (Nr. 16030 vom 05.07.)
DIN EN ISO 9241 (1997). Ergonomische Anforderungen fur Burotiitigkeiten mit Bildschirmgeriiten. Berlin: Beuth-Verlag
DIN ISO 362 (1997). Messung des von beschleunigten StrafJenfahrzeugen abgestrahlten Geriiusches (EntwurfJ. Berlin: Beuth-Verlag
Hacker, W. (1986). Arbeitspsychologie. Bern: Huber-Verlag ISO 5130 (1982). Measurement of noise emitted by stationary road vehicles - Survey
method. Genf: International Organization for Standardization ISO 7 I 88 (1994). Measurement of noise emitted by passenger cars under conditions repre
sentative of urban driving. Genf: International Organization for Standardization Keidel, W.D. (1976). Sinnesphysiologie. Teil 1: Allgemeine Sinnesphysiologie, Visuelles
System (2. Auflage). Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag Krampen, G. (1979). Differenzierung des Konstrukts der KontroIliiberzeugung. Deutsche
Bearbeitung und Anwendung der IPC-Skala. Zeitschrift fur Experimentelle und Angewandte Psychologie, 26, 573-595.
Sheridan, T.B. (1988). Task allocation and supervisory control. In M. Helander (Ed.), Handbook of Human-Computer-Interaction (159-173). New York: North Holland
Spiegel, B. (1998). Das Automobil - ein ganzheit!iches Produkterlebnis. Zeitschrift for die gesamte WertschOpfungskette AutomobilwirtschaJt, 2, 58-63
Stevens, S.S. (1961). The psychophysics of sensory function. In W.A. Rosenblith (Ed.), Sensory Communication. New York: Wiley
Vo, Quang-Hue (Hrsg.) (1994). Soundengineering: Kundenbezogene Akustikentwicklung in der Fahrzeugtechnik. Renningen-Malmsheim: Expert-Verlag
Zwicker, E. & Fast!, H. (1990). Psychoacoustics. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag
leil V
Verkehr
17 Der Verkehr in Ballungsraumen im Jahre 2020: Perspektiven auf Basis einer Delphistudie aus dem Jahr 2000
Gundi Dinse, Hans-Gerhard Giesa und Walter Hell
17.1 Einleitung
Die Gestaltung von Verkehr in stadtischen Agglomerationen ist seit jeher ein Thema, bei dem immer wieder kontroverse Standpunkte und Wahmebmungen aufeinander treffen. Die einen verbinden mit dem Verkehr in Innenstadten vor allem Stau, Larm, Abgase, Unfallgefahren und damit eine grundsatzliche Beeintrachtigung ihres Wohlbefindens. Die anderen sehen in einer gut ausgebauten stadtischen Verkehrsinfrastruktur und im Verkehr selbst eine wesentliche Voraussetzung fUr die Attraktivitat einer Stadt und als Folge davon fUr Arbeitsplatze, W ohlstand und Lebensqualitat.
Und wie so oft, wenn derart kontroverse Standpunkte aufeinandertreffen, sind in gewissem Umfang die Sichtweisen beider Seiten nachvollziehbar. Bei der Gestaltung des Verkehrs in Ballungsraurnen hat man es deshalb zwangslaufig mit einem komplexen Zielsystem, mit teilweise konkurrierenden Teilzielen zu tun.
17.1.1 Fragestellung
Wie entwickelt sich der Einzelhandel in der Innenstadt gegeniiber den Einkaufszentren im Umland? Wird der OPNV in Zukunft an Akzeptanz gewinnen oder wird der Innenstadtverkehr weiter yom Automobil dominiert? Setzen sich Entwicklungen wie E-Commerce durch und reduziert oder erh6ht sich dadurch der innerstadtische Verkehr? Welche MaBnahmen miissen getroffen werden, urn unerwiinschte Entwicklungen zu vermeiden bzw. urn erwiinschte Entwicklungen zu fOrdem? Weder Wissenschaftler noch Politiker k6nnen von sich behaupten zu wissen, wie diese Fragen fUr die nachsten 20 Jahre zu beantworten sind.
Eine M6glichkeit, wie man eine Vorstellung iiber die relevanten kiinftigen Entwicklungen fUr den Verkehr in deutschen Ballungsraumen erhalten kann, soll die hier beschriebene Studie aufzeigen. Dabei erheben wir nicht den Anspruch, ein exaktes Bild der Zukunft oder auch nur der relevanten Zukunftstrends zu beschreiben. Uns geht es zum einen darum aufzuzeigen, welche Entwicklungen aus heutiger Sicht Experten verschiedener Fachrichtungen fUr die nachsten 20 Jahren im Zusammenhang mit dem Verkehr in Ballungsraumen erwarten. Zum anderen geht es uns aber auch urn das Aufzeigen einer Vorgehensweise bzw. einer Denkweise im Zusammenhang mit der "Planung" von Zukunft.
288 17 Der Verkehr in Ballungsraumen im Jahre 2020
Zeiten, in denen man guten Gewissens vorhandene Trends in die Zukunft extrapolieren konnte, sind schon seit langem vorbei. Heute sind hohe Veranderungsgeschwindigkeit und Trendbriiche wichtiger Einflussfaktoren keine Seltenheit mehr. Die Marktdurchdringung des Handys oder die BSE-Krise mit all ihren noch nicht absehbaren Auswirkungen sind Beispiele daflir.
Die Auspragung vieler Einflussfaktoren, die sich auf die Verkehrssituation in Ballungsraumen auswirken, werden zudem nicht allein von den kommunalen Politikern entschieden. Seien es verkehrs-, umwelt- oder steuerpolitische Entscheidungen auf Bundes- oder EU-Ebene oder gesellschaftspolitische Prozesse, wie z.B. der Trend zu Ein-Personen-Haushalten oder zu neuartigen mobilitatsrelevanten Freizeitaktivitiiten. Dariiber hinaus stellen Kenntnisse z.B. tiber die Fortschritte in der Verkehrstechnik und dariiber, wie rasch derartige Innovationen auf Akzeptanz bei den Nutzern stoBen und damit entsprechende Verbreitung tinden, einen relevanten Input flir viele verkehrs- und stadtebaupolitische Entscheidungen in den jeweiligen Ballungsraumen dar.
Ein zusatzliches Problem bei der Gestaltung des innerstadtischen Verkehrs ist die eher evolutionare Entwicklung stadtischer Strukturen, die einen weiteren wesentlichen Einflussfaktor darstellen. Innerstadtische Verkehrs- oder Siedlungsstrukturen lassen sich nicht von heute auf morgen verandern, sondern meist nur tiber 1ahre - manchmal 1ahrzehnte.
Vor dies em Hintergrund ist die friihzeitige Auseinandersetzung mit den wichtigsten Entwicklungslinien in die Zukunft von groBer Bedeutung.
Eine Studie, wie sie im Anschluss beschrieben wird, kann deshalb u.E. schon dann als erfolgreich eingestuft werden, wenn sie sich als Grundlage flir die Diskussion zwischen Experten verschiedener Fachdisziplinen eignet. Selbstverstiindlich konnen schon nach zwei oder drei 1ahren unerwartete Entwicklungen die formulierten Vorstellungen tiber die Zukunft ad absurdum geflihrt haben. Dies macht aber die Diskussion zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen nicht tiberfltissig, sondern sollte im Gegenteil dazu ftihren, den interdisziplinaren Dialog tiber die Entwicklungen ktinftig moglichst zu institutionalisieren. Meist ist der Erkenntnisgewinn aus einer Diskussion dariiber, was wahrscheinlich kommen wird, genauso groB, wie die Diskussion dariiber, warum es nicht so gekommen ist, wie aIle Experten vermutet haben.
17.1.2 "Zukunft der Mobiltat" als aktuelles Forschungsthema
In den letzten 1ahren hat man sich hautiger mit der Frage beschaftigt, wie sich der Verkehr in der Zukunft entwickeln wird. So veroffentlichte die Gottlieb Daimlerund Karl Benz Stiftung 1994 in einer mehrbandigen Publikation die Ergebnisse eines Szenario-Projektes zum Thema "Mobilitat und Kommunikation in den Agglomerationen von heute und morgen" (Forschungsverbund Lebensraum Stadt, 1994). Eine interdiszipliniir zusammengesetzte Expertengruppe entwickelte im Rahmen dieses Projektes zwei alternative Szenarien. In einem Fall wurden mogliche Entwicklungen und Interventionen beschrieben, die Lebensbedingungen in stiidtischen Agglomerationen im 1ahr 2020 zur Folge haben konnten, die von der
17.1 Einleitung 289
Projektgruppe selbst mit dem Begriff "Die geplante Urbanitiit" iiberschrieben wurden. Das alternative Szenario tragt den Titel "Die Stadt im Prozess der Selbstregulierung" .
Eine andere Studie beschaftigte sich generell mit der "Zukunft der Mobilitat" und wurde yom Wiener Institut rur Motivforschung durchgeruhrt (ifm, 1999). Diese Untersuchung war als Delphi-Studie angelegt und enthalt eine Reihe von Erkenntnissen, die auch im Zusammenhang mit dem Verkehrsentwicklung in Ballungsraurnen von Bedeutung sind. Sieben Themenbereiche wurden behandelt:
- Verkehrsleistungs-Parameter (z.B. motorisierter Individualverkehr) - Parameter zur individuellen Mobilitat (z.B. Anzahl der Wege) - Parameter zur Infrastruktur und Telematik (z.B. Lange des hochrangigen
Schienennetzes) - Verkehrssicherheits-Parameter (z.B. Anzahl der verletzten Personen) - Okologische Parameter (z.B. Anzahl der Zero-emission-Vehicles (ZEVs» - Okonomische Parameter (z.B. Kosten eines Liters Benzin) - Allgemeine Parameter (z.B. Hohe des Bruttoinlandprodukts)
Raumlich bezog sich die Studie auf die EU-Staaten sowie Schweiz und Norwegen, zeitlich auf die zwei Prognosehorizonte 2010 und 2030.
1m August 2000 beschaftigte sich eine Fachtagung unter dem Titel "Mega-City BerlinBrandenburg - Risiko oder Chance rur die individuelle Mobilitat" in Form von Vortragen mit der Zukunft des Ballungsraums "BerlinBrandenburg". 1m Vorwort der Konferenzpublikation (Projektleitstelle Mobilitat und Verkehr des Landes Brandenburg, 2000) wurde als Ziel der Veranstaltung die Sensibilisierung und das Aufzeigen von Chancen der Entwicklung einer Mega-City genannt.
Ein wei teres Vorhaben iiber die "Zukunft der Mobilitiit" wurde im Herbst 2000 unter der Leitung des Instituts rur Mobilitatsforschung in Berlin begonnen. Mit Unterstiitzung von mehr als 50 Experten aus unterschiedlichen Disziplinen werden mogliche Entwicklungen im Zusammenhang mit den verschiedenen Verkehrstragem und ihrem Zusammenwirken erarbeitet. In Szenario-Form wird der Zeitraum bis ins Jahr 2020 beschrieben. Das Ergebnis solI in erster Linie als Input rur einen umfangreichen Dialog mit Vertretern aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Non-Governmental Organizations (NGOs) dienen. AnschlieBend sollen die Ergebnisse mit Unterstiitzung der Experten regelmaBig fortgeschrieben werden und immer wieder in der Offentlichkeit zur Diskussion gestellt werden. Ein wesentliches Ziel dieses Projekts ist zum einen, die Auseinandersetzung urn den Verkehr der Zukunft zu versachlichen, zum anderen die Komplexitat dieses Themas in der Offentlichkeit zu vermitteln, urn mehr Verstandnis rur notwendige Kompromisse zu wecken.
Es solI an dieser Stelle nicht urn einen Vergleich oder eine Gegeniiberstellung der Ergebnisse gehen, sondern diese ausgewahlten Studien sollen als Hinweis verstanden werden, dass es sich bei dem gewahlten Untersuchungsgegenstand urn ein Thema handelt, das rur viele Beteiligte von groBem Interesse ist und dem man sich auf unterschiedliche Weise nahern kann. Allen Untersuchungen ist gemeinsam, dass sie anregen wollen zur vertieften Auseinandersetzung mit Entwicklungen in der Zukunft.
290 17 Der Verkehr in Ballungsraumen im Jahre 2020
17.1.3 Systemabgrenzung
Technischer Fortschritt
Steuerungsinstrumente Verkehrsangebot
Demografie Raumstruktur
Wirtschaftliches Umfeld Mobiliriltsanspruch
Verkehrsarten
Abb. 17.1 Relevante Themenfelder der Delphi-Studie
Die vorliegende Studie beschiiftigt sich schwerpunktmiiBig mit der Entwicklung des Verkehrs in Ballungsriiumen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland. Dabei fokussiert die Untersuchung nicht auf eine spezielle Region, sondem definiert einen Ballungsraum als Gebiet hoher Bev6lkerungsdichte mit stark entwickelter Infrastruktur. Der zeitliche Horizont der Betrachtung bezieht sich auf die niichsten 20 Jahre, d.h. bis ins Jahr 2020.
Als relevante Themenfelder (Abb. 17.1), denen besondere Bedeutung flir die Entwick1ung der Ballungsriiume beigemessen wurde, wurden yom Projektteam flir die Konstruktion der Erhebungsunterlagen die folgenden definiert:
- Technischer Fortschritt (z.B. Verkehrstechnik) - Steuerungsinstrumente (z.B. City-Maut) - Verkehrsangebot (z.B. Rent-a-bike) - Verkehrsarten (z.B. OPNV, MIV) - Mobilitiitsanspruch (z.B. Berufs-, Freizeitverkehr) - Kosten der Mobilitiit (Fahrpreise, Kosten des MIV) - Wirtschaftliche Rahmenbedingungen (z.B. Konjunkturentwicklung) - Demografie (z.B. Altersstruktur, Einwohnerzahl) - Raum-/ Siedlungsstruktur (z.B. dezentral, zentralisiert, dispers)
Aufgrund der hohen Komplexitiit des Themas war man sich von Anfang an bewusst, dass die genannten Einflussfaktoren die Thematik nicht in ihrer Gesamthe it abdecken, sondem dass es weitere Faktoren gibt, die ebenfalls Bedeutung flir die Entwicklung des Verkehr in Ballungsriiumen haben werden. Beispielhaft seien
17.2 Methodik De1phi-Studie 291
nur das MaB an gesellschaftspolitischen Veranderungen (z.B. Wandel der Einstellungen zu Verkehr und Umwelt) oder spezifische technische Neuerungen wie z.B. der Traffic Message Channel (TMC) oder neue umweltvertraglichere Antriebstechnik genannt.
17.2 Methodik Delphi-Studie
Urn langfristige Entwicklungstrends in Wissenschaft und Technologie und deren wahrscheinliche Auswirkungen auf die Gesellschaft zu prognostizieren, wird haufig die Delphi-Methode eingesetzt. Bei einer Delphi-Studie geht es nicht urn Weissagungen (wie die begriffliche Anlehnung an das Orakel von Delphi vielleicht suggerieren mag) oder Extrapolationen der jetzigen und vergangenen Entwicklung, sondern es g4eht urn Erwartungen von Fachleuten, die selbst auf den Gebieten arbeiten, deren Entwicklung die Zukunft bestimmt (Grupp, 1995).
17.2.1 Definition und Aufbau
Die Delphi-Methode ist ein relativ stark strukturierter Gruppenkommunikationsprozess, in des sen Verlauf Sachverhalte, iiber die naturgemiiB unsicheres und unvollstiindiges Wissen existiert, von Experten beurteilt werden. Die Grundidee besteht darin, in mehreren Wellen Expertenmeinungen zu nutzen und sich in diesem Prozess eines anonymen Feedbacks zu bedienen (Hader u. Hader, 1995, 1998). Ein wesentlicher Unterschied der Delphi-Methode gegeniiber den konventionellen Verfahren der Expertenbefragung besteht in der Anonymitiit der Experten untereinander, die durch die schriftliche Form der Befragung erreicht wird.
Das klassische Design einer Delphi-Studie zeichnet sich durch folgende Merkmale aus (Hader u. Hader, 1994):
1. Verwendung eines formalisierten Fragebogens, 2. Befragung von Experten, 3. Anonymitat der Einzelantworten, 4. Ermittlung einer statistischen Gruppenantwort, 5. Information der Teilnehmer iiber die (statistische und verbale) Gruppenantwort, 6. (mehrfache) Wiederholung der Befragung.
17.2.2 Studien-Design
Die vorliegende Delphi-Studie erfolgte unter Beteiligung eines studentischen Projekts an der Technischen Universitat Berlin im Fach Systemtechnik. Die Datenerhebung wurde wahrend des Wintersemesters 2000/2001 durchgefiihrt und erfolgte in zwei Wellen.
Entsprechend der systemtechnischen Vorgehensweise wurden zunachst eine Systemdefinition des Gegenstands "Verkehr im Ballungsgebiet" und eine Abgren-
292 17 Der Verkehr in Ballungsraumen im Jahre 2020
zung zum iibergeordneten System "Innerdeutscher Verkehr" vorgenommen. Aus forschungspragmatischen Griinden wurde auf eine eigene Vorstudie verzichtet, sondem zur Eingrenzung des Untersuchungsfeldes auf bereits publizierte Zukunftsszenarien zuriickgegriffen (Forschungsverbund Lebensraum Stadt, 1994). Auf deren Grundlage erfolgten die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen und Festlegungen der Einflussbereiche.
In der ersten Befragungsrunde im Dezember 2000 wurden 99 Experten angeschrieben, von denen 64 antworteten (Riicklaufquote 65%). In der zweiten Befragungsrunde, die bereits im Januar 2001 stattfand, wurden nur diejenigen Experten wieder angeschrieben, die sich an der ersten Befragungsrunde beteiligt hatten. 41 der 64 angeschriebenen Experten antworteten (Riicklaufquote 64%).
17.2.3 Beteiligte Experten
Die Auswahl der Experten erfolgte so, dass sich ein breites Spektrum von Wissenschaftlem und Fachleuten aus Untemehmen, Verwaltung und Politik wie auch Vertretem weiterer NGOs, wie etwa Umweltschutzverbiinden oder Verkehrsclubs ergab. Auch Vertreter aus den Bereichen der Informationstechnologie und der Logistik, von denen ein immer gro/3erer Einfluss auf den Verkehr erwartet wird, wurden beteiligt. In Abb. 17.2 und 17.3 sind die Zusammensetzung des Expertenpanels der insgesamt angeschriebenen Experten und der zweiten Befragungsrunde aufgeschliisselt nach Fachgebieten gegeniibergestellt. Die Gruppe "Sonstige" macht mit 24% (in der ersten Runde 16%) einen relativ gro/3en Anteil aus. Hierzu gehOren Interessenverbiinde (z.B. Verkehrsclubs, Industrieverbiinde), Politiker, Berater sowie Behorden, die nicht in den anderen Fachgebieten zugeordnet werden konnten.
Anbieter Mobilicatsdienste
Fahrzeugtechnologie
Informadonstechnologie
Internet & Mobilkommunikadon
Logistik
Okonomie
Sonstige
Sozialforschung & Psychologie
Umwelt & Okologie
Verkehrs- & Raumplanung
o
4 I
7 I
9 I 7 I
8 I
6 I 7 I
5 10 Anzahl
18 I
15 I
18 J 15
Abb. 17.2 Fachgebiete der angeschriebenen Experten insgesamt (n = 99)
17.2 Methodik De1phi-Studie 293
Anbieter Mobilitiitsdienste F----,
Fah rzeugtechnologie I-==----"~
I nformationstechnologie
Internet & Mobilkommunikation
Logistik !==---,
Okonomie 1======-----, Sonstige F==;----'-=-......I
Sozialforschung & Psychologie =::::::::---' Umwelt & Okologie F==--...,
Verkehrs- & Raumplanung I---...... ....L----r----.----'
o 5 10 Anzahl
15
Abb. 17.3 Fachgebiete der teilgenommenen Experten 2. Runde (n = 41)
In Abb. 17.4 ist die Zusammensetzung des Expertenpanels der insgesamt angesehriebenen Experten und der zweiten Befragungsrunde aufgesehliisselt naeh Typ der Institution gegeniibergestellt. Hier zeigt sieh, dass die Gruppe der in Unternehmen tatigen Experten wahrend der Studie gegeniiber den anderen iiberproportional stark abgenommen hat. Die Randbedingungen flir die Teilnahme sind trotz Bereitsehaft und Interesse der jeweiligen Experten in Untemehmen aus Zeit- und Kostengriinden nieht immer besonders giinstig. Bei einer Weiterfiihrung der Studie iiber die zweite Befragungsrunde hinaus ware mit einer we iter ansteigenden Panelmortalitat insbesondere in dieser Expertengruppe zu reehnen gewesen, womit keine elaborierteren Ergebnisse zu erwarten gewesen waren.
Forschung 30 J Forschung
Interessenverbande m Interessenverbande 5
Unternehmen 48 1 Unternehmen
Verwaltung ill Verwaltung
(a) 10 20 30 40 10 20 30 40
Anzahl (b) Anzahl
Abb. 17.4 Typ der Institutionen der beteiligten Experten (a) angeschriebene insgesamt, (b) teilgenommene Experten der 2. Runde.
17.2.4 Fragebogen
Der verwendete Fragebogen gliedert sieh gemaB der Systemdefinition (vgl. Absehnitt 17.1.3) naeh folgenden Themenbloeken:
Demografie und Raumstruktur - Verkehrsarten und Mobilitatsansprueh
294 17 Der Verkehr in Ballungsriiumen im Jahre 2020
Steuerungsinstrumente und Verkehrsangebot Technischer Fortschritt Wirtschaftliches Umfeld und Mobilitiitskosten
Er bestand in beiden Runden aus acht Seiten mit 19 Fragen die sich teilweise aus mehreren Items zusammensetzen. Es kamen vier verschiedene Fragetypen zum Einsatz:
I. Rating-Skalen mit fiinf Abstufungen 2. Schiitzung prozentualer Anteile 3. offene Fragen (nur erste Runde) 4. Ranking von Einflussfaktoren (nur zweite Runde)
Die Ergebnisse der ersten Runde (Hiiufigkeiten in Prozent) sind iiber den Antwortskalen im Fragebogen der zweiten Runde angegeben (s. Beispiel in Abb. 17.5). Bei der Schiitzung prozentualer Anteile wurden die Antworten zur Veranschaulichung grafisch autbereitet.
Frage 2: Wie wird sich die Anzahl der am Tag pro Person zuruckgelegten Kilometer in deutschen Ballungsraumen bis 2020 verandern1
stark riickgangig 0%
o -2
0%
o -I
13%
o o
75%
o 1
12%
o 2
stark wachsend
Abb.17.S Beispiel fur eine Frage mit einem Item (zweite Befragungsrunde)
Durch die riickgemeldeten Informationen wird den Teilnehmem die Moglichkeit eines Vergleichs ihrer eigenen Einschiitzungen mit denen der gesamten Gruppe gegeben und die Moglichkeit erOffnet, die Einschiitzungen vor diesem Hintergrund noch einmal neu zu iiberdenken.
Aus den offenen Fragen des ersten Fragebogens wurden fiir die zweite Runde einige neue Items abgeleitet, im neuen Fragebogen eingefiigt und durch kursive Schrift gekennzeichnet. Am Ende eines jeden der fiinf Abschnitte des Fragebogens sollte auf einer fiinfstufigen Rating-Skala die Sicherheit der getroffenen Einschiitzungen fiir den jeweiligen Abschnitt eingeschiitzt werden. In einer abschlieBenden Frage wurden die Experten gebeten, die Vollstiindigkeit der im Fragebogen enthaltenen Einflussbereiche auf den Verkehr in Ballungsriiumen im Jahre 2020 mittels einer Schulnote (Note 1 bis 5) zu beurteilen.
17.3 Ergebnisse zur Methode
In diesem Abschnitt werden die Ergebnisse dargestellt, die sich auf die DelphiMethode beziehen. Dies sind die Beurteilung der Vollstiindigkeit des Fragebogens durch die Experten, deren Selbsteinschiitzung der Sicherheit sowie eine Auswer-
17.3 Ergebnisse zur Methode 295
tung der StabiliHit und Konvergenz der Expertenurteile. Die inhaltlichen Ergebnisse werden im anschlieBenden Abschnitt 17.4 dargestellt.
17.3.1 Vollstandigkeit des Fragebogens
Die Ergebnisse zur Einschatzung der Vollstandigkeit der im Fragebogen enthaltenen Einflussbereiche auf den Verkehr in Ballungsraumen im Jahre 2020 sind in Abb. 17.6 dargestellt. 49% der Teilnehmer der zweiten Runde beurteilen die Vollstandigkeit mit "gut", 1 0% sogar mit sehr gut. Dies ist eine deutlich bessere Beurteilung, als von den gleichen Experten in der ersten Runde vorgenommen wurde. Dies bedeutet, dass durch die offenen Fragen der ersten Runde, deren Ergebnisse in den zweiten Fragebogen aufgenommen wurden, eine bessere Abdeckung der Thematik erreicht werden konnte. Dennoch beurteilen immerhin noch 115 der Experten die Vollstandigkeit nur mit ausreichend. Den groBten Anteil hieran haben die Experten aus dem Fachgebiet "Verkehrs- und Raumplanung" (n = 3) und "Fahrzeugtechnologie" (n = 2). Dies ist ein Hinweis darauf, dass diese Gebiete im Fragebogen moglicherweise reiativ untergewichtet waren bzw. es sich beim Therna "Mobilitat" urn ein so komplexes Thema handelt, dass weitere Bereiche existieren, die nach Ansicht der Experten einen Einfluss ausiiben, aber im Fragebogen nicht beriicksichtigt wurden bzw. werden konnten.
~ SO .........
.~ ~W ::l I.. E 30
..c ~ 20 ~ 'iii 10 .... c «
13
sehr gut
r-~
31 33 -
23
befriedigend gut ausreichend
Runde I
SO
40
30
20
1011.:l II 10 I sehr gut
-49
22 20
befr.iedigend gut ausreichend
Runde 2
Abb. 17.6 Einschiitzung der Vollstiindigkeit der Einflussbereiche durch den Fragebogen (nur Teilnehmer beider Delphi-Runden).
17.3.2 Subjektive Sicherheit der Experten
Am Ende jedes Themenblocks des Fragebogens wurde auf einer fUnfstufigen Rating-Skala nach der Sicherheit der getroffenen Einschatzungen fUr den jeweiligen Abschnitt gefragt. Der Text zur subjektiven Sicherheit lautete "Bei den getrof-
296 17 Der Verkehr in Ballungsriiumen im Jahre 2020
fenen Einschatzungen innerhalb des Abschnitts bin ich mir 1 = sehr unsicher bis 5 = sehr sicher". Die Mittelwerte der Antworten sind in Tabelle 17.1 zusammengefasst.
Tabelle 17.1 Subjektive Sicherheit der Experten (Mittelwerte auf einer 5-stufigen Skala und Standardabweichung).
I. Befragung 2. Befragung
Themenblock Mittel- Standard- Mittel- Standard-wert abweichung wert abweichung
Demografie und Raumstruktur 3,78 0,69 3,90 0,60
Verkehrsarten und Mobilitlitsanspruch 3,98 0,61 3,95 0,50
Steuerungsinstrumente und Verkehrsangebot 3,76 0,89 3,63 0,70
Technischer Fortschritt 3,80 0,68 3,78 0,66
Wirtschaftliches Umfeld und Mobilitatskosten 3,88 0,72 3,87 0,61
Die gefundenen Werte deuten auf ein insgesamt hohes Niveau der Selbsteinschatzung der Sicherheit bei der Einschatzung abgefragter Entwieklungen hin. Nahezu aIle Selbsteinschatzungen liegen im oberen Bereich der Skala. Zwischen erster und zweiter Befragung ist kein Anstieg der Sicherheit insgesamt festzustellen. Die Riickmeldung der Ergebnisse der ersten Befragung haben die subjektive Sicherheit der Experten nieht erhOht.
17.3.3 Stabilitat und Konvergenz
Ais ein Abbruchkriterium fiir eine Delphi-Befragung kann die Stabilitat der UrteiIe herangezogen werden. Demnach wird so lange befragt, bis ein definierter Grad an Stabilitat erreicht wird (Hader u. Hader, 1994). Auch wenn die Zahl der Befragungsrunden in dieser Untersuchung aus forschungspragmatischen Griinden bereits feststand, solI die Stabilitat zumindest kontrolliert werden.
Zunachst wurde mit dem Wilcoxon-Test fliT Paardifferenzen (vgl. z.B. Bortz, 1999) iiberpriift, inwieweit sich die Ratings der einzelnen in beiden Runden verwendeten Items hinsiehtlich ihrer zentralen Tendenz unterscheiden. Es zeigt sich nur bei drei der insgesamt 35 Items ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen beiden Befragungsrunden.22
22Items mit signifikantem Unterschied zwischen erster und zweiter Befragung: - Der Mobilitiitsanspruch der Bevolkerung wird auch in Zukunft hauptsiichlich yom moto
risierten Individualverkehr befriedigt werden konnen. Inwieweit konnen Sie diese These bestiitigen (stimme gar nicht zu ... stimme voll zu).
- Der entsprechende Ausbau der Verkehrsinfrastruktur wird den motorisierten Individualverkehr in den niichsten 20 Jahren verstiirkt beriicksichtigen und fOrdem bzw. sind restriktive MaBnahrnen zu erwarten! Bitte schiitzen Sie ein, ob die MaBnahmen eher restriktiv oder unterstiitzend ausfallen werden (restriktiv ... unterstiitzend).
17.4 Zukiinftige Entwicklung des Verkehrs in deutschen BaUungsraumen 297
Der Anteil der zwischen erster und zweiter Runde unveranderten Urteile kann als Stabilitatsindikator herangezogen werden. Die Ergebnisse sind in Tabelle 17.2 zusammengefasst. Obwohl in einigen Untersuchungen zur Delphi-Methode gezeigt werden konnte, dass die groBten Veranderungen zwischen der ersten und der zweiten Runde stattfinden (Hader u. Hader, 1998), wurde deutlich, dass in der vorliegenden Untersuchung bereits zwischen erster und zweiter Runde in den einzelnen Themenblocken durchschnittlich etwa 60 bis 70% der Beurteilungen nicht mehr geandert wurden.
Tabelle 17.2 Stabilitat der Urteile der in beiden Runden verwendeten Items nach Themenblacken (nur Teilnehmer beider Delphi-Runden, n = 41).
Themenblock
Demografie und Raumstruktur
Verkehrsarten und Mobilitatsanspruch
Steuerungsinstrumente und Verkehrsangebot
Technischer Fortschritt
Wirtschaftliches Umfeld und Mobilitatskosten
durchschnittlicher Anteil Range [%] unveranderter Urteile [%]
67 (51 ... 78)
60 (44 ... 75)
59 (51 ... 71)
60 (44 ... 72)
67 (54 ... 75)
Grundsatzlich wird mit der Delphi-Methode die Schaffung eines Konsens zwischen den beteiligten Experten angestrebt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich flir ein konvergentes Ergebnis aile Experten immer an eine gemeinsame Beurteilung annahem mussen (s.a. Hader u. Hader, 2000). Beispielsweise weisen bipolare Verteilungen der Urteile auf das Vorhandensein zweier kontroverser Grundpositionen hin. Die Konvergenz der Urteile lasst sich am einfachsten direkt anhand der Verteilungen der Urteile erkennen.
Eine hohe Konvergenz der Urteile bezuglich einer Ratingstufe wird im folgenden als Trend bezeichnet. Entsprechend der gefundenen Konvergenzen werden aus den Ergebnissen Trends abgeleitet. Verteilungen, aus denen sich kein Trend erkennen lasst, werden hinsichtlich einer Bipolaritat gepriift und dargestellt. Diejenigen Antwortverteilungen, bei denen weder ein Trend noch eine mehrgipflige Verteilung zu erkennen ist, werden als indifferent eingestuft und als solche diskutiert.
17.4 Zuki.inftige Entwicklung des Verkehrs in deutschen Ballungsraumen aus Sicht der Experten
In diesem Abschnitt ist die quantitative Auswertung aller Items des Fragebogens der durchgeflihrten Delphi-Studie zusammengefasst. Gegliedert in die Bereiche Demografie und Raumstruktur, Verkehrsarten und Mobilitatsanspruch, Steuerungsinstrumente und Verkehrsangebot, technischer Fortschritt, wirtschaftliches
- Wie werden sich die mit der Benutzung des OPNV verbundenen Kosten entwickeln? (sinken ... steigen)
298 17 Der Verkehr in Ballungsraumen im Jahre 2020
Umfeld und Mobilitatskosten werden die Hauptaussagen der Experten nachstehend dargestellt.
Die Ergebnisse beziehen sich im wesentlichen auf die Beantwortung der geschlossenen Fragen der zweiten Befragungsrunde (vgl. Abschnitt 17.2.2), die i.a. als die "eigentlichen" Resultate einer Delphi-Studie aufgefasst werden konnen (vgl. Stratmann, 2000).
Die hier wiedergegebenen Antworten und - falls vorhanden - dargestellten Trends sind groBtenteils wortlich aus dem Fragebogen libemommen. Sofem groBe Abweichungen zur ersten Befragungsrunde vorliegen, finden diese Erwahnung.
17.4.1 Demografie und Raumstruktur
Die Mehrheit der Experten rechnet in den nachsten 20 Jahren mit einer steigenden Bevolkerungsdichte in deutschen Ballungsraumen. Nur in insgesamt 10% der Antworten wird von einer diesbezliglich riickgangigen Entwicklung ausgegangen.
Der Personenverkehr in deutschen Ballungsraumen wird auch innerhalb der nachsten 20 Jahre weiter wachsen. Einen wesentlichen Grund sehen die Experten darin, dass das Verkehrsautkommen in deutschen Ballungsraumen durch einen sich vergroBemden Einzugsbereich der deutschen Stadte steigen wird. 40% der Experten sehen in diesem Zusammenhang zudem eine Entwicklung in Richtung zunehmender Desurbanisierung. Die Durchsetzungschancen des stadtebaulichen Konzepts "Stadt der kurzen Wege" wird fUr die nachsten 20 Jahre von den Experten eher skeptisch beurteilt. Gegenliber 76% der Experten, fUr die eine Durchsetzung dieses Konzepts nicht vorstellbar ist, glauben nur 7% an dessen EinfUhrung.
Gefragt nach einer Vergleichbarkeit der strukturellen Entwicklungen in verschiedenen deutschen Ballungsraumen sieht zwar die Mehrheit der Experten (58%) fUr deutsche Ballungsraume eine ahnliche Entwicklung innerhalb der nachsten 20 Jahre. Ein nicht zu vemachlassigender Teil von einem Viertel der Befragten erwartet dagegen, dass sich die deutschen Ballungsraume sehr unterschiedlich zueinander entwickeln werden.
17.4.2 Verkehrsarten und Mobilitatsanspruch
Wie bereits dargestellt, herrscht unter den Experten groBe Einigkeit dariiber, dass die taglich zuriickgelegten Personenkilometer auch in Zukunft weiter ansteigen werden. Verteilt auf die verschiedenen Verkehrszwecke rechnen die Experten mit den starksten Zuwachsraten im Bereich des Freizeitverkehrs. Knapp ein Drittel der Experten prognostizieren hier fUr die nachsten 20 Jahre nicht nur ein leichtes, sondem sogar ein starkes Wachstum. In den Bereichen des Berufs- und Einkaufsverkehrs sehen die Voraussagen weniger eindeutig aus: Zwar wird auch hier mehrheitlich davon ausgegangen, dass die Menschen in den nachsten 20 Jahren groBere Entfemung zum Einkaufen und Arbeiten zuriicklegen werden, 39% (Einkaufsverkehr) bzw. 32% (Berufsverkehr) der Experten glauben aber auch, dass die Personenkilometer fUr diese Verkehrszwecke gleich bleiben werden. Flir den Berufsverkehr wird sogar von 7% der Befragten ein auf die Kilometer bezogener
17.4 Zukiinftige Entwicklung des Verkehrs in deutschen Ballungsrliumen 299
riicklaufiger Trend vorhergesagt. Nicht nur der Personenverkehr wird zu einem steigenden Verkehrsaufkommen innerhalb der Ballungsraume fuhren. Auch in bezug auf den Lieferverkehr ist in den nachsten 20 Jahren mit einem ungebrochenen Wachstum zu rechnen.
Wie wird versucht werden, dieses steigende Verkehrsaufkommen in den Griff zu bekommen? Ein wesentlicher Trend geht in Richtung Leitsysteme und nachfragegesteuerte OPNV-Systeme. Erstere werden sowohl passiv durch Informationen als auch aktiv durch elektronische Verkehrssteuerung den Verkehrsfluss versuchen zu optimieren, wohin gegen letztere eher mittels nachfrageorientierter Angebotsgestaltung das Ziel verfolgen, das Verkehrsaufkommen umzuverteilen bzw. den StraBenverkehr zu reduzieren.
Die ebenfalls in diesem Zusammenhang haufig diskutierte Vemetzung der verschiedenen Verkehrstrager, sprich die Durchsetzung der Intermodalitat, wird von 51 % der Experten fur wahrscheinlich gehalten. Demgegeniiber stehen aber auch 29%, die diese Entwicklung indifferent beurteilen und ein Fiinftel der Befragten, die sich auch fur die nachsten 20 Jahre die Moglichkeit des reibungslosen Umstiegs von dem einen auf das andere Verkehrsmittel nicht vorstellen konnen. Konkret bezogen auf das Konzept von Park-and-Ride-Systemen fallen diese Einschatzungen jedoch anders aus. Hier sehen die Experten einen klaren Trend in Richtung verstarkter Einfuhrung.
Die Entwicklungschancen von Car-Sharing werden tendenziell eher skeptisch beurteilt. 55% der Experten halten dessen Durchsetzung fur unwahrscheinlich, nur 28% fur wahrscheinlich und 18% sind indifferent (vgl. Abb. 17.7).
Die zukiinftige Durchsetzung von City-Logistik-Konzepten, beispielsweise der Nutzung der U-Bahn fur den Giitertransport, lasst sich nicht eindeutig beurteilen. Die Einschatzungen der Experten verteilen sich gleichma13ig - zu je einem Drittel -auf die Antworten "Durchsetzung unwahrscheinlich", "wahrscheinlich" und "mittel". ,.........
SO ~ ,--
. iii 40 ..... ....
SO ::J .... Q)
E 30 ~
Q) r---c
20 ~ - 25
'iii 10 ..... c
5 18 3
« n ,--, sehr unwahrscheinlich wahrscheinlich
unwahrscheinlich sehr wahrscheinlich
indifferent
Abb. 17.7 Bitte beurteilen Sie Car-Sharing beziiglich seiner Durchsetzung in den nlichsten 20 Jahren. (nur Teilnehmer beider Delphi-Runden, nur im Fragebogen fur die zweite Runde enthalten).
300 17 Der Verkehr in Ballungsraumen im Jahre 2020
17.4.3 Verkehrsangebote und Steuerungsinstrumente
Nahezu unabhangig von der Durchsetzung der im vorangegangenen Abschnitt dargestellten Konzepte ist davon auszugehen, dass das Auto als Verkehrsmittel innerhalb der Stadte nicht an Bedeutung verlieren wird. Die Bev6lkerung wird -so die mehrheitliche Meinung der Experten - auch in 20 Jahren noch ihre Mobilitatsanspriiche in der Stadt primar mit dem Auto befriedigen, dies jedoch zu deutlich erh6hten Kosten.
Die Ergebnisse zu der Frage, inwieweit der Mobilitatsanspruch der Bev6lkerung zukunftig durch den motorisierten Individualverkehr befriedigt wird, sind in Abb. 17.8 dargestellt. Dieses Beispiel zeichnet sich durch eine starke Veranderung zwischen erster und zweiter Runde aus. Nach einem anfangs indifferenten Bild zeichnet sich in der zweiten Runde ein Trend abo
*' 50 ......... 50 (1) 40 40 49 .... L.. :I L.. -(1) 30 - 30 E
31 33 ..c r---(1)
20 c 23 20
~ r--- 22 20 (1)
10 13 10 .... c «
sehr gut befriedigend gut ausreichend
sehr gut befriedigend gut ausreichend
Runde I Runde 2
Abb. 17.8 Der Mobiltatsanspruch der Bey61kerung wird auch in Zukunft in den Stadten hauptsachlich yom motorisierten Indiyidualyerkehr befriedigt werden. Wie beurteilen Sie diese Aussage? (nur Teilnehmer beider Delphi-Runden).
80% der Experten gehen in diesem Zusammenhang davon aus, dass eine flachendeckende Parkraumbewirtschaftung eingefUhrt wird. 43% vermuten zudem, dass die Autofahrer mit einer innerstadtischen StraBenbenutzungsgebuhr (City-Maut) rechnen mussen. Einen stark restriktiven V orsto13 der Politik, Innenstadte fUr den Autoverkehr ganzlich zu sperren, halten die Experten jedoch fUr au13erst unwahrscheinlich. Schon bei der V orstellung, dass gewisse Innenstadtbereiche fUr den Autoverkehr gesperrt werden k6nnten, tun sich die meisten Experten schwer. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass einzelne StraBen I-zuge verstarkt verkehrsberuhigt sein werden.
Bezuglich der Infrastruktur in Ballungsraumen wird erwartet, dass die Verkehrspolitik in den nachsten 20 Jahre den Offentlichen Personennahverkehr und den nicht motorisierten Verkehr fordern wird. Die politische Richtung in bezug auf den Umgang mit dem motorisierten Individualverkehr beurteilten die Experten in der ersten Befragungsrunde relativ indifferent. Erst in der zweiten Runde wurde
17.4 Zukiinftige Entwicklung des Verkehrs in deutschen Ballungsraurnen 301
ein sehr eindeutiger Trend in Richtung leicht restriktiver Handhabung deutlich. Sehr iihnlieh in bezug auf die erste und zweite Befragungsrunde, aber in sieh untersehiedlieh, verteilten sieh dagegen die Antworten zu dem Lieferverkehr: 40% der Experten sehen seitens der Verkehrspolitik eine leieht unterstiitzende Tendenz, 40% keine klare Linie und weitere 20% vennuten eher leicht restriktive MaBnahmen.
Der Trend innerhalb der Verkehrsangebote wird zunehmend in Richtung neue zielgruppenspezifisehe Mobilitiitsdienstleistungen gehen. Fur die bereits bekannten Ansiitze bedeutet dies, dass sowohl Mobilitiitsdienste flir Senioren als auch Sammeltaxen stark naehgefragt werden, wiihrend die Nutzung einer City-Mitfahrzentrale flir innerstiidtisehe Fahrten eher gering ausfallen wird. Tendenziell eher negativ werden ebenfalls die Zukunftsehaneen flir Konzepte wie Cash Car oder Rent-a-bike bewertet. So konnen sieh 53% (Cash Car) bzw. 49% (Rent-a-bike) der Experten nieht vorstellen, dass zukiinftig vennehrt Personen einen Anreiz darin sehen, ihr Fahrzeug zu vennieten bzw. ein gemietetes Fahrrad innerstiidtisehes als Verkehrsmittel zu nutzen. 26% bzw. 24% stufen die Marktehaneen von Cash Car bzw. Rent-a-bike als mittel ein und vergleichsweise nur 21 % (Cash Car) bzw. 27% (Rent-a-bike) halten diese flir hoch.
Aueh die Verkehrskonzepte werden in den niichsten 20 Jahren verstiirkt zielgruppenorientiert ausgeriehtet werden mussen, so die Mehrzahl der Experten. Daraus resultierend bedeutet dies flir die Verkehrsmittel, dass sich vor allem der Lkw, der Pkw, die Regionalziige und der Bus auf ein sich veriinderndes Umfeld und damit auf veriinderte Rabmenbedingungen einstellen mussen (Lkw: 95% der Experten gehen von einem starken bis sehr starken Veriinderungsdruek aus, Pkw: 86%, Regionalziige: 81%, Bus: 78%). Unter dem geringsten Veriinderungsdruck wird unter den sehienengebunden Verkehrsmittel die U-Bahn, unter den motorisierten Verkehrsmittel der Roller bzw. das Motorrad und in bezug auf alle Verkehrsmittel das Fahrrad stehen. Diese Verkehrsmittel werden nach Ansieht der Experten in nahezu unterveriinderter Fonn aueh noeh in 20 Jahren die Mobilitiitsbedurfnisse der Stadter befriedigen und das Stadtbild in gewohnter Fonn priigen.
17.4.4 Technischer Fortschritt
Der flir die niiehsten Jahre zu erwartende verstiirkte Einsatz von Telekommunikation (z.B. E-Business, Teleshopping, Videokonferenzen, Telearbeit etc.) wird sieh naeh Einsehiitzung der Experten auf den Personen- und Lieferverkehr unterschiedlieh auswirken. Wiihrend die daraus resultierenden Veriinderungen des Personenverkehrs mehrheitlich als quantitativ gering beurteilt werden (70% der Experten), prognostizieren die Befragten flir den Lieferverkehr eine deutliche Zunabme (86% der Nennungen). Die in der Offentliehkeit vielfach zu hOrende Hypothese, der verstiirkte Einsatz der Telekommunikation wird eine verkehrsreduzierende Wirkung auf den Personenverkehr haben, wird somit von hier befragten Experten nicht bestiitigt. 28% der Befragten meinen sogar im Gegenteil, dass die Telekommunikation aueh in Bezug auf den Personenverkehr eine verkehrsinduzierende Wirkung haben wird.
302 17 Der Verkehr in Ballungsriiumen im Jahre 2020
Der Verkehrsfluss wird in den nachsten 20 Jahren durch den verstarkten Einsatz von Telematik im Stra13enverkehr, also auch von Technologien, die daraufhinauslaufen, dass der Fahrer entlastet wird (sog. Fahrerassistenzsysteme), verbessert werden. Der Hypothese, dass eine solche Verkehrsflussoptimierung langfristig dadurch konterkariert wird, dass diese Verbesserung eine Verkehrszunahme nach sich zieht, schlieBt sich die Mehrzahl der Experten nicht an. Nur 20% der Befragten gehen aufgrund des verstarkten Einsatzes von Telematik von einer Verkehrszunahme aus.
Ob die Verkehrsstrome ausschlieBlich iiber ein eher selbstorganisiertes Management organisiert werden oder ob zusatzlich dazu eine zentral gesteuerte Routenbeeinflussung zum Einsatz kommt, wird von den Experten unterschiedlich gesehen. So halten es 52% der Experten fiir unwahrscheinlich, dass der Verkehrsstrom innerstadtisch durch den Einsatz von Verkehrsleitsystemen optimiert wird, 13% sind sich unsicher und 36% glauben, dass diese Technologien flachendeckend zum Einsatz kommen wird. Demgegeniiber sicher scheint die Entwicklung individueller Informationsbereitstellung beispielsweise iiber das Handy oder einem Personal-Travel-Assistent. Diese Innovationen werden zukiinftig ein wichtiger verkehrsflussoptimierender Bestandteil unserer eigenstandigen Routenplanung sein.
1m Modalsplit wird der OPNV gegeniiber dem MIV in den nachsten Jahren zulegen. Die gemittelten Werte der Antworten lassen einen Anstieg des OPNV von heute 13% auf 22% und eine leichte Abnahme des MIV von derzeit 67% auf 62% erwarten. Die restlichen 16% verteilen sich auf den nicht motorisierten Individualverkehr und auf die FuBganger.
17.4.5 Wirtschaftliches Umfeld und Mobilitatskosten
Die Kosten fiir das innerstadtische Mobilsein werden steigen (vgl. Steuerungsinstrumente und Verkehrsangebote). In bezug auf das Autofahren rechnen 88% der Experten mit einem moderaten und 10% mit einem starken Anstieg der inflationsbereinigten variablen und fixen Kosten (Kraftstoffpreis, Parkgebiihren, Steuem, Versicherung etc.). In Abb. 17.9 sind die Ergebnisse zur Einschatzung der Kostenentwicklung des motorisierten Individualverkehrs als ein Beispiel fiir einen klaren Trend mit hoher Konvergenz der Urteile abgebildet.
Fiir den OPNV sehen diese Prognosen in der zweiten Befragungsrunde sehr ahnlich aus. Hier gehen 85% von einem moderaten Kostenanstieg fiir die Nutzung der offentlichen Verkehrsmittel im Sinne von Fahrpreisen aus und 5% von einem starken. Auch in der ersten Runde gab es schon einen Trend in Richtung steigender Kostenentwicklung, jedoch war dieser im Vergleich zu zweiten Runde deutlich weniger stark ausgepragt.
Die Menschen werden jedoch trotz steigender Kosten unverandert we iter Auto fahren oder die Offentlichen Verkehrsmittel nutzen. So ist die Nutzung des motorisierten Individualverkehrs und auch die des offentlichen Verkehrs nach Einschatzung der Experten nicht preissensitiv. In bezug auf den offentlichen Verkehr rech-
17.5 Ausblick 303
nen sogar 34% der Experten trotz steigender Fahrpreise mit zunehmenden Fahrgastzahlen .
........ ~ ........ .~ 75 L. :::J L.
E 50 ~ Q.I c:
~ 25 .~
c:
-70
5 8 o C"""J c-=1. « stark sinkend gleichbleibend stark steigend
sinkend steigend
Runde I
.---
75 88
50
25 10
0 0 2 In ..--..
stark sinkend gleichbleibend stark steigend sinkend steigend
Runde 2
Abb. 17.9 Wie werden sich die inflationsbereinigten Kosten flir die Benutzung des MIV (Kraftstoff u.a. variable Kosten) entwickeln? (nur Teilnehmer beider Delphi-Runden).
Dass die Kosten nach Sicht der Experten nicht ausschlieBlich bzw. erst an runfter Stelle die Wahl des Verkehrsmittels beeinflussen, zeigt auch das folgende abgefragte Ranking. Hiemach ist rur die Wahl eines Verkehrsmittels das wichtigste Kriterium die Flexibilitat. Danach folgen seine Verftigbarkeit, Schnelligkeit, der Komfort und erst dann die Kosten. Gefolgt werden diese von der Sicherheit, den Transportmoglichkeiten, dem Status des Verkehrsmittels und den sich wahrend der Fahrt bietenden Arbeitsmoglichkeiten. Die Umweltvertraglichkeit rangiert an letzter Stelle und hat somit rur die Wahl eines Verkehrsmittels unter den aufgeftihrten Kriterien - nach Sicht der Experten - die geringste Bedeutung.
Der vielfach diskutierte Zusammenhang zwischen dem Bruttoinlandsprodukt und der landesspezifischen Verkehrsleistung wurde von Experten nahezu einstimmig bestatigt. 93% der Befragten gehen davon aus, dass wachsender Wohlstand zu einer Zunahme der Verkehrsleistung ftihrt .
AbschlieBend ist festzuhalten, dass die Verkehrspolitik in Ballungsraumen auch in den nachsten 20 lahren weiter Aufgabe der Regionalpolitik sein wird, wobei die Experten davon ausgehen, dass diese eher reaktiven als aktiven Charakter haben wird.
17.5 Ausblick
1m Rahmen dieser Delphi-Studie wurden einige der wichtigen Aspekte behandelt, die im Zusammenhang mit der Zukunft des Verkehrs in Ballungsraumen in der Bundesrepublik Deutschland von Interesse sein werden.
304 17 Der Verkehr in Ballungsriiumen im Jahre 2020
Zunachst zeigen die Ergebnisse etwas selbstverstandliches, namlich dass es neben einigen klaren Erwartungen z.T. unterschiedliche Vorstellungen dariiber gibt, wie bestirnmte Entwicklungen in der Zukunft verlaufen werden. Dies ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Indiz dafUr, dass es unumganglich ist, mit Unsicherheiten zu leben und zu planen und dass man Entwicklungen standig im Auge behalten und bereit sein muss, Plane und Vorstellungen iiber die Zukunft irnmer wieder anzupassen. Bezogen auf die beschriebene Studie heiBt das, dass man evtl. in ein paar lahren eine ahnliche Untersuchung mit vergleichbaren Fragestellungen, aber auf Basis aktualisierter Erkenntnisse durchfiihren sollte, urn auf diese Weise sein Bild von der Zukunft an die zwischenzeitlich eingetretene Realitaten anzupassen.
Ansonsten konnen die Ergebnisse ganz nach individuellem Interesse verwendet werden. Einerseits kann die Gesamtheit aller Aussagen zu einem Bild verkniipft werden, das als Input fUr Diskussionen zwischen Experten dienen konnte. Aber auch jede Einzelaussage oder einzelne Themenbereiche lassen sich herauslosen, diskutieren und beliebig vertiefen.
Aufgrund der eingangs beschriebenen Problematik, dass gleiche Sachverhalte ganz unterschiedlich beurteilt werden konnen, erscheint uns eine inhaltliche Wertung der von den Experten erwarteten Entwicklungen nicht angebracht. Inwieweit im Zusammenhang mit der Entwicklung des Verkehrs in Ballungsraumen etwas wiinschenswert ware oder moglichst vermieden werden sollte, muss der Wertung des Einzelnen vorbehalten bleiben.
Politiker allerdings, deren Entscheidungen die verkehrlichen Rahmenbedingungen in Ballungsraumen wesentlich beeinflussen, miissen in diesem komplexen, teilweise widerspriichlichen Zielsystem, eine moglichst klare Position beziehen, urn iiberhaupt entscheiden zu konnen. Dass dies haufig nur ein Kompromiss sein kann, ist aufgrund der Komplexitat des Themenfeldes nicht verwunderlich. Gerade politische Entscheidungen im Zusammenhang mit der Organisation des Verkehrs werden wohl immer mit besonderen Emotionen registriert und kommentiert. Insofem kommt es gerade bei diesem Thema darauf an, friihzeitig in der Offentlichkeit iiber die unterschiedlichen Sichtweisen zu informieren und sie zu diskutiereno Allerdings diirfen dadurch Entscheidungen nicht auf Dauer verzogert oder verwassert werden. Schon die Kenntnis der Griinde, die zu einer Entscheidung gefUhrt haben, erhoht oft die Akzeptanz dieser Entscheidung, selbst wenn sich der Einzelne ein anderes Ergebnis gewiinscht hatte.
Wenn es gelange, mit dieser Studie die Auseinandersetzung in Fachkreisen undloder in der Offentlichkeit iiber ein Thema, das viele Menschen in der Bundesrepublik angeht, ein Stiick voran zu bringen, hatte dieses Projekt sein wichtigstes Ziel erreicht.
Literatur
Bortz, J (1999). Statistikfilr Sozialwissenschajiler. Berlin: Springer
Literatur 305
Forschungsverbund Lebensraum Stadt (Hrsg.) (1994): Szenarien und Handlungswege (Band II). Berlin: Ernst & Sohn
Grupp, H. (1995). Der Delphi-Report. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt Hader, M. & Hader, S. (1994): Die Grundlagen der Delphi-Methode. Ein Literaturbericht.
ZUMA-Arbeitsbericht Nr. 94102. Mannheim Hader, M. & Hader, S. (1995): Delphi und Kognitionspsychologie. Ein Zugang zur theore
tischen Fundierung der Delphi-Methode. In: ZUMA-Nachrichten 37, Mannheim Hader, M. & Hader, S. (1998): Neue Entwicklungen bei der Delphi-Methode: Literaturbe
richt II. ZUMA-Arbeitsbericht 98105, Mannheim ifm (1999). Zukunji der Mobilitiit. Wien: Institut flir Motivforschung Projektleitstelle Mobilitat und Verkehr des Landes Brandenburg (2000): Mega-City Ber
linBrandenburg - Risiko und Chance for die individuelle Mobilitiit? Fachtagung 29.August 2000, Henningsdorf
Stratmann, B. (2000): Die Delphi-Methode in der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung: Eine Illustration am Beispiel einer Studie zu den Olympischen Spielen in Sydney im Jahr 2000. In: M. Hader & S. Hader, Die Delphi-Technik in den SozialwissenschaJten. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag
Sachregister
A
Abduktion • 52 Absicht des Fahrers • 34 Adaptivitiit • 54 aktives Gaspedal • 166 aktives Stellteil • 172 Akzeptanzurteile • 201 Anmutungsqualitiit • 266, 268, 273 Assistenz • 43 Assistenzsysteme· 51,173,277,278 Automatisierung • 42 Automatisierungsgrad • 85
B
Ballungsriiume • 287 Bedienkonzepte
Sprachgestiitzte • 179 Bedienung· 195 Benutzungsschnittstellen· 137 Bewertung von Mensch-Maschine-
Systemen • 24 B1ickbewegungsmessung • 207 Blickbewegungstechnik im Kraftfahrzeug •
216 Blickverhalten • 203 Blickzuwendungen • 188 Bremsassistent·74 By-wire-Systeme· 165
c Citypilot • 59 Closed-loop-Verfahren • 256 Conjointanalyse • 267 Cornea-Reflex-Methode • 214
D
De1phistudie • 287 deskriptive Modelle • 98 Differential GPS • 65
Diskomfort • 161 doppe1ter Fahrspurwechse1· 258 Dreh-Driick-Steller· 66 Drive-by-wire • 170 Dynamik-Modelle • 98
E
Eigenfrequenz • 242 Elektrookulogramm • 214 Entscheidungsmodell • 87 Experten • 287 Extramotive· 120 Eyes-Off-the-Road-Time·213
F
Fahrdynamik·245 Fahrerassistenz • 31 Fahrerassistenzsysteme • 22, 71 Fahrerverhalten • 119 Fahrleistung • 188 Fahrsicherheit· 75 Fahrsimulatoruntersuchungen • 72 Fahrsituation·91 Fahrverhalten·74 Fahrzeugakustik • 273 Fahrzeugattraktivitiit • 268 Fahrzeugfiihrung· 13 Fehler·44 Fehlhandlung·44 fertigkeitsbasiertes Verhalten· 88 Fixationshiiufigkeit • 202 forma1e Modellbildung • 97 Fiihrungsaufgabe· 156 Fuzzy Decision Making· 123
G Global Positioning System· 61
H
Hand1ungsregulation • 122
308 Kraftfahrzeugfiihrung
haptische Wahmehmung· 158 Hindemisassistent • 95 Hydropuls • 239
I
Informationsverarbeitung • 19 Informationszirkulation • 14 innere Modelle • 170 Intelligenz • 53 Interaktion
multimodale·181 visuell-manuelle· 183
Interpretation von Blickbewegungen • 208
K
Kartendarstellung • 64 kausale Systeme • 99 kinasthetische Wahrnehmung· 158 kognitive Automation· 82 kognitive Karten· 58 kognitives Assistenzsystem • 84 Komfort • 231 Komfortbeurteilung • 242 Komfortempfinden • 161 Kompetenzdelegation • 36 Komplemation· 35 Konstanzleistung • 158 Kontrolliiberzeugungen • 282 Korrelation • 246 Korre1ationsanalyse • 238 Kraft - und Wegservomechanismus • 171 Kraft-Weg-Verlauf· 160 Kundenanforderungen • 264 KUT·282
L
Lenkrad·235 Lenkverhalten • 255 Limbustracking • 214 LISB·61 I-m-Modell • 90
M
Mechanorezeptoren· 157
Mechatronik • 170 Mehrfachanforderungen·138 Meissner-Korper· 157 Mensch-Maschine-Regelkreis· 155 Mensch-Maschine-Systeme·14 mentale Faktoren • 96 Merkelzellen· 157 MMS-Konzept
schalterreduziertes • 182 Mobilitat • 288 Motivationsbasis • 17 Motive· 102 Motivkonstrukte
formale Erweiterung • III multimediales Informationssystem· 145 multimodal • 177 Multimodalitat
sequentielle • 200 multiple Ressourcen • 138 Muskelspindeln· 157
N
Navigationsaufgabe· 156 Navigationssysteme • 57 nichtformale Modellen • 97 nichtlineare Regressionsanalyse • 88 Nutzungskontext • 141
o Open-loop-Kennfeld·254 Open-loop-Kennwerte·251 Open-loop-Verfahren·256
p
Pacini-Zellen· 157 Parameter der Blickbewegungen • 212 periphere visuelle Wahmehmung· 208 Personlichkeit • 281 Personlichkeitsfaktoren· 120 Personlichkeitsmerkmale • 281 Point of Regard Measurement· 215 Potenzfunktion • 240 primare Fahraufgabe ·156 Produktakzeptanz • 265
Prognose • 289 Psychophysik • 232, 239
Q qualitative Modelle • 98 Querdynamik • 255
R
Radio Data System (RDS) • 67 Regressionsnetze • 88 Reifenriickstellmoment • 168 RESPONSE· 77 Ressourcenmodell • 179 Roadster· 231 Robustheit • 197 Riickstellkraft • 167
s Schaltgefiihl • 161 Schnittstellengestaltung • 76 Scout· 68 sekundiire Aufgaben· 156 semantisches Differential· 232 Sidestick • 172 sinnliche Anmutung • 266 Situation· 31, 33 situation awareness· 21 Spiegel· 235 Spiegelzittern·237 Sprachbedienung • 67 Spracherkennung • 180, 199 Stabilisierungsaufgabe· 155 Standardisierung von Assistenzfunktionen •
36 Stuckern • 231, 242 Subjektive Einschiitzungen· 188
Sachregister 309
systemergonomisch • 171
T
taktile Wahrnehmung • 157,239 Tastsinn • 158 tertiiire Aufgaben • 156 Thermorezeptoren· 157 Tiefenwahrnehmung· 158 Transparenz • 50
u Umgebungseinfliisse • 219 Unfalldaten • 72 Unfalle·31 Unterstiitzungsbedarf
subjektiver • 278
v Verkehr • 287 Verkehrssicherheit·58 vibroakustische Abstimmung • 231 vibroakustisches Komfortmodell • 243 visuelle Wahrnehmung • 239
w Wahrnehmungsleistungen • 19 Wertanmutung • 264
z Zittermodell • 243 Zittern • 231, 232 Zitter-Rating·241 Zukunft • 287