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Frank Deppe. Wolfgang Müller. Bernd Riexinger 78 institut für sozial-ökologische wirtschaftsforschung münchen e.V. Die Krise und die Lähmung der Gewerkschaften Schutzgebühr: 3,50 Euro Sonderteil: China – Krise und Gewerkschaften

Krise und Chinas Gewerkschaften

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Weltwirtschaftskrise und Chinas Gewerkschaften. Aus: isw___REPORT_NR. 78: Die Große Krise und die Lähmung der Gewerkschaften, Sept. 2009.

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Page 1: Krise und Chinas Gewerkschaften

Frank Deppe. Wolfgang Müller. Bernd Riexinger

78institut für sozial-ökologische wirtschaftsforschung münchen e.V.

Die Kriseund die Lähmung der

Gewerkschaften

Schutzgebühr: 3,50Euro

Sonderteil:

China – Krise und

Gewerkschaften

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Impressumisw-report 78, September 2009Publikationsreihe isw-report: ISSN 1614-9289

Herausgeber:isw – institut für sozial-ökologische wirtschaftsforschung e.V.Johann-von-Werth-Str. 3, 80639 MünchenTel. 089/130041 Fax: 089/168 94 [email protected]: Sparda Bank MünchenKonto-Nr. 98 34 20 (BLZ 700 905 00)

Autoren:Frank Deppe, Bernd Riexinger, Wolfgang Müller

Endredaktion:Conrad Schuhler (verantwortlich im Sinne des Presserechts)

Titelblattgrafik und Karikaturen: Bernd BückingLayout: Monika Ziehaus

Schutzgebühr: 3,50 EUR

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit vorheriger Genehmigung des isw e.V.

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Inhalt

Editorial ..................................................................................................................................... 2

FRANK DEPPE

Die "Große Krise" und die Gewerkschaften ............................................................................. 3

BERND RIEXINGER

Krisenproteste – "Für eine gewerkschaftliche Neuorientierung" ......................................... 20

WOLFGANG MÜLLER

Weltwirtschaftskrise und Chinas Gewerkschaften .............................................................. 28

Die Autoren ............................................................................................................................. 39

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Wolfgang Müller

Weltwirtschaftskrise und Chinas Gewerkschaften

China als Weltmarktfabrik hat lange geboomt – aufder Basis billigster Arbeit und laxer Regulierung. Inden letzten Jahren konnten die chinesischen Arbeiteraber ihre Situation verbessern. Außerdem sorgte diechinesische Regierung nach Jahrzehnten des Laissez-faire in allen Fragen von Arbeitsgesetzen und Sozial-standards in den letzten Jahren durch neue Gesetzeebenso wie durch das ideologische Konzept der "har-monischen Gesellschaft" für eine Stärkung der Positi-on der Arbeitnehmer.

Aber die Weltwirtschaftskrise hat die Weltmarkt-fabrik China massiv getroffen. Millionen Jobs sindverloren. Die Lohnentwicklung bleibt hinter der Infla-tion zurück. Nach Angaben der Stadtverwaltung vonDongguan, einer 7-Millionen-Stadt im Perlflussdelta,sind die Löhne im Vergleich zum Vorjahr im Schnittum 10 Prozent gesunken. Außerdem entfallen seitMonaten die Überstunden, mit denen die meistenWanderarbeiter ihre Löhne aufbessern, die oft unterdem Existenzminimum und den gesetzlichen Min-destlöhnen liegen.

Jetzt in der Wirtschaftskrise gibt es auch wieder An-zeichen zunehmender Verstöße und Missbrauchsfäl-le. Im Mai streikten 7.000 Arbeiter einer HighTech-Fabrik wegen der Überstundenbezahlung und derschlechten Qualität des Kantinenessens. In der Pro-vinz Anhui musste die Polizei aus einer Ziegelei 30geistig Behinderte befreien, die als Sklaven gehaltenwurden. Bei einem Feuer in einem Schlafraum einerillegalen Fabrik im Perlflussdelta verbrannten 13 Arbei-terinnen. Viele Exportfirmen, die für Markenkonzernearbeiten, umgehen die Arbeitsgesetze dadurch, dasssie die Aufträge an Schattenfabriken outsourcen. Dietaiwanesische Unternehmervereinigung in Dongguanbeschwert sich: "Als wir nach China kamen, gab eskeine Gesetze. Jetzt hat sich alles geändert. Das gingzu schnell." (New York Times, 22.6.2009 http://www.nytimes.com/2009/06/23/business/global/23labor.html?pagewanted=1& r=1&1ref=todayspaper)

Chinas Arbeiterbewegung und Gewerkschaftsbewe-gung sind gegenwärtig an einem Wendepunkt: Daspolitische Klima ist reif für reale Gewinne für die Ar-beiter. Neue Gesetze wie das Arbeitsvertragsgesetzvon 2008 haben die Arbeitsstandards verbessert unddie Arbeitnehmerrechte erheblich ausgeweitet. Dieneue Rechtslage macht es für die Arbeiter einfacher,Klagen einzureichen und auch zu gewinnen. Die Zahlder Arbeitsgerichtsverfahren hat sich 2008 – mit In-krafttreten des Arbeitsvertragsgesetzes – gegenüberdem Vorjahr verdoppelt und steigt auch 2009 weiterrasant an.

Der Allchinesische Gewerkschaftsbund ACGB, derDachverband der chinesischen Gewerkschaften, hatseine Organisierungsanstrengungen verstärkt. DieZahl der im ACGB organisierten Gewerkschaftsmit-glieder ist auf 225 Millionen Mitglieder (Juni 2009)gestiegen. Der ACGB hat seit Jahren begonnen, neueArbeiterschichten zu organisieren, vor allem die Wan-derarbeiter.Seit Sommer 2006 hat der ACGB auch die in Chinavertretenen multinationalen Konzerne im Visier. DasZiel ist, in allen Konzernen Betriebsgewerkschaftenaufzubauen. Das fing mit WalMart an, dessen chine-sische Großmärkte inzwischen alle organisiert sind.Längst hat die Organisierungskampagne auch andereMultis erfasst. Nach offiziellen chinesischen Angabensind inzwischen die Niederlassungen von 373 derFortune-500-Unternehmen ganz oder teilweise orga-nisiert.Alle diese Entwicklungen können kritisiert werden,dass sie nicht weit genug gehen, dass die Verstößegegen Arbeitsstandards und Gesetze immer noch indie zig Millionen gehen, dass die strengen Gesetzevielfach nur auf dem Papier stehen. Dass die Zahl derGewerkschaftsmitglieder und der Betriebsgewerk-schaften so explodiert ist, weil die verantwortlichenKader nach oben entsprechende Zahlen berichtenmussten. Dass die chinesischen Gewerkschaften im-mer noch Papiertiger sind und oft direkt zum Ma-nagement gehören und oft nicht ansatzweise die In-teressen der Arbeitnehmer vertreten. Dass die chine-sischen Gewerkschaften in den Arbeitskämpfen derletzten Jahre keine Rolle spielen.All das stimmt – und auch wieder nicht. Denn diechinesische Arbeiterbewegung hat Fortschritte ge-macht, die Gewerkschaften werden selbständiger,die chinesische Regierung versucht unter dem Motto"Schaffung einer harmonischen Gesellschaft" die ausden Fugen geratene Balance zwischen Kapitalinteres-sen und gesellschaftlichen Interessen wieder herzu-stellen. Diese widersprüchlichen Entwicklungen sol-len im Folgenden dargestellt werden.

1. Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf Chinas Arbeiter

Mit den Wirtschaftsreformen, die Deng Xiaoping1978, vor 30 Jahren, eingeleitet hatte, ist China zurFabrik der Welt geworden. Jetzt leidet die Fabrik derWelt massiv unter der Weltwirtschaftskrise, auchwenn die gemeldeten Wachstumszahlen wieder in

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die Höhe schießen. 15.000 Fabriken mussten in denletzten neun Monaten allein im Perlflussdelta zwi-schen Guangzhou (Kanton) und Hongkong schließen.Etwa 23 Millionen Beschäftigte, meist Wanderarbei-ter, haben durch die Weltwirtschaftskrise ihren Jobverloren (Irish Times, 26.3.2009).Die Weltbank rechnet für China für 2009 zwar wiedermit 7,2 Prozent Wachstum – nach 13 Prozent imVorjahr. Das umgerechnet 420 Mrd. Euro große chi-nesische Konjunkturpaket für Infrastruktur- und an-dere Zukunftsinvestitionen wirkt. Der Autoabsatz aufdem chinesischen Markt stieg im ersten Halbjahr2009 um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr undwar erstmals höher als der US-Automarkt. Aber dasist nicht nachhaltig. Schon gibt es Stimmen, die wei-tere Konjunkturprogramme fordern, weil sonst dieArbeitslosigkeit noch weiter wächst. Zudem gibt esGrenzen, wie lange und wie sehr sich China von derEntwicklung der Weltwirtschaft abkoppeln kann. DieExporte haben längst noch nicht das Niveau der Vor-jahre erreicht, die Jobverluste in der Exportwirtschafthalten an.

60 Prozent des Exporte Chinas stammt aus Fabrikenim ausländischen Eigentum oder mit ausländischenInvestitionen – das meiste Kapital stammt aus Hong-kong und Taiwan. Viele Fabriken haben nach demchinesischen Neujahrsfest 2009 einfach dichtge-macht – speziell im Perlflussdelta. Viele Beschäftigtehaben nicht einmal ihre ausstehenden Löhne bekom-men – geschweige denn die ihnen z.T. nach demGesetz zustehenden Abfindungen. Bei vielen der zahl-losen Protestaktionen der Wanderarbeiter ging es ge-nau um diese Themen.

Die Lage der WanderarbeiterDie Wirtschaftsreformen haben bis heute ca. 225Mio. Wanderarbeiter, etwa 15 Prozent der chinesi-schen Bevölkerung, erzeugt. Die durch die Wirt-schaftsreformen überschüssig gemachte Landbevöl-kerung ist meistens in die großen Städte und dieIndustriegebiete an Chinas Ostküste gezogen, umdort in meist ungesicherten Arbeitsverhältnissen undklassenmäßig getrennt von der privilegierten Stadt-bevölkerung zu jobben. Die Landgebiete haben biszur Krise von den Überweisungen massiv profitiert.Jetzt sind Millionen Wanderarbeiter in die Landgebie-te zurückgekehrt, weil sie an der Ostküste keine Ar-beit mehr finden. Die aufs Land zurückgekehrten Kin-der der Bauern werden auch "ken lao zu" genannt,"die die Alten beißen", weil sie plötzlich von den ma-geren Erträgen der bäuerlichen Wirtschaft und denErsparnissen der Alten leben müssen.

Die Wanderarbeiter haben fast nichts zu verlieren.Nur wenige haben eine Arbeitslosen- und Kranken-versicherung oder irgendeine Altersversorgung. IhrLand war das soziale Netz der Wanderarbeiter. Aberwenn sie jetzt in die Dörfer zurückkommen, gibt esKonflikte. Die ihre Häuser nutzen und ihr Land be-bauen, können nicht so schnell ausziehen.

Andere haben zwar die Städte, wo sie gearbeitet hat-ten, verlassen, weil sie sich das Leben dort nicht mehrleisten konnten. Sie gehen aber auch nicht in dieDörfer zurück, weil es dort auch keine Arbeit undkein Geld gibt. Sie leben in Slums oder bei Freundenund müssen eine dreiköpfige Familie von 15 Yuanoder 1,50 Euro am Tag ernähren. Eine soziale Siche-rung haben sie nicht.

Eine ernste Erkrankung bedeutet für diese Familienden Ruin. Zwar hat die chinesische Regierung für dieLandbewohner und damit auch für die Wanderarbei-ter eine grundlegende Krankenversicherung mit ge-ringen Beiträgen eingeführt. Aber ein Bauarbeiter aufeiner Baustelle in Wuhan am Yangtse, der an derHüfte verletzt wurde und ins Krankenhaus musste,bekam von der Krankenhausrechnung von über18.000 US-Dollar gerade 6.750 US-Dollar zurück –angeblich weil die Versicherung keine importiertenMedikamente abdeckt. Ein anderer Wanderarbeitermit Operationskosten von 900 US-Dollar sollte vorder Teilerstattung der Kosten lokalen Kadern erstmalBestechungsgeld zahlen.

All-Chinesicher Gewerkschaftsbund (ACGB)

225 Mio. Mitglieder (6/2009)

77,2 % Organisationsgrad

1,3 Mio. Betriebsgewerkschaften(Verflechtung Partei – Management – Gewerkschaft)(Betriebsgewerkschafter werden vom Unternehmerbezahlt, kein Kündigungsschutz)

0,5 % freiwilliger Gewerkschaftsbeitrag durch das Mitglied

2,0 % der Gesamtentgeltsumme der Beschäftigten direkt vom Arbeitgeber an die Gewerkschaften(= 22,6 Milliarden Yuan pro Jahr)

477.000 hauptamtliche Funktionäre

eigene Unternehmen (z.B. Hotels)

1.343 Berufsschulen mit 675.000 Studenten;Fachhochschulen, Politechnika

31 regionale GewerkschaftsverbändeACGB-Organisationsaufbau entspricht derStaats- und ParteistrukturACGB-Präsident ist Mitglied des Politbüros der KPCh

10 Industriegewerkschaften (Regionalstruktur hat Vorrang)

Quelle: FES

Perspektiven der HochschulabsolventenEine große Sorge der Behörden ist, dass auch diebesser Ausgebildeten, die jetzt keine Stelle finden,sich den Protesten anschließen. In China graduierenjährlich fast 6 Millionen Studenten. Nach Daten derchinesischen Akademie für Sozialwissenschaften fan-den von den 5,6 Millionen Hochschulabsolventen imJahre 2008 ca. 27 Prozent bis Ende des Jahres keinenJob. Nach Angaben des chinesischen Arbeitsministe-riums (Süddeutsche Zeitung, 4.8.09) sind noch 3 Mil-lionen Absolventen der letzten beiden Abschlussjahr-gänge ohne Arbeitsplatz. Für sie hat die Regierungjetzt die Vorschrift aufgehoben, dass sie eine Dauer-Aufenthaltsgenehmigung in einer bestimmten Stadt

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brauchen. Jetzt können Hochschulabsolventen leich-ter auf Arbeitssuche im ganzen Land gehen, stattarbeitslos zu Hause zu sitzen und evtl. zu protestie-ren. Auch für Absolventen der Eliteunis ist die Situati-on so dramatisch, dass viele zur Armee gehen wollen.Ihre Ansprüche zum Berufseinstieg haben sie massivheruntergeschraubt: Sie würden sich nach Umfragenmit dem Gehalt eines Fabrikarbeiters (ca. 100 bis 150Euro) zufrieden geben.Die Arbeitsmarktlage für die Absolventen wird sichweiter verschlechtern, weil die chinesischen Hoch-schulen Jahr für Jahr mehr Studenten aufnehmenund weil viele Chinesen wegen der Krise in den USAund Europa aus dem Ausland zurückkommen. (NewYork Times, 25.1.2009)

Die Krise trifft also auch die chinesische Mittelklasse,die bislang besonders von den Wirtschaftsreformenprofitiert hat. Privatunternehmen entlassen die bis-lang gesuchten Angestellten, kürzen Gehälter undstreichen die Jahresboni. Der ComputerherstellerLenovo will 11 Prozent der Beschäftigten entlassen.Die staatliche Fluglinie China Eastern will manche Ge-hälter um 30 Prozent kürzen. Dabei setzen besondersStaatsfirmen derzeit vor allem auf die Senkung derPersonalkosten statt auf die Streichung von Arbeits-plätzen. Die chinesische Regierung hat alle Staatsun-ternehmen aufgefordert, keine Arbeitskräfte zu ent-lassen.

Die offizielle Arbeitslosenrate in Chinas Städten stiegEnde 2008 auf 4,2 Prozent gegenüber 4 Prozent2007. Diese Messgröße war bis 2007 fünf Jahre inFolge gefallen. In dieser Zahl sind aber arbeitssuchen-de Wanderarbeiter in den Städten und Hochschulab-solventen nicht enthalten. Nach einer Studie der Chi-nesischen Akademie für Sozialwissenschaften lag dieechte Arbeitslosigkeit in den Städten 2008 bei fast 10Prozent. Wegen der Weltwirtschaftskrise schlossen2008 über 670.000 Unternehmen.

Der Gesellschaftsvertrag steht in FrageDamit steht der bislang funktionierende chinesischeGesellschaftsvertrag in Frage. Regierung und Partei,der obszöne Reichtum der neuen Kapitalisten und diekrassen sozialen Unterschiede wurden so lange nichtin Frage gestellt, so lange es allen besser ging. Aberdiese Zeiten sind wahrscheinlich vorbei. Die chinesi-sche Regierung rechnet mit weiteren Massenprotes-ten. Chinas Experten für innere Sicherheit erwartenschwierige Zeiten. "In der aktuellen Wirtschaftslageentstehen ständig neue soziale Unruhen," erklärte einführender Vertreter der KPCh Anfang 2009 in einemNachrichtenmagazin, das von der staatlichen Nach-richtenagentur Xinhua herausgegeben wird.

Von den 764 Millionen chinesischen Arbeitnehmernim Jahre 2007 entfielen 283 Millionen oder 37 Pro-zent auf städtische Erwerbstätige und ungefähr 481Millionen oder 63 Prozent auf die Landgebiete. 325Milionen Erwerbstätige arbeiteten 2007 direkt in derLandwirtschaft, 264 Millionen oder 32 Prozent im

Dienstleistungsbereich und 192 Millionen oder 25Prozent in der Industrie. (Sergio Grassi, Die neuenAufgaben der chinesischen Gewerkschaften, in Chinaaktuell 1/2008)

Der durch die Wirtschaftsreformen eingeleitete ra-sante Strukturwandel lässt sich vor allem an der Ent-wicklung des primären Sektors ablesen. Waren zuBeginn der Reformen im Jahr 1978 noch 80 Prozentder Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig, sosind es heute noch knapp 43 Prozent. Gleichzeitigwächst laut Regierungsangaben die Zahl der Arbeits-kräfte auf dem Land, die nicht in der Landwirtschaftbeschäftigt sind, seit der zweiten Hälfte der 90er Jah-re jährlich um 2 Prozent. Trotz des raschen Wachs-tums konnte die ländliche Industrie in den 90er Jah-ren aber nur ein Viertel der überschüssigen Arbeits-kräfte absorbieren.

Der Ausweg war die Migration in die Städte. Dieindustrielle Entwicklung in China hat eine massiveUmwälzung in den Klassenstrukturen erzeugt, deren

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wesentliches Merkmal die Verwandlung bedeutenderTeile der Bauernschaft in Arbeitsmigranten ist. Vonden Wanderarbeitern lebten 2008 etwa 60 Prozent inden großen Städten.

Im Ergebnis hat China in den letzten 30 Jahren einedramatische Umwälzung der Klassenverhältnisse er-lebt, die Enteignung von hunderten Millionen Bauernund ihre Verwandlung in ein weitgehend rechtlosesHeer von Arbeitssklaven und gleichzeitig die Heraus-bildung einer wohlhabenden städtischen Mittel-schicht von über 100 Millionen Menschen, die dieMalls der chinesischen boomtowns bevölkern und zuPKW-Besitzern aufgestiegen sind. Diese wahrschein-lich gewollte Spaltung zwischen Land und städti-schen Ballungs- und Wachstumszentren, zwischenbäuerlicher Bevölkerung und WanderarbeiterInneneinerseits und relativ gut bezahlten Fachkräften inden Städten andererseits, ist eine Besonderheit derchinesischen Entwicklung und ein Motor der kapita-listischen Akkumulation.

In den Städten ist der Anteil der Beschäftigten infesten Arbeitsverhältnissen massiv zurückgegangen.Beschäftigte in flexiblen oder informellen Arbeitsver-hältnissen stellen inzwischen mit zwischen 100 und160 Millionen mehr als 35 bis über 50 Prozent derstädtischen Erwerbstätigen. Das Spektrum informel-ler Beschäftigung reicht dabei von hoch bezahltenfreiberuflichen Softwaredesignern bis hin zu Verkäu-fern am Straßenrand. Die Gruppe der gut verdienen-den Professionals bildet jedoch nur eine kleine Min-derheit unter den informell Beschäftigten. So zeich-net sich informelle Arbeit in China in der Regel durchfehlende Arbeitsverträge oder Vereinbarungen, durchnicht monetäre Entlohnung sowie durch vielfältigeArten von Geringbeschäftigung wie Straßenhandelund Eigenproduktion aus.

Die Aufspaltung des ArbeitsmarktesLaut Regierungsquellen hatten 2008 40 Prozent derin der Privatindustrie Beschäftigten keinen Arbeitsver-trag. (Grassi, a.a.O.) Nicht selten wurden von Seitender Betriebe auch Arbeitsplätze, die zuvor von derregulären Stammbelegschaft besetzt waren, ausge-gliedert und teilweise zu geringeren Löhnen undohne Versicherungsschutz als Teilzeit- oder Zeitarbeitbesetzt.

Die Arbeitsverhältnisse sind in großen Teilen der chi-nesischen Wirtschaft unsicherer geworden. Der Arbeits-markt in China spaltet sich in verschiedene Segmenteauf. Die Trennung zwischen dem ländlichen und demstädtischen Arbeitsmarkt weicht auf, da beide Märk-te miteinander verwachsen. Gleichzeitig spaltet sichder Arbeitsmarkt nach der unterschiedlichen Qualitätder Arbeitsverhältnisse (Vertragssicherheit, Arbeitssi-cherheit, Lohnhöhe und Qualifikation) auf.Zwar verloren vor zehn Jahren etwa 50 Millionen Ar-beiter aus den Staatsbetrieben in den Städten ihrenJob, als diese privatisiert oder dicht gemacht wurden.Aber sie konnten ihre Wohnungen behalten. Sie wa-

ren meist älter als die jungen Wanderarbeiter in den20ern und 30ern und hatten Unterstützung durchdie Nachbarschaft und ein soziales Netz.Alle Beschäftigten von Staatsbetrieben und alleStaatsbediensteten konnten vor zehn Jahren ihreWohnungen für einen Nominalbetrag kaufen – aufErbpacht für 70 Jahre. Das ist eine der Grundlagendes relativen Wohlstands der offiziell registriertenStadtbewohner. Damit konnten sie auch zur Bankgehen und ihre günstig gekaufte Wohnung beleihen.Das Gefälle Stadt/Land ist riesig. Ein Landbewohnerverdient im Durchschnitt weniger als ein Drittel einesStadtbewohners, in armen Gebieten oft nur einZehntel. Jetzt plant die Partei, den Bauern das Land,das sie bebauen, für 50 Jahre fest zu verpachten. Dassoll den Bauern mehr Sicherheit und Schutz vor derWillkür korrupter lokaler Funktionäre garantieren.Durch die Reform wäre das Bauernland beleihbar,und eine rapide Konsolidierung der oft winzigenLandstücke wäre die Folge.

Segmentierung der Arbeiterschaft(3 Großgruppen)

Traditionelle Staatsbetriebe

50.000 Unternehmen / 60 Millionen Beschäftigte (?)

privilegierte Kerngruppe bis Mitte der 1990er Jahre(mit Danwei-Sozialversorgung)

aber: defacto seit 1995 halbiert

Wanderarbeiter – ländliche Migranten (> 200 Millionen)

vor allem: Bausektor / Leichtindustrien im Exportsektor (Textil, Spielzeug)

Regionale Konzentration: Perlfluss, Jangtse-Delta

benachteiligt durch Hukou (Meldesystem)

Auseinandersetzung um Einhaltung von Mindestnormen

Moderne Industriearbeiter, v.a. Auslandsunternehmen (10-15 Mio. ?)

"Hochverdiener" mit geschützten Arbeitsbedingungen

Erhebliche Qualifikationsprobleme/-defizite

Im Gegensatz zur abrupten Systemtransformation inden sozialistischen Ländern Osteuropas erfolgte derÜbergang zu einem ungeregelten Arbeitsmarkt inChina jedoch schrittweise und durch zwei paralleleEntwicklungen. Zum einen wurde privaten Initiativengrößerer Raum gewährt. Der Kernbereich des öffent-lichen Wirtschaftssektors, die großen Staats- und Kol-lektivunternehmen, wurde zwar massiv restrukturiert,aber es gab keine allgemeine Privatisierung gesell-schaftlichen Eigentums. Stattdessen wurden graduellneue Eigentumsformen wie Joint Ventures, Unter-nehmen mit ausländischem Kapital und Privatunter-nehmen zugelassen, die zum Motor für neue Be-schäftigung wurden.Darüber hinaus wurden auch durch die parallel ver-folgte Privatisierung kleiner Staats- und Kollektivbe-triebe zunehmend Arbeitsplätze im nichtstaatlichenSektor geschaffen. Der Staat zog sich gleichzeitigschrittweise aus der direkten Arbeitskräfteplanung

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und Allokation zurück. Grundlage der Arbeitsbezie-hungen wurde die Auswahl von Arbeitskräften durchdie Betriebe bzw. die Arbeitsplatzwahl durch die Ar-beitskräfte.

2. Immer mehr Arbeitskonflikte, aber keine Mechanismen zur Konfliktlösung

Im Jahr 2005, dem letzten Jahr der offiziellen Bericht-erstattung, gab es nach offiziellen Angaben 87.000größere Arbeitskonflikte gegenüber 10.000 im Jahre1994. Dass es heute keine offizielle Streikstatistikmehr gibt, bedeutet nicht, dass die Streiks wenigergeworden sind. Im Gegenteil. Es ist davon auszuge-hen, dass die Zahl der Konflikte speziell in der export-orientierten Wirtschaft mit der Wirtschaftskrise seitAnfang 2008 dramatisch zugenommen hat.

Auch ohne offizielles Streikrecht finden in Chinawahrscheinlich nicht nur die meisten Streiks in derWelt statt. Bei einem Arbeiterheer von mehrerenhundert Millionen und den vielfach unerträglichenArbeitsbedingungen ist das auch kein Wunder. Aberwahrscheinlich ist auch die Zahl der durch Streiksund andere Aktionen ausgefallenen Arbeitstage inRelation zur Beschäftigtenzahl im internationalenVergleich sehr hoch.

Die chinesischen Arbeiter haben inzwischen gelernt,dass kollektives Handeln und gemeinsame Aktionenwirksam sind, wenn es um Lohnerhöhungen, umausstehende Löhne oder gegen die Schließung vonFabriken geht. Die Behörden halten sich jetzt in derWirtschaftskrise zunehmend zurück bei der Nieder-schlagung solcher Proteste. Das war noch vor Jahrenanders. Als die chinesische Regierung vor zehn Jahrendie maroden Staatsbetriebe restrukturierte, privati-sierte oder gleich dicht machte, gab es große De-monstrationen gegen die Massenarbeitslosigkeit, dieoft niedergeschlagen wurden.

Viele sehen sogar eine neue Qualität der Arbeiterbe-wegung in China. In einer Studie von 100 Arbeitskon-flikten der letzten Jahre kommt das China LabourBulletin aus Hongkong zu der Beurteilung: Die Arbei-ter nahmen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand.An der offiziellen Gewerkschaft vorbei zwangen siemit öffentlichen Aktionen die lokalen Behörden, sichfür ihre Interessen einzusetzen. In vielen Fällen warensie erfolgreich.

Streiks lösten oft weitere Protestaktionen in der sel-ben Region, der selben Branche oder in anderen Kon-zernbetrieben aus. Die Streikwelle der Taxifahrer imganzen Land Ende 2008 zeigte die Ausbreitung vonArbeitskämpfen in ganzen Branchen ebenso wie dieBereitschaft der lokalen Behörden, mit den Arbeiternzu verhandeln.

Die Forderungen der Arbeiter umfassten ein breiteresSpektrum und waren durchdachter. Früher entzünde-ten sich Arbeitskämpfe meist an eindeutigen Verlet-

zungen von Arbeiterrechten wie nicht bezahlten Löh-nen, Überstunden und Sozialleistungen. In den letz-ten zwei Jahren standen mehr Kollektivinteressen imZentrum wie die Durchsetzung höherer Löhne undbesserer Arbeitsbedingungen oder Proteste gegenwillkürliche Änderungen der Beschäftigungsverhält-nisse und der Lohntabellen. Eine der zentralen Ursa-chen der Proteste waren z.B. Versuche des Manage-ments, das neue Arbeitsvertragsgesetz dadurch zuumgehen, dass die Beschäftigten gezwungen wur-den, ihre unbefristeten Beschäftigungsverhältnisse zukündigen und stattdessen in der Firma mit einemZeitvertrag oder als Leiharbeiter neu anzufangen."(China Labour Bulletin, The Workers’ Movement inChina 2007 – 2008)Im Januar gingen Bilder von der Belagerung, Erstür-mung und Verwüstung einer geschlossenen Spiel-zeugfabrik im Perlflussdelta um die Welt (z.B. http://www.guardian.co.uk/world/2009/jan/25/china-globaleconomy). Das war kein Einzelfall. Ob das aber dieStabilität der chinesischen Gesellschaft bedroht, istdoch fraglich. Zwar sind die meisten Wanderarbeiterjung und beweglich und über Handy und Internetgut vernetzt. Aber die chinesische Regierung konnteverhindern, dass die Folgen der Asienkrise 1997 unddie massive Arbeitslosigkeit durch die Restrukturie-rung der Staatsbetriebe in den 90er Jahren das Herr-schaftssystem bedrohten. Jetzt hat China viel mehrRessourcen zur Verfügung, die für Konjunkturpro-gramme und für Geldzahlungen an die Wanderarbei-ter zur Verfügung stehen.

Die chinesischen Behörden sind auch erfahrener imManagement von Arbeitskonflikten und Unruhen.Anfang 2009 hat Meng Jian, Minister für öffentlicheSicherheit, die Beamten angewiesen, ihr Hauptjob seizu verhindern, dass Unruhen außer Kontrolle gera-ten. "Unangemessene Polizeieinsätze, die die Konflik-te verschärfen sowie Blutvergießen, Verletzungenund gar Todesfälle müssen absolut vermieden wer-den." Seine Botschaft ist angekommen. Die Polizeierfasst alles auf Video, aber greift auch bei der Zer-störung von Autos oder Büros nicht ein. Bei einemMassenprotest von 30.000 Menschen in der südwest-chinesischen Provinz Guizhou aufgrund von Gerüch-ten über einen von der Polizei verdeckten Mordfallmussten sich die Offiziellen bei den Demonstrantenentschuldigen. Vier Beamte verloren ihren Job.

Im November und Dezember 2008 kam es in vielenchinesischen Städten zu Streiks der Taxifahrer. Erstaun-lich war das Ausmaß, die schnelle Ausbreitung unddie Vergleichbarkeit der Forderungen. In Sanya aufder Insel Hainan gingen die Behörden zwar mit mas-siver Unterdrückung gegen den Taxifahrerstreik vor.Aber in vielen anderen Städten reduzierten die Be-hörden die Wagenmiete, die die Fahrer zahlen müs-sen, was eine der Hauptforderungen der Streiks war.

Dass die Streiks gleichzeitig in vielen Städten in Chinaausbrachen, verweist auf ein systemisches Problemim Taxigeschäft, das von Stadtregierungen oder ver-

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bundenen Firmen monopolisiert ist. Der Allchinesi-sche Gewerkschaftsbund ACGB hat zur Gründung ei-ner Taxifahrergewerkschaft aufgerufen, die Streiksaber nicht aktiv unterstützt.Es war nicht das erste Mal, dass Taxifahrer streikten.Das Problem: Vorher hatten die Fahrer monatelangversucht, sich und ihren Forderungen Gehör zu ver-schaffen. Aber es gibt in China keinen anderen funk-tionierenden Konfliktlösungsmechanismus als denStreik oder den öffentlichen Protest – auch in ande-ren Branchen nicht. Die Behörden zeigten sich unfä-hig, vorher auf die Forderungen der Taxifahrer zureagieren.

3. Chinas Gewerkschaften in der Transformation

Traditionell rekrutierten die chinesischen Gewerk-schaften ihre Mitglieder unter den privilegierten Be-schäftigten der Staatsindustrie. Die Entwicklung ei-nes kapitalistischen Arbeitsmarktes in China hat fürdie Gewerkschaften grundlegend neue Bedingungender Mitgliederrekrutierung und Interessenvertretunggeschaffen. Entstanden als Transmissionsriemen derPartei in der Planwirtschaft und vor allem mit derOrganisation der betrieblichen Sozial- und Freizeit-einrichtungen befasst, sind sie im Kapitalismus mitvöllig anderen Aufgaben konfrontiert – Formulierungund Vertretung von Arbeitnehmerinteressen gegen-über den Unternehmen. Statt Umsetzungsorgan fürRegierungsebenen und Fabrikleitungen der Staatsbe-triebe sind sie jetzt zunehmend eigenständiger Sozi-alpartner. Es versteht sich, dass dieser Transformati-onsprozess dauert und nicht konfliktfrei ist.Die Gewerkschaften müssen zunehmend die Privat-wirtschaft organisieren, wobei sie sich nicht mehr nurhauptsächlich im Industrie-, sondern auch im Dienst-leistungssektor etablieren müssen. Gleichzeitig stel-len die Freiheit der Unternehmen, über die Größeihrer Belegschaft und deren Arbeitsbedingungen zubestimmen, die damit verbundene Zunahme unsiche-rer Beschäftigungsverhältnisse, die Vergrößerung derLohnunterschiede sowie die Gefahr höherer Arbeits-losigkeit ein völlig anderes Anforderungsprofil an diechinesischen Gewerkschaften dar als zu Zeiten derPlanwirtschaft.

Lohnverhandlungen – ohne Streikrecht?Es fehlt in China der gesetzliche Zwang, Kollektivver-träge abzuschließen. Dazu kommt die Impotenz derGewerkschaften auf Unternehmensebene. Das habenGewerkschaftsvertreter in der zentralchinesischen In-dustriestadt Luoyang in der Provinz Henan festge-stellt. (Dongfang network www.eastday.com, 16. Juni2008) Viele Unternehmen zögern mit der Unterzeich-nung von Kollektivverträgen. Gewerkschaften unddie Lokalregierung haben ihrerseits keine gesetzlicheHandhabe, die Unternehmen zu Verhandlungen zu

zwingen. Auch bei Verhandlungen ist die Gewerk-schaft im Nachteil, weil sie keinen Zugang zu denBüchern hat und sich auf die Produktivitäts- und Ge-winnangaben des Managements verlassen muss.

Die Stadtregierung von Luoyang in der Provinz Henanhatte ein Programm aufgelegt, in allen Unternehmenein System kollektiver Lohnkonsultationen einzufüh-ren. Viele Unternehmen wollen das nicht. Sie fürch-ten, dass mit einem solchen System ihre Hände ge-bunden sind. Sie verstehen unter kollektiven Lohn-konsultationen die Unterschrift unter Lohnvereinba-rungen in einem Kollektivvertrag. Wenn die Löhneschwarz auf weiß fixiert sind, können Arbeiter dieUnternehmen gerichtlich verklagen. Deshalb bevor-zugen die Unternehmen mündliche Vereinbarungen.Manche schriftlichen Verträge waren auch das Papiernicht wert, weil sie die Besonderheiten des Unterneh-mens nicht berücksichtigten und die Meinungen derArbeiter nicht eingeholt wurden. So beschwerte sichein Arbeiter, dass sein Monatslohn jetzt zwar 750Yuan beträgt, dass er aber wegen neuer Abzüge fürKranken- und Rentenversicherung dasselbe Geld wievorher nach Hause bringt. Das Unternehmen hattenur mit den Zahlen gespielt. Ein Arbeiter aus einerSchmiede beklagte sich, dass er bei zwei Lohnzahlun-gen im Monat einmal die Lohnerhöhung bekommtund beim zweiten Zahlungstermin einen Lohnabzug;das Monatsentgelt bleibt gleich.

Trotzdem gibt es vielversprechende erste Ergebnisse.Die Löhne in den Unternehmen, die an dem Pro-gramm teilnehmen, sind seit letztem Jahr deutlichgestiegen.

Die Stadtregierung hatte die Einführung eines Sys-tems kollektiver Lohnkonsultationen aufgrund einerStudie der Stadtgewerkschaft beschlossen. Diese Stu-die zeigte, dass 2006 die Wirtschaftsleistung in Luo-yang um 15,6 Prozent gewachsen war und die loka-len Steuereinnahmen sogar um 34 Prozent, währenddie Löhne gerade um 11,9 Prozent stiegen. 63 Pro-zent der von dieser Studie erfassten Arbeiter hattenin den letzten sechs Jahren höchstens zwei Lohnerhö-hungen erlebt, und 17 Prozent keine einzige Lohner-höhung – trotz Inflation. (Dongfang Network, a.a.O.)

Die Ankündigung des Programms der Stadtgewerk-schaft von Luoyang, ein System kollektiver Lohnkon-sultationen zu implementieren, verbreitete sichschnell im Netz. Viele Blogger bezweifelten, dass diebetrieblichen Gewerkschaftsvertreter im Betrieb et-was zu melden haben. "Gewerkschaftsführer könnensolange frei reden und handeln, solange es ihremBoss gefällt, was sie sagen und tun." Nach Medienbe-richten musste der Chef einer Betriebsgewerkschaftin einem sino-japanischen Gemeinschaftsunterneh-men fast drei Jahre lang vor Gericht um seine Rechtekämpfen, nachdem das Unternehmen ihn gefeuerthatte, weil er einen Lohnvertrag durchsetzen wollte.Betriebliche Gewerkschaftsvertreter sind in einer Posi-tion der Schwäche. Sie würden gern für die Rechtekämpfen, haben aber Angst, es zu tun. Wegen dieser

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Schwäche bekommen die Betriebsgewerkschaftenauch keinen Zugang zu vertraulichen Informationenund den Finanzzahlen. Ohne genaue Informationenverhandeln sie im Dunkeln.Das System kollektiver Lohnkonsultationen brauchteine gesetzliche Flankierung. Die Vorschrift im chine-sischen Arbeitsgesetz, dass Unternehmen Verhand-lungen auf Augenhöhe führen sollen, ist nur optio-nal. Unternehmen können sich diesen Verhandlun-gen verweigern. Das vom chinesischen Arbeitsministerium inzwischenvorgeschlagene Lohngesetz könnte Unternehmen be-strafen, die der Aufforderung zu Verhandlungenüber Kollektivverträge nicht nachkommen. Abermanche Gewerkschaftsvertreter und Aktivisten for-dern, dass solche Gesetzesvorgaben durch ein in derVerfassung verankertes Streikrecht unterstützt wer-den müssen. Das Recht der Arbeiter, ihre Arbeit zuverweigern, wenn das Management nicht verhandelt,ist viel effektiver als andere Sanktionen.

Überall wird gestreikt – jetzt wird auch das Streikrecht diskutiertNach der Kulturrevolution wurde das Streikrecht ausder Verfassung gestrichen. Aber jeden Tag gibt esallein im Perlflussdelta mindestens einen größerenStreik mit über 1.000 Teilnehmern und Dutzendekleinerer Streiks und Arbeitsniederlegungen. Diesekontinuierliche und ständig steigende Welle von Ar-beitskämpfen hat die Zentralregierung und die regio-nalen und lokalen Instanzen zu einer Überprüfungdes gesetzlichen Rahmens der Arbeitsbeziehungengezwungen.In einem Artikel vom Juni 2008 bewertete ein Ge-werkschaftsvertreter den Entwurf der neuen Regelnder Stadtregierung von Shenzhen, einer Metropoleim Perlflussdelta, als Meilenstein, der das lange ta-buisierte Streikrecht in die Reichweite einer gesetzli-chen Regelung bringt. Für ihn ist es bis zum Streik-recht "nur noch ein Schritt". Der Artikel ist bedeutsam wegen der freimütigen Be-wertung der gegenwärtigen Machtbalance in den Ar-beitsbeziehungen, der Ineffektivität des Allchinesi-schen Gewerkschaftsbundes ACGB bei der Organisie-rung ("ein Scherz") und der Unfähigkeit der Gewerk-schaften, Streiks zu unterstützen. Der Artikel demon-striert, dass auch offizielle ACGB-Funktionäre ihreAufgabe ernst nehmen, die Arbeitnehmerinteressenzu schützen. Im Folgenden Auszüge:"Der Ständige Ausschuss des Städtischen Volkskon-gresses, des Stadtparlaments von Shenzhen hat vorkurzem ’Vorläufige Regeln über die Entwicklung vonharmonischen Arbeitsbeziehungen in der Sonderwirt-schaftszone Shenzhen’ veröffentlicht. Das Dokumentist ein Meilenstein, weil es offensichtlich Chinas er-stes gesetzliches Dokument über ’harmonische Ar-beitsbeziehungen’ ist und weil der Ständige Aus-schuss des lokalen Volkskongresses explizit zu Stel-lungnahmen vor der Veröffentlichung aufforderte.

Der wichtigste Aspekt dieses Dokuments besteht da-rin, dass es Standards für den jeweiligen Status unddie Verantwortlichkeiten von Arbeitnehmern, Arbeit-gebern und der Regierung definiert. Es stellt fest,dass zur Schaffung harmonischer Arbeitsbeziehun-gen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf der Basis derGleichheit beraten müssen, dass sie die Gesetze be-folgen müssen und Selbstdisziplin üben müssen.Dass die Regierung den Prozess koordiniert undüberwacht, dass normale Bürger sich daran beteili-gen müssen und dass Fairness und Gerechtigkeit gel-ten müssen.

Angesichts der Tatsache, dass die Arbeitgeber imheutigen China zweifellos die stärkste Partei in denArbeitsbeziehungen sind, muss die Schaffung harmo-nischer Arbeitsbeziehungen damit beginnen, dieMachtbalance zwischen Arbeitgebern und Beschäf-tigten neu zu justieren. Ein einzelner Arbeiter in ei-nem Großunternehmen ist so machtlos wie ein winzi-ger Käfer unter einem großen Baum. Der einzigeWeg für Arbeitnehmer, Dinge zu bewegen und ihreProbleme zu lösen, ist der Zusammenschluss, dieBündelung der Kräfte.

Chinas Gewerkschaften haben weltweit den bestenOrganisationsrahmen und die größte Mitgliedschaft,aber ihr realer Status ist ein Scherz. Politische Ein-flussnahme überall im System hat echte und effektivegewerkschaftliche Organisierung verhindert. Wennjetzt die Regierung ihre Verantwortung ernst nimmt,müssen das auch die Gewerkschaften tun.

Nach der Änderung der chinesischen Verfassung1982 wurde das Wort ’Streik’ (bagong) in der chine-sischen Gesetzgebung tabuisiert. An seine Stelle tra-ten Referenzen wie Arbeitsniederlegungen (ting-gong) und Arbeitsverzögerungen (daigong). Leidererklärt das veränderte Gewerkschaftsgesetz von2001: ’Im Falle einer Arbeitsniederlegung oder einerArbeitsverzögerung in einem Unternehmen oder ei-ner Institution soll die Gewerkschaft das Unterneh-men oder die Institution bei ihrer Arbeit so unterstüt-zen, dass der normale Produktionsprozess so schnellwie möglich wieder aufgenommen werden kann.’(Artikel 27) Solche Spielregeln, die den Arbeitneh-mern das Recht auf kollektive Aktion versagen, redu-zieren sie tatsächlich auf kollektives Betteln.

Die Tatsache, dass Gewerkschaften nicht nur unfähigsind, eindeutig auf der Seite der Arbeitnehmer zustehen, sondern auch noch undankbare Jobs für dieArbeitgeber erledigen müssen, zeigt klar, dass sie ineiner untergeordneten Position sind.

Obwohl die ’Vorläufigen Regeln’ nicht so weit gehen,dass sie einen Streik auch als Streik bezeichnen, undweiterhin von Arbeitsniederlegungen und Arbeitsver-zögerungen sprechen, halten sie nicht mehr daranfest, dass im Falle solcher Ereignisse die Gewerk-schaften den Unternehmen helfen müssen, die Pro-duktion so schnell wie möglich wieder aufzunehmen.Das allein gibt den Gewerkschaften schon Spielraum.Was die ’Vorläufigen Regeln’ noch mehr zu einem

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Meilenstein macht, ist die Vorkehrung, dass im Falleeines größeren Streiks die (Stadt-) Regierung eineVerordnung erlassen kann, die dem Managementund den Arbeitern für einen Zeitraum von 30 Tagenjede Aktion untersagt, die den Konflikt verschärfenkann. Durch die klare Bezeichnung der Rechte undPflichten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ha-ben die ’Vorläufigen Regeln’ tatsächlich industrielleStreiks ins Blickfeld gesetzlicher Regulierung ge-bracht." (übersetzt aus: China Labour Bulletin, http://www.clb-prg-jl/en/node/100263, 17.6.2008)

Gewerkschaft ist Sache der Arbeitnehmer alleinZum ersten Mal seit 1949 haben offizielle Gewerk-schaftsvertreter 2008 öffentlich erklärt, dass die Ge-werkschaften die Arbeitnehmer vertreten sollen undniemanden sonst: Gleichzeitig stellt ein neues Gesetz,ebenfalls aus Shenzhen im Perlflussdelta, den Ab-schluss von Kollektivverträgen – früher ein No-Go-Thema – in den Mittelpunkt der Gewerkschaftsarbeit.

"Die Gewerkschaft ist Sache der Arbeiter selbst," er-klärte Chen Weiguang, der Vorsitzende des Gewerk-schaftsverbandes von Guangzhou in einer Konferenzam 15. Juli 2008. Die Rolle der Betriebsgewerkschaf-ten müsse sich ändern – "nicht mehr den Boss überre-den", sondern "die Arbeiter mobilisieren".

Shenzhens Umsetzungsregeln für das Gewerkschafts-gesetz vom 1.8.2008 stärken die neue Rolle der Ge-werkschaften. Sie sollen eine "verantwortliche undkampfbereite Gewerkschaft" schaffen, die die Arbei-ter schützen kann. So der Chef der Rechtsabteilungdes Gewerkschaftsbundes von Shenzhen in einer Pres-sekonferenz. In den Umsetzungsregeln von Shenzhenwird auch zum ersten Mal in einem lokalen Gesetz derBegriff "Kollektivverhandlungen" anstelle des bislangverwandten viel schwächeren Begriffs "kollektive Kon-sultation" verwandt.

"Nach drei Jahrzehnten Wirtschaftsreformen habenwir den Punkt erreicht, wo etwas getan werdenmuss. Wir haben heute in Shenzhen die schlimmstenExzesse des Kapitalismus, aber auch den Wunsch derMenschen nach sozialer Gerechtigkeit und – mit die-sen Gesetzen – die Bereitschaft der Lokalregierung,den Weg zu einem Kapitalismus mit menschlichemAntlitz zu gehen Das drängendste Problem der offizi-ellen Gewerkschaft ist ihre Unabhängigkeit von denBossen." So die Bewertung von Han Dongfang, einemGewerkschaftsaktivisten, der nach Jahren Gefängnisin China jetzt von Hongkong aus die chinesische Ar-beiterbewegung unterstützt. (zitiert nach China La-bour Bulletin).

Bezeichnenderweise gibt es im gesamten dritten Ka-pitel von Shenzhens Umsetzungsregeln für das Ge-werkschaftsgesetz keinen einzigen Verweis mehr aufdie im Gewerkschaftsgesetz von 2001 noch fixiertentraditionellen Aufgaben – etwa dem Unternehmenbei der Wiederaufnahme der Produktion im Fall einerArbeitsniederlegung zu helfen. Stattdessen machen

die Umsetzungsregeln klar, dass die Gewerkschaftendie Beschäftigten bei einem Arbeitskonflikt in Ver-handlungen mit dem Management zu vertreten ha-ben. Außerdem sehen die Umsetzungsregeln – zumersten Mal in China – eine monatliche Bezahlung vonBetriebsgewerkschaftern vom lokalen Gewerkschafts-bund vor. Das soll die Abhängigkeit der Betriebsge-werkschaft vom Unternehmen reduzieren.In verschiedenen Abschnitten wird festgestellt, dassder Abschluss von Kollektivverträgen die Hauptaufga-be der Gewerkschaften ist und wie dieser Prozessablaufen soll. Damit werden Tarifverhandlungen inChina erstmals von einer vagen Idee zu einem wirkli-chen Recht.

Natürlich sind die Umsetzungsregeln für das Gewerk-schaftsgesetz nicht perfekt. Nach wie vor wird dieBetriebsgewerkschaft von den höheren Gewerk-schaftsebenen kontrolliert. Die Kandidatenliste fürdie Führung der Betriebsgewerkschaft muss vonoben abgesegnet werden. Alle Betriebsgewerkschaf-ten brauchen die offizielle Anerkennung durch diehöheren Gewerkschaftsebenen.

Abschluss von Branchentarifverträgenin ZhejiangDie gewerkschaftliche Idee, die Lohnkonkurrenz durchbranchenweite Kollektivverträge einzuschränken, da-mit die Kapitalisten nicht mit Dumpinglöhnen gegen-einander konkurrieren, sondern um Qualität, Produk-te und Innovationen, findet auch in den chinesischenGewerkschaften Befürworter: In der ostchinesischenProvinz Zhejiang gibt es eine Region, aus der ca. 90Prozent aller Kaschmirpullover auf dem Weltmarktstammen. Hersteller sind über 100 Privatfirmen, diemeist Wanderarbeiterinnen beschäftigen. 2006 gabes in diesen Fabriken über 150 größere Arbeitskon-flikte um Löhne, Überstundenzahlung etc. Binnenzwei Jahren gelang es der lokalen Gewerkschaft, alleUnternehmen zum Abschluss eines Branchentarifver-trages zu bringen.

4. Wie Chinas Gewerkschaften organisieren

Top-Down und Bottom-Up: Wal-Mart und andere MultisNach dem Gewerkschaftsgesetz von 2001 gibt es for-mal zwei Wege zur Gründung einer Betriebsgewerk-schaft. Der eine Weg ist der Wunsch der Beschäftig-ten nach einer Gewerkschaft, der andere die Einset-zung einer Betriebsgewerkschaft durch eine höhereGewerkschaftsebene. In China wurden Betriebsgewerk-schaften bislang mit wenigen Ausnahmen von obengegründet. Auf diese Weise soll die Kontrolle überdie Vertreter der Betriebsgewerkschaft sichergestelltwerden. Pikanterweise hatten in der Vergangenheit

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viele Privatunternehmen Gewerkschaftsgründungenvon oben mit der Begründung abgelehnt, dass ihreBelegschaft keine Gewerkschaft wünsche.Die lokalen und die regionalen Gewerkschaftsebenenstecken dabei in einem Dilemma in ihrem institutio-nellen Umfeld: Einerseits haben sie die Ziele desACGB und der chinesischen Zentralregierung umzu-setzen. Andererseits unterliegen sie den Interessender lokalen Behörden. Darüber hinaus besteht auchbei Lokalregierungen die Furcht, dass Gewerkschafts-gründungen Investoren abschrecken. Sie nutzen des-halb im Sinne des chinesischen Sprichwortes "Die Ber-ge sind hoch und der Kaiser ist weit weg" ihre Auto-nomie, um ihre lokalen oder auch privaten wirt-schaftlichen Interessen zu schützen. Es gab bislangdurchaus die Gefahr eines "race to the bottom" zwi-schen den Regionen Chinas.

Zudem ist die Wirtschaftsentwicklung und die Zahlder Arbeitsplätze wichtig für die Bewertung der loka-len Kader und für ihre Karriere, solange sich keinemassiven sozialen Konflikte in ihrer Einflusssphäre er-eignen. Gleichzeitig sind viele lokale Kader selbst alsso genannte "Geschäftsleute mit roten Kappen" oderüber Verwandte an Unternehmen beteiligt oder kas-sieren anderweitig mit. Die Interessen der Arbeitneh-mer und die der lokalen Gewerkschaften sind dabeinur störend.Unter diesen Umständen ist die Qualität der Gewerk-schaftsaktivitäten in den Betrieben und auf lokalerEbene äußerst unterschiedlich. Immer wieder gibt esFälle, in denen die lokalen Gewerkschaften weitrei-chende Konzessionen machen, wenn es um Investitio-nen geht. So wird das jeweilige Unternehmen oft inden ersten beiden Jahren von Beitragszahlungen be-freit oder kann den Gewerkschaftsvorsitzenden be-stimmen.

Beispielhaft für dieses komplexe Umfeld, in dem dieBeschäftigten ihre Forderungen erheben und in demdie chinesischen Gewerkschaften agieren müssen, istWal-Mart.In einer zentral gesteuerten Kampagne, unterstütztvon der chinesischen Regierung, hat der ACGB seit2006 die meisten Wal-Mart-Niederlassungen in Chinagewerkschaftlich organisiert. Die Kampagne hatte zwei Stadien: Zunächst organi-sierte der ACGB im Sommer 2007 in 17 ausgewähl-ten Wal-Mart-Niederlassungen neue Mitglieder. DieACGB-Vertreter besuchten die Wal-Mart-Beschäftig-ten nach Feierabend und mobilisierten sie für dieGründung einer Betriebsgewerkschaft. Dann wurdenGewerkschaftskomitees gebildet und die Vorsitzen-den der Betriebsgewerkschaft gewählt – meist mor-gens vor den Geschäftsstunden. Als die gegründetenBetriebsgewerkschaften sich dann öffentlich outeten,weigerte sich das überrumpelte Wal-Mart-Manage-ment zunächst, sie anzuerkennen.Dann korrigierte Wal-Mart seine Position und ent-schied sich, mit dem ACGB zusammenzuarbeiten.Beide Seiten unterzeichneten ein Memorandum, das

die Gründung von Betriebsgewerkschaften in allenchinesischen Wal-Mart-Niederlassungen erlaubte. DerACGB gab seine Organizing-Kampagne auf und kehr-te zu seiner Standard-Praxis zurück, Betriebsgewerk-schaften und betriebliche Gewerkschaftskomitees mitManagement-Zustimmung zu gründen.Viele in China und im Ausland wundern sich, was inden Betriebsgewerkschaften bei Wal-Mart in Chinaeigentlich passiert. Kritiker des ACGB unterstellen,dass die Wal-Mart-Kampagne reines Schauspiel warund die Betriebsgewerkschaften ruhig gestellte Able-ger von Wal-Mart und dem ACGB sind.

Nach den Angaben von China Labor News Translati-ons (http://www.clntranslations.org) zeigt die Unter-suchung chinesischer Websites und Blogs jedoch eindifferenziertes Bild: Viele der Wal-Mart-Betriebsge-werkschaften sind natürlich unter der Kontrolle desManagements und der lokalen KPCh-Organe. Aber esgibt auch Betriebsgewerkschaften, die tatsächlich mitdem Management über die Arbeitsbedingungen unddie Verletzungen des Arbeitsrechts streiten.

In einer Auswertung werden beispielhaft vier Betriebs-gewerkschaften untersucht, die alle noch im Gehei-men vor dem 16.8.2006 gegründet wurden. Von die-sen vier Betriebsgewerkschaften werden zwei vonden Mitgliedern selbst kontrolliert, die die Gewerk-schaft als ihre eigene Angelegenheit auffassen undsich gegen die Kontrolle seitens des Managementsund/oder (korrupter) Funktionäre von außen wehren.

In einem Wal-Mart-Store in Shenzhen kam die Be-triebsgewerkschaft bald nach der Gründung 2006unter Managementkontrolle. Gewählte Gewerkschafts-vertreter wurden durch Manager ersetzt, offensicht-lich mit stillschweigender Zustimmung lokaler Partei-organe. In Blog-Einträgen von Wal-Mart-Beschäftig-ten hieß es dazu: "Es ist vorbei! Es ist vorbei! Helftuns, die Wal-Mart-Betriebsgewerkschaft zu retten!"

In einem anderen Supermarkt in Shenzhen wurde dieBetriebsgewerkschaft zunächst undercover aufge-baut. Es war der zweite Supermarkt in China mitBetriebsgewerkschaft. Ein einfacher Wal-Mart-Be-schäftigter wurde trotz des hohen persönlichen Risi-kos, gefeuert zu werden, zum Chef der Betriebsge-werkschaft gewählt – nicht wie üblich ernannt voneiner höheren Gewerkschaftsebene oder von der Par-tei. Im Frühjahr 2008 mobilisierten die Mitglieder da-für, ihren Vorsitzenden und den Kassenwart abzu-wählen. Ihr Vorwurf: Sie machen ihren Job nicht undveruntreuen Gewerkschaftsgelder.

Die Betriebsgewerkschaft bei Wal-Mart in Nanchangwurde ebenfalls im August 2006 ohne Wissen desManagements aufgebaut. Der von den Mitgliederndirekt gewählte junge Vorsitzende der Betriebsge-werkschaft, der in seiner Freizeit Recht studiert, hatinzwischen viele Konflikte mit dem Wal-Mart-Manage-ment durchgestanden. Darunter gegen zwei Kündi-gungen, die das Management zurücknehmen muss-te. Der Konflikt hat die Zahl der Gewerkschaftsmit-glieder vervielfacht. Mit einem Offenen Brief an die

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Mitglieder verhinderte er, dass Wal-Mart den vomGewerkschaftsgesetz geforderten Betrag von 2 Pro-zent der Lohnsumme für Gewerkschaftsaktivitäten(oft auch Freizeitaktivitäten) mit Boni oder Jahresprä-mien verrechnete. Überall bei Wal-Mart in China gilter als echter Gewerkschaftsführer, im Netz wird erauch "Chairman Gao" genannt. Der Konzern versuch-te, die Betriebsgewerkschaft in dieser Wal-Mart-Filia-le durch eine mit dem örtlichen ACGB abgestimmteGründung eines Wal-Mart-Gewerkschaftskomiteesauf Stadtebene zu kontrollieren. Aber mit Unterstüt-zung der ACGB-Zentrale in Beijing wurden die Ma-nagement-freundlichen Entscheidungen des örtlichenACGB mehrfach kassiert.

Die Kommentare in den Blogs zeigen, dass die meis-ten Arbeiter in China den ACGB nicht total abtun. Esgibt Enttäuschung und Zynismus über die chinesi-schen Gewerkschaften, aber nicht den offen oder im-plizit formulierten Gedanken, eine neue, unabhängi-ge Gewerkschaft aufzubauen. Wenn engagierte Ge-werkschafter die existierenden gesetzlichen und insti-tutionellen Spielräume für die Vertretung von Arbei-terinteressen nutzen, sammeln sich die Arbeiter hin-ter ihnen.

Ein Artikel in Legal Daily (14.7.2008), einer Regie-rungszeitung, berichtet über weitere Erfolge desACGB bei seiner Kampagne der Organisierung vonmultinationalen Konzernen, alle Fortune-500-Konzer-ne. Zu dem Zeitpunkt gab es 4.100 Betriebsgewerk-schaften in chinesischen Niederlassungen von Multis.10.000 sollten es zum Jahresende 2008 sein. Bislang konnten Multis im Fall der Gründung einerBetriebsgewerkschaft mit Verlagerung innerhalb Chi-nas drohen. Das ist inzwischen vorbei, weil der ACGBdie Multis überall organisiert. Der Artikel berichtetauch von gezielten Anstrengungen der oberen Ge-werkschaftsebenen, die Funktionäre auf Provinz-,Stadt- und Kreisebene dazu zu bringen, die Multis zuorganisieren

Gewerkschaftliche Organisierung der WanderarbeiterNoch schwieriger ist allerdings die gewerkschaftlicheOrganisierung der Wanderarbeiter, deren Interessenaufgrund ihrer enormen Mobilität und der damit ver-bundenen Fluktuation am Arbeitsplatz schwer zu ver-treten sind. 2007 waren insgesamt 68 Prozent derBeschäftigten in der verarbeitenden Industrie, 58 Pro-zent im Gaststättengewerbe und bis zu 80 Prozent inder Bauindustrie Wanderarbeiter, die für Niedriglöh-ne und in den seltensten Fällen mit Arbeitsvertragformal beschäftigt sind. Junge Frauen, die aufgrundihrer ländlichen Herkunft vergleichsweise schlechtausgebildet sind, stellen einen großen Teil der Wan-derarbeiter in der Exportindustrie. Unter dem aus-beuterischen System des "Schlafsaal-Arbeitsregimes",bei dem Arbeiterinnen vom Land direkt auf dem Be-

triebsgelände in Schlafsälen untergebracht sind, kön-nen die Betriebe die Arbeiterinnen je nach Auftrags-lage Tag und Nacht in der Produktion einsetzen.Die Organisierung der Wanderarbeiter ist das zweiteGroßprojekt des ACGB neben der Organisierung derArbeiter in ausländischen Unternehmen. Erst seit2003 vertritt und organisiert der ACGB auch dieWanderarbeiter – eine Abkehr von der Konzentrationauf die privilegierten Stammbelegschaften in denStaatsbetrieben und eine späte Reaktion auf die ge-sellschaftlichen Realitäten. Ende 2009 sollen 66 Mil-lionen Wanderarbeiter gewerkschaftlich organisiertsein. KPCh und Zentralregierung fordern eine ver-stärkte Organisierung der Wanderarbeiter – für dieStabilität im Lande. Jetzt in der Krise sollen die Ge-werkschaften den arbeitslosen Wanderarbeitern be-rufliche Qualifikationsprogramme, Kleinkredite undStartkurse für Selbständige anbieten. Sie sollen dafürsorgen, dass es auch in den Herkunftsgebieten derWanderarbeiter funktionierende Gewerkschaftsstruk-turen gibt.Gewerkschaftsbeiträge müssen die Wanderarbeiter inder Regel nicht bezahlen. Stattdessen werden die nö-tigen Mittel für die Dorfgewerkschaften und die Or-ganisation der Wanderarbeiter über die Beiträge ausden Unternehmen finanziert. In manchen Städtengibt es auch die Auflage, dass Bauunternehmer erstdann eine Lizenz erhalten, wenn sie eine Gewerk-schaft auf ihrem Baugelände zulassen. In einigenStädten werden bei Projektausschreibungen der Stadt-regierung Bauunternehmen ohne Gewerkschaft nichtberücksichtigt.Trotz der Organisationskampagne des ACGB kom-men die Wanderarbeiter im derzeitigen System zurRegelung von Arbeitskonflikten oft nur schwer zu ih-rem Recht. Da sie weder den Status eines Städtersnoch das Geld für den langwierigen Rechtsweg ha-ben, stehen sie außerhalb des Systems und bilden diegrößte Konfliktgruppe in der chinesischen Arbeits-welt. Dies zeigt auch die Radikalisierung der Protesteunzufriedener Wanderarbeiter mit der Zerstörungvon Maschinen und der Besetzung von Behörden –bis hin zur Androhung von kollektivem Selbstmord.

5. Schluss

Die Untersuchung der jüngsten Entwicklungen in Chi-na ergibt ein insgesamt widersprüchliches Bild: Dasseit ein paar Jahren propagierte Konzept der "harmo-nischen Gesellschaft" bedeutet eine Abkehr von derjahrzehntelang durch Staat und Partei betriebenenmassiven Förderung wirtschaftlichen Wachstums zuLasten der Arbeitnehmer, der Gesellschaft und derUmwelt. Es ist der Versuch eines zeitweiligen Ausglei-ches gegensätzlicher Interessen. Aber die Weltwirt-schaftskrise hat diesen Masterplan der KP Chinas undder Zentralregierung zurückgeworfen, mit kontrol-lierter kapitalistischer Entwicklung hunderte Millio-

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nen Chinesen aus der Armut zu befreien und dasenorme Stadt-Land-Gefälle schrittweise abzubauen.Es ist fraglich, ob Chinas wirtschaftliche Entwicklungdie industrielle Reservearmee auch künftig zum er-heblichen Teil absorbieren kann.Umso massiver sind die Versuche, gegenzusteuern.Partei und Regierung verkünden jetzt bei jeder Gele-genheit, dass China zu abhängig von der Exportwirt-schaft ist, dass das bisherige Wachstumsmodell anseine Grenzen gestoßen ist, dass der private Ver-brauch massiv gesteigert werden soll, um die Export-abhängigkeit zu vermindern. Neben einem Mega-Programm mit Infrastruktur-Investitionen hat die Re-gierung zur Ankurbelung des privaten Konsums An-fang 2009 umgerechnet 130 US-Dollar an 74 Millio-nen Wanderarbeiter gezahlt. Die Bauern bekommenSubventionen für die Anschaffung von Haushaltsge-räten. Mit 123 Mrd. US-Dollar soll bis 2011 eine allge-meine Krankenversicherung aufgebaut werden. Gleich-zeitig sind alle Unternehmen verpflichtet, Massenent-lassungen vorher den Behörden anzukündigen. Staats-betriebe müssen ihre Beschäftigten halten.

Gleichzeitig führt die Krise aber zu massiven Lohnein-bußen. Angesichts des Fehlens eines Sozialversiche-rungssystems bedeutet das, dass die Chinesen nochmehr sparen. 2008 lag die Sparquote bei giganti-schen 50 Prozent! Mit diesen Reserven können diemeisten chinesischen Haushalte einige Monate durch-halten.

Die riesige Arbeiterklasse der Weltmarktfabrik Chinazeigt zwar in unzähligen Aktionen jetzt in der Kriseihren Protest, sie ist aber tief gespalten und hat des-halb noch keine kollektive gesellschaftliche Kraft her-ausgebildet. Speziell die Wanderarbeiter, der ammeisten ausgebeutete und versklavte Teil der chinesi-schen Arbeiterklasse, sind durch die Unsicherheit ih-

rer Lage, ihre erzwungene Mobilität und ihren Status"Weder Land noch Stadt" bislang kaum in der Lage,sich dauerhaft zu organisieren.Die Entwicklungen in den chinesischen Gewerkschaf-ten schließlich zeigen, dass unter dem Druck dermassiven Arbeitskonflikte und sozialen Proteste derSpielraum des ACGB zugenommen hat. In demMaße, in dem sich Arbeiterkämpfe und Organisati-onsversuche von unten entwickeln, wird die Partei-und Staatsführung sicherlich noch mehr versuchen,die selbständige Rolle der Gewerkschaften weiter zustärken, um den Druck von unten zu absorbieren.

Ausgewählte Quellen

China Labor News Translations http://www.clntranslations.org

Going it Alone: The Workers’ Movement in China (2007-2008)http://www.clb.org.hk/en/files/File/research_reports/workes%20movement%2007-08.pdf

China Labour Bulletin, http://www.clb.org.hk:CLB research report:Breaking the Impasse: Promoting Worker Involvement in theCollective Bargaining and Contracts Process

China Labour Bulletin, http://www.clb.org.hk: CLB: Collective Bargaining and the New Labour Contract Law

Sergio Grassi: Die neuen Aufgaben der chinesischenGewerkschaften, in: China aktuell, 1/2008

Anita Chan, "Organizing Wal-Mart in China: Two Steps Forward,One Step Back for China’s Unions", New Labor Forum, Vol. 16,No. 2 (March 2007), pp. 87-96

ITUC (International Trade Union Confederation): China – Annual Survey of violations of trade union rights 2009,http://survey09.ituc-csi.org/survey.php?IDContinent=3&IDCountry=CHN&Lang=EN

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