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Der andere Holocaust Die Vertreibung der Deutschen 1944 -1949 Karsten Kriwat

Kriwat - Der Andere Holocaust - Die Vertreibung Der Deutschen 1944-1949 (Allied War Crimes) (2004)

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Der andere

Holocaust Die Vertreibung der Deutschen

1944 -1949

Karsten Kriwat

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„Wenn Du einen Deutschen getötet hast, so töte einen zweiten -

für uns gibt es nichts Lustigeres

als deutsche Leichen."

Ilja Ehrenburg

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„In Osteuropa werden jetzt Massendeportationen von unseren Alliierten durchgeführt in einem beispiellosen Rahmen, und ein offensichtlich vorsätzlicher Versuch wird unternommen,

viele Millionen Deutsche auszurotten, nicht durch Gas, sondern indem man ihnen ihre Häuser und Nahrung wegnimmt,

um sie einen langsamen und quälenden Hungertod sterben zu lassen."

(Bertrand Russell, „The Times" vom 23. Oktober 1945)

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Inhalt Vorwort .................................................................................... Seite 4 Die Geschichte des deutschen Ostens ..................................... Seite 5 Die Zustimmung der Westalliierten zur Vertreibung .......... Seite 7 Der Sturm auf Ostpreußen

1. Das Massaker von Nemmersdorf ...................................... Seite 10 2. Stalins Mordhetzer Ilja Ehrenburg ...................................... Seite 14 3. Der große Treck ................................................................ Seite 16 4. Die Tragödie der Flüchtlingsschiffe .................................. Seite 25 5. Flucht aus Danzig ............................................................. Seite 30

Das Schicksal der Schlesier 1. Der Todesmarsch der Breslauer Mütter .............................. Seite 33 2. Festung Breslau ................................................................... Seite 36 3. „Die Russen kommen!" .................................................... Seite 39 4. Der alliierte Terrorangriff auf Dresden ............................. Seite 82 5. Das Inferno von Swinemünde ............................................ Seite 86 6. Die Vertreibung nach Kriegsende ....................................... Seite 88 7. Das Lager Lamsdorf ........................................................... Seite 93

Tragödie in Pommern Die Verbrechen der Roten Armee an der deutschen Zivilbevölkerung ....................................... Seite 100

„Du deutsch, du raus!" - Die Vertreibung der Sudetendeutschen ................................. Seite 115

"Um den Staat verdient gemacht" - Tschechisches Parlament ehrt Benesch .................................. Seite 139

Verschleppung von Zivilisten zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion ................................................................... Seite 142 Das „Recht auf Heimat" nach 1945 ........................................ Seite 147 Landraub bleibt Landraub! -

Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ............................ Seite 151 Ist Erinnern an Völkermord „Geschichtsklitterung"? .......... Seite 154

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Vorwort Mit dem abscheulichen Massaker an der deutschen Zivilbevölkerung durch Rotarmisten begann vor 60 Jahren, im Oktober 1944, im ostpreußischen Nem-mersdorf der Vertreibungs-Holocaust. 15 Millionen Menschen aus den östlichen Provinzen des Deutschen Reiches und deutschen Siedlungsgebieten jenseits der Reichsgrenzen flüchteten vor der Roten Armee, wurden in der Folgezeit von Po-len und Tschechen systematisch entrechtet und vertrieben oder von ihren „Be-freiern" zu jahrelanger Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt. Insgesamt fielen diesem Völkermord drei Millionen Deutsche zum Opfer. Die Sieger annektierten nach 1945 ein Viertel des deutschen Reichsgebietes in den Grenzen von 1937 und eigneten sich damit unschätzbare Werte an. Die Bundesregierung unter Helmut Kohl sanktionierte im Jahre 1990 diesen völker-rechtswidrigen Landraub durch die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Trotzdem forderte das polnische Parlament vor kurzem Milliarden von Deutsch-land als „Wiedergutmachung" für den Zweiten Weltkrieg. Nicht einmal erinnert werden soll in der heutigen Bundesrepublik an diesen Völkermord an Deut-schen. Doch wie der „Holocaust an den Indianern" (so W. Richard West jr., Di-rektor des neu eröffneten „Nationalmuseums des Amerikanischen Indianers"), der „armenische Holocaust" (so die israelische Tageszeitung „Haaretz") oder der „Holocaust an den afrikanischen Tutsi" (so die „Gesellschaft für bedrohte Völ-ker") erfordert auch dieser Holocaust, dass die Welt ihn nicht vergisst. Trotzdem lehnt die Bundesregierung, während mitten in Berlin auf teuerstem Grund ein gigantisches Mahnmal für die ermordeten Juden Europas entsteht, ein „Zentrum gegen Vertreibungen" in der Hauptstadt aus Gründen der „politi-schen Korrektheit" ab. Aus Anlass des 60. Jahrestages der Wiederkehr des ungesühnten Völkermords an der ostdeutschen Zivilbevölkerung will dieses Buch in zum Teil bisher unver-öffentlichten Erlebnisberichten an das Menschheitsverbrechen erinnern. Mein Dank gilt den zahlreichen Einsendern, die sich die Mühe gemacht haben, ihre Erinnerungen niederzuschreiben und damit für die Nachwelt zu erhalten. Ohne diese Zeitzeugen wäre mein Buch nicht zustande gekommen.

München, im November 2004

Karsten Kriwat

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Die Geschichte des deutschen Ostens

Von der ersten Besiedlung zum Versailler Raubfrieden

Die deutsche Besiedlung der späteren Ostgebiete des Deutschen Reiches vollzog sich in den Zeiträumen des Hochmittelalters und der frühen Neuzeit. Für das 12. und 13. Jahrhundert sind die Hauptphasen der deutschen Ostbe-siedlung zu verzeichnen. Die friedliche Besiedlung des deutschen Ostens be-gann um 1200. Unsere Vorfahren drangen in meist äußerst schwach be-völkerte Gebiete vor, machten sie fruchtbar und gaben ihnen hochentwi-ckelte Wirtschafts-, Zivilisations- und Kulturformen.

In Schlesien entstand bereits Mitte des 13. Jahrhunderts eine ganze Kette deutscher Städte in Abständen von etwa 15 Kilometern, nachdem Herzog Heinrich I. deutsche Siedler aus Franken, Thüringen, Sachsen, aus dem Mährischen und aus Flandern ins Land geholt hatte. Er öffnete das bewaldete riesige Gebiet Schlesiens den deutschen Siedlern, die dem Land Fort-schrittlichkeit im wirtschaftlichen Leben brachten. Insgesamt wurden in Schlesien bis zum 14. Jahrhundert rund 120 deutsche Städte und 1.200 deut-sche Dörfer gegründet.

Die Besiedlung Pommerns mit deutschen Bauern und Bürgern setzte im 13. Jahrhundert ein und veränderte das schwach bevölkerte Land von Grund auf. Die zahlenmäßige Überlegenheit der Deutschen führte wie in den meis-ten Teilen Schlesiens zur sprachlichen Assimilierung der Slawen. Die Ein-deutschung Vorpommerns war noch vor dem Ende des 13. Jahrhunderts ab-geschlossen und in den westlich von Köslin gelegenen Teilen Hinterpom-merns weit fortgeschritten. Mit der bäuerlichen deutschen Siedlung einher ging bis 1350 die Gründung von etwa 50 deutschrechtlichen Städten, teils mit Magdeburger, teils mit lübischem Recht. Die deutsche Siedlung hatte nicht al-lein eine Vervielfachung der Bevölkerung und die Urbarmachung weiter Landstriche zur Folge, sondern sie bedeutete auch die Einführung neuer Wirtschaftsweisen in Landwirtschaft und Handwerk.

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1225 rief Herzog Konrad von Masowien, ein polnischer Teilfürst, den Deut-schen Orden gegen die Prussen zur Hilfe. Der Orden konnte daraufhin seine Territorialherrschaft über das eroberte Gebiet errichten. In der Folgezeit gründete der Orden Städte und Dörfer und besiedelte das dünn bewohnte Land durch Deutsche. In Ostpreußen entstanden auf diese Weise bis zum Jah-re 1410 rund 55 deutsche Städte, 48 Ordensburgen, 100 Adelssitze mit Dör-fern und 1.400 deutsche Bauerndörfer. Als letzter Hochmeister in Preußen sä-kularisierte Albrecht von Brandenburg-Ansbach 1525 schließlich den restli-chen Ordensstaat mit seiner Hauptstadt Königsberg und nahm Ostpreußen vom polnischen König Sigismund als erbliches Herzogtum zu Lehen. Erst 1657 beendete der Große Kurfürst im Vertrag von Wehlau dieses Abhängig-keitsverhältnis. Sein Nachfolger, Kurfürst Friedrich III., krönte sich am 18. Januar 1701 in Königsberg als König Friedrich I. „in Preußen" (so der offi-zielle Titel) und verband den Namen Preußen mit dem brandenburgischen Staat. 1772 wurde aus dem alten Preußenland nach der Eingliederung des Ermlandes die Provinz Ostpreußen.

70.000 Quadratkilometer an Polen

Nach dem Ersten Weltkrieg musste das Deutsche Reich im Versailler Diktat-frieden von 1919 ein Siebtel seines Territoriums mit einem Zehntel seiner Be-völkerung abtreten. Im Osten fielen Posen und Westpreußen an Polen, das sich 70.000 Quadratkilometer deutschen Bodens mit 6,5 Millionen Einwoh-nern einverleibte. Das Hultschiner Ländchen im Südosten kam zur neu ge-gründeten Tschechoslowakei, das Memelgebiet geriet unter die Kontrolle der Alliierten, während das zur „Freien Stadt" erklärte Danzig dem Völkerbund unterstellt und dem polnischen Zollsystem eingegliedert wurde. In verschiedenen Grenzgebieten des Deutschen Reiches sollten Volksab-stimmungen über die staatliche Zugehörigkeit entscheiden. Im südlichen Ostpreußen und in Westpreußen östlich der Weichsel erbrachte die Abstim-mung ein nahezu einstimmiges Ergebnis für den Verbleib im Deutschen Reich. Trotz des Ausgangs der Volksabstimmung zugunsten Deutschlands wurde Oberschlesien geteilt.

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Die Zustimmung der Westalliierten zur Vertreibung

Die Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam

Bereits auf ihrer Konferenz von Teheran Ende November 1943 befassten sich US-Präsident Roosevelt, der britische Premierminister Churchill und Sowjet-diktator Stalin mit dem gegen Deutschland gerichteten Landraub im Osten. Churchill schlug dabei die Oder-Linie als polnische Westgrenze sowie die Abtretung ganz Oberschlesiens an Polen vor. Roosevelt und Churchill stimm-ten Stalins Forderung nach dem Gebiet von Königsberg zu. Der oberste Führer der „westlichen Wertegemeinschaft", Roosevelt, regte darüber hi-naus einen „Bevölkerungsaustausch" für die betroffenen Gebiete an. In ihrer „Atlantik-Charta" hatten Roosevelt und Churchill dagegen noch heuchlerisch verkündet, „territoriale Veränderungen, die nicht mit dem frei geäußerten Willen der Betroffenen übereinstimmen", abzulehnen. Dass der Raub Ostdeutschlands und die damit verbundene Vertreibung Millionen Deutscher von den Führern der „westlichen Wertegemeinschaft" geduldet wurde, steht in diametralem Gegensatz zu ihrem in der „Atlantik-Charta" festgelegten moralischen Anspruch. Bei dem nächsten alliierten Treffen, der Krimkonferenz in Jalta Anfang Feb-ruar 1945, einigten sich die „Großen Drei" darauf, Polen „durch beträchtli-chen territorialen Zuwachs im Westen und Norden" für Abtretungen im Osten zu entschädigen. Die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens sollte jedoch bis zu einer Friedenskonferenz zurückgestellt werden. Ein Ge-heimprotokoll sah als „Reparationen" unter anderem die Verwendung von Deutschen als Zwangsarbeiter vor. Auf der Konferenz von Potsdam, die am 17. Juli 1945 im Schloss Cäcilien-hof begann, schrieben die drei Siegermächte des Zweiten Weltkrieges dann das ohnehin längst Beschlossene fest: Vorbehaltlich einer friedensvertragli-chen Regelung (die es jedoch bis heute nicht gibt) erkannten die Westalliier-ten die Westverschiebung Polens bis an die Flüsse Oder und Görlitzer Neiße an. US-Außenminister Byrnes und sein sowjetischer Kollege Molotow hatten

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Gemeinsames Mittagessen der Teilnehmer der alliierten Konferenz von Jalta am 11. Februar 1945.

sich ohnehin bereits darauf verständigt, dass die Vertreibung der Deutschen unabhängig von späteren Friedensvertragsregelungen stattfinden sollte. An-gesichts des bolschewistischen Völkermordes an Millionen Ostdeutschen und des grausamen Terrors der Roten Armee mutet der Beschluss der alliier-ten Regierungschefs, dass die „Überführung der deutschen Bevölkerung", wie es in Artikel XIII der Potsdamer Erklärung hieß, in „ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll", geradezu zynisch an. Die beiden langjährigen Führer der „westlichen Wertegemeinschaft", Roose-velt und Churchill, waren in Potsdam übrigens bereits von ihrem Schicksal eingeholt worden: Roosevelt, Stalins alter Männerfreund aus gemeinsamen Kriegstagen („Uncle Joe"), war zwischenzeitlich verstorben. Churchill nahm nur am Anfang in Potsdam teil, weil seine Konservative Partei während der

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In Potsdam stimmten die Vertreter der Westalliierten der Vertreibung von 15 Millionen Deutschen zu und erfüllten damit die Forderungen ihres Verbün-deten Stalin (Bildmitte in weißer Uniform, rechts davon: Sowjetaußen-minister Molotow).

Konferenz überraschend die Unterhauswahlen in Großbritannien verlor. Neuer Leiter der britischen Abordnung wurde während der Konferenz der Vorsit-zende der Labour Party und neue Premierminister Attlee.

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Der Sturm auf Ostpreußen

Das Massaker von Nemmersdorf

Die Ortschaft Nemmersdorf gehörte zum ostpreußischen Landkreis Gumbin-nen. Das Dorf zählte rund 650 Bewohner und besaß einige Handwerksbetrie-be und Gutshöfe. Im Zuge der Offensive der Roten Armee wurde Nemmersdorf am 21. Okto-ber 1944 von sowjetischen Panzereinheiten der 11. Gardearmee erreicht und besetzt. Knapp zwei Tage später befreite die Wehrmacht die Ortschaft wieder. Was die deutschen Soldaten dort vorfanden, war grauenhaft. Der Name Nemmersdorf steht bis heute für eines der furchtbarsten Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkrieges, das zum Fanal für die Flucht Millionen Ostdeutscher aus ihrer angestammten Heimat wurde. Der Hass einer entmenschten Sowjetsoldateska hatte sich an der wehrlosen deutschen Zivilbevölkerung auf bestialische Weise entladen. Selbst die 1951 vom Bundesministerium für Vertriebene in Auftrag gegebene „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" spricht im Zusam-menhang von Nemmersdorf von „grausamen Exzessen". Bei dem Massaker von Nemmersdorf handelt es sich um eines der am besten belegten sowjetischen Kriegs verbrechen. Zahlreiche Dokumente im Koblenzer Bundesarchiv legen Zeugnis davon ab.

Etwa die Aussage des Volkssturmmannes Karl Potrek: „An dem ersten Gehöft, links von dieser Straße, stand ein Leiterwagen. An diesem waren vier nackte Frauen in gekreuzigter Stellung durch die Hände genagelt. Hinter dem ,Weißen Krug' in Richtung Gumbinnen ist ein freier Platz mit dem Denkmal des Unbekannten Soldaten. Hinter diesem freien Platz steht wiederum ein großes Gasthaus ,Roter Krug'. An diesem Gasthaus stand längs der Straße eine Scheune. An den beiden Scheunentüren waren je eine Frau, nackt in gekreuzigter Stellung, durch die Hände angenagelt. Weiter fanden wir dann in den Wohnungen insgesamt 72 Frauen einschließlich Kinder und einen alten Mann von 74 Jahren, die sämtlich tot waren, fast ausschließlich bestialisch ermordet bis auf nur wenige, die Genickschüsse aufwiesen. Unter den Toten befanden sich auch Kinder im Windelalter, denen mit einem harten Gegenstand der Schädel eingeschlagen war. In einer Stube fanden wir auf einem So-

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fa in sitzender Stellung eine alte Frau von 84 Jahren vor, die vollkommen erblindet gewesen und bereits tot war. Dieser Toten fehlte der halbe Kopf, der anscheinend mit einer Axt oder einem Spaten von oben nach dem Halse wegge-spalten war. Diese Leichen muss-ten wir auf den Dorffriedhof tragen, wo sie dann liegen blieben, weil eine ausländische Ärzte-Kommission sich zur Besichtigung der Leichen angemeldet hatte. So lagen diese Leichen dann drei Tage, ohne dass diese

Kommission erschien. Inzwischen kam eine Krankenschwester aus Inster-burg, die in Nemmersdorf beheimatet war und ihre Eltern suchte. Unter den Ermordeten fand sie ihre Mutter von 72 Jahren und auch ihren alten schwachen Vater von 74 Jahren, der als einziger Mann zu diesen Toten gehörte. Die Schwester stellte dann fest, dass alle Toten Nemmersdorfer waren. Am vierten Tag wurden dann die Leichen in zwei Gräbern beigesetzt. Erst am nächsten Tage erschien die Ärzte-Kommission, und die Gräber mussten noch einmal geöffnet werden. Es wurden Scheunentore und Böcke herbeigeschafft, um die Leichen aufzubahren, damit die Kommission sie untersuchen konnte.

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Unschuldige Opfer bolschewistischen Mordterrors nach dem Massaker der Roten Armee im ostpreußi-schen Nemmersdorf. Entmenschte Sowjethorden verübten dort grausame Exzesse an der deutschen Zivilbevölkerung.

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Einstimmig wurde dann festgestellt, dass sämtliche Frauen wie Mädchen von acht bis zwölf Jahren vergewaltigt worden waren, auch die alte blinde Frau von 84 Jahren. Nach der Besichtigung durch die Kommission wurden die Leichen endgültig beigesetzt."

Bestialische Morde an Frauen und Kindern

Der Zeuge Generalmajor Erich Dethleffsen, Stabschef der 4. Armee, gab zu Protokoll: „Als im Oktober 1944 russische Verbände in der Gegend Groß Waltersdorf (südöstlich von Gumbinnen) die deutsche Front durchbrachen und vorüber-gehend bis Nemmersdorf vorstießen, wurde in einer größeren Anzahl von Ort-schaften südlich Gumbinnen die Zivilbevölkerung - zum Teil unter Martern wie Annageln an Scheunentore - durch russische Soldaten erschossen. Eine große Anzahl von Frauen wurde vorher vergewaltigt. Dabei sind etwa 50 französische Kriegsgefangene durch russische Soldaten erschossen worden. Die betreffenden Ortschaften waren 48 Stunden später wieder in deutscher Hand. Die Vernehmungen lebengebliebener Augenzeugen, ärztliche Berichte über die Obduktion der Leichen und Fotografien der Leichen haben mir wenige Tage später vorgelegen."

Ein weiterer an der Befreiung von Nemmersdorf aus sowjetischer Hand Be-teiligter war Dr. Heinrich Amberger, Oberleutnant der Reserve. Der Zeuge machte folgende Aussage: „(...) Ich sah auf der durch Nemmersdorf hindurchführenden Landstraße Gumbinnen-Angerapp, in unmittelbarer Nähe der über das Flüsschen Ange-rapp führenden Straßenbrücke, einen von russischen Panzern zusammenge-fahrenen Flüchtlingstreck, von dem nicht nur die Fahrzeuge und Zugtiere, sondern auch eine große Anzahl von Zivilisten, vorwiegend Frauen und Kin-der, durch die russischen Panzer plattgewalzt waren. Am Straßenrand und in den Höfen der Häuser lagen massenhaft Leichen von Zivilisten, die augen-scheinlich nicht durch Kampfhandlungen getötet, sondern planmäßig er-mordet worden waren. Am Straßenrand saß, zusammengekauert, eine durch Genickschuss getötete alte Frau. Nicht weit davon lag ein mehrere Monate alter Säugling, der durch einen Nahschuss durch die Stirn (stark verbrannter Einschuss, faust-großer Ausschuss am Hinterkopf) ermordet worden war. Eine Anzahl Männer

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Geschändete deutsche Kinder in Nemmersdorf.

war durch Schläge, wohl mit dem Spaten oder Gewehrkolben, in das völlig zertrümmerte Gesicht getötet worden. In mindestens einem Fall war ein Mann an ein Scheunentor angenagelt worden. Aber nicht nur in Nemmersdorf selbst, sondern auch in benachbarten, zwischen Angerapp und Rominten gelegenen Ortschaften, die bei dem gleichen Gegenangriff von russischen Truppen gesäubert wurden, wurden zahllose Fälle festgestellt. Lebende deut-sche Zivilisten habe ich weder in Nemmersdorf noch in den Nachbarorten mehr angetroffen, obschon von dort infolge der überraschenden russischen Panzervorstöße keine nennenswerte Zahl von Flüchtlingen hat fortkommen können!"

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Stalins Mordhetzer Ilja Ehrenburg

„Deutsche sind keine Menschen"

Zu ihren zahlreichen Mord- und Gewalttaten aufgehetzt wurden die Rotar-misten vor allem durch den Sowjet-Propagandisten Ilja Ehrenburg. Der Schriftsteller und Journalist zählte zu den populärsten Figuren der sowjeti-schen Kriegspresse. Seine Artikel wurden in hunderten von Frontzeitungen veröffentlicht. Der von fanatischem Hass auf alles Deutsche geprägte Bolschewist stammte aus jüdischem Hause. Er wurde 1891 als Sohn einer vermögenden jüdi-

schen Familie in Kiew geboren. 1909 floh er nach Paris, kehrte 1918 ins bolschewistische Russland zurück. Dort überwarf er sich jedoch mit den neuen Machtha-bern und lebte später in Paris und Berlin. Im Spanischen Bürgerkrieg war Ehrenburg erneut als kommu-nistischer Propagandist tätig und ließ sich 1940 abermals in der Sowjetunion nieder. Ab 1959 wirkte der fanatische Stalinist im Präsidium des sowjetischen Schriftstel-lerverbandes und als Abgeordneter des Obersten Sowjet. 1967 starb der Deutschenhasser in „Neu Jerusalem" bei Moskau. Ehrenburg hatte eine Flut schauriger Anschuldigungen gegen die Deutschen in Umlauf gebracht. Er stachelte die Rotarmisten regelmäßig mit furchtbaren Aufrufen zu Mord, Vergewaltigung und ande-

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„Deutsche sind keine Menschen." Sowjetpropagandist Ilja Ehrenburg spornte die Soldaten der Roten Armee immer wieder zum Holocaust an Deut-schen an. Seine Mordaufrufe wurden in der sowjetischen Kriegspresse in riesiger Auflage verbreitet.

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ren Gewalttaten an. „Ihr müsst die Deutschen vom Erdboden vertil-gen", hetzte Ehrenburg. Denn: „Wir setzen damit die Arbeit all der Wissenschaftler fort, die die Mittel zur Vernichtung tödlicher Mikroben entdeckten." In seinem 1943 in Moskau erschienenen Werk „Wojna" (Krieg) schrieb er: „Die Deutschen sind keine Men-schen. Von jetzt ab ist das Wort Deutscher für uns der alier-schlimmste Fluch. Wenn du nicht im Laufe eines Tages einen Deut-schen getötet hast, so ist es für dich

ein verlorener Tag gewesen. Für uns gibt es nichts Lustigeres als deutsche Leichen." Weiter führte Ehrenburg aus: „Tötet! Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, die Lebenden nicht und die Ungeborenen nicht! (...) Brecht mit Gewalt den Rassen-hochmut der germanischen Frauen! Nehmt sie als rechtmäßige Beute!" Und in der sowjetischen Soldatenzeitung „Krasnaja Swes-da" vom 22. Oktober 1944 notierte der Stalin-Propagandist: „Es genügt nicht, die Deutschen nach Westen zu treiben. Die Deutschen müssen ins Grab gejagt werden. Gewiss ist ein geschlagener Fritz besser als ein unver-schämter. Von allen Fritzen aber sind die toten am besten." Dr. Joachim Hoffmann, als wissenschaftlicher Direktor langjähriger Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes und Verfasser des Buches „Stalins Vernichtungskrieg 1941-45", urteilte über Ehrenburg wie folgt: „Das Wort Ehrenburgs war das Wort der Sowjetunion, er war es, der den Willen Stalins und der Sowjetführung den Truppen der Roten Armee einprägte."

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Ein sowjetisches Flugblatt mit einem Mordaufruf Ilja Ehrenburgs. Der Text beginnt mit der Überschrift „Töte" und kulminiert in dem Satz „Wenn du einen Deutschen getötet hast, so töte einen zweiten - für uns gibt es nichts Lustigeres als deutsche Leichen." Der Bolschewist aus jüdischem Hause ini-tiierte auch Aufrufe zur Massenverge-waltigung deutscher Frauen und Mäd-chen.

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Der große Treck

Die Flucht über das Frische Haff

Mit der am 12. Januar 1945 begonnenen Winteroffensive der Roten Armee brach über Ostpreußen die Katastrophe herein. Der Oberbefehlshaber der 3. Weißrussischen Front (Heeresgruppe), Armeegeneral Tschernjakowski, erließ zu Beginn der Offensive einen Aufruf an seine Soldaten: „Zerschlagt allen Widerstand der deutsch-faschistischen Eroberer. Gebt ihnen nicht eine Minu-te, um sich zu erholen. Verfolgt sie, schließt sie ein und vernichtet den faschis-tischen Unrat."

Die Überlegenheit der Sowjets war in nahezu allen Bereichen erdrückend; sie betrug bei der Artillerie 20:1, bei der Panzerwaffe 7:1 und bei der Infanterie 11:1. Innerhalb weniger Tage gelang es den sowjetischen Truppen trotz tap-ferer Gegenwehr der Wehrmacht daher, bis zur Ostseeküste vorzudringen und der Bevölkerung den Fluchtweg über das Land abzuschneiden.

Deutsche Zivilisten, die den Sowjettruppen in die Hände fielen, mussten sich auf das Schlimmste gefasst machen. Die Rote Armee veranstaltete eine regelrechte Menschenjagd: Mit Panzern wurden selbst Fluchtfahrzeuge, Pfer-de, Schlitten und Kinderwagen niedergewalzt. Wehrlose Menschen wurden gequält, erschlagen oder erschossen. Frauen und Mädchen wurden gnadenlos vergewaltigt - oft sogar von mehreren Rotarmisten gleichzeitig und mehrere Male am Tag.

Eine Überlebende der „Befreiung" berichtet: „ Diese Vergewaltigungen wiederholten sich täglich zweimal, jedesmal meh-rere Soldaten, bis zum siebten Tag. Dieser siebte Tag war mein schreck-lichster Tag, ich wurde abends geholt und morgens entlassen. Ich wurde am Geschlecht ganz aufgerissen und hatte eine armstarke Geschwulst vom Ge-schlechtsteil an beiden Oberschenkeln bis an die Knie. Ich konnte nicht mehr laufen und nicht mehr liegen. Dann folgten noch drei dieser schrecklichen Ta-ge. Dann waren wir nach Ansicht der russischen Soldaten fertig und wurden nackt aus diesem Höllenraum herausgejagt. Andere Frauen traten an unse-re Stelle. Diese Scheußlichkeiten wurden im Beisein von zehn Frauen und oft auch im Beisein der eigenen Kinder durchgeführt."

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Der große Treck ostpreußischer Flüchtlinge über das Frische Haff.

„Unser Treck wurde bei Rössel von sowjetischen Panzern überholt und zum Halten gezwungen", erinnert sich Hedwig Podschull. „Die Flüchtlinge wur-den von den Fahrzeugen gerissen, diese nach restloser Ausplünderung und nach Abschirren der Zugtiere einen steilen Abhang hinuntergestoßen. Unbe-kümmert um alle Zuschauer begannen die grauenhaftesten Vergewaltigungen von Frauen jeden Alters, einerlei, ob die in deutscher, polnischer, russischer oder litauischer Sprache um Gnade flehten." Zu Fuß machte sich die Hochschwangere mit ihrem zweiten Kind an der Hand auf den Weg: „Unterwegs sahen wir nur Bilder des Grauens: In den verschneiten Chausseegräben lagen die verstümmelten Leichen geschände-ter Frauen und Mädchen, erschossener oder erschlagener Männer, sogar Kinder." Als Ende Januar 1945 auch keine Züge mehr aus Ostpreußen herausfuhren und die Wege und Straßen nach Westen für Trecks und Fluchtwagen durch das Vordringen der Roten Armee nicht mehr passierbar waren, lag die Hoff-nung der Flüchtenden auf dem Frischen Haff.

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Das Frische Haff ist ein Strandsee mit einer Oberfläche von 838 Quadratkilo-metern, etwa 70 Kilometer lang und zehn Kilometer breit. Es ist durch die fast 60 Kilometer lange Frische Nehrung, einem schmalen Landstrich, auf dem ei-ne Straße in die Danziger Bucht führt, fast komplett von der Ostsee abgetrennt und mit dieser lediglich durch das schmale Pillauer Tief verbunden. Das zu die-ser Jahreszeit mit einer meterdicken Eisschicht zugefrorene Frische Haff wur-de zum Rettung versprechenden Fluchtweg für die von der Roten Armee einge-schlossenen Ostpreußen. Mehr als 500.000 Menschen flohen über das Eis. Besonders bei klarem Wetter wurden die Flüchtlingstrecks immer wieder von Tieffliegern gezielt mit Bordwaffen unter Beschuss genommen. Überall lagen zerschossene Fahrzeuge, tote Pferde und die Leichen erschossener Men-schen auf dem Eis.

Eine Allee von Pferde- und Menschenleichen

Emmy Teßmann erlebte einen solchen Terrorangriff sowjetischer Jagdflug-zeuge auf wehrlose Zivilisten. Sie berichtet: „Mütter suchen ihre Kinder, die beim Fliegerangriff getroffen sind. Hunderte von Pferdeleibern liegen auf dem Eis. Die verendeten Tiere lassen erkennen, wieviele Treckwagen hier ein schreckliches Ende gefunden haben. Das Eis biegt sich und kracht, je näher wir dem Pillauer Tief kommen. Dann sehen wir die Nehrung ..."

Wie gefährlich die Flucht über das Frische Haff war, schildert ein weiterer Zeitzeuge: „Wir sind Ende Februar ans Haff gekommen. Wir durften nicht rüber auf die Nehrung, weil dort auf der Nehrung die Wehrmacht war. Wir sind dann 27 Stunden über das Eis des Haffs gefahren. Mit tragenden Stuten, die durch das Rutschen kaum noch gehen konnten. Wir sind fast in einer Allee von Pferde-und Menschenleichen gefahren. Die Wehrmacht hatte Äste gesteckt, wo wir noch fahren konnten, weil ja schon Wagen eingebrochen waren. Durch den Beschuss der russischen Flugzeuge mit Bordwaffen sind Pferde ängstlich ge-worden, sind aufeinander zugelaufen, und dadurch sind dann einige Wagen eingebrochen. Die Wehrmacht hat uns immer wieder neue Wege gesteckt. Es war eine grauenvolle Fahrt, ich hatte meine beiden kleinen Kinder fest im Arm, weil ich mir sagte, wenn wir getroffen werden, dann hoffentlich alle, denn ich wollte nicht, dass meine Kinder (...) alleine bleiben. Aber wir sind dann gut rübergekommen, bis Stutthof. Es sind auch viele alleinstehende

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Ein von Sowjetpanzern überrollter Flüchtlingstreck.

Leute auf dem Haff gelaufen, die getroffen waren. Man hat fast gar nicht mehr die Leichen anderer Leute gesehen, weil der eigene Kummer und die ei-gene Sorge dafür blind gemacht haben."

Flüchtlingstreck von russischen Panzern überrollt

Aus dem Erlebnisbericht der Frau L. Sternberg über die Flucht aus Ostpreußen: „(...) 19. Januar 1945. Schon vor 8 Uhr kommt Lehrer H. und sagt: ,Frau Sternberg, es ist so weit! Richten Sie sofort Ihren Treck!' Fieberhaftes Ren-nen treppauf, treppab. Was soll aus Tante Käthe werden? Sie ist 81, krank und will von nichts wissen. (...) 20. Januar 1945. 13 Uhr Treffen im Schulhaus. Es handelt sich um die Verteilung der Leiter- und Kastenwagen an die Flüchtlin-ge. Während Lehrer H. und Inspektor H. noch disponieren, kommt Schuster S. angestürzt:, Sofort los! Nur mit Handgepäck!' Im Nu sind wir auf der Dorf-straße, die mit einem Mal voll von jammernden Frauen ist. Ich laufe, ziehe die Kinder warm an. Unsere Gumbinner Flüchtlinge sind unschlüssig. Trage mit Lotte Saremba Tante Käthe in den Landauer, wo sie in Pelzdecken gehüllt

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ganz friedlich sitzt, neben ihr Ingrid (siebenjährig), ihr gegenüber Jutta (sechsjährig) und Oda (zweijährig). Dann gilt es, unsere Sachen zu verstau-en. Natürlich ist es viel zu viel, alle Wagen sind überlastet. 15.30 Uhr geht es endlich los. Lotte Saremba ist bei den Kindern. Ich laufe mit Fräulein Knoop nebenher, immer in Sorge, dass der Treck nur zusammenbleibt. Hopp und Henzler sind längst über alle Berge. Peterswalder überholen uns, Frau Do-brik, Frau Glesinski, Fräulein Porsch. Bei Rheinsgut erste Stockung. Die Chaussee ist eisglatt. Es sind mindestens -20 Grad, doch keiner spürt die Kälte in der fieberhaften Aufregung. (...) Plötzliches Rasseln und Dröhnen, ein Panzer, nein, kein deutscher, ein russischer Panzer, riesenhaft. Maschinen-gewehre tacken. Ich reiße die Kinder in den Wagen, Kaminskis flüchten in ein Haus. Der Kutscher schreit: Mich hat es getroffen!' Ich kann nicht helfen, da ich die wild um sich schlagende Tante Käthe halten muss. Der nächste Pan-zer rammt uns, die Pferde gehen durch. Wir streifen in rasender Fahrt eine Bretterwand, eine Hausecke. Wieder ein Panzer, die Pferde biegen aus, dabei kippt der Wagen um, wir fliegen durcheinander, werden weitergeschleift. (...) Wir marschieren, von den Russen getrieben, die Straße des Todes zurück, in unserem Rücken die brennende Stadt. Brennende Bauernhöfe begleiten uns, brüllendes Vieh. Kommen in ein schweres Panzergefecht und müssen im Straßengraben Deckung suchen. Odchen schreit so, dass Nickel böse wird. Er ist jetzt unser Schutz, denn er kann wirklich polnisch. Es wird dunkel, die Kin-der können nicht mehr. In einer Holzhütte finden wir Unterschlupf, sie ist eng vollgestapelt, und wir sind 11 Erwachsene und 9 Kinder, aber es muss gehen. Barbarische Kälte, mache Feuer. (...) Mit steifen Händen kochen wir in einer Konservenbüchse Schneewasser und trinken es. Mit einer Eisenstange breche ich eine Miete auf: Kartoffeln wie Steine, aber doch Kartoffeln! Halbgar schlingen wir sie hinab. Weiter. Ungeheure Massen amphibienhafter Panzer begegnen uns, auf denen Trauben von Menschen hängen. Russen, nichts als Russen. Über Kuppen nach Groß-Hanswalde. Überfahrenes, zerquetschtes Vieh, Zivilisten mit eingeschlagenen Köpfen neben ausgeplünderten, umge-stürzten Trecks, tote deutsche Soldaten. Die Gesichter der Kinder sind ganz klein und blass und so stumm geworden." (Zitiert nach: Herbert Reinoß, Letzte Tage in Ostpreußen, München 2002).

In dem Brief der Frau Crispin heißt es: „ Als die Russen kamen, es war ein Dienstag, brannte es an vielen Stellen im Dorf. Als erste wurden die beiden Gespannführer Möhring und Kanther, der

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alte Gärtner Neubert und der Apotheker Wilmar erschossen und auch Frau Lukas (...). Ein paar Tage später wurden dann Magda Arnheim, Lotte Muss mit Kind und Oma Muss erschossen und in Schönau fünf Arbeiter vom Gut und die Frau vom Förster Schulz, die aber erst nach acht Tagen starb und sich sehr hat quälen müssen. Der alte Muss hat sich damals erhängt. Im Feb-ruar gingen dann die Abtransporte nach dem Ural los. Mein Mann war auch dabei, ebenso wie der Krugwirt Dreher und seine Tochter Ulla, die bei-den Töchter vom Stellmacher Jüngst, Frau Prüschmann, Frau Zimmermann, die vier Marxschen Mädels, Christel und Hertha Hinz und die Tochter vom Schmied. Ich erhielt vor ein paar Monaten durch Karl Marx, der mit ihnen zusammen ging, die Nachricht, dass mein Mann und die meisten anderen im Ural gestorben sind. Sie sehen, wie der Tod in unserem Dörfchen gehaust hat. Zuerst all die Jimgens an der Front, und nun die anderen." (Zitiert nach: Ma-rion Gräfin Dönhoff: Bilder, die langsam verblassen - Ostpreußische Erinne-rungen, Berlin, 2000).

Sterben war leichter als Überleben

Ingetraut E. Jochim (Jahrgang 1935) erlebte als Kind die „Befreiung" von Danzig durch die Rote Armee. Hier ihr bisher unveröffentlichter Erlebnisbe-richt: „Ich erlebte eine sehr glückliche Kindheit in meiner Heimatstadt Danzig. Drei Jahre besuchte ich die Volksschule in dem nordischen Venedig, der deutschen Hansestadt am Meer. Diese Liebe hörte niemals auf. 1944 wurde ich aus dieser Idylle herausgerissen: Fliegeralarm, Bombenabwurf, Todesangst in Bunkern, brennendes Danzig. Durch Sprengung der Dämme lief Wasser in die Stadt. Mein Vater, Kupferschmied auf der Schichauwerft, sollte mit seiner Familie mit der 'Wilhelm Gustloff' ausgeschifft werden. Meine beiden Großmütter ver-hinderten diese Fahrt. Sie wollten in der Heimat sterben. Im März 1945 dann der Einmarsch der Russen. Diese Leute hatten nichts Menschliches. Sie stürmten in unsere Luftschutzkeller. Mit aufgepflanzten Gewehren forderten sie Schmuck und Uhren von uns. Den Frauen wurden die Finger und Ohrläppchen abgeschnitten, um Ringe und Ohrringe zu stehlen. Wir wurden von den Russen dann aus der Stadt getrieben, barfuß über brennende Trümmerberge. Vorbei an Kinder-, Frauen-, Greisen- und Soldatenleichen, an Pferden mit abgerissenen Köpfen.

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Unser Haus in der Häkergasse war ausgebrannt, es standen nur die Kachel-öfen an den stehengebliebenen Mauern. Jahrelang hatte ich Albträume, sah die brennende Stadt, die Sowjets in unsere Keller stürmen und schrieb das Datum 1945 in der Schule. Die Frauen wurden vergewaltigt, mit Gewehrkolben geschlagen und misshan-delt bis zum Tode. Die Schreie sind bis heute in meine Seele eingemeißelt. Ganze Familien sind in die See gegangen, haben aus Verzweiflung Selbstmord begangen. Sterben war leichter als Überleben. Wir wurden in ein russisches Gefangenenlager gesperrt. Nach drei Tagen durften wir dieses verlassen und begaben uns auf den zehn Kilometer entfern-ten Bauernhof meiner Tante und meines Onkels. Dort befanden sich schon 32 Personen. Russen kamen auch hierher und holten die Frauen mit Gewehrkol-ben heraus - zur Vergewaltigung. Mein Onkel, kriegsbeschädigt aus dem Ersten Weltkrieg, musste zusehen, wie meine Tante pausenlos vergewaltigt wurde. Er wurde nach Einspruch am Scheunentor von den Russen aufgehängt. Viele Frauen kamen blutüberströmt und weinend zurück. Einige sind wahnsinnig geworden. Meine Geschwister, Irmgard, Hannelore und ich, schliefen mit meiner Mutter in einem Bett. Ein Russe wollte meine Mutter zur Vergewaltigung abholen. In meiner Not stellte ich mich vor meine Mutter und gab dem Russen eine Ohrfeige. Er fluchte, lud sein Gewehr durch und setzte es auf meine Brust. Meine Mutter zeigte auf uns Vier und bedeutete ihm, uns alle zu erschießen. Der Russe stutzte, überlegte und nach einer unendlichen Zeit nahm er sein Gewehr von meiner Brust und verließ den Raum. Ich fiel in Ohnmacht. Diese Qualen sind nicht zu beschreiben, sie sind nie zu überwinden (...)."

Ihr seid ja Deutsche ...

Alexander Solschenizyn, der große russische Schriftsteller, damals Offizier der Roten Armee, schrieb in seinem Gedichtzyklus „Ostpreußische Nächte":

Kleinkoslau, Großkoslau Jedes Dorf in hellen Flammen! Alles brennt! Es brennen Ställe brüllt das eingeschlossene Vieh, Tja, Ihr Guten, seid ja Deutsche.

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Ermordete Deutsche im ostpreußischen Metgethen.

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Und an anderer Stelle finden sich folgende Zeilen: Durch die Wand gedämpft - ein Stöhnen: Lebend finde ich noch die Mutter. Waren 's viel auf der Matratze? Kompanie? Ein Zug? Was macht es? Tochter - Kind noch, gleich getötet. Alles schlicht nach der Parole: Nichts vergessen, nichts verzeih 'n! Blut für Blut! - und Zahn für Zahn, wer noch Jungfrau, wird zum Weibe und die Weiber - Leichen bald.

Überhaupt gab es damals auch besonnene Stimmen: Als Major der Roten Ar-mee wurde der russische Germanist und Schriftsteller aus jüdischer Familie, Lew Kopelew (Jahrgang 1912), bei Kriegsende 1945 Augenzeuge der Gräu-eltaten in Ostpreußen. Er hatte sich als fanatischer Kommunist 1941 freiwil-lig zur Sowjetarmee gemeldet und zuvor einen leitenden Posten bei der Moskauer Theatergesellschaft bekleidet. Seine Erlebnisse in Ostpreußen je-doch erschütterten ihn. Er versuchte, die von Stalins Mordpropagandisten Eh-renburg aufgepeitschten Rotarmisten zu mäßigen und stellte sich schützend vor deutsche Mädchen und Frauen. Deshalb musste er annähernd zehn Jahre in Gefängnissen und Lagern des Archipel Gulag zubringen. 1980 emigrierte Kopelew in die Bundesrepublik. In seinem 1975 in Ann Arbor/Michigan erschienenen dramatischen Bericht „Chronitj wjetschno" (deutsch: „Aufbe-wahren für alle Zeit!") hat er den gnadenlosen Terror, den er mit eigenen Au-gen in Ostpreußen sah, beschrieben.

Hier ein Beispiel: „In einer Seitenstraße lag die Leiche einer alten Frau; ihr Kleid war zerris-sen, zwischen ihren mageren Schenkeln stand ein Telefonapparat, der Hörer war in die Scheide gestoßen (...). Eine Frau liegt auf dem Rücken in einer Blutlache. Das Blut fließt in mehreren Rinnsalen aus Stichen in Brust und Bauch. Überall Spuren eiliger, oberflächlicher Plünderung (...). Da schlen-derten ein paar angetrunkene Soldaten herum, sehen: Hoppla, eine Fritzin, eine Hündin, und aus der MP eine Garbe quer über den Rücken. Sie lebte keine Stunde mehr. Hat noch geweint: warum, wofür?"

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Die Tragödie der Flüchtlingsschiffe

Versenkung der „Wilhelm Gustloff", „Steuben" und „Goya" in der Ostsee

Rund 1,5 Millionen Zivilisten flüchteten in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs mit Schiffen über die Ostsee vor der Roten Armee. Auf Anwei-sung von Großadmiral Karl Dönitz wurde der gesamte verfügbare Schiffs-raum zur Rettung dieser Menschen bereit gestellt. In Gotenhafen, das über die größte Schiffsanlegestelle der Region verfügte, fanden sich Ende Januar 1945 jeden Tag ungezählte weitere Flüchtlinge ein. Unter den Schiffen, die in Gotenhafen lagen, befand sich auch die „Wilhelm Gustloff". Das imposante Schiff hatte eine Länge von insgesamt 208,5 Me-tern und eine Höhe von 56 Metern. Vom Kiel bis zum Mast verteilten sich zehn Decks, zwei Promenadendecks und ein Sonnendeck eingeschlossen. Die im Mai 1937 als „Kraft-durch-Freude"-Schiff vom Stapel gelaufene „Wil-helm Gustloff" war im September 1939 als „Großes Lazarettschiff" in Dienst gestellt worden. Am Abend des 29. Januar 1945 fiel die Entscheidung, sie am nächsten Tag zusammen mit dem Dampfer „Hansa" und drei U-Booten zur Geleitsicherung auslaufen zu lassen. Am Mittag des 30. Januar legte die „Wilhelm Gustloff mit 10.482 Passagieren an Bord ab und nahm Fahrt in Richtung Westen auf. Ihr Ziel: Kiel oder Flensburg. Das Schiff war von oben bis unten mit Flüchtlingen aus Ostpreußen völlig überfüllt, doch die Disziplin an Bord war beeindruckend. Am Abend wurde Hitlers letzte Rundfunkansprache zum zwölften Jahrestag der „Machtergrei-fung" am 30. Januar 1933 übertragen. Für die Flüchtlinge, die fast ihr gesamtes Hab und Gut verloren hatten, mussten seine Phrasen vom „Endsieg" allerdings wie blanker Hohn klingen ... Als sich am Abend desselben Tages das sowjetische U-Boot „S 13" der „Gustloff näherte, nahm das furchtbare Schicksal seinen Lauf: Kapitän Alexander Marinesco wies seine Mannschaft an, die Torpedos klarzuma-chen. Um 21.15 Uhr der erste Treffer: Eine ohrenbetäubende Explosion ließ die „Gustloff erbeben. Ein zweiter und dritter Treffer folgten. Sogleich ent-

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Von drei russischen Torpedos getroffen, sank am 30. Januar 1945 die mit Flüchtlingen überfüllte „Wilhelm Gustloff" in stürmischer Winternacht. 9.343 Menschen, darunter 3.000 Kinder, fanden dabei den Tod.

stand ein Verzweiflungskampf um die Aufgänge in den Decks. In Panik ver-suchten die Passagiere einen Weg zum Oberdeck zu finden. Bereits nach we-nigen Minuten waren die Schiffsflure völlig verstopft.

Der Zeitzeuge Heinz Schön, Überlebender des Untergangs, schreibt in seinem Buch „Die Gustloff-Katastrophe": „Drei Minuten nach den Torpedotreffern rast auf der Gustloff die Panik. Ein Kampf auf Leben und Tod beginnt, ein zä-hes Ringen um jede Treppenstufe, die nach oben führt. Wer überhaupt aus den Kammern herauskommt, drängt blindlings nach oben. Das fahle Notlicht er-hellt ein gespenstisches Bild und zeigt Gesichter von Menschen, denen die To-desangst aus den Augen starrt. Das Schiff hat Schlagseite nach Backbord, die ständig zunimmt. Jeder spürt, dass die Gustloff sinkt. Wohl niemand hat diese Katastrophe erwartet. (...) Auf der sinkenden Gustloff nimmt die Panik noch zu. Alle auf diesem sterbenden Schiff ahnen wohl, dass die nächsten Minuten über Tod oder Leben entscheiden. Und sie wissen auch: Wer überleben

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Großadmiral Karl Dönitz: Seine Kriegsmarine rettete im Frühjahr 1945 zehntausende deutscher Flüchtlinge über die Ostsee vor dem Zugriff der Roten Armee.

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will, muss nach oben zu den Rettungsbooten, zu den Flößen. Eine nicht zähl-bare, wie fast irrsinnig scheinende Menschenmasse kämpft um den Weg nach oben, ins Freie. Verzweifelte entwickeln Riesenkräfte. Stärkere schlagen bru-tal Schwächere nieder. Hunderte stampfen rücksichtslos über Zusammenge-brochene hinweg. Alle wollen ihr Leben retten. Das ist das totale Chaos (...). Eingeklemmt in ein tobendes Menschenknäuel werde ich nach oben auf das rettende Bootsdeck getragen. Unmenschliche Laute gellen durch die Luft des Treppenhauses, durch die Gänge und Säle. Ein merkwürdiger Ge-ruch strömt durch das Schiff. Von unten her dröhnt das Brechen der Schotten unter der Stärke der einbrechenden See. Die Ostsee verschlingt langsam aber sicher die Gustloff. Ein hemmungsloser Trieb zum Leben peitscht die Menschen durch das Schiff." Nur wenige Menschen schafften es tatsächlich, sich auf die Boote und Flöße zu retten. Tausende schwammen hilflos in Schwimmwesten oder festge-klammert an Wrackteilen im eiskalten Wasser. Weinende Kinder schrien nach ihren Müttern, Frauen riefen: „Mein Kind! Wo ist mein Kind?". Für die meisten Kinder kam jedoch jede Hilfe zu spät. Sie trieben bereits tot in den Fluten. Um 22.15 Uhr, genau eine Stunde nach dem Einschlag des ersten Torpedos, versank die einst stolze „Wilhelm Gustloff" in den Tiefen des Meeres. Insge-samt forderte die Versenkung des Schiffes 9.343 Todesopfer - überwiegend Frauen und Kinder. Damit handelt es sich beim Untergang der „Gustloff" um die größte Schiffskatastrophe in der Geschichte der Menschheit. Der Kommandant des sowjetischen U-Bootes „S 13", Alexander Marinesco, erhielt für seine „Heldentat" der Versenkung des mit Flüchtlingen überfüllten Schiffes den Orden „Rote Fahne". Nach seinem Tod wurde er außerdem für seine „Verdienste" im „Großen Vaterländischen Krieg" offiziell von der Sowjetunion geehrt. Am 9. Februar 1945, wenige Tage nach dem Untergang der „Wilhelm Gust-loff", versenkte die „S 13" dann außerdem das frühere deutsche Kreuzfahrt-schiff „Steuben", das der Kriegsmarine im Zweiten Weltkrieg als Wohn-und Lazarettschiff diente, mit 4.300 Passagieren an Bord, nur 600 konnten sich retten. Auf den Treppen zum Deck wurden zahlreiche Frauen und Kin-der totgetrampelt. Soldaten erschossen sich gegenseitig oder begingen Selbst-mord, um nicht elend ertrinken zu müssen. Am 16. April 1945 wurde schließlich die „Goya" in der Ostsee von sowjeti-schen Torpedos getroffen. Sie riss 7.000 Menschen mit in die Tiefe.

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Das Wrack der „Wilhelm Gustloff" wurde bereits in der Nachkriegszeit in 60 Metern Tiefe geortet, die Überreste der „Goya" wurden im Frühjahr 2003 ent-deckt. Im Juli 2004 fanden polnische Hydrographen nun bei einer Routine-vermessung das Wrack der „Steuben". Alle drei Schiffe sind heute ein stäh-lerner Sarg für tausende Flüchtlinge. Die Tragödie der Flüchtlingsschiffe wurde nach dem Krieg lange verschwie-gen. Selbst die Erzählung „Im Krebsgang" von Günter Grass galt den Grals-hütern bundesrepublikanischer „politischer Korrektheit" noch vor zwei Jah-ren als „Tabubruch", weil sie das Schicksal unschuldiger deutscher Opfer des Krieges thematisierte.

Szenenfoto aus dem Film „Nacht fiel über Gotenhafen", der die „Gustloff"-Katastrophe dokumentiert.

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Flucht aus Danzig

Das Ende einer großen deutschen Stadt

Die wichtigsten Handelsgüter der Hansestadt Danzig in ihrer Blütezeit zwi-schen dem 15. und 17. Jahrhundert waren Getreide und Holz. „Die Getreide- und Holzausfuhr spielte auch bei den Fahrten an die französische Küste, wo vor allem das kostbare Salz interessant war, und weiter nach Spanien und Portugal eine große Rolle. Die großen Entdeckungen der Spa-nier und Portugiesen Ende des 15. Jahrhunderts veranlassten dann die Dan-ziger, noch mehr nach Lissabon und zu den spanischen Häfen zu fahren, um die attraktiven Neuheiten aus Südeuropa und Indien zu holen. Im 16. Jahr-hundert wurde die Verbindung zu Italien sehr intensiv, das unter der spani-schen Herrschaft und Missernten zu leiden hatte. Danziger Getreideschiffe waren eine große Hilfe." (aus: Werner Hewelt, Danzig - Ein europäisches Kulturdenkmal, Lübeck 1988). Durch den Abschnitt XI (Artikel 100-108) des Versailler Diktats wurde das Gebiet der zu 95 Prozent deutschen Stadt Danzig mit Wirkung zum 10. Januar 1920 aus dem Deutschen Reich herausgelöst und zu einem eigenen Staat unter Verwaltung des Völkerbundes erklärt. Nach dem Sieg über Polen kehrte Dan-zig 1939 „heim ins Reich". Aber nur für nicht ganz sechs Jahre. Denn im Frühjahr 1945 traf die große deutsche Stadt ein grausames Schicksal. Danzig wurde von vorrückenden Verbänden der Roten Armee dem Erdboden gleich-gemacht und auf Anordnung des Sowjetmarschalls Rokossowski schließ-lich der polnischen Verwaltung unterstellt.

In diesen Tagen spielten sich unbeschreibliche Szenen ab. Hier der bisher un-veröffentlichte Augenzeugenbericht von Ulrich Janzen: „Bei ihren Vergewaltigungen machten die Russen selbst vor Schulmädchen nicht halt. Ich habe als 7-jähriger Erstklässler die Vergewaltigungsschreie und Verschleppungen meiner nächsten Angehörigen miterleben müssen. Unser Vater war zu dieser Zeit an der Front verschollen. Damit wir bei den zu erwartenden Leiden nicht alleine waren, versammelten wir uns alle ab dem 20. März 1945 bei den Großeltern im Keller ihres Hauses in Danzig-Oliva. Nach mehreren Explosionen, Kettengeräuschen und fremd klingenden Rufen drangen mehrere mit Steppjacken bekleidete Russen gewaltsam mit ihren

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Ein Pferdetreck ostdeutscher Flüchtlinge.

Tellermaschinenpistolen in unseren Kellerraum ein. Die Russen nahmen alle Frauen, auch unsere Oma, nach oben. Mein einjähriger Bruder Ludwig wurde vom Schoß meiner Mutter gerissen. Opa hielten sie zur Einschüchte-rung die Maschinenpistole vor die Brust. Unmittelbar danach führten sie ihn ab. Oben hörten wir die Schreie der mehrfach vergewaltigten Frauen. Das wiederholte sich fast täglich, denn die Kommandantur hatte wochenlang „Freie Jagd" (strafloses Vergewaltigen, Morden und Rauben) erteilt.

Viele schnitten sich die Pulsadern auf

Als wir es nicht mehr aushielten, flüchteten wir über Bombentrichter und Trümmer in unsere Kathedrale von Danzig-Oliva. Unterwegs erschossen die Russen ein kleines Mädchen, welches sich am Rockzipfel seiner Mutter festklammerte, die gerade zur Vergewaltigung weggerissen wurde. Aber auch aus der Kathedrale holten die Russen junge Mädchen und Frauen heraus. Viele wollten nicht mehr und schnitten sich die Pulsadern auf. Eheringe und Ohrringe wurden von den Fingern bzw. Ohren gerissen. Omas Ring wollten sie mit dem Bajonett abtrennen. Aber zum Glück bekam sie ihn vorher ab.

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Nach einigen Tagen gingen wir wieder in unser Haus nach Danzig-Oliva zu-rück. Dort erschienen eines Morgens Russen und Polen und trieben uns not-dürftig bekleidet auf die Straße. Unter Anspucken und Peitschenhieben schleppte sich ein langer Leidenszug Danziger Frauen und Kinder aus der Nachbarschaft zu einem Güterzug. Von dort waren wir mehrere Wochen in Richtung Oder/Berlin unterwegs. Zwischen den mehrfachen Haltepunkten ka-men Polenbanden und zogen uns die Bekleidung, bis auf Hose und Hemd, aus. Dabei wurden wir geschlagen; einige sogar verschleppt oder erschossen. In Berlin übernachteten wir in offenen Kellerruinen. Danach wurde ein Transport in Richtung Hamburg/Lübeck zusammenge-stellt. Wir hatten Glück, dabei zu sein. Am Schaalsee/Mecklenburg ging es aber nicht mehr weiter, weil Russen die Grenze geschlossen hatten. So lande-ten wir auf einem Strohballen in überdachter Halle in Wittenburg. In dem kleinen Ort wurde uns 1947 eine Baracke (Kleinhamburg) zugeteilt. Groß war die Freude, als wir Anfang 1949 das erste Lebenszeichen von unserem Vater aus russischer Gefangenschaft bekamen.

Keine Wiedergutmachung und kein Denkmal

Am 6. Dezember 1949 wurde er endlich mit einer Holzkiste, Steppjacke und Russenkappe über dem kahlgeschnittenen Kopf, entlassen. Unsere Mutter hatte uns drei Kinder bis dahin mit Näharbeiten bei den Bauern ernährt. Vater fand Anfang der fünfziger Jahre Arbeit in seinem Beruf als Schriftsetzer in Hagenow. 1956 flohen wir aus der SBZ/DDR nach Westdeutschland. Zweijährige La-gerzeit, zuletzt in Neuenhaßlau und Wiesbaden folgten, bis wir unsere erste Wohnung in Wiesbaden-Dotzheim beziehen konnten. Für uns gab es nach all dem Leid keine Wiedergutmachung und kein Denkmal..."

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Das Schicksal der Schlesier

Der Todesmarsch der Breslauer Mütter

Mit einer Fläche von 33.000 Quadratkilometern und einer Bevölkerung von 4,6 Millionen Menschen war Schlesien die bevölkerungsreichste Provinz des deutschen Ostens. Die Hauptstadt Breslau war bis Ende 1944 eine ruhige deutsche Stadt - weit entfernt von allen kriegerischen Auseinandersetzungen. Ihre herrlichen Bauten und Kirchen, Zeugen einer jahrhundertealten Ver-gangenheit, standen noch. Viele Familien aus bombengefährdeten Großstäd-ten des Deutschen Reiches hatten in Breslau Zuflucht gesucht, weil die Stadt als vermeintlich sicherer Hort im Luftkrieg der Westalliierten gegen Deutsch-land galt. Man sprach auch vom „Luftschutzkeller Deutschlands". Auf diese Weise war die 1939 mit 630.000 Einwohnern viertgrößte Stadt des Deutschen Reiches sogar zur Millionenstadt angewachsen. Am 19. Januar 1945 überschritten Sowjettruppen im Zuge ihrer Großoffen-sive zum ersten Mal die Grenze Schlesiens. Nachdem am 20. Januar die ersten Lautsprecherdurchsagen in Breslau zu hören waren, wurden am 21. Ja-nuar überall Plakate mit der offiziellen Anordnung des Gauleiters Hanke angebracht. Auf ihnen war zu lesen: „Alle Frauen und Kinder verlassen so-fort die Stadt Breslau zu Fuß in Richtung Opperau-Kanth!" Bei bis zu 20 Grad unter Null machten sich daraufhin tausende Frauen mit ihren Kindern, mit Schlitten und kleinen Handwagen auf verschneiten Landstraßen hinaus in die eiskalte Winternacht. Für hunderte von Kleinkindern war diese Nacht ihre letzte, denn bei diesen Temperaturen, ohne Verpflegung, war ihre Überlebenschance gleich null. In den Straßengräben Richtung Lieg-nitz lagen in den nächsten Tagen massenhaft Säuglingsleichen, erfroren und zurückgelassen von den in panischer Angst Flüchtenden. Allein in Neumarkt wurden über 40 Kinderleichen, säuberlich auf Stroh niedergelegt, gezählt.

Zeilen einer Breslauerin an ihre Mutter, in einem Brief vom 29. Januar 1945: „Ich habe die Bäume an der Chaussee gezählt und mich von Baum zu Baum geschleppt. Frauen saßen auf ihren Schlitten und wollten sich ausruhen. Aber die Kälte trieb sie immer weiter, bis auf die, die einfach sitzen blieben und mit ihren Kindern erfroren sind. Mutterliebe ist die größte Liebe. Aber wie groß die Liebe sein mag, wir sind doch nur schwache Geschöpfe. (...) Ich

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Eine ostdeutsche Mutter auf der Flucht mit ihren Kindern.

habe versucht, Gabi die Brust zu geben. Aber sie nahm sie nicht. Und die Milch in der Flasche war Eis. Ich habe vor Elend ständig vor mich hin ge-weint, und ein paar Mal war ich auch so weit, dass ich mich am liebsten ein-fach in den Schnee gelegt hätte. (...) Als ich Gabi später auspackte und mich freute, dass ich ihr nun etwas zu trinken geben konnte, da war sie ganz still, und die Frau neben mir sagte: ,Sie ist tot.'" (Zitiert nach: Knopp, Die große Flucht, München 2001). Der „Todesmarsch der Breslauer Mütter" kostete laut inoffiziellen Schätzun-gen etwa 18.000 Menschen das Leben. Etwa 200.000 Zivilisten blieben in der Stadt zurück.

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Auf der Flucht

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„Festung Breslau"

So starb die deutsche Stadt

In fieberhafter Eile wurde die Odermetropole zur „Festung Breslau" ausge-baut. Am 24. Januar 1945 standen die Sowjets bereits 35 Kilometer vor der Stadt und brachen einen Tag später mit Panzern in den Südpark ein. Bis zum 15. Februar 1945 hatte sich der Ring der Roten Armee endgültig um Breslau geschlossen. Alle Männer zwischen 14 und 60 Jahren waren zur Verteidigung der „Festung Breslau" bewaffnet worden. Etwa 160.000 Zivilis-ten und eine Kampfbesatzung von 30.000 Mann sollten den Sturm einer vielfachen Übermacht von Rotarmisten auf die Stadt stoppen.

In dem Aufruf des Gauleiters Hanke zur Verteidigung Breslaus hieß es: „Ich rufe die Männer Breslaus auf, sich der Verteidigungsfront unserer Festung Breslau einzureihen! Die Festung wird bis zum Äußersten verteidigt."

Ein erbitterter Kampf um jeden Häuserblock stand nun bevor. Der Ansturm der Sowjets konzentrierte sich von Süden und Westen her auf das brennende Zentrum der Stadt, deren nördliche und östliche Vororte vorerst verschont blieben. Die deutschen Artilleriestellungen auf den Plätzen Breslaus wurden fast pausenlos von feindlichen Schlachtfliegern bombardiert. Als der Flugha-fen Gandau im Westen - die einzige Verbindungsstelle zur Außenwelt - un-mittelbar bedroht war, ließ Festungskommandant General Niehof jenseits der Oder eine neue Startbahn anlegen, der die Wohnviertel östlich der Kaiserbrü-cke zum Opfer fielen.

Die schwedische „Stockholmer Zeitung" vom 22. März 1945 schrieb über die erbitterten Kämpfe: „Gekämpft wird in Breslau nicht nur um jedes Haus, Stockwerk oder Zimmer, sondern um jedes Fenster, wo die Deutschen Maschinengewehre und andere automatische Waffen installiert haben. Man kann kaum begreifen, wie die Ver-teidiger sich mit Lebensmitteln, Wasser und Munition versorgen. Während des ganzen Krieges hat es kein Gegenstück zu einem so dramatischen Ringen wie in Breslau gegeben."

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Ein Artikel, der in verschiedenen deutschen Zeitungen erschien, sah es so: Ein ungeheuerer Widerstandswille ist in den Verteidigern erwacht, jedes Haus wird zu einer kleinen Festung, die Tod und Verderben speit. Der Russe hat unglaubliche Verluste. Der Kampf ist unsagbar hart und wird von beiden Seiten ohne jeden Pardon geführt. Man muss in die flackernden Augen der rußgeschwärzten Gesichter der Volkssturmmänner gesehen haben, um etwas von dem Inferno in den Straßen der Südstadt zu erahnen. Männer, die durch die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges gegangen sind, werden hier er-schüttert. Selbst Moskau zeugt den Verteidigern Achtung und Bewunderung."

In seinem Erinnerungsbericht „Hölle Breslau 1945" (Berg am Starnberger See, 1998) beschreibt der Zeitzeuge Klaus Franke die letzten Tage in der „Festung": „Die zerstörten Straßenzüge der Berliner Straße sind von Gesteinstrüm-mern übersät. Der Asphalt ist aufgerissen und mannstiefe Gräben verbinden die gegenüberliegenden Hausruinen miteinander. Die Leitungsdrähte hängen wie ein Wirrwarr in der Luft. Zerschlagene Möbel, Matratzen und sonstiger Hausrat liegen auf der Straße zwischen den zahllosen Blindgängern aller Kaliber herum. Barrikaden unter-brechen alle WO Meter das Straßenbild und geben kaum einen durchgehenden Blick frei. Nur am Ende der Straße sieht man im Westen, als Kulisse dieser Trümmer, einen grauen runden Betonbau ohne Fenster. Gerade aber von hier aus, am Striegauer Platz, hört man von Zeit zu Zeit einen Gewehrschuss oder den kurzen Feuerstoß eines Maschinengewehrs. Am Anfang einer Querverbindung zur Friedrich-Wilhelm-Straße steht die Karosserie eines Lieferwagens, dicht davor eine umgestülpte Badewanne. Durch die Fensterni-schen der vielen ausgebrannten Häuser pfeift der Wind, reißt hier und da eini-ge Steine aus dem Mauerwerk und singt sein Lied der Zerstörung. Tot, vollkommen ausgestorben scheint diese Geisterstadt. Kaum ein Mensch ist zu sehen. Nur dem aufmerksamen Beobachter entgeht nicht, dass zwischen den Trümmern immer wieder graue Gestalten eilig hin- und herhuschen (...)."

Am 6. Mai 1945, zwei Tage vor der deutschen Gesamtkapitulation, gab die „Festung Breslau" auf. Die Schlacht um Breslau hatte 80 Tage gedauert. Zwei Drittel des Stadtgebietes lagen danach in Trümmern. Die Menschen hungerten, Typhus breitete sich aus. Schon wenige Tage nach der Kapitula-tion wehte die polnische Fahne über der Stadt. Nun endete das deutsche

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Brennende sowjetische Panzer vor dem Breslauer Dom (Zeichnung eines Augenzeugen).

Breslau. Die Deutschen durften nicht mehr ihre Sprache sprechen, wurden entrechtet und vertrieben. Die neuen polnischen Machthaber liebten Wroclaw, wie Breslau seit 1945 von ihnen genannt wird, zunächst wenig. In den ersten Nachkriegsjahren lie-ßen sie alles demontieren, was einen Wert besaß, und überführten es nach Warschau. Ziegel, Straßenbahnen, ganze industrielle Fertigungsanlagen wur-den in die polnische Hauptstadt gebracht. Trotz dieses gewaltigen Aderlasses gelang es jedoch, Breslau nach dem Krieg weitgehend wieder aufzubauen.

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„Die Russen kommen!"

Flucht der Schlesier nach Westen

In ihrem bisher unveröffentlichten Erlebnisbericht beschreibt Heidi Henkel die Flucht und Vertreibung aus Schlesien: „Abwechselnd wurden der Rodelschlitten und die Fahrräder bepackt. Es war Januar 1945. Unsere Nachbarin Martha und die zwei Töchter Irma und Rita, meine Mutter und ich wollten Poppelau verlassen. Noch war es bitter kalt. Also wurde das Gepäck auf den Rodel gepackt. Sollte es wärmer werden, wollten wir per Rad flüchten. Mein Vater arbeitete auswärts. Er kam am 20. Januar in der Nacht zu uns nach Hause. Am Sonntag, dem 21. Januar, ging mein Vater in der Früh durch Poppelau und peilte die Lage. Auf dem Rückweg traf er unseren Polizisten Herrn Brand. Mein Vater erzählte ihm, dass er in der Nacht auf dem letzten Kohlenzug angekommen sei und er uns zwei an einen sicheren Ort bringen wolle. Da Sonntag war, wollten wir noch bleiben, aber am Montag sollte es losgehen. Herr Brand sagte aber: ,Hans, wenn du gehen willst, pack' die Fa-milie und geh' sofort. Um 12.00 Uhr wird die Oderbrücke gesprengt und dann kommt keiner mehr rüber.' Mein Vater rief im Treppenhaus:, Aufstehen! Wir gehen sofort! Martha, schlachtet die Hühner!' Es wurde ein Handwagen und ein Schlitten bepackt. Meine Mutter bekam ei-nen Rodel. Darauf war ein Sack mit Hühnern, Proviant für unterwegs. Ab-schied zu nehmen, war nicht drin. Wir mussten uns beeilen, damit wir bis um 12.00 Uhr über der Oder waren. Auf dem halben Weg sagte mein Vater: Jetzt dreht euch noch einmal um, Poppelau werdet ihr nicht mehr wieder sehen.' Wir Kinder waren damals 11 Jahre alt, Rita war schon 15 Jahre. Wir dach-ten: Jetzt spinnt der Vater, denn wir gingen davon aus, in ein paar Tagen wie-der daheim zu sein. Und so zogen wir mit dem Schlitten weiter und spürten das Flüchtlingsleben immer intensiver. Die Straßen waren spiegelglatt und verstopft - es kam vor, dass ein Pferd ausrutschte und sich den Fuß brach. Das Pferd musste dann ausgespannt werden. Soldaten waren immer in der Nähe und erschossen dann ein solches Tier. Alte Leute und kleine Kinder sa-ßen im Wagen - erfroren. So wie sie waren, wurden sie zu den toten Pferden in den Straßengraben gesetzt. Für viele Bauern war die Flucht damit zu Ende, denn ohne Pferd kein Wagen.

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Man erzählte uns, es kämen Leute, welche die Toten einsammeln und in einem Massengrab beerdigen würden. Der Flüchtlingsstrom zog sich in die Länge. Man sah keinen Anfang und kein Ende mehr. Aber wir haben schnell gelernt, ein Dach über Nacht zu finden. Der Russe war nur einen Tag entfernt von uns. Manchmal fanden wir ein Bett, andersmal nur eine Scheune. Hauptsa-che, wir durften unsere Henne rupfen und kochen. Die Henne bekam der Gastgeber und die Suppe aßen wir. Den ganzen Tag über hatten wir nichts zu essen und zu trinken. Erst abends ab 20.00 Uhr gab es die Suppe, die wir schnell verspeisten. Danach fielen wir wie tot ins Bett oder Heu. Wir kamen nach Münsterberg. Dort blieben wir zwei Wochen lang. Dank der Soldaten, die Breslau hielten, konnten wir uns etwas erholen. Der Schnee schmolz. Martha und die Kinderfuhren mit dem Zug nach Aussig. Mein Vater traf Peter Wollig aus Poppelau mit seiner Familie. Er besaß einen Wagen und ein Pferd. Herr Wollig wollte unbedingt, dass wir mit ihm flüchten. Er sagte, wir könnten unseren Handwagen an seinen Wagen hängen. Es begann das Glatzer Bergland, und es war schon verlockend, nicht den Handwagen herauf-ziehen zu müssen. Wir kamen nach Wölfeisgrund. Dort blieben wir eine Woche lang, weil meine Mutter und ich sehr erkältet und wund gelaufen waren. Herr Wollig wollte nach Sternberg (Sudetenland). Mein Vater wollte, dass wir gesund werden und nach Bayern in seine Heimat nach Alling bei Fürstenfeldbruck ge-hen. Es war wieder ein Sonntag als wir uns von Wollig trennten.

Wir wollten uns erschießen

Mein Vater zog den Handwagen nun fast alleine. Wir konnten und wollten nicht weiter. Von Marthas Mann hatten wir noch eine Pistole dabei. Als wir gerade die Glatzer-Neisse-Brücke überqueren wollten, gab meine Mutter die Pistole dem Vater und sagte, dass es wohl das Beste sei, wenn wir uns er-schießen würden. Aber als Mutter zu Vater sagte, er solle mich als Erste er-schießen und dann Mutter und am Schluss sich selbst, war mit seinem Mut nicht mehr viel los. Er nahm die Pistole und warf sie ins Wasser. Und so zo-gen wir weiter und suchten eine Bleibe noch in Schlesien. Überall wo wir fragten, hieß es jedoch, man sei schon bis unters Dach voll mit Flüchtlingen. Daher waren wir sehr niedergeschlagen. Die Grenze zum Sudetenland nahte bereits. Da sah mein Vater auf dem Balkon eines Hauses eine Frau stehen und rief: ,Schöne Frau, haben Sie nicht ein Zimmer für uns?' Sie rief zurück: Ja!' Wir konnten es nicht glauben.

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Schnell weg ...

So kamen wir bei Frau Zeizberg in Herzogswalde bei Mittelwalde an. Mein Vater nahm seine Koffer und fuhr nach Berlin zu seiner Firma, wo er sich nach fünf Wochen Fernbleibens wieder melden wollte. Die Firma lag jedoch mittlerweile in Schutt und Asche. Die schwersten Kämpfe und Bombenangriffe erlebte mein Vater in Berlin. Seinen Koffer ließ er im Straßengraben -durchsiebt von den Tieffliegern. Die Schwester meiner Mutter konnte er nicht finden. Das Haus war zerbombt. Anfang Mai kam Vater nach Herzogswalde zurück. Der 8. Mai war ein schöner Frühlingstag. Wir hatten den Krieg ver-loren. Zunächst mussten alle Radio- und Fotoapparate, Gold, Silber usw. abgegeben werden. Wir warteten auf die Russen. Am 10. Mai kam ein Planwagen mit drei Russen. Der erste führte die Pferde, der zweite spielte auf einer Quetsche und der dritte lag im Stroh. Die Russen fuhren nach Mittelwalde. Am nächsten Tag kamen drei Russen ins Haus, baten um Schnittlauch und Pe-tersilie und gingen. Wir alle waren baff. Einer sagte dann:, War alles Propa-ganda, die Russen sind ja gar nicht so.' Es war noch nicht ganz ausgespro-chen, da ging es los. Sechs Monate lang, Tag und Nacht. In der Nacht sind ein

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paar alte Männer mit Trompeten und Kochtöpfen mit Deckel auf die Straße gegangen und haben Lärm gemacht. Manchmal konnte man damit die Rus-sen vertreiben, aber manchmal wurden die Männer geschlagen und die Trompeten zertrampelt. Wir Mädels waren im Taubenschlag versteckt. Ich war jetzt 12 Jahre alt. Bis Mai gingen wir zunächst noch zur Schule. Dann wur-de die Schule geschlossen. Warum der Lehrer von den Russen erschlagen wurde, weiß ich bis heute nicht. Sechs Wochen lang marschierten die Russen Tag und Nacht Richtung Sude-tenland. Während die Russen marschierten, bekam eine Kompanie frei zum Plündern und Vergewaltigen. Einige fuhren Armeeautos mit Plündergut. Kla-viere und Flügel waren kreuz und quer auf den Lastwagen gestapelt. Jeden Abend wurden die Kühe getrieben - die Euter zum Zerplatzen groß. Die Tiere kamen für die Nacht in den Gutshof wo sie von deutschen Frauen ge-molken wurden. Es waren vor allem Frauen mit kleinen Kindern, die dort hin-gingen. Sie bekamen dafür einen halben Liter Milch. Meist wurden sie verge-waltigt. Von Tag zu Tag ist es schlimmer geworden. Ein Bett kannten wir nicht mehr. Das Waschen oder Baden war unmöglich. Die Türen durften nicht ab-geschlossen werden und die Russen waren 24 Stunden um einen herum. Die Krätze bekamen alle und manche auch Läuse. Es gab keine Seife. Der Spiri-tus war von den Russen ausgetrunken. Wenn man zum Arzt ging und seine Krätze gezeigt hat, so lachte dieser nur und zeigte seine eigene Krätze am ganzen Körper. Es gab keine Nahrungsmittel mehr. Die Schlesier teilten das Essen so lange mit den Flüchtlingen, bis nichts mehr davon da war. Unsere Hühner konnten gar nicht so viele Eier legen, wie die Russen aßen. Mit den Rühreiern konnte man manchmal einen Russen ruhig halten. Zweimal stand meine Mutter an der Wand und jedesmal hatte sie das Glück, dass ein Kommandeur herbeigeritten kam und sie befreite. Vater hatte sich im Juni auf die Beine gemacht und ist den ganzen Weg nach Hause gelaufen, weil er sehen wollte, ob wir wieder nach Hause könnten. Dies war jedoch unmöglich: Die Polen waren bereits damit beschäftigt, das Haus zu vermessen. Es sollte eine Post werden. Die Russen hatten es zunächst als Kasino genutzt und alle Vorräte meiner Mutter gegessen. Ihre Notdurft hatten sie einfach auf dem Speicher verrichtet. Es stank erbärmlich. Die Kohle hatten sie dazu benutzt, einen ganzen Ochsen zu grillen. Einen Tag zuvor war Martha mit den Kindern auf Fahrrädern ohne Schläuche von Aussig nach Poppelau gekommen und wusste nicht, wo sie bleiben sollte. Mein Vater war zu seinem Schwager gegangen. Der musste sich jeden

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Wartende Flüchtlinge an einer Verladerampe.

Tag mit seiner Familie in der Gemeinde melden, weil er nicht Pole werden wollte. Deutsch durfte nicht gesprochen werden. Mein Vater konnte jedoch kein Polnisch sprechen. Die Angst war überall zu spüren. Mein Onkel wurde in der Folter-Villa des Kommandanten brutal geschlagen. Das Haus wurde später abgerissen, und die Spuren wurden vernichtet. Mein Vater machte sich in der Nacht wieder auf den Weg nach Herzogswalde. Inzwischen war es nicht besser geworden. Wir waren so fix und fertig, dass ich einen Nervenzusammenbruch hatte. Mit meinen 12 Jahren konnte ich keine Uniform mehr sehen. Ich zitterte am ganzen Körper. Eines Tages erzählte Vater von einer Begegnung mit einem Mann, der ihm erzählt hatte, dass stoßweise Haufen von Menschen aus der Tschechei im Dauerlauf die Straße entlanglaufen würden. Hauptsächlich handele es sich dabei um Frauen in Sommerkleidung, die in Fetzen herunterhingen. Teilweise hätten die Frauen Striemen am ganzen Körper gehabt. Es dauerte nicht lange, da schaute Vater aus dem Fenster und lief auf die Straße, weil er unter den Haufen Menschen Peter Wollig mit seinen zwei Söh-nen entdeckt hatte. Zusammen zogen sie einen Handwagen, in dem seine Frau Lotte saß. ,Was ist passiert?', fragte Vater. Aber er erhielt keine Antwort, auch nicht von den anderen Menschen, die Striemen am ganzen Körper hatten. Die Leute

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standen unter Schock. Peter sagte nur: ,Hans, du hast Recht gehabt, nicht ins Sudetenland zu gehen.' Er wolle so schnell wie möglich nach Poppelau zu-rück. Mein Vater sagte, er solle hier bleiben, denn sein großes Haus, die Gast-stätte, das Fahrradgeschäft, alles sei verbrannt. Aber er ging trotzdem. Inzwischen zogen wir in der Nachbarschaft bei Selma Schlesinger ein. Sie war alleinstehend und ihr Bruder in Kriegsgefangenschaft. Die Russen zogen langsam ab und die Polen kamen über Nacht und setzten sich in den Bauern-höfen fest. Der deutsche Bauer bekam das kleinste Zimmer zugewiesen. Wenn er Glück hatte, bekam er am Tag eine rohe Kartoffel.

Die Deutschen mussten weiße Armbinden tragen

Die Türen durften weiterhin nicht abgeschlossen werden. Die Deutschen mussten weiße Armbinden tragen. Es gab so viele Verbote, dass man als Deutscher besser nicht auf die Straße gegangen ist. Ganz schnell war man verhaftet und verschwunden. Am nächsten Morgen musste man immer schau-en, wo der Nachbar geblieben war. Viele verschwanden über Nacht in polni-schen Konzentrationslagern. Mittlerweile kam der Herbst ins Land. Es gab nichts zu essen. Uns blieb nur eins: Warten bis es stockdunkel war, um todesmutig hinaus aufs Feld zu ge-hen und zu stehlen, was der Bauer gepflanzt hatte. Diese Felder waren be-wacht von Russen und Polen, die sofort scharf schossen. Die Menschen starben wie die Fliegen. Särge gab es nicht. Man trug die Leichen bei Nacht nach Mittelwalde an die Friedhofsmauer. Beerdigungen für Deutsche gab es nicht. Es gab keinen Arzt. Zähne wurden mit der Kneifzange gezogen. Mit der Krätze und den Läusen hat man leben müssen. Am Anfang durften Deutsche noch in die Kirche gehen. Als unsere Selma Schlesinger sonntags aus der Kirche kam, standen plötzlich rechts und links Polen mit dicken Knüppeln und schlugen auf die Deutschen ein. Selma erzählte mir, dass eine Polin plötzlich auf ihre Schuhe zeigte und sie zwang, diese auf der Stelle auszuziehen. Als Vater aus der Kirche kam, trieben Russen gerade eine Kuhherde vor sich her. Alle Kirchgänger wurden daraufhin gezwungen, diese Kühe in Richtung Tschechei zu treiben. (...) Nahe der Grenze gelang ihm jedoch die Flucht. Am späten Abend kam er bis zu den Knien voller Dreck wieder nach Hause. Die Polen zogen später am Ortseingang und am Ortsende eine Wäscheleine und stellten zwei bewaffnete Milizionäre an jeder Seite auf. Schon war die

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Grenze fertig und jeder, der diese passieren wollte, musste in Zloty eine Maut entrichten. Die Deutschen hatten jedoch keine Zloty, und Reichsmark wurde nicht angenommen. Daher waren wir jetzt eingeschlossen. Es kam Weihnachten, und wir hatten kaum Essen. Polen fuhren betrunken und gröhlend mit Schlitten durch das Dorf. Wir erlaubten uns den Luxus, einmal die Tür zuzusperren und richtig auszuschlafen. Die arme Selma hatte fürch-terliche Angst vor den betrunkenen Polen und konnte nicht schlafen. Anfang März 1946 gingen zwei bewaffnete Milizionäre von Haus zu Haus. Sie forderten die Deutschen auf, innerhalb von zwanzig Minuten ihre Häu-ser zu verlassen. Man traf sich um 10.00 Uhr beim Gastwirt. Merkwürdiger-weise kamen sie nicht zu uns. Also beschlossen wir, auch zu dem Gastwirt zu gehen. Der Bürgermeister las die Namen vor. Und so mussten wir uns auf-stellen und sind in Richtung Mittelwalde gegangen. Es war wieder ein Sonntag und die Polen kamen gerade aus der Kirche. Elf Monate lang hat-ten wir Mittelwalde nicht gesehen. Über der Stadt hing ein großes Transpa-rent mit der Aufschrift „Polnische Kultur". Und so gingen wir zum Bahnhof. Hinter dem Bahnhof standen neue Holzbaracken, aber davor mussten wir Stunden lang stehen und warten. Es gab kein Essen und Trinken. Als wir an der Reihe waren, wurden wir in ein Zimmer gebracht und man zog uns die Kleidung aus. Auch der Koffer wurde peinlichst nach Schmuck und Wertge-genständen durchsucht. Dann wurden wir aus dem Bahnhof in die Baracke geschoben. Es war bereits dunkel. Meine Mutter schob mich auf die oberste Pritsche an die Wand, und sie lag über mir. Wir waren mit fünf oder sechs Personen darauf. Im Verlaufe des nächsten Vormittags kam ein Güterzug und wir fuhren fort, wussten aber nicht, wohin. Im dem Zug befand sich nichts - weder ein Eimer noch Stroh. Nachdem der Zug ein paar Stunden gefahren war, hielt er auf freier Strecke an. Die Leute stiegen aus und verrichteten ihre Notdurft. Als der Zug plötzlich wieder weiterfuhr, erreichten ihn einige Kinder und Alte nicht mehr und blieben draußen. Wir kamen vorübergehend in ein sehr großes Lager. Zuerst wurden wir dort entlaust. Wenn man zur Toilette gehen wollte, war dies mit einem Marsch von einer Viertelstunde verbunden, bis man den Donnerbalken erreicht hatte. Später fuhren wir weiter. Auf der Fahrt warfen wir irgendwann unsere weißen Armbinden davon. Wir wussten: Es geht nach Westen! Und wir kamen in Aurich (Ostfriesland) an. Dort bekamen wir nach zwei Monaten die Aufforderung, nach Bayern zufahren. Am Pfingstsamstag 1946 kamen wir nach Starnberg."

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Der erschütternde Brief einer Lehrerin aus Beuthen in Oberschlesien schildert die Vorgänge vor dem Einbruch der Roten Armee in das oberschlesische In-dustriegebiet und unter sowjetischer Besatzung: „Die Schule wurde am Donnerstag (18. Januar 1945) geschlossen. Die Leh-rer durften aber nicht abreisen, ehe nicht der Gauleiter Bracht die Er-laubnis dazu gegeben hatte. Es hieß, wer seinen Posten vorzeitig verlässt, verliert sofort seine Stellung. Das Gleiche galt auch für Banken und sons-tige Betriebe. (...) Wer am Sonntag abfahren wollte, musste zehn Stunden länger auf einen Zug warten. Älteren Leuten gelang es nicht mehr, in die Wagen zu kommen. Wenn dann ab und an die Luftsirenen Alarm gaben, suchte sich die große Menge der auf dem Bahnsteig Wartenden planlos ei-nen Unterschlupf. Es waren bei weitem nicht genügend Luftschutzräume vorhanden. Im dichten Schneefall sah ich die Leute mit Pferdewagen und mit Handwägel-chen wortlos der Landstraße nach Gleiwitz zustreben. Männer mit Kojfern und Rucksäcken machten sich auf den Weg. Es war kälter geworden und der Schnee knirschte unter den Füßen. Ich hatte nun den sehnlichsten Wunsch, auch hinauszugehen, aber es war für uns zu spät."

Anschließend berichtet die Verfasserin über mehrere Luftangriffe auf die Stadt und schildert, wie sie mit ihren Angehörigen die folgenden Tage bis zum 26. Januar 1945 verbrachte. Sie fährt fort: „Am nächsten Morgen waren die Russen da. Sämtliche Läden wurden ge-plündert, zuerst die Großhandelsgeschäfte. Neben den roten Soldaten zeigte sich allerhand polnisches Gesindel, das mitplünderte und raubte. Uns hatte lähmendes Entsetzen ergriffen, und wir wagten uns nicht auf die Straße. (...) Als die Russen nichts mehr in den Läden zu holen fanden, plünderten sie die Wohnungen. (...) Die roten Soldaten machten bei den Vergewaltigungen keinen Unterschied, ob jung oder alt. Sie vergingen sich sogar an der neun-undsechzigjährigen Frau Z, die daraufhin starb. Viele Herren töteten sich selbst, als die Russen hereinkamen. Andere wurden niedergeschossen, so der Apotheker der Marienapotheke, der Zahnarzt Wlochowsky und der Kap-lan Lerch von St. Maria. Letzterem verlangten die Russen die Uhr ab: ,Zegarek, Zegarek!' Da er kein Polnisch verstand, griff er, in der Meinung, sie wollten Zigaretten, in seine Rocktasche. Dabei wurde er erschossen. "

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Ein Beispiel für die künstlerische Bewältigung von Flucht und Vertreibung ist das Bild „Auf der Flucht"

des Malers Professor Wilhelm Petersen.

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Überall das gleiche Bild von Elendszügen

Der Erlebnisbericht von Berginspektor a. D. Karl Wasner aus Friedenshütte. Kreis Königshütte in Oberschlesien, dokumentiert die Flucht der schlesischen Bevölkerung aus dem Gebiet östlich der Oder: „Am 18. Januar 1945, früh morgens, riet uns ein guter Freund, die Frauen und Kinder sofort in Richtung Oppeln-Breslau abzutransportieren. Mit einem Eilzug fuhren meine Frau und Kinder von Morgenroth ab. Der Zug war zum Brechen voll - es war der letzte, der nach Breslau durchkam. Ich blieb zurück und versah weiter meinen Dienst, bis mich am 20. Januar ein Ortsgruppen-leiter anrief und nach dem Rathaus bestellte. Dort war alles in heller Aufre-gung. Der Abschnittsleiter versuchte, Klarheit über die Lage zu bekommen, und ließ sich mit der Gauleitung Kattowitz verbinden. Dort war man schein-bar ebenso kopflos, und niemand wusste, was die nächsten Stunden bringen würden. Die Russen standen vor Myslowitz, die Annäherung der Heeressäule wurde immer spürbarer. Von Kattowitz bekamen wir keine Befehle mehr -aber hunderttausende in den Städten saßen auf gepackten Koffern, Säcken und Kisten. Es fehlte indessen an Lokomotiven und Wagen, um sie abtrans-portieren zu können. Die meisten Pläne und Vorschläge waren nicht mehr durchführbar. Am 21. Januar 1945 ging der erste Treck von Friedenshütte per Bahn in Rich-tung Rybnik-Ratibor ab, am 22. Januar 1945 kamen wir in einem Dorfe vor Leobschütz an und wurden ausgeladen, weil Leobschütz und die Strecke nach Neustadt mit Zügen verstopft waren. In der strengen Kälte erfror ein Kind, und ein alter Mann unseres Trecks starb in dem Dorf, das uns aufnahm. Das waren die ersten Verluste, die wir hatten. Nach einigen Tagen des War-tens wurde uns unheimlich, weil Leobschütz nicht zu erreichen war. Unsere Lokomotive war weggeholt worden, der Zug stand leer auf der Strecke. Einige Vertriebene beschlossen daher, auf eigene Faust die Flucht fortzuset-zen. Bei grimmiger Kälte zogen wir zu Fuß über Hotzenplotz nach Neu-stadt. Es war ein jammervoller Zug von Wägelchen und Karren inmitten von Lastautos, Wagenkolonnen von flüchtenden Bauern (...). Alle aber trieb der eine Gedanke: Fort nach Westen und nicht den Russen in die Hände fal-len. In Neustadt übernachteten wir und setzten am nächsten Tage den Marsch nach Neiße fort. Überall das gleiche Bild von Elendszügen, flüchtenden Fa-milien, wimmernden Kindern und endlosen Wagenkolonnen. In einem Dorf vor Schweidnitz kamen in einem Gasthaus, das ich schon vorher erreicht hat-

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te, Frauen eines Trecks an, die 19 erfrorene Säuglinge bei sich hatten. Es war grauenhaft, was diese Menschen gelitten haben. "

Am 18. Januar 1945 ruft im Nordkreis des Kreises Groß-Wartenberg der Ver-sammlungsleiter Pohl die Ortsbauernführer zusammen, um mit ihnen die Kriegslage zu erörtern. 24 Stunden später ist der Räumungsbefehl da. Der Zeitzeuge Alfons Dziekan erinnert sich: „Es lag viel Schnee, und wir hatten schweres Laufen und Fahren. Die Schwere des Abschiedes von unserem geliebten Klein-Grünhof kam uns noch gar nicht ganz zur Besinnung, weil alles so schnell geschehen musste. So traten wir unsere Flucht zwar schweren Herzens an, aber doch in der bestimmten Hoffnung, in vier oder sechs Wochen wieder zu Hause sein zu können. "

Marie Kynast berichtet von der „Befreiung" durch die Rote Armee: „(...) Meine Schwester, Frau Emma Fuhrmann, 47 Jahre alt, wurde nach schwersten Vergewaltigungen von den Russen mit ihrem Ehemann Bernhard Fuhrmann (57) zusammengebunden und als Zielscheibe benutzt. 56 Angehö-rige eines (deutschen) Fallschirmjägerregiments, darunter Offiziere, ein Oberarzt, ein Arzt und Mannschaften, wurden mit Genickschuss im Keller des Bauern Entrich aus Windisch Marchwitz ermordet und schichtweise aufgesta-pelt. Die Leichen wurden durch Deutsche später auf dem Acker gegenüber der Försterei Windisch Marchwitz beerdigt. "

Hundertmal vergewaltigt

Elfriede M. schildert ihr „Befreiungs"-Erlebnis so: „(...) Fürchterlich haben die Sowjets gleich nach der Einnahme der Stadt un-ter der weiblichen Bevölkerung gehaust. Eine Bekannte, Fräulein Kilian, eine 30-jährige Verkäuferin, wurde nach andauernden Vergewaltigungen trotz der großen Kälte nackt durch die Stadt gejagt und dann erschossen. Dasselbe Schicksal erlebte auch Frau Cekolka, die wohl an die hundert Mal vergewaltigt worden sein muss. Wer sich irgendwie widersetzte, wurde nieder-gemacht. "

Viele Flüchtlinge zogen über das Gebirge und konnten in das Sudetenland entkommen. Sie wähnten sich zunächst in Sicherheit. Wenige Wochen später jedoch waren sie dann der Willkür von Tschechen ausgeliefert. Die Behand-

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lung durch diese Tschechen war um keinen Deut besser als die durch die Ro-te Armee oder durch polnischen Mob. Als der Krieg schon zu Ende war, ka-men viele Schlesier noch einmal ausgeplündert zurück in ihre alte Heimat. Das schlesische Lauban wurde von der Roten Armee eingenommen und da-nach zeitweise wieder von der Wehrmacht zurückerobert. Was die deutschen Soldaten hier zu Gesicht bekamen, war grauenvoll. Aufgehetzt von den Paro-len eines Ilja Ehrenburg („Töte den Deutschen") waren die entmenschten Sowjethorden mordend, plündernd und brandschatzend durch die deutsche Ortschaft gezogen. Türen waren aufgebrochen, das Inventar der Häuser zer-trümmert, Fensterscheiben zerschlagen, Häuser in Brand gesteckt, Frauen vergewaltigt, alte Männer erschossen oder erschlagen worden. Wer sich schützend vor die Frauen stellte, wurde von den Rotarmisten sofort getötet.

Auch Georg Pfeiffer, Jahrgang 1928, erlebte die Flucht aus Schlesien ins Su-detenland und die spätere Rückkehr in sein von Bolschewisten besetztes Heimatdorf. Hier sein bisher unveröffentlichter Augenzeugenbericht'. „Die Flüchtlingstrecks durchliefen Mitte Januar 1945 unseren Ort (Tempelfeld, Kreis Ohlau in Schlesien). Allen war klar, dass es auch für uns bald heißen würde:,Schnell weg!'. Es ging auch bald unser Bürgermeister von Haus zu Haus und teilte uns mit, dass es besser wäre, sofort das Dorf zu verlassen. Aber man zögerte natürlich. Zwei bis drei Tage später kam unser Pfarrer, der riet uns das Gegenteil, nämlich zu bleiben. ,Russen sind auch nur Menschen. Und wollt ihr auf der Straße erfrieren und verhungern?', sagte er. Die meis-ten Einwohner vertrauten eher dem Pfarrer als dem Bürgermeister und so blieben wir auch zunächst. Vor unserem Dorf kam der russische Angriff überraschend zum Stehen, denn unsere Soldaten leisteten heftigen Wider-stand. So gab es immer wieder Artilleriebeschuss. Wir verkrochen uns in den Kellern. Es gab die ersten Toten und Verletzten. Nun waren wir uns alle einig: Feuerpausen wurden genutzt, um den Wagen zu beladen - mit viel Einge-machtem, Kleidung, Federbetten und Hafer für die Pferde. Es war am 31. Januar 1945, wohl gegen Mitternacht, als wir in Richtung Süden über einen Nebenweg unser Dorf verließen. Einige Scheunen brannten, ein schauriger Anblick! Unser erstes Ziel war ein Dorf, Marienau, in dem wir Verwandte hatten. Diese wurden im Schlaf gestört, aber schnell war Stroh herbeigeschafft und todmüde schliefen wir ein. Aber es sollte auch unsere Ver-wandtschaft erwischen: Es war am ersten Sonntag im Februar 1945, als wir alle gemeinsam zum Gottesdienst gingen. Der Pfarrer musste die Messe

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Vertrieben aus dem Heimatland.

abbrechen und sagte: ,So schnell wie möglich weg!'. Nun, auf unseren Wagen war ja bereits alles aufgeladen. Als die Pferde angespannt wurden, ging im Garten eine Panzerabwehrkanone in Stellung und feuerte. Aber wir entka-men, fuhren immer gen Süden. Auf dem Weg kamen wir plötzlich in einen Stau. Wehrmachtfahrzeuge und ein Zirkus, mit Elefanten, Dromedaren usw., blockierten die Straße. Über uns be-fanden sich Flugzeuge im Gefecht miteinander. Einige Bomben fielen, aber Gott sei Dank schlecht gezielt. Letztlich ging es dann weiter. Auf einem Wehrmachtfahrzeug lag ein Verwundeter - den Kopf verbunden, durchtränkt von Blut, er schrie nach seiner Mutter. Nun fuhren wir von Ort zu Ort, entlang des Sudetengebirges. Wir suchten nach einer Stelle, um hindurchzugelangen, denn unser Wagen hatte keine Bremsen. Es gab Dörfer, welche gemeinsam treckten. Die Menschen konnten sich dann besser gegenseitig helfen. Wir waren allein, anderen ging es ebenso. Den Weg über die Berge scheuten die Flachländer. So ist es wohl zu erklä-ren, dass sehr viele Dresden ansteuerten und dann dort durch den verheeren-den alliierten Bombenterror umkamen. Wir befanden uns nun hinter den Bergen und suchten nach einem ständigen Quartier, in dem wir das Ende des

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Krieges abwarten konnten. Ein solches fanden wir unweit von Wünschel-burg, ein paar Hundert Meter hinter der schlesischen Grenze, im Sudeten-land. Mein Vater und ich mussten uns im Wehrbezirkskommando in Braunau mel-den. Ein paar Tage später kam die Einberufung: Vater musste zum Volkssturm und ich zum Reichsarbeitsdienst. Zum Glück wurde ich krank ... Mittlerweile war der Krieg aus und uns zog es schnell wieder nach Hause. Wir fuhren vier Tage, blieben aber unbehelligt. Andere hatten weniger Glück. Der Anblick war erschreckend: zerstörte Ortschaften, Kadaver, vernichtete Panzer und Geschütze. Nun waren wir neugierig, wie unser Dorf aussehen würde. Als wir ankamen, bot sich uns ein Bild des Grauens. Überall lagen Unrat, Fenster, Türen, Tore, Zäune, alles war zerstört. Strom gab es nicht mehr. Die Ernährung war das größte Problem. Alles wurde durchsucht, um noch etwas Essbares zu finden.

Selbst der Pfarrer wurde erschossen

Wir alle lebten ohne Zeitung, ohne Post, ohne Radio. Ein gut Deutsch spre-chender Pole gab uns zu verstehen, dass ,dies jetzt Polen' sei. Es kamen auch immer mehr Polen und nahmen sich rücksichtslos alles, was sie brauchten. Wir wurden ausgeplündert und hatten erst Ruhe, als uns alles genommen war. Wir mussten hart arbeiten und hatten Glück, dass wir wenigstens etwas zu es-sen bekamen. Unseren Opa konnten wir nicht mitversorgen. Er verhungerte, weil er nur Wasser bekam. Mein anderer Opa, väterlicherseits, war von vornherein zu Hause geblieben, weil er als 80-Jähriger nicht mehr fliehen wollte. Sein Haus wurde von einem Russen angesteckt und brannte ab. Über-reste von ihm wurden nicht mehr gefunden, er blieb vermisst. In anderen Fällen wurden Deutsche verschleppt und später außerhalb unseres Ortes erschlagen aufgefunden. Manche im Dorf waren geblieben. Diese Menschen haben Schreckliches erlebt. Einige Mädchen wurden sogar in der Sakristei der Kirche vergewaltigt. Tage später stellte sich unser Pfarrer Görlich vor die Mädchen. Daraufhin wurde er von Rotarmisten erschossen. In unserem Nachbarort Klosdorf wurden alle Männer ermordet. Man befürchtete wohl, dass sie hinter der Front als Partisanen gefährlich werden könnten (...). Als bereits ein ganzes Jahr unter polnischer Herrschaft vergangen war, fragten sich viele Deutsche, wie es denn nun weitergehen würde. Die Gerüchteküche kochte. Die Versorgung war gleich null und wir mussten als Arbeits-

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sklaven Feld- und Waldarbeit für die Polen leisten. Unsere Kleidung be-stand mittlerweile nur noch aus Lumpen. Viele hielten ein solches Leben nicht mehr aus und flohen, als Feldarbeiter getarnt, mit Hacke, Rechen oder Spaten in Richtung Görlitz. Wir aber warteten geduldig. Über ,Buschfunk' sickerte einiges durch. Es hieß, dass man Deutsche hinausbefördern würde. Gegen Juli 1946 bekamen unsere deutschen Bewohner dies auch zu spüren. Zunächst erhielt etwa ein Drittel der Deutschen den Vertreibungsbefehl. Diese , Vorhut' landete in der britischen Zone, die noch Lebenden sind heute in Iserlohn ansässig. Für mich, meinen Bruder, meine Mutter und zwei Tanten kam der Befehl zur Umsiedlung im November 1946. Man lud uns auf einen Pferdewagen. Als Ge-päckführten wir eine alte Zinkwanne, gefüllt mit Küchengerät wie Töpfen und Pfannen, bei uns. Das allein war uns nach eineinhalbjähriger polnischer Be-satzungszeit übriggeblieben! In Markstädt, einem Ort nördlich Ohlaus gelegen, wurden wir in einen Zug verladen. Vorher ging es durch Baracken zur Kontrolle. Uns konnte man nichts mehr nehmen. Den alten Krempel mussten wir allerdings trotzdem aus-kippen, denn es hätte ja etwas im Verborgenen sein können. Dann ging es an die Verladerampe, die Viehwaggons standen schon bereit. Der Blick hinein in den uns zugewiesenen Waggon verschlug uns die Sprache: Schweinekot lag überall. In der Nähe standen Büsche, von denen wir schnell einige Zweige abrissen, die wir als Besen benutzten, um den Kot zu entfernen. Dann begann die Verladung der Deutschen. Manche hatten ihre restliche Habe in Säcken verstaut, die ihnen als Sitz- oder Schlafgelegenheit dienten. Den anhaftenden Gestank wurden wir die ganze Fahrt nicht los. Wir waren um die 40 Personen in unserem Waggon. Als Marschverpflegung gab es pro Person einen Salzhering und eine Scheibe Brot. In Kohlfurt, der Grenzstation, wurden wir alle desinfiziert. Man fuhr uns oft auf Abstellgleise, so dass wir einige Tage unterwegs waren. Über Riesa und Leipzig erreichten wir Marienburg im Erzgebirge. Dort wurden wir zwei Wochen unter Quarantäne gehalten. Nach dieser Zeit brachte man uns nach Leipzig. Hier erst trafen wir meinen Vater wieder, welcher inzwi-schen aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war. Ihm war die Einreise nach Schlesien verweigert worden, obwohl er auf seinen Bau-ernhof zurück wollte. Mein Vater lebte sich als Landwirt in der neuen Hei-mat schwer ein, verdingte sich in einer Eisengießerei. Unsere ganze Fami-lie musste hungern.

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Ostdeutsche Flüchtlinge warten an einem Sammelpunkt auf die Weiterleitung nach Westen.

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Im August 1947 trat ich erneut die Flucht an und setzte mich während meines Urlaubs nach Bielefeld ab, wo ich in einer Bäckerei arbeitete. Später ging ich zeitweise nach Australien, kehrte aber wieder nach Deutschland zurück. Meine Eltern sind inzwischen verstorben. Die ehemalige DDR hat sie mit nichts entschädigt. Auch mir wurde nach meiner Rückkehr nach Deutschland als Vertriebener jede Entschädigung verwehrt. Der Dank des Vaterlandes! "

Dietmar Tönhardt aus Berlin erinnert sich an seine „Befreiung", noch im Kleinkindalter, wie folgt: „Ich bin Schlesier, Niederschlesier, und entstamme einer Beamtenfamilie. Mein Geburtsort heißt Wigandsthal, die Polen nennen ihn Pobiedna. Wi-gandsthal liegt sehr reizvoll im Kreis Lauban im Isergebirge. Genau in nord-westlicher Richtung finden wir Görlitz, vier Kilometer südlich verläuft die Grenze zu Sudetendeutschland. Wigandsthal war ein gepflegter kleiner Ort, Bleistift-Faber hatte dort ein Schloss, seine Tochter war mit meiner Mutter befreundet. Geboren bin ich im September 1941 in der Dienstwohnung meines Großva-ters, meine Mutter hatte zwar eine sehr schöne Wohnung direkt am Zollhaus an der Grenze, aber da mein Vater im Felde war, zog es sie zu den Eltern und den beiden jüngeren Schwestern. Schlimm traf kurz darauf unsere Familie die Nachricht vom Heldentod meines Vaters. Er fiel gemeinsam mit seinem zwei-ten Funker an der vordersten Front. So wuchs ich liebevoll umsorgt die ersten Jahre meines Lebens heran. Mate-rielle Not kannten wir nicht, der Krieg war ganz weit weg. 1944 lernte mein späterer Stiefvater erst mich beim Spielen und dann meine Mutter kennen, denn in der Nähe gab es den so genannten Aerobau, in dem mein Stiefvater (ich nenne ihn ab jetzt Vater) als Spezialist Teile für Jagdmaschinen baute. Dann war die scheinbare Idylle jäh zu Ende, die Front war heran, die Rote Armee wollte in ihrer unermesslichen Güte auch unsere Gegend befreien. Ja, was mag da wohl alles an Habseligkeiten verladen worden sein, wovon trennt man sich, wenn man über zwei gut eingerichtete Haushalte verfügt? Die Frage habe ich mir später sehr oft gestellt, und wenn ich heute vor unse-rer reichhaltigen Bibliothek stehe, frage ich mich immer noch, welches Buch ich mitnehmen würde. Vielleicht doch die Bibel? Gebe Gott, dass wir uns die-se Frage nie stellen müssen! Deutlich sehe ich vor meinem geistigen Auge, wie sowjetische Soldaten über unseren Treck herfielen, ich kann mich auch noch an viel Geschrei erin-

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nern. Heute weiß ich, wer da geschrien hat. Meine Mutter bewahrte ich offen-sichtlich vor diesem Schicksal, denn als die Banditen nach ihr griffen, habe ich so laut gebrüllt, dass sie schließlich von ihr abließen. Man sagt ja, die Russen seien kinderlieb, wie mögen sie aufgehetzt worden sein, dass aus ih-rer gutmütigen russischen Seele diese Bestialitäten hervorbrachen! Irgendwie ging es dann zurück, die Erwachsenen lachten mit unseren Solda-ten, die sowjetischen waren zurückgeworfen worden. Wir waren wieder zu Hause. Dann aber kam doch das Ende. Die Polen zogen in den Ort. Zuerst mussten wir unsere Wohnungen verlassen und in irgendwelchen Quartieren hausen. Mein Großvater, dessen Verbrechen in seiner Zugehörigkeit zur NSDAP be-stand, wurde verhaftet und verschleppt. In Wigandsthal ansässige Kommunis-ten hatten ihn verraten. Wir sahen ihn erst nach fünfeinhalb Jahren wieder. Meine Großmutter und beide Tanten wohnten an anderer Stelle als meine Mutter und ich. Das war der Grund, weshalb die Vertreibung uns auseinan-derriss, zu späteren Ost- und Westdeutschen vorsortierte. Die folgenden Monate habe ich als Vierjähriger nicht so empfunden wie die Erwachsenen. Es gab unter den Polen wie überall auf der Welt gute und schlechte Menschen. Meine Mutter und mein Vater konnten gut Akkordeon und Geige spielen, das machte sie bei den guten Polen wertvoll, denn sie mussten bei Tanzvergnügen und Hochzeiten aufspielen. Dadurch hatten wir es leichter. Die schlechten Polen hassten und schikanierten uns. Und dann ging es los: Zuerst kamen meine Großmutter und meine beiden Tanten und halb Wigandsthal dran. Ab ins Unbekannte. Nach einigen Wochen traf es die andere Hälfte, und damit meine Mutter, meinen Vater und mich. Eingepackt durfte nur werden, was man tragen konnte. Ein zusätzliches Problem gab es noch: Als Oma und Tante aufbrachen, war der Dackel nicht zu finden. Diesen suchten wir dann erfolgreich und er musste nun verbotenerweise auch mit. Ein kluges Tier: Er verhielt sich in der großen Einkaufstasche, die ich schleppte, wochenlang vollkommen ruhig. Eine Entdeckung hätte sein Hundeleben beendet, und vielleicht auch unseres. Mein Vater hatte gesagt, dass wir lieber etwas anderes zurücklassen würden als den vierbeinigen Freund. Ich trug wie alle anderen mehrere Mäntel und sonstige Bekleidung. Wenn ich hinfiel, konnte ich wie ein gepanzerter Ritter nicht mehr allein aufstehen. Einen Koffer nahmen uns Polen weg, warfen ihn auf einen Lastwagen und fuhren davon. Dass wir ihn wiederbekamen, hatten wir nur dem beherzten Eingreifen russischer Offiziere zu verdanken.

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Eine Frau entband in unserem Waggon

Es war ein langer Fußmarsch von Wigandsthal nach Marklissa, dem heutigen Lesna. Ich habe ihn in späteren Jahren auf meinem Motorrad wiederholt. Un-terwegs konnten wir einen Eimer mit unserem guten Essservice nicht mehr tragen und mussten ihn stehenlassen. Irgendwann erreichten wir einen Gü-terbahnhof, auf dem schon Viehtransportwagen für uns bereitstanden. Zug-transporte und Lageraufenthalte wechselten jetzt untereinander ab. Einmal wurde von einer Lokomotive heißes Wasser geholt, weil eine Frau in unserem Waggon entband. In einem Lager lagen wir wochenlang in Quarantäne, und mein Vater bekam eine Lungenentzündung. Ein kleines Mädchen starb, und ein Mann brach in das Eis des Löschteiches ein und ertrank. Ich hatte außer dem Dackel noch meinen kleinen Steijf-Plüschhasen mit, den ich heute leider nicht mehr besitze. Irgendwann ging es über die Neiße. Jetzt waren wir in der sowjetischen Be-satzungszone angekommen, dem westlichsten Zipfel Schlesiens, dem späteren Bezirk Dresden, heute zum Bundesland Brandenburg gehörend. Der Ort heißt Guteborn und liegt sechs Kilometer von Ruhland entfernt. Wir waren wieder Deutsche unter Deutschen, sollte man meinen. Aber auch hier wieder zeigte es sich, dass es Gute und Schlechte gibt. Die alteingesessenen Bauern waren fast ausschließlich hartherzig. Wir waren unerwünschte Umsiedler. Der Hunger war unser ständiger Gast. Bis auf den heutigen Tag habe ich daher eine starke Abneigung davor, Lebensmittel wegzuwerfen. Wir hatten nichts mehr. Das Sprichwort vom Teppich im Kuhstall hat seine realistischen Wurzeln. Für das Nötigste gaben wir alles Mitgeschleppte her. Mein Vater holte später eine große Eduscho-Blech-büchse voller gebrauchter Nägel aus seiner Wohnung in Berlin. Diese ver-schafften uns einige Lebensmittel. Zuzug nach Berlin bekamen meine Mut-ter und ich nicht; und auch illegal konnten wir nicht dorthin, da Berlin an-dere Lebensmittelkarten hatte. In der ersten Klasse der Grundschule, die ich dann besuchte, gab es gut ge-nährte, wohl gekleidete Bauernkinder und ein paar abgemagerte, dürftig gewandete Habenichtse, zu denen ich gehörte. Trotzdem lernte ich besser. Der Neulehrer machte keinen Unterschied. Meine Eltern, sie hatten unterdessen in Ruhland geheiratet, sahen aus wie indische Fakire, und mein Vater war ei-gentlich ein sehr muskulöser, kraftvoller Mann. Wie er die harte Arbeit beim Aufbau der Schwarzen Pumpe schaffte, ist mir bis heute noch ein Rätsel.

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Mittlerweile wussten wir, wo die Großmutter und die beiden Tanten lebten. Sie kamen über eine Zwischenstation nach Westfalen, und zwar nach Wewels-burg. Sie wohnten im ehemaligen Konzentrationslager in Baracken bis 1951. Ich war jedes Jahr in den Sommerferien dort. Es kam mir wie im Paradies vor, aber meine Eltern wollten nicht bleiben. Bereits damals habe ich schon die legendäre Wewelsburg kennengelernt, ohne freilich von deren Himm-ler'sehen Bestimmung zu wissen. Als mein Großvater dann endlich zu ihnen stieß, konnten sie sich in Wewelsburg eine menschenwürdige Wohnung leisten. Nun ist eigentlich alles gesagt. Wieweit reicht eigentlich die Vertreibung? Bei mir war es nicht in erster Linie die Wegnahme der Heimat, dafür war ich sicher zu klein. Aber das Unrecht grub sich mir kleinem Jungen infolge des Hungers, des Fehlens vieler Dinge, die andere Kinder besaßen, so zum Beispiel eines Schlittens, und der Demütigung ein."

Auch Rembert Glombek erlebte die Flucht aus Schlesien noch im Kindesal-ter. Hier sein Augenzeugenbericht: „Mein Name ist Rembert Glombek, geboren in Klosterbrück, Kreis Oppeln in Oberschlesien, am 14. April 1941. Ich habe noch zwei ältere Brüder, Ecke-hard und Christoph, Jahrgang 1934 und 1936. Meine Eltern Max und Elisa-beth Glombek stammen aus Schurgast und Eichenried. Während des Krieges wohnte ich mit meiner Mutter und den Brüdern in Klosterbrück bei einem Bä-ckermeister zur Miete. Mein Vater, von Beruf Elektriker, war als Soldat in Po-len eingesetzt.

Ein Russe wollte mich erschießen

Im Januar 1945, als der Russe im Anmarsch war, gingen wir zu meinen Groß-eltern nach Schurgast. Wir richteten uns im Keller mit Decken und Betten ein und hofften aufs Überleben. Es dauerte nicht lange, da waren die Russen bei uns im Keller. Wie meine Mutter mir erzählte, wollte mich ein Russe erschießen. Sie hatte mich fest im Arm gehalten. Die Rotarmisten suchten Alkohol, Uhren und Ringe. Sie demolierten das ganze Haus, warfen alles aus den Fenstern. Auf einmal, wir konnten es gar nicht glauben, waren die Russen verschwun-den. An der Oder, die zugefroren war, gab es schwere Kämpfe. Die Deutschen drängten die Rote Armee noch einmal zurück. Als die Sowjets sich zurückzo-gen, flohen wir mit einem Leiterwagen. Angespannt hatten wir ein russisches Pferd, einen weißen Schimmel, der auf dem Hof umherlief. Viele andere

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Eine deutsche Familie flieht mit dem Zug nach Westen.

Pferde und Rotarmisten lagen tot in der Gegend. Wir Kinder wurden zusam-men mit ein paar Habseligkeiten auf den Wagen geladen. Im tiefen Schnee zog uns das russische Pferd, von meiner Mutter geführt, in Richtung Westen. Es war bitterkalt, viele Häuser und Scheunen brannten, der Himmel war rot. Es ging von Dorf zu Dorf. Wir hatten nichts zu essen. Einmal fanden wir eine halb volle Kanne mit gefrorener Milch. Irgendwie wurden wir dann auf einen Güterzug verladen. Im Waggon, im Stroh dicht gedrängt, ging es Richtung Dresden. In Dresden angekommen, überlegten wir uns, ob wir aussteigen oder weiterfahren sollten. Mein Bruder Christoph war derjenige, der nicht aussteigen wollte. Ihm verdanken wir wohl unser Leben. Irgendwann kamen wir nach Österreich, Neukirchen (Gemünden) - zuerst in ein Lager und dann in eine Wohnung. Wir blieben zehn Monate lang. Zu es-

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sen hatten wir kaum etwas. Wir bekamen die Woche nur zwei Pfund Brot und etwas Zucker, aßen Mehlsuppe, Brennnesselsuppe und Ähnliches. Mein Bru-der Christoph war unser Retter. Er ging betteln und organisieren. Von Österreich aus ging es dann nach Hessen, Oberjossa (Kreis Ziegenhain), wo wir die ersten Jahre bei den Bauern arbeiteten und dafür Essen bekamen. Meinen Vater hatten sich die Polen geschnappt, misshandelt und eingesperrt. Zum Glück brauchten sie ihn bei der Wiederherstellung der Stromversorgung - zum Masten aufstellen, Leitungen ziehen usw. Bei diesen Arbeiten konnte er fliehen und sich über die SBZ in den Westen durchschla-gen, wo er uns über das Rote Kreuz fand. Im August 1947 kam er völlig zer-lumpt mit zwei verschiedenen Schuhen an den Füßen und an einem Stock ge-hend zu uns zurück. Wir hatten sehr viel Glück, dass wir alles körperlich überstanden haben. Das seelische Leid aber, gerade als Kind, kann sich kaum jemand vorstellen."

Der Niederschlesier Karl-Heinz Scholz floh mit seiner Mutter ebenfalls im Frühjahr 1945 vor seinen sowjetischen „Befreiern". Er erinnert sich an die dramatischen Erlebnisse in seiner Kindheit wie folgt: „Wäre er in diesen ersten Februartagen des Jahres 1945 auf Treu und Glauben gefragt worden, ob er als ,strammer Hitlerjunge' von 14 Jahren vor den kommenden Wochen und Tagen Angst und Bange habe, so hätte er wohl kaum seine Verlegenheit verbergen können: Er hatte Schiss, großen Schiss sogar. Vor mehr als einem halben Jahr lagen noch hundert Kilometer zwischen seiner niederschlesischen Heimatstadt an der Lausitzer Neiße und den anstürmenden Russen. Vor Monaten war es noch unvorstellbar gewesen, dass die Wehrmacht eines gar nicht fernen Tages gezwungen sein könnte, ih-re Verteidigungslinien an der Neiße einzurichten. 'Unternehmen Barthold' wurde die Aktion des Jahres 1944 genannt, die längs der alten deutsch-pol-nischen Grenze östlich von Breslau einen so genannten Ostwall entstehen ließ, ein System von Panzergräben, Schützengräben und Geschützstellungen. Dort waren wir mit tausenden anderen Schülern in einem kleinen Grenz-städtchen untergebracht worden, die gesamte Klasse mit Ausnahme jener Schüler, bei denen in den Papieren nicht 1930, sondern 1929 als Jahrgang vermerkt war und die nun in einem Wehrertüchtigungslager nicht nur wil-lens, sondern auch fähig gemacht wurden, vielleicht schier unmöglich Schei-nendes doch noch möglich zu machen und den ,Endsieg' über die Russen zu erringen.

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Damals im Herbst hatte das ganze Schaufeln, Schippen und Hacken ja fast noch Sinn und Spaß gemacht, und irgendwie musste man schließlich auch seine Vaterlandsliebe tatkräftig beweisen. Unangenehm war das ganze Buddeln erst an jenen Tagen geworden, als das Gerücht auftauchte, dass sie alle, noch nicht einmal halbwüchsig geworden, gar nicht mehr in die Heimatstadt zurückkehren, sondern ihre Stadt einhundert Kilometer vor Breslau in diesem Grabensystem verteidigen sollten. Es war Gottseidank nur ein Gerücht gewesen. Die Front hatte sich Stück für Stück weiter Richtung Westen, bis wenige Ki-lometer vor Görlitz, verlagert, trotz des verzweifelten Widerstands der kampf-unerfahrenen Alten und Jungen. Görlitz war nun zur Festung erklärt worden, was bedeutete, dass alle Kampffähigen zu bleiben hatten und die Stadt nicht verlassen durften. Und wer war in diesen Tagen nicht ,wehrfähig'? Die Angst begann schon den Schlaf zu rauben. In der Nacht zum 14. Februar 1945 holte uns Fliegeralarm aus den Betten. Es war nicht der erste Alarm, besonders seit die Stadt immer mehr in Reichweite russischer Flieger und Geschütze kam. In jener Nacht aber vernahmen wir ein fernes, drohendes Grollen. Es kam nicht aus dem Osten, sondern der westliche Himmel erglühte orangerot. Es waren die Todesminuten von bis zu 300.000 Dresdnern und Flüchtlingen aus ganz Schlesien. Und als einige Tage später auch sowjetische Flieger ihre todbringende Last mitten in die Stadt fallen ließen, war ein Vorsatz in mir und meiner Mutter entstanden: Raus hier, ehe alles kaputt und es zu spät sein würde! Das Glück und der Zufall kamen uns lebensrettend entgegen. Der Geschäftsführer des zu einem Lazarett umgestalteten Sanatoriums, in dem meine Mutter arbeitete, war ein führender Nazi-Funktionär der Stadt. Von irgendwo her hatte Mutter erfahren, dass am nächsten Tag ein Wehrmacht-LKW nach Ka-menz fahren sollte, um für den Volkssturm Panzerfäuste zu holen. Und bei dieser mehr als günstigen Gelegenheit sollten Zivilisten mitfahren dürfen, deren Auswahl schon getroffen war - die Familien der Nazigrößen der Stadt. Das Leben hatte Mutter hart gemacht und gab ihr den Mut, den Geschäftsführer ganz ohne Herzklopfen anzurufen und einfach zu fragen, ob sie mit ihrem Sohn auch mitfahren könne. Schließlich gehöre die Wehrmacht ja allen Volks-genossen. Sohnemann verfolgte das Gespräch, hatte mit der Frage nach seinem Jahr-gang gerechnet und der Mutter schnell zugeflüstert: 'Jahrgang Einunddrei-ßig!' Sie begriff sofort, und schon stand die unerhoffte und doch ersehnte Ant-

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wort im Raum: ,Platz für zwei ist noch da, zwei mittlere Koffer, mehr Gepäck nicht!' Am nächsten Morgen wurde pünktlich gestartet, der Kälte auf dem offenen LKW wegen dick vermummt. Zuvor hatte ich vom Fahrer noch einen besonde-ren Auftrag erhalten - auf eventuelle Tiefflieger zu achten und beim Auftauchen eines Jagdbombers auf dem Fahrerdach gleich Alarm zu schlagen. Meine Auf-merksamkeit sollte sich besonders auf jene Abschnitte der Fernverkehrsstraßen nach Dresden konzentrieren, die sich in dem Lausitzer Hügelland über die of-fenen Bergrücken zogen und so aus der Luft gut einzusehen waren. Bis zum westlichen Stadtrand von Görlitz, hätte man sich fast wie auf einem zwar frostigen, aber gefahrlosen Ausflug wähnen können, wären nicht die kaum endenden Züge der Pferdefuhrwerke voller Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands gewesen, die nun weiter gen Westen rollten. Nur mühsam ge-lang es dem LKW, sie bei dem heftigen Gegenverkehr zu überholen. Den gan-zen Ernst der Situation begriffen wir erst, als wir unter einer Eisenbahnbrü-cke eine aus Baumstämmen und Steinen gebaute Panzersperre passieren mussten. Zwar waren wir nun wie Millionen andere Deutsche Flüchtlinge. Aber ir-gendwie fühlten wir uns wie 'privilegiert' - nicht nur, weil wir mit einem Wehrmacht-LKW vor den Eroberern Reißaus nehmen konnten. Für Mutter und Sohn war es kein ,Ausflug ins Blaue', wir hatten ein konkretes Ziel vor uns, sogar zur Auswahl, mit genauen Namen und Adressen von Verwandten. Wir konnten entweder in ein Dorf südlich von Leipzig oder in eine Kleinstadt an der Nordsee. Wir beide waren eher für das nähere Ziel, weil man von dort aus schnell wieder umkehren und nach Hause zurück konnte, wenn der Rus-se geschlagen wäre. So erreichten wir unbeschadet Kamenz, strebten im Personenzug Richtung Dresden. Doch das Zentrum der Eibstadt blieb uns verschlossen, noch brann-ten Häuser und schwelten Brände. Zu Fuß ging es Richtung Radebeul, um sich dort wieder der Reichsbahn anzuvertrauen. Leipzig empfing uns freund-licher. Wir verließen den schwer zerstörten Hauptbahnhof, durchquerten das zerstörte Zentrum, um im Bayerischen Bahnhof den Zug Richtung Süden zu besteigen. Unser tiefes Aufatmen nahm uns eine Last von der Brust - ge-schafft, gerettet! Doch unser Aufatmen war zu früh. Der Zug stand noch, als die Sirenen Voll-alarm auslösten. Wenn der Zug jetzt losfährt, sind wir gerettet, dachten wir. Es schien uns völlig klar, dass ein eventueller Angriff eher der Großstadt als

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einer uninteressanten Kleinstadt, die unser neues Ziel war, gelten würde. Da wir nicht wussten, dass bei Alarm alle Züge die Bahnhöfe verlassen mussten, glaubten wir uns wirklich gerettet, als der Zug anrollte. Auch dieser Gedanke entsprach jedoch nicht der Realität, denn kaum war der Zug in den Bahnhof der Kleinstadt gerollt, als die altvertrauten an- und abschwellenden Töne der Sirenen wie ,Begrüßungsmusik' in unseren Ohren klangen. Der Kutscher, der uns mit dem Pferdefuhrwerk abholte, schwankte bei der Wahl des Weges in das nahe Dorf zwischen zwei Varianten - der Variante durch das große Hydrierwerk hindurch, das inzwischen schon aus vielen Wunden blutete und das sich zwischen der Kleinstadt und dem Dorf erstreckte, und der zweiten Variante, die völlig um das Werk herumführte, aber unendliche Kilometer weiter war. Da nach Meinung des Kutschers der Angriff eher Leipzig gelten würde und der kürzere Weg immer der bessere sei, wählte er die erste Variante und bald waren wir fast mitten im Werk. Ein tiefes Brummen wurde von Sekunde zu Sekunde stärker und schwoll zu einem unheimlichen Dröhnen an, immer häufiger durch das hohle Knallen des Flakfeuers untermalt. Wir schauten an den westlichen Himmel und sahen zwi-schen den Explosionen der Flakgranaten die Umrisse der Viermotorigen immer größer werden. Schnell sprangen wir vom Fuhrwerk ab und suchten inmitten eines großflächigen Gebüsches vergeblich nach Schutz. Bald hörten wir das noch ungewohnte Pfeifen und Knallen fallender Bomben. Von irgend-woher wusste ich, dass Bomben, die man hören konnte, uns nichts mehr an-tun konnten, dass nur die lautlosen tödlich waren.

Unser Leben hing am seidenen Faden

Es war wie ein nie endendes Gewitter. Schnell hatte sich der sonnige Himmel mit schwarzen Wolken verdunkelt. Die erste Welle hatte ihre Last abgeladen, wendete zum zweiten Anflug. Unser Leben hing am seidenen Faden. Er war nicht mehr als 200 Meter lang - in dem unmittelbar vor uns liegenden Zent-rum des Werkes war die Hölle los. Als die Bomber ihr Werk vollendet hatten und abgeflogen waren, wendete das Fuhrwerk und umrundete den Industrie-komplex. Auf dem Weg zum Dorf sahen wir mit Schrecken, dass die amerika-nischen Piloten ihre Zielgeräte oft vernachlässigt und viele der Splitter-schutzunterstände in den Gärten der Siedlungshäuser getroffen hatten - ki-lometerweit von den Fabrikanlagen entfernt. So wäre auch die zweite Variante des Weges keine Überlebensgarantie gewesen.

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Es war ein altes Dorf, in das wir an diesem blutigen Nachmittag einzogen, bei Schwester, Schwager und Familie. Wir waren in großer Freude darüber, alle Gefahren ohne einen Kratzer überstanden zu haben. Die Hoffnung hielt uns aufrecht, dass unser Flüchtlingsdasein doch nur vorübergehender Natur sein würde. Denn: Die Hoffnung stirbt zuletzt. In der ersten Nacht fielen wir in tiefen Erschöpfungsschlaf. In der zweiten Nacht heulten bereits wieder die Sirenen. Schnell eilten wir in den fast bom-bensicheren Stollen, der in die nahe Abraumhalde getrieben worden war. Bald war draußen ein dumpfes Rumoren zu hören, stoßweise durchströmte Luft den Stollen, als bliese am Eingang ein Riese die Wangen auf. Es war der Luftdruck fallender Bomben. Dann standen wir wieder vor Trümmern: Eine Luftmine war fast akkurat genau in den Dorfteich gesetzt worden, sie hatte al-le Häuser ringsum dem Erdboden gleichgemacht. Nun mussten wir weiter, es war kein Unterkommen mehr möglich. In Panik brauchte die Mutter mit ihrem Sohn aber auch nicht verfallen, schließlich waren noch unsere Verwandten im Nordseestädtchen als Fluchtziel geblie-ben. So setzten wir uns beide wieder in den Zug Richtung „Reichsmesse-stadt", in der großen Hoffnung, alles Bevorstehende wieder unbeschadet zu überstehen. Der D-Zug Richtung Hannover wartete schon auf das Abfahrt-signal. Unsere Chancen, einen Platz, geschweige denn einen Sitzplatz, zu er-gattern, standen mehr als schlecht. Die Überfülle in den Abteilen und Gän-gen ließ keinen Schritt zu, Abteilfenster wurden zu Türen, jeder dachte nur an sich. So liefen wir mehrmals vergebens an dem langen Zug auf und ab, in der Hoffnung, von irgendwoher Hilfe zu erhalten. Erst in der Mitte des Zu-ges, in dem zu diesen Zeiten immer ein Flakwagen als Schutz gegen Tiefflie-gerangriffe eingefügt worden war, rief uns plötzlich eine tiefe Männerstim-me zu: ,Mutter, kommen Sie hierher!' So fanden wir sogar großzügigen Platz auf dem offenen Waggon, und obwohl ich von den mir nur aus Wochen-schauen und von Bildern bekannten Vierlingsgeschützen fasziniert war, wünschte ich mir nicht, sie in Aktion zu erleben. Dieser Wunsch sollte sich leider nicht erfüllen ... Zwischen Verden und Bremen stoppte der Personenzug, in den wir in Hanno-ver umgestiegen waren, abrupt - in der Ferne waren Flugzeuge gesichtet worden. Glücklicherweise war der Zug nicht interessant genug, so kamen wir unbehelligt und unbeschadet an unserem Ziel an. Ganz so ruhig, wie erhofft und erwartet, waren hier die Nächte nun auch wie-der nicht. Es war weniger das in der Nähe befindliche Flugzeugwerk, das für

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Ankommende Flüchtlinge in Berlin.

Belästigung durch feindliche Bomber sorgte - noch keine einzige Bombe war auf eines seiner Dächer gefallen. Unmittelbar an der Weser gelegen, war es nicht nur durch die 8,8 cm-Flak-Batterie am Ufer geschützt, sondern auch durch die zahlreichen kleinen und großen Schiffe, die über leichte und mittlere Flak verfügten. Selten gab es Nächte zum Durchschlafen: Die Ein-flugschneisen der angloamerikanischen Bomber in das nord- und mittel-deutsche Gebiet zogen sich über die Deutsche Bucht und über Holland hin-weg mit direkter Gefährdung der gesamten norddeutschen Tiefebene. Die größte Gefahr drohte von jenen Flugzeugen, deren geordnete Verbände durch die Gegenwehr zerstreut oder die am gezielten Bombenabwurf gehindert worden waren. Sie suchten sich auf dem Rückflug Ziele aus, die für sie kaum Gefahr bedeuteten und die mit den übrig gebliebenen Bomben ,bedacht' werden konnten. Es waren dort an der Weser die letzten Stunden des Reiches. Bald waren Kanadier und US-Amerikaner in der Stadt. Die Eckkneipe gegenüber dem Verwaltungsgebäude wurde zum Stammlokal der Besatzer. Mit Sorge ver-folgten wir in den folgenden Monaten die bedenklichen Nachrichten aus

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der Heimat, aus dem ganzen Osten. Der Krieg war nördlich von Görlitz vorbeigezogen, nicht jedoch die Besatzer mit dem roten Stern an der Müt-ze. Die Stadt war mit Flüchtlingen überfüllt. Viele, die meisten vom unmit-telbar östlich angrenzenden Gebiet, waren von Polen vertrieben worden. Sie blieben in der Stadt und der näheren und weiteren Umgebung, um bin-nen weniger Stunden wieder zu Hause zu sein, wenn die Grenze wieder ge-öffnet würde. Der Sommer lag in den letzten Zügen, da erwachte in meiner Mutter die Sehnsucht nach der Heimat, nach der Rückkehr. Ihre Informationen hatten ihr die Angst vor den Russen etwas genommen; Aus dem Wehrmachtlazarett war nun ein russisches geworden. Ihr Arbeitsplatz wartete auf sie, und zudem sollte bald die Schule wieder beginnen. Alles gute Gründe, um das große Wagnis einzugehen. Das war allerdings leichter gesagt als getan. Zuerst einmal wurde mit der Mutter prinzipiell gesprochen: Es könne doch nicht in Ordnung sein, wenn sie sich und ihren Jungen dorthin bringen wolle, woher tausende anderer täglich über die grüne, aber streng bewachte Grenze zu flüchten versuchten. Zudem: Die Zukunft des Jungen läge hier im Westen, in der Freiheit, nicht dort, wo die Menschen verschleppt, verfolgt und eingesperrt würden und wo Not und Elend herrschten. Meine Mutter hatte es sich aber in den Kopf gesetzt und sogar einen Verbün-deten gefunden, einen Berliner, der mit uns die Grenze überqueren und uns helfen würde. Er hatte von irgendwoher Informationen über den ,Grenzver-kehr' eingeholt. Der Harz schien das günstigste, weil schwer überschaubare Terrain. Gemeinsam fuhren wir mit dem Zug in die Gegend von Göttingen. Ich trug noch einen Wassereimer voll Salzheringe als ,StartkapitaV für Görlitz. Auf einem kleinen Bahnhof trafen wir uns mit anderen 'Grenzgängern', man legte das Geld für den Schlepper zusammen, organisierte zwei Flaschen Schnaps als wichtiges Tauschobjekt, und los ging es Richtung Grenze. Ein Bach bildete die bestehende Demarkationslinie zwischen der britischen und der sowjetischen Zone, ein paar Brocken Russisch sprach der Berliner auch. Der russische Posten wusste sofort, was man von ihm wollte. Er schien mit dem Tauschangebot Schnaps gegen geschlossene Augen einverstanden, zumindest nahm er die Flaschen. Dann jedoch entdeckte er eine junge Frau in der zu schleusenden Gruppe. Zwei Worte sorgten für Klarheit - ,stoi' und ,Frau'. Jeder wusste, was er unter ,Frau' verstand. So kehrten wir um. Ver-lust: Zwei Flaschen Schnaps.

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Dieser Misserfolg schaffte klare Fronten. Die Meinung teilte sich, später auch die Gruppe. Mutter war dafür, es nachts allein zu versuchen. Wir rich-teten uns für die Nacht in einem Waldstück ein, hinter dem die sowjetische Zone liegen sollte. Es begann zu regnen. Plötzlich standen zwei britische Grenzer vor uns. Woher? Wohin? Mutter legte eine Generalbeichte ab. Miss-trauen wächst wie Spargel im Frühjahr, wenn man der Lüge auf der Spur ist. Die Grenzer glaubten alles, aber unsere Geschichte nicht. Sie hätten die ganzen Monate viele Flüchtlinge aufgegriffen, aber die wollten alle von Ost nach West, sagten sie. Mutter kam eine Idee: Wenn sie schon so viele getrof-fen hätten, die von Ost nach West wollten, fragte sie, sei da auch jemand da-runter gewesen, der wie sie einen Eimer Salzheringe mitgeschleppt habe ? Der Brite überlegte kurz, schüttelte den Kopf und sagte: ,Oben, auf dem Bergrücken vor uns, ist die Grenze. Warten, bis Morgendämmerung. Dann ge-hen.' Wenn wir auf Kameraden treffen sollten, dann sollten wir nicht sagen, dass wir schon erwischt worden waren. Wir taten, wie uns empfohlen, stießen am jenseitigen Hang auf einige allein stehende Häuser, klopften ganz vorsichtig an einem, in dem schon Licht brannte. Die Frau, die öffnete, war freundlich, gab jedem einen Becher war-me Milch und warnte vor der Kreuzung zwischen unserem Weg und der Dorfstraße. Dort sei die Kommandantur, und dort treffe man auch ständig auf Posten. Das Prinzip der Serie bestätigte sich auch hier: Kaum waren wir bis auf wenige Meter an die Kreuzung heran, stand ein scharfes ,Stoi' vor uns, mit einer Kalaschnikow bewaffnet. ,Dawai' hieß das Zeichen zum 'Abstecher' auf die Kommandantur. Woher? Wohin? Nach Osten? Er lachte, und man merkte ihm an, dass er schon lange nicht so herzhaft gelacht hatte. Also al-les erst mal in den Keller, Koffer ausgeschüttet. Ah, dort ein Eimer mit Fisch, Geheimnisse reingemengt? Eimer ausgeschüttet... Ich bekam eine Axt in die Hand gedrückt. Der Haufen Holzstücke war nicht zu übersehen. ,Du hacken, wir viel Zeit, sagen, wohin ...' Als der Haufen ge-hackt und Stille eingetreten war, erschien der Offizier wieder. Ob man jetzt wisse, wohin die Reise gehen solle. Meine Mutter überlegte, forderte vom Of-fizier einen Dolmetscher. Der kam auch und Mutter bat ihn, den Offizier zu fragen, ob das für ihn denkbar wäre, dass, wer aus dem Osten käme, einen Eimer Heringe mit in den Westen nähme ? Der Offizier stutzte, lächelte, lachte und sagte:,Mutter, du schlau, ich aber noch schlauer. Nimm deinen Eimer mit nach Cheimat!'"

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Die Zeitzeugin Paula Krömer schildert das Ende des deutschen Dorfes Roben im Kreis Leobschütz/Oberschlesien, und stellt ihrem Bericht folgendes Ge-dicht voran:

„Singt mir ein Lied aus jenem Land, darin einst meine Wiege stand, ich kann es nicht, es schmerzt zu sehr, ich habe keine Heimat mehr ..."

Dann schreibt sie: „Ein kalter Winter mit viel Schnee herrschte Anfang 1945 in unserer Heimat Schlesien. Nie kann man die Januar-Wochen vergessen, als bei eisiger Kälte und Schneetreiben die ersten Flüchtlinge aus dem Gebiet von Cosel und Koldnitz aus Richtung Leobschütz mit Kuhgespannen, Rodel-schlitten, Kinderwagen, ganz erschöpft und erfroren, bei uns ankamen. Angst und Schrecken standen den Flüchtlingen noch im Gesicht. Sie waren die ersten, die Haus und Hof verlassen mussten. Sie wurden in unserem Dorf gut aufgenommen. Die Gemeinde ließ ein Schwein schlachten, und so wurden die Flüchtlinge für ein paar Tage gut versorgt. Aber dann kam die Zeit, wo sie weiter mussten, und zwar wurden sie mit der Bahn bis Dresden geschickt; dort kam ein Großangriff auf den anderen, mit Bombenteppichen, die Stadt wurde völlig zerstört, und es gab eine gewaltige Zahl an Toten. Wir selbst konnten nicht mehr froh werden, denn im Radio hörten wir, dass der Russe immer näher kommt. Große Angst und großes Bangen erfüllten uns. Die Nachbarn kamen zusammen und es wurde hin und her beraten. Immer stand die bange Frage ungelöst: Was machen wir? Die nötigste Arbeit, die auch im Winter auf dem Bauernhof anfällt, wurde noch getan; das Vieh musste ja versorgt werden. Von unseren Bauersleuten konnte ja keiner das furchtbare Ausmaß des Krieges auch nur ahnen. Aber die letzten Wochen und Tage in der Heimat ließen uns in Angst und Schrecken fallen. Die Flüchtlin-ge auf der Straße wurden immer mehr, dazwischen wieder lange Züge von Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern, die nach dem Westen gebracht wer-den sollten. Dann ratterte wieder ein langer Zug mit Panzern durch die Stra-ße. Mitleidige Frauen standen dort, um den gehetzten Menschen einen Schluck Kaffee zu reichen und ein Stück Brot zu geben. Viele Menschen sind damals schon am Wegesrand gestorben. Im Eisenbahnverkehr gab es überfüllte Züge, lange Wartezeiten und große Verspätungen. Frauen mit Kindern verließen zuerst die Heimat. Eine zuneh-mende Unruhe machte sich immer mehr bemerkbar. Die deutschen Soldaten.

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die bei uns im Dorf sta-tioniert waren, konnten auch nicht viel Hoffnung und Zuversicht gehen, dass die Front endlich zum Stehen gebracht werden könnte. Die letzten sechzehnjährigen Jungen wurden noch einberufen und die alten Männer zum Volkssturm geholt. Aber im Grunde war uns allen klar, dass der Krieg verloren war. Trotzdem hofften unsere Bauern, gegen alle Vernunft, daheim bleiben zu können. Die Front kam immer näher. Es krachte und donnerte Tag und Nacht. Unser Bürgermeister gab bekannt, dass der Russe vor der Kreisstadt Leobschütz stand: Es rette sich, wer kann! Die Wagen wurden gerichtet, das heißt, es wurde ein Dach von Brettern aufgesetzt, um gegen das Wetter besser geschützt zu sein. Die nötigsten Sachen, die wir mitnehmen wollten, wie Betten, Wäsche, Brot und Futter für die Pferde, wurden zusammengepackt. Onkel Franz und Tante Paula Jaitner hatten sich schon angemeldet, um mit uns zufahren; mit ihren Kühen konnten sie schlecht auf den Treck gehen. Dazu kam Tante Maria Jaitner, die wegen der Bomben auf Berlin schon länger bei uns war. Ferner meine liebe Mutter und Frieda, unsere treue Hilfe. So waren wir sechs Personen, die zu unserem Wagen gehörten. Mein Bruder Josef, der das Erbe übernehmen sollte, war seit dem 17. Februar 1944 im Raum von Tscherkassy vermisst. Der ältere Bruder Julius war noch immer an der Front, mein Verlobter bereits am 28. März 1944 in Russland gefallen. Für uns waren die Jahre des Krieges daheim

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Erschöpfte Flüchtlinge in Berlin.

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sehr schwer, aber es musste ja weitergehen und es ging, bis der furchtbare Krieg uns die Heimat nahm. Es kam der 20. März 1945: Die Hölle war los. Wir hörten die schweren Sturmgeschütze und die Stalinorgeln in nicht allzu weiter Entfernung don-nern. Am Abendhimmel sah man in der Umgebung große Feuersäulen hoch-steigen, von Flammen und Granatwerfern entfacht. Die Scheune mit ihren Strohvorräten brannte lichterloh. Die meisten aus unserem Dorf Roben bega-ben sich auf den Treck. Wir blieben noch eine Nacht mit unseren Nachbarn. Der nächste Tag war schon lebensgefährlich. Russische Flieger flogen ganz niedrig und schossen pausenlos. Der Herr Pfarrer, unser Nachbar, wurde vor seiner Haustür am Kopf verwundet. Die deutschen Soldaten brachten ihn nach Troppau in ein Lazarett. Dort starb er an den Folgen der schweren Ver-wundung. Wir mussten uns im Haus aufhalten. Das Anspannen war viel zu gefährlich. Gegen Abend, etwa um 20 Uhr, holten wir den Wagen vor. Die Schießerei hatte etwas nachgelassen. Wir luden unsere letzten Habseligkeiten auf, Frieda am Wagen, ich reichte die Sachen aus dem Flur. In großer Angst wurden die Pferde angespannt. Ein kleines Fohlen, acht Wochen alt, an der Mutterstute, nahmen wir mit. Mutter meinte, daheim gehe es sonst elend zu Grunde. Un-ser kleiner Hofhund sprang vor dem Wagen hin und her und kam als treuer Begleiter mit. Alles übrige Vieh mussten wir zurücklassen. Nun begann unser großer Opfergang. Die Fahrt durch das Dorf war nicht leicht. Kühe, die sich losgerissen hatten, stellten sich vor die Deichsel. Um uns war nur Feuer und Rauch. Mitten auf der Straße standen Panzer, von den Soldaten verlassen. Wir hatten Mühe, vorbeizukommen. Im Unterdorf warteten schon Onkel Franz und Tante Paula. Schnell wurden die wenigen Habseligkeiten aufgela-den. Vetter Hubert war an der Front, Kusine Martina war rechtzeitig mit der Tante Berta nach Gebhardshagen bei Salzgitter zu Verwandten gefahren. Wir fuhren nun in Richtung Dobersdorf. Deutsche Soldaten mit Panzerfäus-ten liefen im Graben entlang. Sie sagten uns: Nur fort! Der Russe steht schon am Ortseingang! Und so war es auch. Wir mussten Gott danken, dass wir am Abend noch aufbrechen konnten; die Leute, die in der Heimat zurück-blieben - es waren nur wenige - haben furchtbare Stunden und Tage unter den Rotarmisten durchstehen müssen. Viele Menschen wurden erschossen. Dazu gehörte auch Herr Jaitner mit unserem Nachbarn, Herrn Satzke, samt seinem zwölfjährigen Sohn. Die Verwandten mussten die Toten selbst im Garten beerdigen, da es nicht möglich war, auf den Friedhof zu kommen.

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Raub, Mord, Plünderung und Vergewaltigung

Wir fuhren die ganze Nacht durch, bis nächsten Tag nachmittags, immer in Angst, der Russe sei bereits hinter uns. Dann gab es endlich eine Ruhepause für Mensch und Tier. Am folgenden Tag ging es weiter, bis weit ins Sudeten-land hinein. Ein Treck schob den anderen voran. Keiner wusste, wohin. Unter großen Sorgen, Strapazen und Entbehrungen landeten wir nach vielen Tagen in Porstendorf/Kreis Mährisch-Trübau auf einem großen Bauernhof. Eine Familie Hack hatte uns aufgenommen, obwohl sie auch bereits evakuierte Ver-wandte und zahlreiche Flüchtlinge untergebracht hatte. Porstendorf war überfüllt mit Flüchtlingen, und die Trecks nahmen kein Ende. Für Wochen blieb Porstendorf unsere Bleibe. Es war jedoch nicht leicht, täglich für Mensch und Vieh auch nur das Nötigste aufzubringen. Die mitgebrachten Vorräte waren bald verzehrt. Es kamen sehr böse Tage auf uns zu. In der ganzen Ge-gend und auch in unserem Dorf wurde das Standrecht ausgerufen. Keiner durfte auf die Straße. Die Russen zogen siegreich mit einem gewaltigen Heer heran. Die Deutschen mussten sich in Sicherheit bringen, denn Raub, Mord, Plünderung und Vergewaltigung standen auf der Tagesordnung. Dank des gu-ten Herrn Hack, der immer ein Versteck für uns hatte, blieben wir vor dem Schlimmsten bewahrt. Die Russen zogen weiter. Es wurde etwas ruhiger. Die Natur grünte und blühte, als wüsste sie gar nichts von Angst und Not unter den Menschen. Es war Anfang Mai, da kam die Parole, alle Flüchtlinge dürften zurück in die Heimat. Die Pferde wurden eingespannt; das Fohlen schenkten wir Herrn Hack. Wir fuhren wieder Tage und Nächte Richtung Heimat. Es ging durch zerstörte Städte und Dörfer. Uns wurde schwer ums Herz als wir die grausame Zer-störung sahen. Wir dachten nur: Wie wird es zu Hause aussehen? Am Pfingst-nachmittag kamen wir völlig erschöpft in unserem lieben Roben an. Uns bot sich ein furchtbares Bild: Alles war zerstört und verwüstet. Das Hoftor brauchten wir nicht zu öffnen, es war keines mehr da. Die Haustür stand of-fen, ein jeder ging da aus und ein. Von den vielen Dingen, die wir hatten zu-rücklassen müssen, fanden wir nichts mehr vor, nur noch eine Katze und ein paar Tauben auf dem Dach. In den Räumen war alles verwüstet, von Tischen und Stühlen hatte man die Beine abgesägt, die Schränke waren umgekippt, das Sofa lag mit allerlei Geschirr am Dunghaufen, der Keller war bis zur letzten Treppe mit Unrat angefüllt, fast alle Fenster waren ohne Scheiben und

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die beiden Scheunen abgebrannt mit sämtlichen Maschinen. In Garten und Hof gab es viele Hügel. Dort waren Menschen und Vieh, nur notdürftig mit Erde bedeckt, begraben worden. So fanden wir die Heimat wieder. Trotzdem - wir waren froh, noch ein Dach über dem Kopf zu haben. Mancher Bauernhof lag ganz in Schutt und Asche. Wir alle waren entschlossen, zu bleiben und wieder aufzubauen. Doch dann erlebten wir Tage, die so furchtbar waren, dass wir uns heute nur ungern erinnern. Im Pfarrhaus, das fast unbeschädigt war, hatte sich die polnische Miliz niedergelassen. Sie regierte das Dorf. Alle Deutschen waren ihr macht- und rechtlos ausgeliefert. Die Männer, die mit den Trecks vorbeizogen, wurden von ihren Frauen weggerissen, eingesperrt oder gleich erschlagen. Überall hörte man die furchtbaren Hilfeschreie - aber keiner konnte helfen. Es gab nichts zu essen für die Deutschen. Viele Kinder starben an Unterernährung, viele Erwachsene an Typhus. Alle Robener Landsleute, die vom Treck zurückkamen, wurden täglich zusammengetrieben zur Feldarbeit oder zu Aufräumungsarbeiten. Jeden Morgen gab es andere Parolen, viel wurde erzählt, auch, dass wir die Heimat wieder verlassen müssten. Wir konnten uns nur nicht erklären, wohin wir kommen sollten. So bestand damals wenig Hoffnung, dass wir noch einmal eine glückliche Zukunft haben könnten. In den Monaten Juni und Juli begann die Ansiedlung von Polen in unserer Heimat. Sie wurden auf die Bauernhöfe verteilt, und es hatte den Anschein, als ob ihnen nun alles gehörte. Und so kam es auch. Aus dem Missionshaus Maria Treu' in Leobschütz kam der gute Pater Robert Gottschlich. Er hatte in der schweren Zeit gut für uns gesorgt. Noch fast jeden Tag feierte er eine heilige Messe in unserer Kirche. Das Missionshaus in Leobschütz war von Polen beschlagnahmt worden. Am 20. August 1945 wurden wir von der Miliz aus dem Schlaf geholt. Wir wa-ren völlig ahnungslos. Polen trampelten die Treppe hoch und schrien:,Sofort aus dem Haus!' Nur notdürftig bekleidet mussten wir mit zehn Familien, unter ihnen auch unsere Nachbarn, Haus und Hof verlassen. Es war das letzte Ab-schiednehmen, in Todesängsten. Wir ahnten nichts Gutes. Im Morgengrauen, zwischen 3.00 und 4.00 Uhr, ging es nach Pausen, unserer Nachbargemeinde. Rausen war sudetendeutsch und wurde nach dem Zusammenbruch von Tsche-chen besetzt. So kamen wir von den Polen zu den Tschechen. Wir waren mit den Sudetendeutschen gut bekannt, vom Feld aus, wo immer die Grenze war. Wir fanden allesamt Unterkunft und hofften immer noch, dass die Heimat schon bald wieder von Polen frei würde und wir eines Tages zurück könnten. Unsere

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Eine Frau schlägt sich mit ihrem Kind nach Westen durch. 73

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Hoffnung ging jedoch nicht in Erfüllung. Es war ein banges Warten - die Hei-mat lag nur eine halbe Stunde von uns entfernt. Es gab kein Zurück. Im August 1946 wurden wir alle, einschließlich der Sudetendeutschen, aus Rausen ausgesiedelt. Der Kreuzweg ging weiter. Wir kamen in ein Lager, in Jägerndorf, wo schon hunderte von Flüchtlingen auf die Ausreise nach Deutschland warteten. Nach acht Tagen wurden wir mit 400 bis 500 Menschen in Viehwaggons gestopft und es ging bis Raudnitz bei Prag. Hier mussten wir wieder für acht Tage in ein Lager. Das waren furchtbare Tage - kaum Nah-rung, Schlaf und Hygiene. Unsere Reise ging weiter durch die Tschechei, über Sachsen bis nach Bad Kleinen in Mecklenburg. Dort mussten wir noch durch die Quarantänelager. Wir landeten dann Ende September 1946 im Kreis Wismar. Die Familien wurden dort auf verschiedene Dörfer verteilt. Wir mussten wieder neu anfangen und Fuß fassen. Es hat lange gedauert, ehe man heimisch werden konnte. Mit meiner lieben Mutter habe ich Freud und Leid getragen, geteilter Schmerz ist halber Schmerz, geteilte Freude doppel-te Freude. Wir, Mutter und ich, kamen auf ein großes Gut. Es war ein volks-eigenes Saatzuchtgut in Lischow/Kreis Wismar. Für mich gab es dort tagtäg-lich viel Arbeit. Es war für uns beide das tägliche Brot. Wir waren dort fast nur unter Leidensgenossen: Heimatvertriebene, die die viele Arbeit bestrei-ten mussten. Fünf lange schwere Jahre waren wir in Lischow. Durch Ver-wandte meines Vaters, Herrn Klein mit Tochter, die im Westerwald ein neues Zuhause gefunden hatten, bekamen wir die Zuzugsgenehmigung im Westen und drüben den Pass für die Ausreise. Am 30. Januar 1952 kamen wir in Ransbach an. Von unseren Verwandten wurden wir mit offenen Armen herz-lich aufgenommen. Fräulein Gerharz, die hier zu Hause war, hatte ein Herz für die Heimatvertriebenen; wir waren wie eine Familie und konnten uns ein-leben. Leider starb meine gute Mutter am 6. Juni 1954 an einem Schlagan-fall. Es war zu viel gewesen, was sie hatte aushalten müssen."

Die Schlesierin Renate Schmidt erinnert sich an die Flucht über den Sprotten-bruch: „Am 21. Januar 1945 mussten wir unsere liebe Heimat Schlichtingsheim ver-lassen. Schlichtingsheim war ein kleines verträumtes Städtchen im Kreis Frau-stadt, zwischen Glogau und Fraustadt an Oder und Bartsch gelegen. Am Tag vor der Flucht war eine Einwohnerversammlung, und uns Schlichtingshei-mern wurde Petersdorf bei Primkenau als Zufluchtsort angegeben. Meine Mutter, meine Schwester, Tante Friedel und ich machten uns auf den Weg.

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Aber es war schwer, vorwärts zu kommen. Die Flüchtlingstrecks und das zu-rückflutende Militär stauten sich vor der Oderbrücke. Studenlang mussten wir daher bei 25 Grad Kälte warten. Für die wenigen Kilometer bis zur Oder-brücke in Glogau brauchten wir einen ganzen Tag. Wir wandten uns nach Klopschen. Es wurde dunkel, wir waren durchgefroren wie Eiszapfen und hat-ten Hunger. Gleich am ersten Haus klopften wir an und baten um Einlass und ein Nachtquartier. Wir wurden freundlich aufgenommen. Ich wurde zu dem völ-lig verschnupften Sohn der Frau ins Bett gelegt und die anderen schliefen auch irgendwie zusammen. Wir waren bei armen Leuten eingekehrt, die nicht jedem Gast ein Bett bieten konnten. Empfindlich durfte man nicht sein. Man riet uns, über den Sprottenbruch zu gehen, und die Frau beschrieb uns den Weg. Eine eiskalte und erbarmungslose Wintersonne schien am anderen Morgen auf uns herab. Nun zogen wir also wieder los. Mir ist noch nicht klar, wie meine Mutter und Tante Friedel den Weg gefunden hatten. Es war bitterkalt, und Schnee lag auf dem blanken Eis. So zogen wir mit unserer letzten Habe durch eine Wüste aus Eis und Schnee; zwei Frauen und zwei Kinder, 11 und 14 Jahre alt, mutterseelenallein. Tante Friedel hatte ihren Zwergdackel Dina mit sich, der alles als Abenteuer auffasste und lustvoll hinter jedem Hasen herrannte. Und es gab viele Hasen! So kamen wir also auch kaum vorwärts, aber wir brachten es auch nicht übers Herz, Dina in Kälte und Eis einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Es blieb uns nichts anderes übrig, als den Dackel zwischen die Bettensäcke auf den Handwagen zu legen. Eine Decke spannten wir über das Gepäck. Hin und wieder blieben wir stehen und meine Schwester hob die Decke an. Wir wollten sehen, ob Dina noch lebte oder ob sie schon erfroren war. Ein erbarmungswürdiges und jammervolles Jaulen war stets zu hören.

Das Brot war hart gefroren

Mittlerweile plagte uns der Hunger. Den Durst zu stillen war unmöglich, da alles gefroren war. Meine Mutter versuchte vom mitgenommenen Brot etwas abzuschneiden. Aber es war so hart gefroren, dass die Klinge des Messers ab-brach. So kämpften wir uns Schritt für Schritt vorwärts und langten schließ-lich am Arbeitsdienstlager von Hierlshagen an. Erstaunt sah uns der Posten an. Er dachte wohl, wir seien Außerirdische. Wir baten um etwas zu essen und zu trinken und vielleicht einen Raum, in dem wir uns kurzfristig aufwärmen konnten. Aber er ließ uns nicht rein. Er durfte wohl nicht. Man sah ihm sein

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Mitleid mit uns an. Er rief im Lager an und ein Offizier erschien, der uns je-doch auch nicht einließ. Der Offizier gab uns den Rat, noch ungefähr zehn Minuten nach Hierlshagen zu gehen und uns beim Ortsbauernführer Schulz zu melden. (Hierlshagen ist ein Siedlungsdorf im Sprottebruch, das vom schlesischen Arbeitsdienst erbaut wurde und den Namen des Reichsarbeits-führers Konstantin Hierl erhielt.) Er beschrieb uns noch ganz genau den Weg und das Haus, so dass wir uns nicht verlaufen konnten. Es dämmerte schon. War das eine Aufregung, als wir ankamen. Ich kann mich noch an eine gro-ße und vor allen Dingen wunderschön warme Küche erinnern. Mich fesselte noch der Anblick einer älteren Tochter, die in der Küche saß und spann. Der Ortsbauernführer konnte sich gar nicht genug wundern. Er lief durch die Küche und schlug immer wieder die Hände über dem Kopf zusammen und re-dete von den tapferen deutschen Frauen. Erschöpft ließen wir uns in der Kü-che nieder. Ich glaube, wir waren durch das Arbeitsdienstlager angemeldet, denn die Kartoffeln kochten schon und auch das Teewasser. ,Bring alles auf den Tisch, was Keller und Küche zu bieten haben', sagte Herr Schulz zu sei-ner Frau. Der Tee dampfte bald in den Tassen, Fleischgläser wurden geöff-net, und uns wurde ein ausgezeichnetes Mahl serviert. In der Familie war auch eine Tochter in meinem Alter. Sie wollte mich wohl von der Not und dem Elend ablenken und unbedingt mit mir in den Pferdestall gehen, um mir ein Fohlen zu zeigen, das ihr gehörte und auf das sie sehr stolz war. Doch nur auf einen Wink meiner Mutter ging ich mit, denn ich konnte mich kaum noch erheben. Als ich im Stall war, interessierte mich überhaupt nichts mehr. Ich sah das viele Stroh und wäre am liebsten sofort hinein gesunken. Sicherlich war das Mädchen über meine Interesselosigkeit enttäuscht, aber ich war am Ende meiner Kraft. Gestärkt und durchgewärmt mussten wir dann weiter. Die große Tochter spannte den Wagen an, und wir stiegen mit dem Gepäck auf. Inzwischen war es Nacht geworden. Als wir auf der Hauptstraße waren, konnten wir noch andere Schlichtingsheimer aufladen, die sich auch mit der letzten Habe über die Straßen quälten. So landeten wir schließlich in Petersdorf und glaubten, endlich angekommen zu sein. Aber die Odyssee sollte bald weitergehen."

Horst Zipser beschreibt die Flucht von Beuthen in Oberschlesien über Neiße und Dresden nach Ingolstadt/Donau im Januar 1945: „Gelegentliche, stundenlange Fliegeralarme, teilweise auch nachts, die wir im Luftschutzkeller überdauerten, waren alles, was wir bisher in Beuthen vom

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Krieg mitbekommen hatten. Das änderte sich schlagartig, als am 12. Januar 1945 die zahlenmäßig weit überlegenen sowjetischen Truppen aus ihrem Weichsel-Brückenkopf bei Baranow, von uns nur rund 150 Kilometer entfernt, eine Großoffensive starteten. Durch das stundenlange Trommelfeuer aus tausenden von Geschützen wurden die schwachen deutschen Streitkräfte ein-fach zerschlagen und die sowjetischen Panzerkeile stießen schnell nach Wes-ten vor. Bald hörten wir schon nachts das Feuer der feindlichen Artillerie. Mit der beschaulichen Ruhe war es in Beuthen vorbei. Wir sahen, dass deutsche Truppen durch die Straßen zur Front fuhren, nach Nordosten, in Richtung Tschenstochau und Kielce. Durch Beuthen zogen aber jetzt auch viele Land-wirte aus dem Osten mit ihren Frauen und Kindern auf Pferdegespannen. Sie flüchteten nach Westen. Am 16. Januar fuhren wir drei (Mutter, Annemarie und ich) noch mit der Straßenbahn nach Mechtal zum 12. Geburtstag meiner Cousine Käte. Als wir gegen 20.00 Uhr nach Hause kamen, wir standen ge-rade vor der Haustür, hörten wir in der Ferne mehrere Bombeneinschläge. Am nächsten Tag erfuhren wir dann, dass ein sowjetisches Flugzeug den Ort Karf bombardiert hatte, dass dabei mehrere Häuser zerstört bzw. beschädigt wurden und zwei Menschen starben. Uns packte noch nachträglich das Ent-setzen, denn die besagten Häuser lagen in Karf an der Hauptstraße und wir waren kurz vorher, von Mechtal kommend, mit der Straßenbahn daran vor-beigefahren. Am 17. Januar kam abends Herr Meiner, ein Freund und Kollege meines Va-ters, zu uns und sagte zu meiner Mutter, dass sie mit uns Kindern Beuthen un-bedingt sofort verlassen müsse. Denn die Russen rückten unaufhaltsam vor, und sie begingen unvorstellbare Gräueltaten an der Zivilbevölkerung, beson-ders an den Frauen. Meine Mutter sagte daraufhin, ganz befangen in den Vor-stellungen der damaligen Zeit, sie glaube nicht, dass die deutsche Führung das oberschlesische Industriegebiet den Russen überlassen werde, weil sie es doch für die Kriegsführung unbedingt brauche. Darauf Herr Meinert: 'Hit-ler kann die Russen gar nicht mehr aufhalten, es ist alles verloren und Sie müssen mit den Kindern sofort weg.' Da die Lage am 18. Januar noch kritischer wurde, machten wir uns dann doch für eine Reise bereit. Es war uns nicht bewusst, dass es eine Flucht wer-den sollte. Unser Ziel war vorerst Neiße, dort lebte Mutters Tante Rosa Brocksch; bei ihr wollten wir die Entwicklung der Lage abwarten. Wir nah-men nur das Allernotwendigste mit, nur das, was wir tragen konnten. Am 19. Januar, früh gegen 3.00 Uhr, es war bitterkalt, geleitete unser Nachbar Kas-

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subek seine Frau mit Sohn Hartmut (knapp vier Jahre alt) und uns durch die verdunkelten Straßen zum Hauptbahnhof. Durch einen ihm bekannten Neben-eingang gelangten wir auf einen Bahnsteig, wo ein leerer, ungeheizter Perso-nenzug stand, der nach Westen, nach Neustadt fahren sollte. Der Nachbar musste in Beuthen bleiben, da er seinen Posten bei den Stadtwerken nicht ver-lassen durfte und er außerdem als Unteroffizier einem Volkssturm-Bataillon angehörte. Gegen 8.30 Uhr fuhr der inzwischen überfüllte Zug ab. Bei uns im Abteil waren auch einige Studentinnen von der Lehrerausbildungsanstalt. Als der Zug anfuhr, sagte eine blonde Studentin: ,Ob wir Beuthen jemals wieder-sehen werden?' ,Hoffentlich', antwortete eine andere. In Gleiwitz durch-querten wir den Hauptbahnhof im Schritttempo; die Bahnsteige waren zwar menschenleer, aber voll mit Bergen von Koffern. Über Cosel und Oberglogau erreichten wir gegen 15.30 Uhr Neustadt. Für diese Strecke von etwa 70 Ki-lometern brauchten wir volle sieben Stunden; unser Zug musste immer wie-der stoppen, um Militär- und Verwundetenzüge vorzulassen. In Neustadt sollten wir in einer Turnhalle - auf Stroh - einquartiert werden. Das gefiel uns nicht, und nach langem Warten gelang es uns, mit einem überfüllten Personenzug nach Neiße zu kommen, zur Tante Rosa. Frau Kas-subek mit Sohn übernachtete ebenfalls bei der Tante. Am nächsten Vormittag begleiteten wir sie zum Bahnhof, da sie weiter nach Bolkenhain bei Hirsch-berg zu ihren Schwiegereltern wollte. Noch während wir mit ihr auf dem Bahnsteig auf den Zug warteten, warfen drei sowjetische zweimotorige Bom-ber, die plötzlich aufgetaucht waren, in einer Entfernung von etwa 600 Me-tern Bomben ab. Gerade als die Bomber nach Osten zum Rückflug abdrehten, kamen ihnen zwei deutsche Jagdflugzeuge (Typ Me 109), die offensichtlich von einem Fronteinsatz zurückgekehrt waren, entgegen. Und sofort griffen die Jäger die russischen Bomber von vorne an; für mich eine bis dahin nicht be-kannte Angriffsform. Ein Bomber fing sofort an zu brennen und stürzte ab; der zweite Bomber, auch getroffen, zog eine Rauchwolke hinter sich her und stürzte ebenfalls, schon einige Kilometer entfernt, ab. Wir hörten noch die Ex-plosion beim Aufschlagen. Die Menschen am Bahnsteig klatschten Beifall. Und bald kam auch der Zug, mit dem unsere Nachbarin Neiße verlassen konnte. In Neiße verlebten wir einige schöne Tage. Ich ging täglich mit einem Nach-barbuben zum Rodeln. In den umfangreichen Festungsanlagen aus dem 18. Jahrhundert gab es herrliche Rodelbahnen. Gelegentlich überflogen uns dort im Tiefflug deutsche Stukas (Ju 87), die von Fronteinsätzen zurückkom-

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mend den nahen Flugplatz Lamsdorf ansteuerten. Diese Maschinen gehörten zum Geschwader des legendären Oberst Rudel.

Die Front kam immer näher an Neiße heran; die Lage wurde immer bedroh-licher. Wir entschlossen uns deshalb, weiter zu flüchten, nach Ingolstadt in Bayern zur Zipser Großmutter. Die Brocksches dagegen wollten noch weiter in Neiße ausharren. Am 28. Januar verließen wir Neiße gegen 10.00 Uhr in einem ungeheizten, überfüllten Personenzug. Wir kamen wieder nur langsam vorwärts. Es gab immer wieder Halte, um Militärzüge vorzulassen. In Ottma-chau sahen wir einen Panzerzug mit mehreren Vierlings-Flakgeschützen (Kaliber 20 mm). Über Kamenz kamen wir nach Reichenbach; hier wurde uns die Lok ausgespannt, sie wurde für einen Militärzug dringend benötigt. In Reichenbach erhielten wir alle von DRK-Schwestern Wurstsemmeln und warmen Tee. Nach mehrstündigem Warten erhielt unser Zug dann doch wie-der eine Lok, und bald fuhren wir langsam Richtung Nordwesten weiter. Auf irgendeinem Bahnhof kam uns ein Zug entgegen, beladen mit etwa 30 schweren Panzern und Sturmgeschützen, der offensichtlich zur Front fuhr. Dieser Anblick hob die Stimmung im ganzen Abteil. Über Schweidnitz er-reichten wir in der Nacht gegen 3.00 Uhr, schon am 29. Januar, den Bahnkno-tenpunkt Königszelt. Hier endete vorläufig die Fahrt, wir mussten den Zug verlassen. Während fast alle Zuginsassen in den Ort geleitet wurden, um dort in einer Schule vorläufig untergebracht zu werden, blieben wir auf dem Bahnhof stehen, denn wir wollten ja weiter nach Ingolstadt. Wir saßen jetzt bei großer Kälte auf dem Bahnsteig. Es kamen einige Flüchtlingszüge aus Breslau, die weiterfuhren nach Görlitz. Es gelang uns nicht, mit diesen über-füllten Zügen weiterzukommen, mehrmals hielten die Leute von innen sogar die Türen zu. Gegen 8.00 Uhr standen wir noch immer auf dem Bahnsteig. Auf dem Gleis in Richtung Görlitz stand jetzt ein Wehrmacht-Sanitätszug, der aus ungeheizten Güterwagen bestand. Dank der Aufmerksamkeit zweier Wehrmachtpfarrer (ein katholischer und ein evangelischer), die zum Zug gehörten, durften wir und noch eine andere Frau mit drei Kindern mitfahren. Wir kamen in einen Güterwagen, in dem schon zehn Krankenschwestern in Decken gehüllt am Boden auf Stroh lagerten. Wir saßen auf Rucksäcken. Die beiden Pfarrer, zwei nette, drahtige, noch jüngere Männer, die Offiziersuni-formen trugen, waren auch in unserem Güterwagen. Schon bald verließen wir Königszelt. Da die Türen unseres Waggons wegen der Kälte zugeschoben wa-ren, sahen wir nichts mehr von der Landschaft, durch die wir fuhren. Über Waidenburg kamen wir gegen 11.00 Uhr nach Hirschberg. Während unsere

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Dampflok gegen eine E-Lock ausgetauscht wurde, konnte ich sogar vor das Bahnhofsgebäude gehen, wo ich in einiger Entfernung die Türme der Altstadt aufragen sah. Nach etwa einer Stunde ging es weiter, viel flotter als bisher mit den Dampfloks. Über Lauban erreichten wir Görlitz, die letzte schlesische Stadt. Hier musste unser Zug in der modernen Bahnhofshalle lange auf die Weiterfahrt warten. Dann ging es wieder mit einer Dampflok vorwärts, jetzt waren wir schon in Sachsen. Über Bautzen kamen wir nach Dresden. Gegen 4.00 Uhr in der Früh, es war bereits der 30. Januar, verließen wir am Bahn-hof Dresden-Neustadt den Sanitätszug, der nach Prag weiterfuhr. Am Abend vorher hatten wir auch noch Verpflegung erhalten, ein Kommissbrot, eine Dauerwurst und einen großen Klumpen Butter.

Dresden war voller Flüchtlinge

Mit der Straßenbahn fuhren wir durch das verdunkelte Dresden über die El-be, endlich durch die Prager Straße zum Hauptbahnhof. Dieser war voller Menschen, die Schalterhalle, die großen Gaststätten, die Gänge, die Treppen, die Bahnsteige, alles voller Flüchtlinge, es waren tausende. Wir fanden gleich Platz in einem großen Gaststättensaal, erhielten Tee und Wurstsem-meln und dann später auch Fahrkarten nach Ingolstadt, alles unentgeltlich. Die Organisation war hervorragend. Alle fühlten sich gerettet und in Si-cherheit. Niemand konnte ahnen, dass Dresden genau zwei Wochen später bei einem Großangriff alliierter Bomber im Feuersturm untergehen und dass auch der Hauptbahnhof zur Todesfalle für tausende von Flüchtlingen werden sollte. Wir lasen mit Entsetzen in einer Dresdner Zeitung, dass vor einigen Ta-gen unter anderem auch Beuthen von der Roten Armee erobert worden war. Der Tag verging wie im Fluge, und nach stundenlangem Warten auf dem Bahnsteig verließen wir Dresden mit einem Personenzug in Richtung Westen. Wenn wir nicht Ingolstadt als Ziel gehabt hätten, wären wir in Dresden in ei-ner Schule oder in einem ausgeräumten Kinosaal auf Stroh untergebracht worden, was wahrscheinlich unseren Tod bedeutet hätte. Erst gegen 20.00 Uhr waren wir in Chemnitz. Hier mussten wir wieder stundenlang auf einen Zug in Richtung Hof warten. Die Fahrpläne wurden nicht mehr eingehalten. Wir verbrachten die Wartezeit in der großen Bahnhofsgaststätte. Wir fühlten uns auch hier sehr sicher, schließlich konnten wir nicht vo-rausssehen, dass auch Chemnitz samt Bahnhof wenig später durch einen Großangriff alliierter Bomber vernichtet werden sollte. Es wurde Mitternacht.

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bis wir Chemnitz verlassen konnten. Wir kamen wieder nur langsam vor-wärts, und erst gegen 9.00 Uhr, es war der 31. Januar, erreichten wir Hof. Wir waren überaus glücklich, nun in Bayern zu sein. Zunächst muss-ten wir wieder endlos auf einen Zug zur Weiterfahrt nach Regensburg warten. Mittags aßen wir in der Bahnhofsgaststätte. Der Oberkellner war überaus unfreundlich zu uns. Wir

waren scheinbar die ersten Flüchtlinge, die er gesehen hatte. Gegen 15.00 Uhr ging es dann endlich weiter. Die Fahrt durch die Oberpfalz wollte kein Ende nehmen. Erst gegen 0.30 Uhr trafen wir in Regensburg ein. Wir schrieben jetzt den 1. Februar 1945. Auf dem Gleis gegenüber stand abfahrbereit ein Personenzug nach Ingolstadt. Kaum hatten wir den unge-heizten und nicht beleuchteten Zug bestiegen, da fuhr er auch schon ab. Um 3.00 Uhr trafen wir endlich in Ingolstadt ein. Sogar um diese Zeit war die Bahnsteigsperre mit zwei älteren Beamten besetzt. Die Zeit bis zum Sonnen-aufgang verbrachten wir schlafend, auf Bänken sitzend, im Aufenthaltsraum des Roten Kreuzes im Bahnhofsgebäude. Und dann machten wir uns auf den Weg in die Innenstadt. Der Busverkehr war wegen Treibstoffmangels eingestellt, daher liefen wir die fast drei Kilometer lange Strecke. Unser Gepäck hatten wir auf einen Schlitten geladen, der einer freundlichen Frau gehörte, die auch in die Innenstadt wollte. Es war auch nicht mehr so kalt, das Tauwetter hatte begonnen. Gegen 8.30 Uhr trafen wir, freudig begrüßt, bei der Zipser Großmutter ein, die mit ihren Töchtern Wilhelmine und Ruth und ihrem Sohn Günter in der Theresienstraße wohnte. "

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Der Krieg nahm auch auf die Kleinsten keine Rücksicht.

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Der alliierte Terrorangriff auf Dresden

Massenmord aus der Luft

Bei der Einweisung der britischen Bomberbesatzungen am Nachmittag des 13. Februar 1945 wurde von der Einsatzleitung betont, dass Dresden die größte bisher noch nicht bombardierte deutsche Stadt sei. Hervorgehoben wurde in diesem Zusammenhang auch, dass die sächsische Metropole mit Flüchtlingen aus Ostdeutschland überfüllt sei. In der Tat war Dresden zum Zeitpunkt des Terrorangriffs am 13. Februar 1945 mit Flüchtlingen aus dem Osten überfüllt. Alle Kinos, Schulen, Kirchen und andere öffentliche Gebäude der Stadt waren voll von Frauen, Kindern, Grei-sen und Kranken, die glücklich waren, ihren „Befreiern" von der Roten Ar-mee in letzter Minute entkommen zu sein. Von den 630.000 Einwohnern vor dem Krieg war die Zahl der Menschen in Dresden durch die Flüchtlingsströ-me aus Schlesien und anderen Teilen Ostdeutschlands auf mehr als 1,2 Mil-lionen angeschwollen. Am Nachmittag des 13. Februar starteten 796 Lancaster und neun Mosquitos von England aus zum Vernichtungsangriff in Richtung Dresden. Um 21.40 Uhr heulten in der Elbmetropole die Sirenen: Fliegeralarm! Um 22.10 Uhr verkündete eine aufgeregte Stimme im Rundfunk: „Achtung! Achtung! Feindliche Bomberverbände befinden sich im Anflug auf Dresden!" Alle im Zielgebiet stehenden Gebäude der Stadt waren der Vernichtung preisgegeben: Die Wohnhäuser mit hunderttausenden von Einwohnern, der Zwinger, das Opernhaus, das Taschenberg-Palais, die Kreuzkirche, das Rat-haus, die Kunstakademie und das Theater. In der Mitte des Zielgebietes lag der Schlossturm. In zwei Wellen warfen die britischen Terrorbomber 400.000 Brand- und 4.500 Sprengbomben fächerförmig über der Stadt ab. Durch die massenhaft abgeworfenen Stabbrandbomben wurden zahllose Einzelbrände entzündet, die sich rasch zu Großfeuern ausdehnten. Wo sie sich zu Flächenbränden ent-wickelten, entstand der berüchtigte Feuersturm, der eine kilometerhohe Rauchwolke in die Atmosphäre jagte. Dresden brannte auf einer Fläche von fünfzehn Quadratkilometern. Die sächsische Metropole glich einem Feuer-

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meer. Der Feuersturm von Dresden war noch in 350 Kilometern Entfernung zu sehen. Den völlig überforderten Feuerwehrleuten boten sich, wo immer sie helfen wollten, grauenhafte Bilder. Die durch Bomben und zahllose Brände zu-sammenstürzenden Straßenzüge versperrten abertau senden, die in Kellern Schutz gesucht hatten, den Fluchtweg ins Freie. Sie kamen qualvoll in der Flammenhölle um. Der Generalinspekteur der Feuerschutzpolizei, Hans Rumpf, erinnert sich: „Die Feuerlöschkräfte, obwohl 1.000 Mann stark und bestens ausgerüstet und geführt, waren einem solchen Wüten gegenüber von vornherein völlig machtlos. Die Unterstützungskräfte der Regimenter und aller Nachbarstädte, einschließlich des hart umkämpften Berlins, kämpften sich auf vereisten Straßen durch die Nacht heran. Die Bilder, die sich ihnen boten, erfüllten selbst die in der äußeren und inneren Not von hunderten Brandnächten hart gewordenen Männer dieser Einheiten mit Entsetzen und Grauen." Eine furchtbare Panik erfasste die Bevölkerung. Brandbomben und Phosphor-kanister zerplatzten zwischen den Menschen. Als lebendige Fackeln rannten Männer, Frauen und Kinder umher und wälzten sich am Boden. Der Phos-phor lief an den Mauerwänden herab und fraß den Sauerstoff, so dass zahl-lose Menschen in den Kellern erstickten. Die mit Menschen überfüllten Kel-ler wurden zu Massengräbern. Mütter deckten mit ihren eigenen Körpern die Kinder zu, um sie vor der sengenden Hitze zu schützen. Allein auf dem Hauptbahnhof wurden 7.500 Menschen getötet. Hunderte von Brandbomben hatten das dünne Glasdach zerschlagen. Die Berge von Gepäck und Koffern im Bahnhofsgebäude hatten Feuer gefangen. Andere Brandbomben waren durch die Fahrstuhlschächte der Gepäcktunnel gedrungen, in denen viele Menschen Zuflucht gesucht hatten, und hatten in den Gängen giftige Gase verbreitet und den wertvollen Sauerstoff verbraucht. Unter den Vergasungsopfern befanden sich zahlreiche Kinder in Karnevalskostümen. Am nächsten Tag folgte ein weiterer alliierter Vernichtungsschlag. Gegen 12.00 Uhr griffen mehr als 300 amerikanische B-17-Bomber das brennende Dresden erneut an. Die US-Bomber warfen innerhalb von nur zehn Minuten 783 Tonnen Munition über der Stadt ab. Danach nahmen amerikanische Jagdflugzeuge des Typs P 51 „Mustang" mit ihren Bordwaffen die Kolonnen flüchtender Menschen auf den verstopf-ten Ausfallstraßen gezielt unter Feuer. Im Tieflug rasten die US-Luftterroris-ten über die Randgebiete der Stadt und mähten gezielt alles nieder, was sich

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Opfer des alliierten Terrorangriffs auf das mit Flüchtlingen überfüllte Dresden.

in Dresden noch bewegte. Besonders auf den Eibwiesen wurden abertausen-de getötet. Selbst Rotkreuzwagen erlebten den Beschuss durch einen sieges-trunkenen Pulk von Jägern, die keinerlei Gegenwehr befürchten mussten. Durch den alliierten Terrorangriff auf Dresden wurde das gesamte Stadtbild mit der Frauenkirche und den kulturhistorisch wertvollen Barockbauten fast vollständig vernichtet. 40 Prozent der Wohnungen der Stadt wurden zer-stört. Die Zahl der Toten des Feuersturms von Dresden kann heute nicht mehr ge-nau ermittelt werden. Seriöse Schätzungen gehen aber von mindestens 200.000 bis 300.000 Opfern aus. Auf requirierten Bauernwagen wurden viele Opfer des Luftterrors zum abge-sperrten Altmarkt gebracht, wo sie verbrannt wurden. Mit Hilfe von Straßen-bahnschienen wurden auf dem Altmarkt behelfsmäßige Scheiterhaufen er-

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richtet, auf denen die unzähligen Leichen verbrannt wurden. Die Aschehau-fen der verbrannten Menschen wurden später zu Massengräbern in der Um-gebung abtransportiert.

Der Zeitzeuge Götz Bergander beschreibt das Grauen: „In der Bismarckstraße, unter der Gütergleisrampe des Hauptbahnhofs, waren die Leichen aufgeschichtet. Ordentlich, Leih für Leib, lagen sie da, fertig zum Abtransport. Leichen jeden Alters und in jedem nur denkbaren Zustand: nackt und bekleidet, verkrampft und gestreckt, blutverkrustet und fleckenlos, verstümmelt und äußerlich unverletzt. Kinder, die weniger Platz brauchten, zwischen die Erwachsenen gezwängt. Dicke Flüchtligsfrauen in ihren schwar-zen Wolltüchern und Wollstrümpfen. Frauen, ungeschickt hineingepackt, bis zur Hälfte entblößt. Männer wie schlaffe graue Säcke. Männer in langen wei-ßen Unterhosen, verdreht, verschränkt, mit und ohne Schuhe. Gesichter mit offenen und geschlossenen Augen. Gelegentlich spießte ein Arm in die Luft oder ein Körper konnte, wegen angezogener Beine, nicht so holzscheitartig eingepasst werden. Ein wahnwitziges Monument, eine lange Barrikade. Diese Toten waren noch kenntlich. Später, auf den Pferdefuhrwerken, waren sie es nicht mehr."

Diese Opfer des Luftterrors fanden keine Rettung im Lösch wasserbecken.

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Das Inferno von Swinemünde

Eine Tragödie unvorstellbaren Ausmaßes ereignete sich in Swinemünde. Al-lein 70.000 bis 100.000 Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten hielten sich an dem kalten und unfreundlichen Morgen des 12. März 1945 in der Stadt auf und warteten im Hafen auf ihre Weiterfahrt nach Westen. Gegen 11.00 Uhr wurden vom Rundfunk große Bomberverbände im Anflug auf Swinemünde gemeldet. Wenig später warfen 700 Bomber der 8. US-Luftflotte vom Typ B 17 und B 24 in mehreren Wellen insgesamt 1.435 Tonnen Brand- und Spreng-bomben auf den überfüllten Hafen- und Badeort ab. Ganz Swinemünde ver-sank daraufhin in einem gigantischen Flammeninferno. Innerhalb einer knap-pen Stunde fiel die einst blühende Stadt der totalen Vernichtung anheim.

Der Augenzeuge Gerhard Dallmann aus Greifswald erlebte den Terrorangriff als junger Marinefunker von See aus: „Über mir sah ich die in fester Formation von See her auf Swinemünde zu-fliegenden riesigen Bomber-Pulks. Die Flak begann zu schießen. Abstürze sah ich nicht. Auch keine fallenden Bomben. Aber die Detonationen. Das inferna-lische Getöse der Flugzeuge und die Explosionen sprachen für sich. Die Stadt flog regelrecht in grauen, seitwärts wegstoßenden Wolken auseinander." Ganz Swinemünde glich nach dem Terrorangriff einem einzigen Feuermeer, der Hafen lag unter einer dicken schwarzen Rauchwolke. Der Kurpark war voller Leichen, zerfetzte Menschen, Arme und Beine und Köpfe lagen herum. Die Überlebenden des Bomben-Holocaust wurden später von den Bord-MGs der alliierten Tiefflieger noch gezielt niedergemäht. Die meisten Opfer waren Frauen und Kinder. Da die Swinemünder Friedhöfe für eine so große Zahl toter Menschen keinen Platz hatten, wurden die Leichen mit Pferde- und Lastkraftwagen zum nahe-gelegenen Golm gebracht. Inmitten der ruhigen Natur des Golms, der mit 59 Metern höchsten Erhebung der Insel Usedom, haben die 23.000 Opfer des Terrorangriffs ihre letzte Ruhestätte gefunden. Diese ernorme Zahl der Toten entspricht fast der gesamten heute auf der Insel lebenden Bevölkerung.

Der Swinemünder Superintendent Paul Brutschke erinnert sich: „Wir wussten erst nicht, dass die Stadtverwaltung beschlossen hatte, die Todesopfer der Seuchengefahr wegen auf dem Golm zu beerdigen. Es wurde

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Gedenktafel für die Terroropfer von Swinemünde.

darum vereinbart, dass wir, da Särge fehlten, Massengräber anlegen würden und ich jeden Tag zur Beerdigung kommen würde." Die Westalliierten hatten schon beim Terrorangriff auf Dresden gezeigt, dass sie ihre Bündnisverpflichtungen gegenüber der Sowjetunion am liebsten oh-ne eigene Verluste aus der Luft zu erfüllen gedachten. In Swinemünde er-brachten sie erneut den Nachweis, dass sie sich auch bei ihrem Kampf gegen wehrlose Flüchtlinge von der Roten Armee nicht übertreffen lassen wollten.

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Die Vertreibung nach Kriegsende

Die Situation für die Schlesier wurde nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 immer unerträglicher. In den östlich der Neiße gelegenen Orten begann die polnische Miliz unverzüglich mit der systematischen Vertreibung der Bevöl-kerung. Im Juni und Juli 1945 wurden etwa 200.000 Deutsche allein aus den an der Oder-Neiße-Linie gelegenen Kreisen Sorau, Sagan, Görlitz, Lauban. Löwenberg, Bunzlau, Hirschberg und Frankenstein zwangsweise ausgesie-delt. Diese so genannte „wilde Vertreibung" fand noch vor den Potsdamer Be-schlüssen der Siegermächte statt. Stalin wollte bezüglich der „Westverschie-bung Polens" Fakten schaffen.

Über die allgemeinen Verhältnisse im Kreis Lauban bis zur Zwangsauswei-sung Ende Juni 1946 berichtet der Superintendent Johannes Klein: „(...) Der ganze Zeitabschnitt zerfällt in drei Phasen: 1. Das Rückfluten der evakuierten Bevölkerung in den schlesischen Raum

nach dem Zusammenbruch im Mai 1945. Diese Zeit dauerte etwa bis Au-gust/September 1945. Sie war eine Zeit emsigen Schaffens und des Bemü-hens, nach dem Chaos wieder zu geordneten Verhältnissen zu kommen. In dieser Zeit beherrschte der Russe hauptsächlich das Feld. Polen gab es nur wenige.

2. Diese Zeit wurde abgelöst durch das ständig zunehmende Einströmen polnischer Bevölkerung, die zum großen Teil selbst als Evakuierte und völlig Ausgeplünderte ankamen und sich nun an den Deutschen für das durch den Russen Erlittene schadlos hielten. Sie nahmen Häuser und Höfe in Besitz und drückten die deutsche Bevölkerung immer mehr in den Winkel. Trotzdem war diese Zeit gekennzeichnet von einer durch aller-hand Gerüchte ständig genährten und aufgefrischten Hoffnung auf bal-digen Abzug der Polen und Russen und eventuelle westalliierte Besetzung des Raumes.

3. Seit März 1946 setzten dann die Zwangsevakuierungen großen Stiles mit-tels der Evakuierungszüge ein. Jeder wartete ängstlich, z.T. aber auch sehnsüchtig, wann die Reihe an ihn kommen würde. Zu unterscheiden ist ferner die Lage unter russischer und unter polnischer Besatzung bzw. Verwaltung, wobei ziemlich allgemein gilt, dass die Drangsale von Seiten der Russen weit geringer waren als von Seiten der Polen.

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Der Deutschenhass hatte keine Grenzen

(...) Der Russe war oft vor allem der Schrecken aller Frauen und Mädchen. Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung, während Polen im Allgemei-nen in diesem Punkte weniger zu fürchten waren. Viele Polen aber waren be-sonders brutal und sadistisch, während Russen manchmal Mitleid mit Kin-dern oder Hungernden hatten. Dies zur allgemeinen Charakteristik nach meiner persönlichen Erfahrung. Persönlich erlebten wir die Entführung unserer 19-jährigen Tochter durch Russen. Sie wurde am 14. Mai 1945 aus dem Treck heraus, der sich nach un-serer Ausweisung aus der Tschechei, wohin wir evakuiert waren, auf dem Rückweg nach Schlesien befand, mit noch zwei Mädchen von drei Russen ge-raubt. Die Mädchen wurden im Auto entführt, auf freiem Felde vergewaltigt und dann ihrem Schicksal überlassen. Unsere Tochter fand uns erst nach zehn Wochen angstvollen Suchens wieder. Wir erlebten die mehrfache Plünderung unseres Pfarrhauses durch Polen. Alle im Hause Anwesenden wurden bei solchen Gelegenheiten in einen Raum gesperrt und bewacht, während bis zu 15 Polen das ganze Haus durchsuch-ten und mitnahmen, was ihnen gefiel. Wir erlebten am eigenen Leibe sinnlose Schläge eines bei Dunkelheit einge-drungenen betrunkenen Polen, der uns mit einem Knüppel und einem Revol-verlauf bearbeitete und blutig schlug. Ich war mehrfach verhaftet, meist nur kürzere Zeit, einmal fünf Tage lang. Grund: Angebliche Spionage, weil man Briefe in meinem Rucksack fand. (Die Superintendenturen und Pfarrämter hatten, da es keine Post gab, die Weiter-gabe von Privatbriefen von Kirchkreis zu Kirchkreis und Pfarramt zu Pfarr-amt übernommen.) (...) Sogar auf dem Kirchenboden bin ich einmal verprügelt worden. Zwölf Polen mit zwei Polizeihunden forderten mich auf, mit ihnen in die Kirche zu kommen, wo angeblich Waffen und Radios versteckt wären. Alles wurde durchsucht, wunderschön bemalte alte Holzverkleidung mit der Axt einfach durchschlagen und aufgebrochen. Da in der Kirche nichts gefunden wurde, wurde zuletzt der sehr dunkle Kirchenboden ebenfalls ergebnislos durch-sucht, wo man dann an mir Wehrlosem seine Wut über die misslungene Suche ausließ. Der Gottesdienst selbst, den ich regelmäßig in zwei durch einen Gebirgs-kamm getrennten Orten hielt, wurde nie gehindert, wohl aber wurde den Ge-

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Aufruf an die Bevölkerung Niederschlesiens vom April 1945.

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meindemitgliedern der Besuch sehr erschwert. Oft wurden sie auf dem Weg zur Kirche (wir hatten tägliche Morgenandachten) zur Arbeit weggeholt oder auf dem Rückweg von der Kirche in ihren besten Kleidern, die man ih-nen gelassen hatte, zu sehr schmutzigen Arbeiten gezwungen. Nach dem Jahresschlussgottesdienst 1945 wurden alle Kirchgänger von betrunkenen Polen mit Peitschen, Gewehrkolben u.a. verprügelt. (...) Ich habe mehrfach Männer begraben, die in polnischen Milizkellern tot-geschlagen worden waren oder die sich aus Furcht, weil sie zur Miliz bestellt waren, das Leben genommen hatten (...).

Plünderungen, Misshandlungen, Verhaftungen

Das Leben allgemein war gekennzeichnet durch fortwährende Angst. Ängst-lich fragte man am Morgen: Was wird der heutige Tag bringen ? Ängstlich fragte man am Abend: Wie wird die Nacht verlaufen ? Die Türen wurden ver-rammelt und Balken unter die Türklinken gestellt, damit sie nicht herunterge-drückt werden konnten. Bei jedem Tritt, der sich in Hausnähe hören ließ, er-schrak man, das Licht wurde gelöscht, kein Wort gesprochen. Jeder Morgen brachte neue Schreckensnachrichten von Vorfällen in der Nacht, Plünde-rungen, Misshandlungen, Verhaftungen. Dankbar war man für jede Bewah-rung und für die wunderbare Hilfe Gottes. (...) Schlimm war dann noch die Zwangsevakuierung selbst. Es durfte an Ge-päck ohnehin nur mitgenommen werden, was jeder tragen konnte. Die Wege zur Bahnstation oder zur Kontrollstelle waren zumeist so lang, dass schon auf diesen Wegen, die oft noch von Polen belauert waren, vieles weggeworfen werden musste. Bei der Kontrolle ist manchem dann auch noch das Letzte ab-genommen worden. Man wusste nie, wie man es machen sollte. Es ging alles nach Willkür. Wer Glück hatte, behielt seine Habseligkeiten; wer an den Un-rechten kam, verlor viel oder alles. Der Druck wich erst von den Menschen, als sie die Neißegrenze passiert hat-ten und die weißen Armbinden, die jeder Deutsche als Kennzeichnung tra-gen musste, in weitem Bogen aus den Güterwagen warfen. Die Eisenbahn-schienen an dieser Stelle waren weiß wie Schnee von diesen abgeworfenen Binden, die freilich auch ihr Gutes gehabt hatten. Denn es war immer eine Erleichterung, wenn man auf der Straße von Ferne einen Menschen mit ei-ner weißen Binde sah und wusste, dem kannst du dich getrost nähern, das ist ein Deutscher."

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Frauen, Kinder und Alte litten am meisten unter Flucht und Vertreibung.

Kopfschuss für deutsche Frauen

Über die Untaten polnischer Extremisten berichtete Robert Jungk in der Zü-richer Zeitung „Die Weltwoche" vom 16. November 1945: Es ist wahr, dass in dem Dorf G. auf öffentlichem Platze Mädchen, Frauen, Greisinnen von Angehörigen der polnischen Miliz vergewaltigt wurden. Es ist wahr, dass auf dem Bahnhof von S. sämtliche Flüchtlingszüge regelmäßig derart ausgeraubt werden, dass die Insassen nackt weiter gen Westen reisen müssen. Es ist wahr, dass in Oberschlesien die von Syphilis angesteckten Frauen als „Behandlung" einfach einen Kopfschuss erhalten. Und es ist wahr, dass eine Selbstmordwelle durch das Land geht. In einzelnen Orten hat sich ein Zwölftel, in anderen bereits ein Zehntel oder sogar ein Fünftel der Bevölkerung ums Leben gebracht. Es ist wahr, dass in den Arbeitslagern Sosnowicze und Swientochlowice Insassen nächtelang bis zum Halse im eiskalten Wasser stehen müssen und dass man sie bis zur Bewusst-losigkeit schlägt.

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Das Lager Lamsdorf

Deutsche im polnischen KZ

Besonders berüehtigt war das polnische Konzentrationslager Lamsdorf in Schlesien. Es wurde auf Anordnung des Woiwodengenerals Alexsander Za-wadzki im Juli 1945 eingerichtet und war eines von sieben Lagern in Ober-schlesien. Misshandlungen, Zwangsarbeit, Hunger und Mord waren in dem Polen-KZ an der Tagesordnung. Über 3.000 der internierten Deutschen wur-den getötet. Im Jahre 2001 wurde der erste Kommandant des Lagers, Czes-law Geborski, zum dritten Mal vor Gericht gestellt. Geborski, vielfach von den Kommunisten ausgezeichnet, bekennt sich bis heute zu keiner Schuld. Er habe Häftlinge ins offene Feuer treiben lassen, lautet einer der Anklage-punkte. Viele der über hundert vernommenen Zeugen beschuldigen ihn der ei-genhändigen Tötung von etwa 50 Menschen. Im kommunistischen Polen waren Verbrechen an Deutschen ein absolutes Ta-bu-Thema. Überlebende, die darauf aufmerksam machten, wurden des „Re-vanchismus" bezichtigt. Im heutigen Polen kommt der Aufarbeitungsprozess langsam und schleppend in Gang. Immerhin ein zumindest gewisser Fort-schritt im Vergleich zur kommunistischen Zeit. Hier der erschütternde Erlebnisbericht des Überlebenden J. Th. aus Grüben, Kreis Falkenberg in Oberschlesien, über die Vorgänge und Verhältnisse in dem von polnischer Miliz eingerichteten Konzentrationslager Lamsdorf: „Am 25. August 1945 wurde ich von polnischer Miliz in meinem Heimatdorfe, wo ich mich bei meinen Eltern befand, verhaftet, zugleich mit Josef D., Josef M., Franz Sch. Mit einem Wagen wurden wir nach Falkenberg zur Kreismiliz transportiert. Wir wurden in das oberste Stockwerk geführt. Ich musste als erster in ein Zimmer zur Aufnahme. Es lag nach der Hofseite. Die Fenster wurden dichtgemacht. Man fragte mich nach meinen Personalien. Vor meiner Soldaten-zeit war ich bei der HJ. Dies war Grund genug, in das Lager zu kommen. An-ders war es bei meinen Kameraden. Sie gehörten keiner nationalsozialistischen Organisation an. Bei ihnen musste erst ein Grund gefunden werden. Dies ge-schah unter Prügeln. M. wurde bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen. Nach Aufnahme der Personalien mussten wir nebeneinander antreten. Mit Gewehrkolben und Gummiknüppeln bekamen wir Schläge. Ein Posten stellte sich hinter uns, zwei vor uns. Einer brüllte öfter: 'Achtung!' Während

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wir Haltung annahmen, wurden wir von hinten mit Kolben geschlagen und von vorn mit Stiefeln getreten, fast nur in den Unterleib. Wir wurden dann un-ter Fußtritten und Kolbenschlägen in den Keller gebracht. Dort kamen wir in einen Raum, in dem bereits 18 Leidensgenossen waren. Vom Stubenältesten bekamen wir für je zwei Mann ein Metallbett für die Nacht zugewiesen. Matratzen oder Decken waren nicht darauf. Es dauerte nicht lange, da kamen die Arbeitskommandos von der Arbeit zu-rück. Die polnischen Begleitposten mussten die Männer in den Keller zurück-bringen. Diese Posten hatten längst erfahren, dass Neue eingetroffen waren und in welchem Raum sie sich befanden. Bei jedem mussten wir Neulinge an-treten. Von jedem wurden wir getreten und geschlagen. Dies dauerte bis tief in die Nacht hinein. Wir lagen schon auf dem Bett, da kam immer noch Mi-liz herein. Sie schlugen wie wild auf alle mit Gewehren, Gummiknüppeln, Ei-senstäben ein. Dies wiederholte sich täglich.

Morgens und abends eine Scheibe Brot

Früh morgens und abends gab es eine Scheibe Brot von ca. 80 Gramm und eine Tasse Kaffee, mittags gab es eine Kartoffelsuppe von drei Viertel Liter, ohne jegliche Zutaten. Die Kartoffeln waren schon so faul, dass die Suppe stank und ungenießbar war. Bei dieser Kost mussten die arbeitsfähigen Män-ner noch arbeiten. Ich selbst kam dafür nicht in Frage, weil mir infolge Kriegsverwundung der linke Arm fehlte. Jeden Sonntag wurde mit sämtlichen Männern ein Appell abgehalten. Alle wurden namentlich anhand einer Liste aufgerufen. Dann wurden Leibes-übungen gemacht mit Liegestütz. Wer nicht rasch mitmachen konnte, dem sind die Posten auf das Kreuz gesprungen und haben sich an dem Geschrei des Gequälten ergötzt. Nach 14 Tagen Kerkerhaft musste ich mit vier Kameraden zur Vernehmung. Zwei kamen gleich an die Reihe. Ich und zwei andere mussten im Vorzimmer warten, die Gesichter gegen die Wand gerichtet, in strammer Haltung. Hin-ter uns saß ein Posten mit Gewehr. Die geringste Bewegung, und wir hatten den Gewehrkolben oder Stiefel im Kreuz sitzen. Aus dem Vernehmungszimmer hörten wir öfter dumpfe Schläge und Schreie. Endlich wurden wir in den Kel-ler zurückgebracht. Am Nachmittag mussten die beiden morgens Vernommenen noch einmal nach oben. Wir anderen drei durften im Keller bleiben. In den Nachmittags-

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stunden kamen elf neue Männer in den Keller. Sie waren aus dem Arbeitskom-mando der Russen entlassen worden. Der Pole hatte sie von der Straße auf-gegriffen und interniert. Ähnliche Fälle wiederholten sich fast täglich. Ich wurde am selben Tage noch zur Vernehmung geholt. Als ich verlauten ließ, dass ich in der Hitlerjugend und der Arbeitsfront war, bekam ich Faustschläge, desgleichen, als ich sagte, dass ich in Russland gekämpft und dort den Arm verloren hätte. - Am übelsten waren meist die dran, die in keiner NS-Organisation gewesen waren. Sie wurden so schwer und so lange geschlagen, bis sie sich aus Angst zu einer Organisation bekannten. Oberinspektor P. aus Schurgast wurden Polen-Misshandlungen zur Last gelegt. Und zwar an solchen, die bei ihm während des Krieges beschäftigt waren. Er wurde drei Tage hintereinander vernommen und immer wieder geschlagen, bis er schließlich nach dem Willen der Polen aussagte. Ich war drei Wochen in jenem Keller. In dieser Zeit ist mir nicht einmal zum Waschen Gelegenheit gegeben worden. Unsere Bedürfnisse mussten wir in einem Eimer verrichten, der im selben Raume stand, in dem wir hausten. Den Eimer musste einer von uns einmal am Tage unter Aufsicht eines Milizmannes zum Entleeren heraustragen, dabei gab es jedesmal Kolbenschläge. Wir bekamen alle Läuse, die uns ebenso quälten, wie die dumpfe Luft in dem finsteren Keller. Nach drei Wochen Keller-Aufenthalt wurde ein Transport für Internierungen im Lager Lamsdorf zusammengestellt, das die Polen am 25. Juli 1945 zur Be-strafung und Vernichtung der deutschen Bevölkerung errichtet hatten. Alle Vernommenen, bis auf die Handwerker, kamen nach Lamsdorf. Der Transport zählte 63 Männer und 15 Frauen. Um 10.00 Uhr mussten wir auf dem Hofe antreten, um 13.00 Uhr marschierten wir ab. Auf dem Wege mussten wir oh-ne Unterlass Nazilieder singen. Der Weg führte über Weidendorf, Tillowitz, Buchengrund ins Lager. Uns begleiteten vier Posten. Es war ein heißer Tag. Unterwegs wurden viele schwach. Diese wurden immer durch Schläge ange-trieben. Als sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten, mussten sie von jüngeren Kameraden geführt, zeitweise sogar getragen werden. Für den Weg von 16 Kilometern brauchten wir drei Stunden. Bei unserer Ankunft am Lagereingang waren die Kommandanten bei einem Trunk beisammen. Wir sa-hen, wie einige Mädchen mit Flaschen und Schnapsgläsern zu dem Posten-haus gingen. Die Aufnahme ging folgendermaßen vor sich: Wir wurden einzeln aufgerufen und in die Schreibstube geführt. Erst waren die Kommandanten nicht anwe-

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send, da ging es ruhig zu. Als sie kamen, hörte man nur noch ein Brüllen und dumpfe Schläge. Die meisten wurden mit Fußtritten nach der Vernehmung zur Tür hinausgestoßen. Max H. aus Tillowitz legten die Polen zur Last, er sei in der SS gewesen. H. verneinte dies in Lamsdorf wie vorher bereits in Tillowitz (bzw. Falkenberg). Er wurde mit P. aus Schurgast in ein Nebenzimmer der Schreibstube gesto-ßen. Acht Posten folgten und bearbeiteten H. Je mehr sie auf ihn einschlugen, um so mehr leugnete er es. Er bat die Posten, sie sollten sich bei jedem Ein-wohner des Dorfes erkundigen. Darauf wurden beide herausgebracht. Die Kleidung war fast ganz zerrissen. Stellenweise konnte man den bloßen blu-tigen Körper sehen. H. wurde hinter eine Baracke geführt und dort erschos-sen. Er war ungefähr 45 Jahre alt und Gastwirt im Bahnhofsviertel Tillowitz gewesen. Als die Hälfte der Männer mit der Registrierung fertig war, wurden wir hin-ter eine Baracke geführt. Dort mussten wir uns waschen und entlausen. Je-dem wurden die Haare kahl geschoren. Als die zweite Hälfte dorthin gebracht wurde, musste sie das Gleiche tun. - Hier habe ich meinen Vater gesehen, den wie er mir heimlich zuflüstern konnte, acht Tage nach mir von der Miliz ab-geholt wurde. Er war auch in Falkenberg in dem gleichen Keller, nur in einem anderen Raum gewesen. - Während unserer Reinigung gingen die Posten von einem zum anderen. Jeder bekam Fußtritte oder Kolbenschläge in den Rü-cken. Gute Kleidungsstücke wurden weggenommen. Johann L. aus Bauerngrund trug einen schwarzen Vollbart. Als sie ihn er-blickt hatten, hatten die polnischen Milizen eine wahre Freude an ihm. Unter Rufen: ,Du SS, du Nazi!' spuckten sie ihn an und bearbeiteten ihn mit den Stiefeln. Er musste dann über Ackergeräte springen. Wo er es nicht konnte, wurde er darüber gestoßen. Anschließend musste er in die Werkstatt. Dort wurde er mit dem Bart in den Schraubstock geklemmt. Mehrere Posten schlu-gen mit zollstarken Eisenstäben auf ihn ein. Dabei wurde ihm der Bart ange-zündet. L. gab in der Werkstatt seinen Geist auf. Er wurde mit H. in dem Split-tergraben verscharrt (...). Nach unserer Reinigung kamen alle 61 Männer in einen Barackenraum. Es standen doppelte Holzbetten ohne Strohsack und ohne Decken darin. Fenster-scheiben waren kaum vorhanden oder beschädigt. Kurz vor der Dunkelheit wurde mit sämtlichen Männern ein Appell abgehalten. Auf jeder Stube war ein Stubenältester ernannt worden. Beim Appell musste er Meldung in polni-

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scher Sprache an die Aufsicht führenden Polen machen, über Stand, Zahl der Anwesenden, Kranke, zur Arbeit Eingeteilte usw. Nach dem Rapport mussten wir Soldatenlieder singen. Bei Marschliedern wurde auf der Stelle getreten. Wer die Bewegungen nicht exakt machte, wurde geprügelt und getreten. Dabei schlichen die Posten die Reihen entlang und holten sich einen nach dem anderen aus den Reihen heraus. Diese Männer gingen in den seltensten Fällen lebend vom Platze, meist wurden sie tot weggetragen. Am ersten Abend nach dem Appell bekam jeder Neuling ein W aus Leinwand ausgehändigt zum Aufnähen auf den Rock. Wir mussten uns gleich auf die Bettstelle legen. - Die Bettbodenbretter waren nur zur Hälfte vorhanden, bei geringen Körperbewegungen fielen sie leicht auf den Fußboden. - Vor den Baracken patrouillierte ein Wachposten. Beim geringsten Geräusch stürzte er herein und schlug mit dem Kolben auf die Leute ein, ohne sich zu erkundigen, was los sei. Er behauptete, es hätte einer ausreißen wollen. (...) Mir wurden anschließend sechs Mann zugeteilt, mit diesen musste ich die Toten begraben. Nach dem Erschlagen waren sie von Männern hinter die Frauenbaracke geschleift worden und lagen nun im Grase, wo ich sie zuerst gar nicht finden konnte. Ich erkundigte mich bei den Frauen. Diese wollten mir zuerst keine Auskunft geben, denn sie waren eingeschüchtert, weil sie in ähnlichen Fällen schon sehr trübe Erfahrungen gemacht hatten. Schließlich zeigten sie mir die Stelle.

Gehirn und Knochen lagen herum

Dem ersten Toten hatten die Posten den Schädel eingeschlagen, so dass der Unterkiefer nur noch vom Kopf übrig blieb. Das Gehirn und Knochen lagen herum. Den zweiten hatten sie zertreten und die Kleider angezündet, so dass nur wenige Überreste davon zu sehen waren. Der Körper selbst war stark an-gekohlt. Den dritten hatten sie auch zertreten. Während des Grabmachens kamen mehrere Posten zu uns heran. Bei dem ers-ten musste sich G. aus Hilgersdorf auf den Bauch legen. Er bekam 25 Schlä-ge mit dem Gewehrkolben. Nach einer Weile kamen drei andere. Jetzt muss-ten sich alle sechs nacheinander hinlegen und bekamen auch Schläge mit dem Gewehrkolben. Willy B. aus Niederschlesien trug eine außergewöhnlich starke Brille. Als Brillenträger musste er sich anschließend auf den Rücken legen und die Hände auseinander machen. Ein Milizmann sprang auf seinen Brustkorb und

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trampelte darauf herum. Ab und zu, wenn er wieder einen Schmerzensschrei ausstieß, trat er ihm auf den Kehlkopf Ein anderer Posten stieß ihm anschlie-ßend das Seitengewehr zwischen die Rippen. B. bat darauf die Posten, ihn zu erschießen. Es wurde ihm hohnlachend geantwortet, er müsse langsam ver-recken. B. wagte nicht, sich krank zu melden. Er suchte in der Nacht den frei-willigen Tod durch Erhängen mit den Hosenträgern. (...) Kinder sind oft vor Körperschwäche hingefallen. Waisenkinder sahen am schlechtesten aus. Viele Kinder sind in kurzer Zeit gestorben. Bis zu 700 Kin-der können insgesamt im Lager gewesen sein, vom 25. Juli 1945 bis Juni 1946. Höchstens 300 sind lebend herausgekommen. Im März 1946 waren 84 Waisenkinder im Lager. Ihre Angehörigen waren im Lager umgekommen. Diese 84 kamen im Mai 1946 unheimlich verwahrlost heraus. - Wenn von Kindern die Rede ist, handelt es sich immer um Kinder unter zehn Jahren. Äl-tere mussten wie die Großen arbeiten. (...)Ab 20. September 1945 bis Mitte November 1945 habe ich die Toten beer-digen müssen. Es waren täglich fünf bis neun Tote. (...) Bald wurde ein neuer Friedhof angelegt. In Reihengräbern kamen die Toten nebeneinander. In einer Reihe waren 170 Tote. Ein Verzeichnis, wie die Toten zu liegen kamen, durfte nicht angefertigt werden. Auf diesem Friedhof wurde bis Ende 1945 beerdigt. Dann wurde außerhalb ein neuer Friedhof angelegt. Dort wurde es auch so ge-macht. Der bis März 1946 benutzte Friedhof ist mittlerweile eingeebnet, mit Kompost befahren und mit Gras besät. Von Eröffnung des Lagers am 25. Juli 1945 bis 6. Oktober 1945 -Absetzung des berühmten Kommandanten Geborski - sind 90 Prozent der Toten erschlagen, selten erschossen worden. Während des Winters 1945 bis April 1946 wütete der Typhus im Lager. In dieser Zeit starben die Menschen wie die Fliegen. Medikamente, entsprechende Nahrungsmittel wurden nicht herbeigeschafft. Bei dem engen Zusammenwoh-nen und der Unmöglichkeit, sich sauber zu halten, musste die Krankheit un-geheuer grassieren. Die Höchstzahl der Toten betrug bei einer Lagerstärke von 1.100 Menschen an einem Tage 22 Personen. Ich habe Kranke gesehen, denen die Läuse die Haut durchgefressen hatten, so dass die Brustknochen frei zu sehen waren. Auf manchen saßen die Läuse millimeterdick.

3.292 registrierte Tote

Auf Veranlassung des 3. Kommandanten, im März 1946, musste die Zahl der Toten vom 25. Juli (1945) bis März 1946 durch den Internierten A., früher

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Großkaufmann in N., festgestellt werden. Nach Papieren auf der Schreibstube errechnete A. die Zahl der Toten mit 3.112 Personen. Dazu kommen die vom März 1946 bis Juni 1946 180 Gestorbenen. Beide Zahlen addiert ergibt die Totensumme von 3.292. Viele wurden aber schon vor der Registrierung er-schlagen. Sehr viele, die vorher entlassen wurden, starben wegen Erschöp-fung und weil der Körper nicht mehr fähig war, Nahrung zu verarbeiten, bald nach ihrer Befreiung. Es mögen nicht ganz 6.000 Internierte ins Lager ge-kommen sein. (...) Alle Toten starben ohne geistlichen Beistand. Als Pater D. aus Heiligen-kreuz bei Neiße, Oberschlesien, von April bis Anfang Juni 1946 als Internier-ter im Lager war, war es ihm verboten, mit Erwachsenen zu sprechen und Seelsorge auszuüben. Vor meiner Zeit als Begräbnismann sind manche Geschlagene, die nur ohn-mächtig waren, lebendig begraben worden. Wenn sie Boden auf den Leib be-kamen, fingen sie an zu erwachen und zu schreien. Umso schneller musste dann Erde gegeben werden.

Blutig geschlagen und erschossen

(...) Zu den Todesfällen sei noch bemerkt, dass einmal zur Vergeltung 20 Mann erschossen wurden, weil ein 17-jähriger Junge aus dem Lager heimlich ausgerückt war. Frau Sch. aus Goldmoor wurde erschossen, weil sie kurz vor dem Wecken auf die Latrine gehen musste. Der Bielitzer Bauer Josef S. wur-de zur Wache geholt, dort blutig geschlagen und erschossen, weil er auf einem Arbeitskommando vorbeikommende Russen um ein Stück Brot gebeten hatte. Ein Milizmann hat sich damit gerühmt: ,Ich habe heute den 25. ins Jenseits befördert.' Lamsdorf war leider nicht das einzige Vernichtungslager der Polen nach ih-rem Einzug in Schlesien. Ich glaube, diesen Bericht den Toten von Lamsdorf schuldig zu sein, von de-nen die meisten mit unerschütterlichem Gottvertrauen ihr schweres Los tru-gen, ihr Christentum in glänzender Weise bewiesen und heldenhaft star-ben. "

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Tragödie in Pommern

Die Verbrechen der Roten Armee an der deutschen Zivilbevölkerung

Von den ersten Raubzügen der Wikinger über die Schweden und Franzosen bis zu den Polen war Pommern immer ein wichtiger und deshalb von den Stürmen des Krieges umtobter Schauplatz im Kräftespiel der europäischen Mächte. Der Landstrich zwischen Haff, Meer und der Seenplatte im Innern gehörte vor 1945 zu den bedeutendsten landwirtschaftlichen Versorgungsgebieten Deutschlands. Ackerbau, Fischerei und Viehzucht blühten entlang des 600 Ki-lometer langen Strandes, an den Ufern der Oder und in den weiten Ebenen beiderseits des Landrückens. Fast zweieinhalb Millionen Deutsche bevölker-ten einmal die „Kornkammer des Reiches" an der Ostsee. Im 12. Jahrhundert wurde Pommern christianisiert und von deutschen Bauern besiedelt. Vom letzten Drittel des 12. Jahrhunderts an entstanden überall Klöster und Wehrstädte an dem Weg, der die Deutschritter mit ihren Missi-onszügen weit nach Osten führte. Der Handel entwickelte sich, die deutsche Sprache setzte sich durch. Im Dreißigjährigen Krieg musste Pommern schreckliche Leiden erdulden. Mit der Oder als Landesgrenze wurde es zwischen Brandenburg und Schwe-den geteilt. In den Befreiungskriegen war Pommern mit seiner Festung Kol-berg erneut Kriegsschauplatz gegen die Franzosen. 1815 trat der schwedische König seinen Teil Pommerns an das inzwischen erstarkte Preußen ab. Das Land erlebte einen enormen Aufschwung: Große Güter entwickelten sich zu Zentren einer landwirtschaftlichen Erzeugung, deren Überschüsse in dichter besiedelte Landstriche Deutschlands rollten. Dies blieb so bis zum Januar 1945. Abgesehen von den alliierten Luftangrif-fen auf Stettin und Peenemünde war Pommern bis zu diesem Zeitpunkt vom Krieg verschont geblieben. Die pommerschen Städte und Dörfer waren zum Zufluchtsort für viele Menschen aus den luftkriegsgefährdeten Metropolen Deutschlands geworden. Nun aber brach das Inferno über das friedliche Land schlagartig herein. Sowjetpanzer brachen von Süden her nach Pommern ein. Auf ihrem Weg nach Berlin überrollten die Russen alles, was sich ihnen

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in den Weg stellte oder in panischer Flucht zu entkommen versuchte. Mit der Einnahme von Kolberg am 18. März 1945 war das Land völlig von der Ro-ten Armee besetzt.

Hier der Erlebnisbericht einer Bäuerin aus Eichfier, Kreis Deutsch Krone in Pommern, über den Einmarsch der sowjetischen „Befreier": „Es war am 22. Januar 1945, als wir den Befehl erhielten, unsere Heimat zu verlassen. Es war für uns alle kaum glaubhaft, sollten wir unser stattliches Vieh, die gefüllten Scheunen und unser schönes Heim zurücklassen? Schon am selben Abend übernachteten bei uns Flüchtlinge, die aus dem Warthegau kamen. Mit zwei Gespann Pferden und einem Trecker sollten wir zehn Familien fortschaffen. Wir ließen uns noch einige Tage Zeit, unser Bürgermeister drängte auch nicht zur Abfahrt. Dann, am 28. Januar 1945, als höherer Be-fehl kam, das Dorf zu räumen, überraschten uns russische Panzer und besetz-ten das Dorf. Kanonenschüsse donnerten. Meine Schwägerin und ich als einzige Deut-sche auf unserem Hof flüchteten in den Keller, ebenfalls auch andere Bewoh-ner des Dorfes; sogar der Bürgermeister, der mir die Abfahrt mitteilen woll-te, konnte nicht mehr zu seinem Gehöft zurück, und so saßen wir alle ängst-lich im Keller beisammen. Wir vernahmen deutlich die Einschläge. Nach ungefähr einer Stunde kam unser Mädchen Anna Zutauska, eine Ukrainerin, zu mir in den Keller und sagte: ,Kommen Sie, Sie brauchen keine Angst zu ha-ben, die Russen tun Ihnen nichts.' Ich zitterte am ganzen Körper, sie nahm meinen Arm, wir gingen auf die Straße. Es kam ein Panzer, ich sah erstmals Russen. Anna Z. winkte, der Panzer hielt, sie begrüßten sich händeschüttelnd. Anna Z. meinte zu mir: ,Nun ist alles, alles vorbei, nun ist alles gut.' Ich war etwas ruhiger geworden und dachte an mein Kind, das bei meinen Eltern war, die drei Kilometer vom Dorfe entfernt wohnten. Anna Z. war bereit, nach einer kurzen Unterredung mit einem russischen Vorgesetzten, der die Erlaubnis gab, auf meinen Wunsch zu meinen Eltern zufahren, um zu sehen, ob sie wohl alles gut überstanden hatten. Anna Z. fuhr mit Pferd und Schlitten dem Dorfende zu. Bald darauf brachte ein Dorfbewohner mir Pferd und Schlitten zurück. Unser Mädchen Anna Z. aber war von Russen erschossen worden. Im Dorf sah man hier und da Rauchwolken aufsteigen. Es brannte das Ge-höft des Bauern Magalowski, das Wohnhaus des Arbeiters Villegalla, der Stall des Bauern Eltern und noch einige Gebäude. Wir waren in unserem

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Haus wohl schon so 20 Mann beisammen. Da kam noch der Nachbar Jo-hann Mielke mit zwei Töchtern zu uns, sie weinten. Frau Mielke war auf der Ofenbank sitzend von einer Gewehrkugel tödlich getroffen worden. Dann ka-men zwei, drei Russen, gingen durch alle Stuben, nahmen ein paar Würste und meine Pelzhandschuhe, die ich auf den Tisch gelegt hatte. Andere Rus-sen kamen, fragten nach ,Urre', einige gaben ihre Uhren. Ein Russe stellte das Radio an, um es dann mit dem Gewehrkolben vom Tisch zu schlagen. Nach einigen Stunden erschreckte uns erneut das anhaltende Rollen russi-scher Panzer, und schließlich hörten wir mit großem Getöse die russische In-fanterie auch in unser Haus eindringen. Es wurde Brot verlangt. Ich gab ei-nem, noch einem zweiten und dritten Russen ein ganzes Brot. Noch mehr wurde gefordert. Ich ging fort, und sie nahmen sich selbst, bis der Vorrat auf-gebraucht war.

Überall lagen Tote

(...) Es war inzwischen Tag geworden, und wir alle mussten in zwei Minuten unser Haus verlassen. Wir gingen zum Nachbarn Kastner. Dort hatten sich auch schon andere Bewohner des Dorfes eingefunden und erzählten, dass der Bauer Gustav Redemann, als er am Abend seine Pferde füttern wollte, von Russen erschossen worden war. Seinen Bruder Otto fand man ebenfalls er-schossen am Dorfende. Überall lagen Tote. Es waren Dorfbewohner und Flüchtlinge. Auf der Straße vor unserem Hause lag eine Leiche, die von den vielen vorüberfahrenden Panzern und Lastwagen zerquetscht war. Wir sahen, dass nun auch noch das Jordansche Haus, das Pfarrhaus und die alte Schule abgebrannt waren. Kühe, Schafe und Schweine liefen herrenlos umher. Uns gruselte. Wir blieben den Tag im Hause, das Dorf war von Russen überfüllt. Mehrmals am Tage suchten uns Russen auf und ließen Uhren und Ringe und dergleichen Schmucksachen mitgehen. Ich hatte nur noch meine Handtasche mit Geld und Wertpapieren. Die Russen musterten uns genau, und schon am Abend kamen einige zu uns ins Zimmer und schoben uns einzeln, ob Mann oder Frau, zur Tür hinaus. Hinter mir wurde die Tür zugeknallt. Zwei junge Mäd-chen und eine junge Frau, hochschwanger, Flüchtlinge aus dem Wartheland. mussten zurückbleiben. Ein Schuss fiel im Zimmer, ein Mädchen schrie auf. Wir anderen, wohl so 15 Personen, wurden durch ein dunkles Zimmer bis auf die Straße gedrängt, wo ein russischer Posten mit erhobener Maschinenpistole vor uns Wache hielt. Wir alle glaubten, dass jetzt wohl unser Ende gekommen sei.

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Aber nach ungefähr 30 Minuten durften wir wieder in das Zimmer zurück. Ich staunte sehr, als ich außer den Russen auch die zwei jungen Mädchen und die junge Frau im Zimmer sitzen sah. Eines der Mädchen kam zu mir und sagte: 'Wir haben für euch gelitten. Ich hatte in dieser Zeit drei Russen.' Ich konnte zuerst nicht recht verstehen. Aber als ich nach geraumer Zeit bemerkte, wie ein Russe eines der Mädchen aufforderte ,Komm mit' und mit ihr in der Nebenkam-mer verschwand, wusste ich, was los war. So ging es die ganze Nacht. Die beiden jungen Mädchen und die junge Frau hatten besonders unter den Vergewaltigungen zu leiden. Die junge, schwan-gere Frau stand schon keuchend auf einen Sessel gestützt, eine Haarsträhne hing ihr ins Gesicht. Wer sollte sie schützen, ein jeder fürchtete die Brutali-tät der Russen. Folgte man nicht ihrer Aufforderung, zögerten diese auch nicht, das Gewehr auf einen zu richten. Des Morgens zog dann dieser Trupp Russen ab. Da nun etwas Ruhe auf den Straßen war, benutzten wir schnell die Gelegenheit, um zu sehen, wie es wohl den anderen ergangen war. Bei meiner Schwägerin Erna Redemann hatte ein Russe ein Mädchen, das aus dem Warthegau zu ihr geflüchtet war, er-schossen, da es nicht den Aufforderungen gefolgt war. Meine Freundin Mar-garethe Redemann, die Tochter des erschossenen Gustav Redemann, hatte sich vergiftet. Man hatte die Leichen in Tücher gewickelt auf die Scheunen-tenne gelegt. Die Mutter aber und die beiden Schwestern, Liselotte 20 Jahre alt und Ruth, 17 Jahre alt, sowie Tante Ottilie Redemann, Frau Neugebauer mit den drei kleinen Kindern, Frau Patoneck mit Schwiegertochter und Enkel und andere, insgesamt 17 Personen, verbrannten im Haus. Die Ursache die-ses Schicksals ist uns allen heute noch unbekannt. Auch den Arbeiter des Bau-ern G. Redemann, Paul Krause, fand man im Stall unter der Kuhkrippe tot mit aufgeschnittenem Bauch. Viele Bewohner verließen das Dorf, und so flüchte-ten auch meine Schwägerin und ich zu meinen Eltern, die drei Kilometer vom Dorf entfernt eine Landwirtschaft besaßen. Die Russen waren auch bei ihnen gewesen und hatten Schmucksachen und einige Kleidungsstücke mitgenom-men. In der Nachbarschaft waren sieben Mann erschossen worden. Da lagen hinter dem Stall der Bauer Paul Reetz und Sohn Leo sowie der Bauer Walter Manthei und Degner. In seinem Garten lag der Bauer Georg Nowack mit ab-gesägtem Kopf. Zu der Familie Seck kamen des Abends Russen und der bei dem Nachbarn arbeitende Pole ins Zimmer, erschossen die Frau, nahmen Herrn Seck bis zum Dorf mit und erschossen auch ihn. Auch der Bürgermeis-ter Willi Tarn aus Eichfier lag dort tot (...). "

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Sie hingen da wie Schweine

Aus den Tagen nach dem Einmarsch der Roten Armee in Pommern stammen auch diese Berichte: „Frauen und Mädchen lagen auf dem Hof. Man hatte ihnen Pfähle in den Un-terleib gestoßen." „In einem Fleischerladen hingen an Fleischerhaken kahlgeschorene Frauen. Der Leib war jeweils aufgeschnitten, die Eingeweide entfernt. Sie hingen da wie Schweine. Es waren wohl ein Dutzend. Im ersten Augenblick haben wir gar nicht begriffen, was wir sahen. " „Die Rotarmisten legten ihm eine Kette um die Knöchel, holten ein Pferd her-bei, befestigten die Kette an einem Wagenschwengel. Unter Gejohle ging die wilde Jagd über die Dorfstraße. Er hat nicht einmal geschrien. Nach einer halben Stunde war von ihm nur noch ein Fleischklumpen übrig." „Misshandlungen und Vergewaltigungen steigerten sich von Tag zu Tag, so dass nun jeden Abend Einheimische und Flüchtlinge in dem früheren Guts-schloss Schutz suchten. Jede Nacht erschienen auch dort die Russen, schös-sen durch die Fenster und Türen, schlugen die verriegelten Türen ein und ver-gewaltigten Frauen und Mädchen im Beisein der Kinder. "

Der Massenselbstmord von Demmin

Angst vor den Russen war auch der Grund für eine beispiellose Selbstmord-welle. Die Rote Armee kam am 30. April 1945 nach Demmin in Vorpom-mern. Die Stadt wurde geplündert und angezündet. Haus für Haus, Straßen-zug für Straßenzug fielen den Flammen zum Opfer. Die gesamte Altstadt wurde niedergebrannt. Die Ausschreitungen in der Stadt hielten über Wochen an. Fast 900 Demminer nahmen sich das Leben. Die meisten von ihnen er-tränkten sich in den Flüssen Peene und Tollense. Der Zeitzeuge Heinz-Gerhard Quadt erinnert sich: „Noch nach Wochen trieben hier die Leichen an, blau, aufgedunsen, verfin-gen sich im Schilf und am Ufer des Flusses. " Als die sowjetischen „Befreier" einmarschierten, hatten die Einwohner Dem-mins Fürchterliches zu ertragen. Heinz-Gerhard Quadt berichtet: „Meine Schwester war die Erste, die vergewaltigt wurde, und da hat meine Mutter Angst gehabt, dass sie überhaupt nicht mehr lebt. Und da haben wir immer wieder versucht, an der Tür mit ihr zu sprechen und haben gerufen:

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'Antworte doch bitte.' Doch sie gab keine Antwort. Da sagte meine Mutter: 'Sie ist bestimmt schon tot.' Aber zum Glück kam sie am Morgen doch lebend wieder raus (...). Eine alte, eingesessene Demminer Handwerker- und Geschäftsfamilie band sich mit ihren Kindern aneinander, es waren der alte Herr mit seiner Frau, der Sohn dazu mit Frau und fünf Kindern. Neun Personen. Sie gingen anei-nander gebunden voller Verzweiflung in die nahe Tollense (...). Pfarrer Wessels ging in den ersten Maitagen hier auf den Friedhof und fand eine Frau mit ihrem Kind tot vor. Und daneben zwei kleine Jungen, die jam-merten. Es stellte sich heraus: Die Mutter hatte die ganze Familie vergiftet, bei den beiden Jungen hat das nicht so gewirkt und sie erwachten nun und hatten neben sich die tote Mutter. " Die Leichen von Demmin wurden in einem Massengrab beigesetzt. An das Grauen erinnert bis heute keine Gedenktafel, kein Schulbuch erwähnt den wohl größten Massenselbstmord der deutschen Geschichte, was für bundes-deutsche Verhältnisse leider charakteristisch ist.

Auch Gerhard Maaß erlebte den Terror der Roten Armee. Hier sein bisher un-veröffentlichter Erlebnisbericht: „In Mecklenburg-Vorpommern liegt an der Peene ein kleines Landstädtchen namens Loitz. Die Peene ist ein Fluss, der vom Kummerower See zum Klei-nen Stettiner Haff führt. Hier wohnte die Schwester meines Vaters, Frau Klara Krüger. Als die Front des Krieges vom Osten im Januar 1945 auf meine Heimatstadt Flatow/Grenzmark zurückte und die Evakuierung der Bevölkerung befohlen wurde, bestimmte mein Vater Loitz als Treffpunkt der Familie. Der Treff-punkt war gut gewählt, denn an Loitz ist der Krieg vorbeigegangen, es fan-den keine Kampfhandlungen statt. Ich selbst erlebte das Kriegsende als Soldat in der Nähe von Rostock. Wie ich der Gefangenschaft entkommen konnte, ist ein gesondertes Kapitel. Es ist wohl meiner körperlichen Spätentwicklung zu danken, dass ich auf der Flucht nicht aufgegriffen wurde. Mit meinen damals 17 Jahren wirkte ich etwa 15 Jahre alt. Auch half mir die Zivilkleidung, die mir eine Frau von ihrem gefal-lenen Mann gegeben hatte. Zwar war mir der Anzug mindestens drei Num-mern zu groß, aber das ließ mich noch jünger erscheinen. Überall auf der Straße wurden wir von russischen Soldaten angehalten, durchsucht und ausgeplündert. Die Fragen ,Dokument?' und ,Uri, Uri?'

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klingen mir heute noch in den Ohren. Ein Kamerad aus meiner letzten Kampfeinheit hatte sich mir angeschlossen. Er war nicht älter als ich. Eigentlich wollten wir nach Westen. Diesen Plan gaben wir jedoch auf, als wir erfuhren, mit welchen Schwierigkeiten das Passieren der Elbe verbunden sei. Auf halbem Wege machten wir kehrt, und ich schlug vor, nach Loitz zu gehen. Mein Kamerad kam mit, er wollte später nach Leipzig, wo er Verwandte hatte. Ende Mai 1945 kamen wir in Loitz an. Wenige Tage darauf kamen meine Mut-ter und mein Bruder aus Boldewitz auf Rügen in verstörter Verfassung eben-falls hier an. Mein Vater hatte nach seiner Flucht aus Flatow um eine Förs-terstelle nachgesucht und sie auf Rügen gefunden. Am 8. Mai tauchten die ersten Russen auf. Im Vertrauen darauf, dass die Sieger zivilisierte Men-schen seien, hatte mein Vater seine Forstuniform und sein Jagdgewehr behal-ten. Uniform und Gewehr genügten, um ihn einfach zu erschießen. Meine Mutter und mein Bruder sind daraufhin in Panik geflohen. In den Wirren der Zeit wussten wir nun nicht, wie es weitergehen sollte. Die Beschlüsse von Jalta und was die Sieger sonst noch mit dem geschlagenen Deutschland vorhatten, waren uns nicht bekannt. Eines schien uns jedoch selbstverständlich, nämlich dass wir Flüchtlinge alle wieder in unsere Heimat zurückkehren würden. Noch waren die Straßen zu unsicher, aber bei unserer Tante konnten wir auf Dauer nicht bleiben. Ihr Haus war voll belegt, und sie selbst hatte nur zwei Zimmer. Dort hausten wir damals mit acht Personen. Die Tochter meiner Tan-te war mit drei Kindern aus Rosenberg in Ostpreußen geflohen und hatte ebenfalls hier Unterschlupf gesucht. Es war eine schlimme Zeit. Die Versorgung der Bevölkerung war auf allen Gebieten zusammengebrochen. Der Hunger war groß. Wir waren ständig auf der Suche nach etwas Essbarem. Brennnessel und Melde waren meist die einzige Ausbeute. Daraus wurde eine Suppe gekocht. Eine Zeitung gab es da-mals nicht. Rundfunkgeräte mussten abgegeben werden, sie waren 'Kriegs-beute'.

Typhus grassierte in zunehmendem Maße

Die Russen bildeten eine neue Stadtverwaltung. Im Wesentlichen bestand sie aus ehemaligen KZ-Häftlingen und Altkommunisten. Bekanntmachungen wurden durch Ausruf unter die Bevölkerung gebracht. Ein Stadtdiener ging

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mit einer Glocke durch die Straßen, blieb von Zeit zu Zeit stehen und las ei-nen Zettel vor. In den meisten Fällen ging es um Verhaltensweisen der Bevöl-kerung unter den gegenwärtigen Bedingungen, Meldepflichten und Anord-nungen des sowjetischen Stadtkommandanten. Auch wurden Richtlinien zur Hygiene ausgerufen, denn Typhus grassierte in zunehmendem Maße. An vie-len Haustüren sah man ein Schild mit der Aufschrift, Typhus - Betreten ver-boten ' in deutscher und kyrillischer Schrift. Todesfälle waren an der Tages-ordnung. Im Juni 1945 rief dann der Stadtdiener eines Tages sinngemäß et-wa Folgendes aus: Die Flüchtlinge in Loitz hätten binnen 24 Stunden die Stadt zu verlassen. Man könne die vielen Flüchtlinge nicht mehr ernähren, sie sollten in ihre Heimat zurückkehren. Im Peenehafen lägen drei Schleppkäh-ne bereit. Wer nicht freiwillig ginge, würde von der Polizei geholt. Ich selbst habe die Nachricht freudig aufgenommen. Endlich sollte es nach Hause gehen. Sorgenvoll dachte ich aber auch an die Gefahren der Straße, ich hatte sie vor kurzem kennengelernt. Überall lauerten Räuberbanden. Nun, nehmen konnte man uns nicht viel, wir besaßen ja kaum noch etwas. Aber schikanieren würde man uns. Ich glaubte damals, dass es gut sei, möglichst zeitig zurückzukehren, um zu Hause einigen Besitz retten zu können. Nach meiner Vorstellung müssten die geräumten Gebiete so gut wie menschenleer sein. Wer sollte sich dort aufhalten außer ein paar russischen Besatzern und den Wenigen, die nicht geflüchtet waren ? Auch wir hatten unsere Großeltern zurückgelassen. Die Geschäftsleute Wilhelm und Bertha Riek waren schon damals beide über 80 Jahre alt und so gebrechlich, dass sie die Strapazen einer Flucht nicht mehr auf sich nehmen wollten. Sie waren gut mit Lebensmitteln versorgt worden, und wir machten uns keine großen Sorgen um sie. Wer würde sich schon an zwei alten Leuten vergreifen? -Gewiss, Alter und Gesundheit der beiden waren schon Gründe genug für meine Mutter, so schnell wie möglich nach den Eltern zu sehen. Am folgenden Tag nach dem genannten Aufruf der Stadtväter ging dann die Reise auf der Peene los. Rund 2.000 Menschen sollen es gewesen sein. Die drei Lastkähne waren gedrängt voll. Es war ein wunderbarer Sommertag, laue Luft und Sonnenschein. Wer aber hatte ein Auge für die Schönheiten der Natur in den Peenewiesen und die Romantik solch einer Reise? Mit wehmütigen Gefühlen saßen wir da, jeder war mit sich beschäftigt, mit seiner gegenwärtigen Lage und mit der ungewissen Zukunft. Das Ziel der Schiffsreise war Anklam. Die Schleppkähne kamen nur langsam voran. Als sich der Abend ankündigte, musste der Konvoi vor Anker gehen.

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Eine Anlegestelle war nicht da, wir blieben auf offenem Wasser. Es war Sperrstunde, sie ging von 20.00 bis 6.00 Uhr. Da ruhte jeder Verkehr. Unser Kahn, der ja zum Transport von Lasten gedacht war, hatte weder ein schützendes Dach, noch reichte der Platz, um sich zur Nacht ein wenig aus-zustrecken. Dicht gedrängt saßen wir nebeneinander. Wir sahen die Sonne dem Horizont zuwandern. An uns vorbei trieb wieder einmal etwas, was man für einen vollgestopften Sack oder ein Kleiderbündel hätte halten können. Niemand sagte ein Wort, je-der wusste, was da schwamm. Schon tagelang hatte man in Loitz Wasserlei-chen vorbeitreiben sehen. Sie kamen von Demmin. Was war dort geschehen ? Russen hatten die Stadt angezündet und die Bevölkerung terrorisiert. Damals ging das Gerücht, Werwölfe hätten Widerstand geleistet. Erst nach der 'Wen-de' erfuhr ich durch eine Reportage im Deutschlandfunk vom 22.01.1994 mit Heino Schönberg sinngemäß folgende Darstellung: Nach dem Einmarsch der Russen hätte eine Apothekerfrau russische Offiziere zum Abendessen eingeladen und vergifteten Wein dazu gereicht. Als die Gäste davon getrunken hatten, fielen sie tot um, auch das Apotheker-Ehepaar. Danach zündeten die Russen Demmin an allen Enden an und plünderten. In Angst und Panik begingen 900 Demminer Bürger Selbstmord.

Es roch nach verbranntem Fleisch

Als ich mich Ende Mai 1945 auf dem Wege nach Loitz befand, führte dieser auch über Demmin. Ich hatte das Gefühl, dass hier etwas Schreckliches pas-siert sein müsse. Große Flächen der Innenstadt lagen in Trümmern, aus de-nen noch Rauch aufstieg. Es roch brenzlig, auch nach verbranntem Fleisch. Schaudernd erinnerte mich dieser Geruch an das Bombeninferno in der Stadt Königsberg in Ostpreußen, wo viele tausend Menschen den Flammen-tod gefunden hatten. Unser Weg führte uns über die Peenebrücke. Dort standen russische Posten. Diese verhielten sich gefährlich aggressiv. Jeder Passant wurde durchsucht und beraubt. Ich hatte kein Gepäck mehr, doch diesmal wurde ich mein Ziga-rettenetui los. Es war aus Holz, wie man es im Kriege in den Wehrmachtkan-tinen als ,Marketenderware' erwerben konnte. Auch unser Fahrrad wurde einkassiert. So kamen wir in Loitz buchstäblich mit leeren Taschen an. Nicht einmal meine Kleidung war vollständig. Was den Russen gefiel, das mussten wir ausziehen. Dazu gehörten auch meine Kommissstiefel.

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Am nächsten Tag ging die Kahnfahrt weiter. Erst am Nachmittag kamen wir an eine Stelle, wo wir anlegen konnten. Es war höchste Zeit, viele litten an Durchfall, eine Begleiterscheinung der mangelhaften Ernährung. Am dritten Tag erreichten wir Anklam. Nach Verlassen der Schiffe strebten wir dem Bahnhof zu. In der Stadt rauchten noch vereinzelt einige Trümmer-haufen, und es lag ein brenzliger Geruch in der Luft. Es ruhten schon seit zwei Monaten die Waffen. Wurden auch hier noch Rachegelüste befriedigt? Es gab noch keinen normalen Zugverkehr. Auf den Gleisen standen Güterwa-gen. Wir wussten, dass die Wagen, die mit Schienen beladen waren, bald in Richtung Osten rollen würden. Der Bedarf an Schienen war in Russland groß, der Krieg hatte viele Gleisanlagen zerstört. Nebenstrecken und Zweit-gleise wurden rücksichtslos demontiert. Also kletterten wir auf einen offenen Wagen, der mit Schrauben und Verbindungsstücken beladen war, ließen uns nieder und warteten. Es dunkelte schon, als ein Rangiermanöver begann, da-rauf ging die Reise los. Am anderen Morgen erkannten wir die Silhouette von Stettin. Wir passierten das Oderdelta. An einer Stelle musste der Zug im Schritttempo fahren. In der Nähe waren deutsche Kriegsgefangene bei der Demontage von Gleisanlagen. Spontan ergaben sich Solidaritätsbekundungen durch Winken und Zurufe. Das reizte die sowjetischen Bewacher, sie reagierten wütend mit Flüchen und Drohungen. Als immer noch winkende Hände zu sehen waren, bellten Kala-schnikows ihr hartes ,tak-tak-tak'. Wir duckten uns. Ob jemand getroffen wurde, konnte ich nicht feststellen. In Stargard verließen wir den Güterzug. Auf dem Gebiet östlich der Oder hat-ten die Polen zum Teil schon Personenverkehr eingerichtet. Das neu gewon-nene Land sollte so schnell wie möglich durch ihre Landsleute besiedelt und der Prozess der Annexion unumkehrbar gemacht werden. Das wussten wir damals aber nicht, ahnten es bestenfalls.

Wie Freiwild behandelt

Über Nacht kamen die Räuber. Zivilisten sprachen uns an. Stellten sie fest, dass wir Deutsche waren, wurden wir wie Freiwild behandelt. Man beraubte uns oder verging sich an den Frauen. Die Horden kannten kein Schamgefühl. Am nächsten Morgen endete die Fahrt in Deutsch-Krone. Nun orientierten wir uns, wie wir nach Schneidemühl kommen konnten. Unter den Flüchtlingen gab es immer einige, die sich auskannten. Wir suchten den Bahnsteig auf

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und warteten auf den nächsten Zug. Ein Trupp junger Polen in Zivil, aber mit geschulterten Gewehren, kam auf uns zu. 'Mitkommen!' lautete der Befehl. Nichts Gutes ahnend, trotteten wir hinter ihnen her. Der Weg führte aus der Stadt heraus und endete auf einem Gutshof. Hier hatten sich Polen eingenis-tet. Im Haus und auf dem Hof sah man das Chaos vorangegangener Plünde-rungen. Die neuen Besitzer waren zu faul, selbst Ordnung zu schaffen. Dafür gab es ja Deutsche als billige Arbeitskräfte! (...) Nun waren wir Verfolgte und Unterdrückte im eigenen Land. Von ande-ren deutschen Mitbürgern wurden wir darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns durch Tragen einer weißen Armbinde kenntlich zu machen hätten. Auch müssten wir die nächtlichen Ausgangssperren beachten. Des Weiteren müssten wir uns jeden Morgen zur Arbeit stellen. Wer Anordnungen nicht Fol-ge leistete, musste mit Internierung rechnen. Viele Deutsche wurden schon in dem Barackenlager festgehalten, das während des Krieges auf dem Gelände zwischen Bahnhof und Volksschule für Wehrmachtzwecke errichtet worden war. Den Gerüchten zufolge soll die Behandlung der deutschen Insassen durch polnische Aufseher den Methoden in den NS-Konzentrationslagern nicht nachgestanden haben."

So erlebte der Zeitzeuge Hansjürgen Venzke die „Befreiung" im Frühjahr 1945: „Meine Heimatstadt Lauenburg/Pommern wurde von den Russen besetzt. Da-mit ging meine Zeit als 11-jähriger Pimpf im Deutschen Jungvolk zu Ende. Lauenburg fiel kampflos. Die dort in Stellung gelegenen SS-Verbände hatten sich in der Nacht zuvor Richtung Oder-Front abgesetzt. Die ersten Russen, die in unsere Büchnerstraße einbogen, waren Reiter, Kalmücken auf struppigen, verdreckten Pferden. Der erste Tote, den ich sah, war ein junger deutscher Soldat, der aus einem Hauseingang flüchtete und mit MP-Salve hinterrücks erschossen wurde. Er lag dort mindestens drei bis vier Tage am Straßenrand. Dann kamen die ersten Russen in unser Sechs-Familien-Haus Nr. 4 und auch in den Luftschutzkeller, wo sich alle Hausbewohner, einschließlich der Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen, versammelt hatten. Es waren baumlange Kerle in weißen Tarnanzügen. Sie fragten nach deutschen Soldaten und verlangten dann:, Uri, Uri!' Dabei sahen wir, dass manche von ihnen an beiden Armen jeweils drei bis vier Uhren trugen. So ging das in der Wohnung nun Tag und Nacht weiter. Eine Russen-Gruppe ging, nachdem sie die Schränke durchwühlt hatte, alles herausgerissen und zertrampelt war und geraubt wurde, was gefiel, und die nächste Soldatenhor-

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de kam. Türen durften niemals geschlossen sein; sie wurden sofort eingetre-ten oder zerschossen. Am schlimmsten gebürdeten sich dabei die Flintenwei-ber, die offenbar zu jeder Russenbande gehörten. Mein langjähriger Klassen-lehrer wurde in der Küche seiner Wohnung im Beisein seiner Frau erschos-sen, weil er den Russen keine Uhr mehr geben konnte. Seine Beteuerungen, dass andere russische Soldaten bereits alle Uhren weggenommen hatten, nützten nichts. Im Nachbarhaus hing morgens ein Mann aus einem Fenster im dritten Stock, der sich am Fensterkreuz erhängt hatte. Als wir in das Zimmer kamen, glotzte er uns mit heraushängender Zunge an. Wir durchschnitten das Seil und er schlug im Hof auf.

Bewohner gezielt abgeschossen

Ein grausiges Ereignis war die Zerstörung der Stadt. Lauenburg war zum Zeit-punkt der Besetzung unzerstört. Dennoch lagen drei Wochen später 70 bis 80 Prozent in Schutt und Asche. Dabei gingen die Russen äußerst systematisch vor. Eine Gruppe durchsuchte die Häuser und Wohnungen nach Waffen, Uniformtei-len, Bildern, Fahnen und dergleichen und warf solche vorgefundenen Gegen-stände auf die Straße; eine zweite Gruppe, mit drei Panzern des Typs T-34, schoss sodann diese Häuser in Brand. Bewohner, die versuchten, aus Türen, Fenstern und über Dächer zu entkommen, wurden von Begleitinfanterie gezielt abgeschossen. Überall lagen die Toten. So blieb kaum ein Haus verschont; denn in welchem Haushalt befanden sich damals keine NS-Utensilien, und wenn es auch nur die Bilder von gefallenen Angehörigen in Uniform waren? Le-diglich die Gebäude am Stadtrand blieben weitgehend unzerstört; dort befan-den sich Schulen, Dienstgebäude und dergleichen, die von den Russen selbst als Truppenunterkünfte, insbesondere auch als Lazarette, genutzt wurden. Um die Versorgung der verbliebenen deutschen Bevölkerung kümmerte sich niemand. Wir waren vogelfrei. Deutsche wurden auf der Suche nach etwas Essbarem erschossen und lagen tage- und wochenlang in Häusern und auf der Straße, bis sich mutige Landsleute erbarmten und die Leichen heimlich auf dem Friedhof vergruben. Wie haben wir, das sind meine Mutter, mein vier Jahre jüngerer Bruder und etwa sieben bis acht Flüchtlinge aus Ostpreußen, die in unserer Wohnung un-tergekommen waren, trotzdem überlebt? Dafür war vor allem ich zuständig. Von morgens bis abends war ich unterwegs auf der Suche nach Essbarem, in Kellern, verlassenen Wohnungen und in russischen Lazaretten. Ein bevorzug-

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tes Ziel meiner Streifzüge war meine ehemalige Volksschule, die Hans-Schemm-Schule, die als Lazarett diente und wo ich mich bestens auskannte. Also schlich ich mich in den Gebäudekomplex, huschte durch die weiten Gänge und suchte einen Saal mit Schwerverwundeten. Befanden sich dort keine Ärzte, Sanitäter oder Schwestern, nahm ich von den Tischen und Nachtti-schen herumliegendes Brot und angebrochene Konserven und stürzte da-von. Die Verwundeten auf ihren Feldbetten konnten mir ja nichts anhaben. Man mag fragen, wie es möglich war, in solche Lazarette hineinzukommen. Natürlich standen dort Wachposten. Aber zu dieser Zeit geschah Kindern im Allgemeinen nichts mehr; sie konnten sich ziemlich frei bewegen. Stalin hat-te nämlich vor, Kinder verstärkt in die Sowjetunion zu deportieren, um sie dort zu Kommunisten umzuerziehen. Einmal habe ich auf der Straße in einem Berg aus Schutt und Gerumpel eine ganze Speckseite entdeckt; sie sah sehr unappetitlich aus, groß wie eine kleine Tischplatte, dünn wie Pappe; es war nämlich ein Panzer darüber gefahren, und unmittelbar daneben lag die auf-gedunsene Leiche eines Zivilisten, dessen Kopf ebenfalls von Panzerketten zermalmt worden war. Ich schleppte die zerquetschte Speckseite nach Hause, meine Mutter ließ sie aus, und wir hatten einen großen Topf Schweine-schmalz. Ein anderes Mal gelang es mir, beim Schlachten von Schweinen und Kühen einen ganzen Kuhkopf zu ergattern, den die Russen einfach weggewor-fen hatten. Da ich ihn mit meinen 11 Jahren nicht tragen konnte, schleifte ich den Kuhkopf an den Hörnern durch mehrere Straßen bis nach Hause. Heute noch klingt mir in den Ohren, was eine der Flüchtlingsfrauen aus Ostpreußen mit ostpreußischem Einschlag sagte, wenn ich wieder etwas Essbares an-schleppte: ,Sorjet nicht für morjen, der liebe Jott wird schon machen.' Eines Tages war meine Mutter weg, einfach verschwunden. Erst nach vielen bangen Stunden tauchte sie wieder auf. Die Russen hatten alle Deutschen, die sie irgendwo antrafen, auf dem Marktplatz zusammengetrieben, um sie nach Russland zum Arbeitseinsatz abzutransportieren. Auf ihr flehentliches Bitten wegen ihrer zwei Kinder hatte ein Wachposten ihr erlaubt, aus der Menge zu verschwinden. Von Bekannten und Nachbarn in der Menge haben wir nie wie-der etwas gehört.

Mörder, Plünderer, Verbrecher jeder Art

Allmählich kamen nun immer mehr Polen nach Lauenburg. Wir kannten die Polen zur Genüge. Lauenburg war eine Grenzstadt gewesen; mein Vater war

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beim Zollgrenzschutz. Was aber jetzt einsickerte, war die allerunterste Schicht: Mörder, Plünderer, Verbrecher jeder Art. Sie nahmen uns nun das Letzte, was wir noch hatten, weg. Wiederum gehörten die Weiber zur gemeins-ten Sorte. Wie oft bin ich, wenn wieder Plünderer unsere Wohnung durch-wühlten, auf die Straße zum erstbesten Russen gelaufen und habe ihm zuge-rufen: , Towarisch, Polski zapzerapp.' Alle so angesprochenen Russen nahmen sofort ihre Trommel-MP, ohne die man keinen Russen sah, von der Schulter und stürmten mir nach. Dann sauste der MP-Kolben auf polnische Rücken nieder, und die Plünderer verschwanden. Russen und Polen waren wie Hund und Katze zueinander. Allerdings kam dann meistens das dicke Ende, wenn die Russen weg waren und die Polen später zurückkamen und dann umso stärker wüteten. Einmal setzte mir ein Pole die Pistole an die Schläfe und wollte mich - im Beisein meiner Mutter und meines Bruders - erschießen. Nur ein zufällig auftauchender Russe verhinderte das. Nach und nach begannen die Polen damit, Vertreibungstransporte zusammenzustellen. Im September 1946 war es dann auch für uns soweit: Innerhalb von 30 Minuten mussten wir das uns von unserer schönen Wohnung noch verbliebene Mansardenzimmer verlassen und wurden beim Bahnhof mit vielen anderen Deutschen zusammengetrieben. Dort wurde das wenige Handgepäck, das man mitnehmen durfte, von wüst aussehenden Polen mit roten Armbinden auf einen großen Haufen gekippt und durchwühlt. Alles, was ihnen gefiel, wurde weggenommen. Besonders brutal verhielten sich diese Polen, als sie ein paar Bilder von meinem Vater in Zolluniform fanden. Offenbar dachten sie an SS oder SD; die Bilder waren in Ostpolen zwischen Bug und Narew aufgenommen worden. Wütend zerrissen die Polen alle unsere Dokumente. So habe ich auch keine Geburtsurkunde mehr und hatte Schwierigkeiten bei mei-ner späteren Einstellung in der Bundeszollverwaltung. Jeweils etwa 60 Per-sonen wurden in Güterwagen ohne Stroh und mit lediglich einem Blecheimer für die Notdurft gepfercht. Nach endloser Wartezeit fuhr der Zug im Schritt-tempo durch Pommern in Richtung Stettin. In jedem Waggon saß am Einstieg eine Art bewaffneter Bandit, der vorgab, uns vor anderen Banditen zu be-schützen. Dafür verlangte er Schmuck, Uhren und dergleichen. Das wieder-holte sich alle paar Stunden etwa sieben Tage lang. Erst allmählich merkten wir, dass diese so genannten Beschützer sich ständig abwechselten und immer erneut Wertsachen verlangten. Auf der Fahrt starben zahlreiche Menschen, vor allem Alte und Kleinkinder. Da der Zug auf freier Strecke immer wieder anhielt, wurden die Leichen notdürftig am Bahndamm begraben. Irgend-

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Der Güterbahnhof im ostpreußischen Königsberg. 1948 erfolgten hier die letzten Vertreibungen.

wann kam auch dieser Zug in dem großen Auffanglager in Stettin-Scheune an. Drei Wochen lang hausten wir in den riesigen Gebäuden in Räumen regel-recht zusammengepresst, so dass alle nur im Sitzen hineinpassten. Dann er-folgte der Abtransport in Richtung Westen bis nach Lübeck-Pöppendorf, wo mein Bruder und ich mit Ruhr ankamen und sogleich nach Lübeck ins Kran-kenhaus gebracht wurden. Der Transport von Stettin nach Lübeck erfolgte nicht mehr in den dreckigen Güterwagen, sondern in D-Zug-Wagen 1. Klasse. Damit wollten die Polen bei der Übergabe an die Engländer offenbar zeigen, wie human sie die Deut-schen behandelten. Eine letzte Lüge bei den Vertreibungsverbrechen."

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„Du deutsch, du raus!"

Die Vertreibung der Sudetendeutschen

Das Sudetenland wird auf drei Seiten von Gebirgszügen umschlossen: Im Südwesten vom Böhmerwald, im Nordwesten vom Erzgebirge, im Nordos-ten vom breiten, tief eingeschnittenen Wall der Sudeten. Dieses Gebiet um-fasst eine Fläche von 27.000 Quadratkilometern.

Die Geschichte der Sudetenländer beginnt schon in der keltischen Zeit: In der Antike ließen sich um das Jahr 400 vor Christus die keltischen Bojer am Un-terlauf der Iser nieder. Nach den Kelten wanderten germanische Stämme nach Böhmen ein, denen nach Abgang eines großen Teils dieser Germanen slawische Tschechen folgten. In der Zeit des ersten deutschen Reiches unter-stützten die Böhmen, die die Reichshoheit anerkannten, das Kaisertum und riefen deutsche Siedler ins Land. Ab 1306 regierten aus dem Hause Luxem-burg die deutschen Kaiser auf dem Hradschin in Prag. Nach den Hussiten-kriegen, die das ganze Land verwüsteten, geriet Böhmen 1526 in den Herr-schaftsbereich der Habsburger. 1918 wurde das Gebiet der neugegründeten Tschechoslowakei zugeschlagen. Durch das „Münchner Abkommen" zwischen Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland kam das Sudetenland am 29. September 1938 wie-der „heim ins Reich". Der „Anschluss" an das Deutsche Reich wurde von der Bevölkerung als Befreiung von Fremdherrschaft und Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker enthusiastisch begrüßt. Die Vertreibung der Sudetendeutschen spielte sich seit Frühjahr 1945 anders ab, als die Vertreibung der übrigen Deutschen aus den östlichen Reichsgebieten. Hier kam es nicht zu einer überstürzten Flucht der Bevölkerung vor ihren „Befreiern", sondern das Gebiet, in dem die Sudetendeutschen ansässig waren, war von alliierten Truppen eingekreist worden und wurde von ihnen besetzt, ohne dass die Deutschen aus dem besetzten Gebiet fliehen konnten. Während im Westen Böhmens unter US-Besatzung wenigstens einigermaßen erträgliche Verhältnisse herrschten, bis die „Aussiedlung" durch die Tsche-chen begann, herrschte in dem von der Roten Armee besetzten Gebiet das nackte Faustrecht, das von den kommunistisch geführten tschechischen Na-tionalausschüssen und „Roten Garden" ausgeübt wurde. Diese Terrorgruppen

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Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland.

hatten sich nach dem 8. Mai 1945 gebildet und gaben sich als „Partisanen" aus, obwohl sie nie gegen einen bewaffneten Gegner kämpften. Ein tragischer Höhepunkt dieser Phase der Vertreibung war der „Todesmarsch von Brunn". Im Mai 1945 forderten die Brünner Revolutionsgardisten die Abschiebung aller Deutschen aus der Stadt. Am 29. Mai organisierten sie im gesamten Stadtgebiet Razzien und forderten die Deutschen ultimativ auf, sich am nächsten Tag im Altbrünner Klostergarten zu versammeln. In langen Reihen fanden sich daraufhin am 30. Mai knapp 30.000 Deutsche (vorwiegend Frauen, Kinder und Greise) auf der Straße ein, die den Befehl zum Abmarsch nach Österreich erhielten. Der Marsch geriet zur Tortur, etwa 1.700 Menschen kamen dabei ums Leben.

Steffi Fischer gehörte zu jenen Zeitzeugen, die die „humane" Ausweisung aus ihrer Heimat erlebten. Sie beschreibt den „Brünner Todesmarsch" so: „Um 18 Uhr kam der tschechische Blockwart in meine Wohnung, Falkenstei-nergasse 30, und ordnete an, dass um 20 Uhr alle deutschen Mietparteien im Hause marschbereit sein müssten, da wir Deutsche für drei Tage in ein Lager abtransportiert würden. Er betonte ausdrücklich, dass es höchstens für drei

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Tage in ein Lager gehe und wir nichts mitnehmen sollten, da jede Belastung überflüssig sei. Auf unsere Bitte, er möge doch die Wahrheit sagen, betonte er nochmals mit Nachdruck, dass das Lager nur 14 Kilometer von Brunn ent-fernt sei und wir ohne Sorge sein sollten, da die Wohnungen inzwischen be-wacht würden und wir alles so vorfänden, wie wir es verlassen hätten.

Ihr deutschen Schweine!

Um 21.30 Uhr wurden wir von einigen halbwüchsigen Burschen mit Geweh-ren durch die Hauptstraße zur Polizeidirektion geführt, wo wir uns auf dem Gehsteig niederlassen mussten. Nun wurden wir unter Drohung des Erschie-ßens aufgefordert, Geld und Sparkassenbücher abzugeben. Hierauf wurden wir durch abgelegene Straßen Brunns in Richtung Wiener Straße geführt und einige Male von Partisanen um das Wenige, was wir jeweils noch trugen, beraubt. So ging das die ganze Nacht durch. Erst um 7 Uhr erreichten wir den Brünner Zentralfriedhof, wo uns ein Begleitmann höhnisch zurief: ,Schaut euch noch einmal Brunn an, zurück kommt ihr nicht mehr! Wer zu-rückkommt, wird erschossen!' Jetzt erst wurde uns klar, dass wir ausgetrieben wurden, unserer ganzen Habe beraubt; nur das, was wir auf dem Körper trugen, war noch unser ei-gen. Ohne Rücksicht auf die Ermüdung der alten Leute wurden wir ausgetrie-ben, kaum eine kurze Essenspause wurde uns gewährt. Mit den Zurufen ,Ihr deutschen Schweine, weiter!' wurde hinter uns immer geschossen, und so ka-men wir mittags bei glühender Hitze in Raigern an. Hier wurden abermals unsere Rucksäcke durchwühlt und alles halbwegs Brauchbare mitgenom-men. Nachher ging es weiter nach Pohlitz. Viele Kinder und kranke alte Leute konnten nicht mehr weiter, wurden aber mit Fußtritten und Gewehrkol-benhieben zum Weitergehen gezwungen, bis sie entkräftet im Straßengraben zusammenbrachen. Auch ließ man sie nicht ruhig sterben. Sie wurden von den tschechischen Begleitmännern mit Fußtritten ins Jenseits befördert. Da bat ei-ne Tochter, bei der sterbenden Mutter im Straßengraben verbleiben zu dürfen, aber sie wurde mit den Worten ,Die Sau verreckt schon allein' von der ster-benden Mutter fortgezerrt und weitergetrieben. Auch wurde einer hoch-schwangeren Frau, die durch die Aufregung im Straßengraben gebar, das Kind aus dem Leibe getreten und sie musste selbst verbluten. Grausamkeiten über Grausamkeiten begleiteten uns, immer schütterer wurden unsere Reihen. Bei der Gluthitze wurde uns nicht einmal erlaubt, uns mit Wasser zu laben.

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Nicht einmal die Säuglinge durften von ihren Müttern gestillt werden. Eben deshalb sind auch unterwegs viele Säuglinge gestorben. Eine weinende Mut-ter bat die tschechischen Begleiter, ihr totes Kind irgendwo begraben zu dürfen, doch diese fassten das tote Kindlein bei den Füßen, warfen es in den naheliegenden Wald und trieben die heulende Mutter weiter. Von Hunger und Durst geplagt, bei strömendem Regen schleppten wir uns die Landstraße da-hin, bis wir um 20.30 Uhr in einem von Russen besetzten Ort ankamen. Bei unserer Ankunft fragten die russischen Mannschaften, wer wir denn seien. Da hörten wir einen Tschechen antworten: ,Das sind die Germanen, deren Män-ner in Russland eure Kinder ermordeten, eure Frauen entehrt und eure Häu-ser verbrannt haben.' Daraufhin wurden uns Schweine- und Pferdeställe zum Übernachten zugewiesen. Nach einer furchtbaren Nacht mussten wir am nächsten Tag weiter nach Niklosburg. Meine Mutter war so müde, dass sie kaum von einem Meilenstein zum anderen gehen konnte. Wie durch ein Wunder schleppten wir uns nach Muschau fort. Nach zwölf Tagen wurden wir an die österreichische Grenze gebracht, nochmals durchsucht, des Letzten beraubt, gänzlich mittellos über die Grenze hinter Nikolsburg abgeschoben und unserem Schicksal überlassen. Bei dem österreichischen Zollhaus bot sich uns ein Bild des Grauens. Der ganze Straßengraben war mit Leichen gefüllt, welche von der Hitze aufgedun-sen waren und einen Pestilenz-Geruch verbreiteten. So unmenschlich und grausam wurde ich mit meiner 75-jährigen Mutter unschuldig aus meiner Heimatstadt Brunn ausgetrieben, wo wir Generationen hindurch ehrlich und fleißig unser Brot verdient hatten und unser durch 20-jährige Arbeit erwor-benes Gut zurücklassen mussten."

Der KZ-Überlebende Josef Lecher schildert seine Internierung in einem tschechischen Lager und Gefängnis in einem bisher unveröffentlichten Erleb-nisbericht: „Nach viermonatiger Internierung im amerikanischen Hungerlager Hammel-burg wurde ich im September 1945 durch die tschechische Soldateska in mei-nem Heimatort Großsichdichfür verhaftet und im Ortsgefängnis eingesperrt. Die Internierung durch die amerikanische Besatzungsmacht erfolgte des-wegen, weil ich mich als Panzerschütze des Zweiten Weltkrieges nicht melde-te, die von den Amerikanern gesammelten Panzerfäuste zu entschärfen. Nach der Entschärfung dieser Waffen wurde ich in ein Militärfahrzeug geschleppt und kam über die Lager Königswart, Eger nach Hammelburg.

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Schon nach meiner Verhaftung wurde ich trotz meiner schweren Kriegsbe-schädigung schwer misshandelt und man schleppte mich bewusstlos in die Ar-restzelle. Um Mitternacht des gleichen Tages wurde ich brutal geweckt, gefes-selt und blutüberströmt auf einen Lastwagen geworfen. Die Fahrt führte nach Marienbad-Rennbahn. Diese früher bekannte Sportstätte war zu einem Internierungslager umfunktioniert worden. Dort standen schon im Eingangsbereich des Lagers die Wachposten mit Schlagwerkzeugen und schlugen wahllos auf die Ankömmlinge ein, bis diese zum großen Teil be-wusstlos liegen blieben. Anschließend zerrte man die bewusstlosen Men-schen in eine Lagerzelle und warf sie auf den blanken Fußboden.

Tägliche Misshandlungen

Als ich wieder einigermaßen meine Gedanken beisammen hatte, musste ich feststellen, dass ich mich mit 40 weiteren Insassen in einem Raum befand, in dem früher zwei Traberpferde untergebracht waren. Zuerst mussten die La-gerinsassen auf dem blanken Betonboden liegen, später stellte man Doppel-betten für vier Personen auf. Auch in diesen Betten musste man auf den blanken Brettern liegen. Das tägliche Lagerleben, soweit keine schweren Behinderungen vorlagen, war von Arbeitseinsätzen bestimmt. Ich wurde aufgrund meiner Behinderung nicht zum Arbeitseinsatz befohlen und musste so im Lager die täglichen Misshandlungen der Insassen miterleben. Freunde von mir, die bei der deut-schen Polizei waren oder als ,SS-Verdächtige' nicht im Arbeitseinsatz waren, wurden in der so genannten ,Tigerzelle' untergebracht und mit Ketten und Gewichten an den Füßen misshandelt. Leider sind diese Lagerinsassen durch die Misshandlungen sehr früh gestorben. Im Internierungslager Marienbad-Rennbahn gab es täglich ein Stück Brot mit schwarzem Getreidekaffee und nach der Rückkehr des Arbeitskommandos in den Abendstunden einen Teller Kartoffelbrühe mit ausgekochten Pferdekno-chen. Viele Lagerinsassen starben an den Misshandlungen und an Unterer-nährung. Leider konnte bisher nicht ermittelt werden, wo diese Toten ver-scharrt wurden. Der Wahrheit halber muss jedoch auch gesagt werden, dass bei dem häufigen Wechsel der Lagerleitung auch humane Lagerleiter dabei waren. Der un-menschlichste tschechische Kommissar war aber Hauptkommissar Kotesar. In der ersten Woche des Monats Februar 1946 wurde ich mit einigen bekann-

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ten Lagerinsassen von der Rennbahn Marienbad in das berüchtigte Kreisge-richt Eger verlegt. Ich bekam dort sofort ,Einzelhaft'. Beim ersten Verhör durch einen tschechischen Kommissar wurde mir eröffnet, dass Einzelhaft bis zur Verhandlung vor dem Volksgericht angeordnet wurde, weil ich in dem Ver-dacht stünde, 'Werwolf' gewesen zu sein. Täglich musste ich Kontrollen über mich ergehen lassen und bei jeder Kont-rolle musste ich laut melden, dass ich ein , Werwolf war. Bin ich dieser Mel-dung nicht nachgekommen, schlug man mich bis zur Bewusstlosigkeit. Die-se Misshandlungen musste ich vier Monate lang ertragen. Auch die Verpflegung im Kreisgericht Eger war mit Schikanen verbunden. Es wurden des Öfteren Fischspeisen als Mittagessen verteilt und nachher die Trinkwasserleitung abgestellt. Man kann sich wohl vorstellen, welche Qual die Lagerinsassen ertragen mussten. Bei vielen Insassen führte diese Qual zum Ableben. Es ist mir auch bekannt, dass im Kreisgericht Eger viele Todes-urteile vollstreckt wurden. Auch hier ist nicht bekannt, wo die Leichen ver-scharrt sind. Aufgrund der Beschuldigung als 'Werwolf' hatte ich mich schon auf eine lan-ge Haftstrafe eingestellt, die höchstwahrscheinlich zum Tode geführt hätte. Bei der Volksgerichtsverhandlung am 28. Mai 1946 hatte der tschechische Staatsanwalt die Anschuldigung als , Werwolf aufrechterhalten und eine lange Haftstrafe beantragt. Diesem Staatsanwalt muss ich auch durch sein Verhalten die schwere Misshandlung zuschreiben. Da ich der in tschechischer Sprache geführten Volksgerichtsverhandlung nur teilweise folgen konnte, musste ich entnehmen, dass der Vorsitzende meine Dienstzeit bei der tschechischen Armee in den Jahren 1936 bis 1938 beim Grenzjägerbataillon 11 in Parkan würdigte, und nach der Verhandlung konnte ich erfahren, dass er selber zu dieser Zeit Angehöriger dieser Einheit war. Zu meiner Freude und Überraschung lautete das Urteil 'Freispruch'. Ich durfte innerhalb einer Stunde das Kreisgericht Eger verlassen. Zu meiner Dienstzeit beim tschechischen Militär muss ich noch erwähnen, dass ich im April 1938 in die Garnison Chust/Karpatorussland verlegt wurde. Durch das Münchner Abkommen im Jahre 1938 mussten alle Sudetendeutschen, die beim tschechischen Militär oder in Gefängnissen waren, auf Wunsch sofort freigelassen werden. Da wir als ehemalige tschechische Soldaten seit Monaten zu den Verwandten keine Verbindung hatten, bekamen wir zur Heimfahrt alte Militärkleidung. Während der Fahrt in die Heimat mussten wir feststellen, dass die tsche-

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chische Bevölkerung über diese Maßnahme informiert war: Auf den Bahnhö-fen Preßburg, Brunn, Prag und Pilsen wurden wir bespuckt und mit Steinen beworfen, so dass wir entlassenen Soldaten mit blauen Flecken und offenen Wunden in das Auffanglager Mies kamen. Durch die Misshandlungen während meiner Internierung wurden mir Zähne eingeschlagen (Zahnersatzträger) und mein Gehör wurde schwer geschädigt, so dass ich ein Hörgerät tragen muss. Nach meiner Entlassung aus dem Kreisgericht Eger war ich noch vier Wo-chen in meinem Heimatort, da meine Familie bereits ausgesiedelt bzw. ver-trieben war. Unsere Wohnung war bereits beschlagnahmt und ich konnte keine Kleider oder Wäsche mitnehmen. Im Vertreibungslager Königswart wurde mir ein Rucksack mit Kleiderresten ausgehändigt, damit ich die vorge-schriebenen 30 Kilogramm mit über die Grenze brachte. Das Geschehene kann man wohl verzeihen - aber nicht vergessen!"

Hier der bisher unveröffentlichte Bericht von Ludwig Walter, der die „Befrei-ung" wie folgt erlebte: „Am 8. Oktober 1945 früh um 6 Uhr erhielt unsere Mutter den Vertreibungs-befehl: ,(...) zu melden mit Handgepäck auf dem Marktplatz.' Zu unserer Ko-lonne gehörten ca. 100 Personen. Das Gepäck wurde auf ein Pferdefuhrwerk geladen. Darauf durften einige ältere Personen noch Platz nehmen. Die un-ter Bewachung stehende Kolonne setzte sich dann in Richtung der Kreisstadt Komotau in Marsch. Wir hatten alle große Angst, da wir von dem Massaker wussten, das die Tschechen an Deutschen auf dem Jahnturnplatz am 9. Juni 1945 verbrochen hatten. Wir aber mussten auf dem Marktplatz Aufstellung nehmen. Dort standen in langen Reihen Tische. Hier wurde unser Gepäck durchsucht: Wertgegen-stände, Geld, gute Garderobe etc. wurden weggenommen. Anschließend wur-den wir zum Bahnhof getrieben und in offene Güterwagen gepfercht. Wir hat-ten Glück: Unsere Familie wurde nicht getrennt. Obwohl die Entfernung von Komotau nach Slany (Schlan) nur ca. 60 Kilometer beträgt, brauchte un-ser Transport anderthalb Tage. Die dortigen Bauern suchten nun für sich Ar-beitskräfte aus. Unsere Familie blieb übrig. Wer nimmt schon eine Frau mit fünf Kindern? Der Großbauer Pokorny aus dem Nachbardorf Vitov hatte sich bei der Auf-stellung der Arbeitskräfte verspätet und wollte schon wieder umdrehen. Da unsere älteste Schwester tschechisch sprechen konnte, überzeugte sie ihn, uns

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doch mitzunehmen, da unsere Mutter als Schneiderin nützlich sein konnte. Wir bekamen bei Pokornys im Gesindehaus einen Raum ohne Möbel und hausten dort auf dem blanken Fußboden. Im Winter bekamen wir pro Woche einen einzigen Eimer Kohle zum Heizen.

Wir mussten stets die weißen Armbinden tragen

Unsere Mutter und die älteste Schwester mussten die ganze Woche auf dem Bauernhof arbeiten. Mutter ging am freien Sonntag zu den Leuten im Dorf zum Nähen, um so zusätzlich Geld und Lebensmittel zu erhalten. Walfried musste, wenn keine Feldarbeiten anlagen, im Schweinestall arbeiten. Ludwig mit seinen neun Jahren war z.b.V., d.h. zur besonderen Verwendung: Aushilfs-kraft, Botengänger usw. Wir standen immer unter Druck, so wurde z.B. peinlichst darauf geachtet, dass wir auch bei landwirtschaftlichen Arbeiten stets die weißen Armbinden tragen mussten, die uns als ,Nemec' (= Deutsche) auswiesen. Gehungert ha-ben wir zwar nicht, aber die Ernährung war sehr einseitig. Brot, Fett und Kartoffeln gab es ausreichend, aber wenig Fleisch, Wurst und Obst. Am 1. August 1946 musste uns Bauer Pokorny wieder nach Slany bringen. Dort wurden wir in bereitstehende Güterwagen verladen. Am 2. August kamen wir am Bahnhof Lesan an. Man trieb uns unter Bewachung in das Lager Prosecnice: Riesenbaracken und Räume mit zusammengezimmerten Drei-stockbetten aus Holz. Es wimmelte nur so von Ungeziefer: Wanzen, Läuse und Flöhe waren überall. Es gab keine sanitären Einrichtungen. Die Toilette war ein überdachter seitenoffener Fußboden mit Löchern darin. Das Schlimmste aber war der ständige Hunger. Früh gab es einen Keil Brot (ca. 100 Gramm) und kaffeeähnliche Brühe. Mittags gab es Suppe aus Dörr-gemüse. Abends wieder einen Keil Brot und ,Kaffee'. Rudolf (5 Jahre alt) er-krankte an Ruhr. Mutter und Schwester Eleonore krochen während der Nacht unter dem Lagerzaun ins Freie und liefen einige Dörfer weiter, um von den Kronen, die sich Mutter durch das Nähen verdient hatte, Brot, Butter und Milch zu kaufen. So blieb Rudolf am Leben. Einige Wochen vor der Entlas-sung aus dem Hungerlager kamen wir in das nebengelegene Durchgangsla-ger. Dort gab es bessere Verpflegung: Margarine und Marmelade. Am 7. Sep-tember 1946 ging es zum Bahnhof Lesan, wo ein größerer Transport zusam-mengestellt wurde. Es waren wieder gedeckte Güterwagen. Am 8. September 1946 kamen wir mit diesem Transport im Übernahmelager Altenburg an.

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Überall das gleiche Bild von Elendszügen: Entrechtete Deutsche auf dem Weg nach Westen.

Resümee: Die Siegermächte und ,Befreier' hatten sich wieder einmal feige an den Ärmsten und Schwächsten vergangen. So kannten wir sie!"

Auch der Zeitzeuge Hermann Lange berichtet über tschechische Entrech-tungs- und Vertreibungsverbrechen an Deutschen. Diese fanden in seiner Heimatstadt Gablonz an der Neiße statt. Lange gehörte zu den ersten Opfern: „Das Schicksal wollte es, dass mit Kriegsende der Weg von meinem letzten Einsatzort bis nach Hause, in unser geliebtes Jeschken-Isergebirge und meine Heimatstadt Gablonz an der Neiße, nicht sehr weit war. Nach dem Bekanntwerden des bevorstehenden Waffenstillstandes hatte sich meine Einheit sehr schnell aufgelöst, und jeder suchte sein Heil in der Flucht vor den anrückenden Sowjets. Zusammen mit zwei Kameraden waren wir die Nacht unterwegs und erreichten am Vormittag des 9. Mai 1945 die Gegend um Einsiedel. Dort trennten wir uns. Mein erstes Ziel, Reichenberg, hatte ich bald, es dürfte gegen 11 Uhr gewe-sen sein, erreicht, und ich lief rastlos an der Vorderfront des Rathauses vor-bei in Richtung Gablonz.

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In Gablonz angekommen, wählte ich die kürzeste Strecke, durch die Reichen-berger Straße, vorbei an den so sehr vertrauten Gebäuden Stadttheater, Hauptpost und den Schulen an der Kronenstraße sowie der Schulgasse, die Schulgasse hoch, am Rathauskino vorbei, die Mozartstraße hinunter in die Gebirgsstraße, die Brückengasse hinüber, die Jägergasse hinauf, über den schmalen Weg zur Brunnengasse in die Knopfgasse bis zur Similigasse in Obergablonz. Lediglich am Amtsgericht, Ecke Schulgasse/Rathausgasse, scheuchte mich ein im Eingang des Amtsgerichtes sitzender und mit einem Gewehr bewaffneter Tscheche über die Straße, weil er sich wohl von mir in seinem ,Blickfeld' beeinträchtigt fühlte. In der Jägergasse traf ich eine Nachbarin, die mich fragte, was nun werden würde. Ahnungslos von dem, was die Tschechen schon lange und vollkommen ungerechtfertigt geplant hatten, in der Freude, den Krieg überstanden zu haben, und im Glauben an eine nunmehr friedliche und bessere Zukunft, versuchte ich, diese Frau zu trösten. Wie sich recht bald herausstellen sollte, war die Zukunftsangst die-ser Nachbarin mehr als berechtigt. Abgesehen davon und durch die für mich persönlich insgesamt glücklichen Umstände durfte ich bereits um etwa 13 Uhr dieses ersten Friedenstages meine Eltern überglücklich wieder in die Arme schließen. Wir drei hatten die Kriegszeit überstanden und waren soweit gesund. Nur mein Vater litt noch an den Nachwirkungen einer schweren Lungenentzün-dung. Die Aussichten auf eine schnelle Besserung seines Gesundheitszu-standes waren gut, und so hofften wir, unwissend, auf eine erträgliche Zeit. Unsere gesamte Heimat war von Kriegszerstörungen verschont geblieben; sie strahlte in der altbekannten herrlichen Schönheit. Es war, als wenn es über-haupt keinen Krieg gegeben hätte. Die Sowjetarmee hatte an diesem ersten Tage des Waffenstillstandes, soweit wir feststellen konnten, Gablonz noch nicht erreicht, und die in unserer Nach-barschaft nach wie vor in ihren Häusern und Wohnungen lebenden Tschechen, zu denen immer ein gutes Verhältnis bestand, machten keine Anstalten einer feindlichen Gesinnung. Unsere unmittelbaren tschechischen Nachbarn hatten zwar schon die tschechische Fahne ausgepackt, und die beiden Söhne liefen im Hof schon mit Sokol-Uniform herum, aber sonst tat sich nichts. Selbstverständlich war im Hause und bei den Deutschen in der Nachbar-schaft eine gespannte Unruhe vorhanden, weil niemand wusste, was tat-sächlich kommen würde und befürchtet wurde, dass alte und neue tsche-chische Scharfmacher wieder die Oberhand gewinnen könnten.

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Hoffnung auf einen Neuanfang

Am folgenden Vormittag, die Nacht war ohne jede Störung verlaufen, ging ich, was ich für richtig und ganz selbstverständlich hielt, zu der für uns zu-ständigen Einwohnermeldestelle der Polizei und meldete mich als Zivilist wie-der an. Dort waren bereits wieder tschechische Beamte eingesetzt, von denen ich aber korrekt behandelt wurde. Ich bekam allerdings keinen Ausweis bzw. keine Kennkarte, was mir angesichts des Umbruchs nicht als sonderbar oder gar negativ erschien. Ansonsten gab es in der Stadt - soweit ich feststellen konnte - keine besonders beunruhigenden Aktivitäten. Im Laufe des 10. Mai kurvten, für uns unverständlich, mehrmals schießend und einzelne Bomben werfend, Sowjet-Jabos (Jagdbomber) über Gablonz. Schaden entstand jedoch kaum. Am Nachmittag dieses Tages kam eine Militäreinheit der Sowjets mit Pferdefuhrwerken von Neudorf her über die Simi-ligasse, am Obergablonzer Bahnhof vorbei, in Richtung Stadtmitte. Auf den Fahrzeugen saßen jeweils mehrere Sowjetsoldaten, und an den Gartentoren der Häuser standen die fast ausschließlich deutschen Bewohner - jung und alt; man besah sich das ,Schauspiel'. Es gab keinerlei Freudenäußerung der Bevölkerung - auch nicht von den Tschechen -, und auch seitens der Soldaten gab es keinerlei Gemütsregungen. Die Bevölkerung wertete diesen ruhigen Einzug der Sowjetmilitärs als ermu-tigend. Hoffnung auf einen geordneten Neuanfang kam auf. Auch die nächs-ten Tage verliefen ruhig und sehr friedvoll - man könnte sagen ganz normal - im gesamten Bereich von Obergablonz. Der 14. Mai sollte der letzte friedvolle Tag nach den allgemeinen Kriegswir-ren sein. An diesem Tag wurde bekannt gemacht, dass sich alle deutschen Männer im Alter von 18 bis 50 Jahren am nächsten Tag, dem 15. Mai, um 10 Uhr, auf der Bastei, dem riesigen Platz zwischen Herz-Jesu-Kirche und Han-delsakademie, einzufinden hätten - wie es hieß, zur Überprüfung der Perso-nalien.

Beginn der Misshandlung und Entrechtung

Am 15. Mai begannen die Tschechen in großem Umfang mit der schweren Misshandlung, Entrechtung und Vertreibung zunächst von Männern im Alter von 18 bis 50 Jahren aus Gablonz und - wie später zu erfahren war - aus zu-mindest einem Teil der Gemeinden des Kreisgebietes.

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Wir, mein Vater und ich, und eine Reihe betroffener Nachbarn wunderten uns über den ungewöhnlichen Ort, an dem die Überprüfung der Personalien er-folgen sollte. Als anständige und unbescholtene Bürger dieser Stadt vermu-teten wir jedoch nichts Unredliches und machten uns - Ordnung gewohnt -auf, der Aufforderung nachzukommen. Nicht lange nach der angesetzten Uhrzeit war der riesige Platz schon fast voll mit Männern, und es kamen ständig weitere dazu. Die Zahl kann nur ge-schätzt werden, aber vom Umfang des Platzes und dem Gedränge ausgehend, müssen es zwischen fünf- und zehntausend Männer gewesen sein. Angesichts dieser kaum übersehbaren Menschenmenge fragten wir uns je-doch auch, wie die vorgegebene Überprüfung der Personalien vor sich gehen sollte, weil ein Konzept und auch eine Art Organisation nicht zu erkennen wa-ren. Andererseits glaubten wir nicht, dass aufgrund der großen Anzahl der versammelten Männer etwas Außergewöhnliches oder gar Schlimmes passie-ren könnte. In dem Gedränge traf ich unter anderen auch meinen Lehrherrn, der aller-dings nicht mehr dieser herzitierten Altersgruppe angehörte; er wollte nur schauen, was sich tat. In dem Gespräch bat er mich, doch schnellstmöglich wieder bei ihm anzufangen; es gebe viel Arbeit. Gern gab ich ihm meine Zu-sage, weil ich recht bald wieder in meinem Beruf arbeiten wollte. Diese Be-gegnung zeigte mir und uns, dass selbst sehr angesehene Landsleute unserer Stadt zuversichtlich in die Zukunft sahen.

Umzingelt von Revolutionsgarden

Schlagartig war damit Schluss - es war wohl inzwischen in der zwölften Stun-de. Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Menge. Wie ein Lauffeuer sprach sich herum, dass der Platz urplötzlich von sich wild gebärdenden schwerbe-waffneten Tschechen - Revolutionsgarden, wie wir später erfuhren - umzin-gelt war und es kein Entrinnen mehr gab. Unser Entsetzen über diese drama-tische Situation war unbeschreiblich. Warum diese Art der Bewachung, wenn es doch nur um die Prüfung der Personalien ging? Oder waren wir gutgläu-big in eine Falle gegangen ? Es dauerte noch eine ganze Weile. Erregte Diskussionen und lautstarke Un-mutsäußerungen der Männer kennzeichneten die fast gespenstisch anmu-tende Szene. So etwas hatten ich und wohl auch die anderen Versammelten noch nicht erlebt. Die Aufregung erreichte ein fast unerträgliches Maß, als

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seitens der Tschechen die Aufforderung erging, sich zu einer Marschkolonne zu formieren. Durch eine schmale Öffnung in der Absperrung an der Han-delsakademie wurden wir in diese Marschkolonne gepresst. Alle paar Meter eskortiert von schwerbewaffneten Tschechen und wie Schwerstverbrecher abgeführt, wurden wir durch die Straßen unserer Heimatstadt getrieben. Darüber, wo und wie die angebliche Personalienüberprüfung vonstatten ge-hen sollte oder was man sonst mit uns plante, verlautete nichts. Mit Geschrei unserer Bewacher ging der Marsch die Marktgasse hinunter, die Mozartstraße abwärts zur Gebirgsstraße und dort in Richtung Bad Schlag. Immer wieder stockte die Kolonne, und wenn es weiter ging, wurden wir nach Sowjetart angetrieben. In der Kolonne traf ich unter anderen auch meinen Katecheten aus der Schule. Selbst dieser Mann, der aufgrund seiner Kleidung als Geistlicher erkennbar war, wurde mitgeschleift. An der Ecke Gebirgsstraße/Brunnengasse, also im Bereich des Elternhauses von Oswald Wondrak, stand unter den vielen wartenden Frauen, älteren Männern und Kindern auch meine Mutter. Es gelang ihr, uns, meinen Vater und mir, je eine Decke und etwas Essbares zuzustecken, was bei der rabiaten Bewachung mit beträchtlicher Gefahr verbunden und ein wahrer Glücksfall für uns war. Meine Mutter war - wie sich später als richtig herausstellte - davon ausge-gangen, dass wir zumindest die folgende Nacht nicht zu Hause sein würden. Es sollte aber noch viel schlimmer kommen. Der Marsch ging weiter, und ich glaubte, dass, als die Spitze der Kolonne bereits an der altkatholischen Kir-che angekommen war, die letzten gefangengenommenen Männer - als Gefan-gene mussten wir uns schon zu diesem Zeitpunkt betrachten - gerade von der Bastei abgingen. Es war ein sonniger Tag, was wir in unserer misslichen Lage aber gar nicht bewusst registrieren konnten. Über Bad Schlag und Wiesental ging die Trei-berei weiter bis nach Morchenstern, wo wir gegen Abend ankamen. Dort wur-den wir auf die große Wiese bei der Kirche getrieben, und es wurde uns be-deutet, dass wir hier die Nacht über bleiben müssten. Verpflegung gab es keine. Unsere Notdurft mussten wir innerhalb der Absperrung verrichten. Wie das bei der riesigen Menge gefangener Menschen aussah und gegangen ist, weiss ich heute nicht mehr; es war auf alle Fälle furchtbar. Alle Männer waren aufgrund des sommerlichen Wetters nur leicht bekleidet, und keiner hatte damit gerechnet, am Abend nicht wieder zu Hause zu sein. Deshalb war niemand auf Übernachtung im Freien eingerichtet. Nur wenige

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von uns, deren Frauen oder Mütter uns auf diesem Weg noch einmal zu Ge-sicht bekommen hatten und in weiser Voraussicht etwas Essbares, eine Decke oder etwas Kleidung mitgebracht hatten und ihren Lieben hatten zustecken können, waren etwas besser dran - wozu mein Vater und ich gehörten. Trotz unserer beiden Decken haben wir bei dem noch recht feuchten Erdbo-den und der sehr kühlen Mainacht sehr gefroren. Noch schlechter waren die meisten Männer dran, weil sie in ihrer leichten Tageskleidung die Nacht überstehen mussten. Ein sehr großer Teil der Männer hat aus Platzmangel und wegen der Kälte abwechselnd stehend oder sitzend die Nacht verbracht bzw. sich abwechselnd eine Zeit hinlegen können. Es war wie in einer He-ringsbüchse.

Die großen Aufregungen des Tages und der Umstand, dass wir vom frühen Morgen an auf den Beinen gewesen waren, hatten die meisten von uns doch sehr mitgenommen - und dann noch diese miserable Nacht! Zusätzlich gro-ße Sorgen machte mir mein Vater, der durch die erst kürzlich überstandene schwere Krankheit noch sehr geschwächt war. Sehr froh waren wir, als die Nacht endlich zu Ende ging, die Sonne wieder am Himmel erschien und we-nigstens wieder gutes und warmes Wetter in Aussicht stand. Erst jetzt sah man wieder, wie riesig die Anzahl der gefangengehaltenen Männer war. Die große Wiesenfläche war schwarz von übernächtigten, armselig aussehenden männlichen Gestalten. Es gab auch an diesem Morgen keinerlei Verpflegung - auch nichts Trinkbares. Zum Glück hatten wir, mein Vater und ich, uns von dem Wenigen, was uns meine Mutter hatte in Gablonz noch zustecken können, etwas aufgehoben. Aber auch das war natürlich - wie man sagt - zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Offensichtlich wussten unsere ,Bewacher' nicht, wie es weitergehen sollte. Erst im Laufe des Vormittags mussten wir wieder antreten, und man trieb uns den gleichen Weg, den wir am Tag vorher gekommen waren, wieder in Richtung Gablonz.

Die Vertreibung aus der Heimatstadt

Es keimte wieder Hoffnung auf dass es nunmehr mit der Personalienüberprü-fung ernst würde und man vielleicht doch nur ein paar bestimmte Leute, die etwas auf dem Kerbholz hatten, suchte. Andererseits, so die weiteren Über-legungen, hätte man schon am Vortag auf der Bastei eine Möglichkeit zu ei-

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Ein entrechteter Sudetendeutscher im tschechischen KZ.

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ner entsprechenden Sondierung finden können. Unsere Hoffnung auf ein Ende der Schikane zerschlug sich aber in Gablonz, als es zwar durch Gablonz die Mozartstraße wieder hinauf, aber nicht auf die Bastei ging. Vielmehr wur-den wir, an der Rückseite des neuen Rathauses vorbei, die Schulgasse hinun-tergetrieben. Das löste bei fast allen der tausenden Männer so lautstarke Pro-teste aus, dass unsere Bewacher unter starkem Geschrei drohten, von der Waffe Gebrauch zu machen. Es gab einen regelrechten Aufruhr unter den gefangenen Männern; die Wut erreichte ein beängstigendes Ausmaß, weil den meisten Gefangenen klar wurde, dass die Tschechen mit uns nichts Gutes vorhatten. Man mag sich nicht vorstellen, wenn es zu beiderseitigen Gewaltanwendungen gekommen wäre, was diese Tschechen mit uns gemacht hätten; wie viele Tote und Ver-wundete die Folge gewesen wären und - aus heutiger Sicht - welche drama-tischen Folgen aus einer solchen Eskalation für die gesamte deutsche Bevöl-kerung bereits zu diesem Zeitpunkt hätten entstehen können. Deshalb er-scheint es mir als ein unermessliches Verdienst dieser Gablonzer Landsleu-te, dass sie sich, wehrlos wie sie waren, letztlich doch ihrem Schicksal ergaben und, wie verlangt, den Marsch fortsetzten. Zuschauer gab es auf diesem Rückmarsch nach Gablonz und durch die Stadt im Gegensatz zum Vortag kaum. Wahrscheinlich hatten die Leute inzwischen auch Angst vor der uns treibenden tschechischen Soldateska, und schließlich hatte niemand von den Bewohnern vermutet, dass man uns zurück nach Gablonz scheuchen würde. Es ging also weiter durch die Schulgasse, an den staatlichen Schulgebäuden, dem imposanten Gebäude der Hauptpost und an unserem herrlichen Stadt-theater vorbei, in die Reichenberger Straße nach Brandl und von dort weiter in Richtung Reichenberg. Den gleichen Weg, den ich erst vor wenigen Tagen als freier, dem Krieg ge-sund entronnener Mann hoffnungsvoll und glücklich nach Gablonz gegangen war, musste ich nunmehr als von Tschechen Gefangengehaltener und Gejag-ter, zusammen mit unzähligen Leidensgefährten, in umgekehrter Richtung in eine vollkommen ungewisse Zukunft gehen. Keiner von uns ist trotz allem auch nur auf den Gedanken gekommen, dass dies für die meisten der endgültige Abschied von unserer Heimatstadt Gab-lonz an der Neiße, von unserer geliebten Heimatstadt, sein sollte und welches unermessliche Unheil die Tschechen über unsere Familie, unsere gesamte su-detendeutsche Volksgruppe und Heimatgebiete bringen würden.

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An der lieben Heimatstadt vorbei durch die malerischen Orte trieben uns die Tschechen, unter immer häufigeren und massiveren Pöbeleien, weiter nach Reichenberg. Ganz offensichtlich hatten unsere aufruhrartigen Proteste in Gablonz die tschechische Soldateska erheblich erschreckt, und sie wollten mit ihrem noch schärferen Vorgehen gegen uns ihre ,Stärke' und unsere Macht-losigkeit beweisen. Auch in Reichenberg - es war inzwischen Nachmittag geworden - gab es kei-ne Rast und auch keine Verpflegung. Sehr hungrig und durstig ging es weiter Richtung Friedland. Die fehlende Nahrung und die Wärme des Tages mach-ten das Marschieren immer beschwerlicher, so dass unser Schritt trotz der ständigen Antreiberei immer langsamer wurde. Kurz vor Eintritt der Dunkelheit wurden wir, es muss in der Umgebung von Einsiedel gewesen sein, wie am Vortag auf eine Wiese neben der Straße ge-trieben, die unser Nachtlager werden sollte - wieder unter strenger Bewa-chung. Selbst das Verrichten der Notdurft wurde strengstens überwacht. Die großen Strapazen und die demütigende Behandlung durch unsere Bewacher ließen es schon als eine Wohltat erscheinen, dass wir unsere Füße und Bei-ne 'entlasten' durften. Besonders große Aufregung gab es, als einer der Gefangenen - der Vater einer meiner Freunde - in der Dämmerung ausriss. Er verschwand urplötz-lich während des Austretens unter Ausnutzung einer momentanen Unauf-merksamkeit eines Bewachers in dem am Lagerplatz angrenzenden Ge-büsch. Da wir - mein Vater und ich - in der Nähe lagerten, entging uns das nicht. Andere Bewacher hatten dieses Verschwinden aber gesehen und rannten unserem Landsmann wild schießend hinterher. Sie kamen nach ei-ner Weile aber ohne den 'Flüchtling' wieder zurück. Dabei war für uns nicht klar, ob dieser Mann nicht irgendwo verletzt war oder gar tot im Ge-lände lag. Mit dem Gedanken an Flucht hatten sich viele von uns im Laufe der letzten beiden Tage ernsthaft beschäftigt, und es wurde darüber unter uns auch of-fen gesprochen. Auch ein Massenausbruch war im Gespräch. Letztlich woll-te aber niemand - außer dieser eine Landsmann - das unkalkulierbar große Risiko eingehen, nach Kriegsende und heil überstandenem Krieg das Leben aufs Spiel zu setzen und gegebenenfalls auch die eigene Familie in große Schwierigkeiten zu bringen. Zu welcher Rücksichts- und Skrupellosigkeit die tschechischen Bewacher fähig waren, hatte die Dramatik des von uns er-lebten Einzelfalles gezeigt.

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Die große Erschöpfung ließ die meisten von uns eng zusammengedrängt und sich so gegenseitig wärmend zeitweise etwas schlafen, wobei der knur-rende Magen, der trockene Mund, die Feuchte unter unseren Körpern und die Kühle der Nacht das Schlafen fast unmöglich machten. Auch die Sorge um die Zukunft und das Geschrei unserer Bewacher ließen uns immer wieder auf-schrecken. Wie gerädert, in durchfeuchteter Kleidung, hungrig, durstig und in Angst vor der nächsten Zeit erlebten wir den Morgen des 17. Mai 1945. Nur das Wet-ter und die wärmende Sonne meinten es gut mit uns. Letzte bis dahin aufge-sparte Zigaretten, die einzige ,Verpflegung', machten die Runde - andere ,Rücklagen' hatte niemand mehr. Ungerührt und wieder laut schreiend forderten uns unsere Peiniger erneut zum Antreten auf und die Schikanen gingen weiter - ohne für uns erkennba-res Ziel. Immer mehr Männer waren inzwischen so geschwächt, dass es ihnen immer schwerer fiel, den Weg fortzusetzen. Dadurch kam die Kolonne auch immer langsamer voran. Dagegen half auch das Antreiben durch die Bewa-cher nicht mehr. Im Laufe des Tages landeten wir regelrecht ausgemergelt und total erschöpft in Friedland. Dort wurde die große Masse Menschen auf einem großen um-zäunten Gelände mit großen Gebäuden - es sollen, soweit ich mich noch er-innern kann, Schulgebäude gewesen sein - eingesperrt. Ein sehr großer Teil der Männer, so auch mein Vater und ich, musste auf dem mit einem Eisenzaun umgebenen und zu den Gebäuden gehörenden Freigelände kampieren, was die Lage dieser Leute insofern nicht verbesserte, als es tagsüber zwar warm, aber nachts nach wie vor empfindlich kühl war und wir bis dahin nach wie vor nur unzureichende Kleidung hatten. Meine besondere Sorge galt immer wieder meinem Vater; eine erneute Erkältung hätte in seinem gesundheitlichen Zustand den Tod bedeuten können. Das einzige Positive war, dass es dort erstmals etwas zum Essen gab - meines Wissens trockenes Brot ohne jede Zutat und Wasser aus der Leitung. Die sanitären Gegebenheiten waren, durch die vielen Menschen bedingt, katastrophal - menschenunwürdig. Das alles störte aber unsere ,Obrigkeit' überhaupt nicht. Es war dort kein Leben, sondern nur ein Dahinvegetieren. Ohne jede Information über unsere Zukunft steigerte sich unser Dasein zu einer fast unerträglichen Farce. Unsere Bewacher feixten, machten Witze über uns, weil sie genau wussten, wie es um uns bestellt war und wie uns zumute sein musste.

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Ausgestoßen aus dem Heimatland

Nach zwei oder drei Tagen kam es zu einem für uns hocherfreulichen und na-türlich unerwarteten Ereignis: Im Laufe des Tages tauchten plötzlich am Lager einige Frauen, Angehörige von Mitgefangenen, auf - darunter auch meine Mutter. Irgendwie hatten sie erfahren, wo man uns hinverschleppt hatte. Neben Infor-mationen von zu Hause, brachten die Frauen trotz der knappen Versorgungs-lage etwas Essbares mit und auch zusätzliche Kleidung. Die mitgebrachten Sachen konnten uns aber nur unter Aufsicht durch die Absperrung übergeben werden. Die Reise der Frauen war ja in dieser Zeit ein regelrechtes Abenteuer, weil die Bahn nur unregelmäßig verkehrte und mit zunehmenden Schikanen und Drangsalierungen gerechnet werden musste. Zu den Sorgen der gefangenen Männer um ihr eigenes weiteres Schicksal kam zunehmend die Sorge um die Lieben zu Hause. Mit bewundernswertem Mut wagten die Frauen trotz aller Unwägbarkeiten auch an den folgenden Tagen - immer wieder sah man auch neue Gesichter - diesen Weg zu ihren Söhnen, Männern und Freunden. Dies half natürlich, den Psychoterror der Tschechen besser zu verkraften; an-dererseits wussten wir nicht, wie diese Frauen wieder heimgekommen waren und was sie wieder zu Hause erwartete, was ihnen geschah. So gingen die Tage dahin, ohne dass sich an unserer eigentlichen Lage etwas zum Besseren änderte. Nur das Wetter hielt neben unseren Angehörigen auch weiter noch zu uns, zu den unzähligen Männern, die an diesen Tagen kein Dach über dem Kopf hatten und Mann an Mann auf dem blanken Erdboden ihr Leben fristen mussten. Eines Tages, es war wohl Ende Mai, begann sich etwas zu tun. Es erschienen zwei oder drei Tschechen in irgendeiner Uniform. Einige von uns mussten im Freigelände ihr Plätzchen räumen, und es wurde dort ein Tisch aufgestellt, an dem die Tschechen Platz nahmen. Nach einiger Zeit kam Bewegung in die Menge. Alles drängte in die Nähe des Tisches, dessen nähere Umgebung von Bewaffneten ,geschützt' wurde. Dann musste jeder Gefangene einzeln an den Tisch treten und wurde aufgefordert, seine Personalpapiere vorzulegen. Und jetzt kam das Entscheidende, das Ungeheuerliche, was schon zu diesem Zeitpunkt für die meisten Gefangenen die ,Weichen' für die Zukunft stellte: Wer sich mit dem Wehrpass ausweisen konnte, durfte ohne weitere Formali-

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täten das Lager verlassen und musste nur am Ausgang nochmals diese Papie-re vorzeigen. Zu diesen, ich meinte damals Glücklichen, gehörte auch mein Vater, und ich werde nie seine traurigen Augen vergessen, als er sich von mir verabschiedete und mich nun wieder der Ungewissheit überlassen musste. Es war der Blick meines Vaters im reinsten Sinne des Wortes. Er konnte damals jedoch nicht wissen, dass auch ihm und meiner Mutter - wie fast allen unseren Landsleuten - Schreckliches bevorstand. Von allen Männern, die dieses Ausweispapier, den Wehrpass, nicht vorlegen konnten, wurden die Personalien in eine Liste eingetragen. Sie durften aber nicht gehen, sondern mussten bleiben. Daran änderte sich auch nichts, wenn man - wie ich - wahrheitsgemäß angab, dass man zu Hause polizeilich ge-meldet war und nur noch keinen neuen Ausweis habe. Auch andere Einwän-de ließen die Tschechen nicht gelten. Es half alles nichts, auch keine Unmuts-äußerungen, wir waren und blieben gefangen. Es gab auch keine Auskunft da-rüber, was man mit uns, der noch immer riesigen Anzahl von Männern, nun-mehr vorhatte. Die Ungewissheit blieb also bestehen, und es wurde weiter hin und her diskutiert. Die Optimisten unter uns meinten, dass man anhand der Listen die Angaben überprüfen würde und wir nach sich bestätigender Richtigkeit der gemachten Angaben dann auch wieder freigelassen würden. Andere schürten den furcht-baren Verdacht, dass man uns Zurückgebliebene als Kriegsgefangene be-trachte. Das aber hielten die meisten nicht für möglich, weil unsere Festset-zung weit nach Waffenstillstand in unserer Heimatstadt erfolgt war, wir kei-ne Waffen hatten und uns auch gegenüber den Tschechen nichts hatten zu-schulden kommen lassen. Viele vertraten auch die logisch erscheinende Meinung, dass sich, und das musste auch den Tschechen einleuchten, Leute, die etwas auf dem Kerbholz hatten oder nicht zu unseren Landsleuten gehör-ten, bestimmt nicht in Gablonz zur Überprüfung der Personalien eingefunden hätten und deshalb auch nicht unter uns sein konnten. So beherrschten Ban-gen und Hoffen weiter unser Dasein. Wie viele Tage dieser Zustand noch an-dauerte, weiß ich heute nicht mehr. Am Morgen eines der nächsten Tage mussten wir unsere wenigen Habselig-keiten packen und antreten — zum Abmarsch. Es ging los, wieder unter strengster Bewachung, wieder ohne jede weitere Erklärung, in einer wie vorher sehr langen Kolonne. Sehr schnell mussten wir zu unserer großen Be-stürzung feststellen, dass es nicht zurück in Richtung Reichenberg ging, son-

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dem in die entgegengesetzte Richtung. Heute weiß ich nicht mehr, wie lange wir marschiert und durch welche Orte wir gekommen sind. Wahrscheinlich habe ich gar nicht richtig registriert, was konkret um uns war, weil wir in un-serer Traurigkeit und Sorge um uns und unsere Angehörigen so sehr befan-gen waren. In Erinnerung habe ich nur, dass es wieder ein sehr schöner Vor-sommertag war, als wenn uns die heimatliche Natur trösten wollte, und wir im Laufe der Zeit gar keine richtige Straße mehr unter den Füßen hatten; eher war es ein etwas breiter Feldweg. Gutes, das war selbst dem größten Optimisten inzwischen voll bewusst, erwartete uns nicht. Nach einiger Zeit, es ist wohl gegen Mittag gewesen, kamen eine auf fast freiem Feld stehende kleine Bude und eine schräg nach oben ragende Stange in Sicht. Beim Näherkommen erkannten wir, dass wir an einem Grenzposten angelangt waren. Dort standen einige uniformierte Tschechen und ein Teil unserer bisherigen Bewacher vom vorhergehenden Teil unserer Marschkolonne. Unter lautem Gelächter dieser Leute und mit wilden Rufen: ,Heim ins Reich!' trieb man uns, wie schon die vor uns laufenden Landsleute, unter der provisorischen Grenzschranke hindurch. Unsere Beine, so das unvergessliche Gefühl, verweigerten fast den Gehorsam. Es offenbarte sich zu unserem bei-spiellosen und in Worten nicht treffend wiedergebbaren Entsetzen, dass wir in diesem Augenblick im Auftrag tschechischer Politverbrecher aus unserem Heimatland ausgestoßen, vertrieben würden. Die relativ kurze Zeitspanne, als wir uns diesem Grenzposten nähern muss-ten, und die Minuten dieses Grenzübertrittes werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Noch heute plagen mich immer wieder diese Gedanken an dieses einmalig furchtbare Ereignis. Ein weiterer unbeschreiblicher Schock folgte sofort jenseits der Grenzschran-ke. Wir waren mit dem Überschreiten dieser Grenze nicht etwa frei; es erwar-tete uns vielmehr Sowjetmilitär, das die Rolle der uns bis dahin überwachen-den tschechischen Soldateska als unsere neuen Bewacher übernahm und uns in der gleichen Marschordnung unter heftigem ,Dawai'-Geschrei weiter-trieb. Damit waren die schlimmsten Befürchtungen der vielen Pessimisten und Skeptiker unter uns wahr geworden. Unsere Nachkriegsfeinde - so muss man die Tschechen und Sowjets unge-schminkt bezeichnen - hatten das Rad der Geschichte über das Kriegsende hinaus zurückgedreht. Wir Wieder-Zivilisten waren nachträglich zu Kriegsge-fangenen gemacht, von den Tschechen, und von denen an die Sowjets ,weiter-gereicht' worden. Wir waren nicht frei, sondern Freiwild für diese Leute.

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Die Situation in der Kolonne war unbeschreiblich. Viele schrien, schimpften laut protestierend. Ich habe auch Landsleute in Erinnerung, die verzweifelt still vor sich hinweinten. Einige von den tausenden Landsleuten redeten auf die Sowjets ein und versuchten ihnen verständlich zu machen, dass wir Zivi-listen seien und deshalb nicht als Kriegsgefangene behandelt werden dürften. Das alles interessierte oder beeindruckte aber keinen der Sowjets.

Manche starben am Straßenrand

Ein Stück hinter der Grenze gab es einen Halt und wir wurden gezählt - ei-ne Lieblingsbeschäftigung der Sowjets, wie wir später noch feststellen soll-ten. Auskunft darüber, wo es nun hingehen sollte, erhielten wir auch jetzt nicht. Nach der Zählung mussten wir unter Geschrei der schwerbewaffneten Bewacher weiter durch eine ganze Reihe von kleinen und größeren Orten. Trotz aller Antreiberei durch die Bewacher kamen wir nur langsam voran. Sehr viele von uns waren durch die mangelhafte Ernährung in den letzten drei Wochen und durch den psychischen Druck so geschwächt, dass es beängsti-gend war. Inzwischen kam die Kolonne immer wieder zum Stehen. Wie sich immer sehr schnell durchsprach, waren Landsleute entkräftet zusammenge-brochen. Die meisten der Betroffenen hatten sich zwar wieder aufgerappelt. Einige konnten jedoch überhaupt nicht mehr, wurden ohnmächtig oder star-ben gar auf der Straße. Diese Männer wurden von unseren Bewachern wie ein Stück Vieh auf eines der uns begleitenden Pferdefuhrwerke der Sowjets geworfen. Ob diese Männer tot waren oder ,nur' ohnmächtig, wurde von den Bewachern nicht geprüft. Sanitäter oder gar ärztliche Betreuung gab es nicht. Auf dem in meinem Kolonnenbereich mitfahrenden Pferdefuhrwerk lagen Menschenleiber übereinander. Ein Mann lag quer auf dem Wagen, so dass die Beine auf der einen und der Kopf auf der anderen Seite herunterhingen. Wer von diesen armen Landsleuten beim Aufladen noch nicht tot war, wird wohl aufgrund dieser unmenschlichen Behandlungsweise während der Wei-terfahrt gestorben sein. Als wir durch einen Ort kamen, schauten die deutschen Bewohner arglos un-serem Vorbeimarsch zu. Plötzlich ging einer der Wachposten auf eine hinter einem Hoftor stehende Bewohnergruppe zu, griff sich einen der Männer und trieb ihn brutal in unsere Kolonne. Er musste mit, obgleich er nicht dazuge-hörte und sich heftig wehrte.

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Kurz vor dem Dunkelwerden kam ein großes Lager in Sicht - erkennbar an den vielen Wachtürmen. Nach nicht mehr allzu langer Zeit waren wir am Tor dieses Lagers angekommen. Es dauerte noch eine ganze Weile, dann wurden wir unter sehr genauer Zählung schubweise durch das Tor geschleust. Total erschöpft, es hatte auch an diesem ganzen Tag nichts Ess- und Trinkbares ge-geben, wurden wir in riesige Hallen gescheucht, die auf unabsehbare Zeit un-ser ,Zuhause' sein sollten. Wie wir erst am nächsten Morgen richtig sahen, bestand das Lager aus etwa zehn solcher Hallen. In diesen Hallen standen zweigeschossige Holzprit-schen längsseitig ohne jeden Zwischenraum. Eine Pritschenreihe jeweils an den Außenwänden. Die folgenden Pritschenreihen waren jeweils Doppelrei-hen. Zwischen den Außen- und den Doppelreihen war jeweils nur ein schma-ler Gang. Wie Heringe aneinandergereiht, mussten wir auf dem blanken Holz kampieren. Nur diejenigen, die bis dahin eine von Angehörigen in Gab-lonz oder Friedland zugesteckte Decke und/oder etwas zusätzliche Kleidung hatten, waren besser dran. In jeder dieser Hallen hausten tausende zusam-mengepferchter Menschen. Wie wir später erfuhren, befanden wir uns in dem auch schon unter Hitler als Kriegsgefangenenlager dienenden Lager Lauban. Dieses Lager unterstand nun den Sowjets und hatte polnisches Militär auf den Wachtürmen. Zu essen gab es Wassersuppe mit ein paar Kartoffelstückchen und dazu etwas russi-sches ,Klitsch-Brot'.

Von den Gablonzer Landsleuten, die man zusammengebrochen auf Pferde-fahrzeuge geworfen hatte, haben wir nichts mehr gesehen. Wer oder ob je-mand von ihnen mit dem Leben davongekommen war, konnten wir nicht feststellen. Außerdem machte die Nachricht die Runde, dass immer wieder Lagerinsassen verschwinden und nicht mehr auftauchen würden. Einige Tage später erging an alle Lagerinsassen der Befehl, die Unterkünfte nur noch zum Essenfassen und Verrichten der Notdurft zu verlassen. Sehr schnell merkten wir weshalb: Über dem gesamten Lagerbereich hing eine bestialisch stinkende Rauchwolke von verbranntem Fleisch. Für uns gab es keine andere Erklärung für den Gestank als die, dass auf dem Feld vor dem Lager die Leichen der Gefangenen verbrannt wurden. Bis heute lässt mich der furchtbare Gedanke nicht los, dass unter diesen Unglücklichen auch Gablonzer Landsleute gewesen sein könnten, die den letzten Teil des Weges in das Lager nicht mehr hatten bewältigen können.

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Die tschechische Bevölkerung empfängt am 5. Mai 1945 begeistert die einziehenden US-Truppen. Vorne im Bild: Die Leiche eines erschlagenen Deutschen.

Trotz dieser schlimmen Erlebnisse und des fast unmenschlichen Lagerle-bens vergingen die Wochen. Ab etwa September kam zusätzliche Aufregung auf uns zu: Es wurden zunehmend Transporte mit dem angeblichen Ziel Sowjetunion zusammengestellt. Nach welchem System die Zusammenstel-lung dieser Transporte erfolgte, war allerdings nicht erkennbar. Soweit ich mich erinnern kann, wurde immer aus jeder Halle ein Teil der Männer aus-gesondert. Im Oktober war ich zusammen mit einigen Landsleuten an der Reihe. Für mich sind daraus insgesamt dreieinhalb Jahre sowjetischer Kriegsgefangenschaft geworden. Dreieinhalb Jahre meines Lebens, die mir zusätzlich zu allem anderen von Tschechen durch ihr völkerrechtswidriges, ungerechtfertigtes Verhalten gestohlen worden sind."

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„Um den Staat verdient gemacht"

Tschechisches Parlament ehrt Massenmörder Benesch

Die Benesch-Dekrete des Jahres 1945 sind die billigende Grundlage für die Vertreibung und Enteignung von Deutschen aus dem Sudetenland. Auf Grund dieser Erlasse wurden nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen Sudetendeut-sche enteignet und ausgesiedelt. Die Dekrete gehen auf den früheren tschecho-slowakischen Staatspräsidenten Eduard Benesch zurück. Er war von 1918 bis 1935 Außenminister in Prag und von 1935 bis 1938 Staatspräsident. Als Chef der tschechischen Exilregierung erklärte er Deutschland im Oktober 1939 den Krieg. Schon 1941 entwarf er Pläne zur „Endlösung" („final Solution") der Deutschenfrage. Sie wurde nach 1945 durch Vertreibung und Ermordung der Sudetendeutschen verwirklicht. 1945 erneut Staatspräsident, wurde Benesch 1948 von den Kommunisten ausgebootet. Die Tschechoslowakei wurde ein Satellit der Sowjetunion. Im April 2004 wurde Benesch vom tschechischen Abgeordnetenhaus mit einem eigenen Gesetz für seine „Verdienste um den Staat" ausdrücklich ge-würdigt. Das Gesetz besteht nur aus dem Satz: „Eduard Benesch hat sich um den Staat verdient gemacht." 118 der insgesamt 183 Abgeordneten stimmten dafür. Die Formulierung gilt als besondere Ehre und ist bisher nur dem Staatsgründer Tomas Masaryk zuteil geworden. Vor dem Hintergrund, dass die EU, deren Mitglied die Tschechische Republik seit Frühjahr 2004 offiziell ist, die Vertreibung ächtet und das Heimatrecht einfordert, ist der Vorgang nur als skandalös zu bezeichnen. Die FAZ notierte in einem diesbezüglichen Kommentar, Benesch habe schon zu Beginn des Krieges keinen Platz mehr für Deutsche gesehen und den entgermanisierten und entmagyarisierten slawischen Nationalstaat angestrebt. Die FAZ: „Daher hatte er schon im Exil auf die massenmörderische Vertreibung der Deutschen und Ungarn hingearbeitet; auch dadurch lieferte er sich und sein Land Stalin aus. Das alles gehört zu den Verdiensten von Eduard Benesch, für die ihn jetzt das tschechische Parlament geehrt hat." Auch „Die Welt" zwei-

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feite an der Europatauglich-keit der Tschechei. Das an-sonsten antideutsche Sprin-ger-Blatt, das sich vor allem die Interessen Israels auf die Fahnen geschrieben hat, no-tierte ausnahmsweise einmal treffend: „Das tschechische Parlament bedankt sich nun auf seine Weise (...). Es beharrt auf einem Gesetz, das dem einstigen tschechoslowakischen Prä-sidenten Eduard Benesch die höchsten Weihen verleiht. Benesch, der den Völkermord an den vertriebenen Deutschen auf dem Gewissen hat und 1948 sein Land an die sowjetische Gewaltherrschaft auslieferte, wird damit zum verdienstvollen Mann erklärt." Die systematische Vernich-tung und Vertreibung der

Sudetendeutschen aus ihrem angestammten Siedlungsgebiet erfüllt den Tatbestand des Völkermords. Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ist ein Verbrechen nach internationalem Recht. Zwangsarbeit, sadistische Brutalitäten aller Art, begleitende Schikanen wie der Zwang zum Tragen von Kennzeichen für Deutsche, Bedrohungen, Misshandlungen und Willkürmaßnahmen sowie die völlige Recht- und Schutzlosigkeit haben bei den Opfern lebenslange Spuren hinterlassen. Es ist eine Schande, dass sich die deutschen Bundesregierungen von Kohl bis Schröder aktiv daran beteiligen, das Unrecht der Benesch-Dekrete nach Möglichkeit zu minimieren oder unter den Teppich zu kehren, während sie auf der anderen Seite bemüht sind, deutsche Untaten während der NS-Zeit nicht ruhen zu lassen und Deutschland somit mit immer neuen Wiedergutma-chungsforderungen aus aller Welt zu konfrontieren. Eine solche Regierung

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Der Vertreiberpräsident Eduard Benesch wurde vom tschechischen Parlament hoch geehrt.

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hat die Bezeichnung „deutsch" ganz gewiss nicht verdient und ihren Amtseid „Schaden vom deutschen Volk zu wenden" gebrochen.

„Wir säubern die Republik." Fotomontage aus der tschechoslowakischen Soldatenzeitung „Nave vojsko", 1946.

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Verschleppung von Zivilisten zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion

Beispiel: Das Schicksal der Deutschen in Ungarn

Das ungarländische Deutschtum bewohnte als Ganzes nicht einen in sich ge-schlossenen Siedlungsbereich, sondern verteilte sich über den ganzen Süden und Westen des Staates in nicht genau abgegrenzten, aber doch zusammen-hängenden Gebieten verschiedener Größe und Struktur. Daher nimmt Ungarn unter den im Potsdamer Abkommen festgelegten Vertreibungsgebieten eine besondere Stellung ein. Historisch gesehen entstammt die deutsche Bevölke-rung in Ungarn im Wesentlichen zwei Siedlungsphasen: Das Deutschtum an der Westgrenze Ungarns geht bereits auf die große Südostbewegung des ba-juwarischen Stammes im 12. und 13. Jahrhundert zurück. Die deutsche Be-völkerung im übrigen Ungarn lässt sich dagegen auf die Ansiedlungen im 18. Jahrhundert nach der Befreiung von den Türken zwischen dem Frieden von Passarowitz (1718) und der Regierungszeit Josephs II. (1780-1790) zurück-führen. Diese Siedlungen entstanden zum größten Teil mit den Mitteln staat-licher Kolonisation. Eigene Erhebungen der deutschen Volksgruppe ergaben für 1930 eine Zahl von 648.546 Deutschen in Ungarn. Aufstellungen der Volksgruppenführung auf Grund der Volkszählung von 1941 nannten sogar eine Zahl von über 800.000. Mit dem Einmarsch der Roten Armee in Ungarn änderte sich die Lage der Volksdeutschen Bevölkerung zunächst nicht in dem Maße, wie allgemein be-fürchtet worden war. Es kam zum größten Teil nicht zu den unmenschlichen Ausschreitungen wie in den deutschen Ostgebieten oder in der Tschechoslo-wakei. Da Moskau Ungarn als Feindesland betrachtete, wurden aber, ähnlich wie im deutschen Osten, Arbeitskräfte zur Zwangsarbeit in der Sowjetunion aus dem besetzten Gebiet herausgezogen. Insbesondere „Volksdeutsche" waren für die Deportation in Stalins Reich vorgesehen. Die menschenunwür-dige Behandlung der Deportierten auf den Transporten wie auch ihr weiteres Schicksal in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern glichen dabei den Leiden.

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denen die ostdeutschen Zivilverschleppten in dieser Zeit unterworfen waren. Die Kälte in den ungeheizten Waggons, mangelnde Verpflegung, Durst, der zum Trinken verseuchten Wassers führte, epidemische Krankheiten wie Ruhr und Typhus forderten bereits auf der Reise ins „Arbeiter- und Bauernpara-dies" zahlreiche Todesopfer. Nach dem Vormarsch der Roten Armee wurden von 1944 an mehr als 270.000 („Volks"-) Deutsche aus Ostmitteleuropa von der sowjetischen Ab-wehrorganisation Smersch, dem Volkskommissariat für Innere Angelegenhei-ten (NKWD) und der Roten Armee in die Sowjetunion zur Zwangsarbeit de-portiert. Viele kehrten nicht zurück; wer die sowjetischen Konzentrationsla-ger überlebte, war für immer gezeichnet. Zu den „mobilisierten und internier-ten Deutschen", wie sie in der Sowjetunion offiziell hießen, zählten „Volksdeutsche", die vor der Roten Armee nicht mehr hatten flüchten können, zum Beispiel Frauen, die nach Massenvergewaltigungen in Viehwaggons gesperrt wurden, oder Helferinnen der Wehrmacht. Hinzu kamen etwa 400.000 Reichsdeutsche aus Ost- und Westpreußen, Danzig, Pommern, Schlesien und auch Zivilisten aus der sowjetisch besetzten Zone in Mittel-deutschland (SBZ), der späteren DDR. Andere Quellen sprechen sogar von mehr als einer Million zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppter deutscher Zivilisten. Ohne Erklärung, oft völlig willkürlich, wurden sie abtransportiert - nur weil sie Deutsche waren. Von Sammellagern aus ging die Reise in mehrwöchiger Fahrt in Viehwaggons gen Osten, ohne ausreichende Verpflegung oder medi-zinische Versorgung. Dass bei solchen Transporten tausende zu Tode ka-men, noch bevor sie für die sowjetische Volkswirtschaft ausgebeutet werden konnten, nahmen die Sowjets billigend in Kauf. Die Deportierten wurden zur Zwangsarbeit unter härtesten Bedingungen einge-setzt. Viele mussten in Kohlebergwerken arbeiten. Weitere Einsatzbereiche wa-ren die Metallindustrie in den Zentren der Schwer- und Rüstungsindustrie, et-wa im Ural, oder die Brennstoffindustrie, Torfstechen östlich von Moskau, Holzfällen in sibirischen Wäldern oder die Erdölindustrie am Kaspischen Meer. In der Hälfte der Arbeits-Bataillone hatten die Internierten keine den Arbeits-bedingungen entsprechende Kleidung und kein entsprechendes Schuhwerk. Sprunghaft stiegen unter diesen menschenunwürdigen Bedingungen die Krankenstände, bald starben die Deportierten in Massen. Allein 1945/46 re-gistrierte das NKWD 41.539 Tote, nicht mitgerechnet jene, die schon die Transporte in den Viehwaggons nicht überlebt hatten. Zehntausende waren

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selbst unter Herabsetzung der Mindesterfordernisse nicht mehr einsetzbar. Schon im August 1945, wenige Monate nach der Deportation, waren 36.125 Zwangsarbeiter derart geschwächt und krank, dass man sie nicht mehr zur Ar-beit verwenden konnte.

„Versuch, viele Millionen Deutsche auszurotten"

Der britische Philisoph und Mathematiker Bertrand Russell schrieb in der „Times" vom 23. Oktober 1945: „In Osteuropa werden jetzt Massendeportationen von unseren Alliierten durchgeführt in einem beispiellosen Rahmen, und ein offensichtlich vorsätz-licher Versuch wird unternommen, viele Millionen Deutsche auszurotten, nicht durch Gas, sondern indem man ihnen ihre Häuser und Nahrung weg-nimmt, um sie einen langsamen quälenden Hungertod sterben zu lassen. (...) Sind Massendeportationen Verbrechen, wenn sie während des Krieges von unseren Feinden begangen werden, und gerechtfertigte Maßnahmen so-zialer Regulierung, wenn sie durch unsere Alliierten in Friedenszeiten durch-geführt werden? Insgesamt überlebten nach Angaben des NKWD 66.468 Deportierte den Zwangsarbeitseinsatz nicht. Sie starben, vom NKWD registriert, auf dem Ge-biet der Sowjetunion. Diese Opferzahlen sind dabei als absolute Mindestwer-te zu betrachten. Die wahren Todesziffern dürften weitaus höher liegen.

Auch der Zeitzeuge Franz Kiesmann wurde mit seiner Familie zur Zwangs-arbeit in die Sowjetunion verschleppt. In einem bisher unveröffentlichten Er-lebnisbericht schildert er die Schrecken im bolschewistischen KZ: „Unsere Familie lebte bis Herbst 1944 im Dorf Pauschin neben der Stadt Munkatschi im so genannten Karpatenland, das damals zu Ungarn gehörte. Wegen der Annäherung der Sowjetarmee flüchteten wir nach Deutschland und landeten endlich im Sudetenland, in Priesen bei Postelberg. Die Familie bestand aus fünf Personen: Vater, geboren 1907; Mutter, geb. 1912; Jahrgänge der Kinder: Tochter - 1936; Söhne - 1938 und 1943. Nach Kriegsende mussten wir das zur Tschechoslowakei gewordene Sudetenland verlassen. Da die Mutter große Sehnsucht nach der Heimat hatte, kehrten wir im Herbst 1945 nach Hause zurück. Der Heimatort gehörte nun zur Ukraine und hieß Sakarpatskaja Oblastj. Unser Haus war von einem Ukrainer besetzt und wir quartierten uns bei Bekannten ein. Nach einigen Mona-

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ten, Anfang März 1946, schleppte man uns nach Sibirien fort. Wir kamen ins Arbeitsrevier Bajaryk, Gebiet Tjumenj, Rayon Nishnaja Tawda. Von der ersten Zeit blieben mir nicht viele Eindrücke. Wahrscheinlich war es noch nicht so bedrückend schlecht. Was der Vater sagte, kann ich auch jetzt noch nicht ganz glauben. In der Zeit von zwei Jahren, die er dort verbrachte, bekam er keinen Rubel Lohn. Auch die Mutter nicht. Obwohl sie beide, so-lange sie fähig waren zu arbeiten, als Holzfäller oder Holzflößer schufteten. Der Vater sagte, wir lebten von dem, was wir für die verkauften Kleidungs-sachen und Ähnliches bekamen, und von dem, was uns die Verwandten aus dem Heimatort per Post schickten. Sonst aßen wir im Winter verfaulte Fische und wurmige Pilze (Pilze gab es in der Taiga sehr viele). Im Sommer war es nicht so schlimm. Es gab wenigstens Gras. Fleisch habe ich in den zwei Jahren, die ich an diesem Ort mit den Eltern verbrachte, nur zwei Mal geges-sen: Einmal gelang es meinem Vater, zusammen mit einem anderen Mann, den Hund eines dort gelegentlich erschienenen Jägers zu entführen und zu schlachten. Das zweite Mal war es der Fall, als wir mit meinem Vater aus dem Nest einer Krähe zwei Küken geholt haben. Nach meiner Erinnerung habe ich meinen Vater zwei Mal bewegungslos lie-gend gefunden. Vater sagte, ich hätte ihn drei Mal vor dem sicheren Tod ge-rettet. Einmal, es war im Frühling, habe ich ihn mit jungem Grün von Tannen-bäumen gefüttert. Er war schon so schwach, dass er die Sprossen nicht kau-en konnte, sondern ich dies für ihn übernehmen musste. Als er einiges davon geschluckt hatte, kam er wieder zu Kräften und konnte mit meiner Hilfe auf-stehen und gehen. Er war einfach extrem ausgehungert. Nicht alle waren so schwer betroffen wie wir, aber mit Sicherheit kann ich bestätigen, dass es noch viel schlimmere Fälle gab als uns. Ich erinnere mich zum Beispiel gut daran, wie einmal eine Frau zu uns kam und meine Mutter um Spülicht bat. Meine Mutter hat es ihr nicht gegeben und weinte, als die Frau fort ging. Nach unserer Frage, worum es denn gehe, hat sie gesagt, dass sie der Frau das Spülwasser nicht geben konnte, weil dort nichts enthalten war außer dreckiger Stärke, die nach dem Kochen von alten Kartoffelschalen am Rand des Topfes hängen geblieben war.

Zwei Nachbarskinder starben an Hunger

Wir wohnten in einer Barackenhälfte, die einen Herd hatte und mit Brettern über der Mitte des Ofens auf zwei Räume geteilt war. In der anderen Hälfte

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wohnte eine Familie, die am Anfang aus acht Personen bestand. Zwei ihrer Kinder, etwa in meinem Alter, starben an Hunger. Der Bretterverschlag, der den Raum unserer und ihrer Familie trennte, hatte über dem Ofen eine brei-te Lücke, durch die man alles sehen konnte. Als einer der Jungen im Sterben lag, hat man ihm noch ein Stück Brot gebracht. Er schaffte es aber nicht mehr, es zu essen, und schaute mich nur noch mit einem mildem Lächeln an. An den Tod dieses Jungen erinnere ich mich so gut, weil es mich gefreut hatte, dass er so „leicht", d.h. ohne Schmerzen, gestorben war. Einmal habe ich gesehen, wie der Vater dieses Jungen eine Maus auf dem Herd briet und aß. Später habe ich mehrmals meinen Vater gefragt, ob das wirklich stimme. Mein Vater sagte mir, dass der Nachbar nicht nur Mäuse ge-gessen habe, sondern auch Spinnen und Fliegen, wenn es ihm gelang, diese zu fangen. Da mein Vater nur eine Last für die Familie war, beschloss er, in die Heimat zu flüchten und von dort uns zu helfen. Das war im Winter 1948. Bis Vater nach Mukatschewo kam, starb meine Mutter. Nach kurzer Zeit kamen wir, die Kinder, in verschiedene Kinderheime. Nach etwa einem Jahr hat man Vater verhaftet und wegen der Flucht zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. Später, als wir wieder zusammen waren, sagte er, es wäre viel humaner gewesen, uns zu töten, als so mit uns umzugehen. Um aber gerecht zu sein, muss ich auch hin-zufügen, dass er die 'einfachen Russen' sehr positiv charakterisierte. Während seiner Odyssee war er oft gezwungen gewesen, um Übernachtungsmöglich-keiten zu bitten, und die Leute haben ihm Übernachtungen nicht verwei-gert, sondern mit ihm sogar noch das Essen geteilt, obwohl sie selber fast nur Kartoffeln zu essen hatten."

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Das „Recht auf Heimat" nach 1945

Der „Bund der Vertriebenen" und die „Staatsknete"

Nach ihrer „Befreiung" 1945 hatten die Vertriebenen zunächst große Mühe, ihre Anliegen in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Erste Organisationsansätze in Westdeutschland wurden von den alliierten Militärregierungen unterbunden (Koalitionsverbot für Vertriebene). Nachdem das Koalitionsverbot 1948 in den Westzonen aufgehoben worden war, organisierten sich die Vertriebenen in Landesverbänden, die sich schon 1949 zu einem Zentralverband der vertriebenen Deutschen vereinigten. Auch wurden nach Aufhebung des Ko-alitionsverbotes Landsmannschaften gegründet, welche sich vor allem die Pflege des kulturellen Erbes zum Ziel setzten. Die Landsmannschaften orga-nisierten sich am 18. August 1952 im Dachverband „Verband der Lands-mannschaften" (VdL) und umfassten 20 Verbände mit etwa einer Million Mitglieder. Am 27. Oktober 1957 wurde schließlich der „Bund der Vertriebe-nen" (BdV) gegründet. In 16 Landesverbänden und 21 Landsmannschaften sind dort heute rund zwei Millionen Mitglieder organisiert. Sie sind Mitglie-der in den rund 6.000 regionalen Gliederungen und den über 1.000 Heimat-kreisvereinigungen bzw. Heimatortsgemeinschaften. Verboten war durch die Alliierten zunächst auch eine parlamentarische Inte-ressenvertretung der Vertriebenen. Erst 1950 wurde in Schleswig-Holstein die Partei „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (BHE) gegründet, welcher bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein im selben Jahr 23,4 Pro-zent der Stimmen errang und in einer Reihe anderer Länder an der Landes-regierung beteiligt wurde. Im November 1952 wurde der BHE Bundespartei und nannte sich „Gesamtdeutscher Block/BHE" (GB/BHE). 1953 zog der GB/BHE mit einem Stimmenergebnis von 5,7 Prozent in den Bundestag ein und wurde sogar an der zweiten Regierung Adenauer beteiligt, in der er zwei Minister - unter ihnen mit Theodor Oberländer auch den Vertriebenen-minister - stellte. Infolge von Gegensätzen in der Frage des Saarstatuts trat je-doch eine Spaltung der Fraktion ein. Die Minister Kraft und Oberländer tra-

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Die Charta der Heimatvertriebenen von 1950. Anfangs noch national ge-sinnt, ließen sich viele Vertriebenenfunktionäre in der Folgezeit von der CDU/CSU mit „Staatsknete" und Bundestagsdiäten korrumpieren.

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Dieses Schaubild verdeutlicht das Ausmaß von Vertreibung und Umsied-lung nach 1945.

ten aus der Partei aus, sieben Abgeordnete überwiegend der CDU/CSU bei. 1955 ging die Partei in die Opposition, 1957 scheiterte sie bei der Bundes-tagswahl an der Fünf-Prozent-Hürde. Das Ende der Vertriebenenpartei war damit eingeleitet. Sie wurde im Laufe der Zeit zu einer politisch bedeu-tungslosen Splittergruppe. Man hatte sich von der CDU/CSU „zu Tode umar-men" lassen ...

Das falsche Spiel der CDU/CSU

Der 1957 gegründete „Bund der Vertriebenen" wurde nach dem Scheitern ei-ner parlamentarischen Vertretung mehr und mehr zur „Folklore-Spielwiese".

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Seine Führung war besonders darum bemüht, es sich mit den amtierenden Bundesregierungen nicht zu verscherzen, um den staatlichen Geldfluss für ihre kulturellen Aufgaben nicht zu gefährden. Es half jedoch alles nichts: Im Jahre 2000 wurde dem BdV ein Großteil der „Staatsknete" vom damaligen SPD-Kulturstaatsminister Naumann gestrichen. Maßgebliche Politiker der Bundestagsparteien, allen voran solche der CDU/CSU, sprachen regelmäßig auf Treffen des BdV und unterstützten das von ihm eingeforderte „Recht auf Heimat" per Lippenbekenntnis, um sich das Millionenheer der Heimatvertrie-benen als „Stimmvieh" zu sichern. Ein falsches Spiel, das ein Teil der Vertrie-benen bis heute nicht durchschaut hat, das aber der CDU/CSU stets wichti-ge Wählerstimmen bescherte. Im Gegenzug sicherte (und sichert) die CDU/CSU dafür einigen Vertriebenenfunktionären stets verlässliche Listen-plätze bei Wahlen. Es handelt sich dabei um ein gegenseitiges Stillhalteab-kommen zum eindeutigen Schaden der Vertriebenen, das jedoch einigen ih-rer Funktionäre bis heute satte Bundestagsdiäten und andere Pfründe be-schert. Viele Vertriebene warten dafür wahrscheinlich noch immer auf die von Kohl und Gesinnungsfreunden 1982 vollmundig versprochene „geistig-mo-ralische Wende".

Anbiederei an Herrschende

Dass in Wirklichkeit nur eine starke Rechtspartei im Bundestag und den Landtagen die Interessen der Vertriebenen vertreten kann, wird leider aus Gründen der „politischen Korrektheit" und der Anbiederei an die herrschen-den Machtverhältnisse in Bundesdeutschland von zahlreichen Vertriebenen-Funktionären bis heute ignoriert. Dass viele einfache Mitglieder des BdV in dieser Frage ganz anders denken, steht auf einem anderen Blatt...

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Landraub bleibt Landraub!

Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ablehnung der Oder-Neiße-Grenze in der deutschen Öffentlichkeit einhellig. Nicht nur der Vorsitzende der SPD für die Westzonen, Kurt Schumacher, von Geburt Westpreuße, erklärte, Deutsch-land werde die Oder-Neiße-Linie nie als deutsche Grenze anerkennen, son-dern man werde um jeden Quadratmeter deutschen Bodens jenseits dieser Linie mit friedlichen Mitteln kämpfen („Verzicht ist Verrat"). Auch Konrad Adenauer (CDU) betonte, „dass wir den Anspruch auf den Osten Deutsch-lands niemals aufgeben werden". Selbst kommunistische Funktionäre in der sowjetisch besetzten Zone, darunter Otto Grotewohl und Wilhelm Pieck, lehnten die Oder-Neiße-Linie zunächst entschieden ab. Erst mit dem Görlit-zer Vertrag vom 6. Juli 1950 erkannte die DDR die Oder-Neiße-Linie als „unantastbare Friedens- und Freundschaftsgrenze" an. Die Bundesregie-rung wandte sich hingegen weiter gegen den Verzicht auf die deutschen Ost-gebiete. Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) erklärte am 22. März 1964 vor dem Kongress Ostdeutscher Landesvertretungen in Bonn: „Für unser außenpolitisches Handeln gegenüber unseren Nachbarn im Osten kann die Grundlage nur die Wahrung des Rechts sein. Wir erheben gewiss keine Forderung auf fremdes Staatsgebiet. Aber wir verzichten nicht - und können angesichts der Verantwortung vor dem deutschen Volk, dem Recht und der Geschichte auch nicht verzichten - auf Gebiete, die die angestammte Heimat unserer deutschen Brüder und Schwestern sind. Vergessen wir nicht, dass die Mächte 1945, das heißt selbst in der Stunde des totalen Sieges, diesen Verzicht den Deutschen nicht zugemutet haben. " Völkerrechtlich wurde die Oder-Neiße-Linie auch nicht durch die „neue Ostpolitik" der Regierung Brandt/Scheel anerkannt, denn die Ostverträge der Jahre 1970 bis 1972 waren lediglich Gewaltverzichtsverträge auf der Grundlage des Status quo und standen unter Friedensvertragsvorbehalt. Erst die Regierung Kohl erkannte im Jahre 1990 den polnischen Landraub völkerrechtlich an und verzichtete damit offiziell auf Schlesien, Pommern und Ostpreußen (ein Viertel Deutschlands in den Grenzen von 1937). Mit dem „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutsch-

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land", dem darin vereinbarten Grenzvertrag zwischen Deutschland und Polen und weiteren Vereinbarungen über Deutschland im Zuge des KSZE-Prozesses wurden Regelungen getroffen, die einen Friedensvertrag ersetzen sollten. Damit wurde im internationalen Recht ein Präzedenzfall für die An-erkennung von Völkermord und Vertreibung geschaffen. Die Vertreibung von 15 Millionen Deutschen, verbunden mit der Ermordung von drei Mil-lionen, wurde durch Kohls Verzicht auf die Gebiete jenseits von Oder und Neiße legitimiert.

„Aus Unrecht erwächst kein Recht"

Führende Völkerrechtler zweifeln jedoch an der Rechtsgültigkeit der Ver-zichtsverträge. Professor Otto Kimminich etwa schrieb in „Aus Politik und Zeitgeschichte" (Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament") vom 10. Au-gust 1990: „Da zu den großen völkerrechtlichen Entwicklungen der vergangenen Jahr-zehnte vor allem die Festigung der Menschenrechte gehört, spielt die Men-schenrechtsfrage eine entscheidende Rolle im Friedensvertrag mit Deutsch-land wie in jedem Friedensvertrag, der nach geltendem Völkerrecht abge-schlossen wird (...). Die bedeutendste Grundlage für das völkerrechtliche Ver-treibungsverbot ist und bleibt das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das sich von 1917 bis 1945 von einem Prinzip zu einer Rechtsnorm verdichtet hat und in der Ära der Vereinten Nationen zum jus cogens geworden ist. Bezüg-lich der Rechtsnormqualität verstärkt das Selbstbestimmungsrecht das völker-rechtliche Vertreibungsverbot." Prof. Kimminich kommt zu dem Ergebnis: 1. Der Friedensvertrag, oder die ihn ersetzende sonstige Friedensregelung,

darf zur Frage der Vertreibung nicht schweigen. 2. Der Friedensvertrag, oder die sonstige friedensvertragliche Regelung,

darf die Vertreibung nicht billigen. Die Schlussfolgerung: „Selbstverständlich dürfen auch die rechtlichen Konsequenzen, die der Frie-densvertrag oder die sonstige Friedensregelung aus der Missbilligung der Vertreibung zieht, die Menschenrechte nicht verhöhnen. Ziel der diesbezüg-lichen Regelung ist es ja, eine Wiederholung der Vorgänge, die sich unmittel-bar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs abgespielt haben, in Zukunft un-möglich zu machen. Diesem Ziel würde ein bloßes Lippenbekenntnis zum all-

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gemeinen Vertrei-bungsverbot, oder eine formale Entschul-digung für die Vor-gänge der Jahre 1945/46, nicht dienen." Der „Vertrag über die abschließende Rege lung in Bezug auf Deutschland" (auch Zwei-plus-Vier-Ver trag genannt) schweigt aber zur Frage der Vertreibung und billigt ausdrück lich ihre Ergebnisse. Dieser Mangel ist entscheidend, denn die Wiener Konventi on über das Vertrags recht vom 23. Mai 1969 legt in Artikel 53 fest: „Ein Vertrag, der zur Zeit seines Abschlusses mit einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts im Widerspruch steht, ist nichtig." Dies entspricht dem völkerrechtlichen Grundsatz, dass aus Un recht kein Recht erwachsen kann („Ex iniure ius non oritur"). Da sowohl das Vertreibungsverbot als auch das Annexionsverbot im Völker recht eine herausragende Position einnehmen, kann man mit guten Gründen von der Völkerrechtswidrigkeit und damit Nichtigkeit der Grenzanerken- nungsverträge ausgehen. Das Recht hat dem Unrecht nicht zu weichen. Fremdherrschaft und Besatzung können nicht Grundlage für Versöhnung und Völkerverständigung sein. Auch Kohls Verzicht konnte und kann das Völ kerrecht nicht aushebeln. Landraub bleibt Landraub!

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Erinnerung an den Vertreibungs-Holocaust nach 1945: Mahnmal zur Geschichte des deutschen Os-tens im Park zu Timmendorf/Ostsee.

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Ist Erinnern an Völkermord „Geschichtsklitterung"?

Warum ein „Zentrum gegen Vertreibung" notwendig ist

Weil alle Opfer von Völkermord und Vertreibung einen Platz in unseren Herzen und im historischen Gedächtnis der Nation brauchen, plant eine Stif-tung ein „Zentrum gegen Vertreibung" in der deutschen Hauptstadt. Vorran-giges Ziel ist es, in Berlin eine Dokumentationsstätte zu schaffen, die im ge-schichtlichen Kontext das Schicksal der deutschen Vertriebenen und die Ver-änderungen Deutschlands durch ihre Integration erfahrbar macht und in die-sem Zusammenhang auch auf den Genozid an anderen europäischen Völkern im 20. Jahrhundert hinweist. Schon im Vorfeld erregte die geplante Gedenkstätte nicht nur Widerspruch bei polnischen Chauvinisten, sondern auch bei führenden „deutschen" Politikern. Bundeskanzler Schröder etwa betonte, er halte nichts von einem „Zentrum gegen Vertreibung" in Berlin, weil ein Dokumentationszentrum an diesem Ort Gefahr liefe, „allzu einseitig das Unrecht, das Deutschen widerfahren ist, in den Vordergrund der Debatte über Vertreibungen zu stellen und dabei zu sehr auszublenden, welches die historischen Ursachen sind". Niemand könne bestreiten, dass dies mit dem „deutschen Faschismus" zusammenhänge, weil er sonst „Geschichtsklitterung" betreibe, so „Weltstaatsmann" Schröder in Berlin. Was ihm allerdings entgangen zu sein scheint, ist Folgendes: Die 15 Millio-nen vertriebenen Deutschen, von denen drei Millionen bestialisch abge-schlachtet wurden, waren zu 99 Prozent keine „deutschen Faschisten", son-dern unschuldige Opfer des Krieges. Warum darf man deutscher Opfer nicht gedenken, während es für die Opfer des „deutschen Faschismus" mittlerweile rund 6.000 Mahnmale in der gesamten Bundesrepublik gibt? Was hatte das auf der Flucht erfrorene Kind, was hatte die vergewaltigte und erschlagene Frau, was hatte der in Dresden verbrannte Greis mit Hitlers Untaten zu tun? Wenn der Holocaust an Deutschen gerechtfertigt sein soll, nur weil es Hitler gab, dann ist dies eine an Zynismus nicht mehr überbietbare Argumentation.

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Es ist an der Zeit, endlich auch ein würdiges Mahnmal für die Millionen Op-fer des Vertreibungs-Holocausts zu schaffen. Dieses Jahrtausendverbrechen darf nicht weiter tabuisiert und verharmlost werden. Deutsche Opfer sind kei-ne Opfer „zweiter Klasse", sondern verdienen genauso Respekt und Anden-ken wie alle anderen Opfer von Gewaltherrschaft und Völkermord auch.

Verzicht als „Konsens in allen demokratischen Parteien"?

Dass Schröder in seiner „Warschauer Rede" Anfang August 2004 jegliche Forderungen der deutschen Vertriebenen nach Entschädigung an Polen vehe-ment zurückwies, passt dabei genau ins Bild und bestätigt einmal mehr die Tradition der SPD-Genossen als „vaterlandslose Gesellen", die auch Brandt 1970 als Bundeskanzler mit seinem „Kniefall" in Polen vorexerzierte. „Wir Deutschen wissen sehr wohl, wer den Krieg angefangen hat und wer seine ersten Opfer waren", rief Schröder vor versammelten Veteranen des War-schauer Aufstandes aus. Deshalb dürfe es auch „keinen Raum mehr für Re-stitutionsansprüche" geben, „die die Geschichte auf den Kopf stellen", so Schröder. Wer allerdings geglaubt hatte, die selbst ernannte „Opposition" in Gestalt von CDU/CSU würde sich demgegenüber ganz im deutschen Sinne verhalten, der irrte sich gewaltig: Gleich nach der umstrittenen Schröder-Rede in War-schau meldete sich CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer zu Wort, um dem Kanzler zur Seite zu springen. Er betonte, Schröder habe in Warschau „im Kern sicher vorgetragen, was richtig ist". Auch der außenpolitische Berater Merkels, Pflüger, bestätigte, Schröder habe deutlich gemacht, „was heute Konsens in allen demokratischen Parteien ist und was die Politik der bishe-rigen Bundesregierungen war". „Wenn Schröder etwas hätte bewirken wollen, dann hätte er sagen müssen: Wir verzichten auf deutsches Privateigentum und regeln diese Frage in ei-nem deutschen Gesetz", betonte dagegen die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach. In diesem Falle müsse Deutschland die Ent-schädigung selber zahlen. „Dass der Kanzler sich entlasten will auf dem Rücken der eigenen Landsleute, deren Vertreter nach außen er ist, das halte ich nicht für anständig", sagte Steinbach. Was Schröder in seiner War-schauer Rede zur Entschädigungsfrage gesagt habe, sei überdies ein „halb-herziger Schritt", so Steinbach. Polen erhalte dadurch keine Rechtssicher-heit. Kläger, die ihren verlorenen Besitz einklagen wollten, könnten bis vor

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internationale Gerichte gehen. Forderungen der „Preußischen Treuhand", die Eigentum von deutschen Vertriebenen in Polen einklagen will, erteilte Steinbach allerdings eine Absage. Demgegenüber zeigen sich polnische Politiker völlig ungeniert in ihren maßlosen Forderungen. Nachdem das polnische Parlament im September 2004 von Deutschland Milliarden an Reparationen für den Zweiten Welt-krieg gefordert hatte, haben zwei extrem chauvinistische polnische Politiker in einem Interview mit dem „stern" (Nr. 40/2004) nachgelegt. Jaroslaw Kaczynski, Vorsitzender der Partei „Recht und Gerechtigkeit" (PiS) und einer der Initiatoren der erwähnten Resolution des Sejm, sowie sein Zwil-lingsbruder Lech, Oberbürgermeister von Warschau und Ehrenvorsitzender der PiS, wiederholten in dem Gespräch die dreisten Anschuldigungen gegen Deutschland und bekräftigten die Milliarden-Forderungen des polnischen Parlaments. Lech Kaczynski sagte: „Das ist keine leere Drohung. Wir meinen es ernst." Und Bruder Jaroslaw befand: „In Deutschland gibt es in der letzten Zeit ei-ne Tendenz, die Geschichte umzudeuten." Man verwechsele zunehmend Tä-ter und Opfer. Auf die Frage, ob mit Milliarden an Reparationszahlungen nicht das Ende des Zahlmeisters Deutschland in der EU gekommen sei, ent-gegnete er frech: „Das ist eine Argumentation, die viele Leute in Polen nervt. Schauen Sie mal, wie viel Geld ihr Deutsche an die neuen Bundesländer ge-zahlt habt." Das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen werde erst wieder normal, wenn Polen genauso reich sei wie Deutschland. Wenn man bedenkt, dass Deutschland den Antrag Polens auf Mitgliedschaft in der EU vorbehaltlos unterstützt hat und an Warschau dafür via Brüssel heute Milliarden an Subventionen überweist, müssen einem die Forderungen pol-nischer Chauvinisten nach weiteren Milliarden als Entschädigung für den Zweiten Weltkrieg wie blanker Hohn vorkommen. Polen hat ein Viertel des deutschen Staatsgebietes in den Grenzen von 1937 völkerrechtswidrig ge-raubt und seitdem wirtschaftlich ausgebeutet. Diese Milliarden -ja Billionen - an Wert sind kaum messbar. Keinem vernunftbegabten Menschen in Deutschland kann an Feindschaft mit dem polnischen Volk gelegen sein. Versöhnung kann jedoch nur auf der Ba-sis des Völkerrechts gelingen. Auch Polen muss endlich den Mut finden, sich zu seiner historischen Schuld zu bekennen. Im Sinne einer gerechten europäi-schen Friedensordnung ist eine gute Nachbarschaft zwischen Deutschen und Polen nicht nur wünschenswert, sondern auch dringend notwendig. Es darf

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nie wieder Krieg zwischen beiden Ländern geben, aber beide Völker müssen auch bereit sein, in den Spiegel der eigenen Geschichte zu blicken.

Vertriebenendenkmal in Neugablonz (Bayern).

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Unvergessene deutsche Städte

Danzig: Blick auf die gotische Marienkirche und das 1443 erbaute Krantor.

Blick auf den Fischmarkt von

Königsberg.

Die Marienburg in Ostpreußen.

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