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Mensch-Maschinen, Wirklichkeitsmaschinen Eine exemplarische Studie zur Rolle der Science Fiction in der Zukunftsforschung Magisterarbeit zur Erlangung der Würde des Magister Artium der Philologischen, Philosophischen und Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. vorgelegt von Florian Kraftschik aus Villingen-Schwenningen im Sommersemester 2012 Hauptfach: Soziologie Florian Kraftschik [email protected]

Kraftschik Mensch-Maschinen Wirklichkeitsmaschinen FullA · 4.2.5 Statements des Themenblock II: Virtualität und Phantomatik .....51 4.2.6 Statements des Themenblock III: Künstliche

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Mensch-Maschinen, Wirklichkeitsmaschinen

Eine exemplarische Studie zur Rolle der Science Fiction in der

Zukunftsforschung

Magisterarbeit

zur

Erlangung der Würde

des Magister Artium

der Philologischen, Philosophischen und Wirtschafts- und

Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät der

Albert-Ludwigs-Universität

Freiburg i. Br.

vorgelegt von

Florian Kraftschik

aus Villingen-Schwenningen

im Sommersemester 2012

Hauptfach: Soziologie

Florian Kraftschik [email protected]

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AbstractUbiquitous Computing, Reisen durch den Cyberspace, Geister in der Maschine - derlei futuris-

tisch anmutende Phänomene gehören in den vielfältigen Zukunftsszenarien der Science Fiction

(SF) längst zum Alltag. SF präsentiert sich uns allgegenwärtig als Zukunftsmedium. Auch die

Zukunftsforschung befassen sich mit der Zukunft - einem Gegenstand, der in der Gegenwart gar

nicht existiert. Der Stellenwert wissenschaftlicher Fundierung in der SF schwankt erheblich,

weswegen reine SF keineswegs als seriöse Alternative zur Zukunftsforschung gelten kann. Dies

mag einer der Gründe dafür sein, warum die Analyse von SF im Methodenkanon der

Zukunftsforschung - meiner Meinung nach zu Unrecht - eine stiefmütterliche Rolle einnimmt.

In meiner wissenssoziologisch ausgerichteten Magisterarbeit begründe ich, warum sich SF als

Quellenmaterial - trotz der eingangs beschriebenen Schwierigkeiten - gewinnbringend für die

Zukunftsforschung verwenden lässt, welche Kriterien sie zu diesem Zweck erfüllen muss und

wie ein Rückgriff in methodischer Hinsicht erfolgen kann.

Den ersten Schritt der Argumentation bildet die Prämisse, dass, analog zu den Grundpfeilern des

sozialkonstruktivistischen Paradigmas, Zukunft kein Produkt des Zufalls oder des Schicksals ist,

sondern durch menschliches Handeln gemacht wird. Der Durchführung menschlicher Handlun-

gen geht in Anlehnung an Schütz ein Zukunftsentwurf voraus. Dieser ist eng mit den Zukunfts-

vorstellungen der Menschen verknüpft, die ein Produkt ihrer Erfahrungen und somit ihrer Sozia-

lisation sind. SF ist eines der wenigen gesellschaftlichen Medien, das sich - in den meisten Fäl-

len - mit der Ausgestaltung möglicher Zukünfte auseinandersetzt. Massenmedial verbreitet, so

die zweite Prämisse der Argumentation, hat die SF einen wesentlichen Einfluss auf die Zu-

kunftsvorstellungen der Menschen; die in der SF kommunizierten Zukunftsentwürfe bilden den

Erfahrungshorizont der Menschen in Bezug auf Zukünftiges und prägen die Zukunftsvorstellun-

gen wesentlich. Gemäß einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung entsteht nun ein indirekter

Zusammenhang zwischen den Inhalten der SF und der tatsächlichen Ausgestaltung der Zukunft.

Daraus folgere ich, dass die Zukunftsforschung mit der Auswertung von SF arbeiten muss, um

das in ihr schlummernde Potential zu nutzen und dass ihr in der SF ein reichhaltiges Quellenma-

terial zur Verfügung steht, das im Forschungsprozess ferner unter verschiedenen Gesichtspunk-

ten systematisch ausgewertet werden kann. Zum Zweck der Auswertung von SF wird Schwartz‘

Konzept der Literaturauswertung an die Erfordernisse der Zukunftsforschung angepasst und

schrittweise dargelegt.

Florian Kraftschik [email protected]

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Der empirische Teil der Arbeit befasst sich nun mit der Durchführung einer Zukunftsstudie mit

SF-Literatur und -Filmen als Quellenmaterial. Die Ergebnisse der Studie zum Thema ,Zukunft

des Menschen im Cyberspace‘ legen nahe, dass es als wahrscheinlich gelten kann, dass der

Mensch in Zukunft weiter mit der Maschine verschmelzen wird (Wearable Computing, Augmen-

ted Reality, Human Enhancement etc.). Auf dem Gebiet der Virtual-Reality-Technologie sind die

Prognosen verhaltener: obwohl langfristig (>50 Jahre) vollimmersive Technologien prinzipiell

als realisierbar erscheinen, werden diese in Massenanwendungen der nahen und mittleren Zu-

kunft keine Rolle spielen. Ganz anders jedoch auf dem Feld der Künstlichen Intelligenz (KI):

hier sind erste Anwendungen bereits auf dem Massenmarkt zu finden, in nächster Zukunft wer-

den intelligente Technologien weiterhin Einzug in den Alltag erhalten. Dahingestellt sei hinge-

gen, welche Art und welchen Grad der Intelligenz Computer erlangen, ob und in welcher Form

KIs soziale Beziehungen zwischen Menschen verändern und welche neuen Formen sozialer Be-

ziehungen zwischen Menschen und KIs sich ausformen werden.

Die Ergebnisse zeigen: mögliche Entwicklungen der Technologie sind vielfältig, ebenso wie ihre

Anwendungsmöglichkeiten und vor allem ihre Auswirkungen auf die Ausgestaltung der mensch-

lichen Lebenswelt. Dies bleibt nicht ohne Folgen für die Begriffe der Soziologie:

- So kann z.B. die Grenzziehung zwischen Mensch und Maschine nicht länger aufrecht erhalten

bleiben, die anthropologische Grundkonstante des menschlichen Körpers als rein biologische

Entität muss endgültig abgelegt werden.

- Außerdem ist bei einer massenhaften Verbreitung von AR-Technologie die Ausprägung neuer

digitaler Habitus zu erwarten, wodurch sich neue Formen sozialer Differenzierung im

Cyberspace manifestieren.

- Vollimmersiver VR-Technologie wohnt gar die Möglichkeit inne, Realitäten zu erschaffen, die

dann in Konkurrenz zur Alltagswelt treten könnten. Sozialisation würde alsdann im Kontext

andersartiger Sinnwelten erfolgen, die „Alltagswelt par excellence“ verliert ihren allgemein-

verbindlichen Charakter.

- Im Kontext der KI können die soziologischen Begriffe „Handeln“, „subjektiver Sinn“ und

„Verstehen“ in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung keine Anwendung finden. Soziologische

Konzepte müssen modifiziert bzw. ausgeweitet werden, um künftigen ,sozialen‘ Tatbeständen

Rechnung zu tragen.

Florian Kraftschik [email protected]

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- Weiter werden KIs als „Maximal Fremde“ identifiziert, deren Status im Gefüge der sozialen

Welt unklar ist; möglicherweise entstehen in der Interaktion zwischen KIs und Menschen neue

Formen des Sozialen.

Florian Kraftschik [email protected]

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Inhaltsverzeichnis

...................................................................................................................1. Einleitung 1

...............................................................................................2. Begriffsbestimmungen 5

...................................................................................................................2.1 Cyberspace 5

..........................................................................................................................2.2 Cyborg 7

..................................................................................................2.3 Künstliche Intelligenz 9

.............................................................................................................2.4 Science Fiction 11

......3. Grundüberlegungen: Science Fiction als Quelle für die Zukunftsforschung 14

3.1 Wissenssoziologische Implikationen: Zukunftsforschung und Science Fiction als Pro-

............................................................................................dukte der selben Gesellschaft 18

..................................................3.1.1 Zukunft geschieht nicht, Zukunft wird gemacht! 18

3.1.2 Zukunftsvorstellungen als Elemente der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirk-

.................................................................................................................lichkeit 19

3.1.3 Die Wechselwirkungen zwischen Zukunftsforschung, Science Fiction und Zu-

..............................................................................................kunftsvorstellungen 21

.............................................3.2 Die Rolle der Science Fiction in der Zukunftsforschung 23

.................................3.2.1 Funktionen der Science Fiction für die Zukunftsforschung 23

................................................................3.2.2 Modellcharakter von Sprache und Stil 28

....................................................3.2.3 Kriterien für die Nutzung von Science Fiction 30

..............................................................................................3.2.4 Exkurs: Wild Cards 32

4. Systematische Auswertung: eine explorative Studie über mögliche Zukünfte des

.............................................................................................Menschen im Cyberspace 34

.................................................................................................4.1 Empirisches Vorgehen 35

...........................................................................4.2 Literaturauswahl und Thesenbildung 38

...................................................................4.2.1 Die Berliner Methode nach Schwarz 38

...............4.2.2 Die fünf Phasen der Literaturauswertung nach der Berliner Methode 39

...............................4.2.3 Die Generierung von Statements mit der Berliner Methode 43

...........................4.2.4 Statements des Themenblock I: Prothetik und Cyborgisierung 46

............................4.2.5 Statements des Themenblock II: Virtualität und Phantomatik 51

.....................................4.2.6 Statements des Themenblock III: Künstliche Intelligenz 56

4.3 Cybertechnologie und technologische Entwicklung. Bestandsaufnahme des gegenwär-

....................................................................................................tigen Forschungsstandes 60

Florian Kraftschik [email protected]

I

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..............................................................................4.3.1 Prothetik und Cyborgisierung 61

................................................................................4.3.2 Virtualität und Phantomatik 64

..........................................................................................4.3.3 Künstliche Intelligenz 69

..............................................................................4.4 Ergebnisse der Expertenbefragung 73

........................4.5 Reflexion der Methode und Rückkoppelung der Expertenmeinungen 86

............4.6 Ergebnispräsentation: Eine mögliche Zukunft des Menschen im Cyberspace 87

...........................................................5. Neue Herausforderungen für die Soziologie 93

..........5.1 Menschmaschinen und Maschinenmenschen: Die Grenzen der Grenzziehung 95

................................................................................5.2 Virtualität und neue Wirklichkeit 97

....5.3 Warum Maschinen kein Eis essen können: Zum Konzept des ,maximal Fremden‘ 99

...........................5.4 „Handeln“, „subjektiver Sinn“ und „Verstehen“ im Kontext der KI 103

....................................................................................................6. Fazit und Ausblick 106

Literaturverzeichnis

Florian Kraftschik [email protected]

II

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Abgrenzung der SF von anderen Typen der Literatur ......................................................13

Abb. 2: Darstellung des Rumpfs eines Cyborgs in „Ghost in the Shell“.......................................49

Abb. 3: Darstellung der Neuro-Schnittstelle zur vollen Immersion in „Matrix“..........................53

Abb. 4: Darstellung der Kontaktelektroden in „Strange Days“.....................................................56

Abb. 5: Phantomatik nach Bühl und Lem.....................................................................................66

Florian Kraftschik [email protected]

III

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Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Auflistung der Expertinnen und Experten.........................................................................37

Tab. 2: Auflistung der verwendeten SF-Literatur..........................................................................45

Tab. 3: Auflistung der verwendeten SF-Filme..............................................................................46

Florian Kraftschik [email protected]

IV

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1. Einleitung

„The future is already here - it´s just not very evenly distributed.“ (Gibson 1999: 11:55)

Was ist die Zukunft? Wo ist die Zukunft? Wer macht die Zukunft? Die Zukunft existiert nicht.

„Zukunft“ beschreibt ,das, was wird‘. Damit reiht sie sich in das Kontinuum von Vergangenheit,

Gegenwart - und eben - Zukunft. Science Fiction-Autor William Gibson formuliert, Zukunft sei

„already here“, zu interpretieren als das Hier und Jetzt unserer Gegenwart. Damit widerspricht er

dem mystischen Bild einer Zukunft, die aus sich selbst entsteht, oder die uns ein höheres Wesen

bringt. Er widerspricht den Vorstellungen einer Zukunft, die ex nihilo entsteht, sich löst aus den

undurchdringlichen Wirren des Zeitkontinuums, Kurs auf die Welt nimmt und letztlich wie ein

überdimensionales Netz die Welt umspannt, um sie in einem Labyrinth des unausweichlichen

Determinismus zu fangen. Zukunft geschieht nicht, Zukunft wird gemacht!

Menschliche Individuen erschaffen durch ihre Handlungen die objektive Faktizität der Gesell-

schaft, deren Produkt sie gleichzeitig sind (vgl. Berger/Luckmann 2009: 139). Aus diesem kur-

zen Abriss des Berger und Luckmann´schen Sozialkonstruktivismus stellt sich Zukunft als eine

Folge menschlicher Handlung dar, am ehesten zu vergleichen mit dem Wachstum einer Pflanze:

Der Same der Gesellschaft fällt auf den fruchtbaren Nährboden der Gegenwart. Wie die Pflanze

einmal aussehen wird, ist dem Samen nicht anzusehen, jedoch determiniert die Erbinformation1

im Samen den Rahmen des möglichen, in dem das Erscheinungsbild der Pflanze liegen wird. Sie

als Leser könnten nun einwenden, dass ein Sturm und anhaltende Dürre der Pflanze schaden

oder sie sogar töten, wohldosierter Regen und eine gemäßigte Witterung der Pflanze aber auch

zu unverhoffter Pracht verhelfen könnten: mit diesem Einwand lägen Sie richtig, auch externe

Störereignisse entwickeln regelmäßig einen großen und vor allem unvorhersehbaren Einfluss auf

die Zukunft. Wird die Pflanze aber gedeihen, so wird sie Früchte tragen und die Samen in den

Früchten werden unterschiedliche Mutationen beherbergen, vergleichbar mit Veränderungen der

Gesellschaft. Die realisierte Zukunft der Gesellschaft steckt nur in einem Samen - alle anderen

Samen stehen sinnbildlich für alle nicht realisierten Zukünfte, die nichts desto trotz im Rahmen

des Möglichen lagen -, der nun erneut auf den Boden fällt und seinerseits im Zeitraffer zu einer

verästelten Pflanze gedeiht und den Lauf der Dinge in einen neuen Zyklus überführt.

Auch die zeitgenössische Zukunftsforschung teilt sowohl die Ansicht, dass Zukunft nicht deter-

miniert ist, als auch die, dass Teilaspekte der Zukunft schon in der Gegenwart Ausdruck finden.

Florian Kraftschik [email protected]

1

1 Schwarz (2011) zieht im Titel seines Werkes die Analogie vom Erbgut eines Organismus zum „Quellcode der Zu-kunft“: wird dieser Quellcode dechiffriert, so verdeutlicht er am Beispiel von Literatur, lassen sich daraus Aussagen über die mögliche Zukünfte ableiten.

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In ihrer Rolle der Entdeckerin möglicher Zukünfte interessiert sich die Zukunftsforschung vor

allem für den zweiten Teil des Zitates, das Wo: wenn Zukunft ungleich verteilt ist, wo stehen die

Chancen am besten, Hinweise auf sie zu finden? Wo müssen Zukunftsforscher suchen, wenn sie

Erkenntnisse über einen so abstrakten Untersuchungsgegenstand zu erlangen trachten, die

scheinbar an beliebigen Orten versteckt sind? Eine Antwort der Futurologie der 60er und 70er

Jahre lautete, statistisch-mathematische Modelle der Gesellschaft zu erstellen und die weitere

Entwicklung zu simulieren, um Prognosen abzuleiten (vgl. Flechtheim 1970: 131). Diese Ansät-

ze stellten sich als nur bedingt nützlich heraus, wenn neue, unbekannte Faktoren in die Kalkula-

tion miteinbezogen werden sollten. Einer der im Rahmen dieser Arbeit befragten Expertinnen

und Experten gab an, zukünftige Entwicklungen seien vor allem in den Forschungslabors der

Gegenwart zu beobachten, womit jedoch einerseits die Sichtweise stark auf technologische As-

pekte reduziert wird und sich andererseits nur ein begrenzter zeitlicher Rahmen abdecken lässt.

Der methodische Fundus der Zukunftsforschung umfasst eine bemerkenswerte Vielzahl von In-

strumenten, um sich der Fragestellung nach der Zukunft zu nähern, Trendextrapolation, Brain-

storming, Experteninterviews und die Aufstellung von Modellen sind nur einige wenige davon.

Eine Methode, die dabei immer wieder genannt wird, jedoch in der Masse der Zukunftsstudien

und auch in der methodisch orientierten Fachliteratur der Zukunftsforschung nur in Ausnahme-

fällen explizit angeführt wird, ist die systematische Auswertung von Science Fiction (SF). Ange-

sichts der Tatsache, dass die meiste SF eine Literatur über die Zukunft ist, SF-Themen kaum

mehr aus Mainstream-Produktionen wegzudenken sind2 und SF massenhaft rezipiert wird, ferner

viele naturwissenschaftlich-technische Forscherinnen und Forscher und auch Zukunftsforscher

innen und Zukunftsforscher regelrechte SF-Fans sind (vgl. Kap. 4.4), vermag dies zu verwun-

dern; denn diese Beobachtungen führen zur Vermutung, SF präge zu großen Teilen die Zukunfts-

vorstellungen der Menschen, die im Rahmen der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklich-

keit zu Zukunft werden.

Für meine Magisterarbeit im Fach Soziologie greife ich diese Überlegungen nun auf. Die zentra-

le Fragestellung der Arbeit lautet: Welche Rolle kann die systematische Auswertung von Science

Fiction im Rahmen der Zukunftsforschung einnehmen? Es wird folgende Leitthese aufgestellt:

Die Zukunftsvorstellungen der Menschen werden zu einem bedeutenden Teil durch SF beein-

flusst, sie sind außerdem die Grundlage für ihre Handlungen, wodurch aus Zukunftsvorstellugen

,Zukunft‘ wird; in der SF liegt der Zukunftsforschung somit ein äußerst reichhaltiges Material

Florian Kraftschik [email protected]

2

2 Vgl. hierzu Steinmüller im Anhang (der Anhangband liegt dem Erst- und Zweitgutachter der Arbeit vor): „SF-Mo-tive trifft man fast überall an; sie sind Gemeinplatz geworden“.

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vor, das durch die systematische Auswertung erschlossen werden muss. Die Zukunftsforschung

kann profitieren, wenn sie ihren Methodenkatalog um die systematische Auswertung von SF er-

weitert. Den theoretischen Überlegungen zur Rolle der SF in der Zukunftsforschung im ersten

Teil dieser Arbeit folgt exemplarisch die praktische Anwendung der systematischen Auswertung

von SF beim Erstellen einer Zukunftsstudie über den Cyberspace. Dabei lautet die inhaltliche

Fragestellung dieser explorativen Zukunftsstudie: Was sind mögliche zukünftige technologische

Entwicklungen und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Implikationen auf dem Gebiet

des Cyberspace?

Um den thematischen Rahmen dieser Arbeit abzustecken, erfolgt zunächst eine Begriffsbestim-

mung der Begriffe „Cyberspace“ (Kap. 2.1), „Cyborg“ (Kap. 2.2), „Künstliche Intelligenz“

(Kap. 2.3) und „Science Fiction“ (Kap. 2.4). Darauf folgen Grundüberlegungen zur Nutzung von

SF als Quelle für die Zukunftsforschung (Kap. 3). Im Rahmen dieses dritten Kapitels werden die

Grundannahmen des Sozialkonstruktivismus von Berger und Luckmann formuliert und die ele-

mentare Verbindung von SF zur Zukunftsforschung aufgezeigt (Kap. 3.1.1). Die zentrale Rolle

der Zukunftsvorstellungen der Menschen in der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit

wird in Anlehnung an Uertz (2006) als Bindeglied zwischen Gegenwart und Zukunft identifiziert

(Kap. 3.1.2), sie stellen einen zentralen Zugriff der Zukunftsforschung auf ihren Untersuchungs-

gegenstand ,Zukunft‘ dar. Ausgehend von den Annahmen, dass Zukunftsvorstellungen Grundla-

ge für die Planung und Durchführung von Handlungen sind, in diesem Zuge Zukunftsvorstellun-

gen zu Zukunft werden und SF die Zukunftsvorstellungen der Menschen wesentlich beeinflusst,

erfolgt die Argumentation, dass die systematische Auswertung von SF im Prozess der

Zukunftsforschung praktiziert werden muss, um nicht Wesentliches zu übersehen (Kap. 3.1.3).

Für diese Argumentation wird die Arbeitshypothese zugrunde gelegt, dass die meisten Menschen

über eine Zukunftsvorstellung verfügen, die die persönlichen Lebensbereiche („wo werde ich in

den nächsten 5 Jahren wohnen“, „wie wird sich meine berufliche Karriere weiter entwickeln“

etc.) übersteigt und dass diese Vorstellung über die Zukunft zu einem bedeutenden Teil von SF

beeinflusst ist. Daran anschließend erfolgt eine Untersuchung der Rolle, die SF in der

Zukunftsforschung einnehmen kann (Kap. 3.2). Den theoretischen Überlegungen folgt nun der

praktische Teil der Arbeit: die systematische Auswertung von Science Fiction am Beispiel einer

explorativen Studie über mögliche Zukünfte des Menschen im Cyberspace (Kap. 4). Die Vorge-

hensweise der Studie bestand darin, auf der ausschließlichen Basis von SF Thesen über mögliche

Zukünfte technologischer Entwicklungen in Form von Statements zu formulieren, die dann in

einem nächsten Schritt neben zwei weiteren Fragen einer Expertengruppe zur Evaluation vorge-

Florian Kraftschik [email protected]

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legt wurden. Der Gliederung der Arbeit folgend wird dann das empirische Vorgehen der Studie

erläutert (Kap. 4.1) worauf eine Beschreibung der Literaturauswahl und Thesenbildung im Rah-

men der Studie erfolgt (Kap. 4.2). Insbesondere wird die Berliner Methode zur Literaturauswer-

tung nach Schwarz (2011) herangezogen (Kap. 4.2.1) und an die Erfordernisse der vorliegenden

Arbeit angepasst (Kap. 4.2.2), danach wird die Generierung von Statements mit der Berliner Me-

thode detailliert beschrieben (Kap. 4.2.3 - Kap. 4.2.6). Der Stand der Forschung in den drei the-

matischen Schwerpunkten der Befragung wird im nächsten Kapitel aufgegriffen (Kap. 4.3), ge-

folgt von den Ergebnissen der Expertenbefragung (Kap. 4.4) und der Reflexion und Rückkoppe-

lung der Ergebnisse auf die Literatur (Kap. 4.5). Abschließend werden die Ergebnisse dann in

Form eines Szenarios präsentiert, das sich stilistisch an einer SF-Kurzgeschichte orientiert.

Um ein Ergebnis der Studie vorwegzunehmen: es ist als sehr wahrscheinlich anzunehmen, dass

technologische Innovationen in die Gesellschaft diffundieren werden, die die Alltagswelt der

Menschen nachhaltig verändert, auf einigen Teilgebieten sind diese Entwicklungstendenzen

schon in der Gegenwart angelegt. Schon in der nahen Zukunft, d.h. in 5-10 Jahren, wird die

Augmented Reality (AR) die Wahrnehmung der Menschen um virtuelle Ebenen erweitern, tem-

poräre technologische Modifikationen werden den biologischen menschlichen Körper ergänzen

und verbessern (Stichwort: Human Enhancement). In der selben Zeitspanne werden künstlich

intelligente Systeme Einzug in die Umwelt des Menschen erhalten (Stichwort: Ambient Assistent

Living) und in Form von KI-Agenten (Roboter und körperlose Netz-KIs, virtuelle Agenten) dem

Menschen assistieren, mit ihm kommunizieren und „interagieren“3, ihre Leistungsfähigkeit wird

stetig ausgebaut werden. In der fernen Zukunft, d.h. nicht vor der 2. Hälfte des 21. Jh., werden

möglicherweise Virtual Reality (VR)-Technologien entwickelt werden, welche in der Lage sein

werden, dem Menschen eine Realität zu simulieren, die fortan nicht mehr von der physisch-ma-

teriellen Realität zu unterscheiden sein wird. Im Rückbezug auf die Soziologie stellen die Ergeb-

nisse eine Herausforderung an das Fach dar und bieten, den Blick auf die Konzepte und Instru-

mente zur Analyse sozialer Tatbestände gerichtet, ausgesprochenen Anlass zur Sorge, ob sie mit

ihren Instrumentarien in der Lage ist, die gezeichneten möglichen zukünftigen Entwicklungen

abzudecken.

Florian Kraftschik [email protected]

4

3 Im Kontext der KI ist unklar, ob es sich bei der ,Interaktion‘ um „wechselseitiges soziales Handeln von zwei oder mehr Personen“ (Bahrdt 2003: 37) im Sinne des soziologischen Interkations- und Handlungsbegriffs handelt. Des-halb steht „Interkation“ in Verbindung mit KI in Anführungszeichen. Die Frage danach, was „Handeln“, „subjekti-ver Sinn“ und „Verstehen“ in Verbindung mit KIs bedeutet und ob die Begriffe für Roboter und virtuelle Agenten verwendet werden können, wird in Kap. 5.4 aufgegriffen und diskutiert. Krummheuer (2010) weist darauf hin, dass „der Interaktionsbegriff nicht mit dem soziologischen Begriff der sozialen Interaktion gleichzusetzen ist, sondern vielmehr das Ziel der Entwickler benennt“ (ebd.: 35f), jedoch bleibt m.E. selbst dann, wenn die Entwicklungsbe-strebungen dieser Entwickler von Erfolg gekrönt sein sollten, eine wesentliche begriffliche Diskrepanz bestehen.

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Die Implikationen dieser Entwicklung des Menschen zur Mensch-Maschine, des Computers zur

„Wirklichkeitsmaschine“4 und des Programmier-Codes zu einer Form der Intelligenz für die So-

ziologie sind zahlreich, welche Herausforderungen und Fragen sich hieraus für ihre Konzepte

ergeben, wird fortführend in Kap. 5 besprochen. Die Arbeit schließt mit einem Fazit und Aus-

blick, in dem die Ergebnisse der Arbeit bezüglich der zentralen Fragen nach der Rolle der SF in

der Zukunftsforschung, nach möglichen Zukünften des Cyberspace sowie den Implikationen für

die Soziologie eruiert werden.

2. Begriffsbestimmungen

In diesem Kapitel soll die Definition der für diese Studie relevantesten Schlüsselbegriffen als

Grundlage für die weitere Arbeit erfolgen. Schwierig ist vor allem eine Abgrenzung der Begriffe,

weil die Bedeutung in ihrer alltagssprachlichen Verwendung oft nicht mit lexikalischen Begriffs-

definitionen übereinstimmt. Dies gilt vor allem für den Begriff des ,Cyberspace‘, der aufgrund

der vieldeutigen Verwendung teilweise weit von dem abweicht, was der Schöpfer des Begriffs,

William Gibson, seinerzeit ausdrücken wollte. Im zweiten Schritt versuche ich, mich der ,Künst-

lichen Intelligenz‘ zu nähern, als problematisch stellt sich hier vor allem heraus, dass in der For-

schung über Intelligenz und KI noch kein Konsens darüber besteht, was Intelligenz überhaupt

ausmacht. Dem Begriff des ,Cyborg‘ fehlt es hingegen vor allem an Trennschärfe, so wird in die-

ser begrifflichen Annäherung vor allem auf den diskursiven Charakter der Dichotomie von Kör-

per und Geist Bezug genommen sowie ein Arbeitsbegriff geschärft. Bei der Genre-Bezeichnung

,Science Fiction‘ geht es vor allem darum, sie als ein Subgenre der Phantastik von anderen phan-

tastischen Kategorien abzugrenzen.

2.1 Cyberspace

Der Begriff Cyberspace war eine Wortschöpfung des Science Fiction Autors William Gibson.

Zum ersten Mal benutzte er ihn in der 1982 veröffentlichten Kurzgeschichte „Burning Chrome“,

1984 fand er erneut Verwendung im Roman „Neuromancer“ (Vgl. Neuhaus 2006), dem ersten

Teil der Neuromancer-Trilogie. Gemäß Gibsons Intention avancierte der Begriff zum Modewort

Florian Kraftschik [email protected]

5

4 Der Terminus „Wirklichkeitsmaschine“ wird an dieser Stelle und in der weiteren Arbeit in Anlehnung an Steinmül-lers (1993) Buchtitel „Wirklichkeitsmaschinen. Cyberspace und die Folgen“ benutzt. Wiener (1969) benutzt den Terminus „verwirklichungsmaschinen“ (ebd.: CXLIV).

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und fand so Einzug sowohl in die Wissenschaftssprache als auch in die Alltagssprache. Direkt

übersetzt bezeichnet Cyberspace den kybernetischen5 Raum:

„Wie das Wort »Cyberspace«, von William Gibson kreiert, selbst schon anzeigt, verdankt es sein Konzept der Kybernetik. Grundsätzlich ist ein Cyberspace eine Art interaktiver Simulation, auch ky-bernetische Simulation genannt, die menschliche Beobachter als notwendige Bestandteile des kyber-netischen Systems miteinschließt. Cyberspace ist potentiell das umfassendste je entwickelte com-putergestützte Medium, das dem Betrachter selbst den Eindruck vermittelt, in einer virtuellen Realität, in einer dynamischen Simulation einer dreidimensionalen Welt zu sein.“ (Weibel 1993: 21)

Dieser definitorische Ansatz von Weibel scheint ganz im Sinne des Autors Gibson zu liegen, der

mit dem Wort Cyberspace die volle Immersion in eine virtuelle Realität mittels dafür geeigneter

Interfaces beschreibt. Wichtige Attribute sind für Weibel das Vorhandensein einer kybernetischen

Simulation, in der eine dreidimensionale Welt dynamisch simuliert wird, sowie ein Mensch als

Beobachter. 6

Doch obwohl der Mensch, der mittels Immersionstechnologie in den Cyberspace eintaucht, nicht

wirklich einen physischen Ortswechsel vollzieht, also in einen anderen Raum eintritt, ist die Vor-

stellung des Cyberspace als Raum vorherrschend. Die Ausgestaltung des Cyberspace in experi-

mentellen Virtual-Reality-Systemen und auch die Darstellung und Beschreibung des Cyberspace

in Literatur, Film und Games erfolgt in Form von Räumen, folgend dem Modell von Gibson:

„In the descriptions offered in this narrative [,Neuromancer‘; Anm. d. Verf.], the cyberspatial envi-ronment not only displays data as three-dimensional, geometric objects but maps this information on a Cartesian grid“ (Gunkel/Hetzel Gunkel 1997: 125).

Dabei ist Cyberspace im Sinne eines begehbaren 3D-Raumes kein bloßes 3D-Kino, der Nutzer7

tritt in eine Welt, die er auch verändern kann, hier zeigt sich auch der kybernetische Charakter

sowie sein Charakter als virtueller Möglichkeitsraum.

„Cyberspace geht aber über bloße Interaktivität hinaus. Ein VR- bzw. Cyberspace-System ist dyna-misch, kybernetisch. Die virtuelle Welt verändert sich mit dem Beobachter als Teil des Systems in Echtzeit, sowohl autonom wie reaktiv. Es ist beobachterzentriert“ (Weibel 1993: 25).

Eine sehr viel breitere Verwendung ermöglicht hingegen die Definition des Lexikon zur Soziolo-

gie (Fuchs-Heinritz/Klimke/Lautmann et al. 2011). Sie greift die Raummetapher zwar auf, stellt

aber den ,Sozialraum‘ in den Vordergrund.

„Cyberspace, vortheoretische Bezeichnung für einen technisch erzeugten Sozialraum, der medial vermittelte Interaktionen zwischen räumlich entfernten Individuen, aber auch zwischen Menschen und Künstlichen Intelligenzen ermöglicht.“ (ebd.: 122)

Florian Kraftschik [email protected]

6

5 Zur Einführung in die Kybernetik vgl. Wiener (1964); vgl. auch Ross Ashby (1974).6 Weibel (1993) bezieht sich bei seiner Definition ausdrücklich auf den menschlichen Beobachter, nicht-menschliche Beobachter, z.B. Tiere oder Künstliche Intelligenzen, bezieht er nicht in seine Überlegungen mit ein. 7 Obwohl der ,Nutzer‘ in seiner männlichen Form bezeichnet wird, wurde aufgrund verbesserter Lesbarkeit darauf verzichtet, zusätzlich die ,Nutzerin‘ in der weiblichen Form anzuführen. Gemeint ist aber immer auch die weibliche Form, dies gilt auch für andere Worte, wo aufgrund besserer Lesbarkeit auf das Gendering in Ausnahmefällen ver-zichtet wurde.

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Die Ausweitung des Begriffs auf den Sozialraum, in dem Menschen miteinander interagieren,

erscheint für diese Arbeit als unabdingbar, da eine begriffliche Beschränkung auf VR-Umgebun-

gen die soziale Realität, also zeitgenössische Massenanwendungen wie das Web 2.0, Social Me-

dia und allgegenwärtige Kommunikation, begrifflich ausschließen würde. Nach dieser Definition

des Lexikon zur Soziologie umfasst Cyberspace sowohl Zukunftstechnologien wie Virtual Reality

oder Augmented Reality, als auch gegenwärtige Anwendungen und Verwendungsformen des

World Wide Web8. Der Cyberspace ermöglicht so die Verbindung und Interaktion beliebig vieler

Menschen9 miteinander, dabei zeitlich eher indirekt (Webseiten), textbasiert direkt (Chat-An-

wendungen) oder synchron audiovisuell oder telepräsent (Voice-over-IP, auch Online-Multiplay-

er Games und VR-Anwendungen wie z.B. Second Life) (vgl. Schetsche 2001: Abs. 2.2). Weil

dieser weite Begriff sowohl die Welten der VR als auch die weit verbreitete Nutzung von Netz-

werkmedien einschließt, werde ich diesen für meine Arbeit zugrunde legen.

2.2 Cyborg

Die Wortschöpfung Cyborg bedeutet wörtlich übersetzt ,Cybernetic Organism‘, gemeinhin wird

durch sie auf einen biologischen Organismus Bezug genommen, der technisch modifiziert oder

erweitert wurde. Damit bezieht sich Cyborg auf die Dichotomie von Körper und Maschine, die

nach Westermann (2012) wiederum beide „kulturelle Konstrukte“ (ebd.: 9) sind und somit dem

diskursiven Wandel unterliegen10.

„Körper- und Maschinenkonzepte sind nicht nur ein Spiegel des aktuell technisch möglichen, viel-mehr sind sie ein Indiz dafür, wie Mensch und Technologie, Körper und Maschine in einem spezifi-schen Kontext gedacht werden können.“ (ebd.: 10)

Auch in der SF finden sich viele Interpretationen und Ausgestaltungen des Cyborg-Konzepts

sowie der Diskussion über Unterschiede und Vermischung von Mensch und Maschine. An Bei-

spielen wie den Replikanten (die Replikanten sind Maschinen aus gezüchteten und gentechnisch

optimierten Organen) in Ridley Scotts „Bladerunner“ (vgl. 1982)11, Neuroschnittstellen als

Brain-Computer-Interface in Cory Doctorows „Backup“ (vgl. 2007) oder der neurochemischen

Veränderungen des menschlichen Nervensystems in Richard Morgans „Das Unsterblichkeitspro-

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7

8 Diese begriffliche Verwendung entspricht auch der alltagssprachlichen Verwendung, nach welcher mit der Vorsilbe ,Cyber-‘ gemeinhin alles bezeichnet werden kann, was im Zusammenhang mit Netzwerkmedien steht (z.B. Cybersi-cherheit, Cyberwar, Cybercafé, Cybersex), analog zu weiteren Präfixen e-, i-, Net-, Info- oder Techno- (Vgl. McFed-ries 2004).9 Prinzipiell kann die Verbindung und Interaktion auch mit KIs erfolgen, jedoch ist an dieser Stelle noch strittig, was „Intelligenz“ in diesem Zusammenhang meint (vgl. Kap. 2.3).10 Zur kulturellen Konstruktion der Identität vgl. Haraways (1995) ,Manifest für Cyborgs‘. 11 Das Drehbuch zu ,Bladerunner‘ geht auf den Roman ,Do Androids Dream of Electric Sheep‘ von Arthur C. Clarke zurück.

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gamm“ (vgl. 2004) wird die Verschiebung des Denkbaren deutlich. Doch nicht nur wird über die

Maschine wie in ,Bladerunner‘ oder Frankensteins Monster in menschlichen Kategorien gedacht,

auch wird der Mensch spiegelbildlich „technomorph“ (Westermann 2012: 11), d.h. im referenti-

ellen Bezug auf die Maschine, interpretiert, wenn beispielsweise wie im SF-Film ,Strange Days‘

Datenströme des Gehirns wie bei einer Festplatte beliebig ausgelesen oder eingespeist werden

können.

Der Cyborg umfasst somit den im Sinne des ,Human Enhancement‘ durch die Mittel der Technik

veränderten Menschen, aber auch technisch modifizierte Tiere oder andere biologische Organis-

men12. Streng genommen fallen jedoch bereits viele Menschen unter diese Definition13: durch

die Einnahme von Psychopharmaka (vgl. auch Auf dem Hövel 2012) greifen Menschen täglich

chemisch-technisch in ihre Wahrnehmung ein, Menschen lernen immer weniger durch unmittel-

bare eigene körperliche Erfahrungen, sondern über die Kulturtechnik der Sprache und nehmen

die Welt vermehrt über Fernseh- und Computerbildschirme und jüngst auch Smartphones wahr;

Mensch und Technik verschmelzen zusehends.

An dieser Stelle möchte ich vorschlagen, zusätzlich das Kriterium der Dauerhaftigkeit einer Mo-

difikation einzuführen: nur der dauerhaft installierte Herzschrittmacher, die dauerhaft verbesserte

kognitive Leistung oder der dauerhafte genetische Eingriff in das menschliche Erbgut sollen un-

ter die Cyborgisierung gefasst werden. Durch dieses Kriterium der Dauerhaftigkeit gewinnt der

Begriff eine gewisse Trennschärfe, es kann auch festgehalten werden, dass Cyborgs in der ge-

genwärtigen Gesellschaft weit verbreitet und gesellschaftlich akzeptiert sind. Die weiter fort-

schreitende Akzeptanz und Verwendung von Technologien im Alltag und die ständig wachsen-

den Anwendungsmöglichkeiten legen auch nahe, dass die Themen Prothetik (künstliche Ersatz-

teile für den menschlichen Körper) und Cyborgisierung weiterhin an Relevanz gewinnen wer-

den. Außerdem ist zu beobachten, dass technische Modifikationen und Erweiterungen in Zukunft

nicht mehr nur medizinische Notwendigkeiten (Herzschrittmacher, Körperprothesen, Brillen)

umfassen, sondern vor allem auch auf Ästhetik und Mediennutzung (z.B. Tätowierungen als

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8

12 Die militärische Forschungseinrichtung Darpa arbeitet beispielsweise bereits an fernsteuerbaren Insekten (Vgl. Weber 2012), auch können z.B. Katzen zur Bestimmung ihres Aufenthaltsorts durch ihre Besitzer mit GPS-Sendern ausgestattet werden. In der Auswahl der SF zum Thema Cyberspace, die dieser Arbeit zu Grunde liegt, spielen tech-nisch modifizierte Tiere jedoch keine Rolle.13 Die Problematik der fließenden Grenzen der Cyborgisierung greifen Neuhaus und Schleth (1997) auf. Clark (2003) vertritt den Standpunkt, dass der Mensch eine Prädisposition zum Cyborg hat und schon immer als Cyborg existiert, da die Wandlungsfähigkeit des menschlichen Gehirns ihm die Nutzung von Werkzeugtechnik und Kultur-techniken wie z.B. Sprache und kulturelle Praxis ermöglicht. Für den Menschen liegt ein großer Nutzen vor allem in jener Technik, die komplementär zu seinen eigenen körperlichen Fähigkeiten ist, so dass er seine Fähigkeiten durch technische Möglichkeiten erweitert.

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Körperkunst; Augmented Reality-Brillen zur Erweiterung der Wirklichkeit) umfassen und somit

die „Technisierung des Humanen“ (Westermann 2012: 14) vorantreiben werden.

Definition:

Als Cyborg im Sinne dieser Arbeit wird ein Lebewesen verstanden, dessen biologischer Körper

dauerhaft, d.h. regelmäßig für die meiste Zeit, durch technische Mittel, vor allem mechanisch-

technisch, technisch-kybernetisch, (psycho-)chemisch, bio/gentechnisch, nicht: kulturtechnisch,

mit dem Ziel der Leistungssteigerung desselben modifiziert ist. Hierzu zählen sowohl medizini-

sche Notwendigkeiten, aber auch ästhetische Modifikationen und ,Human Enhancement‘. Dabei

spielt es keine Rolle, ob die Modifikation des Körpers invasiv durch Implantate oder nicht-inva-

siv erfolgt.

2.3 Künstliche Intelligenz

Die Diskussion darum, was Intelligenz ausmacht, ist ein wesentlicher Bestandteil der Debatte um

Künstliche Intelligenz (KI oder engl. AI von Artificial Intelligence). Die Ansätze verschiedener

Disziplinen und Forschungsrichtungen in der KI-Forschung lassen sich als sehr heterogen be-

schreiben. An dieser Stelle soll jedoch keine Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand zur

KI-Forschung erfolgen, es sollen auch keine unterschiedlichen Ansätze aufgezeigt werden; diese

Diskussion erfolgt an anderer Stelle (siehe Kap. 4.3.3). Vielmehr verfolge ich hier das Ziel, einen

KI-Begriff zu entwickeln und für die Arbeit zu definieren, der alles fasst, was in der Science Fic-

tion, aber auch in den verschiedenen Forschungsansätzen als KI behandelt wird.

Für diese Arbeit erachte ich den definitorischen Ansatz von Braun-Thürmann (2002) als geeig-

net:

„Das Forschungsgebiet Künstliche Intelligenz befasst sich mit der Frage, wie intelligentes Verhalten untersucht, verstanden und technisch modelliert werden kann. In diesem Zusammenhang entwickeln die ForscherInnen „intelligente“ Software (z.B. Softbots) oder physische Artefakte (z.B. Roboter)“ (ebd.: 9; Fußnote 1).

Demnach zählen jene

„Softwareprogramme und Roboter [zur Künstlichen Intelligenz; Anm. d. Verf.], deren wesentliche Kennzeichen es sind, selbsttätig zu handeln, zu lernen und mit anderen ’Agenten‘ bzw. Menschen zu interagieren. Aus soziologischer Perspektive liegt die Besonderheit dieses Gegenstandes darin, dass ihm von Seiten der EntwicklerInnen solche Kompetenzen zugeschrieben werden, die üblicherweise menschlichen Individuen und sozialen Systemen vorbehalten sind“ (ebd.: 9).

Nach Krummheuer kann eine „Handlung“ sowohl autonom oder reaktiv erfolgen (vgl. Krumm-

heuer 2010: 77).

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9

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Diese Definition ist breit genug angelegt, um sowohl die „Top-Down-Methode“ (Brooks 2001:

15), welche bei der Erforschung von Intelligenz das Denken als mentale Funktion vor die Wahr-

nehmung oder Motorik stellt, als auch die „Bottom-Up-Methode“ (ebd.: 16), welche die Erfor-

schung der Umweltwahrnehmung in ihren Bestrebungen zur Erforschung von KI voranstellt, zu

umfassen. In der Industrie massenhaft verbreitete Automaten und Fertigungsroboter werden von

der Definition ausgeschlossen, da sie nur fix programmierte mechanische Bewegungen ausfüh-

ren, nicht jedoch gemäß obiger Definition „handeln“, „lernen“ oder „interagieren“ (vgl. BARA

o.J.: 1; vgl. hierzu auch Murphy 2000: 13). Die Erforschung von Wahrnehmung und Motorik ist

nur im Bereich der Robotik von Bedeutung, d.h. dort, wo KIs in der Lage sein müssen, Bezüge

zur physisch-materiellen Umwelt herzustellen, um sich in ihr zu orientieren, zu bewegen oder

Einfluss auf Gegenstände ausüben zu können. Ihre „Situiertheit“14 und „Körperhaftigkeit“15 ma-

chen es notwendig, Repräsentationen der Umgebung als Grundlage für die Planung von Bewe-

gungen oder der Manipulation von Objekten in der Recheneinheit (dem „Gehirn“ des Roboters)

in Form von Modellen anzulegen. Eine körperlose KI, die nicht in einer materiellen Umwelt,

sondern in einer simulierten Umwelt operiert (einfache Computersimulationen, Netzwerke oder

auch VR-Umgebungen) umgeht dieses Problem der Repräsentation der materiellen Welt, da für

sie die materielle Welt schlicht außerhalb ihrer Welt liegt und sie auf ihre Umwelt im Rahmen

ihrer Möglichkeiten direkt reagieren kann. In diesem Zusammenhang benötigt die KI zwar keine

Repräsentation von Wissen über die Beschaffenheit der materiellen Welt, dafür jedoch eine Re-

präsentation von Wissen über andere Bereiche, weil die Wissensbasis einer KI die Grundlage für

Problemlösungen in diesem Bereich darstellt (vgl. Poole/Machworth 2010: 11f). Im Rahmen der

Simulation ist eine „Interaktion“ der KI sowohl mit Menschen als auch mit anderen KIs möglich,

wobei in dieser Arbeit gemäß der Definition von Cyberspace eine Betrachtung der „Interaktion“

zwischen zwei oder mehreren KIs außen vor bleibt.

In welcher Form eine KI in einer Simulation in Erscheinung tritt und auf welcher Ebene die „In-

teraktion“ stattfindet, ob sprachlich, visuell, auditiv oder haptisch, scheint dabei zweitrangig und

mit der Frage nach der Komplexität der Simulation verknüpft, sowie in Bezug auf die menschli-

che Wahrnehmung mit der Frage nach technischen Möglichkeiten der Darstellung der Simulation

(Vgl. Kap. 4.3.1 Prothetik und Cyborgisierung und 4.3.2 Virtualität und Phantomatik). Damit

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10

14 „Der Roboter agiert aktiv in seiner Umwelt - er beschäftigt sich nicht mit abstrakten Beschreibungen, sondern mit dem Hier und Jetzt der Welt, welche direkten Einfluss auf sein Systemverhalten nimmt“ (Brooks 2001: 17).15 „Der Roboter verfügt über einen Körper und erfährt damit seine Umwelt. Deren Aktionen sind Bestandteil einer dynamischen Beziehung, wobei dem Roboter eine unmittelbare Rückmeldung über seine Wahrnehmung vermittelt wird“ (ebd.).

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eine Maschine im Sinne dieser Arbeit als intelligent angesehen werden kann, ist es m.E. im

Rahmen nicht notwendig, dass sie über eine Intelligenz vergleichbar zur menschlichen16 verfügt,

denn

„[g]esellschaftliche Konsequenzen der KI-Forschung wird es auch dann geben, wenn das anspruchs-volle Ziel einer umfassenden Simulation nicht oder nur teilweise erreicht wird. Selbst wenn sich he-rausstellen sollte, daß Computer prinzipiell nicht mehr als syntaktische Maschinen sein können, so daß der Mensch/Maschine-Unterschied am Kriterium des semantischen Vermögens präzise bestimmbar wäre, dürfte die zu erwartende Leistungssteigerung der KI-Technik dennoch weitreichende Wirkungen in die gesellschaftlich-ökonomische Praxis auslösen.“ (D‘Avis 1994: 14).

Das Ziel dieser Arbeit ist die Entdeckung möglicher Zukünfte des Cyberspace, wo, um ein Er-

gebnis der Arbeit vorweg zu nehmen, der Mensch immer häufiger mit nicht-menschlichen „Ak-

teuren“ konfrontiert werden wird.17 Dieser ausreichend breit angelegte KI-Begriff inkludiert alle

Gegenstände der gegenwärtigen KI-Forschung ebenso wie auch alle in der Literatur als relevant

befundenen KI-Systeme, von beschränkt intelligenten Agenten (z.B. Beezle-Bug in Williams‘

„Otherland“, vgl. 1998; 1999; 2000; 2001) bis hin zur technischen Singularität (z.B. Moravec‘s

„Mind Children“, vgl. 1990), er exkludiert jedoch Intelligenz-Konzepte, die nicht auf „Interakti-

on“ ausgelegt sind.

Definition:

Als Künstliche Intelligenz im Sinne dieser Arbeit werden Roboter oder körperlose Systeme defi-

niert, welchen die Fähigkeit eingeschrieben ist, aktiv oder reaktiv zu „handeln“, zu lernen und

mit Menschen zu „interagieren“. Intelligenz soll das bezeichnen, was ein Mensch als intelligent

(im Sinne der kypernetischen Äquivalenzformel) wahrnimmt.

2.4 Science Fiction

„Science Fiction ist keine romanhafte Futurologie. Sie will es in der Regel auch nicht mehr sein“ (Su-erbaum/Broich/Borgmeier 1981: 21).

Science Fiction ist ein literarisches Sub-Genre der phantastischen Literatur (vgl. Suvin 1979: 9);

es wird in dieser definitorischen Abgrenzung aufgezeigt, dass sie sich von der Belletristik durch

eine Abweichung der Realität ihrer Welten von der Alltagswelt des Lesers, von anderen Sub-

Genres der Phantastik durch die wissenschaftliche Legitimierung dieser Abweichung abgrenzen

lässt. SF soll jedoch in dieser Arbeit nicht rein auf die Literatur begrenzt werden, zahlreiche

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11

16 Für den Menschen können Maschinen auch dann ein Partner der „Interaktion“ sein, wenn sie gemäß der kyberne-tischen Äquivalenzformel „Zwei Systeme sind äquivalent, wenn sie auf eine Eingangsfunktion mit derselben Aus-gangsform reagieren“ (D‘Avis 1994: 9) den Anschein von Intelligenz erwecken.17 In einigen Bereichen, z.B. in Chaträumen oder bei der Arbeit mit Expertensystemen ist dies schon in der Gegen-wart der Fall (vgl. Kap. 4.3.3).

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Auseinandersetzungen mit SF-Themen erfolgen auch in Form von anderen Medien, wodurch

sich der Kreis der Rezipienten teilweise als stark erweitert darstellt. So sollen zu SF im Sinne

dieser Arbeit neben Kurzgeschichten und Romanen vor allem auch Filme gezählt werden, prin-

zipiell auch Comics, Comic-Verfilmungen (Mangas, Anime) und Games, jedoch spielten letztere

im Rahmen der vorliegenden Zukunftsstudie zum Cyberspace keine Rolle18. Gaßner19 äußerte

sich kritisch gegen die Auswertungen von Games für die Zukunftsforschung, da hier nicht so

sehr die Motive und Ausgestaltung, sondern vor allem der Unterhaltungswert im Vordergrund

stünden. Ob ein Computerspiel in den Prozess der Zukunftsforschung miteinbezogen werden

kann, muss wohl im Einzelfall geklärt werden, wie auch bei jedem Buch, Film etc. (vgl. Kap.

3.2.3). Science Fiction bedarf an dieser Stelle einer Profilschärfung, weil sich hinter diesem

(Verkaufs-)Label ein buntes Sammelsurium verschiedenster Ideen versteckt, die zwar durchweg

der Phantastik, nicht jedoch der Science Fiction im engeren Sinne zugerechnet werden können.

„Wünschenswert aus Sicht der Zukunftsforschung wäre es deshalb, die Grenzlinie um den zu untersu-chenden Text-Korpus dabei weder zu eng, noch zu weit zu ziehen: eng genug, um eine relative Ho-mogenität und Überschaubarkeit des Forschungsfeldes zu gewährleisten, weit genug, um eine mög-lichst große Anzahl potentiell interessanter Werke einzuschließen“ (Steinmüller 1995: 9).

Steinmüller (ebd.: 10ff) verweist auf die Schwierigkeit dieses Vorhabens. Für eine Definition von

SF, die auf die Zwecke der Zukunftsforschung zugeschnitten ist, grenzt er im ersten Schritt phan-

tastische Literatur von realistischer ab, um dann als zweiten Schritt die Unterschiede der SF im

Vergleich zu anderen Subgenres der Phantastik heraus zu arbeiten. Für die Verwendung in der

Zukunftsforschung schlägt er folgende Definitionen vor:

1. „In der realistischen Literatur wird eine Welt vorausgesetzt, die im Prinzip unserer empirisch

erfahrbaren Wirklichkeit entspricht. Die Welt der phantastischen Literatur weicht für den Le-

ser erkenntlich von unserer Wirklichkeit ab“ (ebd.: 13).

2. „In der Science Fiction wird im Unterschied zur ,reinen‘ Phantastik die Abweichung der Welt

des Werkes von der Realität des Lesers unter Bezugnahme auf ein wissenschaftliches Weltbild

legitimiert (als plausibel dargestellt)“ (ebd.: 16).

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12

18 Das Manga „A Ghost in the Shell“ von Masamune Shirow stellt die einzige Ausnahme dar. 19 Das Transkript des Telefoninterviews mit Robert Gaßner wurde in den Anhangband aufgenommen, dieser liegt sowohl dem Erst- als auch dem Zweitkorrektor der Arbeit ein Exemplar vor.

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Abb. 1: Abgrenzung der SF von anderen Typen der Literatur (eigene Darstellung, angelehnt an

Steinmüller 1995: 17).

Die Abweichung von der Realität im ersten Schritt der Definition wird gemeinhin mit dem Be-

griff des „Novum“20 bezeichnet, im zweiten Schritt der Definition wird zusätzlich gefordert, dass

das Novum wissenschaftlich plausibel erscheint. Die Definition Steinmüllers entspricht in eini-

gen Punkten derjenigen Wollheims (1971):

„[Science Fiction is; Anm. d. Verf.] [t]hat branch of fantasy which, while not true of present-day knowledge, is rendered plausible by the reader‘s recognition of the scientific possibilities of it being possible at some future date or at some uncertain period in the past“ (ebd., zitiert nach: Wolfe 1986: 110).

Auch in dieser Definition beansprucht Wollheim für die SF wissenschaftliche Plausibilität21, er

spricht jedoch einen weiteren Aspekt an, nämlich die zeitliche Relation der Handlung von SF im

Bezug zur Gegenwart: SF muss nicht per se in der Zukunft spielen (siehe hierzu auch Steinmül-

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13

20 „The novum is the historical innovation or noveltry in an sf text from which the most important distinctions bet-ween the world of the tale from the world of the reader stem. It is, by definition, rational, as opposed to the superna-tural intrusions of marvellous tales, ghost stories, high fantasy an other genres of the fantastic. In practice, the no-vum appears as an invention or a discovery around which the characters and setting organize themselves in a cogent, historically plausible way. The novum is a product of material processes; it produces effects that can be logically derived from the novum‘s causes, in the material and social worlds; and it is plausible in terms of historical logic, whether it be in the history of technoscience or other social institutions“ (Csicsery-Ronay Jr 2003: 118f).21 Die Forderung nach wissenschaftlicher Plausibilität ist vor allem im Rahmen der wissenschaftlich arbeitenden Zukunftsforschung von Belangen, Jameson (2005) zieht zu einer Unterscheidung von wissenschaftlichem Wissen und der bloßen Meinung die platonischen Begriffe Doxa und Episteme hinzu (ebd.: 47f), wobei ersteres bloße Mei-nung, zweiteres hingegen die wissenschaftliche Erkenntnis meint. Das Novum der SF nimmt eine Rolle zwischen diesen beiden Begriffen ein: zwar steht der wissenschaftliche Beweis noch aus, dass z.B. eine Technologie wirklich funktionieren kann, jedoch darf nichts offensichtlich aus wissenschaftlichen Gesichtspunkten gegen diese Annahme sprechen, was sie zumindest plausibel macht. Vor allem die Hard SF ist durch ihren relativ starken Bezug zur Wis-senschaft gekennzeichnet (vgl. hierzu Cramer 2003).

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ler 1995: 10f). Auch wenn SF in vielen Fällen Literatur über die Zukunft ist (nach dem oft zitier-

ten Motiv „was wäre, wenn...“), zählen nach dieser Definition auch Geschichten zur SF, die ein

wissenschaftlich-technisch plausibles Novum in eine Handlung in die Vergangenheit einsetzen

und somit alternative Geschichtsverläufe aufzeigen, im Sinne des „es hätte anders kommen kön-

nen, wenn...“.

Suvins (1979) Unterscheidung zwischen naturalistischer Fiktion, Fantasy und Science Fiction

reiht sich in diese Systematik ein (vgl. ebd.: 65): Die naturalistische Fiktion bedarf keiner wis-

senschaftlichen Erklärung, da sie keine Spekulationen über unbekannte Phänomene anstellt und

Fantasy entzieht sich der wissenschaftlichen Erklärung, da die beschriebenen Phänomene als

unmöglich gelten. In der Science Fiction dargestellte Phänomene müssen jedoch einerseits er-

klärt werden, da sie in der Gegenwart (noch) nicht existieren, müssen andererseits aber auch aus

den genannten Gründen rational erklärt werden können. SF schließt also solche Phänomene ein,

von denen es hinreichend plausibel erscheint, dass sie wissenschaftlich erklärt werden können,

auch wenn die genaue Erklärung derzeit noch aussteht.

Definition:

Science Fiction im Sinne dieser Arbeit umfasst alle Literatur-, Film- Spiele- und sonstigen Medi-

enprodukte, die ein Novum (technologisch, sozial etc.) einführen, um dessen Auswirkungen sich

die Handlung der Geschichte maßgeblich dreht. Das Novum darf in der Gegenwart noch nicht

realisiert sein, damit sich die SF-Welt von der Welt des Lesers maßgeblich unterscheidet. Außer-

dem muss das Novum dergestalt wissenschaftlich plausibel sein, dass seine Verwirklichung nach

dem derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht unmöglich erscheint. Die zeitli-

che Relation der Handlung zur Gegenwart spielt keine Rolle.

3. Grundüberlegungen: Science Fiction als Quelle für die Zukunftsforschung

Zukunftsforschung ist eine Wissenschaft, Science Fiction ist ein literarisches Genre, eigentlich,

so sollte man meinen, sind die Produkte dieser beiden Disziplinen genuin verschieden. Dass die

beiden jedoch mehr verbindet, als der erste Blick offenbart, wird in diesem Kapitel dargelegt und

begründet. Die primäre und offensichtliche inhaltliche Verbindung ergibt sich daraus, dass sich

sowohl die Zukunftsforschung als auch die Science Fiction (in den meisten Fällen) mit der Zu-

kunft beschäftigen und sich sowohl die SF-Welten als auch die gezeichneten Zukünfte der

Zukunftsforschung maßgeblich von der Alltagswelt des Lesers und der Leserin unterscheiden.

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Ausgehend von Flechtheims (1970) Aufzählung der SF als intuitiver Methode der Futurologie

wird zunächst das derzeitige Verhältnis von Zukunftsforschung und SF besprochen, es wird ge-

zeigt, dass SF zwar immer wieder als Quelle für die Zukunftsforschung genannt wird, dass

gleichzeitig jedoch eine systematische Analyse ausbleibt. Die Einsicht, dass beide trotz ihrer

zweifellos vorhandenen Differenzen jedoch auch deutliche Verbindungen miteinander haben,

leitet über zu Kapitel 3.1: Wissenssoziologische Implikationen. Kapitel 3.1.1 öffnet mit dem

Grundproblem, dass der Untersuchungsgegenstand „Zukunft“ in der Gegenwart noch nicht exis-

tiert. Die Frage ist hier, was die Zukunftsforschung überhaupt erforscht. Die Antwort lautet:

Zukunftsforschung untersucht Zukunftsvorstellungen, und die sind, laut Uertz (2006) „Elemente

der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“.

Kapitel 3.1.2 analysiert also Zukunftsvorstellungen mit der Theorie der gesellschaftlichen Kon-

struktion der Wirklichkeit von Berger und Luckmann (2009). In Kapitel 3.1.3 wird dann die Ver-

bindung vom Sozialkonstruktivismus zu den Wechselwirkungen zwischen Zukunftsforschung,

Science Fiction und Zukunftsvorstellungen gezogen; philosophisch wird begründet, dass Science

Fiction Einzug in den Forschungsprozess der Zukunftsforschung erhalten muss.

Kapitel 3.2 konkretisiert die Arbeit mit SF im Prozess der Zukunftsforschung: in Kapitel 3.2.1

soll aufgezeigt werden, welche Funktionen SF in der Zukunftsforschung haben kann; in Kapitel

3.2.2 wird aufgezeigt, wie Autoren wissenschaftlicher Zukunftsszenarien ihre Texte ggf. einer

breiteren Leserschaft zugänglich machen können, wenn sie sich beim Szenario-Writing an die

ästhetischen Modelle von SF-Texten anlehnen. Außerdem wird hier verdeutlicht, wie einzelne

Begriffe durch SF-Werke mit Bedeutung ,aufgeladen‘ werden, die dadurch einen Leitcharakter

bekommen oder der Abschreckung dienen können. Kapitel 3.2.3 befasst sich mit den Kriterien,

welche an die SF angelegt werden müssen, um als Quelle für die Zukunftsforschung dienen zu

können. Kapitel 3.2.4 unternimmt einen Exkurs zum Thema Wild Cards und stellt die Vorzüge

von SF heraus, wenn es darum geht, ,Undenkbares zu denken‘. Das Kapitel 3 dient somit als

Grundlage für die systematische Auswertung von SF zum Thema Cyberspace und er zielt ab auf

die Begründung der gewählten Zugänge zur Cyberspace-SF.

In zahlreichen Abhandlungen über die Zukunftsforschung, so auch in Flechtheims Grundpro-

gramm der deutschen Futurologie „Futurologie. Der Kampf um die Zukunft“, wird Science Fic-

tion neben anderen Methoden als intuitive Methode der Zukunftsforschung aufgeführt (1970:

127). Die Stärke der intuitiven Methoden, so Flechtheim, liege demnach vor allem in der Vermi-

schung von „Erfahrung und Sachinformation [...] mit möglichst genialer Phantasie“, was sich

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dann zu „Projektion oder Prognose verdichte[...]“.22 Weitergehende methodologische Ausfüh-

rungen über die Auswertung von SF zum Zweck des Erkenntnisgewinns für die

Zukunftsforschung sind jedoch selten23, noch seltener sind gar Studien, welche die systematische

Auswertung von SF tatsächlich als Methode einsetzen24. Lediglich die Illustration von Studien

mit SF-Zitaten wird rege praktiziert, was immerhin als Zeichen dafür gewertet werden kann,

dass Zukunftsforscher zum Kreis der SF-Rezipienten gezählt werden können (vgl. Steinmüller

1995: 26).

Daraus, dass die systematische Auswertung von Science Fiction in der breiten Masse der Zu-

kunftsstudien oder der Methodenliteratur der Zukunftsforschung wenig Anwendung findet, lässt

sich jedoch nicht ableiten, dass Literatur oder andere Medien- und Kulturprodukte im For-

schungsprozess der Zukunftsforschung (und allen ihren Ablegern oder Modifikationen wie z.B.

Trendforschung, Foresight oder auch Technikfolgenabschätzung) keine Bedeutung hätten. Der

methodisch kontrollierte Umgang mit derlei Kulturprodukten scheint sich jedoch erst noch etab-

lieren zu müssen. Immer wieder gab es in den letzten Jahren bis Jahrzehnten Vorstöße, in denen

der Nutzen vor allem belletristischer Literatur für die Zukunftsforschung proklamiert wurde,

dennoch handelt es sich bei der systematischen Auswertung von Literatur- und anderen Medien-

produkten immer noch um die Ausnahme.25

„Mit wenigen Ausnahmen hat die Zukunftsforschung die Zukunftsliteratur nicht zur Kenntnis ge-nommen. - Ist hier eine große Chance verspielt worden? Oder hat die Zurückhaltung einer Disziplin, die immer noch darum kämpft, sich vom Stigma unwissenschaftlicher Spekulation zu befreien, mehr als einen guten Grund?“ (Steinmüller 1992: 13f)

Würden sich Zukunftsforscher der SF generell verweigern, da sie oder ihre Rezipienten die Ideen

der SF als bedenkliche, ihrer Forschung abträgliche Phantasterei hielten, so erschiene dies jedoch

gar als besonders problematisch: die SF durchzieht in Form von Begriffen, Bildern und Zu-

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22 (Flechtheim 1970: 126) Gegenüber der Vorstellung Flechtheims, dass aus der Literatur oder aus anderen intuitiven Quellen, wie z.B. einem Brainstorming einer Expertengruppe, die Prognose über eine Zukunft im Singular oder die Zukunft als einziger beschreitbarer Weg verdichtet werden kann oder soll, hat sich die moderne Zukunftsforschung von diesem Konzept entfernt. Das Zukunftsbild ist kein deterministisches mehr, die Zukunftsforschung geht davon aus, dass verschiedene Zukünfte möglich sind. Außerdem geschieht Zukunft nicht, sondern sie ist als Folge von Handlungen gestaltbar. (vgl. Kreibich 2008: 9, vgl. auch Uerz 2006: 421)23 Mit der SF in der Zukunftsforschung setzte sich vor allem Steinmüller auseinander (vgl. Steinmüller 1995; Bur-meister/Steinmüller 1992).24 SF erhält oft implizit Einzug in die Forschung bzw. liefert Ideen in der Vorarbeit zu Forschungsprozessen oder wird zu Illustrationszwecken angeführt, was jedoch nicht der systematischen Auswertung, wie sie in der vorliegen-den Arbeit beschrieben wird, entspricht. Dies wird auch durch die Antworten der Expertenbefragung bestätigt (vgl. Kap. 4.4).25 Jan Oliver Schwarz (2011) untersucht in seinem Werk „Quellcode der Zukunft. Literatur in der strategischen Frühaufklärung“ den Nutzen von Literatur für den Foresight-Prozess, ohne sich dabei auf SF zu beschränken. Eine großangelegte Studie zu Nutzen und Funktion von SF im Forschungsprozess der Zukunftsforschung liefert Karl-heinz Steinmüller (1995): „Gestaltbare Zukünfte. Zukunftsforschung und Science Fiction“.

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kunftsvorstellungen große Teile der Alltagswelt unserer technologieversessenen Kultur, und al-

lein schon über die kulturelle Prägung der Forscherinnen und Forscher erhalten SF-Ideen Einzug

in die Zukunftsforschung - in diesem Falle jedoch vollkommen unkontrolliert und unreflektiert.

Wünschenswert erscheint in diesem Licht vor allem eine bestmögliche Reflexion über implizite

kulturelle Einflüsse. Genau dieser Reflexion bedarf die Zukunftsforschung nämlich aufgrund

ihres wissenschaftlichen Anspruchs:

„Die Zukunftsforschung unterliegt in Abgrenzung zu zahlreichen pseudowissenschaftlichen Tätigkei-ten wie "Trendforschung", "Prophetie" oder "Science Fiction", grundsätzlich allen Qualitätskriterien, die in der Wissenschaft an gute Erkenntnisstrategien und leistungsfähige Modelle gestellt werden: Relevanz, logische Konsistenz, Einfachheit, Überprüfbarkeit, terminologische Klarheit, Angabe der Reichweite, Explikation der Prämissen und der Randbedingungen, Transparenz, praktische Handhab-barkeit u.a.“ (Kreibich 2006: 4).

Als ein literarisches Genre unterliegt die SF, anders als die Wissenschaft, keinen festen methodi-

schen Regelungen oder Kriterien der Überprüfbarkeit ihrer Ergebnisse. Daher produzieren SF-

Autoren keine Erkenntnisse im wissenschaftlichen Sinne. Dennoch setzen sich SF-Autorinnen

und -Autoren oft kreativ und intensiv mit dem Thema „Zukunft“ auseinander und beziehen nicht

selten wissenschaftliche Studien in ihre Überlegungen mit ein, so dass sie zwar vielleicht auch

als Expertinnen und Experten über das Thema „Zukunft“ bezeichnet werden können, jedoch mit

einem intuitiven Zugang zur Materie, der sich nicht nach wissenschaftlichen Kriterien richtet:

eine Art ,Hobbywissenschaftler auf intuitiver Basis‘. Intuitiv darf hier nicht mit unsystematisch

gleichgesetzt werden, vielmehr gelingt es vielen SF-Autorinnen und -Autoren, feinfühlig gesell-

schaftliche Veränderungen zu antizipieren und auf dieser Basis in sich konsistente Welten zu er-

schaffen (vgl. Gaßner 1992: 225). Als Künstler besitzen viele Autorinnen und Autoren eine Per-

spektive ,von außen‘ auf die Gesellschaft, die sie zu einem analytischen, reflexiven und kriti-

schen Umgang mit den gesellschaftlichen Mechanismen befähigt.

Das schrankenlose kreative „was wäre, wenn...?“ der Science Fiction soll also über die systema-

tische Auswertung ganz im Sinne qualitativer Sozialforschung für die Zukunftsforschung genutzt

werden. Steinmüller konstatiert:

„Zukunftsforschung wie Science Fiction sind Produkte einer von Wissenschaft und Technologie im Positiven wie im Negativen geprägten Gesellschaft. Beide, Zukunftsforschung und Science Fiction, reflektieren den herrschenden Zeitgeist, und beide versuchen, die Schranken des Zeitgeistes zu transzendieren“ (Steinmüller 1995: 157).

Ob dieser Versuch, „die Schranken des Zeitgeistes zu transzendieren“ überhaupt gelingen kann,

bleibt in Anbetracht der folgenden Ausführungen über die gesellschaftliche Konstruktion der

Wirklichkeit fraglich. Dass Science Fiction jedoch viele Funktionen im Forschungsprozess aus-

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üben kann und welchen Nutzen sie für die Zukunftsforschung stiftet, wird im weiteren Verlauf

der Arbeit dargelegt.

3.1 Wissenssoziologische Implikationen: Zukunftsforschung und Science Fiction als

Produkte der selben Gesellschaft

3.1.1 Zukunft geschieht nicht, Zukunft wird gemacht!

Sowohl für die Zukunftsforschung als auch für die Science Fiction im Sinne dieser Arbeit ist die

Zukunft der zentrale Untersuchungsgegenstand. Während es die SF-Autorin oder den SF-Autor

mit Freude erfüllt und ihn zur Phantasie anregt, dass die Zukunft zum Zeitpunkt des Schreibens

einer Geschichte noch nicht existiert, stellt dies für die Zukunftsforscherin oder den Zukunftsfor-

scher zunächst ein Problem dar: weil die Zukunft in der Gegenwart nicht existiert, kann er seine

Aussagen nicht empirisch überprüfen und somit weder verifizieren noch falsifizieren (Vgl.

Grunwald 2009: 26). Treffend fragt Grunwald (2009) im Titel seines Aufsatzes über den eigent-

lichen Forschungsgegenstand der Zukunftsforschung: „Wovon ist die Zukunftsforschung eine

Wissenschaft?“ Weder die Zukunft in der Science Fiction noch die Zukunft in der

Zukunftsforschung existiert in der Gegenwart, und so ist das untersuchte Objekt nicht die Zu-

kunft - denn diese ist in der Gegenwart inexistent - sondern eine in den Köpfen der Menschen

manifeste Zukunftsvorstellung. Es geht darum, wie Menschen der Gegenwart sich die Zukunft,

das Morgen und das Übermorgen, heute vorstellen. „Zukunftsforschung erforscht bestimmte As-

pekte der Gegenwart“ (Grunwald 2009: 26). Wie die Argumentation in Kap. 3.1.2 und 3.1.3 zei-

gen wird, ist die Erforschung der Zukunftsvorstellungen der Menschen für die

Zukunftsforschung deshalb relevant, weil sie die Planungsgrundlage für die Handlungen der

Menschen werden. Zusammenfassend lässt sich sagen: die Zukunft passiert nicht von selbst, sie

ist nicht determiniert, sie ist ein Produkt menschlicher Handlungen. Weil diese Handlungen prin-

zipiell frei sind und nicht prognostiziert werden können, ist in der Zukunftsforschung nicht die

Rede von der einen Zukunft im Singular. Vielmehr ist die Rede von verschiedenen möglichen

Zukünften im Plural (vgl. hierzu auch Steinmüller 2003: 53).

„Beiden [gemeint sind Zukunftsforschung und SF; Anm. d. Verf.] geht der eigentliche Gegenstand ab, und doch handeln sie nicht von einer wohldefinierten Nullmenge, sie beziehen sich eher auf ein fuzzy set von Potentialitäten, von möglichen Zukünften“ (Steinmüller 1992: 14).

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3.1.2 Zukunftsvorstellungen als Elemente der gesellschaftlichen Konstruktion der

Wirklichkeit

„Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der

Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt“ (Berger/Luckmann 2009: 65).

Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit umfasst die Zukunftsvorstellungen der Men-

schen; durch diese Zukunftsvorstellungen wird aus Gegenwart Zukunft. Das obige Zitat verdich-

tet die Essenz des Berger und Luckmann‘schen Sozialkonstruktivismus in drei kurzen Sätzen. Im

Folgenden werde ich den Zusammenhang von Zukunft, Zukunftsbildern, Zukunftsforschung und

der Science Fiction im Rahmen der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit erläutern.

„Die phänomenologisch orientierte Wissenssoziologie“ (Knoblauch 2005: 141) von Berger und

Luckmann sowie Schütz‘ Analyse des Weber‘schen Handlungsbegriffs bilden im Folgenden die

Basis der soziologischen Analyse.

Berger und Luckmann (2009) gehen im Rahmen ihrer Analyse der Alltagswirklichkeit davon

aus, dass der Mensch nach seiner Geburt mit der objektiven Faktizität der Gesellschaft konfron-

tiert wird, d.h. dass der Mensch auf eine objektiv vorhandene Realität der Gesellschaft trifft.

Diese Gesellschaft prägt den Menschen; der Mensch verinnerlicht ihre Sinnbezüge (Internalisie-

rung26). Das Vorhandensein dieser Gesellschaft setzen Berger und Luckmann jedoch nicht vo-

raus, vielmehr ist die Gesellschaft ein Produkt derer, die schon in ihr leben. Die Gesellschaft ist

durch den Menschen geschaffen, und zwar dadurch, dass menschliche Individuen, so bald auch

der eben noch neu geborene Mensch, durch Handlungen subjektiv gemeinten Sinn zum Aus-

druck bringen, d.h. ihren subjektiv gemeinten Sinn an die Gesellschaft entäußern (Externalisie-

rung27). Durch diese Sinnentäußerung schafft das Individuum Tatsachen für andere Individuen in

der Gesellschaft und auch für sich selbst (Objektivation28). Durch die Handlung hat das Indivi-

duum also objektive Fakten geschaffen, die nun wiederum durch die Mitglieder der Gesellschaft

internalisiert werden. Ein Individuum entäußert in der Handlung subjektiv gemeinten Sinn, der

von anderen Individuen verstanden bzw. in dessen Sinnbezüge eingeordnet werden kann, somit

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26 „Dieser Prozeß ist die Internalisierung: das unmittelbare Erfassen und Auslegen eines objektiven Vorgangs oder Ereignisses, das Sinn zum Ausdruck bringt, eine Offenbarung subjektiver Vorgänge bei einem Anderen also, welche auf diese Weise für mich subjektiv sinnhaft werden.“ (Berger/Luckman 2009: 139).27 „Indem der Mensch sich entäußert, errichtet er die Welt, in die hinein er sich entäußert. Im Prozeß seiner Selbst-entäußerung projiziert er seinen subjektiv gemeinten Sinn auf die Wirklichkeit.“ (Berger/Luckmann 2009: 112).28 „Das menschliche Ausdrucksvermögen besitzt die Kraft der Objektivation, das heißt, es manifestiert sich in Er-zeugnissen menschlicher Tätigkeit, welche sowohl dem Erzeuger als auch anderen Menschen als Elemente ihrer gemeinsamen Welt »begreiflich« sind. Objektivationen durch Ausdruck sind mehr oder weniger dauerhafte Indika-toren subjektiver Empfindungen. Sie ermöglichen deren »Begreifbarkeit« über die Vis-à-vis-Situation, in welcher sie unmittelbar erfaßt werden können, hinaus.“ (Berger/Luckmann 2009: 36f).

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wird Intersubjektivität hergestellt. Dies ist das generelle sozialkonstruktivistische Modell. Zur

detaillierten Analyse des Zusammenhangs zwischen Zukunftsvorstellungen, Zukunft,

Zukunftsforschung und Science Fiction muss jedoch der Begriff der ,Handlung‘ nach dem Mo-

dell von Weber und Schütz, auf den sich auch Berger und Luckmann beziehen, noch näher erläu-

tert werden. Jeder Handlung (auch bewusste Unterlassung kann in diesem Sinne als Handlung

gewertet werden) geht ein Handlungsentwurf voraus. In diesem Handlungsentwurf imaginiert

das handelnde Individuum den Endzustand der Handlung. Schütz bezeichnet dieses Futur II

Konstrukt („Ich werde mit der Handlung einen Zustand hergestellt haben“) als „modo futuri e-

xacti“ (1971: 79). Die Handlung wird dann ausgeführt, wenn durch sie der intendierte Endzu-

stand hergestellt werden kann. An dieser Stelle schließt sich der Kreis, oder in der Berger und

Luckmann‘schen Terminologie: hier wird subjektiv gemeinter Sinn (durch die Handlung als Her-

stellung eines intendierten Endzustandes) zur objektiven Faktizität (2009: 20).

Zusammengefasst ist die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit also ein dialektischer

Prozess, bei dem Internalisierung, Externalisierung und Objektivation permanent und gleichzei-

tig ablaufen:

„Da Gesellschaft objektiv und subjektiv Wirklichkeit ist, muß ihr theoretisches Verständnis beide As-pekte umfassen. Beiden Aspekten wird, wie wir schon sagten, erst eigentlich gerecht, wer Gesellschaft als ständigen dialektischen Prozeß sieht, der aus drei Komponenten besteht: Externalisierung, Objekt-ivation und Internalisierung. Als gesamtgesellschaftliches Phänomen sind die drei Komponenten nicht etwa im Sinne einer Aufeinanderfolge in der Zeit vorzustellen. Sie sind vielmehr simultan für die Ge-sellschaft und alle ihre Teile charakteristisch, so daß jede Analyse, die nur eine oder zwei ins Auge faßte, nicht ausreichte. Dasselbe gilt für das einzelne Mitglied der Gesellschaft, das simultan sein ei-genes Sein in die Gesellschaft hinein externalisiert, das heißt also, sich seiner entäußert und die Ge-sellschaft wiederum umgekehrt internalisiert, das heißt sich ihre objektive Wirklichkeit »einverleibt«. In der Gesellschaft sein heißt mit anderen Worten, an ihrer Dialektik teilhaben“ (Berger/Luckmann 2009: 139).

Die folgende Anwendung dieses wissenssoziologischen Modells der Konstruktion der Wirklich-

keit auf die Thematik „Zukunftsforschung und Science Fiction“ zeigt auf, wie die beiden mitei-

nander verknüpft sind. In jeder Antizipation der Folgen einer Handlung stellt ein Individuum al-

so ein kurzes Szenario der Zukunft auf, wofür seine Vorstellungen über die Zukunft zum tragen

kommen, die es im Prozess der Dialektik der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit

internalisiert hat. Diese Handlungen müssen keineswegs immer nur banaler Natur sein, wie z.B.

einen Stift an eine andere Stelle des Tisches zu legen. Handlungen können in ihren Folgen auch

sehr viel längerfristig angelegt sein, z.B. beim Kauf eines neuen Autos, bei Investitionsentschei-

dungen einer Firmenchefin oder bei der Entscheidung über eine folgenschwere technologischen

Entwicklung. Da Individuen durch ihre Handlungen die Gesellschaft verändern und durch ihre

Entscheidungen in der Gegenwart Fakten für die Zukunft schaffen, ist jedes Individuum an der

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Ausgestaltung der Zukunft beteiligt. Wie ein Individuum handelt, hängt vor allem davon ab,

welche Zukunftsvorstellung bei der Planung der Handlung angewandt wurde, und so setzt sich

die gesellschaftliche Zukunftsvorstellung über die Handlungen Einzelner selbst durch, nach der

Funktionsweise einer selbst erfüllenden Prophezeiung29 :

„Vorhersagen und Handeln schließen einander nicht aus und es existiert kein Widerspruch zwischen ihnen. Intentional gehandelt wird immer mit Blick auf ein zum Zeitpunkt der Handlungsplanung und -durchführung zukünftiges Ziel. Die Vorhersage selbst kann dabei entscheidend zur Verwirklichung oder Vermeidung des Vorhergesagten beitragen, indem Vorgänge eingeleitet werden, die das Vorherge-sagte letztlich verursachen oder abwenden werden. [...] Soziologisch lassen sich vorneuzeitliche wie neuzeitlich-moderne Zukunftsvorstellungen deshalb als Produkte und Faktoren im Prozess der gesell-schaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit verstehen, weil sich in ihnen nicht nur die unter je gegebe-nen soziohistorischen Bedingungen gehegten Hoffnungen, Wünsche und Ängste in Bezug auf Kom-mendes niederschlagen, sondern weil sie maßgeblichen Einfluss auf die Wahrnehmung der jeweiligen Gegenwart und die in ihr verfolgten Projekte nehmen.“ (Uerz 2006: 422f)

„Zukunftsforschung und Science Fiction sind Produkte derselben Gesellschaft“ sollte im Hin-

blick auf die hier getätigten Überlegungen um den Zusatz ergänzt werden: „...und die Zukunft ist

ein Produkt gegenwärtiger Zukunftsvorstellungen“. Wie aus dem Zitat von Uerz hervorgeht, sind

Zukunftsvorstellungen als „Produkte und Faktoren im Prozess der gesellschaftlichen Konstrukti-

on der Wirklichkeit [zu] verstehen“.

3.1.3 Die Wechselwirkungen zwischen Zukunftsforschung, Science Fiction und Zu-

kunftsvorstellungen

„Science fiction writers are pretty useless as fortune-tellers, but who needs fortune-tellers? „Predic-tion“ implies a future that we hurtle towards on rails, prisoners of destiny. Having a route-map for the railroad is nice, but wouldn‘t it be better if we could steer?“ (Doctorow 2012)

Für diese Arbeit wird unterstellt, dass die Zukunftsvorstellungen der Menschen zu großen Teilen

durch die Produkte der Science Fiction geprägt werden.30 Weil die Menschen ihre Handlungen

an den ihnen durch die Internalisierung geprägten Zukunftsvorstellungen ausrichten, tragen sie

somit zu ihrer Verwirklichung bei. Wegen dieser Rückkopplung der Handlung an die Zukunfts-

vorstellung ist Zukunftsforschung auch immer Zukunftsgestaltung. Zukunftsforscherinnen und

Zukunftsforscher spannen durch ihre Forschung Möglichkeitsräume31 auf, die dann durch Hand-

lungen ausgefüllt werden müssen, um Realität zu werden. Die Zukunftsforschung beeinflusst mit

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29 Die Bedeutung von selbsterfüllenden Prophezeiungen für die Technikvorausschau unterstreicht auch Cuhls (2008: 6).30 Schwarz und Liebl (2011) beschreiben diese Wechselwirkungen von Literatur und gesellschaftlichen Veränderun-gen in ihrem Artikel Quellcode der Zukunft: „In literarischen Texten wird nicht nur behandelt, was sich in einer Ge-sellschaft verändert. Wenn diese Romane gelesen werden und über sie geredet oder geschrieben wird, reagiert auch die Gesellschaft selbst. [...] Literarische Texte markieren also den Ort, in dem gesellschaftliche Veränderungen aus-gelöst, verarbeitet und reflektiert werden.“ (ebd.: 84)31 Vor allem die Szenariomethode zeigt nach Gaßner und Kosow in ihren Szenarien Räume einer möglichen Ent-wicklung der Zukunft auf (2008: 13).

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ihren Arbeiten die gesellschaftlich vorherrschenden Zukunftsbilder und Zukunftsvorstellungen,

ein großer Teil dieser Vorstellungen resultieren jedoch vor allem aus der Rezeption von Massen-

medien als Bestandteil der Alltagswelt. Wenn nun die Zukunftsforschung mögliche Zukünfte

aufzuzeigen intendiert, darf sie sich den Inhalten dieser massenmedial verbreiteten Zukunftsbil-

der nicht verschließen, da diese die Zukunftsvorstellungen wesentlich prägen.

Ein Einwand gegen diese Argumentation könnte lauten, dass SF auch die Zukunftsvorstellungen

der Zukunftsforscherinnen und Zukunftsforscher prägt, welche die Zukunftsstudien durchführen,

womit SF ohnehin in Form der Zukunftsvorstellungen der Forscherinnen und Forscher Einzug in

den Forschungsprozess erhält. Dies ist zwar im Hinblick auf die sozialkonstruktivistische Argu-

mentation folgerichtig anzunehmen, jedoch ist dies äußerst kritisch zu betrachten. SF-Vorstel-

lungen schleichen sich so methodisch unkontrolliert in den Forschungsprozess ein, z.B. in Form

von Brainstorming-Beiträgen oder über die Ausgestaltung und Annahmen von Zukunftsszenari-

en. Die undeutlichen Grenze zwischen der Wissenschaft und den Zukunftsvorstellungen der SF

wird also banalisierend stillschweigend akzeptiert.

Die Argumentation lässt sich wie folgt zusammenfassen:

- Prämisse 1: Zukunftsforschung und Science Fiction sind Produkte der Gesellschaft, in der sie

entstehen.

- Prämisse 2: Gesellschaftliche Zukunftsvorstellungen sind wesentlich beeinflusst durch Zu-

kunftsstudien und Science Fiction.

- Prämisse 3: Zukunftsforschung untersucht vor allem die Zukunftsvorstellungen der Menschen,

die im Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit zu Zukunft werden.

- Daraus folgt die Konklusion: Die Zukunftsforschung muss Science Fiction methodisch

kontrolliert in den Forschungsprozess miteinbeziehen, weil sie ihre Einflüsse auf die Zu-

kunftsvorstellungen - und somit auf mögliche Zukünfte - sonst verkennt und ihnen nicht

gerecht wird.

Steinmüller wurde mit der Frage zitiert (vgl. Kap. 3.1), ob die Zukunftsforschung durch die

Nicht-zur-Kenntnisnahme der SF eine Chance verspiele. Die Antwort muss im Hinblick auf den

gezogenen Schluss der Argumentation lauten: Ja, das tut sie!

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3.2 Die Rolle der Science Fiction in der Zukunftsforschung

In der Einleitung zu einer Untersuchung über Zukunftsforschung und Science Fiction resümiert

Steinmüller (1995):

„Das Science Fiction-Projekt des SFZ [Sekretariat für Zukunftsforschung; Anm. d. Verf.] bewies als Ganzes, daß in der SF ein umfassendes Material vorliegt, das, in geeigneter Weise erschlossen, dem Zukunftsforscher Anregungen in vieler Hinsicht und Zugänge zu den unterschiedlichsten Strömungen des Zeitgeistes, zu sozialen Befindlichkeiten und zu Wertungsprozessen, zu Leitbildern, technischen Visionen und sozialen Utopien, kurz gefaßt: zu den in der (post-)modernen Wissenschaftsgesellschaft latent und manifest vorhandenen sozialen Antizipations- und Zukunftsgestaltungsprozessen vermitteln kann“ (ebd.: 8).

Offensichtlich bleibt jedoch ein großer Teil dieses Potentials ungenutzt, vielleicht, weil die

Zukunftsforschung das Potential nicht sieht, vielleicht aber auch, weil mancherorts der Mut fehlt,

neue Wege abseits der breit ausgetretenen Pfade zu gehen. Im Folgenden wird der Zugang zur SF

konkretisiert und das Potential, welches im Umgang mit der SF verborgen liegt, aufgedeckt und

systematisch dargestellt. Dabei handelt es sich um konkrete Funktionen bei der Behandlung der

SF als Quelle für die Zukunftsforschung (Kap. 3.2.1), um den modellhaften Charakter der SF

beim Szenario-Writing (Kap. 3.2.2), außerdem wird untersucht, nach welchen Kriterien sich SF

für die Zukunftsforschung auswählen lässt (Kap. 3.2.3). Die Rolle der SF für die Wild Card-For-

schung wird gesondert in Form eines Exkurs dargelegt (Kap. 3.2.4).

3.2.1 Funktionen der Science Fiction für die Zukunftsforschung

Die Funktionen, die SF für die Zukunftsforschung übernehmen kann, sind vielfältig. Vor allem

Schwarz (2011) und Steinmüller (1995) setzen sich detailliert mit diesen auseinander. Je nach

intendierter Funktion muss im systematischen Auswertungsprozess eine an die jeweiligen Erfor-

dernisse angepasste Fragestellung an die SF herangetragen werden.

Steinmüller (1995) unterscheidet zwischen den „Funktionen, die die SF für die

Zukunftsforschung im engeren Sinne wahrnehmen kann“ (ebd.: 61) und „Funktionen der SF in

der Gesellschaft, die gegebenenfalls [...] für eine aktive Zukunftsgestaltung genutzt werden kön-

nen“ (ebd.). Dass diese beiden Funktionen jedoch untrennbar miteinander verbunden sind, dass

SF eine Quelle für die Zukunftsforschung sein muss, weil sie „Anteil an der zumeist unbewußten

gesamtgesellschaftlichen Prozess[...] der Zukunftsgestaltung [hat]“ (ebd.), konnte im bisherigen

Verlauf der Arbeit schon aufgezeigt werden: Zukunftsforschung ist immer auch Zukunftsgestal-

tung.

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Steinmüller (1995) trennt die Funktionen, welche die SF in der Zukunftsforschung einnehmen

kann, analytisch auf, seine Untergliederung soll auch dieser Arbeit zugrunde gelegt werden32

(vgl. ebd.: 62ff): Abbildungs- bzw. Indikatorfunktion von SF, Diskursfunktion der SF, Extrapola-

tiver („prognostischer“) Wert der SF, SF als Technikbewertung und Technikfolgenabschätzung,

SF als kritische Utopie, Perspektivfunktion der SF und Heuristischer Wert der SF. Im Rahmen

der wissenssoziologischen Grundannahmen dieser Arbeit möchte ich an dieser Stelle darauf

hinweisen, dass alle von Steinmüller beschriebenen Funktionen als verschiedene Aspekte des

Diskurses33 betrachtet werden können. Die Aufteilung der verschiedenen Aspekte eignet sich je-

doch, um die verschiedenen Funktionen isoliert zu betrachten und sie für die Arbeit besser hand-

habbar zu machen. Da sich alle Kategorien als eine Subkategorie entweder der Abbildungs- bzw.

Indikatorfunktion (charakteristisch: Verdeutlichung von Aspekten der Gegenwart, hierunter fal-

len m.E. weiter der explorative/prognostische Wert der SF und die SF als kritische Utopie) oder

der Diskursfunktion (charakteristisch: Element der Zukunftsgestaltung, mehrere mögliche Zu-

künfte, hierunter fallen m.E. weiter die Technikbewertung und Technikfolgenabschätzung und die

Perspektivfunktion) fassen lassen, werden sie demgemäß gruppiert dargestellt. Charakteristisch

für erstere Gruppe ist, dass SF hier funktionalisiert wird, um ggf. vorhandene subtile Strömungen

und Tendenzen der Gegenwart besser sichtbar zu machen, während die zweite Gruppe das der SF

innewohnende potentiell Zukunft gestaltende Moment betont. Einzig die heuristische Funktion

fügt sich nur eingeschränkt in dieses Schema. Nach der zugrundeliegenden Logik ist sie auch

eher der Diskursfunktion zugehörig, jedoch ermöglicht sie neben der Entdeckung diskursiver

Kontinuitäten auch einen Umgang mit diskursiven Brüchen, deren Erforschung sich vor allem

die Wild Card-Forschung verschrieben hat.

Die Abbildungs- bzw. Indikatorfunktion kann SF erfüllen, weil sie, wie bereits erörtert, ein Pro-

dukt der Gegenwart ist. „Generell wird der Kunst attestiert, daß sie auf aktuelle Konflikte, Prob-

lem- und Stimmungslagen hochsensibel reagiere, sie widerspiegle, als Seismograph für soziale

Erschütterungen wirke“ (Steinmüller 1995: 65). Als „Seismograph“ verdeutlicht die SF also As-

pekte der Gegenwart, die sonst kaum sichtbar wären: sie greift ein Signal auf, und verstärkt es.

Steinmüller (vgl. ebd.) begründet dieses Aufgreifen von schwachen Signalen mit der ständigen

Suche der SFAutorinnen und -Autoren nach neuen, möglichst originellen Nova, die sie vor ande-

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32 Steinmüller (vgl. ebd.) formuliert die Funktionen der SF für die Zukunftsforschung an dieser Stelle als Thesen, die jedoch in der Studie durch eine schriftliche Expertenbefragung evaluiert wurden. Für die Ergebnisse der Evalua-tion vgl. ebd.: 155.33 Diskurs wird hier verstanden im Sinne von Keller (1997) als „inhaltlich-thematisch bestimmte, institutionalisierte Form der Textproduktion“, „als eine Art indirektes Gespräch unter Abwesenden“ (ebd. 312).

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ren Autorinnen und Autoren bearbeiten möchten. Somit greifen Autorinnen und Autoren zwar

Aspekte der Gegenwart auf, die jedoch (noch) nicht prägende Aspekte der Alltagswelt der Men-

schen sind. Dazu spielt die SF mit Technologien, die zwar gegenwärtig erforscht werden, deren

Realisierung jedoch noch aussteht, auch mit den Hoffnungen der Menschen (auf ein besseres so-

ziales Zusammenleben, auf Lösungen von Probleme durch Technologie etc.) und ihren Ängsten

(SF in Form von Warnungen vor z.B. der nuklearen Vernichtung, Umweltkatastrophen (vgl.

ebd.) etc.).

Den explorativen/prognostischen Wert der SF schätzt Steinmüller (vgl. ebd.: 69ff) als gering

und vor allem gemeinhin überschätzt ein. Dies fügt sich auch in den allgemeinen Tenor der

Zukunftsforschung ein, deren Verständnis sich im Vergleich zu den Grundannahmen der Futuro-

logie in ihren Anfängen als prognostische Wissenschaft grundlegend dahin geändert hat, dass ihr

Ziel nicht die Prognose einer (einzigen) Zukunft, sondern die Erforschung eines Möglichkeits-

raums ist, in dessen Grenzen sich die Zukunft ereignen könnte (an dieser Stelle im Konjunktiv,

weil vor allem der neuere Zweig der Wild Card-Forschung die Grenzen des Denkens in Kontinu-

itäten aufzeigt, vgl. hierzu Kap. 3.2.4). Somit kann die Funktion der SF nicht darin bestehen,

Prognosen zu stellen und als Wahrsagerin der Zukunft aufzutreten, da dies implizieren würde,

die Zukunft liege in der Gegenwart schon fest gemäß einem deterministischen Weltbild. Dieser

Punkt gilt nicht nur für die in der SF eingeführten Nova, ebenso betrifft dies die dort beschriebe-

nen Auswirkungen. Auch wenn ein ,guter‘ Autor eine gute Intention haben mag, welche Auswir-

kungen ein Novums auf eine Gesellschaft haben könnte, sein Denken ist dennoch in der Gegen-

wart verhaftet, so dass es immer auch anders kommen könnte.

In ihrer Funktion als kritische Utopie, so Steinmüller (1995: 85), drücke die SF häufig das Be-

dürfnis und die Sehnsucht der Menschen nach Harmonie aus. Spiegelbildlich transportieren

Dystopien die Ängste der Menschen sowie die Warnung vor Katastrophen oder Missverhältnis-

sen. Als utopische Elemente identifiziert Steinmüller (ebd.) „nahezu herrschaftsfreie Gesell-

schaftsstrukturen, andere Geschlechterrollen, ,grüne‘ Technologien [und] eine auf immaterielle

Werte und Ziele ausgerichtete Lebensweise“ (ebd.). Die utopischen Elemente in der SF betreffen

immer die Sphäre der Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Weil davon ausge-

gangen werden kann, dass SF-Autorinnen und -Autoren auch hier Strömungen und Trends, die in

der gegenwärtigen Gesellschaft begründet liegen, aufgreifen und verstärken, stellt die utopische

Funktion der SF einen Unterpunkt der Abbildfunktion dar.

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Gegenüber der Abbildungs- bzw. Indikatorfunktion, welche Trends und Zukünftiges beschreibt,

die in der Gegenwart angelegt sind, betont die Diskursfunktion die Gestaltbarkeit der Zukunft:

„Als eine Kunstform, die Ideen über (mögliche, wünschbare, unerwünschte) Zukünfte in Umlauf

bringt und popularisiert, ist SF selbst ein Faktor der Zukunftsgestaltung“ (Steinmüller 2010, 22).

Dadurch, dass Themen aufgegriffen und verstärkt werden, rücken diese auch in das öffentliche

Bewusstsein und prägen die Zukunftsvorstellungen der Menschen34, die so zur Grundlage der

Planung von Handlungen werden und in sich Form von selbsterfüllenden oder selbstzerstörenden

Prophezeiungen auf die Ausgestaltung der Zukunft auswirken (vgl. hierzu Kap. 3.2.3). Die Dis-

kursfunktion meint somit die potentielle Veränderung der Zukunft. Die SF trägt dazu bei, indem

sie Fragen ethischer oder normativer Art aufwirft, so dass sie eine Auseinandersetzung mit der

Frage ermöglicht, welche Zukunft als wünschenswert erachtet wird (vgl. Steinmüller 2005: 68f).

In ihrer potentiell auf den Diskurs einwirkenden Funktion ist die SF nach Steinmüller (ebd.: 69)

außerdem auch in der Lage, naturwissenschaftliche Forschung in einen sozialen Kontext einzu-

betten und so mögliche Anwendungen gesellschaftlicher Folgen aufzuzeigen.

Zur Funktion der SF35 als Technikbewertung und Technikfolgenabschätzung fragt Zweck

(1992: 185): „Wie kann man nichtwissenschaftlich ermittelte Informationen für eine wissen-

schaftliche Folgen-Ermittlung heranziehen?“ Zweck stellt jedoch in seinen Ausführungen heraus,

dass es sich bei der Technikfolgenabschätzung (TA) nicht um eine Wissenschaft handle, sondern

vielmehr um die Bestrebung, wissenschaftliche Erkenntnisse für Nicht-Wissenschaftlerinnen und

Nicht-Wissenschaftler verständlich zu machen (vgl. ebd.). Zu diesem Zweck kann die TA auf die

SF als Quelle zurückgreifen, dies sei in der TA ein „bisher sträflich vernachlässigter Bereich“

(ebd.: 188). SF- Autorinnen und -Autoren setzen ein Novum voraus, und beschreiben dann ein

mögliches Szenario nach dem Prinzip des „was wäre, wenn...“. Steinmüller (1995) sieht das Po-

tential der SF für die TA vor allem in erkenntnisorientierter SF, in Abgrenzung zur Abenteuer-SF,

als „Technikbewertung im Sinne einer kritischen Analyse konkreter Technikfolgen“ (ebd.: 81).

„SF ist eine Art belletristischer Technikbewertung, die auch geeignet erscheint, soziale, ökologi-

sche u. a. Technikfolgen frühzeitig zu erfassen“ (ebd.: 155). Zweck rückt die Aufgabe der TA

dabei stark in die Nähe dessen, was in diesem Kapitel zur Diskursfunktion beschrieben wurde:

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34 Steinmüller verweist darauf, dass, um den tatsächlichen Einfluss der SF auf die Zukunftsvorstellungen der Men-schen zu bestimmen, eine Wirkungsanalyse durchgeführt werden müsste (vgl. ebd.: 68). Weder konnte diese in sei-ner, noch im Rahmen meiner Arbeit durchgeführt werden. Jedoch könnte eine solche Wirkungsanalyse weitreichen-de Erkenntnisse über die Rolle von SF in der Zukunftsforschung bringen. 35 Zweck (1992) betont, dass vor allem SF mit starkem Bezug zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaften - insb. muss SF auf den Naturgesetzen basieren (vgl. ebd.: 185) - für die Anwendung in Frage kommt und er schließt das Genre Fantasy aus seinen Überlegungen explizit aus (vgl. ebd.: 190).

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Nicht die alleinige Existenz von Risikopotentialen der Technik, so Zweck, führe dazu, dass sie

die öffentliche Diskussion erreichen, sondern erst ihre Bewusstwerdung (Vgl. Zweck 1992:

193f).

Die Perspektivfunktion kann SF nach Steinmüller (1995) erfüllen, weil SF „ein großes Spek-

trum an Zukunftsbildern an[bietet]“ (ebd.: 86), durch die „beim Leser der Eindruck eines Konti-

nuums an Möglichkeiten entstehen kann“ (ebd.). Dies entspricht der Auffassung der

Zukunftsforschung, dass die Zukunft immer nur eine Zukunft von vielen möglichen Zukünften

ist. Ebenso existiert in bedeutendem Ausmaß Literatur, welche unsere heutige Gegenwart nur als

einen möglichen Verlauf der Geschichte behandelt und alternative Geschichtsverläufe aufzeigt

(vgl. ebd.). Die Zukunft wird dabei von der Zukunftsforschung als die Folge der Handlungen der

Menschen gesehen, die mit ihren (bewussten) Handlungen über den Verlauf der Zukunft be-

stimmen. Die Vermutung Steinmüllers, „daß die SF ihre Leser auf die Zukunft vorbereite“ (ebd.:

155), wird jedoch in seiner Expertenbefragung nicht bestätigt. Auch die Perspektivfunktion stellt

sich somit wieder als eine Unterfunktion der Diskursfunktion dar, weil eine ihrer Prämissen ist,

dass Zukunft gestaltbar ist und Menschen im Zukunftsdiskurs zwischen möglichen Zukünften

wählen.

Der Heuristischer Wert der SF bezeichnet die Möglichkeit, dass Forscherinnen und Forscher

durch die SF zu Erfindungen oder Adaptionen technologischer Ideen inspiriert wurden und wer-

den, denn „[e]s ist kein Geheimnis, daß zu den Gewohnheitskonsumenten der Science Fiction-

Literatur auch viele Naturwissenschaftler und Ingenieure zählen“ (Hoffmann/Marz 1992: 197).

Steinmüller (vgl. 1995: 91) berichtet in diesem Zusammenhang auch von einem Forschungs-

symposium im Jahre 1979, zu dem SF-Autorinnen und -Autoren eingeladen wurden, um an ei-

nem Brainstorming teilzunehmen, also direkt an technologisch orientierten Innovationsprozessen

mitzuwirken. Während Steinmüller sich kritisch zeigt, was die Möglichkeit einer empirischen

„Evaluation der heuristischen Funktion der SF“ (ebd.) betrifft, wurde die Vermutung, dass ein

solcher Zusammenhang zwischen der SF und technologischen Erfindungen besteht, durch die

Antworten der Expertinnen und Experten auf die 1. Zusatzfrage der Expertenbefragung gestützt

(vgl. Kap. 4.4). SF-Autor Doctorow konstatiert: „I believe that in nearly every instance where

science fiction has successfully „predicted“ a turn of events, it´s more true to say that it has in-

spired that turn of events“ (Doctorow 2012). Besteht ein solcher Zusammenhang, was wenn-

gleich nicht als erwiesen, so doch prinzipiell als plausibel angenommen werden muss, so besteht

an dieser Stelle für die Zukunftsforschung die Möglichkeit, technologische Innovationen durch

Florian Kraftschik [email protected]

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die Analyse und Auswertung von SF zu antizipieren und sie zur Entdeckung möglicher Zukünfte

zu verwenden. Steinmüller (1995) weist jedoch darauf hin, dass „[w]irklich gute, neue, kreative

Ideen [...] unter einem Wust von kolportierten Motiven, Klischeevorstellungen und schieren

Unmöglichkeiten verborgen [sind] und spezifische Methoden, sie aufzuspüren [nicht] existieren“

(ebd.: 90). Diesem von ihm angeprangerten methodischen Defizit suche ich mit dieser Arbeit

jedoch entgegenzuwirken. Die heuristische Funktion der SF lässt sich somit einerseits unter die

Diskursfunktion unterordnen, wenn sie dazu genutzt wird, mögliche Zukünfte technologischer

Entwicklung aufzudecken. SF kann unter diesem Aspekt helfen, Entwicklungen innerhalb dis-

kursiver Kontinuitäten aufzuspüren. Eine Sonderrolle kommt dem heuristischen Wert aber des-

halb zu, weil besonders die Wild Card-Forschung bestrebt ist, potentielle diskursive Diskontinui-

täten aufzudecken: die SF kann durch ihren kreativen Charakter und den strukturellen Vorteil

gegenüber der streng wissenschaftlichen Forschung, keine Beweise für die Realisierbarkeit ihrer

Nova erbringen zu müssen, möglicherweise einen Beitrag dazu leisten, die „Schranken des Zeit-

geistes zu transzendieren“ (Steinmüller 1995: 157). Indem sie die Banden des Diskurses sprengt

(womit sie sich andererseits auch der Kritik der Unmöglichkeit aussetzt!) ist sie prinzipiell dazu

in der Lage, Schlüsselinnovationen, Katastrophen, Anwendungs- und Missbrauchsszenarien von

Technologie etc. zu beschreiben, die im Rahmen einer wissenschaftlichen Forschung keinen

Platz finden. Dies stellt Steinmüller exemplarisch auch anhand einer Gegenüberstellung von H.

G. Wells‘ Werken zur Zukunftsforschung mit seinen SF-Werken fest:

„[Es] zeigte sich gerade an den Ausblicken auch die spezifische Beschränktheit der diskursiven (um nicht zu sagen: wissenschaftlichen) Methode. Im Vergleich zu seiner SF bleibt Wells in seinen Ab-handlungen eher im Extrapolativen befangen und wagt keine allzu kühnen Spekulationen etwa über Trendbrüche. Die größere Verbindlichkeit und Plausibilität geht zu Lasten von visionärem Alternativ-denken - ganz im Gegensatz zu den Hoffnungen, die Wells in die wissenschaftsnahe Form setzte.“ (Steinmüller 1992: 22)

Die Zukunftsforschung steht nun vor der Herausforderung, die in der Masse der SF verborgenen

Schätze zu heben.

3.2.2 Modellcharakter von Sprache und Stil

Mit den verschiedenen Funktionen der SF in der Zukunftsforschung ist ihr Nutzen jedoch nicht

erschöpft. Zusätzlich zu der Untersuchung von SF unter inhaltlichen Aspekten besteht die Mög-

lichkeit, einen Blick auf die Sprache sowie auf die Erzählweise der SF zu richten. Nach Docto-

row (2012) liefert SF ein Vokabular, um über Zukunft zu sprechen: indem sie Technologie in den

narrativen Kontext einer Geschichte einbettet, kann eine kleine Idee ausformuliert und en Detail

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in ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft dargestellt werden, sie erfährt eine regelrechte Expo-

sition (vgl. ebd.). Indem sich ein gesellschaftlicher Diskurs nun mit einem Wort auf einen sol-

chen ausgestalteten Begriff bezieht, sagt der Begriff plötzlich sehr viel mehr aus, als dies bei ei-

ner Nennung des bloßen Wortes gewesen wäre, bevor es durch eine SF-Autorin oder einen SF-

Autor oder einer Vielzahl von SF-Autorinnen oder SF-Autoren mit Bedeutung angereichert wur-

de. Als solche Begriffe kommen sowohl erstrebenswerte wie auch unbedingt zu vermeidende

Technologien und Zustände in Frage, Doctorow (2012) expliziert dies am Begriff des Or-

well´schen Überwachungsstaates:

„Before the novel´s [George Orwells 1984; Anm. d. Verf.] rise to prominence, any discussion of intru-sive surveillance was singularly bloodless. „I don‘t like how it would feel,“ you could say, or, „It would change my behaviour, make me self-conscious.“ These are highly abstract, rather unconvincing arguments, especially when weighed against the technological narrative of surveillance: „With total awareness, we will be as gods, our eye upon each sparrow as it falls from the tree. No evil deed wil go unobserved and unpunished.“ After all, it stands to reason that if you can watch everyone, you can see everything, and punish every bad indeed. But a science fiction writer, Orwell, has given us a marve-lous and versatile vocabulary word for discussing this: now we can say, „Your surveillance idea is a bad one because it is Orwellian“ - we can import all of that novel and its horrors with one compact word.“

Auf sprachlicher Ebene, um mit einem einzigen Begriff auf ein Set von technologischen Ideen,

ihre Anwendung und ihre möglichen Folgen Bezug zu nehmen, kann das Gesagte auch auf tech-

nologische Leitbegriffe und Visionen angewandt werden, wie z.B. William Gibsons

,Cyberspace‘, dem Neuhaus (2006) gar den Rang eines Mythos einräumt. Teilweise entspricht

der von Doctorow bezeichnete Nutzen der SF der Abbildungs- und Indikatorfunktion, allerdings

bricht er diese herunter auf einzelne Begriffe, bei deren Nennung viele Implikationen im Subtext

mitschwingen, weil sie durch die weite Verbreitung von SF Einzug in die Deutungsmuster vieler

Menschen erlangen.

Gassner (1992) hebt einen weiteren Nutzen der SF hervor, indem er dafür plädiert, bei der Auf-

stellung von Zukunftsszenarien vermehrt Texte zu produzieren, die sich stilistisch an das Modell

von SF-Erzählungen anlehnen. Er vertritt die Ansicht, dass „ein stärkerer Austausch zwischen

Szenarioforschung und den Zukunftsentwürfen in der Science Fiction [...] zu gegenseitiger Be-

fruchtung führen [könnte]“ (ebd.: 223), weil die „qualitative Deskription alternativer Zukunfts-

optionen und ihrer Implikationen“ (ebd.) eine immer zentralere Position in verschiedenen Wis-

senschaften einnehmen. Szenarien stellen ein Mittel dar, die Ergebnisse eines Forschungsprozes-

ses darzustellen, ggf. handelt es sich dabei auch um die Darstellung von Alternativszenarien ver-

schiedener möglicher Zukünfte. Dabei, so Gaßner, unterscheidet sich „das Endprodukt hinsicht-

lich Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit von herkömmlichen wissenschaftlichen Texten“ (ebd.:

224). Für die Textgestaltung hält er eine Anlehnung der Texte an den Schreibstil von SF-Auto-

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Page 38: Kraftschik Mensch-Maschinen Wirklichkeitsmaschinen FullA · 4.2.5 Statements des Themenblock II: Virtualität und Phantomatik .....51 4.2.6 Statements des Themenblock III: Künstliche

rinnen und -Autoren als geeignet, da sie die Beschreibung und Ausgestaltung plötzlicher Trend-

brüche als „Nicht-Standard-Szenarien“ (ebd.: 227) ermöglicht und außerdem in der Lage ist,

Emotionen besser zugänglich zu machen und eine Beschreibung einer detailreich ausgestalteten

Alltagswelt vorzunehmen (vgl. ebd.: 227f). Dabei darf die Zukunftsforschung allerdings nicht

den Fehler begehen, beim Szenario-Writing zu sehr in die reine Belletristik abzugleiten, da dies

zu Lasten des Seriositätseindrucks der Forschung gehen kann (vgl. ebd.: 229).

„Spätestens beim konkreten Ausformulieren der endgültigen Präsentationsgestalt eines Szenarios müssen auch „weiche“ Gestaltungsfaktoren berücksichtigt werden wie etwa der Anregungsgehalt, Faszinationskraft, Verständlichkeit, Anschaulichkeit, Tiefe, ästhetische Dimension, Deutbarkeit vs. Determinierbarkeit und nicht zuletzt „Genußqualitäten“ wie Spannung oder Humor.“ (ebd.: 230)

Ggf. zieht Gaßner gar andersartige Präsentationsmedien zur Präsentation der Ergebnisse der

Zukunftsforschung wie Bilder oder Filme in Betracht (vgl. ebd.).

Weil sich diese Arbeit zum Ziel gesetzt hat, die Rolle von SF in der Zukunftsforschung zu unter-

suchen und anhand der Durchführung einer eigenen Studie zu erproben, werde ich Gaßners

„Plädoyer für mehr Science Fiction in der Zukunftsforschung“ nachkommen und die Ergebnisse

der Studie in Form eines Szenarios, angelehnt an die Form einer SF-Kurzgeschichte, präsentie-

ren (Kap. 4.6).

Die SF eignet sich also also Quelle für die Zukunftsforschung, als solche kann sie verschiedene

Funktionen erfüllen. Darüber hinaus interessiert die Sprache der SF im Rahmen der

Zukunftsforschung. SF hat einen prägenden Einfluss auf die Sprache: sie füllt einzelne Worte

und Begriffe mit Bedeutung; für die Textproduktion im Szenario-Writing-Prozess kann ihre Stil-

istik Modellcharakter haben.

3.2.3 Kriterien für die Nutzung von Science Fiction

Im bisherigen Verlauf der Arbeit wurde eingehend diskutiert, warum die systematische Auswer-

tung von SF vermehrt in der Zukunftsforschung praktiziert werden sollte und auch, welche

Funktionen sie im Forschungsprozess erfüllen kann. Aber welche SF eignet sich nun für die

Zukunftsforschung? Schon in der Begriffsbestimmung zur Science Fiction wurden Kriterien

formuliert, die SF erfüllen muss, um sich von anderen allgemeinen Produkten der Belletristik

und im engeren Rahmen der Phantastik von den Genres Märchen, Fantasy und Horror abzugren-

zen. Genannt wurde erstens die Abweichung der Realität der SF-Welt von der Realität der „em-

pirisch erfahrbaren Wirklichkeit“ (Steinmüller 1995: 13) der Leserin oder des Lesers, was über-

prüft werden kann, indem das Vorhandensein eines Novums verifiziert wird. Der durch die SF-

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Autorin oder den SF-Autor konstruierten Welt muss außerdem zweitens ein „wissenschaftliches

Weltbild“ zugrunde liegen, das der Funktionsweise der Welt des Lesers entspricht. Dieses zweite

Kriterium erfüllt die Funktion der Legitimierung des Weltbildes und der Gewährleistung prinzi-

pieller wissenschaftlicher Plausibilität, die argumentativ über einen Umkehrschluss, angelehnt an

die Erkenntnistheorie des Kritischen Rationalismus nach Popper, funktioniert: die Vermutung der

Plausibilität kann so lange aufrecht erhalten werden, bis sie durch wissenschaftliche Erkenntnis

widerlegt wird (vgl. Popper 1997: 10). Gegebenenfalls können verschiedene Elemente eines SF-

Werkes auch isoliert voneinander betrachtet werden, wenn plausible Elemente nicht mit unplau-

siblen interferieren: steht bei einer Studie beispielsweise die Erforschung neuer mobiler Kom-

munikationstechnologien sowie deren Auswirkungen auf die Menschen im Mittelpunkt der Be-

trachtung, so würde man in der TV-Serie Star-Trek auf ein reichhaltiges Material stoßen, auch

wenn erwiesenermaßen die ebenfalls in Star-Trek behandelte Technologie des Beamens von wis-

senschaftlicher Seite als nicht realisierbar abgelehnt werden muss (vgl. Aufmuth (o.J.)). Sind

diese beiden Kriterien erfüllt, handelt es sich bei einem Buch, einem Film, einem Comic, einem

Game etc. um ein SF-Produkt, das sich prinzipiell als Quellenmaterial eignet. Steinmüller unter-

stützt diese Einschätzung prinzipiell, hebt jedoch hervor, dass SF dabei nicht zu „plump“ sein

darf:

„[N]icht jegliche Funktionalisierung [von Kunstprodukten; Anm. d. Verf.] [ist] von vornherein von einem „l‘art pour l‘art“-Standpunkt ausgehend abzulehnen [...]. Jedoch kann die gute Absicht, wenn sie zu plump daherkommt, die Wirkung konterkarieren: gut gemeint, statt gut gemacht. Bei einer Nut-zung der SF für Zukunftsgestaltung im weitesten Sinne sollte dies berücksichtigt werden“ (Steinmül-ler 1995: 61).

Was Steinmüller hier für die Zukunftsgestaltung sagt, kann m.E. auch auf die Zukunftsforschung

ausgeweitet werden. Jedoch: was charakterisiert „gut gemachte“ Science Fiction? Welchen Kri-

terien muss sie genügen, damit sie nicht „plump daherkommt“? Dieser Formulierung mangelt es

nicht nur an Konkretion, m.E. stellt sie sich bei eingehender Betrachtung gar als falsch heraus:

ob ein Werk für eine Analyse für ein Forschungsvorhaben als geeignet betrachtet werden kann,

richtet sich weniger nach dem Werk selbst, als vielmehr nach der Zielsetzung des Forschungs-

vorhabens! Abhängig davon, welche Funktion SF einnehmen soll, eignen sich gar völlig abstru-

se, zudem vielleicht noch billig produzierte Werke. SF muss dabei mitnichten höchsten literari-

schen oder betrachterischen Ansprüchen genügen, vielmehr sollte sie in der Lage sein, die Fra-

gen zu beantworten, die an sie gerichtet werden. Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch, dass

die Mehrzahl der beschriebenen Funktionen einen gehobenen Anspruch an die Qualitäten der SF

stellt, nämlich dann, wenn SF als ein Sensorium für Feinfühligkeiten verwendet werden soll, was

eine detaillierte und einfühlsame Konstruktion und Ausgestaltung der lebensweltlichen Szenari-

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en durch die Künstlerin oder den Künstler erfordert. Jedoch kann sich diese Gewichtung der an-

gelegten Kriterien von Fall zu Fall unterscheiden: Autorinnen oder Autoren von Hard-SF, die

gekennzeichnet ist durch starke Technologiefixierung, stellen ihren Werken in der Regel oft aus-

giebige, teils jahrelange Technologierecherchen voran, ihre Werke eignen sich ggf. eher für die

Entdeckung von Technologien der nahen Zukunft sowie vor allem ihren Folgen im Rahmen der

Technikfolgenabschätzung. Liegt der Fokus hingegen eher auf der Entdeckung von sozialem

Wandel oder auf einer Entdeckung verschiedener Perspektiven bezüglich der Sichtweise eines

Phänomens, so kann auch ein besonders einfühlsamer Schreibstil ein Kriterium für die Auswahl

bestimmter Werke sein. In Ermangelung harter Kriterien für die Bewertung eines Schreibstils

oder für die Einschätzung, ob eine Autorin oder ein Autor in der Lage ist, soziale Auswirkungen

oder Wirkungsweisen ,gut‘ zu antizipieren, ist der Zukunftsforscher leider nach wie vor auf sich

selbst zurückgeworfen, ggf. erfordert diese Einschätzung einen literaturwissenschaftlich gebilde-

ten Experten oder einen Experten mit entsprechender Rezeptionserfahrung. Zwingende Kriterien

für die Eignung von SF für den Forschungsprozess der Zukunftsforschung sind also die beiden

Definitionskriterien für SF der Abweichung der Realität der SF-Welt von der Welt des Lesers

durch ein Novum sowie die grundlegende wissenschaftliche Plausibilität des Beschriebenen. Da-

rüber hinaus muss für jedes Forschungsvorhaben speziell gemäß der jeweiligen Anforderungen

spezifiziert werden, welchen Kriterien SF erfüllen muss.

3.2.4 Exkurs: Wild Cards

Wild Cards36 sind ein Konzept der Zukunftsforschung, das helfen soll, extrem unwahrscheinliche

Ereignisse mit weitreichenden Wirkungen zu identifizieren und handhabbar zu machen. SF kann

in ihrer heuristischen Funktion dafür eingesetzt werden, solche Potentialitäten aufzuspüren und

ihre Folgen abzuschätzen. Das Konzept der Wild Cards wurde erstmals 1992 vom BIPE Conseil

in Issy-Les-Moulineaux/Frankreich, Copenhagen Institute for Future Studies, Institute for the

Future in Menlo Park/USA (Vgl. Steinmüller/Steinmüller 2003: 17) beschrieben, ins Deutsche

übertragen wurde es von Steinmüller und Steinmüller (2003) mit ihrem Werk: „Ungezähmte Zu-

kunft. Wild Cards und die Grenzen der Berechenbarkeit“, in dem auch Überlegungen angestellt

werden, wie mit Wild Cards umgegangen werden kann. Wild Cards kommen in der

Zukunftsforschung vor allem in der Szenariotechnik zur Anwendung, sie umfassen sowohl posi-

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36 Über die zitierten Autoren hinaus befasst sich Taleb (2010) mit der „Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignis-se“.

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tive als auch negative Störereignisse, die sich durch eine sehr geringe Eintrittswahrscheinlichkeit

auszeichnen. Wenn sie sich jedoch ereignen, entwickeln sie eine immense Wirkung. Oftmals

können für Störereignisse rückblickend „schwache Signale“ (Steinmüller/Steinmüller 2003: 23)

ausgemacht werden, die auf ihr Eintreten hingewiesen hätten, hätte man die Signale nur richtig

gedeutet - jedoch sind diese Signale so schwach, dass es gemeinhin nicht möglich ist, sie aus

dem allgemeinen ,Rauschen‘ herauszufiltern und als Hinweise auf ein klar definiertes Störereig-

nis zu identifizieren. Steinmüller und Steinmüller vergleichen die schwachen Signale für Wild

Cards mit den Spannungen, die vor einem Erdbeben im Boden auftreten (vgl. ebd.: 18), analog

dazu bezeichnen sie die Störereignisse als „Zukunftsbeben“ (ebd.: 57).

Das Konzept der Wild Cards stellt für die Zukunftsforschung eine Herausforderung dar, weil ihr

Hauptaugenmerk vor allem darauf liegt, „konsistente[...] und plausible[...] Szenarien“ (Uerz

2007: 28) zu entwerfen und damit eine Komplexitätsreduktion vorzunehmen, um Handlungsop-

tionen aufzuzeigen (Vgl. Uerz 2007: 28, vgl. auch Schetsche 2006). Ein wesentlicher Charakter

von Wild Cards liegt jedoch gerade in ihrer geringen Eintrittswahrscheinlichkeit; außerdem kön-

nen sie alle denkbaren (und vor allem auch: nicht-denkbaren) Formen annehmen. Hierauf rea-

giert Uerz jedoch mit der Beobachtung, dass es verschiedene Klassen von Wild Cards gibt: ei-

nerseits nicht zu Antizipierendes, wie z.B. Naturkatastrophen, und andererseits Störereignisse,

die Folgen menschlicher Handlungen sind. Eine Zwischenkategorie sieht Uertz z.B. im „anthro-

pogene[n] Klimawandel“ (Uerz 2007: 30), der möglicherweise durch den Menschen mitverur-

sacht wurde. Uertz zielt in seiner weiteren Argumentation vor allem auf die Mensch-gemachte

Zukunft ab: „Was in künftigen Gegenwarten der Fall sein wird, hängt von Entscheidungen und

Handlungen in der Gegenwart ab - so lässt sich das moderne konstruktiv-prozessuale Zukunfts-

dispositiv auf den Punkt bringen“ (Uerz 2007: 31). Das Erspüren dieser unterhalb der Wahrneh-

mungsschwelle verlaufenden Veränderungstendenzen, so Uerz (Vgl. ebd.), sei jedoch die Kunst

bei der Ermittlung von Wild Cards, ebenso wie die Imagination der Folgen dieser Störereignisse.

Die Beschäftigung der Zukunftsforschung mit den Folgen von Wild Cards, so Uertz weiter, sei

eine Aufgabe der Zukunftsforschung, die sie im Rahmen ihres Vorgehens mit dem Blick auf „das

gegenwärtige Handeln konkreter menschlicher Akteure, ihrer Pläne und Interessen“ (ebd.) leisten

könne.

Steinmüller und Steinmüller heben hervor, dass gerade auch die SF helfen kann, Wild Cards zu

imaginieren: „Identifikation und Auswahl von Wild Cards stellen stets einen anspruchsvollen

Arbeitsschritt dar, bei dem es notwendig ist, sich aus gewohnten Sichtweisen und Denkschablo-

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nen herauszubewegen. Hierbei kann die Science Fiction-Literatur durchaus hilfreich sein“ (2003:

56). Weil der Bereich „folgenreicher Einzelereignisse [...] der Science Fiction zur künstlerischen

Betrachtung überlassen“ (Schetsche 2006) wird und sich die SF dieser doppelten Aufgabe an-

nimmt, Wild Cards zu erdenken und mögliche Folgen umfangreich zu beschreiben, besteht im

Rückgriff auf die SF eine doppelte Chance für die Zukunftsforschung (vgl. Steinmüller/Stein-

müller 2003: 57). Die Entdeckung von Wild Cards und von Folgeszenarien in der SF wurde an

anderer Stelle als besonderer Teil der heuristischen Funktion (vgl. Kap. 3.2.1) beschrieben, die

SF im Forschungsprozess der Zukunftsforschung einnehmen kann. Egal, ob sich eine Wild Card

als Folge menschlicher Handlung darstellt oder ob es sich um Naturkatastrophen handelt, SF

macht mit ihrer Phantasie Undenkbares denkbar, sie verleiht unvorstellbaren Kontinuitätsbrü-

chen ein Gesicht.

Aufgrund der gebotenen Kürze kann diese Arbeit eine Literaturrecherche und -analyse mit einer

auf die Identifikation von Wild Cards gerichteten Fragestellung nicht leisten, es wäre jedoch

durchaus denkbar, die Methodik der systematischen Auswertung von SF für ein solches Vorha-

ben anzupassen und anzuwenden.

4. Systematische Auswertung: eine explorative Studie über mögliche Zukünfte des Menschen im Cyberspace

Nachdem in den vorherigen Kapiteln der theoretische Grundstein für die systematische Arbeit

mit SF im Prozess der Zukunftsforschung geschaffen wurde, wird nun anhand der Erstellung ei-

ner eigenen Zukunftsstudie über den Cyberspace gezeigt, wie eine solche Auswertung praktisch

durchgeführt werden kann. In der Zukunftsforschung werden oft sehr viele unterschiedliche Me-

thoden miteinander kombiniert und so kommt hier ein Methodenmix zur Anwendung, der auf

das Ziel der Studie abgestimmt wurde. Das methodische Vorgehen wird in Kapitel 4.1 beschrie-

ben, es lässt sich in verschiedene Phasen untergliedern: der Auswahl und Auswertung von Litera-

tur folgte das Erstellen von SF-Statements (siehe Kap. 4.2) sowie deren Evaluation37 durch Ex-

perten. Praktisch parallel hierzu stellte ich Recherchen über den gegenwärtigen Stand der For-

schung zu den Kernthemen an, um die Plausibilität der SF-Statements zu gewährleisten, d.h. um

auszuschließen, dass gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse der potentiellen Verwirklichung

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37 „Evaluation“ meint in diesem Zusammenhang eine Bewertung der SF-Ideen auf der Basis ihres Wissens, darüber hinaus wurden die Expertinnen und Experten darum gebeten, ihre Einschätzung darüber abzugeben, wie gut sich die ihnen vorliegenden SF-Statements für die Zukunftsforschung eignen. Außerdem wurden den Expertinnen und Ex-perten noch zwei weitere Fragen über ihre persönlichen Meinungen und Erfahrungen im Umgang mit SF im Prozess der Zukunftsforschung gestellt.

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der SF-Ideen entgegenstehen (siehe Kap. 4.3). Nach der Durchführung der Expertenevaluation

wurden die Ergebnisse ausgewertet (siehe Kap. 4.4) und und das Feedback der Expertinnen und

Experten nach einer Reflexion der Methode erneut mit der Literatur rückgekoppelt (siehe Kap.

4.5). Die Ergebnisse wurden dann in einem Szenario in Form einer SF-Kurzgeschichte verarbei-

tet (siehe Kap. 4.6).

4.1 Empirisches Vorgehen

Diese Studie hat sich zum Ziel gesetzt, mögliche Zukünfte des Cyberspace zu erforschen und

dabei mithilfe der gezielten Auswahl und Auswertung von SF-Literatur vorzugehen. Um die

Studie jedoch nicht der Kritik einer einseitigen und somit eingeschränkten Betrachtungsweise

auszusetzen und um Erfahrung und Erkenntnisse im Umgang mit SF im Forschungsprozess einer

Zukunftsstudie zu generieren, wurden die in der SF identifizierten Ideen der scharfen Feder der

Expertinnen und Experten ausgesetzt. Diese wurden darum gebeten, ihre kritische Einschätzung

über die Befunde aus der SF-Literatur zur Studie beizutragen. Mit den SF-Statements, der Mei-

nung der Expertinnen und Experten und der Recherche über den gegenwärtigen Forschungsstand

der Cybertechnologien verfügt die Studie somit über ein dreiteiliges Fundament.

Der Methodenmix38 enthält Delphi- und Foresight-Elemente, orientiert sich aber auch an der

Technikfolgenabschätzung sowie für die Präsentation der Ergebnisse der Studie an der Szenario-

technik. Sowohl die Literaturauswahl als auch die Auswahl der relevanten Textstellen und ihre

Darstellung gehen auf die Berliner Methode nach Schwarz (2011) zurück39. Ein wesentlicher

Fokus lag bei der Methodenwahl darauf, der SF-Literatur ein hohes Gewicht zukommen zu las-

sen. Die Befunde aus der Literatur sollten aus diesem Grund zwar durch Expertinnen und Exper-

ten evaluiert, jedoch nicht durch andere explorative Elemente, wie z.B. explorative Interviews

oder ein Brainstorming als Input für die Statements, verwässert werden. Diese Vorgehensweise

soll eine spätere Reflexion über den methodischen Zugriff auf das Thema ermöglichen.

Sowohl SF-Literatur als auch Filme wurden als Quelle für Ideen über mögliche zukünftige Ent-

wicklungen behandelt. Der Schwerpunkt lag bei der Analyse und Auswertung der Literatur und

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35

38 „In der Technikvorausschau gibt es leider kein Patentrezept für die richtige oder falsche Methode. In der Regel werden mehrere Methoden kombiniert oder sogar »gemischt«, zum Beispiel indem man Teile eines Verfahrens mit denen eines anderen zusammen einsetzt“ (Cuhls 2008: 150). Zur Delphi-Methode siehe Vorgrimmler/Wübben 2003; zur Innovationsorientierten Technikfolgenabschätzung siehe Steinmüller/Tacke/Tschiedel (1999); zur Foresightme-thode siehe Cuhls (2008).39 Zur Technik der Literaturauswahl und der Identifikation signifikanter Textstellen sowie zum Inhalt der Statements zur Evaluation der Experten siehe Kap. 4.2: Literaturauswahl und Thesenbildung mit der Berliner Methode nach Schwarz.

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des Filmmaterials auf technologischen Neuerungen sowie deren Anwendungen und ihre Folgen.

Gemäß den obigen Überlegungen zu den Funktionen der SF in der Zukunftsforschung wirkt die

SF in dieser Studie als Signalverstärker, da sie einige technologische Entwicklungen der Gegen-

wart aufgreift, als Novum einsetzt und ihre Folgen darstellt. Analog zur Diskursfunktion, vor al-

lem aber aufgrund der Argumentation in Kap. 3.1.3, wurde für diese Studie die Annahme gesetzt,

dass die SF über den Umweg der Zukunftsvorstellungen auf die tatsächliche Ausgestaltung der

Zukunft einwirkt.

Nach der Identifikation und Auswahl der signifikanten Stellen wurden diese exzerpiert - es wur-

den Stellenprotokolle (siehe Kap. 4.2.2, Punkt V: Darstellung) zur Darstellung des SF-Materials

angefertigt - und in einem Prozess der Reorganisation und der thematischen Gliederung zu ins-

gesamt 9 Statements verdichtet, wobei jeweils drei Statements zu einem Themenblock zusam-

mengefasst wurden. Soweit ihnen keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse entge-

genstanden, welche ihre Plausibilität in Frage stellten, fanden die in der Literatur beschriebenen

Ideen Eingang entweder in den Themenblock 1: Prothetik und Cyborgisierung, den Themenblock

2: Virtualität und Phantomatik oder den Themenblock 3: Künstliche Intelligenz.

Diese Statements wurden nun Expertinnen und Experten für eine schriftliche Evaluation vorge-

legt, in der sie gebeten wurden, den Inhalt auf Plausibilität zu überprüfen und ihre Meinung zu

Eintrittswahrscheinlichkeiten zu formulieren, aber auch in methodischer Hinsicht eine Einschät-

zung abzugeben, ob ihrer Meinung nach SF in dieser Form für die Zukunftsforschung ausgewer-

tet werden kann bzw. was sie an den Statements vermissten.

Als Expertinnen oder Experten definierte ich vor der Kontaktaufnahme einerseits Menschen, die

entweder professionell als Zukunftsforscherin oder Zukunftsforscher arbeiteten oder vergleich-

bare Erfahrungen auf diesem einschlägigen Gebiet gesammelt hatten, andererseits jedoch auch

Menschen, die sich als Geistes-, oder auch Naturwissenschaftler mit den besprochenen Themati-

ken Prothetik und Cyborgisierung, Virtualität und Phantomatik oder Künstliche Intelligenz aus-

einandersetzten. Vor allem handelte es sich um Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen oder Leiter von

Think Tanks (Beratungsfirmen mit dem Tätigkeitsfeld Zukunftsforschung), Forschungsinstituten

(Fraunhofer ISI, Fraunhofer INT, ITAS Karlsruhe) Sozialwissenschaftler oder Sozialwissen-

schaftlerinnen. Es wurden 46 potentiell für die Evaluation in Frage kommende Expertinnen und

Experten angeschrieben, letztlich antworteten 17.

Der Anteil an Frauen, welche auf diesem Tätigkeitsfeld beschäftigt sind, stellte sich als sehr ge-

ring heraus, dem entsprechend liegen zur Auswertung auch weniger Antworten von Frauen vor

Florian Kraftschik [email protected]

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als von Männern. Daran ist deutlich zu beobachten, dass es sich sowohl in der

Zukunftsforschung als auch in sozialwissenschaftlich-technologisch und naturwissenschaftlich-

technologisch ausgerichteter Forschung um einen eher männerdominierte Bereich handelt. Je-

dem Experten oder jeder Expertin wurde ein Themenbereich je nach Gebiet der Spezialisierung

zugeteilt (Herr Steinmüller gab seine Einschätzung zu allen neun Statements ab, mit Herrn Gaß-

ner führte ich ein erweitertes Telefoninterview (zum Experteninterview vgl. Kruse 2007: 167),

das über die Statements hinaus noch um einige Fragen erweitert war), so dass alle Themen mög-

lichst gleich häufig beantwortet wurden. Den Expertinnen und Experten wurde die Option unter-

breitet, in der Auswertung anonym behandelt zu werden, dies wurde in zwei Fällen gewünscht.

Das Expertenfeld stellte sich wie folgt dar:

Nr. Expertin oder Experte Tätigkeitsfeld The-

men-

block

1 Dr. Karlheinz Steinmüller Wissenschaftlicher Direktor der Z-Punkt GmbH und SF-Autor

1, 2 und 3

2 Bruno Gransche Fraunhofer ISI; Innovations- und Technologiemana-gement und Vorausschau

1

3 Dr. Horst Vollmar Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankun-gen e.V. (DZNE); Wissenszirkulation und Implemen-tierungsforschung

1

4 Dr. Judith Simon ITAS Karlsruhe 1

5 Prof. Dr. Klaus Wieger-ling

Medienphilosoph, vielfältiges Aufgabenfeld Technik-bewertung und Reflexion bei div. Universitäten und Projekten

1

6 Zukunftsforscher 1 (ano-nymisiert)

Mitarbeiter eines Forschungsinstitutes 1

7 Zukunftsforscherin 2 (a-nonymisiert)

Mitarbeiterin eines Forschungsinstitutes 2

8 Dr. Ewa Dönitz Fraunhofer ISI; Innovations- und Technologiemana-gement und Vorausschau; Dozentin für Methoden der Zukunftsforschung an der Universität Kassel

2

9 Dr. Jan Schwarz Autor von „Quellcode der Zukunft: Literatur in der Strategischen Frühaufklärung“

2

Florian Kraftschik [email protected]

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Nr. Expertin oder Experte Tätigkeitsfeld The-

men-

block

10 Dr. Kerstin Cuhls Fraunhofer ISI; Innovation in IT- und Medientechno-logie

2

11 Prof. Dr. Dirk Baecker Soziologe; Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin Universität Friedrichshafen

3

12 Dr. Jessica Heesen Medienphilosophin; Mitarbeiterin der Universität Tü-bingen, Ethik und Kultur

3

13 Prof. Dr. Karsten Weber Philosophie, Technikethik, Informationsethik 3

14 Dr. Klaus Ruhlig Fraunhofer INT; Technologieanalyse und -vorausschau 3

15 Dr. Michaela Pfadenhauer KIT Karlsruhe; Soziologin: Wissenssoziologie und Handlungstheorie

3

16 Dr. Simone Kimpeler Fraunhofer ISI; Neue Technologien 3

17 Dr. Robert Gaßner IZT; methodische Fragen der Zukunftsforschung 1, 2 und 3

Tab. 1: Auflistung der Expertinnen und Experten.

Die Antworten der Expertinnen und Experten wurden dann ausgewertet, indem aus den Antwor-

ten Antwortkategorien gebildet wurden, um Übereinstimmungen der Meinungen sichtbar zu ma-

chen. Weiter wurde jedoch auch darauf Wert gelegt, Besonderheiten und Unterschiede herauszu-

filtern. Die Antworten werden in Kap. 4.4 dargestellt.

4.2 Literaturauswahl und Thesenbildung

4.2.1 Die Berliner Methode nach Schwarz

Die Berliner Methode zur Verwendung von Literatur in der strategischen Frühaufklärung wurde

von Schwarz in einem Werk „Quellcode der Zukunft. Literatur in der Strategischen Frühaufklä-

rung“ (2011) entwickelt und beschrieben. Obwohl die Strategische Frühaufklärung eine Form

der Zukunftsforschung repräsentiert, die mögliche Zukünfte vor allem als Grundlage für zielge-

richtetes strategisches Handeln von Unternehmen erforschen soll, kann m.E. die Methode auch

leicht an die Erfordernisse der Zukunftsforschung im Sinne dieser Arbeit angepasst werden. Ver-

Florian Kraftschik [email protected]

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schiedene Subkategorien der Zukunftsforschung40 und die ihnen zugrundeliegenden Konzepte

verfolgen nach Schwarz das „Ziel, in unterschiedlichen Ausprägungen, Organisationen darin zu

unterstützen, Veränderungen in Form von Trends oder schwache Signale [für Diskontinuitäten;

Anm. d. Verf.] frühzeitig zu identifizieren“ (Ebd.: 2)41. Da die Ergebnisse dieser Arbeit jedoch

nicht von Unternehmen dafür verwendet werden sollen, zukünftige Marktchancen zu ergreifen

oder zukünftige Risiken zu vergegenwärtigen, sondern mit explorativer Ausrichtung mögliche

Zukünfte zu erschließen, interessiert somit nicht der Zuschnitt des Konzeptes auf die Strategi-

sche Frühaufklärung, sondern vielmehr die im Konzept enthaltene Methodik der zielgerichteten

Auswertung von kulturellen Kunstprodukten im Prozess einer soziologisch geprägten Zukunfts-

studie. Der Bedeutung dieser Kunstprodukte als „Generator von Lebenswissen und Weltbildern“

(Nünning 2009: 78; vgl. hierzu auch Kap. 3.2.3) wurde dabei in der Vergangenheit nicht genü-

gend Rechnung getragen (vgl. Schwarz 2011: 6), jedoch hebt Nünning (2009) hervor:

„Wer komplexe gesellschaftliche Entwicklungsprozesse, Lebensformen oder Wissensordnungen ver-stehen will, findet jedenfalls [...] kaum bessere Quellen als Romane oder andere literarische Werke, die sich geradezu durch die formale und thematische Inszenierung von Komplexität auszeichnen“ (Nünning 2009: 78).

Um dieser Erkenntnis Rechnung zu tragen und um dem Defizit im Umgang mit Kulturprodukten

entgegen zu wirken, entwickelte Schwarz eine Methode zur gezielten Auswertung von Literatur

(Vgl. 2011, S. 64-138).

„Es handelt sich nicht um eine Methode, die schematisch auf jede Fragestellung angewendet werden kann, d.h. nicht nur um eine prozesshaft gewonnene Methodik, sondern um eine Methode, die immer wieder aufs Neue einem jeweiligen Thema angepasst werden muss. Hier kann von einer Themenzen-trierten Methode gesprochen werden. Dies wiederum impliziert, dass immer wieder zu einem gewis-sen Grad die Neuentwicklung der Methode Teil der Methode selbst ist“ (ebd.: 174f).

4.2.2 Die fünf Phasen der Literaturauswertung nach der Berliner Methode42

Florian Kraftschik [email protected]

39

40 Schwartz bezieht sich explizit auf „Trendforschung, Zukunftsforschung, Strategische Früherkennung bzw. Früh-aufklärung, Strategic Issue Management, Competitive Intelligence (in einem erweiterten Sinne) und Strategic, Cor-porate oder Oranizational Foresight sowie strategisches Risiko- und Komplexitätsmanagement“ (2011: 1).41 Schwarz verwendet den Terminus „schwache Signale“ hier zwar auch für die Annahme, dass sich Hinweise auf zukünftig Mögliches in der Vergangenheit und in der Gegenwart auffinden lassen, auch zielt er auf Diskontinuitäten, anders als bei Steinmüller und Steinmüller (2003) liegt es in Schwartz‘ Intention, aus den „schwachen Signalen“ zukünftig Mögliches abzuleiten, während im Konzept der Wild Cards die „schwachen Signale“ erst im Rückblick als Hinweise auf Ereignisse gedeutet werden können (Vgl. ebd.). Außerdem liegt der Fokus in Schwarz‘ Arbeit auf der Analyse von Unternehmensumfeldern, anders als Steinmüller und Steinmüller (ebd.) koppelt Schwarz Diskont-inuitäten an das Unternehmensumfeld und lässt ihre Reduktion auf „strategische Diskontinuitäten“ zu. 42 Im Kontext der vorliegenden Zukunftsstudie über den Cyberspace hielt ich es für sinnvoll, nicht nur Literatur, sondern auch Filme als Quellen zu behandeln, da viele große Produktionen von breiten Bevölkerungsschichten rezi-piert wurden und werden und sie somit mitunter auch einen großen Einfluss auf die Zukunftsvorstellungen der Men-schen haben. Die Auswertung der Filme nach Schwarz‘ Methode stellt somit eine Anpassung dieser an die Erforder-nisse dieser Studie dar, für die Auswertung der Filme gilt das in diesem Kapitel für die Literatur Gesagte entspre-chend.

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Im Sinne Schwartz‘ soll nun die Berliner Methode zur Verwendung von Literatur in der Strategi-

schen Frühaufklärung anhand der einzeln beschriebenen Phasen der Literaturauswertung, Ein-

schwingen, Präzisierung, Training, Überprüfung und Beschreibung, erläutert werden, diese Er-

läuterung dient als Grundlage für die Anpassung der Methode an die Erfordernisse einer Zu-

kunftsstudie zum Thema Cyberspace. Im folgenden Kapitel werden die angepassten Schritte

dann im Bezug auf die Fragestellung dieser Arbeit an der Literatur durchgeführt.

I) Einschwingen:

Beim Einschwingen (vgl. ebd.: 175f) nimmt die Leserin oder der Leser den ersten Kontakt mit

der Literatur auf, um eine Aussage darüber treffen zu können, ob es möglich ist, die Fragestel-

lung mit der Literatur zu verbinden. Außerdem soll ein Überblick und Gefühl über die Literatur

gewonnen werden, um einschätzen zu können, wie leicht oder schwer es werden wird, eine

Auswahl zu treffen. Wenngleich sich auch nicht jede Thematik gleich leicht in der Literatur fin-

den lässt, zeigt Schwarz sich doch optimistisch, dass sich auch bei nicht offensichtlich behandel-

ten Themen Anknüpfungsmöglichkeiten finden lassen. Um eine erfolgreiche Einschwingphase

zu ermöglichen, sollte diese auf einer fundierten theoretischen Basis betreffend Schwarz‘ Vorü-

berlegungen zur Strategischen Frühaufklärung sowie zur Bedeutung der Literatur in der gesell-

schaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit erfolgen. An Stelle Schwarz‘ Vorüberlegungen soll

als methodische Anpassung an die Erfordernisse dieser Arbeit obenstehendes Kapitel 3 gesetzt

werden, um den Anforderungen der Zukunftsforschung (in Abgrenzung zur Strategischen Früh-

aufklärung) gerecht zu werden.

II) Präzisierung:

Als zweite Phase folgt nach dem Einschwingen die Phase der Präzisierung (vgl. ebd.: 176f), die

dann erfolgen kann, wenn in der vorhergehenden Phase sichergestellt werden konnte, „dass die

Fragestellung mit Literatur in Verbindung gebracht werden kann“ (ebd.: 176). „Präzisiert werden

soll an dieser Stelle, was in ausgewählten Texten identifiziert werden soll [...] im Kontext der

Strategischen Frühaufklärung sollen Trends bzw. schwache Signale identifiziert werden“ (ebd.

70). Zentral stellt Schwarz die Devianz, hier soll geklärt werden, was das Moment der Abwei-

chung charakterisiert, aufgrund dessen die Literaturauswahl getroffen wird. Anders als dies

Schwarz für den Kontext der Strategischen Frühaufklärung beschreibt, erfolgt für diese Arbeit

Florian Kraftschik [email protected]

40

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eine Präzisierung für die Auswahl von Textstellen dahingehend, dass technologische Neuerungen

(das Novum in der SF) sowie deren Anwendungen und auch Folgen aufgespürt werden sollen.

Die Entwicklung der jeweiligen Technologien darf in der Gegenwart schon angelegt sein, aller-

dings dürfen sie den Diffusionsprozess noch nicht durchlaufen haben und somit noch nicht für

den Massenmarkt zugänglich sein. Als Vergleich diente der derzeitige Stand der Forschung, vgl.

hierzu Kap. 4.3. Thematische Abweichungen der Literatur von Konventionen, die Schwarz als

besonders geeignet hervor hebt (vgl. Schwarz 2011: 85f), ließen sich dabei vergleichsweise ein-

fach in der Cyberspace-SF-Literatur auffinden; dies mag dem Anspruch der SF-Autorinnen und

-Autoren geschuldet sein, Neues zu erdenken oder der Nachfrage nach neuen Ideen von Seiten

der Leser, die den aufgefundenen Werken zu ihrem Erfolg und zu ihrer Verbreitung verhalf. Da

ich in der Phase des Aufspürens von Literatur in informellen Gesprächen mit Freunden und Be-

kannten oft Tips vermittelt bekam, nachdem ich mein Forschungsvorhaben dargelegt hatte, halte

ich es auch für möglich, dass hierdurch ein unkontrollierter Prozess der Vorselektion entstand

und mir Literatur mit besonders neuartigen Ideen angetragen wurde.

III) Training:

Als dritte Phase beschreibt Schwarz das Training (vgl. ebd.: 177f), das vor allem durch Lesen

und Reflexion von Zugriffen und Analysen charakterisiert wird. In dieser Phase werden signifi-

kante Textstellen identifiziert und Überlegungen dazu angestellt, was den Charakter des Textes

ausmachte, um auf dieser Basis künftig eine gezieltere Textauswahl zu ermöglichen. Die ständi-

ge Reflexion führte auch in Bezug auf die Thematik meiner Studie zu einer Anpassung des The-

menfeldes, z.B. kam es in einiger rezipierter Literatur immer wieder zum kombinierten Auftreten

von Themen, wie Virtual Reality und Künstliche Intelligenz, so dass der KI in dieser Arbeit ein

höherer Stellenwert eingeräumt wurde. Auch konnte ich beim Training beobachten, wie meine

Unsicherheit in Bezug auf das Auffinden von relevanter Literatur für mein Themenfeld, wie sie

auch Schwarz (ebd.: 178) beschreibt, stetig abnahm.

IV) Überprüfung:

An das Training schließt Schwarz die Überprüfung (vgl. ebd.: 178f) an. Überprüft werden soll

vor allem, ob nach dem bisherigen Zugriffsmuster noch weitere, bisher noch nicht bearbeitete,

Literatur bereit steht oder ob anstatt der quantitativen Ausdehnung die schon gelesene Literatur

Florian Kraftschik [email protected]

41

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einer tieferen Analyse unterzogen werden sollte, wie z.B. bei sehr komplexen Texten. Weitere

Literatur kann durch die Ausweitung des Suchzeitraumes ebenso aufgefunden werden wie über

eine leichte Modifikation der Fragestellung. In der Überprüfungsphase kann auch überlegt wer-

den, wie viele Werke bzw. Texte gelesen werden sollen. Im Literaturauswahlprozess dieser Ar-

beit stellte sich nach einiger Lektüre das Gefühl ein, dass sich die Themen wiederholten, so dass

gezielt nach neuen Themen gesucht werden konnte. Beispielsweise lässt sich die VR-Technolo-

gie in vielen Werken finden, so dass Literatur über AR das Themenfeld um interessante Aspekte

ergänzte. Des Weiteren erfolgt an dieser Stelle auch die Anfertigung von Stellenprotokollen (Pro-

tokoll über signifikante Textstellen in Form von Zitaten) sowie die Entfaltung (vgl. ebd.: 105f),

damit verknüpft die Kontextualisierung (vgl ebd.: 106f) und Diagnose (vgl. ebd.: 109) des Mate-

rials. Die Entfaltung dient der Verdeutlichung der aufgefundenen Ideen, um diese in den diskur-

siven Kontext einzuordnen (ohne jedoch die Methode „mit einer Diskursanalyse zu überfrach-

ten“ (ebd.: 108)) und sie mit ähnlichen Ideen in anderen Texten zu vergleichen, um die Gemein-

samkeiten und Unterschiede heraus zu arbeiten (vgl. ebd.: 109).

V) Beschreibung:

Die letzte Phase des Prozesses ist die Beschreibung (vgl. ebd.: 179f). Hier stellt sich die Frage,

welche Art der Darstellung dem Forschungsvorhaben im jeweiligen Kontext sachdienlich er-

scheint. Schwarz verweist in diesem Zusammenhang auf verschieden Möglichkeiten (vgl. ebd.:

183ff), wie das Erstellen von Stellenprotokollen, das Einfügen längerer Textstellen, der Report

als „Vermischung von Textstellen und weiteren Informationen“ (ebd.: 185), das Aufführen gan-

zer Kapitel oder gar eines ganzen Buches. Während diese Möglichkeiten sich noch unmittelbar

auf die zugrundeliegenden Texte beziehen, weicht die Inkognition (vgl. ebd.: 186) diese direkten

Bezüge auf und stellt nur die Informationen dar, ohne jedoch darauf zu verweisen, dass diese aus

der Literatur entstammen. Ebenso können Szenarien (vgl. ebd.: 187) aus den Informationen aus

der Literatur aufgestellt werden. In einigen Fällen hält Schwarz auch die Verwendung kombinier-

ter Bild-Text-Ton-Strategien für angebracht, vor allem dann, „wenn die Beschreibung in einem

literarischen Text keine so rechte Vorstellung von einem Phänomen vermitteln kann“ (ebd.: 189).

Für die systematische Auswertung von SF im Rahmen dieser Arbeit kommt es bei der Beschrei-

bung vor allem darauf an, den Prozess der Generierung von Statements für den Leser transparent

und nachvollziehbar zu gestalten. Weil die Statements durch eine Kombination von Ideen aus der

Literatur generiert wurden, soll als Darstellungsform auf die Anfertigung von Stellenprotokollen

Florian Kraftschik [email protected]

42

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sowie das Einfügen längerer Textstellen zurückgegriffen werden, was dann einen direkten Ver-

gleich der Ideen ermöglicht. Bei der Erstellung der Statements wurden die Ergebnisse des Aus-

wertungsprozesses gebündelt, es wurde vor allem Wert darauf gelegt, den Spezialitäten und ver-

schiedenen Ausprägungsarten von Technologien und deren Anwendungen in den Texten Rech-

nung zu tragen.

4.2.3 Die Generierung von Statements mit der Berliner Methode

Schwarz steht der Fokussierung auf ein bestimmtes Genre bei der Literaturauswahl kritisch ge-

genüber, da er es bevorzugt, Literatur nach Themengebieten zu selektieren und nicht umgekehrt

Themengebiete danach abzustecken, wie sie in einem bestimmten Genre beschrieben wurden

(Vgl. Schwarz 2011: 75). Jedoch bestand m.E. dieser Konflikt nicht, da das Themengebiet schon

vor dem Lesen und der Analyse der Literatur klar auf das Aufspüren möglicher Zukünfte des

Cyberspace mit einem Fokus auf technischen Innovationen sowie deren Anwendung einge-

schränkt wurde und für dieses spezielle Anliegen ausschließlich SF-Literatur in Frage kam bzw.

ich während meiner einjährigen Recherche und Lektüre auf keine relevante Literatur stieß, die

nicht der SF zugerechnet werden kann. Ein Grenzfall zwischen SF-Vision und wissenschaftlicher

Vision stellen lediglich Moravecs „Mind Children“ (1990) und „Computer übernehmen die

Macht“ (1999) dar, die beiden eigentlich als wissenschaftliche Fachliteratur publizierten Werke

wurden für diese Arbeit behandelt wie SF-Literatur.

Für die Einschwingphase verschaffte ich mir einen Überblick über die Literatur, indem ich mir

einen Überblick über SF-Klassiker zum Thema Cyberspace verschaffte. Dabei konnte ich schnell

feststellen, dass die Thematik sowohl in der Literatur der 80er Jahre bis zur jüngeren und jüngs-

ten Literatur vielerorts behandelt wurde. Das Cyberspace-Motiv wurde in den meisten Fällen

von den Autoren43 als Novum eingesetzt, somit konnten schon in dieser frühen Phase der Aus-

wertung zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten identifiziert werden. In dieser Phase der Recher-

che stieß ich u.a. auf Gibsons „Neuromancer-Trilogie“, Stephensons „Snow Crash“, „Simulacron

3“ von Daniel F. Galouye und „Ich, der Roboter“ von Isaak Asimov. Filme, die ich zu Beginn

ausmachen konnte, waren u.a. die „Matrix“-Trilogie der Wachovski-Brüder, Lisbergers „Tron“

sowie die Fortsetzung „Tron: Legacy“ von Kosinski, auch Verhoefens „Die totale Erinnerung -

Total Recall“ und Proyas‘ „I, Robot“.

Florian Kraftschik [email protected]

43

43 Hier ist an dieser Stelle tatsächlich nur die männliche Form gemeint. Leider lag mir zur Auswertung keinerlei Literatur von Autorinnen vor, offensichtlich handelt es sich hier um ein sehr männerdominiertes Gebiet.

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Nachdem sichergestellt werden konnte, dass sich SF-Literatur und -Filme mit der Thematik ver-

knüpfen lassen, erfolgte die Phase der Präzisierung. Wie die Protagonistinnen und Protagonisten

in der SF den Cyberspace nutzen und wahrnehmen ist zu einem hohen Grad von der jeweils ein-

gesetzten Technologie abhängig, deshalb sollten in der SF in erster Linie Stellen identifiziert

werden, welche Cyberspace-Technologie sowie die Nutzung und die Folgen der Nutzung be-

schreiben. Auffallend viele der rezipierten Werke legten ein Hauptaugenmerk auf die volle Im-

mersion von Menschen in VR-Umgebungen, so dass der Fokus beim Aufspüren weiterer Litera-

tur vor allem auf der Entdeckung von SF lag, die ergänzend noch weitere Technologien und An-

wendungen einsetzt. Bei der Recherche konnten auch einige Werke identifiziert werden, in denen

die Nutzung von nicht-immersiver Netzwerktechnologie thematisiert wurde, die auch in die für

diese Arbeit zugrundeliegende Definition von Cyberspace fällt (z.B. Doctorows „Little Brother“,

vgl. 2008). Diese Werke wurden jedoch bewusst aus der systematischen Auswertung ausge-

grenzt, da die Technologie, auf der sie basieren, schon in der Gegenwart verfügbar ist. Somit

sind diese Werke m.E. in Bezug auf die Fragestellung dieser Arbeit nicht relevant.

In der Trainingsphase wurden relevante Textstellen identifiziert, aus denen dann, wie im Folgen-

den erläutert, die Statements für die Expertenbefragung generiert wurden. In der Phase des Trai-

nings und der darauf folgenden Phase der Überprüfung stellte sich nach und nach das Gefühl ein,

eine ausreichende Literaturbasis für das weitere Vorgehen zur Verfügung zu haben. Allerdings

entdeckte ich bei der Überprüfung auch noch neuere Werke, die vor allem Augmented Reality

thematisierten. Dies waren Daniel Suarez‘ „Daemon“, dazu die Fortsetzung „Darknet“ und „Hal-

ting State“ von Charles Stross.

Da diese Arbeit die systematische Auswertung von SF thematisiert und m.E. dieser Prozess

größtmögliche Transparenz erfordert, fertigte ich für die Phase der Beschreibung Stellenproto-

kolle an, die neben einer kurzen Zusammenfassung der Handlung und des technologischen Set-

tings relevante Textstellen und Zusammenfassungen längerer Textstellen enthalten44. Im nächs-

ten Kapitel werden diese Stellenprotokolle dann aufgegriffen, um die Generierung von State-

ments zu beschreiben. Die Themenblöcke wurden vor der Generierung der Statements in einem

Prozess ständiger Verdichtung und Reorganisation in Mindmaps erarbeitet. Die Zahl der SF-

Werke, die im Rahmen dieser Arbeit rezipiert wurden, war wesentlich höher als die Zahl der

Florian Kraftschik [email protected]

44

44 Die Stellenprotokolle wurden in den Anhangband der Arbeit eingefügt, ein Exemplar liegt jeweils dem Erst- und Zweitgutachter vor. Die Stellenprotokolle geben neben den rein technologischen Aspekten vor allem auch psycholo-gische Auswirkungen der Technologieanwendungen auf die Protagonisten wieder. Für die Expertenbefragung muss-ten die Statements jedoch aus praktischen Gründen kurz gehalten werden, weshalb hier die psychologischen Folgen der Technik nicht eingearbeitet wurden. Jedoch erfolgt an späterer Stelle eine Rückkoppelung der Ergebnisse der Expertenbefragung mit ebendiesen Folgen.

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Werke, für die Stellenprotokolle erstellt wurden und auf die im weiteren Verlauf zurückgegriffen

wird. Oft transportieren Filme kurz und pointiert wichtige Ideen des Autors, der die Romanvor-

lage für den Film lieferte, oder die Ideen waren schon in anderen Werken ausreichend

vertreten.45

Folgende Tabellen listen alle Literatur und Filme auf, welche im Prozess der Anwendung der

Berliner Methode identifiziert und ausgewertet wurden:

Autor Titel Thematik

Böttcher, Kai-Michael Der Birkenwald VR und Wirklichkeit

Doctorow, Cory Backup Gehirn-Backup, AR

Gibson, William Neuromancer VR, KI

Gibson, William Biochips VR, KI

Gibson, William Mona Lisa Overdrive VR, KI

Moravec, Hans Mind Children KI, Singularität

Moravec, Hans Computer übernehmen die Macht

KI, Singularität

Morgan, Richard Das Unsterblichkeitsprogramm VR, KI, Cyborgisierung, Ge-hirn-Backup

Prist, Christopher Die Amok-Schleife VR und Wirklichkeit

Stephenson, Neal Snow Crash VR, KI

Stross, Charles Halting State AR, Cyberwar

Suarez, Daniel Daemon AR, KI

Suarez, Daniel Darknet AR, KI

Williams, Tad Otherland. Stadt der goldenen Schatten

VR, KI

Williams, Tad Otherland. Fluß aus blauem Feuer

VR, KI

Williams, Tad Otherland. Berg aus schwarzem Glas

VR, KI

Williams, Tad Otherland. Meer des silbernen Lichts

VR, KI

Tab. 2: Auflistung der verwendeten SF-Literatur.

Florian Kraftschik [email protected]

4545 Dies betraf vor allem Asimovs „I, Robot“, Galouyes „Simulacron 3“ sowie den Film „Tron“.

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Regie / Drehbuch Titel Thematik

Bigelow, Kathryn (Regie); Ca-meron, James/Cocks, Jay (Drehbuch)

Strange Days Implantation von Erinnerungen

Burger, Neil (Regie); Dixon, Leslie (Drehbuch)

Ohne Limit Neuro-Enhancement

Cronenberg, David (Regie und Drehbuch)

eXistenZ VR und Wirklichkeit

Fassbinder, Rainer Werner (Re-gie und Drehbuch); Romanvor-lage von Daniel F. Galouye

Welt am Draht VR und Wirklichkeit

Longo, Robert (Regie); Gibson, William (Drehbuch)

Johnny Mnemonic Gehirn als Datenspeicher

Oshii, Mamoru (Regie); Shirow, Masamune (Autor)

Ghost in the Shell Cyborgisierung, Gehirn-Hack, Singularität und Identität des Menschen

Proyas, Alex (Regie); Vintar, Jeff/Goldsman, Akiva (Dreh-buch); frei nach Asimovs I, Ro-bot

I, Robot KI, Robotik

Verhoefen, Paul (Regie); Shu-sett, Ronald/O‘Bannon, Dan/Goldman, Gary (Drehbuch); nach Vorlage einer Kurzge-schichte von Philip K. Dick

Die totale Erinnerung - Total Recall

VI, Implantation von Erinne-rungen, Wirklichkeit

Wachowski, Andy/Wachowski, Larry (Regie und Drehbuch)

Matrix VR, Leben in der Simulation, KI

Tab. 3: Auflistung der verwendeten SF-Filme.

Im folgenden wird dargelegt, wie die Statements generiert wurden. Zu jedem der drei Themen-

blöcke wurden 3 Statements gebildet, damit innerhalb der Themenblöcke die Möglichkeit be-

stand, zwischen verschiedenen Ideen zu differenzieren bzw. innerhalb eines Themas verschiede-

ne Aspekte oder Qualitäten abzubilden.

4.2.4 Statements des Themenblock I: Prothetik und Cyborgisierung

In Tab. 3 und Tab. 4 ist ersichtlich, dass Prothetik und Cyborgisierung, die nach der Definition

von ,Cyborg‘ auch Neuro-Enhancement umfasst, vor allem in den Werken ,Backup‘, ,Das

Unsterblichkeitsprogramm‘, ,Halting State‘,Daemon‘, ,Darknet‘, ,Strange Days‘, ,Ohne Limit‘,

,Johnny Mnemonic‘ und ,Ghost in the Shell‘ thematisiert wird. Trotz der thematischen Eingren-

Florian Kraftschik [email protected]

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zung sind die besprochenen Technologien und Anwendungen äußerst vielfältig, so dass auch

innerhalb des Themenblocks Gruppierungen geschaffen werden mussten, um die einzelnen

Statements für die dann anstehende Expertenevaluation nutzen zu können. Zentral erschien die

Idee der Verbesserung des Menschen, das Human-Enhancement; alle beschriebenen Technologi-

en zielten darauf ab, die Leistungsfähigkeit des biologischen Körpers des Menschen zu steigern

und seine körperlichen und geistigen Beschränkungen zu überwinden. In Kategorie 1 wurden

also alle Technologien gesammelt, welche die körperliche Leistungsfähigkeit betreffen, in Kate-

gorie 2 alle Technologien zur Verbesserung des Geistes. Kategorie 3 fasst all jene Technologien

und Ideen, wie die letzte Beschränkung des Menschen - der Tod - aufgehoben werden kann. Für

die Statements wurden lediglich die technologischen Neuerungen zugrunde gelegt, um die Eva-

luation der Technologie durch Experten zu ermöglichen. Aus den Textstellen geht jedoch des

Weiteren hervor, wie die Technologie angewendet wird und wie sich die Gefühlswelt der Prota-

gonisten bei der Anwendung der Technologie darstellt. Die Expertinnen und Experten sollten u.a.

die Plausibilität der beschriebenen technologischen Neuerungen einschätzen. Vereinzelt wurde in

den Antworten der Expertinnen und Experten kritisiert, dass die Psyche der Protagonisten nicht

in den Statements beschrieben wurden; dies schien jedoch aufgrund der großen Bandbreite der

beschriebenen Eindrücke nicht als sinnvoll, außerdem findet dieser Punkt in der Reflexion (Kap.

4.5) Beachtung.

Folgende Technologien sind der Kategorie 1 zugehörig:

- Head Up Display Brille (HUD-Brille) zur Wahrnehmung von AR-Ebenen. Mithilfe der HUD-

Brille können graphische Zusatzinformationen dargestellt werden, die optisch in die Umwelt

integriert werden. Z.B. sind dies Callouts (schwebende Schilder) über Personen oder Objekten,

um diese näher zu beschreiben. Die Brille verfügt auch über ein Knochenschall-Mikrofon und

einen Kopfhörer für die Kommunikation, überwacht außerdem die Lebensfunktion des Nutzers

und stellt sicher, dass sie von niemand anderem getragen wird. (vgl. Stellenprotokoll Darknet,

S. 54; vgl. Stellenprotokoll Daemon, S. 544-545; 548-549; 558-559; vgl. Stellenprotokoll Hal-

ting State S. 51; 138).

- Wearable Computer: kleiner, am Körper zu tragender Computer, der die HUD-Brille mit Sig-

nalen versorgt und der mit einem Ortungschip ausgestattet ist, um die Position des Trägers fest-

zustellen (vgl. Stellenprotokoll Darknet, S. 149).

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- Haptik-Shirt, das es ermöglicht, Informationen in Form von haptischen Reizen auf die Haut zu

projizieren. Der Winkel der Wahrnehmung wird somit im Vergleich zum eingeschränkten

Blickwinkel der Augen auf 360° erweitert werden, außerdem können Informationen und auch

Warnungen aus dem Cyberspace dargestellt werden (vgl. Stellenprotokoll Darknet, S. 149; vgl.

Stellenprotokoll Daemon, S. 484-485).

- Elektronische Kontaktlinsen als Weiterentwicklung der HUD-Brille. Auf den Kontaktlinsen

können die selben Informationen dargestellt werden wie auf der Brille, jedoch sind sie kaum zu

sehen, da sie sehr unscheinbar sind und körpernah getragen werden (Vgl. Stellenprotokoll Dar-

knet, S. 212).

- Datenhandschuhe zum Fernsteuern von Fahrzeugen (Vgl. Stellenprotokoll Daemon, S. 484-

485)

- Implantation von künstlichen Körperteilen, wie Waffen oder Augen zur Verbesserung der

Leistungsfähigkeit des Körpers (vgl. Stellenprotokoll Neuromancer, S. 59-59).

- Die Möglichkeit der Implantation von Sensoren wird in Darknet lediglich besprochen, jedoch

steht die Technologie den Protagonisten noch nicht zur Verfügung (vgl. Stellenprotokoll Dar-

knet, S. 212; vgl. Stellenprotokoll Snow Crash, S. 439)

Abb. 2: Darstellung des Rumpfs eines Cyborgs in „Ghost in the Shell“.

Das 1. Statement wurde wie folgt formuliert:

Florian Kraftschik [email protected]

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Viele Menschen der Zukunft werden, mit künstlichen Bauteilen ausgestattet, kybernetische Or-

ganismen (Cyborgs) sein, u.a. um sich die zusätzlichen Wahrnehmungsräume der Augmented

Reality (oder Mixed-Reality) zu erschließen. Der physische Raum wird mit dem Cyberraum ver-

schmelzen, indem z.B. über Brillen, Kontaktlinsen oder Netzhautimplantate virtuelle optische

Ebenen mit Zusatzinformationen in das Blickfeld eingeblendet werden können oder direkt in den

Kopf implantierte Mikrofone, Lautsprecher und Funkmodule Kommunikationskanäle eröffnen

oder als Verstärker für Umgebungsreize fungieren.

Folgende Technologien, welche die Verbesserung des Geistes betreffen, wurden in die Kategorie

2 gefasst:

- Neuro-Enhancement mittels Psychopharmaka: Das menschliche Gehirn wird durch die Ein-

nahme von leistungssteigernden Medikamenten verbessert. Die Verbesserung resultiert in hoher

Denkgeschwindigkeit, Kreativität und der ständigen Verfügbarkeit sämtlicher Informationen

sowie in der Möglichkeit, diese Informationen miteinander zu verknüpfen. In ,Ohne Limit‘

werden jedoch auch ein großes Suchtpotential sowie starke Nebenwirkungen beschrieben.

Morgan beschreibt in ,Das Unsterblichkeitsprogramm‘ die dauerhafte Modifikation des Ner-

vensystems mittels Implantaten, welches Hormone und chemische Substanzen ausschüttet, um

den Erregungszustand des Körpers zu steuern und ggf. Signale zu verstärken bzw. Schmerzsig-

nale zu unterdrücken (vgl. Stellenprotokoll Ohne Limit, Min. 9; 11; 14; vgl. Stellenprotokoll

Das Unsterblichkeitsprogramm, S. 296).

- Speichererweiterung des Gehirns: Mittels Hardware (Speicherchips) oder Wetware (orga-

nisch gezüchtetes Nervengewebe) wird die Speicherkapazität des Gehirns erweitert. Der Ein-

griff führt dazu, dass sich ein Mensch sich mehr merken kann sowie direkten Zugriff auf alle

gespeicherten Hirninhalte hat, auch wird teilweise die Geschwindigkeit der Informationsverar-

beitung drastisch verbessert. Johnny Mnemonic verfügt im gleichnamigen Film über die Mög-

lichkeit, Daten von externen Datenträgern im technisch erweiterten Gehirn zu speichern, um sie

unbemerkt an einen anderen Ort zu schmuggeln (vgl. Stellenprotokoll Johnny Mnemonic, Min.

36; vgl. Stellenprotokoll Ghost in the Shell, S. 30).

Statement 2 wurde folgendermaßen formuliert:

Die technische Erweiterung des Menschen wird auf das Gehirn ausgeweitet werden: Speicher-

erweiterungen sowie Geschwindigkeitsbooster (technisch-physikalische Erweiterungen genauso

Florian Kraftschik [email protected]

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wie Neuroenhancement mittels Psychopharmaka) werden eingesetzt werden, um das Gehirn zu

optimieren.

Kategorie 3 umfasst Technologien zum Gehirn-Backup46:

- Externe Speicherung der Persönlichkeit und der Gehirninhalte: Ein Mensch stellt mit Hilfe

eines implantierten Computers eine Datenverbindung zu Backup-Terminals her, wo der gesam-

te Inhalt des Gehirns eines Menschen gespeichert wird. Stirbt der Mensch, so kann sein Backup

in einem geklonten Körper seiner Selbst wieder hergestellt werden. Liegt das Backup schon

lange zurück, so fehlt dem Menschen die Erinnerung an die Zeit zwischen dem letzten Backup

und seinem Tod, jedoch kann mit Hilfe der Implantation einer Erinnerung eine Zusammenfas-

sung der Ereignisse ins Gehirn eingefügt werden (vgl. Stellenprotokoll Backup, S. 38-39; 40-

41; 42-43; 44; 45; 66).

- Automatische Speicherung der Persönlichkeit und Gehirninhalte im Körper: Im Gegen-

satz zur externen Speicherung des Gehirns tritt kein Verlust von Erinnerungen auf, wenn das

Gehirn in einem elektronischen Bauteil gesichert wird, das in den Körper implantiert wurde

und das sich jederzeit automatisch auf den neuesten Stand updatet. Beim Tod des Körpers kön-

nen die gesicherte Persönlichkeit und ihre Erinnerungen in einen neuen Körper implantiert

werden. Dieser Körper kann entweder ein auf Vorrat gehaltener Klon oder der Körper eines

fremden Menschen sein. Ist das Gehirn eines Menschen nach dessen Tod noch intakt, kann

auch dieses direkt verpflanzt werden, wobei kein Backup benötigt wird (vgl. Stellenprotokoll

Das Unsterblichkeitsprogramm, S. 19-28; 29; 85; 189; 413; vgl. Stellenprotokoll Ghost in the

Shell, Min. 1:06).

- Leben des Gehirns in einer VR-Umgebung: Alternativ zur Wiederherstellung des Gehirns in

einem biologischen Körper wird in der SF auch das Weiterleben von Personen in einer VR-

Umgebung besprochen. Entweder wird das biologische Gehirn künstlich versorgt und mittels

BCI in die virtuelle Umgebung versetzt oder das komplette Gehirn wird physikalisch auf Spei-

cherbausteinen gespeichert und die Person existiert fortan ausschließlich digital und in einer

VR-Umgebung (Vgl. Stellenprotokoll Das Unsterblichkeitsprogramm, S. 189; vgl. Stellenpro-

tokoll Der Birkenwald, S. 136; 185; vgl. Stellenprotokoll Otherland. Berg aus schwarzem Glas,

Florian Kraftschik [email protected]

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46 ,Gehirn-Backup‘ meint die externe Speicherung der Persönlichkeit sowie der Inhalte der Erinnerung, vergleichbar zum Backup einer Festplatte. Beim Tod eines Menschen könnten diese Informationen zur vollständigen Wiederher-stellung der Person genutzt werden, indem sie in einen neuen Körper gespielt werden.

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S. 876-877; vgl. Stellenprotokoll Otherland. Meer des silbernen Lichts, S. 984; 1153-1154; vgl.

Stellenprotokoll Mona Lisa Overdrive, S. 24-25; 253-254; vgl. Stellenprotokoll Mind Children,

S. 156)

Diese Technologien führten zu folgender Formulierung von Statement 3:

Das Gehirn des Menschen wird durch externe Backup-Module ergänzt werden, wo sein gesamter

Inhalt digital gespeichert wird. Stirbt der Körper eines Menschen, so bedeutet dies nicht mehr

den endgültigen Tod für das Bewusstsein: Entweder kann ein noch intaktes Gehirn in einen neu-

en - geklonten oder gekauften - Körper eingesetzt werden, oder aber das digitale Backup wird in

einem neuen Körper (und Gehirn) wieder hergestellt. Denkbar wäre auch das Weiterleben eines

menschlichen Bewusstseins in einer VR-Umgebung mittels Brain Computer Interface und voller

Immersion. Ein lange gehegter Menschheitstraum - ewiges Leben - wird realisierbar.

4.2.5 Statements des Themenblock II: Virtualität und Phantomatik

Gemäß der Aufstellung in Tab. 3 und Tab. 4 ist deutlich ersichtlich, dass es sich beim Thema Vir-

tual Reality, also dem vollimmersiven Eintauchen in virtuelle Umgebungen, um ein weit verbrei-

tetes Thema der Cyberspace-SF handelt. Zur Literatur, die dieses Thema behandelt, zählen SF-

Klassiker wie Gibsons Neuromancer-Trilogie genauso wie auch jüngere Literatur wie z.B. Ste-

phensons „Snow Crash“ oder Williams‘ „Otherland“-Reihe. Auch Filme bedienen sich in vielfäl-

tiger Weise der Thematik der vollen Immersion und der Simulation, allen voran Matrix und

Fassbinders Welt am Draht (nach der Romanvorlage „Simulacron 3“ von Daniel F. Galouye).

„Total Recall“, „Strange Days“ und „Ghost in the Shell“ thematisieren den Upload von Erinne-

rungen ins Gehirn. Im Handlungsverlauf von „Total Recall“ verschwimmt zudem die Grenze

zwischen dem Upload von Erinnerungen und dem Erleben der Situation: eine Erinnerung wird

implantiert, jedoch zeigt der Film diese Erinnerung nicht aus der Perspektive des Protagonisten

nach der Implantation, sondern aus seiner Perspektive in der Erinnerung, so dass offen bleibt, auf

welcher Ebene der Realität sich die Handlungen abspielen. Diese Perspektive verdeutlicht, dass

im Rückblick auf Ereignisse nie gesagt werden kann, ob die Erinnerung echt oder „nur“ künst-

lich erzeugt ist. Um in den Statements verschiedene Facetten der Technologie und Anwendung

von VR-Systemen zu erfassen, wurde das Gewicht im ersten Statement auf die Technologie des

BCI gelegt. Das zweite Statement befasst sich hingegen mit der Diffusion der Innovation sowie

mit möglichen Anwendungen. Statement 3 hingegen thematisiert die Implantation von Erinne-

rungen (Aneignung von Erlebnissen Dritter) sowie die Risiken, welche einer Technologie inhä-

Florian Kraftschik [email protected]

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rent sind, die die direkte Verbindung zwischen dem Gehirn und dem Cyberspace herstellt. Auch

an dieser Stelle ging es vorrangig darum, von den Experten eine Einschätzung der Plausibilität

und Eintrittswahrscheinlichkeit der beschriebenen technologischen Innovationen zu erhalten.

Folgende Technologien, aus denen das revolutionäre Potential der vollen Immersion deutlich

wird, fanden Einzug in das 1. Statement:

- Brain-Computer-Interface als totale Schnittstelle: Es wird eine direkte Verbindung zwischen

einem Computer und dem Gehirn hergestellt. Dies geschieht - je nach Ausgestaltung in der SF -

entweder per Nervenschnittstelle in der Halswirbelsäule, in Form von Elektroden, die an den

Kopf angelegt werden oder mittels Nanochips, die in die Wirbelsäule gespritzt werden. Alle

Sinneseindrücke können direkt im Hirn simuliert werden, der Nutzer steuert den Computer al-

lein durch Gedanken. Diese Idee gleicht in etwa einem sehr realistischen Traum, anders jedoch

als beim Träumen ist der Mensch in der VR bei vollem Bewusstsein. Die Darstellung erfolgt so

realistisch, dass VR nicht von der physischen Realität zu unterscheiden ist (vgl. Stellenproto-

koll Das Unsterblichkeitsprogramm, S. 261; vgl. Stellenprotokoll Neuromancer, S. 87; 90; vgl.

Stellenprotokoll Mona Lisa Overdrive, S. 61; vgl. Stellenprotokoll Neuromancer, S. 55-56; vgl.

Stellenprotokoll Otherland 1, S. 113; 190-191; 527; 723-724; 823; vgl. Stellenprotokoll

Otherland 2, S. 168; 238; 303; vgl. Stellenprotokoll Der Birkenwald, S. 33-35; 37; 39; vgl.

Stellenprotokoll Matrix, Min. 30; 34; 36; 1:01; vgl. Stellenprotokoll eXistenZ, Min. 16; 23; 38;

57; 1:24; vgl. Stellenprotokoll Welt am Draht, Teil 1, Min. 48).

Abb. 3: Darstellung der Neuro-Schnittstelle zur vollen Immersion in „Matrix“.

- Vielfältige Zugangsmöglichkeiten zum Cyberspace: Nur selten ist in der SF die totale

Schnittstelle die einzige Zugangsmöglichkeit zur VR, meist können die Protagonisten auch mit

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einfacherer Technik auf den Cyberspace zugreifen. Dies geht jedoch immer zu Lasten der Dar-

stellungsqualität, der Grad der Immersion und somit die Verwechselbarkeit des Cyberspace mit

der physischen Realität nimmt ab, wenn beispielsweise statt dem Neurostecker lediglich ein

zweidimensionales Fernsehgerät benutzt wird. Nur bei voller Immersion besteht die Gefahr der

Ununterscheidbarkeit der verschiedenen Stufen der Realität (vgl. Stellenprotokoll Otherland 1,

S. 44-45; 47-48; vgl. Stellenprotokoll Snow Crash, S. 30; 32-34; 47)

Statement 1 wurde folgendermaßen formuliert:

Der große Durchbruch der Virtualitätstechnik wird in der Erfindung der Nervenschnittstelle als

bidirektionales BCI (Brain Computer Interface) liegen. Die Technologie wird ihr revolutionäres

Potential vor allem durch die Möglichkeit der vollen Immersion in den Cyberspace entfalten: für

den Nutzer der Virtualitätstechnik wird die Ebene der virtuellen Realität nicht mehr anhand sei-

ner Sinneseindrücke von der Ebene der physischen Realität unterscheidbar sein.

In Statement 2 wurden vor allem VR-Anwendungen gefasst, für die die volle Immersion beson-

ders geeignet erscheint und die sich als treibende Kräfte dafür erweisen könnten, dass sich die

Technologie zu einem Massenprodukt entwickelt:

- Virtuelle Spielewelten in Online-Games: Weil in virtuellen Welten prinzipiell alles möglich

ist, werden vor allem Spielehersteller und andere Zugehörige der Entertainment-Branche darauf

setzen, die Technik der vollen Immersion zu nutzen, zu verbessern und für die breite Masse

verfügbar zu machen. Denkbar ist dies jedoch nicht nur für Spiele, sondern auch für den Film:

je tiefer ein Rezipient in die Welt der Handlung eintaucht, desto näher ist er am Geschehen dran

und desto intensiver können Emotionen vermittelt werden (vgl. Stellenprotokoll Otherland 1, S.

113; vgl. Stellenprotokoll Halting State, S. 122-123; vgl. Handlung und Stellenprotokoll eXis-

tenZ, Min. 38).

- Freizeitanwendungen: Auf der Suche nach Unterhaltung bietet der Cyberspace schon heute

eine Fülle an Möglichkeiten. Die volle Immersion ermöglicht jedoch ein ganz anderes Erlebnis:

in der SF werden VR-Umgebungen wie bunte Städte beschrieben, wo die Nutzer einkaufen,

sich in einem virtuellen Café treffen oder einfach nur herumspazieren und die Welt bestaunen

können. Die Möglichkeiten in der VR sind buchstäblich unendlich und so ist das Online-Shop-

ping mit Anprobieren der Klamotten oder auch das gezielte Erleben starker Emotionen (wie

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Williams in Otherland beschreibt) nur ein winzig kleiner Teil des Möglichen, möglicherweise

jedoch das, was den Aufenthalt in der VR für die Massen zunächst interessant erscheinen lässt

(vgl. Stellenprotokoll Otherland 1, S. 76-77; 80-81; vgl. Stellenprotokoll Der Birkenwald, S.

62-64; vgl. Stellenprotokoll Snow Crash, S. 47).

- Leben in der Virtual Reality: In der Simulation ist alles möglich und die Simulation ist nicht

von der physischen Realität zu unterscheiden. Warum unterwirft sich der Mensch dann noch

den Beschränkungen seines biologischen Körpers? Diese Frage wird in der SF oft aufgeworfen,

immer wieder gibt es in den Handlungen der Geschichten Menschen, die es aus verschiedenen

Gründen vorziehen, ihr Dasein im Cyberspace zu fristen. Der Film Matrix spielt gar mit dem

Gedanken, dass es sich bei dem, was wir als physische Realität kennen (unsere Wirklichkeit par

excellence, im Berger und Luckmann‘schen (2009) Terminus, vgl. ebd.: 24), um eine Simulati-

on handeln könnte (vgl. Stellenprotokoll Otherland 4, S. 984; 1153-1154; vgl. Stellenprotokoll

Mona Lisa Overdrive, S. 24-25; 200-203; vgl. Stellenprotokoll Matrix, Min. 25; 30; 1:01; 1:24;

vgl. Stellenprotokoll Der Birkenwald, S. 197ff; vgl. Stellenprotokoll Mind Children, S. 156;

vgl. Stellenprotokoll Welt am Draht Teil 1, Min. 12; 1:19; Teil 2, Min. 6; 31)

Aus diesen beispielhaften Cyberspace-Anwendungen in der SF wurde das 2. Statement formu-

liert:

Die Diffusion der Innovation vollimmersiver VR-Technik wird vor allem im Kommunikations-

und Entertainment Sektor erfolgen und viele Bereiche der Alltagswelt der Menschen maßgeblich

verändern. Einige mögliche Anwendungen der vollen Immersion in den Cyberspace wären z.B.

VR-Firmenmeetings oder Privatmeetings, VR-Filme und VR-Online-Games mit bestechend rea-

listischer Darstellung, aber auch Shoppingtouren in VR-Shoppingmalls, wo in den Geschäften

alle Größen- und Farbkombinationen des neuen Outfits anprobiert werden können. Außerdem

wird es Menschen geben, die es vorziehen, ausschließlich im Cyberspace zu leben.

Nachdem das zweite Statement dabei Anwendung fasste, bei denen ein Mensch in den

Cyberspace eintaucht, dreht sich das 3. Statement nun vor allem um die Implantation von Erin-

nerungen in ein Gehirn. Besonders in den Filmen Total Recall und Strange Days wird dieses

Thema explizit behandelt.

- Implantation von computergenerierter Erinnerung: In Doctorows Backup wird die Implan-

tation von computergenerierter Erinnerung genutzt, um einem Menschen, dessen Gehirn-Back-

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up in einem neuen Körper wiederhergestellt worden war, Informationen über die Zeit zwischen

dem letzten Backup und seiner Wiederbelebung bereitzustellen. Total Recall hingegen behan-

delt die Implantation computergenerierter Erinnerung, deren Setting frei wählbar ist, als Frei-

zeittechnologie, als günstige und sichere Alternative zur Reise mit dem materiellen Körper.

Während jedoch im ersten Fall die Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben und nur ein Zu-

sammenschnitt der Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven implantiert wird, sind die im-

plantierten Erinnerungen in Total Recall rein virtuell. In beiden Fällen erscheint das scheinbar

Erlebte jedoch vollkommen real. Im SF-Manga Ghost in the Shell werden Personen gar mani-

puliert, indem ihnen eine Vergangenheit der eigenen Person implantiert wird, die nie stattge-

funden hat, so dass bei den Protagonisten höchste Entrüstung und Ungläubigkeit herrscht, als

ihnen offenbart wird, dass keines der Ereignisse in der Erinnerung tatsächlich stattgefunden hat

(vgl. Stellenprotokoll Backup, S. 44; vgl. Stellenprotokoll Total Recall, Min. 13; 16; 1:49; vgl.

Stellenprotokoll Ghost in the Shell, Min. 26; 41).

- Implantation von Erinnerungen Dritter: Anders als bei der Implantation von computergene-

rierter Erinnerung geht die Idee der Implantation von Erinnerungen Dritter davon aus, dass zu-

nächst die erlebte Wirklichkeit einer Person aus deren Perspektive aufgezeichnet wird, inklusi-

ve aller subjektiven Empfindungen der Person. Diese aufgezeichnete Erinnerung kann wieder-

um von anderen Personen „angeschaut“ werden, indem sie ins Gehirn des Rezipienten proji-

ziert wird. Die fremden Erinnerungen werden somit zu eigenen Erinnerungen, weil die Situati-

on mit allen Sinnen nacherlebt wird. Weil jedoch jede Erinnerung einen Menschen prägt, bes-

teht potentiell die Gefahr der Manipulation eines Menschen und es ist zu befürchten, dass einer

solchen Technologie die Gefahr des Missbrauchs (Stichwort: Gehirn-Hack) inhärent ist (vgl.

Stellenprotokoll Strange Days, Min. 5; 19; 29; 1:28; vgl. Stellenprotokoll Snow Crash, S. 88-

94; 219-220; 232)

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Abb. 4: Darstellung der Kontaktelektroden „Strange Days“.

Daraus folgt folgende Formulierung des 3. Statements zum Themenschwerpunkt Virtualität und

Phantomatik:

Up- und Downloads von Erinnerungen werden möglich sein. Daraus resultieren schier unendlich

erscheinende Erweiterungen der Wahrnehmungs- und Interaktionsräume, wie z.B. der Upload

von Erlebnissen Dritter in ein Gehirn, die dann zu „Erlebnissen aus erster Hand“ werden. Jedoch

birgt die neue Technologie auch immense Risiken des Missbrauchs und des unauthorisierten Zu-

griffs auf Daten und Gehirninhalt. Im Extremfall ermöglicht der Gehirn-Hack gezielte Manipula-

tion bis hin zur Fremdsteuerung von Personen.

4.2.6 Statements des Themenblock III: Künstliche Intelligenz

KIs spielen in vielen der rezipierten Werken eine Rolle. Grundsätzlich wird in diesen Werken

stets davon ausgegangen, dass sich die KIs auf den Menschen beziehen und mit Menschen „in-

teragieren“. Eine KI, die ein Dasein führt, das völlig losgelöst und unabhängig vom Menschen

ist, ist zwar prinzipiell vorstellbar, findet jedoch insofern in der für diese Arbeit zugrundeliegen-

den SF keine Beachtung, als dass die Konflikte, die sich aus dem Umgang des Menschen mit KI

ergeben, die Handlung vorantreiben sollen. Dies wäre nicht gegeben, wenn von einer friedlichen

und reibungslosen Koexistenz von Mensch und Maschine ausgegangen wird. Es sind allgemein

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zwei verschiedene Arten von KIs in der SF zu beobachten: Assistenzsysteme, die darauf pro-

grammiert sind, einfachere Aufgaben für Menschen zu erledigen und Super-KIs, welche die

menschliche Spezies an Intelligenz und Handlungsmacht überflügeln und die Menschheit be-

herrschen oder sich zumindest auf dem Weg dorthin befinden. Das erste Statement umfasst des-

halb alle KI-Ansätze, in denen Maschinen dem Menschen assistieren, ohne ihn jedoch zu beherr-

schen (sieht man von einer allgemein steigenden Abhängigkeit des Menschen von der Technolo-

gie ab). Das zweite Statement folgt dem Gedanken einer stetigen Weiterentwicklung der Fähig-

keiten von KIs und einer Angleichung der KIs an menschliche Fähigkeiten, ggf. auch an ein

menschliches Erscheinungsbild. Das dritte Statement führt diesen Entwicklungsgedanken konse-

quent fort und fasst die Überflügelung des Menschen durch die durch ihn geschaffene Technik,

die ihn letztlich beherrschen könnte - der Mensch wird dann für die Maschinen und deren Wei-

terentwicklung überflüssig.

Folgende KI-Technologien aus der SF fanden Eingang in das 1. Statement:

- Persönliche KI-Assistenten: In der SF werden KIs beschrieben, welche mit Menschen alltags-

sprachlich kommunizieren und an die beispielsweise kleine Rechercheaufgaben oder Erinne-

rungsfunktionen übertragen werden können. Sie nehmen Bezug auf Phänomene der Alltags-

welt, lernen mit der Zeit, immer besser auf die Bedürfnisse ihrer Besitzer einzugehen, laden

sich selbstständig an der Steckdose auf und gehorchen ausschließlich ihren Besitzern. „Beezle

Bug“ in Williams‘ Otherland ist für den Protagonisten Orlando Gardiner gar eine Art kleiner

Freund, den er nicht gegen eine neuere Version eintauschen möchte, weil er ihm mit der Zeit

ans Herz gewachsen ist. In Morgans‘ Das Unsterblichkeitsprogramm fungieren KIs gar als Ge-

schäftsführer von Hotels (vgl. Stellenprotokoll Otherland 1, S. 232; 235; 398-399; vgl. Stellen-

protokoll Das Unsterblichkeitsprogramm, S. 83; vgl. Stellenprotokoll Snow Crash, S. 128; vgl.

Stellenprotokoll „I, Robot“, Min. 47).

- Steigende Rechenleistung resultiert in komplexeren und intelligenteren Systemen: Folgt

man der Argumentation Moravecs, so ist Intelligenz mitunter zurückzuführen auf die immense

Rechenleistung des Gehirns. Künstlich intelligente Systeme sind demnach deshalb noch nicht

so intelligent wie Menschen, weil die Rechenleistung noch vergleichbar gering ist. Mit einer

Leistungssteigerung von Computern wird jedoch, dieser Logik folgend, auch die Komplexität

und Intelligenz von Maschinen steigen (vgl. Stellenprotokoll „Mind Children“, S. 75ff).

Daraus wurde Statement 1 formuliert:

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Steigende Rechenleistung und Speicherkapazität von Computern ermöglichen einen Anstieg des

Komplexitätsgrades von künstlichen Intelligenzen. Zunächst werden künstliche Intelligenzen

dem Menschen als digitale Assistenten oder Agenten zur Verfügung stehen, deren Denk- und

Handlungsfähigkeit jedoch durch den weiteren Ausbau der Rechenkapazitäten permanent weiter

zunehmen.

- KIs als Roboter oder als körperlose Netz-KIs: anders als biologische intelligente Systeme

sind KIs zwar auf Rechenleistung in einem Computer, jedoch weder auf einen materiellen Kör-

per noch auf ein virtuell-visuelles Erscheinungsbild angewiesen. In der SF treten KIs in Robo-

terkörpern, aber auch virtuell im Cyberspace körperlos, ggf. auch in einer virtuellen Visualisie-

rung von Roboterkörper in Erscheinung. In Williams‘ Otherland existiert u.a. auch eine KI, die

überall gleichzeitig sein kann, da sie, anders als Menschen, die Welt um sie herum aus vielen

Perspektiven gleichzeitig wahrnimmt (vgl. Stellenprotokoll Otherland 1, S. 232; 398-399; 323-

325; 137-139; vgl. Stellenprotokoll „Otherland 2“, S. 323-325; vgl. Stellenprotokoll „Otherland

3“, S. 137-139; vgl. Stellenprotokoll „Snow Crash“, S. 128; vgl. Stellenprotokoll „I, Robot“,

Min. 47; vgl. Stellenprotokoll „Biochips“, S. 233; vgl. Stellenprotokoll „Mona Lisa Over-

drive“, S. 12; 146-148; 253-254).

- Nicht-Unterscheidbarkeit von Menschen und KIs: Auf dem derzeitigen Entwicklungsstand

der Technik sind Roboter noch leicht von Menschen zu unterscheiden, weil ihr Äußeres von

künstlichen Materialien und eindeutig nicht-menschlichen Formen gekennzeichnet ist. Diese

Grenze verschwindet jedoch immer mehr bei Netz-KIs: Chat-Roboter sind derzeit schon in der

Lage, je nach Gesprächsverlauf, über eine kürzere oder längere Zeit den Eindruck aufrecht zu

erhalten, es handele sich beim Gesprächspartner um ein menschliches Gegenüber (vgl. Röttgers

2001). Auch Avatare in VR-Umgebungen können relativ einfach einen echten Menschen simu-

lieren, ohne dass dies offensichtlich wird. Hieraus kann Zuneigung zu Robotern entstehen,

denkbar ist jedoch auch Abneigung, weil Menschen über ihr Gegenüber Bescheid wissen wol-

len (vgl. Stellenprotokoll „Otherland 1“, S. 80-81; vgl. Stellenprotokoll „I, Robot“, Min. 24;

vgl. Stellenprotokoll Welt am Draht, Teil 1, Min. 12; 30; Teil 2, Min. 6).

Aus diesen beiden Punkten wurde das 2. Statement formuliert:

Künstliche Intelligenzen werden dem Menschen sowohl als Netz-KIs, die auf den Cyberspace

beschränkt sind, als auch in Form von Robotern gegenübertreten. Interaktion zwischen Men-

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schen und KIs wird zum Normalfall, gerade im Cyberspace ist es mitunter schwer zu unterschei-

den, welcher Gattung - Mensch oder KI - ein Akteur angehört.

Das 3. Statement folgt konsequent der Idee der stetigen Weiterentwicklung und Zunahme von

Intelligenz, die in einer Super-KI münden. Viele der beschriebenen Punkte basieren auf Moravec

(1990 und 1999), die Idee der Super-KI findet sich jedoch auch in anderen Werken.

- Intelligente Supercomputer zur Planung und Koordination: Beispielsweise könnte ein zent-

raler Supercomputer die „Handlungen“ vieler weniger intelligenter Roboter oder allgemein KIs

koordinieren, wenn diese über eine Funkverbindung mit dem Zentralrechner verbunden sind.

Im Zentralrechner wäre dann jedoch sehr viel Macht gebündelt, was das Missbrauchspotential

enorm erhöht, in „I, Robot“ versucht der Supercomputer VIKI, eine Diktatur zu errichten (vgl.

Stellenprotokoll Computer übernehmen die Macht, S. 194; vgl. Stellenprotokoll „I, Robot“,

Min. 1:19).

- Maschinen reproduzieren sich eigenständig: Ist eine gewisse Stufe der künstlichen Intelli-

genz erreicht, so werden Maschinen in der Lage sein, sich selbst zu reparieren und zu reprodu-

zieren und auch neue Maschinengenerationen eigenständig zu entwickeln. Menschliches Ein-

greifen ist dann nicht mehr erforderlich. Sind die Maschinen intelligenter als Menschen und

steigt die Rechenleistung weiter an, so wird dies in einer noch schnelleren Weiterentwicklung

münden (vgl. Stellenprotokoll Computer übernehmen die Macht, S. 25; 194; vgl. Stellenproto-

koll „I, Robot“, Min. 23).

- Maschinen werden übermenschlich: Die Entwicklung von KIs wird in Maschinen resultie-

ren, die intelligenter sind als der Mensch und die keinerlei menschlicher Hilfe mehr bedürfen.

Die Evolution wird auf die nächste Stufe gehoben sein (vgl. Stellenprotokoll Mind Children, S.

140; 143; vgl. Stellenprotokoll Computer übernehmen die Macht, S. 46; 168; 194; vgl. Stellen-

protokoll Neuromancer, S. 329).

3. Statement:

Zu Beginn der wachsenden Ausbreitung der KIs werden diese nur in einem sehr eingeschränkten

Rahmen „intelligent“ sein und bisweilen noch sehr einfach anmuten. Im Verhältnis zur menschli-

chen Intelligenz werden KIs jedoch aufholen, später auf einer Ebene stehen und schließlich den

Menschen gar überholen und überflügeln. Die durch Menschenhand geschaffenen Maschinen

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werden ihre Schöpfer an der Spitze der Evolution ablösen. Der Mensch wird die Evolution dann

auf eine neue postbiologische Ebene gehoben haben.

4.3 Cybertechnologie und technologische Entwicklung. Bestandsaufnahme des ge-

genwärtigen Forschungsstandes

Im bisherigen Verlauf des Kapitels wurde der Prozess der Auswertung von SF beschrieben, wei-

terhin wurde dargelegt, welche SF-Ideen Einzug in die Statements hielten. Dabei brachte die

Auswertung der SF erwartungsgemäß eine Vielzahl von Cybertechnologien und Anwendungs-

möglichkeiten zutage. An dieser Stelle soll nun eine Untersuchung zum derzeitigen Forschungs-

stand erfolgen. Die Recherche hierfür wurde parallel zur Auswertung der SF durchgeführt, um

etwaige Konflikte mit dem derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Forschung aufzudecken und

somit eine Plausibilisierung der Thesen vorzunehmen. Gleichzeitig dient der technologische

Überblick der Einschätzung der zeitlichen Bezüge der SF-Ideen in Relation zur Gegenwart: in

welchem zeitlichen Rahmen erscheint eine Realisierung der SF-Ideen als wahrscheinlich? Man-

cherorts resultierte die Recherche auch im Auffinden von Ideen, welche nicht in der untersuchten

SF besprochen wurden. Mit einer quantitativen Ausweitung der SF-Recherche - die Ressourcen

im Rahmen dieser Arbeit waren leider begrenzt - ließe sich jedoch in den meisten Fällen SF-Li-

teratur und -Medienprodukte auffinden, in der auch diese Technologien und ihre Anwendung

thematisiert wird. Dies gilt beispielsweise für das Konzept hinter dem Stichwort „ubiquitous

computing“, dem Zugriff eines Nutzers auf viele, kabellos miteinander verbundene Computer,

die quasi unsichtbar in der Umgebung des Nutzers zur Steuerung von Alltagstechnologie plat-

ziert sind (vgl. Weiss/Craiger)47. Andere Konzepte wie „wearable computing“, d.h. als Teil der

Kleidung tragbare Computer und „tangible computing“ - materielle Gegenstände werden zur

Steuerung des Computers benutzt (vgl. Hornecker 2004) - finden ihre Entsprechung in der SF,

vor allem in den Romanen „Daemon“ und „Darknet“ von Daniel Suarez, werden dort aber be-

grifflich nicht benannt.

Im folgenden werden nun die Ergebnisse der Recherche über den Forschungsstand, bezogen auf

die drei Themengebiete der Expertenbefragung, Prothetik und Cyborgisierung (Kap. 4.3.1), Vir-

tualität und Phantomatik (Kap. 4.3.2) und Künstliche Intelligenz (Kap. 4.3.3), dargelegt. Der

Florian Kraftschik [email protected]

60

47 Ähnlichkeit mit dem „ubiquitous computing“ hat das „Internet der Dinge“: „Das Internet der Dinge steht für eine Vision, in der das Internet in die reale Welt hinein verlängert wird und viele Alltagsgegenstände ein Teil des Inter-nets werden. Dinge können dadurch mit Informationen versehen werden oder als physische Zugangspunkte zu In-ternetservices dienen, womit sich weitreichende und bis dato ungeahnte Möglichkeiten auftun“ (Mattern/Flörkemei-er 2010: 107).

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Mensch befindet sich, bezogen auf Ersteres, in einem Transformationsprozess zum Cyborg; die

Miniaturisierung von Computern und die weitere Mediatisierung und Technisierung des Alltags

wird vorangetrieben, Neuro- und Human-Enhancement sind im Aufschwung begriffen. Auf dem

zweiten Gebiet ist mit Bestrebungen zu Rechnen, die Immersionstiefe in VR-Umgebungen zu

erhöhen; die Realisierung einer massenmarkttauglichen technischen Lösung zur zentralen Phan-

tomatik sieht sich jedoch mit technologischen Hürden konfrontiert, mit deren Lösung erst in

mittlerer oder längerer Frist (ca. 20-50 Jahre) zu rechnen ist, Lösungen zur peripheren Phanto-

matik sind früher zu erwarten. Auf dem dritten Gebiet, der KI, ist davon auszugehen, dass es in

nächster Zukunft zu vielen Neuerungen kommen wird und dass KI-Agenten Einzug in viele Be-

reiche der Alltagswelt erlangen werden, dass ihre Leistung außerdem stetig steigen wird.

4.3.1 Prothetik und Cyborgisierung

„SKIN HAS BECOME INADEQUATE IN INTERFACING WITH REALITY. TECHNOLOGY HAS BECOME THE BODY´S NEW MEMBRANE OF EXISTENCE.“ (Stelarc 1996: 430)

Die Möglichkeiten, die die moderne Medizin auf dem Bereich der Prothetik bietet, sind immens.

Bereits in der Gegenwart kann eine Vielzahl der menschlichen Organe durch künstliche Nach-

bauten ersetzt werden und ihre Anzahl steigt stetig weiter.

„Künstliche Füße stehen dem natürlichen Vorbild zum Beispiel nicht mehr nach - man spricht sogar schon von „Techno-Doping“, weil die Ersatzteile aus dem Labor zumindest das Potential haben, bes-sere Leistungen zu ermöglichen, als die von der Natur geschaffenen Originale.“ (Gräbner 2012: 7)

Bestehende Technologien werden außerdem stetig weiter verbessert, so dass ihre Haltbarkeit

ebenso zunimmt, wie auch ihre Funktionalität immer näher an das Original heranreicht, die Er-

satzteile in einigen Fällen sogar besser funktionieren als die biologischen menschlichen

Körperteile.48 Gräbner (2012) stellt eine Liste von 19 Körperteilen auf, die derzeit schon den Sta-

tus der Marktreife erlangt haben oder sich in der Entwicklungsphase befinden (vgl. ebd.: 8f).

Nach dieser Auflistung ist z.B. das Einsetzen einer künstlichen Augenlinse, einer Beinprothese

oder eines Herzschrittmachers bereits Routine, das Cochlea-Implantat und die hoch entwickelte

Fußprothese sind immerhin marktreif und an der Realisierung des Netzhautchips und des künst-

lichen Gleichgewichtsorgans wird intensiv geforscht, so dass auch diese Technologien innerhalb

der nächsten Jahre Marktreife erlangen könnten. Simm (2011) beschreibt außerdem von Erfolgen

Florian Kraftschik [email protected]

61

48 Beispielsweise wurden dem südafrikanischen Sprinter Oscar Pistorius zwei Beinprothesen implantiert, die ihn befähigen, auf der 400m-Distanz Leistungen zu erzielen, die nahe an den Weltrekord reichen. Pistorius sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, durch die technische Modifikation seines Körpers hätte er sich einen unfairen Vorteil gegenüber seinen Konkurrenten verschafft (vgl. Simm 2011).

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im Bereich der Gehirn-Computer-Schnittstelle, im Experiment konnten Affen und Menschen

über BCIs einen Roboterarm steuern, bei Parkinson- oder Epilepsiepatienten kann die Technolo-

gie der Tiefenhirnstimulation zur Linderung von Beschwerden eingesetzt werden. Diese Manipu-

lation des Gehirns führt jedoch bei ca. zwei Dritteln der Patientinnen und Patienten zu teilweise

starken Nebenwirkungen. Erfolglos blieben aber bisher die Bestrebungen, künstliche sensorische

Haut zu entwickeln, eine Lunge nachzubilden, Entgiftungsorgane (Leber, Niere) nachzuahmen

und das menschliche Gehirn zu synthetisieren (vgl. Gräbner 2012: 7). Doch alle der hier darge-

stellten Technologien wurden in erster Linie dazu entwickelt, durch Verletzungen und Unfälle

erlittene Verluste von Körperteilen und Körperfunktionen wieder herzustellen, bzw. auch ange-

borene Defekte zu beheben. Gräbner ist sich jedoch sicher, dass die Betroffenen, hätten sie die

Wahl, natürliche (Original-)Teile den künstlichen Prothesen vorziehen würden (vgl. ebd.). Neben

Abstoßungs- und Infektionsrisiken bei der Implantation basiert Gräbners Einschätzung implizit

auf dem Grundsatz der ,Unversehrtheit des Körpers‘, weiter kann sie als Hinweis darauf gewer-

tet werden, dass freiwillige invasive Körperprothesen und -erweiterungen in der nahen Zukunft

eine äußerst geringe bis gar keine Rolle für das Human Enhancement haben werden.49

Für die Körpermodifikation zur Erweiterung der menschlichen Wahrnehmung um virtuelle Ebe-

nen (Augmented Reality oder Mixed Reality) spielen somit vor allem nicht-invasive Technolo-

gien eine Schlüsselrolle. Smartphones sind unter den Mobilfunknutzern heute schon weit ver-

breitet, durch ihre ständige Verbindung zu mobilen Datennetzwerken bieten sie ihren Nutzern die

Möglichkeit, jederzeit auf eine schier unendliche Fülle von Daten zuzugreifen. Gekoppelt mit

ortsbezogenen Daten, die ein GPS-Empfänger im Gerät bei Bedarf liefert, sind die Geräte in der

Lage, Informationen über die direkte Umgebung des Nutzers aus der Datenflut herauszufiltern

und seine Weltwahrnehmung um diese virtuellen Informationen anzureichern.50 Spezielle Soft-

ware und eine Kamera im Smartphone ermöglicht es dem Nutzer, die virtuellen Informationen

optisch in die Umgebung zu integrieren: auf dem Display des Gerätes wird in Echtzeit abgebil-

Florian Kraftschik [email protected]

62

49 Diese Einschätzung teilte auch ein Großteil der im Rahmen dieser Studie befragten Experten (vgl. Kap. 4.4).50 Clark (2003) beschreibt den Ansatz von AR und die neue Bedeutung des Interfaces: „Another area in which the notion of the interface is being reinvented is in work on Augmented Reality. In this work, the interface is nothing more than your own view of the world as you look around, but hte view is augmented using some kind of heads-up or eyeglass style display system. The display might use video systems to mix computer graphics and input from cameras aimed at the scene before you, or tage direct optical input and overlay it with computer graphics. The idea, in each case, ist to overlay our experience of the physical world with layers of personalized digital information. This kind of work uses many of the same techniques and technologies as work on Virtual Reality and Wearable Compu-ting. But instead of trying, as with standard Virtual Reality approaches, to re-create a simulacrum of the real physi-cal world entirely inside some computer-generated realm, the goal of Augmented Reality is to add digital informati-on to the everyday scene. Think of it as a kind of digital annotation and enhancement regime, with the specific anno-tations and enhancements being tailored to the needs and desires of different users passing through the (real-world) scene.“ (ebd.: 51f)

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det, was sich vor der Kamera befindet und die Umgebungsdaten werden graphisch in dieses Bild

eingebettet. Verändert der Nutzer den Blickwinkel der Kamera, so reagiert das Programm auf die

Bewegung ebenfalls mit einer Korrektur der Position der virtuellen Informationen auf dem Bild-

schirm; der Nutzer nimmt fortan eine Welt wahr, in der Materielles mit Virtuellem gekoppelt ist.

Derzeit muss der Nutzer sein Smartphone noch in der Hand halten und mit den Fingern bedie-

nen, für die nahe Zukunft kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Miniaturisierung der

Technik weiter voranschreitet und sich der Trend zum „weareable computer“ weiter fortsetzen

wird. Einen Hinweis auf die Fortsetzung dieser Entwicklung lieferte der Internet-Konzern

Google jüngst mit der Veröffentlichung eines Videos, in dem der Blick eines Nutzers durch eine

AR-Brille bei einem Gang durch eine Stadt in der Ich-Perspektive gezeigt wird (vgl. Kuri

2012).51 Die Wahrnehmung des Nutzers wird dabei um virtuelle Ebenen erweitert; denkbar ist

ebenfalls, dass die Technik künftig in der Lage sein wird, als Signalverstärker für Umgebungs-

reize zu fungieren und die Wahrnehmung damit vorselektiert.

Ein anderer Ansatz, die menschliche Wahrnehmung zu verbessern, Lernprozesse zu beschleuni-

gen und kognitive Fähigkeiten des Gehirns zu steigern, betrifft die chemisch-technische Verände-

rung des Gehirns. Unter dem Stichwort Neuro-Enhancement werden in der Fachpresse und im

öffentlichen Mediendiskurs die Chancen, auch die Nebenwirkungen und Risiken des Einsatzes

von Psychopharmaka zur Leistungssteigerung, zum „Hirn-Doping“ diskutiert.52 Schleim und

Walter (2007) stellen die Ergebnisse verschiedener Studien zu Wirkungen und Nebenwirkungen

von Substanzen zur mutmaßlichen Verbesserung der Gehirnleistung dar, potentiell wird diese

Wirkung dem Anti-Depressivum Prozac, Methylphenidat (bekannt als Ritalin zur Behandlung

des Krankheitsbildes ADHS) und Modafinil (zur Behandlung von Narkolepsie) zugeschrieben

(vgl. ebd.: 83). Die Befunde zur Wirksamkeit stellen sich dabei in den Studien als kontrovers dar

- neben teilweiser Verbesserung der Leistung der Probandinnen und Probanden wurden ander-

norts auch Verschlechterungen sowie Nebenwirkungen beobachtet - diskutiert werden vor allem

auch die ethischen Fragen des Neuro-Enhancement.53 Pharmazeutische Produkte werden also zur

Leistungssteigerung schon in einigen Bereichen der Gesellschaft eingesetzt54, wenngleich auch

Florian Kraftschik [email protected]

63

51 Ein anderes Anwendungsbeispiel für den Gebrauch einer AR-Brille stellt der Autohersteller BMW vor. In einem Video wird dargestellt, wie ein Mechaniker die AR-Brille trägt, um Reparaturanleitungen direkt auf den Motorraum des defekten Autos projiziert zu bekommen. (vgl. http://www.bmw.com/com/en/owners/service/augmented_reality_introduction_1.html).52 Zu einer detaillierten Beschreibung von Anwendungsbereichen stimulierender Psychopharmaka vgl. Talbot (2009).53 Für eine detaillierte Darstellung ethischer Probleme bei der Nutzung von Neuro-Enhancern vgl. Schleim (2008) und Schleim (2008a).54 Auch illegale Drogen wie Kokain oder Amphetamine sind weit verbreitet, Auf dem Hövel (2012) beschreibt eine stetige Steigerung der Nachfrage nach leistungssteigernden Drogen (vgl. ebd.: 60).

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ihre Wirkungen und Nebenwirkungen, betreffend vor allem die Langzeitanwendung, noch nicht

ausreichend erforscht sind. Derzeitig verfügbare Substanzen sind außerdem weit davon entfernt,

eine dauerhafte Steigerung der Intelligenz zu bewirken, vielmehr erhöhen sie die Aufmerksam-

keit und halten die Konsumentinnen und Konsumenten länger wach (vgl. Schleim/Walter 2007:

83). Allerdings ist davon auszugehen, dass Pharma-Unternehmen weitere Medikamente zur Leis-

tungssteigerung entwickeln und die Nebenwirkungen bestehender Medikamente in Zukunft re-

duzieren werden. Dies gilt entsprechend auch für den verschreibungsfreien Markt von Vitamin-

tabletten, Energydrinks etc..

Aus den besprochenen Technologien zur Wiederherstellung und Verbesserung des Körpers, sei-

ner Wahrnehmung und der Leistungssteigerung des Gehirns wird ersichtlich, dass die Cyborgi-

sierung des Menschen schon weit fortgeschritten ist, außerdem ist zu erwarten, dass sich dieser

Prozess unaufhaltsam fortsetzen wird. Dieser Prozess wird von der Medizin, der Biologie (der

Mensch als Biofakt), der Neurologie und von vielen anderen Disziplinen vorangetrieben.55 Die

Nutzung invasiver Technologien wird sich dabei hauptsächlich auf medizinische Notwendigkei-

ten beschränken, Ansätze für Technologie zur Nutzung der AR stützen sich vor allem auf tragba-

re Computer und kleine, praxistaugliche Interfaces.

4.3.2 Virtualität und Phantomatik

Gibson (2001) beschreibt das Erlebnis der VR des Cyberspace als das Eintauchen in eine virtuel-

le Welt, Virtualität erlebt jedoch auch jeder Computernutzer bei einer alltäglichen Nutzung her-

kömmlicher Computer, die mit einem Bildschirm ausgestattet sind. Obwohl beide Technologien

Virtuelles darstellen, handelt es sich dabei offensichtlich um unterschiedliche Qualitäten des Er-

lebens von Virtualität. Zum Zweck der Einordnung und Kategorisierung dieser grundsätzlich

verschiedenen Phänomene wird nun Bühls (1997) Virtualisierungs-Modell, das auf Lems (1976)

Überlegungen zur Phantomatik basiert, dargestellt und erläutert. Es ist davon auszugehen, dass

die technische Realisierung der vollen Immersion als Massenanwendung keine Frage von Jahren,

sondern eher von Jahrzehnten sein wird.

Noch vor der Erfindung des Computers, wie er heute in beinahe jedem Haushalt in den reichen

westlichen Industrienationen zu finden ist, entwickelte Stanislaw Lem (1976) in seiner Summa

Florian Kraftschik [email protected]

64

55 Alle Ansätze adäquat zu beschreiben, ist im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten. Für einen Überblick über die Ansätze der verschiedenen Disziplinen siehe Rötzer und Rink (2012).

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Technologiae die Idee der vollen Immersion unter der Bezeichnung Phantomatik56. Seine

Überlegungen zur Technik, aber auch zu den psychischen Auswirkungen dieser „Wirklichkeits-

maschinen“ haben seither kaum an Aktualität eingebüßt, allerdings erscheint die Verwirklichung

Lems‘ Ideen durch große Fortschritte in der Computertechnologie seit dem Erscheinen der

Summa Technologiae 1963 in einigen Teilbereichen in greifbare Nähe gerückt zu sein.

Lem beschreibt seine Vorüberlegungen zum Konzept der Phantomatik und spielt auf ihre Aus-

wirkungen an:

„Ist es möglich, eine künstliche Realität zu schaffen, die der natürlichen vollkommen ähnlich ist, sich jedoch von ihr in keiner Weise unterscheiden läßt? Die erste Frage betrifft die Erzeugung von Welten, die zweite die von Illusionen. Allerdings von perfekten Illusionen. Übrigens weiß ich nicht, ob man sie lediglich als Illusionen bezeichnen kann.“ (Lem 1996: 152)

Bühl (1997) greift Lems theoretische Vorarbeit über die Phantomatik auf und übernimmt sie für

sein Konzept größtenteils, jedoch fügt er zusätzlich noch vor-phantomatische Erfahrungen hinzu

(vgl. Abb. 5).57

Abb. 5: Phantomatik nach Bühl und Lem, eigene Darstellung, angelehnt an Bühl (1997: 48).

Die erste Stufe der Phantomatik im vierstufigen Modell nach Bühl (Lem (1996) selbst beschreibt

nur die Periphere und die Zentrale Phantomatik, vgl. ebd.: 170ff) ist die Stufe der Prävirtuellen

Welten. Bühl versteht darunter die „vielfältige computervermittelte kommunikative Beziehungen

Florian Kraftschik [email protected]

65

56 Die Angaben zu Lems Phantomatik beziehen sich in dieser Arbeit auf die 1996 von Lem veröffentlichte Text-sammlung „Die Entdeckung der Virtualität“.57 Indem Bühl in seinem Virtualisierungs-Modell Zwischenstufen zwischen der physisch-materiellen Realität und der Virtuellen Realität beschreibt, entspricht sein Modell in diesem Vorhaben des Modell des „virtuality continuum“ von Milgram und Kishino (1994). Ihr Modell dient dem Vorhaben, den Charakter von Augmented Reality als Vermi-schung des Physisch-Realen mit dem Virtuellen darzustellen.

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zwischen den Menschen“ (Bühl 1997: 48). Der Mensch hält sich auf dieser Stufe mit seinem

Bewusstsein in der physisch-realen Welt auf, die zwischenmenschliche Kommunikation erfährt

jedoch eine teilweise Verlagerung in den virtuellen Raum. Die Unterscheidung zwischen der Vir-

tualität und physischer Realität ist jederzeit und ohne weiteres möglich. Die Virtuelle Realität ist

die zweite Stufe des Bühl´schen Modells, auch auf dieser Stufe ist die physische Realität jeder-

zeit von der virtuellen zu unterscheiden, da kein Eintauchen (Immersion) in die Computerwelt

erfolgt. Allerdings steigt auf dieser Stufe die Qualität der bildhaften Darstellung des virtuellen

Raums, so dass seine Darstellung „nur noch schwer vom realen Raum zu unterscheiden ist“

(ebd.: 48). Diese Stufe der Virtualität findet ihre Entsprechung beispielsweise in Computerspie-

len mit einer detailgetreuen und realistischen Darstellung, die den Spieler aber dennoch nie ver-

gessen lassen, dass er in Wirklichkeit nicht in der virtuellen Welt ist. Er merkt dies beispielswei-

se daran, dass die Grenze des Bildschirms oder anderer Ausgabegeräte gleichzeitig die Grenze

dieser virtuell erzeugten Wirklichkeit ist, er steuert den Computer außerdem manuell über Ein-

gabegeräte wie Tastatur und Computermaus. Dies unterscheidet die Virtuelle Realität (ohne volle

Immersion) von der Peripheren Phantomatik. Lem (1996) beschreibt diese als die „mittelbare[...]

Einwirkung auf das Gehirn“ (ebd.: 173) durch die externe Stimulierung der Sinnesrezeptoren des

menschlichen Körpers. Ob ein Bild, das auf das menschliche Auge fällt, von einem perfekten

Computerdisplay - Lem (1996) beschreibt zu diesem Zweck sein Konzept des Gegenauges, ver-

gleichbar mit Head-Mounted-Displays (vgl. ebd.: 154) - stammt, welches den gesamten Blick-

winkel des Auges abdeckt, oder ob es der physisch-materiellen Welt entstammt, ist nicht zu un-

terscheiden, ebenso, ob zum Beispiel Wind durch Druck- und Temperaturreize simuliert wird

oder ob der Körper tatsächlichem Wind ausgesetzt ist. So beschreibt beispielsweise Wiener

(1969) seine Fiktion des Bioadapter als Simulationsanzug, der leisten soll, was Lem unter dem

Begriff der Peripheren Phantomatik fasst.58 Der Bioadapter ermöglicht die externe Stimulation

von Sinnesreizen über einen Anzug, der taktile, optische, akustische, thermische, haptische etc.

Reize an den Körper überträgt. Allerdings stellt Lem (1998) fest, dass es Sinne gibt, „die nicht

direkt ”nach außen“ ausgerichtet sind, sondern die das Gehirn darüber informieren, in welchem

Zustand sich der Körper selbst befindet“ (ebd.), wie z.B. den Gleichgewichtssinn. Dieser kann

z.B. nicht von außen manipuliert werden, woran der Realitätseindruck der VR leidet. Flusser

(1993) hebt heraus, dass der Realitätsgehalt einer so erzeugten virtuellen Wirklichkeit von der

Qualität bzw. „Konkretizität“ der Simulation bestimmt wird:

Florian Kraftschik [email protected]

66

58 Der Bioadapter frisst den Menschen jedoch im Laufe der Zeit soweit auf, dass er mit dem zentralen Nervensystem des Menschen verschmilzt, dann handelt es sich um die zentrale Phantomatik. Zu Wieners Bioadapter siehe Wiener 1969: CLXXVff.

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„Wir stellen uns virtuelle Räume vor, in denen wir Duplikate der von uns durch unsere Sinne erfahr-baren Welt wahrnehmen können. Wir simulieren diese Welt, und wir simulieren sie noch dazu misera-bel - trotz Handschuhen und Helmen bekommen wir nie die gesamte Konkretizität, die wir durch das uns durch genetische Information weitergegebene Zentralnervensystem erreichen. Vielleicht werden wir später Methoden finden, die genauso gut die Reize komputieren wie unser Zentralnervensystem. Dann werden wir diesen Tisch von einem Hologramm dieses Tisches nicht mehr unterscheiden kön-nen und dann wird es - pace Baudrillard - keinen Sinn mehr haben, von einem Original und einem Simulakrum zu sprechen. Vielleicht werden wir auch einmal in der Lage sein, besser als unser Zen-tralnervensystem komputieren zu können. Dann wird das Hologramm das Original und dieser Tisch die Simulation sein“ (Flusser 1993: 70)

In diesem Zitat spricht Flusser das Problem der Unterscheidung zwischen Original und Simulati-

on an. Letztlich führt diese Problematik zur Diskussion, welche dieser konkurrierenden - oder

sich ergänzenden - Realitäten ,wirklich‘ ist. Diese Diskussion wird im Kap. 5.3 aufgegriffen.

Weil die externe Stimulation der menschlichen Sinne aufgrund der angedeuteten Probleme mög-

licherweise nicht zu einem vollen Realitätseindruck führt, beschreibt Lem sein Konzept der Zen-

tralen Phantomatik auf der Basis direkter Stimulation des Gehirns. Die Welt der VR wird somit

ohne den Umweg über die Sinnesrezeptoren des menschlichen Körpers direkt in die entspre-

chenden Gehirnregionen eingespeist. Der Analyse Bühls (1997): „[i]n der zentralen Phantomatik

verschmelzen realer und virtueller Raum für den Wahrnehmungsapparat des Subjektes zu einer

unauflöslichen Einheit“ (ebd.: 49), muss widersprochen werden. Wenn zwei Gegenstände mitei-

nander verschmelzen, so sind sie beide immer noch gleichzeitig vorhanden, was aber beim Ein-

gleiten in die virtuelle Realität, in die Simulation, nicht der Fall ist. M.E. verschmelzen die bei-

den Realitätsebenen bei der Zentralen Phantomatik nicht miteinander, sondern die virtuelle Rea-

lität löst die physisch-materielle vollkommen ab. Bei AR-Technologie kann von einer Vers-

chmelzung59 physisch-realer Ebenen mit virtuellen gesprochen werden, das bidirektionale Brain-

Computer-Interface (BCI) ist jedoch die totale Schnittstelle. Befindet sich der Mensch in einer

simulierten Realität, so wird sie, entsprechende Darstellungsqualität vorausgesetzt, zu seiner

neuen und somit für den Moment einzigen Realität, in der kein Hinweis auf die Existenz einer

physisch-materiellen Realitätsebene besteht. Wenn die körperlichen Sinnesreize durch die direkte

Stimulation der Nerven abgelöst werden, ist ein Computer in der Lage, alle Wahrnehmungen zu

simulieren, dies „könnte zum Verlust des Vermögens führen, Bilder als Bilder zu dechiffrieren“

(ebd.: 56); d.h. die Simulation ist für dem Menschen nicht mehr als Simulation zu erkennen.

Die Idee der zentralen Phantomatik ist in der SF weit verbreitet, der Anschluss des Computers an

das Gehirn funktioniert beispielsweise in Gibsons Neuromancer über sog. „E-Troden“ oder in

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67

59 In Bühls (1996) Virtualisierungsmodell lässt sich AR zwischen prävirtuellen Welten und Virtual Reality ohne Im-mersion einordnen, sie lässt sich als vor-phantomatische Technik bezeichnen, weil virtuelle Ebenen sich auf die E-bene der physischen Realität beziehen und die „Wirklichkeit der Alltagswelt“ (Berger/Luckmann 2009: 26) zu kei-ner Zeit in Frage gestellt wird.

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Matrix über einen Neuro-Steckadapter (vgl. Abb. 3) in der Wirbelsäule. Keines dieser oder ähn-

licher Konzepte konnte jedoch von den Neurowissenschaften oder der Gehirnforschung bisher

auch nur ansatzweise realisiert werden. Ein technischer invasiver Eingriff ins Gehirn, der bei

Parkinson-Patientinnen und -Patienten schon praktiziert wird, ist die Tiefenhirnstimulation (vgl.

Becker 2012: 49). Obwohl sie den Patienten teilweise eine Linderung der Symptome (verbunden

mit dem Risiko von Nebenwirkungen) verschafft, ist ihre Wirkungsweise im Gehirn vollkommen

unklar (vgl. ebd.: 50).60 Für Patientinnen und Patienten, die unter dem Locked-in-Syndrom61 lei-

den, wird an einem nicht-invasiven BCI geforscht, das von den Betroffenen zur Steuerung eines

Computers genutzt werden soll. Diese Technologie ist jedoch auf die Ausgabe von Impulsen aus

dem Gehirn hin zum Computer beschränkt. Sensoren messen elektrische Spannungen im Gehirn,

die dann von einer Computersoftware interpretiert und zu Steuerungssignalen verwandelt werden

(vgl. Stegemann 2012: 53). Die Steuerungsbefehle, die auf diese Weise produziert werden kön-

nen, reichen aber derzeit lediglich für einfache Anwendungen aus. Beispielsweise beherrschen

die Geräte die Befehle „rechts, links“, auch die Steuerung eines Cursors auf dem Bildschirm

konnte realisiert werden. Dennoch interessiert sich sowohl die Unterhaltungsindustrie als auch

das Militär für die Entwicklung eines BCI (vgl. ebd.: 54). Ebenfalls gelang die Rekonstruktion

von Bildern mittels der Messung von Gehirnströmen, so dass die Forscher gar in der Lage wa-

ren, Buchstaben zu erkennen.62 Die Entwicklung des BCI wird stetig vorangetrieben, allerdings

funktioniert sie nur in eine Richtung: in begrenztem Umfang können Hirnströme ausgelesen und

zu Steuerungsbefehlen oder zur Rekonstruktion von Bildern verarbeitet werden. Das Einspielen

von Reizen in das menschliche Gehirn konnte noch nicht realisiert werden, hierzu fehlen ele-

mentare Kenntnisse über die Funktionsweise des menschlichen Denkorgans.

Die derzeitig für den Massenmarkt verfügbare Technik beschränkt mögliche Anwendungen auf

den vor-phantomatischen Bereich. Am weitesten verbreitet ist die Nutzung des Personal Compu-

ters für Büroanwendungen, wie Textverarbeitung, Tabellenkalkulation etc., Internet, wie Surfen

im WWW, Up- und Download von Inhalten, Web 2.0, Social Networks etc., und Kommunikati-

on, wie Chat, Voice-over-IP etc.; dies kann, angelehnt an Bühl (1997), unter das Stichwort Medi-

atisierung gefasst werden. Games fallen unter die Kategorie Virtual Reality ohne (volle) Immer-

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68

60 Derzeit findet auch eine Diskussion der ethischen Fragen von invasiven BCI-Verfahren statt. Thematisiert werden die Auswirkungen auf die psychologische Identität des Menschen, mögliche Veränderungen anderer Gehirnfunktio-nen durch das Erlernen der Steuerungsbefehle, Verantwortungsfragen bei Fehlfunktionen, Missbrauchspotential bei kabelloser Datenübertragung bis hin zur Frage, wie viel Technisierung der Mensch vertrage (vgl. Clausen 2006: 27-31).61 Beim Locked-in-Syndrom ist der Patient bei vollem Bewusstsein, sein Körper ist jedoch vollkommen gelähmt, er kann sich weder bewegen noch mitteilen. 62 Für eine Übersicht über das „Gedankenlesen“ mittels MRT-Scan vgl. Haynes (2011).

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sion, dabei werden Spiele in erhöhtem Maße online gespielt.63 Eine deutliche Steigerung des

Immersionsgrades ist für den Massenmarkt derzeit nicht abzusehen, auch wenn hinter immer

größeren Displays, 3D-Fernsehern, Datenbrillen64 und verbesserten Audio-Systemen derlei Be-

strebungen vermutet werden können. Es ist davon auszugehen, dass die Herstellerfirmen im En-

tertainment-Bereich und ebenso das Militär an entsprechenden Lösungen arbeiten, die nicht zu

groß, technisch ausgereift und nicht zu teuer für den Massenmarkt sind.65 Für die periphere

Phantomatik durch Ganzkörperanzüge für die Übertragung taktiler und thermischer Reize etc.

bestehen derzeit deutlich bessere Realisierungschancen als für die Realisierung des BCI zur zent-

ralen Phantomatik.

4.3.3 Künstliche Intelligenz

KIs sind ein Thema der SF, virtuelle Agenten werden auch immer häufiger in Alltagsanwendun-

gen implementiert. Im Folgenden wird nun dargestellt, wie der derzeitige Forschungsstand auf

dem Gebiet der KI-Forschung ist, dazu wird unterschieden zwischen den Ansätzen der ,harten‘

und der ,weichen‘ KI. Dabei wird aufgezeigt, dass die problemlösungsorientierten Ansätze der

,weichen‘ KI in der nächsten Zukunft in vielen menschlichen Lebensbereichen Anwendung fin-

den werden, während eine Simulation des menschlichen Gehirns derzeit noch an grundlegenden

Problemen scheitert.

In der Science Fiction wird die Begegnung und Konfrontation des Menschen mit KI rege thema-

tisiert: Gibsons „Neuromancer“ (2001) dreht sich um den Zusammenschluss zweier KIs, in Vin-

tars und Goldsmans „I, Robot“ - frei nach Asimovs Robotergeschichten - führt die strikte An-

wendung von algorithmischer Denklogik bei intelligenten Robotern teils zu skurilen Situationen,

in Kubricks „2001: Odysee im Weltraum“ entwickelt der Bordcomputer „HAL 9000“ ein gefähr-

liches Eigenleben und scheinbar sogar bei seiner Abschaltung Emotionen („Ich hab´Angst“) und

in Williams‘ Otherland nutzt Protagonist Orlando Gardiner einen digitalen Agenten als Freund

Florian Kraftschik [email protected]

69

63 Zunächst einen großen Erfolg landete eine Softwarefirma 2003 mit der VR-Anwendung „Second Life“. Eine gro-ße Zahl von Nutzern konnten mit einem Avatar (virtueller Stellvertreter im Cyberspace) die virtuelle Welt bevöl-kern, was den Vorstellungen des Cyberspace von Gibson entspricht, jedoch in reduzierter Form und ohne Immersi-on. Wegen extremem Nutzerschwund hat die Anwendung heute jedoch keinerlei Bedeutung mehr. 64 Gemäß dem Tech-Blog Engadget arbeitet Sony an einer 3D-Datenbrille für die Spielekonsole Playstation: vgl. http://de.engadget.com/2011/07/19/sonys-vr-datenbrille-konnte-schon-bald-auf-konsumentenkopfe-komm/65 In Forschungseinrichtungen wird teilweise auf große und teure VR-Projektionen zurückgegriffen, allerdings kommen diese nicht als Anwendungen für den Massenmarkt in Frage. Vgl. beispielsweise die Internetpräsenz des Virtual Reality Lab des DFKI Robotics Innovation Center Bremen: http://robotik.dfki-bremen.de/de/forschung/testanlagen/virtual-reality-lab.html

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und Helfer und die Charaktere treten in perfekt simulierten VR-Welten mit intelligenten, simu-

lierten Bewohnern dieser Welten in Interaktion. KI tritt entweder als Freund oder Feind der

Menschheit auf, bedrohliche Szenarien spielen dabei eine ebenso große Rolle wie die Idee, dass

KI auch dem Wohl der Menschheit dienen kann. In der Hypothese der technischen Singularität

wird die Idee von KI gar bis in eine posthumane Zukunft verlängert.

Dabei ist KI jedoch nicht mehr bloß reine Science Fiction, immer mehr erhält sie Einzug in tech-

nologische Anwendungen der Gegenwart. Eine prominente Massenanwendung ist z.B. das Pro-

gramm ,Siri‘, implementiert in Apples iPhone, was gemäß obiger Definition (vgl. Kap. 2.3), als

KI gelten kann. Die Anwendung antwortet auf eine Vielzahl von Fragen und führt auch Steue-

rungsbefehle aus, ergreift jedoch keine eigene Initiative und „handelt“ insofern nicht autonom,

das Programm agiert nicht, sondern es reagiert. Auch ein weiteres Kriterium, das des Lernens,

erfüllt ,Siri‘ (vgl. Wütherich 2011). Relativ erfolgreich ist die Anwendung wohl deshalb, weil sie

erstmals verdeutlicht, in welcher Weise KI-Agenten künftig in Massenprodukten eingesetzt wer-

den könnten und auch, weil die Programmierer Wert darauf legten, alltägliche Redewendungen

und Humor in den Wortschatz der Anwendung einzupflegen (vgl. ebd.). Der Satz des Nutzers

„Erinnere mich, Viktoria anzurufen, wenn ich zuhause bin“ resultiert tatsächlich in einer audio-

visuellen Erinnerung, sobald der GPS-Sensor des Gerätes eine Übereinstimmung der Position

des Gerätes mit der gespeicherten Position für „zuhause“ feststellt. M.E. kann der Maschine ge-

mäß der zugrundeliegenden Definition durchaus Intelligenz zugesprochen werden, weil sie ihren

Nutzer analog der zu erwartenden Reaktion eines Menschen, dem die gleiche Aufgabe aufgetra-

gen worden wäre, an den Rückruf erinnerte und somit die „kybernetische Äquivalenzformel“

(D‘Avis 1994: 9, siehe FN 15) erfüllt. In der Differenz zu wirklicher sozialer Interaktion ,weiß‘

die Maschine jedoch weder, was der Nutzer meint, noch ,versteht‘ sie Äußerungen, Aufforderun-

gen oder Redewendungen im Sinne des Verstehens von subjektiv gemeintem Sinn66 (vgl. Weber

1980: 1). Die Maschine folgt hier einer algorithmischen Logik: stimmt das Muster der Analyse

der Sprachaufnahme mit einem auf dem Server gespeicherten Muster überein, dann reagiert das

Gerät in vorgegebener Weise: wenn A, dann B. Die „tatsächliche“ Intelligenz der Produkte (v.a.

Florian Kraftschik [email protected]

70

66 Für Schütz und Luckmann (2003) ist das Bestehen einer „Welt unserer gemeinsamen Erfahrung“ (ebd.: 109) eine Voraussetzung für die Herstellung der „Intersubjektivität“ (ebd.), d.h. das Verstehen des „subjektiven Sinn[s]“ (We-ber 1980: 1) des Gegenübers, was Verstehen erst ermöglicht. ,Verstehen‘ beruht somit auf der „Grundthese der Re-ziprozität der Perspektiven“ (ebd.), die jedoch wegen grundlegender Differenzen in Gestalt und Weltwahrnehmung von Menschen und Maschinen grundsätzlich als nicht erfüllt angesehen werden muss. Auch verfügt die Maschine über kein Bewusstsein, so dass ihr der Status des Subjektes nicht zugerechnet werden kann, der jedoch in diesem Zusammenhang eine wichtige Grundannahme darstellt. Für weitere Ausführungen dieser Diskussion vgl. Kap. 5.3 und 5.4.

Page 79: Kraftschik Mensch-Maschinen Wirklichkeitsmaschinen FullA · 4.2.5 Statements des Themenblock II: Virtualität und Phantomatik .....51 4.2.6 Statements des Themenblock III: Künstliche

Roboter und Software) hinkt noch weit hinter den Versprechen der Werbung67 zurück, auch fehlt

es der KI-Technologie der SF an realweltlichen Entsprechungen. Auf welchem Stand sich die

wissenschaftliche KI-Forschung derzeit befindet, soll im Folgenden betrachtet werden.

Über die Frage, was wirkliche Intelligenz ausmacht, besteht in der KI-Forschung und auch in der

Psychologie längst keine Einigkeit. Verschiedene Forschungsbereiche und -disziplinen verfolgen

unterschiedliche Ansätze, um sich dem Thema zu nähern:

„Über den Ort, die Funktionsweise und die Operationsweise der »natürlichen Intelligenz« besteht im Grunde keine Einigkeit. Neurophysiologen vermuten ihren Sitz in einem Organ, dem Gehirn, und suchen dort nach den chemo-elektrischen Verbindungen; Psychologen verorten sie in einzelnen Orga-nismen, den Individuen, und messen sie bevorzugt anhand mentaler Verhaltensweisen. Soziologen hingegen sehen Geist und Intelligenz als kollektives Phänomen an.“ (Rammert 1995: 9)

Rammert schreibt weiter: „Künstliche Intelligenz ist zunächst einmal eine Vision, die sich durch

die Geschichte des Fortschritts und der »Projektmacherei« hindurchzieht. Es ist die Vision einer

Maschine, die menschenähnliches Verhalten zeigt“ (ebd.: 10). Der Begriff der Intelligenz ist also

als ein soziales Konstrukt zu interpretieren und somit anthropozentrisch angelegt: sie ist dasjeni-

ge Verhalten, das ein Mensch als intelligent wahrnimmt, also nicht absolut, sondern individuell

im Kontext zu entscheiden. Diese Annahme hat in der KI-Forschung einen axiomatischen Cha-

rakter, sie führt jedoch dazu, dass verschiedene Disziplinen einen unterschiedlichen Zugriff auf

das Thema wählen, die sich vor allem in den zugrundeliegenden Menschenbildern unterscheiden.

Winograd und Flores sehen die KI-Forschung in den siebziger Jahren bestrebt, gleichzeitig die

„Leistungsfähigkeit von Computern [zu] steigern und dem Verstehen menschlicher Intelligenz

näher[zu]kommen.“ (1989: 211), sehen zweiteres jedoch als gescheitert an, so dass sich daraus

zwei Forschungsbereiche entwickelten: einerseits die Arbeit an praxisorientierten Systemen zur

Problemlösung, andererseits die Suche nach Erklärungen für die menschliche Denkfähigkeit

(vgl. ebd.).

In der Richtung der ,harten‘ KI wird versucht, die Funktionsweise des menschlichen Denkens

nachzubilden und dies in einer Maschine nachzubauen (vgl. Rechenberg 2000: 245). Dabei wird

unterstellt, dass sich Denkvorgänge in bloße Rechenvorgänge eines Computers übersetzen las-

sen. Dieser Ansatz gilt in vielen Disziplinen als problembehaftet, da er ein dualistisches68 Men-

schenbild impliziert, das davon ausgeht, dass es sich bei Körper und Geist um zwei Substanzen

handelt, die unabhängig voneinander existieren können.69 Rammert (1995) beschreibt das Prob-

lem der harten KI:

Florian Kraftschik [email protected]

71

67 Vgl. hierzu einige Beispiele von Winograd und Flores (1989: 210ff).68 Für eine Einführung zum Dualismus siehe Guttenplan 1994: 265.69 Das dualistische Menschenbild wird auch in der Expertenevaluation hinterfragt und kritisiert.

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„Alle relevanten Tatsachen müssen explizit beschrieben werden, und in diesem Zwang zu formaler, symbolischer Repräsentation liegt eine schwerwiegende Beschränkung bei der Darstellung des Auf-gabenumfeldes. Die formale Repräsentation muß nicht wie eine mathematische Logik aussehen, aber sie muß in dem Sinne formal sein, daß umfassend explizite Regeln, die eine syntaktisch korrekte Re-präsentation begründen, aufgestellt werden können, und sie muß in einer Form manipulierbar sein, die mit den Erfordernissen des Aufgabenfeldes übereinstimmt. In diesem Versuch, formale Systeme zu entwerfen, die in der Lage sind, Tatsachen dieser Welt angemessen und widerspruchsfrei zu repräsen-tieren, liegt ein hauptsächliches Betätigungsfeld der Theorien der Künstlichen Intelligenz.“ (ebd.: 8)

Weder ist diese dualistische Grundannahme bisher belegt noch widerlegt worden (vgl. Gutten-

plan 1994: 265ff), jedoch kann sie zumindest aus der Perspektive der phänomenologisch orien-

tierten Wissenssoziologie als fraglich angesehen werden, nach deren Annahmen sich der Mensch

Wissen als Deutungsmuster in einem sozialen Prozess aneignet, wofür körperliche Erfahrungen

ein elementarer Bestandteil sind70. Gelänge nun die Programmierung einer körperlosen Intelli-

genz äquivalent zu der des Menschen, die ohne Sozialisation vorauszusetzen ausschließlich auf

algorithmischen Regelsystemen und -schleifen basiert, so wäre dies nichts weniger als die Wi-

derlegung des Sozialkonstruktivismus. Dass die Forschung dabei jedoch trotz massiver Subven-

tionen und dem Bau immer schnellerer Supercomputer für die Simulation des Gehirns diesem

Ziel bisher kaum näher kommt, beschreibt Rojas (2012).

Sichtbare Fortschritte in der KI-Forschung werden vor allem in der Richtung der ,weichen‘ KI

erzielt. Hier wird nicht die Simulation des menschlichen Gehirns angestrebt, sondern der Fokus

liegt vor allem auf der Generierung von intelligenten Anwendungen für die Praxis (vgl. Rechen-

berg 2000: 245). Nicht wie die Ergebnisse erzielt werden, sondern vor allem dass ein intelligen-

ter Output (präziser: ein Output, der nach der Formel der kybernetischen Äquivalenz den An-

schein von Intelligenz erweckt) entsteht, hat höchste Priorität. Damit solche Programme funktio-

nieren können, war es bisher in diesem Zweig der KI-Forschung notwendig, das Wissen der KI-

Agenten auf einen klar umgrenzten Bereich zu beschränken, da es sich gezeigt hat, „daß es au-

ßerordentlich schwierig ist, die Alltagsphysik als ein Gefüge von Fakten und Regeln darzustel-

len“ (Dreyfus 1989: 13). Dieser Forschungsansatz liefert schon für die Gegenwart praxistaugli-

che Anwendungen (z.B. Chat-Agenten, Expertensysteme oder der beschriebene Smartphone-A-

gent Siri); es kann m.E. davon ausgegangen werden, dass in der näheren Zukunft vermehrt sol-

che Systeme Einzug in Massenanwendungen halten.

Florian Kraftschik [email protected]

7270 Dreyfus (1989) führt das Argument der Rolle des Körpers für die Intelligenz weiter aus (vgl. ebd.: 183-205).

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Gegenüber den hohen Erwartungen der frühen KI-Forschung sowie den Visionen zur techni-

schen Singularität71 scheint es wahrscheinlicher, dass die weiche KI die Anwendungen der nähe-

ren Zukunft prägt, jedoch schließen KI-Forscherinnen und -Forscher nicht kategorisch aus, dass

auch die Bestrebungen der harten KI von Erfolg gekrönt sein könnten.72 Jedoch bilanziert Rojas

(2012): „Wenn es etwas gibt, was methodisch und in allen Epochen von Forschern unterschätzt

wurde, sind es das Gehirn und die menschliche Intelligenz“ (ebd.: 87). Vor dem Hintergrund der

Forschungserfolge auf den Gebieten Robotik und KI wird weiterhin die Forderung nach der

Ausarbeitung und Implementierung einer Roboterethik bzw. einer Ethik für KI laut (vgl. Arkin

2010; Meusers 2012).

„Indeed, can we trust robots? There are some real reasons why we cannot yet rely on robots to do the right thing. They are not fully trustworthy and reliable, given the way they are built now. So, can they do the right thing? Will they do the right thing? What is the right thing? In our collective subcon-scious, the fear exists that eventuelly robots may become completely autonomous, with free will, in-telligence, and consciousness; they may rebel against uns as Frankenstein-like monsters.“ (Poole/Mackworth 2010: 630)

Zugegebenermaßen scheinen in der Idee der Rebellion und Diktatur der Maschinen derzeit vor

allem SF-Endzeitvisionen à la „Terminator“ Ausdruck zu finden. Bezüge zur Lebenswelt finden

sich vor allem in der Diskussion um Verantwortung und Haftung bezüglich des vermehrten Ein-

satzes von autonomer Fahrzeug- und Produktionstechnik (vgl. Borré 2011).

KIs in Form von intelligenten Agenten im Sinne der ,weichen‘ KI werden schon bald Einzug in

viele Bereiche der menschlichen Alltagswelt erhalten; zur Simulation des menschlichen Gehirns

muss die KI-Forschung jedoch noch grundlegende Hürden überwinden, mit einer schnellen Lö-

sung des Problems ist nicht zu rechnen.

4.4 Ergebnisse der Expertenbefragung

Florian Kraftschik [email protected]

73

71 Vgl. hierzu Kurzweil 2006; vgl. auch Moravec 1990 und 1999. Kurzweil (1999) versteht die menschliche Erbin-formation, gespeichert in der DNA als Code analog zu Computer-Code (vgl. ebd.: 74), der nun auch der Evolution unterworfen ist (vgl. ebd.: 80f). Die technikoptimistische Idee der Singularität fasst er zusammen: „Und genauso wird auch die vom Menschen erschaffene maschinelle Intelligenz eines Tages die menschliche Intelligenz überflü-geln. Noch ist es nicht soweit. Doch schon bald werden wir diese Stufe erreichen - noch zu Lebzeiten der meisten Leser dieses Buches. Dies läßt sich nach dem Gesetz des steigenden Ertragszuwachses prognostizieren. Dieses Ge-setz sagt zudem voraus, daß sich die Entwicklung zu immer leistungsfähigeren Maschinen in Zukunft weiterhin be-schleunigen wird. Die Entstehung von intelligenter Technik ist ein weiterer Beleg für den auf sich selbst aufbauen-den Fortschritt der Evolution. Hat die Evolution die menschliche Intelligenz hervorgebracht, so bringt die menschli-che Intelligenz jetzt in sehr viel rascherem Tempo intelligente Maschinen hervor. Und - auch dies wiederum ein Be-weis für das angesprochene Gesetz - die intelligente Technik wird bei der Konstruktion noch intelligenterer Technik eine beherrschende Stellung einnehmen“ (ebd.: 81).72 D‘Avis (1994) bezieht Stellung für die harte KI: „Die beeindruckende Leistungen mancher KI-Systeme auf der einen Seite und die theoretisch oft ungeschützten Angriffe ihrer Kritiker auf der anderen Seite sprechen eher für die Möglichkeit einer maschinellen Simulation des Denkens“ (ebd.: 11).

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Im vorhergehenden Kapitel wurde der Stand der Forschung zu den drei Themengebieten Prothe-

tik und Cyborgisierung, Virtualität und Phantomatik und Künstliche Intelligenz dargestellt, die

Ergebnisse der Recherche dienten zur Plausibilisierung der SF-Statements, die dann der Exper-

tengruppe zur Evaluation vorgelegt wurden. An dieser Stelle erfolgt die Auswertung und Darstel-

lung der Antworten der Expertinnen und Experten auf die Statements.

Die Expertinnen und Experten beantworteten die Statements schriftlich in elektronischer Form,

mit Herr Gaßner führte ich ein telefonisches Interview, welches ich zum Zweck der Auswertung

transkribierte. Einige der Expertinnen und Experten beantworteten die Fragen eher knapp in

Stichworten, von anderen liegen jedoch umfangreich gearbeitete und präzise ausformulierte

Antwortschreiben vor. Auf eine erneute Niederschrift der Statements wird jedoch aus Platzgrün-

den verzichtet (siehe hierzu Kap. 4.2.4 - 4.2.6).73 Jeder Themenblock bestand aus drei State-

ments, wobei diese gezielt in eine Reihenfolge gestellt waren, so dass immer das jeweils erste

auf den ersten Blick gleichzeitig dasjenige war, das die wenigsten eventuell als spekulativ zu be-

zeichnenden Thesen beinhaltete, das dritte jedoch einen deutlich progressiven Charakter hatte.

Entsprechend den Erwartungen fielen die Reaktionen der Experten auf das erste Statement in

aller Regel positiv und optimistisch aus, wohingegen das jeweils dritte Statement eher auf Ab-

lehnung stieß, was die Eintrittswahrscheinlichkeit der beschriebenen Zukünfte oder der techni-

schen Möglichkeiten betrifft.

Ergebnisse des Themenblocks 1: Prothetik und Cyborgisierung

Die in Statement I-1 beschriebenen Technologien werden in sieben von sieben Antworten

durchweg als plausibel angenommen, alle der Befragten wiesen darauf hin, dass Teile des Be-

schriebenen schon heute verfügbar sind oder es in nächster Zukunft (d.h. in den nächsten 5 Jah-

ren) realistischerweise zu einer Umsetzung kommen könnte. Wiegerling schreibt gar, der

Mensch stecke schon heute in einem Transformationsprozess zum Cyborg und zum Biofakt. Kri-

tisch äußerte sich jedoch ein Großteil der Befragten zur direkten Schnittstelle zwischen der

Technologie und dem Gehirn, hierbei handelt es sich nach der Einschätzung der Experten nicht

um eine Technologie der nahen Zukunft. Dennoch geht Vollmar davon aus, dass es in den nächs-

ten 20 Jahren auch auf diesem Gebiet „sehr große Entwicklungen“ geben wird, die vor allem

durch das Militär vorangetrieben werden werden. Diese Einschätzung teilt auch Gransche in sei-

Florian Kraftschik [email protected]

74

73 Die Statements werden im Folgenden durch ein Kürzel bezeichnet, das sich aus einer römischen (Themenblock) und einer arabischen (Statement Nr.) Ziffer zusammensetzt, welche durch einen Bindestrich getrennt sind. Statement I-1 bezeichnet z.B. das erste Statement des Themenblock I: Prothetik und Cyborgisierung.

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ner Antwort auf Statement I-3: er sieht die Zukunft der Robotik in der Telepräsenz von Men-

schen durch physikalische Avatare statt im autonom agierenden Roboter. Dieser über ein BCI

ferngesteuerte Roboter wäre dann als eine Verlängerung des menschlichen Körpers zu betrach-

ten, hier vermutet Gransche in wenigen Jahren „große Fortschritte“. Die Mehrzahl der Experten

trifft eine Unterscheidung zwischen freiwilligen und medizinisch notwendigen Körpermodifika-

tionen: der Mensch greift immer häufiger auf Implantate zurück, um verlorene Körperfunktionen

wieder herzustellen (Cochleaimplantat, Beinprothesen etc.), jedoch geschieht dies meist aus der

medizinischen Notwendigkeit heraus. Fünf der sieben Experten äußern sich skeptisch, was frei-

willige Körpermodifikationen im Sinne des Human Enhancement betrifft: die Risiken (Absto-

ßungsrisiko, Infektionsrisiko) seien bei einer Operation recht hoch, außerdem stellen sich der

Materialverschleiß oder der Defekt von Implantaten als unberechenbares Problem dar, da eine

Reparatur oft schwierig oder nicht möglich sei. Dies, so der Tenor der Experten, führe dazu, dass

gesunde Menschen es bevorzugen würden, zeitweilig auf externe Geräte zur Verbesserung und

Erweiterung der körperlichen Möglichkeiten zurückzugreifen und hierfür besonders die Miniatu-

risierung der Technik weiter voran schreiten wird, dass sich Implantate für gesunde Menschen

jedoch in absehbarer Zeit nicht durchsetzen werden. Zwei der Experten wiesen auch auf die

Grenzen der Verbesserung der Wahrnehmung hin: wird beispielsweise das Gehör auf den Stand

eines gesunden Hundes gebracht, so würde dies für den modifizierten Menschen mutmaßlich

kein Zugewinn darstellen, weil sein Gehirn nicht in der Lage wäre, die zusätzliche Information

sinnvoll zu verarbeiten. Wiegerling reißt außerdem eine interessante Frage an, die auch in der

Literatur zur Cyborgisierung ähnlich thematisiert wird: bestehen viele Menschen zu einem ge-

wissen Anteil aus normierten Bauteilen, sehen sie sich dann immer noch als Individuen?

Die Skepsis der Experten gegenüber operativen Veränderungen ist auch bei den Antworten zum

Statement I-2 deutlich zu beobachten. Dies betrifft jedoch wiederum nur freiwillige Körpermo-

difikationen. Für die Heilung degenerativer Nervenkrankheiten hält vor allem Wiegerling die

vermehrte Einsetzung von Gehirnschrittmachern (Gehirn-Implantate zur gezielten Stimulation

und Synchronisation bestimmter Gehirnareale) in der Zukunft für realistisch, als Einziger hält er

auch den Zugriff auf Wissensbestände, die extern auf Rechnern vorerschlossen gespeichert sind,

für denkbar. Dass die Menschen ihre Denkleistung zukünftig durch Psychopharmaka steigern

werden, wurde von vier der sieben Experten explizit als wahrscheinlich betrachtet. U.a. konsta-

tiert Gransche, dass Neuro-Enhancement schon heute mit der Substanz Modafinil betrieben wird.

Die stark verbreitete Verwendung von Ritalin in studentischen Kreisen vor allem in den USA

bezeichnet er als „Realexperiment“ (auch Kokain fügt sich lückenlos in die Liste der gegenwär-

Florian Kraftschik [email protected]

75

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tig verfügbaren leistungssteigernden Substanzen mit starken Nebenwirkungen, jedoch wurde die

Droge von keinem der Experten genannt). Steinmüller bezeichnet Neuro-Enhancement durch

Psychopharmaka gar als „altbekannte Realität“. Die Experten weisen jedoch auch darauf hin,

dass diese vermeintlich leistungssteigernden Substanzen in ihrer stimulierenden Wirkungsweise

bisher nur unzureichend erforscht sind, dies gilt auch für die Nebenwirkungen bei langfristiger

Selbstmedikation. Simon sieht es jedoch als wahrscheinlich an, dass die pharmazeutische For-

schung in der Zukunft zunehmend in der Lage sein wird, die Nebenwirkungen zu reduzieren.

Gaßner geht demgegenüber jedoch davon aus, dass Forschungsgelder der Pharma-Branche aus

Rentabilitätsgründen zunächst in andere Bereiche investiert werden, für die eine globale Nach-

frage besteht, er nennt z.B. die Wiederherstellung von Kniegelenken oder Haarwachstum bei zu-

nehmend älter werdenden Bevölkerungen. Gransche weist außerdem darauf hin, dass eine Neu-

ro-Enhanced-Elite die Chancenungleichheit auf dem Bildungssektor weiter vergrößern könnte,

wenn entsprechende risikoarme Substanzen auf dem Markt verfügbar wären, außerdem hält er

den gesellschaftlichen Stellenwert von Leistung für diskussionswürdig, wenn nur noch ein ge-

dopter Mensch die von ihm geforderten Leistungsanforderungen erfüllen kann. Gransche geht

bei seiner Antwort auf Statement I-2 außerdem auf die Metaebene und hebt eine gesellschaftli-

che Funktion von SF hervor: dadurch, dass Themen wie Neuro-Enhancement in der SF themati-

siert werden, werde die Gesellschaft dahingehend manipuliert, dass sich die Menschen für For-

schungsergebnisse interessieren und eine frühzeitige Diskussion von Entwicklungen angeregt

werde. Als kritisch betrachtet er dies jedoch, „wenn der SciFi-Botschaft zu wenig Sci-Fakten

nachgereicht werden“.

Die in Statement I-3 beschriebenen SF-Ideen zum Gehirn-Backup und daraus resultierend die

Erfüllung des lange gehegten Menschheitstraum des ewigen Lebens wird vom gesamten Exper-

tenfeld durchweg abgelehnt und als reine SF bezeichnet. Die Kritik bezieht sich dabei vor allem

auf das dualistische Menschenbild (Mensch als Hard- und Software, Körper und Geist können

getrennt voneinander existieren), das von Steinmüller gar als „jämmerlich einfaches Modell des

Menschen“ bezeichnet wird. Wiegerling lehnt die Möglichkeit einer körperlosen Existenz des

Menschen gänzlich ab, außerdem kritisiert er am Modell des Gehirn-Backups, dass Gehirninhal-

te als statische Daten betrachtet werden, was sie seiner Meinung nach jedoch nicht seien: Denk-

inhalte, so Wiegerling, seien einem ständigen Wandel unterworfen und sie verändern sich mit

dem Wandel der symbolischen Umwelt des Menschen. Die wissenschaftlichen Befürworter die-

ser Denkrichtung, die Trans- und Posthumanisten, bezeichnet Steinmüller als „techno-utopische

Sekte“, wobei eine Interpretation dieser Aussage den religiösen Charakter der Idee hervorstechen

Florian Kraftschik [email protected]

76

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lässt: SF kann hier als Ausdrucksform von Ängsten (vor dem Lebensende) und Wünschen (nach

ewigem Leben) angesehen werden.

Es erfolgt nun eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Auswertung der drei Statements des

ersten Themenblocks Prothetik und Cyborgisierung:

Anhand der Auswertung des ersten Themenblocks wird ersichtlich, dass die Expertinnen und

Experten ähnliche Problemfelder in den SF-Statements identifizierten, obwohl sie die Statements

aus teils recht unterschiedlichen Perspektiven behandelten. Technologien des Human-Enhance-

ment sind vereinzelt schon in der Gegenwart als Prototypen verfügbar und es ist davon auszuge-

hen, dass diese in der nahen Zukunft (ca. 5 Jahre) weit verbreitet sein werden. Dies gilt jedoch

nur für externe Geräte. Prothesen und Implantate werden stetig weiterentwickelt werden, jedoch

aufgrund von Infektions- und Abstoßungsrisiken bis auf wenige denkbare Ausnahmen nicht bei

gesunden Menschen zur Anwendung kommen. Weiter ist davon auszugehen, dass die BCI-For-

schung mittelfristig („in wenigen Jahren“ bis in 20 Jahren) „große Fortschritte“ erzielen wird.

Die Nutzung von Psychopharmaka zum Neuro-Enhancement wird weiter zunehmen, auch hier

erwartet die Mehrheit der Experten Fortschritte in der Forschung, vor allem was die Reduzierung

von Nebenwirkungen angeht. Deutlich war die Ablehnung der Experten gegenüber der Idee des

Gehirn-Backups; den Trans- und Posthumanisten74 wurde eine klare Absage erteilt. Kritisiert

wurde vor allem das dualistische Menschenbild sowie die Annahme der Vergleichbarkeit von

Gehirninhalten mit statischen Daten.

Ergebnisse des Themenblocks 2: Virtualität und Phantomatik

Die Statements des zweiten Themenblocks zur Virtualität und Phantomatik wurden von den Ex-

perten recht knapp behandelt. Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass die beschriebene Tech-

nologie des BCI zur vollen Immersion in die Welten der VR in der Gegenwart noch nicht vor-

liegt und der derzeitige Forschungsstand der Gehirn- und Neuro-Forschung es nicht vermuten

lässt, dass ein BCI für den Massenmarkt in der nahen Zukunft verfügbar sein wird.

Steinmüller hält das im Statement II-1 beschriebene BCI für möglich, diese Einschätzung teilte

ein Großteil des Expertenfeldes. Den Zeitraum, in dem die Technologie realisiert werden könnte,

Florian Kraftschik [email protected]

77

74 Die Trans- und Posthumanisten sehen in der Entwicklung von KIs die Verwirklichung der nächsten Stufe der Evo-lution, zentral ist die Annahme, dass KIs sich fortan ohne menschliche Hilfe weiterentwickeln und reproduzieren (vgl. Moravec 1999: 194). Moravec (ebd.) geht außerdem davon aus, dass sich der menschliche Geist in Computer überspielen lässt, entweder als Backup, das in einem ,neuen‘ Körper wieder hergestellt werden kann, oder als Geist, der fortan in der VR lebt (vgl. ebd.: 269ff).

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gibt Steinmüller mit der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts an, Dönitz und Cuhls zeigen sich in

ihrer Einschätzung optimistischer: sie halten es für möglich, dass ein BCI in 20-30 Jahren ver-

fügbar ist. Gaßner zeigt sich verwundert darüber, dass die Ende der 80er Jahren weit verbreiteten

Cybercafés wieder verschwunden sind und dass es keine entsprechenden neuen kommerziellen

Vorstöße auf diesem Gebiet gibt. In den Cybercafés, so Gaßner, sei es den Menschen möglich

gewesen, sich mit einem Datenhelm in die dreidimensionale Umgebung von Computerspielen zu

begeben, deren technische Möglichkeiten der Darstellung von Computergraphik jedoch weit hin-

ter den Möglichkeiten der Gegenwart zurückblieb. Neben dem BCI führt Gaßner den Ganzkör-

peranzug zur Übertragung von taktilen Reizen an, um die volle Immersion herzustellen, aller-

dings bezweifelt er sowohl beim BCI als auch beim Ganzkörperanzug, dass ein Realitätsein-

druck entstehen könnte. Jedoch führt er die theoretische Möglichkeit an, den Eindruck durch

Drogen zu unterstützen und so die Immersionstiefe zu erhöhen.

Statement II-2 legt den thematischen Schwerpunkt auf mögliche Anwendungen vollimmersiver

VR-Technik, d.h., wie die Technologie, wenn sie erst einmal verfügbar ist, Einzug in die All-

tagswelt der Menschen erhalten könnte. Dönitz hält die besprochene Anwendung in den nächsten

10 bis 15 Jahren für realisierbar, offensichtlich jedoch ohne die volle Immersion mittels BCI,

sondern mittels andersartiger Technologie, die sie jedoch nicht weiter spezifiziert. Die These,

dass Menschen es vorziehen könnten, ausschließlich im Cyberspace zu leben, bejaht Dönitz, hier

trifft sie die Einschätzung, dass dies in 15-25 Jahren machbar sein könnte. Steinmüller charakte-

risiert die in der SF besprochenen Möglichkeiten gar als banal und harmlos, er geht davon aus,

dass die Erfindung eines BCI sehr viel weitreichendere gesellschaftliche und individuelle Folgen

haben wird. Dafür, dass diese Folgen in der SF nicht thematisiert werden, führt Steinmüller

strukturelle Beschränkungen einer SF an, die für ein breites Publikum produziert wird: für die

Handlung einer Geschichte bräuchte man immer noch Personen. Dies ist dann nicht mehr gege-

ben, wenn beispielsweise die Möglichkeit der „Auflösung des Ich“ in der VR durch die SF the-

matisiert würde. Gaßner hält es durchaus für möglich, dass sich die Technologie der vollen Im-

mersion zunächst über ihren Nutzen im Entertainment-Bereich in die Gesellschaft diffundiert,

wie er am Beispiel von Cybercafés und Spielekonsolen für das private Wohnzimmer verdeut-

licht.

Das Statement II-3 wurde gemeinhin von den Experten als am wenigsten wahrscheinlich im

Vergleich zu den vorhergehenden Statements eingeschätzt. Dönitz hält den Up- und Download

von Erinnerungen erst in mehr als 50 Jahren für realistisch, das Risiko für den Missbrauch einer

Florian Kraftschik [email protected]

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solchen Technologie bezeichnet sie als „sehr hoch“. Cuhls hält eine solche Technologie gar für

zu gefährlich, außerdem merkt sie an, dass im Vorfeld noch ethische Fragen zu klären seien.

Gaßner vertritt während der gesamten Befragung eine extrem monistische Grundhaltung, die da-

zu führt, dass er die SF-Idee des Up- und Downloads von Erinnerungen gänzlich ablehnt. Als

Begründung führt er an, dass Erinnerungen keine statischen Bilder sind, sondern sich im Laufe

der Zeit verändern, dass mit jedem neuen Erlebnis auch alte Erlebnisse neu kontextualisiert und

somit verändert werden. Dem entspricht auch Steinmüllers Einschätzung, dass Erinnerungen

nicht wie gespeicherte Inhalte einer Festplatte abgerufen, sondern ständig neu konstruiert wer-

den. Dies, so Gaßner, führe dazu, dass nicht davon auszugehen sei, dass eine implantierte eigene

Erinnerung als solche erkannt werden könnte. Handelt es sich bei den implantierten Erinnerun-

gen gar um Erinnerungen Dritter, so ist sich Gaßner sicher, dass schon der kleinste Unterschied

in der körperlichen oder emotionalen Konstitution des Urhebers der Erinnerung zum Wesen der

eigenen Person ein Fremdheitsgefühl auslösen würde, das ein direktes Nacherleben unmöglich

macht. In diesem Sinne würde es sich sogar bei Erinnerungen eines Ich aus der Vergangenheit

um die Erinnerungen eines Dritten handeln. Gaßner hält es jedoch im Gegenzug für denkbar,

dass es möglich sein wird, künstliche Emotionen zu erzeugen, wie dies heute schon in Filmen

oder bei Theateraufführungen gelingt. Steinmüller trifft eine Unterscheidung zwischen dem

Upload und dem Download von Erinnerungen. Während er ersteren als „hochgradig schwierig“

bezeichnet, hält er zweiteren mit Hilfe „sensorischer Interfaces“ für möglich.

Die Ergebnisse des 2. Themenblocks Virtualität und Phantomatik werden nun zusammenge-

fasst:

Die Auswertung der Expertenantworten zum zweiten Themenblock zeigt, dass die Entwicklung

einer totalen Schnittstelle zwischen Mensch und Computer von allen Experten prinzipiell als

möglich erachtet wird, dass jedoch nicht davon ausgegangen werden kann, dass ein BCI in Form

einer Massenanwendung vor der zweiten Hälfte des 21. Jh. verfügbar sein wird. Die Anwen-

dungsmöglichkeiten der Technologie könnten starke Ähnlichkeiten zu den Anwendungen aus der

SF haben, jedoch kann es durchaus als wahrscheinlich angenommen werden, dass eine derart

revolutionäre „Wirklichkeitsmaschine“ Möglichkeiten eröffnet, die den gegenwärtigen Vorstel-

lungshorizont bei weitem übersteigen. Es erscheint wahrscheinlich, dass eine Technologie zur

vollen Immersion zunächst über den Entertainment-Bereich Verbreitung finden wird. Die Idee

des Up- und Downloads von Erinnerungen wird beinahe von allen der befragten Experten als

unwahrscheinlich oder nicht möglich bewertet, da die SF an dieser Stelle offensichtlich den Feh-

Florian Kraftschik [email protected]

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ler begeht, Erinnerungen mit den digitalen Informationen auf einem Speichermedium gleichzu-

setzen, was der Komplexität der Funktionsweise des menschlichen Gehirns jedoch nicht gerecht

wird. Vor dem Hintergrund der Bestrebungen dieser Arbeit, Science Fiction für die

Zukunftsforschung als Quelle nutzbar zu machen, sticht Steinmüllers Hinweis hervor, dass SF

strukturell bedingt nicht jedes beliebige Thema gleichermaßen bearbeiten kann und dieser He-

rangehensweise somit auch Grenzen gesetzt sind.

Ergebnisse des Themenblocks 3: Künstliche Intelligenz

Im dritten Themenblock wurde eine Expertengruppe mit Statements zum Thema Künstliche In-

telligenz befragt. Offensichtlich traf dieses Thema auf ein reges Interesse, zumindest legt die

Fülle und der Grad der Differenziertheit der Antworten diese Interpretation nahe.

Statement III-1 traf bei allen Experten auf Zustimmung, eine derzeit noch überschaubare An-

zahl von KI-Systemen sind schon heute im praktischen Einsatz und sie werden in den For-

schungslaboren weiterentwickelt, so dass davon auszugehen ist, dass sie in größerer Zahl in

nächster Zukunft Marktreife erlangen und bis in spätestens 10 Jahren massenhaft verbreitet sein

werden. Heesen führt an, dass in der ethischen Technikbewertung mit Fragestellungen betreffend

z.B. der Aufstellung einer Roboterethik umgegangen wird. Pfadenhauer kritisierte jedoch stark

die Gleichsetzung von Speicherkapazität und Rechenleistung mit dem Grad der Intelligenz

künstlicher Systeme. Die Intelligenz der Systeme, so Pfadenhauer, sei in erster Linie abhängig

von Feedbackschleifen sowie der Entwicklung immer besserer Algorithmen, wogegen eine höhe-

re Geschwindigkeit lediglich das „Potential für Komplexitätsverarbeitung“ steigere. Steinmüller

und Gaßner sind sich einig, dass zwar davon auszugehen ist, dass KIs immer besser werden, dass

sie dem Menschen jedoch unähnlich sein werden bzw. sich immer von Menschen unterscheiden

werden. Hier liegt tatsächlich einer der Schwachpunkte der SF, KIs werden oft stark vereinfacht

menschliche Eigenschaften zugeschrieben (Anthropomorphisierung), während es der Wissen-

schaft noch nicht gelungen ist, menschliche Denkprozesse in einer Maschine nachzubilden. Die-

ser Arbeit liegt ein weicher KI-Begriff zugrunde, der es prinzipiell zulässt, auch solche Systeme

als KI zu bezeichnen, die nicht analog zum menschlichem Denken funktionieren - ob dieses Ziel

der harten KI jemals erreicht werden kann, bleibt zunächst ohnehin offen. Baecker zweifelt stark

daran, dass es KIs gelingen kann, „ergebnisoffene Kommunikation“ zu betreiben, wozu Men-

schen und seiner Meinung nach sogar Tiere in der Lage sind.

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Hieraus folgt für Baecker zur Beantwortung des Statement III-2, dass KIs von Menschen vor

allem dann schwer oder gar nicht zu unterscheiden sein werden, wo nur beschränkte Abfolgen

von Handlungen möglich sind, während andererseits „mehr Freiheitsgrade in einer Kommunika-

tion“ dazu führen, dass KIs leicht von Menschen zu unterscheiden sind. Grundsätzlich geht eine

große Mehrheit der Experten davon aus, dass KIs zukünftig weit verbreitet sein werden und der

Kontakt von Menschen mit KIs vielerorts zum Normalfall wird. Heesen weist darauf hin, dass

intelligente Technologien auch in anderen wissenschaftlichen Zukunftsszenarien und Zukunfts-

prognosen unter dem Stichwort „Ambient Assistent Living“ Einzug finden und diskutiert wer-

den. Weber ist im Hinblick auf dieses Statement der Meinung, dass SF Autoren „nicht wesentlich

besser in die Zukunft technischer Entwicklung blicken können als dies Wissenschaftler könn-

ten“, allerdings können SF-Szenarien zum Verhältnis von Mensch und Maschine entwickelt wer-

den. Ruhlig führt an, das Statement impliziere die Vergleichbarkeit von KI mit dem menschli-

chen Gehirn, in der Tat handelt es sich hierbei um eine Annahme, die in der SF oft impliziert

wird, davon sieht Ruhlig die KI-Forschung jedoch „möglicherweise aber noch Jahrzehnte ent-

fernt“. Gaßner führt den Unterschied und die Unterscheidbarkeit des Menschen von der KI wie-

der auf die Entität des Geistes mit dem biologischen Körper von Lebewesen zurück: aus einem

„Wesen, was mit einem Körper verbunden ist“, entspringe eine ganz andere motivationale

Grundlage und somit auch andere Deutungsmuster „für die ganze Welt“. Aus diesem Grund, so

Gaßner, werden selbst die mit unendlichem Aufwand betriebenen Bestrebungen, Expertenwissen

mit simulierten menschlichen körperlichen Bedürfnissen zu kombinieren, nie zu einem Ergebnis

führen, das dauerhafte Unverwechselbarkeit von Mensch und Maschine zur Folge hätte. Ver-

wechslungen, so Gaßner weiter, seien nur dann möglich, wenn, analog zu Baecker, eine Kom-

munikation auf wenige Bereiche und Kommunikationskanäle beschränkt bliebe (Turing-Test ü-

ber Briefchen etc.) und / oder wenn „man getäuscht werden möchte“. Heesen und Gaßner sind

sich dabei einig, dass es Gründe dafür geben könnte, dass der Mensch bestrebt ist, die Unter-

scheidbarkeit dauerhaft bewusst aufrecht zu erhalten: Heesen führt ethische und juristische

Gründe dafür an, Gaßner ist der Meinung, dass KIs, die dem Menschen zunächst ähneln, ein um-

so abstoßenderes Gefühl der Fremdheit beim Menschen erzeugen, je ähnlicher sie dem Men-

schen sind.

Das Statement III-3 führt den Gedanken der fortschreitenden Entwicklung von KI-Technologie

konsequent fort, wonach der Zeitpunkt kommen wird, zu dem KIs den Menschen überflügeln.

Gemessen am gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse der KI-Forschung mutet diese Idee eventu-

ell recht spekulativ an, für Pfadenhauer gar „zu [Hervorhebung durch den Verf.] spekulativ, um

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sie zu beantworten“. Die Stellungnahmen der restlichen Experten fügen sich jedoch zu einem

sehr differenziert gezeichneten Meinungsbild zusammen, das keineswegs nur von Ablehnung

gegenüber der Idee einer Super-KI gekennzeichnet ist. Baecker konstatiert, die Entwicklung von

Technologie werde im Vorhinein sowohl unter- als auch überschätzt werden und er vermutet, die

im Statement formulierte Idee sage wohl eher etwas über den Menschen der Gegenwart als über

die Zukunft aus. Diese Vermutung entspricht der Abbildungs- und Indikatorfunktion der SF im

Prozess der Zukunftsforschung, wie sie in Kap. 3.2.1 beschrieben wurde. Die meisten Experten

verwiesen jedoch auf begriffliche Schwierigkeiten bezüglich des zugrundeliegenden KI-Begriffs.

Einerseits regt Weber die Unterscheidung vom englischen Begriff „intelligence“ und seiner deut-

schen Übersetzung „Intelligenz“ an, bei der es sich seiner Meinung nach um einen Überset-

zungsfehler handelt: „intelligence“ kann auch mit „Information“, „Aufklärung“ oder „Erkennt-

nis“ übersetzt werden, was die Unterscheidung zwischen KI im Sinne effizient nutzbarer Produk-

te einerseits und „intelligenter“ Denkleistung ausdrücklicher Intelligenz andererseits ermöglicht.

Weber legt diese Unterscheidung ökonomischen Überlegungen zugrunde, wenn er die Kosten-

Nutzen-Relation der Forschung an einer ,Super-KI‘ kritisch hinterfragt. Große Geldbeträge flie-

ßen der KI-Forschung aus dem amerikanischen Verteidigungshaushalt zu; dem Militär, so Weber,

sei jedoch ausschließlich an der Erforschung effizienter Werkzeuge gelegen, nicht an einer Imita-

tion menschlicher Intelligenz. Dass KIs nicht mit menschlicher Intelligenz zu vergleichen sein

werden, unterstreicht auch Steinmüller, wenn er die Frage stellt, in welcher Beziehung KI die

menschlicher überholen solle. Steinmüller zweifelt beispielsweise an, dass bloße Rechenkunst,

in der Computer den Menschen schon längst überholt hätten, die entscheidende Kategorie sein

kann, wenn von Intelligenz die Rede ist. Er führt darüber hinaus die Notwendigkeit einer emoti-

onalen Basis für „brauchbare Intelligenzleistung“ an und spekuliert weiter, „dass die nächsten

Wesen ein breiteres und tieferes Emotionsspektrum als der homo sapiens [sic!]“ haben könnten.

Ein Problem bei der Diskussion über den Begriff von Intelligenz sieht Weber in der menschli-

chen Präferenz anthropomorphisierender Deutung des Phänomens. Heesen hält es für möglich,

dass KIs Menschen in fest umgrenzten Anwendungskontexten überflügeln könnten, hält jedoch

eine Überflügelung des Menschen in seinem gesamten Anwendungskontext zumindest für frag-

lich. Bezogen auf die Idee, KIs könnten die nächste Ebene der Evolution darstellen, stellt Gaßner

fest, dass Maschinen zunächst einen Arterhaltungstrieb entwickeln müssten, um ein Interesse

daran zu haben, den Menschen zu überholen (und wohl auch um sich selbst weiterzuentwickeln).

Dies scheint ihm jedoch als „schlicht nicht vorstellbar“. Ruhlig hält die im Statement skizzierte

Entwicklung prinzipiell für möglich, ggf. auch auf der Basis neuartiger biologischer Systeme,

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stellt jedoch auch die Frage, ob diese Entwicklung für den Menschen überhaupt erstrebenswert

wäre. Ruhlig räumt die Möglichkeit der Aufstellung eines gesetzlichen Verbotes gegen die Ent-

wicklung derartiger Systeme ein.

Es erfolgt nun die Zusammenfassung der Ergebnisse des dritten Themenblocks zur Künstlichen

Intelligenz:

Bei KI handelt es sich in geringem Maße um eine Technologie der Gegenwart, die jedoch mit

hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten 10 Jahren in unterschiedlichsten Formen und Anwen-

dungen massiv Verbreitung erfahren wird. Aus diesem Grund werden ethische und gesetzliche

Überlegungen und Regelungen in der Wissenschaft schon heute diskutiert und auch in der Zu-

kunft zu diskutieren sein. Die Geschwindigkeitssteigerung und die Kapazitätserweiterung von

Computern wird nicht das entscheidende Kriterium für eine Leistungssteigerung der KI-Systeme

sein. Anders als dies in der SF dargestellt wird, werden KIs dem Menschen unähnlich sein, die

Wahrscheinlichkeit, dass eine Simulation des menschlichen Gehirns in naher oder mittlerer Zu-

kunft gelingt, kann als gering angenommen werden, für die ferne Zukunft bleibt eine solche

Entwicklung bis auf Weiteres zumindest fraglich. Eine Ursache für die Unähnlichkeit von KI zur

menschlichen Intelligenz liegt nach Einschätzung der Experten in der Rolle des menschlichen

Körpers beim Erfahren der Umwelt und der Aneignung von Deutungsmustern. Daraus resultiert

nach der Meinung der Experten auch, dass nur KIs, deren Aktionsradius auf enge Anwendungs-

gebiete beschränkt sein wird, einem menschlichen Betrachter über längere Zeit den Eindruck

vermitteln können, es handele sich z.B. bei einem Kommunikationspartner um ein menschliches

Gegenüber. Vor allem Gaßner legt die Vermutung nahe, eine solche Täuschung sei in den meis-

ten Situationen gar nicht oder nicht dauerhaft möglich, in den meisten Situationen außerdem un-

erwünscht und werde aus diesem Grund nicht angestrebt, aus ethischen und juristischen Gründen

werde sie womöglich gar verboten werden (Heesen). Viele Experten halten eine Überflügelung

des Menschen durch KIs in eng umgrenzten Teilbereichen für wahrscheinlich, kaum jedoch seine

gänzliche Überholung und evolutionäre Ablösung durch Maschinen.

Über die Kommentierung der Statements hinaus wurden die Experten auf den Fragebögen gebe-

ten, zwei kurze Zusatzfragen zur Science Fiction zu beantworten. In der Zusatzfrage 1 wurde

nach der Rolle gefragt, die SF in der Arbeit der Experten spielt, wenn es um Zukunftsfragen

geht, in der Zusatzfrage 2 wurden die Experten gebeten, ihre Meinung zu äußern, warum SF als

Methode der Zukunftsforschung so auffallend wenig Beachtung findet. In dieser Reihenfolge

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erfolgt nun auch die Auswertung der Antworten auf die Zusatzfragen. Herr Gaßner beantwortete

ein erweitertes Set von Fragen, das die Zusatzfragen, darüber hinaus aber auch noch weitere Fra-

gen beinhaltete. Die Ergebnisse des Telefoninterviews werden die beiden Zusatzfragen betref-

fend in die allgemeine Auswertung integriert.

Sieben Experten geben bei der Beantwortung der Zusatzfrage 1 explizit an, SF spiele in ihrer

jeweiligen beruflichen Tätigkeit im Bezug auf Zukunftsfragen eine Rolle oder gar eine große

Rolle. Sechs Experten vermerken hingegen, SF spiele eher weniger oder wenig bis gar keine

Rolle. Dabei wenden fünf der Befragten SF an, um einen Zugang zu Problemstellungen zu gene-

rieren oder Forschungsergebnisse mit SF-Zitaten zu illustrieren. Die Mehrzahl der Befragten

sind der Meinung, SF leiste die Einbettung von technologischen Innovationen in den sozialen

Kontext der menschlichen Lebenswelt und rege die Vorstellungskraft im Hinblick auf ethische

und soziale Bewertungsfragen (vgl. Heesen) an; verschiedene mögliche Zukünfte werden aus

verschiedenen Perspektiven diskutierbar gemacht. SF eigne sich nicht dazu, präzise Prognosen

zu stellen, liefere jedoch Ideen für die technologische Weiterentwicklung, vermöge diese ggf.

auch zu beschleunigen. Einer der Experten spricht sich auch dagegen aus, dass wissenschaftlich-

technische Ideen aus der SF abgelesen werden können, jedoch führt Wiegerling an, auf Fiktiona-

les werde verwiesen, um die Visionen als transzendierendes Moment bestimmter technologischer

Entwicklungen zu verstehen. Ideen der SF, so Wiegerling weiter, seien teilweise „die Vorausset-

zung ganzer Forschungslinien“. Leitbegriffe aus der SF werden in manchen Fällen zum Kenn-

zeichen gesellschaftlicher Diskurse. Allerdings, so Simon, eigne sich SF nicht für die Antizipati-

on gesellschaftlicher Veränderungen bezogen auf eine nahe Zukunft, weil sie in vielen Fällen

langfristig ausgerichtet ist. Wiegerling vermutet, dass einige Wissenschaftler von der SF-Lektüre

motiviert wurden, Forschung zu betreiben, außerdem, so gaben insgesamt 12 der Experten an,

diene die SF als Inspirationsquelle und zur Erweiterung des Horizontes (vgl. Dönitz) und habe

somit einen direkten oder indirekten Einfluss auf die Arbeit der Forscher. In der

Zukunftsforschung eigne sich die SF auch dazu, Thesen als Grundlage für ein weiteres Vorgehen

zu generieren (vgl. Cuhls). Inklusive Gaßner, der ansonsten, ziemlich isoliert vom restlichen Ex-

pertenfeld, die Meinung vertritt, die Inhalte der SF eigneten sich „in der Regel [...] nicht aus wis-

senschaftlicher Sicht“ für die Zukunftsforschung, halten 3 der Experten SF als Textform für das

Szenariowriting in der Zukunftsforschung für besonders gut geeignet, weil Szenarien nicht

langweilig sein dürfen, um Verbreitung zu finden. Die SF liefere hier ein Vorbild in der Form

künstlerischer Textproduktion, sie lasse den Aufbau eines Spannungsbogens sowie die stilisti-

schen Mittel der Andeutung und Weglassung zu, was einen Text schließlich von einem farblosen

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wissenschaftlichen Text unterscheide. Bei der Auswertung der Zusatzfrage 1 fiel auf, dass außer

Steinmüller keiner der Experten angab, SF schon einmal systematisch für eine Zukunftsstudie

ausgewertet zu haben oder regelmäßig mit der systematischen Auswertung von SF zu arbeiten.

Auf die Formulierung der Zusatzfrage 2 reagierten einige der Experten mit dem Hinweis, SF sei

keine Methode der Zukunftsforschung, sondern lediglich als Quelle zu behandeln. Die Minder-

heit der Experten gibt konträr zur Formulierung der Frage an, SF fände in der Zukunftsforschung

Beachtung - Gransche vertritt gar die Meinung, sie fände „auffallend viel Beachtung“ -, zwei

Antworten sind dahingehend zu interpretieren, dass sie zwar Beachtung finde, jedoch lediglich

von einer Minderheit der Zukunftsforscher. Vorbehalte der Zukunftsforschung gegenüber der

Verwendung von SF wurden von 6 Experten in der Angst der Zukunftsforscher vor einem unse-

riösen Erscheinungsbild ihrer Forschungsergebnisse vermutet, da der SF in den Augen vieler

Wissenschaftler der „Makel der Belletristik“ anmute (Gransche). Im Kontrast zu dieser Einschät-

zung kritisiert Wiegerling die „generelle Unterschätzung und zuweilen auch Missachtung der

Kulturwissenschaften und damit von hermeneutischen Fähigkeiten“ im Kontext der Wissen-

schaft, die durchaus auch in der Naturwissenschaft gefragt seien. Wiegerling führt weiter den

„Mythos der Quantifizierbarkeit“ des Wissenschaftsbetriebes an, der verhindere, dass andere

Modelle und Methoden einen breiteren Raum einnähmen. Schon auf die erste Zusatzfrage ant-

wortet Baecker, dass die Belletristik für die Soziologie von höchstem Interesse sei, weil hier

Sensibilitäten ausgetragen würden, die methodisch und theoretisch in die Sozialwissenschaften

nur schwer Eingang fänden. Allerdings wiesen einige Experten darauf hin, dass eine wissen-

schaftliche Überprüfung der Ideen der SF notwendig sei, damit sie in die Zukunftsforschung

miteinbezogen werden können, da SF per se keine wissenschaftliche Fundierung voraussetze

(vgl. Kimpeler). Dönitz formuliert der SF gegenüber den Vorbehalt, dass sie nur in Kombination

mit weiteren Methoden zu nutzen sei. In Gaßners Augen steht der Nutzung der SF als Quelle für

die Zukunftsforschung die teilweise fragliche Qualität mancher Produktionen entgegen, andere

Antworten thematisierten die große Heterogenität des Genres SF, das teilweise als reine Unter-

haltung konzipiert sei. Steinmüller verleiht seiner Beobachtung Ausdruck, SF sei immer schwe-

rer vom allgemeinen Mainstream abzugrenzen, SF-Themen fänden sich vielerorts auch in ande-

ren Genres und dies führe gar dazu, dass sich SF als Gattung in einem Auflösungsprozess befin-

de. Einen weiteren Grund, dass SF eine geringe Rolle in der Zukunftsforschung spielt, sieht We-

ber darin, dass sich die Sozialwissenschaften nicht gerne mit Technik auseinandersetzen, SF aber

gerade eine starke Betonung auf Technisches lege (vgl. Schwarz). Zukunftsforscherin 2 wies da-

rauf hin, dass beispielsweise in Forschungsprojekten der EU eine Funktionalisierung von SF

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dann stattfinde, wenn lebenswerte Zukünfte entwickelt werden sollen, das normative Moment

also im Vordergrund steht, auch decke SF-Literatur negative Zukunftsbilder bzw. extreme Zu-

künfte ab, wodurch sie eine Ergänzung zur rationalen Zukunftsforschung darstelle.

Zusammenfassend betrachtet fügt sich die Auswertung der beiden Zusatzfragen zu einem über-

raschend positiven Bild der Experten über den potentiellen Nutzen sowie über die Rolle der SF

in der Zukunftsforschung zusammen, das sich allerdings nicht in einer vermehrten systemati-

schen Auswertung von SF niederschlägt. Insgesamt spielt die SF bezogen auf die Tätigkeit der

Experten durchaus eine Rolle, wenngleich diese auch sehr unterschiedlich interpretiert wird und

unterschiedliche Ausmaße annimmt. Diese in der Summe positive Einstellung gegenüber der SF

schlägt sich auch im Bezug auf die Äußerungen der Experten auf die zweite Zusatzfrage nieder:

zwar werden generelle Vorbehalte der Zukunftsforschung gegenüber der SF vermutet, jedoch

lässt sich die Summe der Antworten als Forderung interpretieren, SF intensiver als Quelle für die

Zukunftsforschung zu nutzen, da sie, die richtige Selektion der Werke und eine kritische wissen-

schaftliche Überprüfung der Inhalte vorausgesetzt, vielerlei bisher ungenutztes Potential für die

Zukunftsforschung beherbergt. Im bisherigen Verlauf der Arbeit wurde die Vermutung aufge-

stellt, Inhalte der SF würden methodisch unkontrolliert durch implizite Beeinflussung der For-

scher durch SF Einzug in die Forschung erhalten, was auch teilweise durch die Antworten der

Experten bestätigt wurde. Dem gilt es aus wissenschaftlicher Sicht entgegen zu wirken, indem in

der Zukunftsforschung transparent mit SF gearbeitet wird und die explizite systematische Aus-

wertung von SF stärker praktiziert wird.

4.5 Reflexion der Methode und Rückkoppelung der Expertenmeinungen

Nachdem nun eine Auswertung der Expertenevalutation erfolgte, sollen die Ergebnisse nun in

einem nächsten Schritt auf die empirische Methodik rückgekoppelt werden. Diese Reflexion soll

es ermöglichen, mit den Erkenntnissen, die aus den Antworten der Experten gewonnen werden

konnten, erneut an das SF-Quellenmaterial heranzutreten und eine Neubetonung verschiedener

Aspekte der SF vorzunehmen bzw. dem Material der Statements bisher als nebensächlich be-

trachtete Nuancen hinzuzufügen.

Generell wurden die Statements mit einer starken Gewichtung auf technologische Neuerungen

formuliert. Diese Neuerungen wurden durch die Autoren fast immer als das Novum der Ge-

schichten eingesetzt und sie dienten somit als Grundlage für die Handlungen und Konflikte in

den gezeichneten Ausschnitten der Gesellschaft. Damit folgten sie klar der Logik des „was wäre,

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wenn...“, nach erfolgter Einführung des Novums wurden die gesellschaftlichen Auswirkungen

auf die Gesellschaft, Teile der Gesellschaft oder auf die Psyche der Individuen näher beleuchtet.

Somit beinhalteten die Statements zwar wohl die Nova, nicht jedoch deren Folgen für den ge-

sellschaftlichen Mikrokosmos. Dass jedoch auch gerade eben dieser „narrative Kontext“

(Schwarz) interessant erscheint, in den die Nova eingebettet sind, wird aus der Auswertung der

Zusatzfrage 1 deutlich ersichtlich. Weil die Auswirkungen der Nova auf die Lebenswelt der

Menschen im Detail dargestellt werden, und diese Darstellung eine Bewertung der Technologie

beispielsweise nach ethischen Kriterien erlaubt und gegebenenfalls Fragen nach der Wünschbar-

keit einer solchen Zukunft aufzuwerfen vermag, werden sie in die Präsentation der Ergebnisse

im Rückgriff auf die SF, die für die Aufstellung der Statements verwendet wurde, eingearbeitet.

Gegenüber dem oft zur Ergebnispräsentation genutzten nüchtern-wissenschaftlichen Stil stellte

Gaßner SF als besonders geeignete Form der Textgestaltung für das Szenario-Writing dar. Auch

im Kapitel 3.2.3 dieser Arbeit wird die Textproduktion nach dem stilistischen Vorbild der SF be-

handelt.

M.E. kann mit der hier praktizierten Vorgehensweise, das Material aus der SF einer Experten-

gruppe zur kritischen Bewertung vorzulegen und zusätzlich durch eigene Literaturrecherche eine

wissenschaftliche Überprüfung und Plausibilisierung der Ideen aus der SF vorzunehmen, dem

Vorwurf des „Makel der Belletristik“ ausreichend entgegengewirkt werden. Die erfolgte Kombi-

nation der Auswertung von SF mit weiteren Methoden entspricht somit dem Hinweis von Dö-

nitz.

4.6 Ergebnispräsentation: Eine mögliche Zukunft des Menschen im Cyberspace

Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie präsentiert, dazu wählte ich die Form eines SF-

Szenarios. In der Studie wurden technologische Entwicklungen, ihre potentiellen Anwendungen

sowie die Folgen auf Individuen und die Gesellschaft behandelt, dementsprechend steht die Prä-

sentation dieses begrenzten Bereiches im Vordergrund. Das Szenario erhebt somit keinen An-

spruch auf Vollständigkeit, was die gesellschaftliche Entwicklung in anderen Bereiche, etwa die

zukünftige Familie, Arbeits- und Mobilitätskonzepte, Politik etc.. An diesen Stellen wurden An-

nahmen getroffen, um die Ergebnisse der Studie in einen lebensweltlichen Hintergrund einzubet-

ten. Der erste Teil des Szenarios beschreibt eine mögliche Zukunft in 10, der zweite Teil in 40

Jahren. Es soll keine Prognose gestellt werden, wie die Zukunft sein wird, sehr wohl jedoch, was

möglich ist, und entsprechend der Meinungen der Experten als wahrscheinlich angesehen wer-

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den kann. Eingerahmt in Kästen erfolgt die stichpunktartige Auflistung der verarbeiteten Kern-

themen.

Ilias und Sarah: Ausschnitte aus dem Leben in einer technisierten Zukunft

Du reißt die Verpackung auf, schmeißt sie ein, spülst sie runter mit

dem letzten Schluck Kaffee. ON. Auf dem Weg zur Arbeit. Hoch

bezahlt, Elite. ON heißt das Zeug, das sie dir geben, seit du letzten

Monat zusammengeklappt bist. Ilias, hast du gedacht, jetzt kriegst du die Rechnung - vor dem

versammelten Sales-Team der Firma. Diagnose: Burn-Out. Der Firmen-Arzt hat dich verwundert

angeschaut: „Wie, Sie nehmen keine Enhancer? Wie machen Sie

das? Alle nehmen die!“ Zuerst warst du skeptisch, jetzt nimmst du

sie auch. Jeden Tag. Außer am Wochenende. Heute, 2022, ist das

wohl die Normalität, wenn man zur Elite gehören will. Die Pillen machen dich vor allem schnel-

ler, klarer. Du funktionierst wie eine Schweizer Taschenuhr. Die krassen Nebenwirkungen, die es

noch bis vor ein paar Jahren gab, haben sie in den Griff bekommen, ab und zu musst du noch ein

paar andere Tabletten einschmeißen, damit du Hunger kriegst und

nicht völlig abmagerst. Ach ja - und Kopfschmerztabletten. Weil

keiner kann zehn Stunden auf 120% laufen, ohne dass der Schädel

pocht. Zum Runterkommen am Abend dann die anderen: OFF. Schlafen, Freizeit, OFF.

Mist, wo hast du noch mal das Auto abgestellt? Du schaltest deine

Brille an, ein neues Modell von Cybervision, gerade mal einen Mo-

nat alt. Ob sie dir die Technik nicht lieber implantieren sollen, haben

sie gefragt. Nein, hast du geantwortet, implantieren käme nur in

Frage, wenn du durch einen Unfall ein Bein verlieren würdest, oder so was in der Art. Oder

willst du freiwillig eine Augeninfektion riskieren? „Guten Morgen, Ilias, was kann ich für dich

tun?“ „Hi, find mein Auto nicht.“ In Sekundenschnelle leuchtet der Weg um die Ecke in pulsie-

rendem Grün auf, gespickt mit Pfeilen, die dir die Richtung weisen. Ein weißer Kreis schwebt

über deinem Hyundai, darin ein roter Warnhinweis: „Inspektion seit zwei Wochen fällig“, darun-

ter gleich ein Sonderangebot von deiner Werkstatt. „Emma, mach mir doch gleich einen Termin.“

„Geht klar, Chef!“ Deine digitale Agentin, Emma, weiß schon, dass

du auf dem Weg zur Arbeit bist, sie markiert die Route wiederum

grün. Weil es auf dem direkten Weg einen Unfall gab, führt Emma

Neuro-Enhancement als verbreitetes Phänomen der Leistungs-Elite

Sozialer Zwang zum Ge-hirn-Doping

Stetige Verringerung der Nebenwirkungen durch Forschung

Verbreitung von AR-Tech-nologie

Implantation nur bei me-dizinischer Notwendigkeit

KI-Agenten finden Ver-wendung in vielen Le-bensbereichen

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dich durch kleine Gassen und Alleen, während deine Brille dir deinen Terminkalender für heute

durch das Blickfeld huschen lässt und du deinen Posteingang auf neue Meldungen überprüfst,

den Blick dabei immer auf die Straße gerichtet. Augmented Reality wird das genannt, die ersten

Brillen sind vor fünf Jahren auf den Markt gekommen. Seitdem sind sie immer besser geworden.

Weißt gar nicht mehr, wie du ohne sie leben konntest, die ganzen Informationen über deine Um-

gebung, in der Firma, gleichzeitig Bildtelefon, Computer, persönliche KI-Assistentin. Letzte

Woche gab es eine Cyberattacke auf die Datenserver der Telefon-

firma, da war plötzlich alles weg. Emma war für Stunden tot. Zuerst

hast du die Ausfahrt verpasst und dann hättest du auch fast noch ein

Kind überfahren, weil die Gefahr nicht, wie gewohnt, schreiend rot

markiert war. Das machen die Sensoren im Auto sonst recht zuverlässig. Zum Glück hat dann

dein Auto eine Vollbremsung gemacht. Fahren musst du zwar noch selbst, aber du fragst dich,

wie lang.

Du bist jetzt in der Mittagspause, zwanzig Minuten hast du Zeit für ein paar Nudeln mit Gemüse.

Siebzehn Minuten und sechsundzwanzig Sekunden, sagt Emma. Hast eh keinen Appetit, verges-

sen, die Appetit-Pillen zu nehmen. Links oben, knapp unter der Decke der Kantine, blinkt ein

Bild deiner Tochter. Eine Sekunde, dann sagst du: „Emma, ich möchte den Anruf von Sarah auf

Vollbild annehmen.“ „Klar, Ilias. Bitte!“

„Hallo Papa!“ Sarah hat den Park der Schule gerade durch das große, schwere Eisentor verlas-

sen. Sie ist schon ganz aufgeregt, ihrem Vater die Neuigkeiten zu unterbreiten. Weil Ilias so viel

verdient, kann sie auf eine Privatschule gehen. Heute haben alle Schüler neue Geräte bekommen.

„Papa, heute war ein Dinosaurier im Klassenzimmer! Zuerst hab ich mich ganz doll erschreckt,

Technologieabhängigkeit

Gefahr des Missbrauchs

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aber dann hatte ich gar keine Angst mehr. Die Lehrerin wollte, dass

wir uns die Tiere von früher mal in voller Größe anschauen kön-

nen.“ Ilias schaut kurz verdutzt, versteht dann aber, was Sarah

meint. „Habt ihr heute eure neue Brille bekommen? Gefällt sie dir?“

„Ja, Papa, jetzt hab ich auch so eine wie du, aber für Kinder! Ich

muss Benno nur sagen, was ich will, und schon ist es da.“ „Benno?“

„Weißt du denn nicht mehr, Benno die Maus, aus dem Computer.

Mein kleiner Helfer. Benno ist jetzt auch in der Brille. Er weiß so

viel! Ich glaub er ist viel schlauer als Benno auf dem Computer. Er

hat mir sogar gesagt, welchen Bus ich nehmen muss. Ich fahr jetzt

nämlich zu Cédric. Der hat gesagt, er hätte ein neues Spiel.“ Ilias zögerte einen Moment, seine

Assistentin Emma machte ihn auf einen wichtigen Anruf aufmerksam. „Dann wünsch ich dir viel

Spaß, mein Schatz! Papi muss jetzt schnell wieder arbeiten, wir sehen uns heute Abend.“ Und

weg war er. Dabei wollte Sarah ihm doch noch von dem Spiel erzählen. Cédric hatte ihr erzählt,

dass man dazu einen Anzug anzieht und eine Brille aufsetzen muss, die ein bisschen größer und

schwerer ist als ihre neue. Wenn das Gerät gestartet ist, kann man

wählen, was man tun will: Einkaufen in riesigen Supermärkten oder

Kleiderläden, wo man die Sachen anschauen, anprobieren und be-

stellen kann; Spazieren im Cyberspace, andere Leute von der gan-

zen Welt treffen; verschiedene Sportarten ausprobieren; die Welt aus

der Perspektive einer Ameise betrachten; eines von tausenden von

Games spielen. Und Sarah weiß nicht genau wie das gehen sollte,

aber Benno die Maus könne sogar mitkommen. Cédric hatte gesagt, das wäre alles wirklich um-

werfend, durch die Brille und den Anzug fühlt sich das fast an, wie

in Echt. Aber zum Glück nur fast, als er sich einmal heimlich in ei-

nem ganz unheimlichen Spiel für Erwachsene verirrt hatte (seine

Eltern hatten vergessen, das Gerät auszuschalten), war er froh, dass er einfach auf Stop drücken

konnte. Er hatte sich dann überlegt, wie das wohl wäre, wenn man irgendwann nicht mehr zwi-

schen „echt“ und „unecht“ unterscheiden könnte...

Gefahr der Steigerung der sozialen Ungleichheit durch Neuro-Enhanced Elite und Technologie

Wahrnehmung der Welt durch Technik

Anreicherung der physi-schen Umwelt durch Vir-tuelles

Weiterentwicklung der KI-Technologie

Diffusion von Immersi-onstechnologie durch En-tertainment-Branche, hier: periphere Phantoma-tik

VR als Raum grenzenloser Möglichkeiten

(Noch) keine vollkommene Ablösung der Realität

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Verwirrt bist du, als du zurück kommst aus der vollen Immersion.

Illias, das war verrückt. Du ertappst dich dabei, wie du Ausschau

hältst nach diesem unheimlichen Kerl, mit dem du dich gerade eben

noch unterhalten hast. Nein, das war kein Kerl, ein Wesen vielleicht.

Hoffentlich bist du wirklich zurück, hoffentlich ist das hier die echte

Welt - dir fällt auf die Schnelle nicht ein, wie du das überprüfen könntest.

Doch der Reihe nach. Ziemlich genau dreißig Jahre war das nun her, dass du deine erste Aug-

mented-Reality-Brille bekamst, Emma hieß deine Agentin. Du kannst dich noch gut an die Zeit

erinnern, weil Sarah damals viel zu oft erst spät nach Hause kam, da sie mit Cédric auf Erkun-

dungstour durch den Cyberspace die Zeit vergessen hatte. Damals war Sarah sieben, heute ist sie

siebenunddreißig. Hast dir Abend für Abend ihre Schwärmereien angehört, zuerst über diese un-

glaublichen Möglichkeiten der Technik, dann über die Möglichkeiten der Technik und über

Cédric. Die beiden sind von da an immer zusammengeklebt und haben ihre techno-utopischen

Ideen entwickelt, wollten ewig zusammen leben im Cyberspace. Ob sie das immer noch wollen,

weißt du nicht, du weißt nur, dass bisher alle Versuche gescheitert sind, das menschliche Be-

wusstsein zu digitalisieren. Vor zehn Jahren sind die beiden nach

Kanada gegangen, leben jetzt in so ´ner Tech-Kommune.

Sarah erklärte ihrem Vater gerne noch einmal, warum sie nach Ka-

nada gegangen waren. „Ilias, wir legen große Hoffnungen in die Technologie, sie kann die Ge-

sellschaft revolutionieren. Eine superintelligente Künstliche Intelligenz plant hier unseren nach-

haltigen Wirtschaftskreislauf. Über die Brillen wird alles koordiniert, registriert. Über die Bril-

len stimmen wir auch gemeinsam über Fragen ab...“. Wenn Sarah

bei diesem Thema in Fahrt war, war sie kaum zu stoppen. Sie erin-

nerte ihren Vater, dass er mit seinen dreiundsiebzig Jahren nur noch

arbeiten gehen konnte, weil ein Teil seiner Organe durch künstliche

ersetzt wurden, teilweise wurden neue Organe aus seinen eigenen Zellen biologisch gezüchtet.

Realitätsschock durch die zentrale Phantomatik

VR und physische Realität sind nicht voneinander zu unterscheiden

Möglichkeit der Digitali-sierung des Bewusstseins wird als sehr unwahr-scheinlich angenommen

Ausdruck von Hoffnung der Menschen auf die Lö-sung sozialer Probleme durch Technik

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„Papa, wie viele Menschen bist auch du ein Cyborg! Eine Mischung

aus Mensch und Technik!“ Er antwortete dann immer:„Es kommt

nicht darauf an, wie viel Technik in mir steckt, sondern dass ich

mich als Mensch fühle!“ Sarah erklärte ihm, dass er bei seinem Au-

tounfall vor einem halben Jahr auch von einem Cyborg gerettet

worden war. Weil er es eilig hatte, steuerte Ilias sein Fahrzeug lieber

manuell , das Fahrsystem hiel t s ich für sein Verständnis zu s tr ikt an die

Geschwindigkeitsbegrenzungen. Er wurde durch seine Brille vom

Straßenverkehr abgelenkt und dein Fahrzeugmodell schaltete bei

manueller Steuerung automatisch alle Notfallsysteme ab, er fuhr fast

ungebremst auf einen Baum. Ilias überlebte wohl deshalb, weil sei-

ne Brille die kritischen Veränderungen seiner Vitalfunktionen registrierte und sofort den Notruf

aktivierte. Ein vom Arzt im Krankenhaus ferngesteuerter Roboter führte dann eine Notoperation

am Unfallort durch. Der Roboter war in Sarahs Augen der künstlich verlängerte Arm des Cy-

borg-Arztes.

Letztlich war also ein Cyborg-Arzt der Grund dafür, dass du heute mit deinen dreiundsiebzig

Jahren die unheimliche Bekanntschaft einer Super-KI machen durftest. Irgendwie bist du hier auf

der koreanischen Messe für Immersionstechnik gelandet, auf diesem High-Tech-Stuhl der „Ne-

wReal Inc.“. Hast dir diese Badekappe mit der Brille übergezogen, das kalte Metallteil an den

Nacken angelegt, und weg warst du. Raus aus deinem Körper. Zu-

erst warst du ein kleines grünes Dreieck, dann körperlos und überall

zugleich. Hat dir aber beides nicht gefallen, ist ein ziemlich seltsa-

mes Gefühl, so ganz ohne menschlichen Körper. Dann hattest du

einen Körper, einen dunkelhäutigen glattrasierten, zwar nicht dein

Ding, aber immerhin eine deutliche Verbesserung. Sie gaben dir ei-

ne Umgebung, ein Haus mit einer noblen Einrichtung, extrem realis-

tisch, hättest du es nicht gewusst, dass das alles nicht real ist, du hät-

test es nicht gemerkt. Aber du hättest gemerkt, dass irgendwas mit dem Kerl nicht stimmt, der

dann zur Tür herein spazierte. Zuerst dachtest du, das sei ein anderer Kunde von der Messe in

dem Körper, so seid ihr ins Gespräch gekommen. Aber er war seltsam, habt euch nicht verstan-

Mensch im Transformati-onsprozess zum Cyborg

Technik wird zum Bestandteil des Körpers

Lebensverlängerung durch Prothetik

Neuartige Gefahren durch Technik

Intelligente Cybertechnik in allen Lebensbereichen

Möglichkeit der zentralen Phantomatik in der 2. Jahrhunderthälfte

Grenzenlose Möglichkei-ten in der VR

Bedeutung des Körpers

Perfekte Simulation

Florian Kraftschik [email protected]

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den, er war dir fremd. Sah aus wie ein Mensch. War keiner. Hast das

irgendwie gemerkt, zwischen den Zeilen gelesen. Unbehagen mach-

te sich breit, du wurdest nervös, bekamst Panik. Sie haben das wohl

an ihren Instrumenten bemerkt, haben dich rausgezogen. Was gere-

det von „unausgereift“, „für Labors, zu Testzwecken“, „ohnehin zu teuer für den Endverbrau-

cher“. Ab heute bist du der Meinung, KIs in menschlichen Körpern sollten gesetzlich verboten

werden. Sie sind den Menschen einfach zu unähnlich. Jedenfalls bist

du froh, dass du wieder raus bist. Dass du deinen Körper wieder

hast. Das musst du erst mal verdauen, nimmst die Brille, rufst Sarah

an...

5. Neue Herausforderungen für die Soziologie

Das Szenario zur Ergebnispräsentation zeigt, dass es als wahrscheinlich angenommen werden

kann, dass der Mensch und die Maschine in Zukunft noch näher aneinander rücken, gar mitei-

nander verschmelzen. Der Cyberspace ist im Szenario ein allgegenwärtiges Phänomen, die Pro-

tagonisten Ilias und Sarah sind ständig vernetzt. Ilias ist angehöriger einer neuen psychopharma-

zeutisch und technologisch leistungsoptimierten Elite. Er steht außerdem stellvertretend für den

Trend der Entwicklung des Menschen zum Cyborg, im Laufe seines Lebens werden immer mehr

seiner Körperteile durch technische Ersatzteile ersetzt, seine Lebenserwartung wird dadurch ge-

steigert. Der Alltag der Protagonisten ist hoch technisiert, die meiste Zeit nehmen die beiden eine

Umwelt wahr, die angereichert ist mit virtuellen Informationen. Die Entwicklungen auf dem Feld

der Immersionstechnologie bietet den Protagonisten die Möglichkeit, in eine virtuelle Wirklich-

keit einzutauchen, zunächst ist diese noch von der physischen Realität unterscheidbar, in ferne-

ren Zukunft ist sie gar total. Beide greifen auf KI-Agenten zurück, diese sind ihre Schnittstelle

zur Technik und sie assistieren ihnen in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens.

Die Ergebnisse zeigen: mögliche Entwicklungen der Technologie sind vielfältig, ebenso wie ihre

Anwendungsmöglichkeiten und vor allem ihre Auswirkungen auf die Ausgestaltung der mensch-

lichen Lebenswelt. Dies bleibt nicht ohne Folgen für die Begriffe der Soziologie als Disziplin,

die mit der Analyse sozialer Sachverhalte befasst ist und auch die Anthropologie muss sich den

Herausforderungen durch die stetige Technisierung annehmen. Mit einem Blick auf den Trend

zur Prothetik und Cyborgisierung wird in Kap. 5.1 gezeigt, dass die Grenzziehung zwischen

Mensch und Maschine nicht aufrechterhalten werden kann, außerdem wird exemplarisch an der

Andersartigkeit von KI

Gefühl der Fremdheit bei optischer Ähnlichkeit zum Menschen

Ethisch-juristische Prob-leme mit Künstlicher Intel-ligenz

Florian Kraftschik [email protected]

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AR-Technologie demonstriert, wie die Soziologie den Mensch als Mensch-Maschine für die A-

nalyse sozialer Sachverhalte zugrundelegen muss und welche Fragestellungen sich in diesem

Kontext ergeben.

Der Mensch nutzte die Technologie der Industriegesellschaft lediglich als Werkzeug mit einem

klar umrissenen Anwendungsgebiet (vgl. Bühl 1997: 41), im soziologischen Modell des Compu-

ters nach Bühl (ebd.) vereint dieser „Werkzeug“, „Denkzeug“, „Medium“ und „virtuelle Maschi-

ne“ zur „Universalmaschine“. Im Rahmen der in der Zukunftsstudie aufgezeigten Möglichkeiten

entwickelt sich der Computer immer mehr zur „Wirklichkeitsmaschine“, virtuelle Realität tritt in

Konkurrenz zur physisch-materiellen. Welche Probleme sich daraus für das Konzept der „Wirk-

lichkeit der Alltagswelt“ (Berger/Luckmann 2009: 24) - ergeben, wir in Kap. 5.2 diskutiert.

KIs erwecken in der Kommunikation mit dem Menschen in vielen Fällen den Eindruck, selbst

menschlich im Sinne eines sozialen Gegenübers zu sein. Ihre alltagssprachliche Redeweise und

die Bezüge ihrer Kommunikation zur menschlichen Lebenswelt verleiten dabei leicht zur fälsch-

lichen Anthropomorphisierung des nicht-humanen Gegenübers. In Kap. 5.3 erfolgt die Einord-

nung von KIs in das Konzept des ,maximal Fremden‘ (vgl. Schetsche/Gründer/Mayer/Schmied-

Knittel 2009). Daran schließt die Analyse an (Kap. 5.4); inwieweit grundlegende soziologische

Konzepte zur Beschreibung sozialer Tatbestände wie „Handeln“ (vgl. Weber 1980: 1; vgl. Schütz

1971: 77ff) und „Verstehen“ (Schütz/Luckmann 2009: 26) auf die Interaktion des Menschen mit

KIs und Roboter angewandt werden können und welche Folgen sich daraus für die Soziologie

ergeben.75

Der phänomenologisch-wissenssoziologische Zugriff auf das Thema wird deshalb gewählt, weil

die Alltagswelt gleichzeitig der Ort der Genese der objektiven Faktizität der Gesellschaft und

dem Subjekt darstellt; sie der Kristallisationspunkt von ,Sinn‘, ,Sprache‘ und ,Zeit‘ (vgl. Berger/

Luckmann 2009: 28f) und somit zentral. Die zu erwartenden technologischen Entwicklungen

werden zu Veränderungen in der Lebenswelt der Menschen führen, den konsensuellen Charakter

der Alltagswelt als „Wirklichkeit par excellence“ (ebd.: 2009: 24) möglicherweise gar in Frage

stellen. Weil die zu erwartenden Veränderungen gleichermaßen sowohl die subjektive Ebene des

Individuums als auch die objektive Ebene der Gesellschaft betreffen, wird eine Analyse auf der

Basis des Berger und Luckmann´schen Sozialkonstruktivismus als besonders gewinnbringend

erachtet.

Florian Kraftschik [email protected]

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75 D‘Avis (1994) konstatiert: „Es gibt also gute Gründe, das KI-Vorhaben als Herausforderung für Philosophie und Sozialwissenschaften anzunehmen“ (ebd.: 11).

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5.1 Menschmaschinen und Maschinenmenschen: Die Grenzen der Grenzziehung

„[Ich habe] vor einiger Zeit in einem Forum jemanden erlebt, der völlig ernsthaft behauptet hat, dass es ihm auf die Nerven geht, dass er sein iPhone immer mit rumschleppen muss und das endlich in sein Gehirn eingesetzt haben möchte. Solche Fantasien sind eher was für unsere Freunde in Kalifornien und Japan.“ (Jelleen 2012: 81)

Zugegebenermaßen ist gemäß der Einschätzung der im Zuge dieser Arbeit befragten Expertinnen

und Experten (siehe Kap. 4.4) nicht davon auszugehen, dass der zitierte Wunsch des Besuchers

eines Forums als repräsentativ für die meisten Menschen angenommen werden kann. Die Im-

plantation von technischen Bauteilen in den Körper wird wohl auf längere Zeit nur in seltenen

Einzelfällen auf freiwilliger Basis ohne zugrundeliegende medizinische Notwendigkeit erfolgen.

Jedoch kann das Problem dieser Person höchstwahrscheinlich in nächster Zukunft auf andere

Weise behoben werden, wenn die ersten AR-Brillen Marktreifer erlangen. Die Technik - im zi-

tierten Beispiel ist dies zu beobachten - nähert sich immer weiter an den Körper an, sie wird ste-

tig verkleinert und mehr sogar: sie ist stetig verfügbar und allgegenwärtig. Ein Mensch, der nicht

auf Technik zurückgreift, erscheint kaum mehr vorstellbar.

„Auch im besonderen hat die anthropologische Bestimmung Fallstricke zu bieten, wenn es um die Kriterien dessen geht, was denn nun das Wesen des Menschen positiv ausmacht. Ohne technische Mittel, so zeigt sich, ist menschliches [sic!] Existenz schlechterdings nicht möglich. Insofern also Menschen von solchen Mitteln gesellschaftlich abhängen, stehen sie unter technischen Bedingungen, sind also gewissermaßen künstliche Menschen“. (Spreen 2000: 186)

Wenngleich auch die Vermutung naheliegt, dass der Mensch seit dem Zeitpunkt seiner evolutio-

nären Genese gar nie ohne Technik existierte, so bildet die Technik nun immer mehr eine Einheit

mit dem menschlichen Körper. „In der zunehmenden Hybridisierung des Menschen durch die

Verbindung von Maschine und Körper, Technik und Geist liegt ein Prozess versteckt, den wir als

den Verlust der Unterscheidbarkeit beschreiben können. Die Schnittstellen fallen weg oder wer-

den unsichtbar“ (Meckel 2012). Doch nicht nur weil die Schnittstellen zwischen Mensch und

Maschine „versteckt“ oder „unsichtbar“ werden, verschmelzen die beiden zusehends; Metzinger

(2009) beschreibt die phänomenologische Beobachtung, dass Menschen in der Lage sind, Werk-

zeuge und künstliche Körperteile in ihr Körperschema zu integrieren. Die Konstruktion des

Selbst weitet sich auf künstliche Artefakte aus; weil diese Teile nun zum Selbst gehören, nennt er

das Phänomen Meinigkeit (vgl. ebd.: 113ff). Eerikäinen (2000) sieht die Menschheit angesichts

der Cyborgisierung und der Verschmelzung des Virtuellen mit dem physisch-realen auf der

Schwelle zum Eintritt in eine postbiologische, postevolutionäre und posthumane Ära (vgl. ebd.:

168). Die Grenze zwischen Mensch und Technik verschwimmen also zusehends, der Cyborg

wird zur Norm und der Mensch zum Cyborg.

Florian Kraftschik [email protected]

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In der Soziologie muss der Mensch also immer in Verbindung mit der Technik gedacht werden,

weil die Technik als Bestandteil des Körpers die menschliche Identität und Weltwahrnehmung

prägt und somit eine Auswirkung auf die Ausprägung der sozialen Wirklichkeit hat.76 Deutlich

wird dies am Beispiel der AR-Technologie. Die Ergebnisse der im Zuge dieser Arbeit durchge-

führten Studie legen nahe, dass AR-Technologie in nächster Zukunft zunehmend Verbreitung

finden wird. AR-Technologie führt zu einer Verschmelzung des virtuellen mit dem physisch-rea-

len, die beiden Welten wachsen immer weiter zusammen (vgl. auch Meckel 2012).77 Der Nutzer

von AR-Technologie hat die Möglichkeit, seiner Wahrnehmung der Welt virtuelle Ebenen hinzu-

zufügen, wodurch die physische Realität durch virtuelle Informationen angereichert wird. Er be-

findet sich nun in einer Misch-Realität (Mixed Reality), die sich durch die virtuelle Ebene von

der Realität einer Person unterscheidet, die keine AR-Technologie nutzt. Andere Nutzer von AR-

Technologie entscheiden sich jedoch aber vielleicht für die Zuschaltung ganz anderer virtueller

Ebenen, so dass aus verschiedenen Nutzungsgewohnheiten der Technologie nun plötzlich gänz-

lich verschiedene Wahrnehmungen der Umwelt resultieren, getreu dem Motto: „Ich sehe was,

was Du nicht siehst“ (Hamman 2009). Durch die neu gewonnene Multiperspektivität scheint die

Alltagswelt der Gesellschaft plötzlich mit Rissen durchzogen zu sein; besteht die Gefahr einer

Fragementarisierung der Gesellschaft? Wie wird sich die Veränderung der individuellen Wahr-

nehmung der Welt auf die Sinnbezüge auswirken, die menschlichem Verstehen zugrunde liegen?

Resultieren unterschiedliche Nutzungsgewohnheiten und die Anreicherung der physischen Reali-

tät mit verschiedenen Inhalten in neuen virtuellen Habitus78? Viele AR-Systeme zeichnen außer-

dem ortsbezogene Daten auf; ist durch die Technologie die Herausbildung einer neuen Form der

Überwachung zu befürchten, ein technologiegestütztes Post-Panoptikum?

Dies sind nur einige exemplarische soziologische Fragestellungen, die aus dem Denken des

Menschen als Mensch-Maschine im Bezug auf AR-Technologie resultieren. Auf den weiten Fel-

dern der Prothetik und Cyborgisierung sowie des Neuro- und Human-Enhancement ist die Sozio-

logie, aber auch die Anthropologie und die Philosophie mit der Aufgabe konfrontiert, Fragestel-

lungen zu identifizieren, Entwicklungen zu analysieren und zu beschreiben sowie aktiv an der

Ausgestaltung der Zukunft mitzuwirken.

Florian Kraftschik [email protected]

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76 Dies formuliert Czerski (2012) stellvertretend für die Generation von Netz-Nutzern, die mit dem Netz aufgewach-sen sind: „Für uns ist das Internet kein ”Ort“, kein ”virtueller Raum“. Für uns ist das Internet keine externe Erweite-rung der Wirklichkeit, sondern ein Teil von ihr: eine unsichtbare, aber jederzeit präsente Schicht, die mit der körper-lichen Umgebung verflochten ist.“77 Für einige Beispiele zur AR siehe http://praesoll.com/2010/03/31/ich-sehe-etwas-das-du-nicht-siehst…/.78 Zu Bourdieus Konzept des Habitus siehe Dirksmeier 2007.

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5.2 Virtualität und neue Wirklichkeit

Im Unterschied zur AR-Technologie, welche die physische Realität um eine oder mehrere virtu-

elle Ebenen erweitert, ersetzt immersive VR-Technologie die physische Welt komplett und tritt

an ihre Stelle.79 Die Voraussetzungen für das Gelingen der Ablösung der Realität ist die Verfüg-

barkeit entsprechender Technologie zur Immersion in den Cyberspace; die periphere Phantoma-

tik scheint beim derzeitigen Stand der Technik schneller realisierbar als die totale Schnittstelle

der zentralen Phantomatik (vgl. Kap. 4.3.2). Immersion bezeichnet lat. das „Eintauchen“; wie

beim Eintauchen in dickflüssige undurchsichtige Farbe umgibt die VR des Cyberspace den Cy-

bernauten völlig, die VR ist total, es existiert kein Hinweis auf die Existenz einer Realität jen-

seits der Grenzen der VR - außer die eigene Erinnerung. Computer werden so zu „Wirklich-

keitsmaschinen“, sie erwecken Welten zum Leben, in denen prinzipiell alles möglich ist.

„Wenn wir von virtuellen Räumen sprechen, dann meinen wir, daß wenigstens im Bereich des Denk-baren und vielleicht gar schon des Machbaren die Möglichkeit drängt, alternative Welten herzustellen, sie der Konkretizität immer näherzubringen, so daß sie immer virtueller in jenem Sinne werden, von dem ich gesprochen haben, bis wir in einer Pluralität von Welten leben werden, von denen keine kon-kreter oder weniger konkret als die andere sein wird, von denen es von keiner einen Sinn haben wird zu sagen, sie sei wirklich oder sie sei fiktiv. Von keiner wird man sagen können, sie sei eine natürliche Gegebenheit, von keiner wird man sagen können, sie sei ein mediales Kunstwerk, von keiner dieser Welten wird man sagen können, daß in ihr die Sätze wahr oder falsch sind.“ (Flusser 1993: 70)

Flusser weist darauf hin, dass sich die Welten der VR gänzlich von der physisch-materiellen Re-

alität unterscheiden könnten. Dies betrifft sowohl die Umwelt und die physikalischen Gesetzmä-

ßigkeiten, die in der VR herrschen, als auch die Ausgestaltung der Körper der Bewohner der VR.

Weil die Welten jedoch von Menschen konstruiert werden, werden die Grenzen der Gestaltbar-

keit durch die Grenzen dessen bestimmt, was sich die Konstrukteure vorstellen können. Wenn in

der VR andere Gesetze gültig sind als in der physischen Realität, müssen die Cybernauten diese

Gesetzmäßigkeiten zunächst dechiffrieren, damit sie adäquate Mittel für erfolgreiches Handeln

wählen können. Wird der virtuelle Raum von mehreren Menschen bevölkert - schließlich ent-

spricht dies der Idee eines vernetzten Cyberraums - so wird sich eine virtuelle Gesellschaft for-

mieren, in der die Sinnbezüge der Wirklichkeit der Alltagswelt der physischen Realität aufgrund

differierender Gesetzmäßigkeiten keine Gültigkeit haben. Fortan tritt die Wirklichkeit der VR in

Konkurrenz zur Alltagswelt. Während Berger und Luckmann (2009) für die Alltagswelt festhal-

ten, dass sie sich „im Bewußtsein in der massivsten, aufdringlichsten, intensivsten Weise [instal-

liert]“ und in „ihrer imperativen Gegenwärtigkeit [...] unmöglich zu ignorieren [ist]“ (ebd.: 24),

so gilt dies nicht für den Cybernauten, der seinen Lebensschwerpunkt in den Cyberspace verla-

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9779 „die modelle werden erstklassige wirklichkeit und als solche fraglos [sic!]“ (Wiener 1969: CXLIV).

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gert hat. Doch auch für temporäre Besucher der VR bedroht die Wirklichkeit der VR die Wirk-

lichkeit der Alltagswelt:

„Die Alltagswelt aber wird, auch wenn in actu ihre massive Gewißheit gewahrt bleibt, von den Grenz-situationen menschlicher Erfahrung bedroht, die sich eben nicht total in die Alltagswelt einklammern lassen. Wir wissen immer von unheimlichen Metamorphosen, erlebten und möglichen, und immer begegnen wir irgendwo in der Gesellschaft dräuend konkurrierenden Bestimmungen der Wirklichkeit“ (ebd.: 158).

Diese konkurrierenden Bestimmungen finden wir möglicherweise im Cyberspace, aus der „neu-

en sozialen Welt“ (Schetsche 2003: 66) wird eine Bedrohung für die alte. Während in der Ge-

genwart kein vollimmersiver Cyberraum existiert, der für die meisten Menschen zugänglich ist,

teilen alle Mitglieder der Gesellschaft eine Alltagswelt. Mit Phänomenen, die in der Virtualität

von der Sinnwelt der Alltagswelt abweichen, werden neue Sinnstrukturen und Deutungsmuster

internalisiert, die fortan inkompatibel sind mit denen der Alltagswelt. Möglicherweise gedeiht in

der „neuen sozialen Welt“ eine neue Gesellschaft, die sich von der Gesellschaft der physischen

Welt fortan entfremdet.

Von der „Sinnwelt“ (Schetsche 2003: 77) der Alltagswelt abweichende Phänomene können auch

im Internet beobachtet werden (z.B. die Nutzung der Abkürzung ,lol‘ für ,laughing out loud‘)

jedoch geschieht dies im Abgleich mit der Wirklichkeit der Alltagswelt; ein Gegenüber in der

physisch-realen Welt wird die Äußerung „lol“ z.B. im Kontext einer humorvollen Äußerung

durchaus verstehen, weil der Sinngehalt der kryptischen Aussage durch die Grenzen der Welten

hindurch diffundierte. Der ausschließliche Bewohner einer VR, in deren Gesellschaft gänzlich

andere Sinnbezüge bestehen - in der womöglich eine andere Sprache gesprochen oder gar an-

dersartig und sprachlos kommuniziert wird - wäre hingegen nicht in der Lage, seinen Motiven

gegenüber einem Bewohner der physisch-realen Welt Ausdruck zu verleihen und vice versa.

Aus diesem Charakter des Cyberspace als konkurrierende Sinnwelt ergibt sich für die Wissens-

soziologie ein großes empirisches Beobachtungsfeld. Hier einige exemplarische Fragestellungen:

- Mit seinem Körper nimmt der Mensch unmittelbar an der Gesellschaft teil, über die Sinnesein-

drücke des Körpers nimmt er die ihn umgebende Welt wahr. Untersucht werden kann nun die

Rolle des Körpers im Cyberspace für die Ausbildung einer Identität und die Konstruktion der

Wirklichkeit. Ist eine körperlose Existenz möglich? Wie verändert sich die individuelle Wahr-

nehmung der Welt durch einen Wechsel des Körpers?

- Wie wirkt sich die Konkurrenz der Wirklichkeit der VR auf die Sinnbezüge der Wirklichkeit

der Alltagswelt aus? Nähern sich die beiden Welten sinnhaft aneinander an, oder wird ein Vers-

tehen der Bewohner der verschiedenen Welten immer mehr zur Unmöglichkeit? Welche Folgen

Florian Kraftschik [email protected]

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resultieren für ein Individuum aus dem ständigen Wechsel zwischen den Wirklichkeiten mehre-

rer Welten? Denn:

„Genauso wie Wirklichkeit ursprünglich mittels eines gesellschaftlichen Prozesses internalisiert wird, wird sie auch mittels gesellschaftlicher Prozesse im Bewußtsein festgehalten. Diese späteren Prozesse sind von der früheren der Internalisierung nicht etwa dramatisch verschieden. Auch sie spiegeln die fundamentale Tatsache, daß subjektive Wirklichkeit in Beziehung stehen muß zu einer objektiven Wirklichkeit, die gesellschaftlich bestimmt wird.“ (Berger/Luckmann 2009: 159f)

- Es ist davon auszugehen, dass der Mensch im Cyberspace nicht nur mit Menschen interagiert,

sondern dass er in sozialen Situationen vermehrt auch mit KIs konfrontiert werden wird. Doch:

was bedeutet „Handeln“ und „Verstehen“ im Kontext der KI? Zu dieser Frage siehe die Aus-

führungen in den folgenden Kapiteln 5.3 und 5.4.

5.3 Warum Maschinen kein Eis essen können: Zum Konzept des ,maximal Frem-

den‘

„Eine sehr, wie soll man sagen, eindrückliche Aussage habe ich von einem sehr neunmalklugen Zehn-jährigen bekommen, das war mein jüngster Interviewpartner. Der sagte vor seinem Computerkurs auf die Frage, ob denn Menschen und Computer irgendwann gleichartig werden könnten „Nee, ein Robo-ter wird nie ein Eis essen können“. Und DAS, das finde ich schon eine sehr wichtige Aussage. Da hat er wohl wirklich was erkannt. Man kann sicherlich einen Roboter bauen, der irgendwie Eis verdauen kann, der das mechanisch abschlabbert und in irgendwelche Folgeprodukte verwandelt. Aber die sen-sorischen Qualitäten, die Begeisterung, die Assoziationen, das, was sich da alles erfüllt, was ein Orga-nismus dabei erlebt, das wird eben diese Simulation in DIESER WEISE NICHT KÖNNEN.“ (Inter-viewtranskript Gaßner)

Obwohl dieser Äußerung des Jungen keine besondere Elaboriertheit unterstellt werden soll,

scheint er dennoch intuitiv erkannt zu haben, dass sich KIs bzw. Roboter von Menschen grund-

legend unterscheiden. An dieser Stelle wird untersucht, worin die Unterschiede maßgeblich lie-

gen, wie KIs als nicht-menschliche Interaktionspartner kategorial gefasst werden können und

welche Folgen sich daraus für den Umgang zwischen Menschen und intelligenten Maschinen

ableiten lassen. Gaßner liefert eine Interpretation des Eingangszitats, die verdeutlicht, dass die

Erfahrungen des Eis essenden Roboters deutlich von den Erfahrungen eines Menschen abwei-

chen. Die Unterschiede liegen hier in den „sensorischen Qualitäten“ sowie in der „Begeisterung“

und in den „Assoziationen“. Dabei zielt ersteres auf die Qualität der Weltwahrnehmung ab, die

als eine Folge der Andersartigkeit seines Körpers zu sehen ist, die beiden letzteren betreffen die

Einordnung des Erlebnisses in den Erfahrungsschatz bisheriger gesammelter Erinnerungen und

seiner Deutung im Kontext der Sinnzusammenhänge der Wirklichkeit des Roboters. Sowohl der

Körper des Roboters als auch sein Erfahrungsschatz unterscheiden sich wesentlich von dem des

Menschen, nach Schetsche, Gründer, Mayer und Schmied-Knittel (2009) kennzeichnen diese

Florian Kraftschik [email protected]

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Unterschiede den Roboter bzw. die KI als den „maximal Fremden“ (ebd.: 473).80 „Es handelt

sich beim maximal Fremden mithin um eine relationale Grenzkategorie[...], die das Verhältnis

zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren in sozialen Situationen beschreibt“

(ebd.)81, d.h. der ,maximal Fremde‘ erscheint uns nicht so vertraut, wie dies bei einem Mensch

der Fall wäre, wäre er uns auch noch so fremd, er erscheint uns aber anderseits auch nicht so

fremd, dass wir eine Interaktion nicht in Betracht zögen, weil wir ihn gar nicht als Gegenüber

erkennen; der ,maximal Fremde‘ liegt genau dazwischen. Schetsche, Gründer, Mayer und

Schmied-Knittel (2009) stellen „fünf Minimalanforderungen“ für den ,maximal Fremden‘ auf:

„(a) eine partielle Kompatibilität von Sinnes- und Kommunikationskanälen, (b) irgendeine Form

von interner kohärenter Denk- und Entscheidungsinstanz, (c) ein zumindest rudimentäres Selbst-

bewusstsein, (d) intentionale Handlungsmöglichkeiten und (e) eine prinzipielle Kommunikati-

onswilligkeit“ (ebd.: 472f). Die Autoren benennen „Götter, Engel, Dämonen, Roboter und Au-

ßerirdische oder auch Tiere der unterschiedlichsten Art“ (ebd.: 478) als Beispiele für Wesen, die

in die Kategorie des ,maximal Fremden‘ fallen, für Roboter und KIs soll nun überprüft werden,

ob die fünf Minimalanforderungen erfüllt sind.

Zu (a): Damit die „partielle Kompatibilität von Sinnes- und Kommunikationskanälen“ bei den

künstlichen durch Menschenhand geschaffenen Wesen als gegeben erachtet werden kann, muss

eine Betrachtung ihrer Programmier- und Bauart erfolgen. Eine Konstruktion von KIs und Robo-

tern, die dieses Kriterium nicht erfüllt, ist durchaus denkbar, allerdings nicht in all jenen Fällen,

in denen sie unter die zu Beginn dieser Arbeit aufgestellte Definition von KI fallen. Die Fähig-

keit zur „Interaktion“ mit dem Menschen ist ein Definitionskriterium, dem wiederum diese parti-

elle Kompatibilität zugrunde liegt, wenn diese „Interaktion“ gelingen soll. Somit erfüllten alle

KIs und Roboter nach der Definition dieser Arbeit dieses Kriterium.

Zu (b): Eine „Form von interner kohärenter Denk- und Entscheidungsinstanz“ liegt bei Robotern

und KIs in Form des Programmcodes vor. Dieser Code folgt entweder einer eingeschriebenen

algorithmischen Logik oder Logik komplexen Systemen von Feedbackschleifen, somit ist Krite-

rium (b) ausnahmslos erfüllt.

Florian Kraftschik [email protected]

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80 Schetsche, Gründer, Mayer und Knittel (2009) treffen die Unterscheidung zwischen dem „sozial Fremde[n]“, dem „kulturell Fremde[n]“, dem „maximal Fremde[n] und dem „schlechthin Fremde[n]“. Während er sich bei den ersten beiden Kategorien um menschliche Subjekte handelt, die „persönliche nicht bekannt oder nicht Mitglied meiner so-zialen Gruppe“ (ebd.: 473) sind („der sozial Fremde“) oder die „nicht die mein Weltbild bestimmenden Gewisshei-ten [teilt]“ (ebd.) („der kulturell Fremde“), dienen die letzten beiden Kategorien zur Beschreibung des Nicht-menschlichen. Während dem ,maximal Fremden‘ jedoch ein Subjektstatus unterstellt wird, entfällt dieses bestim-mende Moment beim schlechthin Fremden (vgl. ebd.). Dieser „wird nicht als Gegenüber (an-)erkannt“ (ebd.), somit handelt es sich beim ihm nicht um einen Akteur, mit ihm ist „keine Interaktion/Kommunikation möglich“ (ebd.).81 Waldenfels (1997) konstatiert: „Es gibt nur ein relativ Fremdes, bezogen auf bestimmte Standorte“ (ebd.: 65).

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Zu (c): Die Überprüfung des Vorhandenseins eines rudimentären Selbstbewusstseins stellt sich

bei einer eingehenden Betrachtung als Herausforderung dar: rudimentär kann „unvollständig“,

„unvollkommen“, „im Ansatz“, aber auch „unzureichend“ (Duden Fremdwörterbuch 2005: 922)

bedeuten, wobei m.E. die letzte Bedeutung der Intention der Autoren und der Autorin nicht ent-

spricht. Metzinger (2009) setzt die Bewusstheit des Selbst mit dem Erlangen eines Subjektstatus

gleich, er fragt:

„Unter welchen Bedingungen wäre die Annahme gerechtfertigt, dass ein gegebenes postbiotisches System auch bewusste Erlebnisse hat? Oder dass es sogar ein bewusstes Selbst besitzt und eine echte, bewusst erlebte Erste-Person-Perspektive? Was verwandelt ein informationsverarbeitendes System in ein Erlebnissubjekt?“ (ebd.: 268)

Zur Beantwortung dieser Frage führt er das Vorhandensein „eines einzigen inneren Modells der

Wirklichkeit“ (ebd.: 269), das „ständig aktualisiert werden kann“ (ebd.), eine „subjektive Per-

spektive der Zeit“, des „Gegenwartsfensters“ (ebd.) „sowie die Bedingung, dass keines von bei-

den als ein Modell erkannt werden kann“ (ebd.: 270) an.

„Wenn ein System ein ebenso durchsichtiges inneres Bild von sich selbst in diese phänomenale Wirk-lichkeit einbetten kann, dann wird es sich selbst erscheinen. Es wird ein Ego werden und ein naiver Realist in Bezug auf all das, was sein Selbstmodell ihm sagt, dass es ist. Unsere Ego-Maschine würde sozusagen an dem Inhalt des Selbstmodells »kleben« und sich deshalb mit ihm identifizieren. Dann wird die phänomenale Eigenschaft des Ichgefühls, der Selbstheit, von diesem künstlichen oder postbi-otischen System verkörpert werden, und es wird sich selbst nicht nur als jemand erscheinen, sondern - durch das Gegenwartsfenster - auch als anwesend. Es wird an sich selbst glauben.“ (ebd.)

Metzinger geht derweil nicht davon aus, dass KIs im aufgezeigten Sinne derzeit über ein be-

wusstes Selbst verfügen, bei Tieren gestaltet sich teilweise der empirische Beweis als problema-

tisch (vgl. ebd.: 271), jedoch treffen Schetsche et al. (2009) die Einschränkung, ein Selbstbe-

wusstsein müsse nur rudimentär vorhanden sein. Da sich jedoch Metzingers harte Kriterien für

das Erlangen eines Subjektstatus nicht bloß „im Ansatz“ erfüllen lassen und sie nur entweder

vorliegen oder nicht vorliegen können, soll an dieser Stelle ein Vorschlag erfolgen, welche den

Konflikt mit Bezugnahme auf die kybernetischen Äquivalenzformel (vgl. D‘Avis 1994: 9) löst.

Nach diese Formel ist ein „rudimentäres Selbstbewusstsein“ dann bei einer KI vorhanden, wenn

sie ihrem menschlichen Gegenüber als ein System mit Selbstbewusstsein erscheint. Somit kann

dieser Widerspruch der beiden Konzepte von der Ego-Maschine und der Formulierung „rudi-

mentäres Selbstbewusstsein“ für quasi-soziale Situationen entschärft, nicht jedoch gänzlich auf-

gelöst werden. M.E. besteht an dieser Stelle ein weiterer Konkretisierungsbedarf.

Zu (d): Auch der Begriff „Intentionale Handlungsmöglichkeiten“ muss zur Untersuchung in sei-

ne beiden Teilbegriffe „intentional“ und „Handlung“ aufgespalten werden. Die „Intention“ be-

zeichnet nach dem Duden (Duden Fremdwörterbuch 2005: 466) die „Absicht“ oder das „Vorha-

ben“, die „Anspannung geistiger Kräfte auf ein bestimmtes Ziel“, intentional bedeutet dement-

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sprechend „verknüpft“, „zielgerichtet“ oder „zweckbestimmt“. Diese Absichten und Ziele einer

KI, nach denen sich eine Handlung richtet, können entweder in ihrem Code festgeschrieben sein

oder sich in Folge des Vorhandenseins eines Selbstbewusstseins nach Punkt (c) aus diesem Sub-

jektstatus heraus ergeben, was die Handlung zu einem Ausdruck von subjektiv gemeintem Sinn

im Berger und Luckmann´schen (vgl. 2009: 112) Terminus machen würde, denn: „Bewußtsein

ist immer intentional“ (ebd.: 23). KIs sind nach dieser Ausführung grundsätzlich dazu in der La-

ge, Absichten zu hegen. Da Weber (vgl. 1980: 1) den soziologischen Begriff des Handelns je-

doch auf „menschliches Verhalten“ beschränkt das „der oder die Handelnden mit [...] eine[m]

subjektiven Sinn verbindet“ (ebd.), muss auf die untenstehende Analyse verwiesen werden (siehe

Kap. 5.4), wo untersucht wird, ob Webers Überlegungen auch für KIs gültig sind oder ob ihnen

ggf. eine Sonderrolle zugesprochen werden muss.

Zu (e): Die Frage nach der „prinzipiellen Kommunikationswilligkeit“ stellt sich wiederum als

entweder eine Frage nach der Programmierung der KIs oder als eine Frage nach dem Wille oder

der Absicht des Subjekts dar, siehe Punkte (c) und (d). Für alle KIs im Sinne dieser Arbeit ist

dieses Kriterium erfüllt, weil, so Braun-Thürmann (2002: 9), es ein wesentliches Kennzeichen

von künstlich intelligenten Softwareprogrammen und Robotern sei, mit Menschen zu interagie-

ren. Prinzipiell sind jedoch über diese Definition hinaus auch KIs denkbar, denen keine Kommu-

nikationswilligkeit zugeschrieben werden kann.

Aus den Überlegungen folgt, dass bereits heute eine Vielzahl an KIs und Robotern in die Kate-

gorie des ,maximal Fremden‘ gezählt werden können. Ob die Kriterien (a), (b) und (e) dabei er-

füllt werden, hängt von der Konzeption und der Bau- und Programmierart der Maschinen ab.

Wenn KIs jedoch gemäß der Definition dieser Arbeit zur „Interaktion“ mit dem Menschen kon-

struiert und realisiert werden, müssen diese Kriterien erfüllt werden. Ein Problemfeld, das sich

aus der Analyse ergab, betrifft das „rudimentäre Selbstbewusstsein“: KIs als Subjekte nach Met-

zinger (2009), die ein Bewusstsein über ihr Selbst erlangten, gibt es derzeit nicht; um feststellen

zu können, ob eine KI oder ein Roboter dem Kriterium (c) entspricht, muss präzisiert werden,

wann ein „rudimentäres“ Selbstbewusstsein vorliegt. Da KIs einerseits nicht-menschlich sind,

ihnen andererseits jedoch nach der Kategorisierung als ,maximal Fremde‘ ein Subjektstatus zu-

gesprochen wird, wird nun untersucht und diskutiert, ob und inwiefern die soziologischen Be-

griffe „Handeln“ und „Verstehen“ für die Beschreibung des Phänomens ,KI‘ Anwendung finden

können.

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5.4 „Handeln“, „subjektiver Sinn“ und „Verstehen“ im Kontext der KI

Weber (1980) prägte den soziologischen Handlungsbegriff maßgeblich mit folgender Definition:

„»Handeln« soll [...] ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlas-sen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnde mit ihm einen subjektiven Sinn verbindet. »Soziales« Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in sei-nem Ablauf orientiert ist.“ (ebd.: 1)

In dieser Definition beschränkt Weber den Handlungsbegriff auf „menschliches Verhalten“. In

wie weit sich dieser Begriff aber auch auf KIs und Roboter als ,maximal Fremde‘ anwenden

lässt, soll nun untersucht werden. An zentraler Stelle steht bei Weber der subjektive Sinn der

Handlung, der, wie Schütz (1971) konkretisiert, auf die Herstellung eins intendierten zukünftigen

Zustandes abzielt (vgl. ebd.: 77). Damit die Mittel einer Handlung auf das Erreichen ihres Ziels

abgestimmt werden können, erfolgt eine Imagination des Endzustandes der Handlung, der „mo-

do futuri exacti“ (ebd.: 79). „Subjektiver Sinn ist mithin der, den der Handelnde in seiner Hand-

lung sieht (ihr zuschreibt); objektiver Sinn hingegen jener, der dem Handelnden von Außenste-

henden (also vom Gegenüber) zugeschrieben wird“ (Schetsche/Gründer/Mayer/Schmied-Knittel

2009: 476). Den genannten „objektiven Sinn“ beschreiben Schütz und Luckmann (2003) mit

dem Begriff der „Intersubjektivität„ (ebd.: 109), der insofern besser in der Lage ist, den Tatbe-

stand korrekt zu beschreiben, als dass er das Verstehen nicht fälschlicherweise mit dem Erkennen

einer objektiven Wahrheit gleichsetzt, sondern auf die Annäherung der Sinnzuschreibung eines

Gegenübers an den subjektiven Sinn des Handelnden verweist. Verstehen heißt bei Weber einer-

seits das „aktuelle Verstehen“ (Weber 1980: 5), andererseits „erklärendes Verstehen“ (ebd.: 6),

welches eine Handlung in einen Motivationszusammenhang einbettet. Die Sinnzusammenhänge

internalisiert der Mensch vor allem im Prozess primären Sozialisation (vgl. Berger/Luckmann

2009: 139ff) über die „Internalisierung“ (ebd.) als Teil des dialektischen Prozess der gesell-

schaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit (vgl. ebd.). Die „Grundthese der Reziprozität der Per-

spektiven“ (Schütz/Luckmann 2003: 109) stellt die Grundlage des Verstehens einer Handlung

dar, damit sie aufrecht erhalten werden kann, muss sichergestellt sein, dass sich die Wirklichkeit

des Handelnden nicht zu stark von der Wirklichkeit seines Gegenübers unterscheidet. Die Wirk-

lichkeit meint in diesem Zusammenhang des Verstehens die „Wirklichkeit der Alltagswelt“ (Ber-

ger/Luckmann 2009: 24), die „Wirklichkeit par excellence“ (ebd.).

Bezogen auf die Analyse von KI wirft dies einig Probleme auf. Wie aus dem Eingangszitat des

Kap. 5.3 deutlich hervorgeht, unterscheiden sich Roboter und KIs in der Beschaffenheit ihrer

Körper wesentlich vom Menschen, ebenso durchlaufen sie nicht den Prozess der primären und

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sekundären Sozialisation (vgl. ebd.: 139ff; Zur sekundären Sozialisation vgl. 148ff). Durch die

stattfindende Vermenschlichung wird die Intersubjektivität der Alltagswelt (vgl. Schütz 1971:

360), d.h. die Annahme, dass KIs die Welt mit uns Menschen teilen, fälschlicherweise vorausge-

setzt. Durch das Ausbleiben einer Sozialisation ist es Maschinen jedoch nicht möglich, Sinnbe-

züge vergleichbar denen des Menschen zu entwickeln. Und selbst gemäß dem Fall, ein Roboter

oder eine KI hätte den Prozess der primären Sozialisation durchlaufen, was bei Menschen Jahre

dauert, so könnten sie am Ende nicht auf gleichwertige Erfahrungen zurückgreifen, weil nicht

davon auszugehen ist, dass die körperlichen und sozialen Erfahrungen eines Roboters jemals mit

denen eines Menschen zu vergleichen sein werden. Aus der Andersartigkeit ihrer Körper resul-

tiert die Andersartigkeit ihrer Erfahrungen, was letztlich die Aufrechterhaltung der „Grundthese

der Reziprozität der Perspektiven“ (Schütz/Luckmann 2003: 109) unmöglich macht.82 Dies gilt

umso mehr für Netz-KIs, welche ausschließlich im Cyberspace existieren und die nicht über die

Möglichkeit verfügen, die physisch-materielle Welt des Menschen zu erfahren, ihre Körperlosig-

keit ist für sie eine unüberwindbare Grenze. Motive und Sinn menschlicher Handlungen bleiben

somit für Maschinen immer unergründlich.83 Letztlich ist dies, Bezug nehmend auf das Ein-

gangszitat zu Kap. 5.3, der Grund, warum „Maschinen kein Eis essen können“. Diese Einschrän-

kungen sind jedoch nicht uneingeschränkt spiegelbildlich für den Menschen gültig: kognitiv

komplexere Systeme sind prinzipiell eher dazu in der Lage, ein Repräsentationsmodell eines

niedrigeren Systems zu entwickeln (vgl. Schetsche 2009: 477). Aus der quasi-sozialen Interakti-

on resultieren somit „hybride Akteursgemeinschaften mit ganz eigenen sozialen Regeln“ (Schet-

sche 2003: 77).

Da trotz der strukturell angelegten Unterschiede von Menschen und Maschinen diese teilweise in

der sozialen Wirklichkeit als „eine Art Subjekt wahrgenommen werden“84 muss nun die Soziolo-

Florian Kraftschik [email protected]

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82 Denn: „Was uns aus dem kommunikativen Schlummer weckt, ist der Anspruch des Anderen, der fremde Anspruch also, der im doppelten Sinne zu verstehen ist, als Appell, der uns anspricht und als Prätention, die auf etwas An-spruch erhebt. Dieser doppelte Anspruch kennzeichnet das, worauf wir antworten, wenn wir etwas sagen und tun, wenn wir also einen Sinn intendieren, einer Regel folgen und in dieser Weise an einem gemeinsamen Leben partizi-pieren. Das Fremde als das, worauf wir antworten und wovon wir ausgehen, wenn etwas zur Sprache oder zum Vor-schein kommt, hat keinen Sinn und unterliegt keiner Regel. Es geht jedem Verstehen oder jeder Verständigung vo-raus und darüber hinaus. Sinn und Regel bestimmen unser Antworten erst dann, wenn wir uns auf dem Boden einer bereits etablierten Ordnung bewegen, innerhalb derer Antworten mehr oder weniger bereit liegen und im Falle stan-dardisierter Situationen sogar vom Antwortautomaten übernommen werden können.“ (Waldenfels 1997: 79f)83 Fünf Grundannahmen für Fremdverstehen, die in Anbetracht des ,maximal Fremden‘ aus den aufgezeigten Grün-den jedoch nicht getroffen werden können, listet Schetsche et al. (2009) auf. Siehe hierzu ebd.: 476f. D‘Avis (1994) verdeutlicht, dass nicht nur ,Handlung‘, sondern auch ,Kommunikation‘ auf einer Außenweltrelation basiert: „[D]ie natürliche Sprache erhält ihren Sinn erst dadurch, daß sie von etwas handelt, das bedeutungskonstituierende Funkti-on hat, und dieses Etwas verlangt vom sprachverwendenden System nichtsymbolische Außenweltrelationen - soll es die Bedeutung des entsprechenden Symbols verstehen“ (ebd.: 109).84 Beispielsweise beobachtet Krummheuer (2010) diese Art der Wahrnehmung in einem empirischen Versuch über die Interaktion von Menschen mit einem virtuellen Agenten (ebd.: 319).

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gie ihre Konzepte erweitern, um diese Zwischenklasse quasi-sozialer Interaktion mit dem ,ma-

ximal Fremden‘ in Form von KI und Roboter begrifflich zu beschreiben sowie ihre Folgen und

Auswirkungen auf die menschliche Alltagswelt zu bestimmen. Einen hohen Stellenwert muss sie

dabei der Bildung menschlicher Repräsentationsmodelle für den Umgang mit KIs und Robotern

zukommen lassen

Derzeit wird dem Problem der mangelnden Sinnkongruenz der Wirklichkeiten von Menschen

und den ,maximal Fremden‘85 KIs und Robotern von Seiten der Soziologie nur wenig Beachtung

geschenkt, eine umfassende Lösung des Problems ist nicht in Sicht. Die Probleme der Schwie-

rigkeiten des Verstehens werden aber mit der steigenden Verbreitung von KIs in technischen Ge-

räten weitaus stärker zum Tragen kommen, teils mit ungewissen und möglicherweise mit

schwerwiegenden Folgen. 86 Die Soziologie und auch andere geisteswissenschaftliche Diszipli-

nen sollten sich der Herausforderung m.E. in doppelter Weise stellen: einerseits in Form von ak-

tiver Mitwirkung in der Entwicklung von KIs und Robotern, um die Möglichkeit des Verstehens

zu fördern, andererseits in einer umfassenden Analyse und Beschreibung der Technologie im ge-

sellschaftlichen Kontext. Wenn das Unterfangen gelänge, zwischen Mensch und ,maximal Frem-

den‘ zu vermitteln, die fremden Sinnwelten zu verstehen, böte sich daraus nichts weniger als ei-

ne neue Perspektive auf die Menschheit!

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85 Über die zitierten Autoren hinaus befassen sich mit dem Konzept der Fremdheit Barthmann und Immel (2012), allerdings finden non-humane Fremde in den Beiträgen des Sammelbandes keine Beachtung; einen Überblick über soziologische Konzepte der Fremdheit bietet außerdem Münkler (1997). 86 „Das Fremde als das, was in seiner Unzugänglichkeit zugänglich ist, bedeutet kein unbestimmtes X, das auf seine Bestimmung wartet. Das Fremde zeigt sich, indem es sich uns entzieht. [...] Das Fremdwerden der Erfahrung setzt ein mit der Abweichung von den Bahnen vertrauter Gewohnheit. Es kündigt sich an als Beunruhigung, die unsere vertraute Ordnung stört und die selbst unsere Sinne durcheinanderbringt [.] [...] Das Fremde tritt uns einerseits als bedrohlich entgegen, da es dem Eigenen Konkurrenz macht und ihm seine Selbstverständlichkeit raubt, und es wirkt andererseits verlockend auf uns, da es in uns eigene Möglichkeiten wachruft.“ (Waldenfels 1997: 73f). Dies gilt vor allem auch für die Konfrontation des Menschen mit KIs und Robotern.

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6. Fazit und Ausblick

„The future isn´t pre-ordained. It is contested and contestable. Science fiction isn´t a literature that tells you what will happen tomorrow. It is a literature that tells you how to prevent the bad tomorrows and usher in the good ones. It is an active and activist literature, with an agenda and a point of view. As we hurtle through our century of rapid change and economic, ecological, and technological disrup-tion, it´s precisely the literatur we need. Let the future catch up with science fiction - that´s precisely where it needs to be.“ (Doctorow 2012)

Sowohl die Science Fiction als auch die Zukunftsforschung wagen den Blick in die Zukunft, we-

der die Eine noch die Andere erheben jedoch den Anspruch, Zukunft präzise vorauszusagen. Da-

bei könnten die jeweils angelegten Perspektiven von Kunst und Wissenschaft auf den ersten

Blick kaum unterschiedlicher sein. Bei eingehender Betrachtung erweisen sich Intuition und I-

magination jedoch als Schnittstelle für eine überaus fruchtbare Zusammenarbeit. Weil die Zu-

kunft in der Gegenwart noch nicht existiert, ist es ein zentrales Moment der Zukunftsforschung,

kreative Kräfte zu mobilisieren und mögliche Zukünfte zu erfinden, um nach Möglichkeit „die

Schranken des Zeitgeistes zu transzendieren“ (Steinmüller 1995: 157). Das Ziel dieser Arbeit

war es, die ungleichen Zwillinge zu einen, ihnen zu einer Kooperation zu verhelfen und Syner-

gieeffekte zu schaffen, damit die schlummernden Potentiale nicht ungenutzt verpuffen. Nun folgt

die Darstellung der Ergebnisse der Arbeit, aufgeteilt in drei Bereiche. Erstens wird die zentrale

Fragestellung nach der Rolle der SF in der Zukunftsforschung beantwortet, es folgt die Zusam-

menfassung der Ergebnisse des theoretischen Teils. Zweitens erfolgt die Darstellung der Ergeb-

nisse der Zukunftsstudie über den Cyberspace unterteilt nach den drei Themenblöcken Prothetik

und Cyborgisierung, Virtualität und Phantomatik und Künstliche Intelligenz. Drittens werden

anschließend die Implikationen der Ergebnisse der Zukunftsstudie für die Soziologie erläutert.

Die Arbeit schließt mit einem Ausblick.

Die eingangs formulierte zentrale Fragestellung dieser Arbeit lautete: ,Welche Rolle kann die

systematische Auswertung von Science Fiction im Rahmen der Zukunftsforschung einnehmen?‘

Es wurde folgende These aufgestellt: SF beeinflusst die Zukunftsvorstellungen der Menschen,

die wiederum eine Grundlage menschlicher Handlungen sind, aus den Zukunftsvorstellungen

wird im Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit Zukunft. Weil die

Zukunftsforschung die gegenwärtigen Zukunftsvorstellungen der Menschen erforscht, ist die

systematische Analyse von SF für sie ein lohnendes Unterfangen. Auf Basis des Berger und

Luckmann‘schen (2009) Sozialkonstruktivismus sowie des Weber‘schen (1980) Handlungsbe-

griffs und dessen Analyse nach Schütz (1971) konnte dieser Zusammenhang zwischen Zukunfts-

vorstellungen und tatsächlich realisierter Zukunft argumentativ belegt werden. Jeder Handlung

geht ein Handlungsentwurf voraus, der auf einer Vorstellung über die Zukunft basiert; deshalb ist

Florian Kraftschik [email protected]

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jede Handlung eine Manifestation der ihr zugrundeliegenden Zukunftsvorstellung, nach Uerz

(2006) sind Zukunftsvorstellungen somit „Produkte und Faktoren im Prozess der gesellschaftli-

chen Konstruktion der Wirklichkeit“ (ebd.: 423). Bezug nehmend auf die zentrale Fragestellung

kann SF in der Zukunftsforschung zwei verschiedene Rollen einnehmen: erstens kann sie als

Quelle systematisch ausgewertet werden und im Zuge dieser Auswertung verschiedene Funktio-

nen erfüllen. In ihrer Abbildungs- und Indikatorfunktion fungiert SF als Signalverstärkerin für

schwache Trends der Gegenwart, indem sie diese Trends regelrecht exponiert. Als kritische Uto-

pie fungiert die SF als Ausdruck menschlicher Ängste und Wünsche im Bezug auf die Sphäre der

Gesellschaft. Die Diskursfunktion betont den Einfluss der SF auf die Zukunft als Faktor der Zu-

kunftsgestaltung. SF kann durch die Einbettung von Technologien in den gesellschaftlichen Kon-

text als Technikbewertung und Technikfolgenabschätzung fungieren, darüber hinaus kann sie eine

Perspektivfunktion erfüllen, indem sie verschiedene mögliche Zukünfte aufzeigt. Der heuristi-

sche Wert der SF besteht darin, Entwicklungen verschiedenster Art entweder innerhalb diskursi-

ver Kontinuitäten zu entdecken oder potentielle diskursive Diskontinuitäten aufzudecken; hier

zeigt sich ihr großer Wert für die Wild Card-Forschung. Demgegenüber eignet sich SF nicht als

Instrument zur Extrapolation und Prognose, da dies ein deterministisches Weltbild zugrundele-

gen würde, das von der Zukunftsforschung nicht geteilt wird. Zweitens kann die SF auf sprachli-

che Aspekte untersucht werden. Oft werden einzelne Begriffe von Autoren mit Bedeutung ge-

füllt, so dass mit der Nennung eines Wortes ein ganzes Set von Bedeutungen mitschwingt, dies

gilt auch für Leitbegriffe und Visionen. Die Zukunftsforschung kann sich des Weiteren stilistisch

bei der Textgestaltung im Prozess des Szenario-Writings an den Texten der SF orientieren, wenn

es darum geht, sich vom wissenschaftlichen Schreibstil zu differenzieren, um eine größere Le-

serschaft für ihre Zukunftsszenarien zu gewinnen. Es zeigte sich außerdem, dass sich die Krite-

rien für die Auswahl von SF für die Zukunftsforschung nach den Funktionen richten, die die SF

im Forschungsprozess erfüllen soll.

Als nächstes erfolgt die Zusammenfassung der Ergebnisse der Studie bezüglich möglicher Zu-

künfte des Menschen im Cyberspace. Für den ersten Themenblock, Prothetik und Cyborgisie-

rung, kann festgehalten werden, dass sich der Mensch bereits in der Gegenwart in einem Trans-

formationsprozess zum Cyborg und zum Biofakt befindet. Die Medizin greift schon heute auf

zahlreiche künstliche Körperteile zurück, um verlorene Körperfunktionen wieder herzustellen.

Ist ist davon auszugehen, dass in Zukunft weitere Ersatzteile für den Menschen entwickelt und

vorhandene Technologien verbessert werden. Die Implantation von künstlichen Körperteilen

wird jedoch auf absehbare Zeit auf medizinische Notwendigkeiten beschränkt bleiben, freiwilli-

Florian Kraftschik [email protected]

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ge Implantationen im Sinne des ,Human Enhancement‘ werden aufgrund von Infektions- und

Abstoßungsrisiken abgelehnt. Gesunde Menschen werden es deshalb auch in Zukunft vorziehen,

externe Geräte für die Erweiterung und Verbesserung körperlicher Fähigkeiten zu verwenden.

Die voranschreitende Miniaturisierung von Technik wird in der nahen Zukunft zu einer fort-

schreitenden Technisierung des Alltags führen, speziell AR-Technologie und ,weareable compu-

ting‘ werden möglicherweise schon bald zu Massenanwendungen. AR-Technologie bietet die

Möglichkeit, die Wahrnehmung der physischen Realität um virtuelle Ebenen zu erweitern und

sie somit mit Zusatzinformationen anzureichern. Die Verbesserung der Leistungsfähigkeit des

Gehirns durch ,Neuro-Enhancement‘ wird schon in der Gegenwart praktiziert, auch wenn von

wissenschaftlicher Seite noch unklar ist, ob und wie verschiedene Medikamente wirken. Es

scheint durchaus möglich und wahrscheinlich, dass in der nahen Zukunft weitere Medikamente

zum ,Gehirn-Doping‘ entwickelt sowie ihre Nebenwirkungen reduziert werden. Fraglich sind

hingegen die ethischen Aspekte des ,Neuro-Enhancement‘. Eine technische Verbesserung des

Gehirns über die medizinische Anwendung des Hirn-Schrittmachers hinaus wurde von den Ex-

pertinnen und Experten durchweg abgelehnt, ebenso wie die Datensicherung von Gehirninhalten.

Im zweiten Themenblock zur Virtualität und Phantomatik wurde die Entwicklung eines bidi-

rektionalen BCI zur vollen Immersion in die VR durchaus als möglich eingeschätzt, jedoch han-

delt es sich hierbei wohl eher um eine Technologie der fernen Zukunft, d.h. frühestens der zwei-

ten Hälfte des 21. Jahrhunderts. Seitens der Entwickler von Computerhardware sind Bestrebun-

gen zu beobachten, die Immersionstiefe zu erhöhen, jedoch erscheint es für die nahe bis mittlere

Zukunft nicht wahrscheinlich, dass Geräte zur peripheren Phantomatik Marktreife erlangen wer-

den. Als wahrscheinlich kann es hingegen gesehen werden, dass neue VR-Technologien vor al-

lem als Entertainment-Anwendungen in die Gesellschaft diffundieren werden. Die Folgen der

hypothetischen Entwicklung einer Technologie zur vollen Immersion können jedoch als immens

bezeichnet werden, die virtuelle Realität wäre dann von der physischen nicht mehr zu unter-

scheiden. Der Up- und Download von Erinnerungen in ein Gehirn bzw. aus einem Gehirn er-

scheint als nicht möglich, der Grund hierfür liegt in der fälschlichen Annahme der Vergleichbar-

keit der komplexen Strukturen dynamischer menschlicher Erinnerungen mit statischen digital

gespeicherten Daten.

Im dritten Themenblock zur Künstlichen Intelligenz konnten KI-Agenten als eine Technologie

identifiziert werden, die in den nächsten 10 Jahren massenhaft Verbreitung finden wird. Es ist

jedoch nicht davon auszugehen dass das Problem der Simulation des menschlichen Gehirns in

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absehbarer Zeit gelöst wird; KI-Agenten, die möglicherweise bald den Einzug in vielerlei Tech-

nologien des Alltags erhalten werden, sind nach dem problemlösungsorientierten Ansatz der

,weichen‘ KI aufgebaut. Möglich und wahrscheinlich erscheint auch die Annahme, dass die Leis-

tungsfähigkeit der KIs weiter zunehmen wird, auf klar abgegrenzten Gebieten kann die Leis-

tungsfähigkeit von KIs gar die des Menschen übersteigen. Während KIs eine gewisse Verwech-

selungsfähigkeit mit Menschen zugesprochen werden kann, wenn die Kommunikation bzw. der

Aktionsradius auf wenige Bereiche beschränkt bleibt, ist davon auszugehen, dass sie dem Men-

schen sehr unähnlich sein werden, wenn eine ergebnisoffene Kommunikation zugrunde gelegt

wird. Diese Unähnlichkeit resultiert aus der menschlichen Sozialisation sowie aus der Rolle des

menschlichen Körpers bei der Aneignung von Sinnbezügen und Deutungsmustern.

Aus diesem Zukunftsausblick ergeben sich zahlreiche Implikationen für die Soziologie. Auf

dem Themengebiet der Prothetik und Cyborgisierung wurde aufgezeigt, dass der Mensch eine

Symbiose mit der Technik eingeht, Mensch und Technik müssen immer in Verbindung gedacht

werden. Der Cyborg wird zur Norm und der Mensch zum Cyborg. Die Verbreitung von AR-

Technologie wird in nächster Zukunft stetig zunehmen, AR wird zur Massentechnologie; Men-

schen werden ihre Wahrnehmung der physischen Realität um virtuelle Ebenen erweitern, die

beiden Ebenen des Physisch-Realen und des Virtuellen werden verschmelzen. Weil viele Men-

schen ihre Wahrnehmung um unterschiedliche virtuelle Ebenen ergänzen werden, führt AR durch

die algorithmische Vorselektion der Wahrnehmung zu einer Multiperspektivität der wahrnehmba-

ren Wirklichkeiten. Bedroht diese neue Multiperspektivität den Konsenscharakter der Alltags-

welt, oder wird sich die Wahrnehmung der Menschen gar angleichen? Möglich erscheint auch

die Ausbildung verschiedener virtueller Habitus87, außerdem muss der Gefahr einer post-panop-

tischen88 Überwachung seitens der Entwickler von AR-Technologie vorgebeugt werden.

Auf dem Themenfeld Virtualität und Phantomatik wurden die Konzepte der peripheren und

zentralen Phantomatik diskutiert. Bei voller Immersion ersetzt die Wirklichkeit der VR die Wirk-

lichkeit der physischen Welt komplett und tritt an ihre Stelle. Dies unterstreicht den Charakter

von Computern als „Wirklichkeitsmaschinen“; in der Virtualität ist alles möglich. In der Folge

bedeutet dies, dass sowohl die Gesetze als auch die Sinnbezüge der Wirklichkeit der Alltagswelt

in der VR nicht gelten. Die Wirklichkeit der VR tritt in Konkurrenz zur Wirklichkeit der All-

tagswelt, es besteht die Gefahr der Entfremdung der Mitglieder der Gesellschaft durch die Dau-

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87 Zu Bourdieus Konzept des Habitus siehe Dirksmeier 2007.88 Foucault greift das Bentham‘sche Panoptikum auf und beschreibt auf dieser Basis das Konzept des perfekten Ge-fängnisses (vgl. Foucault 1976: 251ff).

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erhafte Kompromittierung der Sinnbezüge der Alltagswelt. Des Weiteren bietet sich der Soziolo-

gie durch die Bevölkerung neuer virtueller Welten die Chance, ihre Konzepte empirisch zu über-

prüfen und zu verfeinern, jedoch muss sie ihre Methodik sowie ihre Theorien an die Erfordernis-

se des neuen Virtuellen anpassen.

Künstliche Intelligenzen werden den Cyberspace bevölkern und auch in der Alltagswelt in

Form von Robotern oder Assistenzsystem massenhaft Verbreitung finden, Interaktion zwischen

Mensch und KI werden alltäglich werden. Im Gegensatz zu einer Verwechslungsfähigkeit muss

davon ausgegangen werden, dass wechselseitiges Verstehen im soziologischen Sinne unmöglich

sein wird, weil die „Grundthese der Reziprozität der Perspektiven“ (Schütz/Luckmann 2003:

109) als nicht erfüllt betrachtet werden kann. KIs sind ,maximal Fremde‘, deren Sinnbezüge

grundsätzlich von den menschlichen divergieren. Für die Soziologie bedeutet dies, dass ihre

Konzepte des ,Verstehens‘, des ,Handelns‘ und der ,Interaktion‘ nicht mehr greifen; dem Prob-

lem der mangelnden Sinnkongruenz zwischen Mensch und KI wird seitens der Soziologie aber

nur wenig Beachtung geschenkt, an einer Lösung muss dringend gearbeitet werden. Möglich er-

scheint außerdem, dass zwischen Menschen und KIs neue Formen quasi-sozialer Beziehungen

entstehen, diese neuen sozialen Tatbestände erfordern eingehende Analyse und Beschreibung.

Die Soziologie ist auf dem Gebiet der KI gefordert, Repräsentationsmuster für KIs zu entwi-

ckeln, damit mit dem ,maximal Fremden‘ umgegangen werden kann.

Somit schließt diese Arbeit mit einer dreifachen Forderung:

Erstens die Forderung an die Zukunftsforschung, sich in vermehrtem Maße der Science Fiction

zu widmen und ihren Methodenkatalog um die systematische Auswertung von Science Fiction

zu erweitern! Hierbei muss die Methodik erprobt, weiter verfeinert und etabliert werden.

Zweitens die Forderung an die empirische Sozialforschung, den Einfluss der Science Fiction auf

die Zukunftsvorstellungen der Menschen zu erforschen; wenn aus Zukunftsvorstellungen Zu-

kunft wird, kann ein besseres Verständnis über menschliche Zukunftsvorstellungen zu einer hö-

heren Aussagegenauigkeit der Zukunftsforschung führen.

Drittens die Forderung an die allgemeine Soziologie, sich den Herausforderungen einer fort-

schreitend technisierten menschlichen Zukunft zu stellen und ihre Werkzeuge und Methoden mit

dem Blick auf die Zukunft zu schärfen!

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Filmographie

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Bladerunner (1982), Hampton Fancher/David Webb Peoples (Drehbuch), basierend auf dem Roman „Do Androids dream of Electric Sheep?“ von Philip K. Dick, Ridley Scott (Regie), 112 Min., USA.

eXistenZ (1999), David Cronenberg (Drehbuch und Regie), 97 Min., Kanada.

Ghost in the Shell (1995), Ito Kazunori (Drehbuch), Mamoru Oshii (Regie), 79 Min., Japan.

I, Robot (2004), Jeff Vintar/Akiva Goldsman (Drehbuch), frei nach I, Robot von Isaak Asimov, 115 Min., USA.

Johnny Mnemonic (1995), William Gibson (Drehbuch), 92 Min., Japan.

Matrix (1999), Andy Wachowski/Larry Wachowski (Drehbuch und Regie), 131 Min., USA.

Ohne Limit (2011), Leslie Dixon (Drehbuch), 105 Min., USA.

Strange Days (1996), James Cameron/Jay Cocks (Drehbuch), Kathryn Bigelow (Regie), 139 Min., USA.

Total Recall - Totale Erinnerung (1990), Ronald Shusett/Dan O´Bannon/Barry Goldman (Dreh-buch), basierend auf einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick, Paul Verhoefen (Regie), 115 Min., USA.

Welt am Draht (1973), Rainer Werner Fassbinder/Fritz Müller-Scherz (Drehbuch), Rainer Wer-ner Fassbinder (Regie), Romanvorlage von Daniel F. Galouye (Simulacron-3), 99 Min. (Teil 1), 105 Min. (Teil 2), Deutschland.

Florian Kraftschik [email protected]