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K URDISTAN R EPORT Für ein freies Kurdistan in einem demokratischen Mittleren Osten Nr. 153 Januar/Februar 2011 2,50 €

KURDISTAN REPORT - nadir.org · Tschador, Roman von Murathan Mungan Auf der Suche nach der vertrauten Weiblichkeit Buchbesprechung von Susanne Roden 53 Internet: Abschlussresolution

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Page 1: KURDISTAN REPORT - nadir.org · Tschador, Roman von Murathan Mungan Auf der Suche nach der vertrauten Weiblichkeit Buchbesprechung von Susanne Roden 53 Internet: Abschlussresolution

„Stolz, schöne ZukunftErkenne, wir sind die ÜberbringerUnd unter den Menschen, wie eine Perle verstecktWächst der Sieg und kommt uns nahe“ (A. Behramoğlu)

"Genehmigt"100 Bilder von 100 politischen Gefangenen

Ausstellung vom IHD in Mersin

ISSN

0935-5375

KURDISTANREPORT

Für ein freies Kurdistan in einem demokratischen Mittleren Osten

Nr. 153 Januar/Februar 2011 2,50 €

Page 2: KURDISTAN REPORT - nadir.org · Tschador, Roman von Murathan Mungan Auf der Suche nach der vertrauten Weiblichkeit Buchbesprechung von Susanne Roden 53 Internet: Abschlussresolution

Der türkische Staat und die kurdische Frage:Prognosen für 2011Baki Gül 4

Interview mit dem KCK-Exekutivratsvorsitzenden Murat KarayılanEs gibt nur einen Ansprechpartner: Abdullah ÖcalanGülistan Tara, Nachrichtenagentur ANF 7

In Kurdistan und der Türkei hat der Parlamentswahlkampf begonnenDemirtaş: Ein starker Block gegen die AKP ist nötig!Delil Firat, ANF 11

Demokratische Autonomie als antikapitalistische PerspektiveFür alle, die eine andere Welt für möglich haltenSebahat Tuncel, BDP-Abgeordnete 13

DTK und BDP arbeiten für die Demokratische AutonomieSelbstverwaltung und Beteiligungder BevölkerungZusammenfassung aus Veröffentlichungender Nachrichtenagenturen DIHA und ANF 15

Zwei Frauen aus der Friedensgruppe blicken auf die Ereignisse um den 20. Oktober 2009 zurückEin langer Weg – und doch so nah?!Şervîn Nûdem 18

Eine kurze Analyse des KCK-VerfahrensGemeinsames Merkmal der Angeklagten:oppositionellCihan Aydın, Rechtsanwalt Amed (Diyarbakır) 22

Aktueller Ermittlungsstand zum Massaker am 16.09.10 in Peyanis/Colemêrg„Das Massaker in Peyanis ist eine Botschaft des Staates an die kurdische Bevölkerung“Michael Knapp, Kurdistansolidaritätskomitee Berlin 24

Der Tod von Rasim GencerGefangene als Geiseln des türkischen StaatesMichael Knapp, Kurdistansolidaritätskomitee Berlin 27

Verstoß des türkischen Anti-Terror-Gesetzes gegen elementare GrundrechteWie aus Demonstranten Terroristen werdenEmel Engintepe, Kurd-Akad 30

Ein Bericht zur 7. Internationalen Konferenz im EU-Parlament in Brüssel„Der Weg zum Frieden – sich der Herausforderung stellen“Martin Dolzer 32

Europäische Juristinnen und Juristen fordern:Streichung der PKK von EU-TerrorlisteAZADÎ e. V. 35

Die neue Regierung im Irak und ihre Auswirkung auf das KräftegleichgewichtDen Kurden räumten sie lediglich die Rolle eines Jokers ein ...Adem Uzun 37

Die Situation der südkurdischen ParteienKeine Initiative, um die kurdische Frage zu lösenSavaş Andok 39

Truska, eine Frauenzeitung in SüdkurdistanFunke des Feuers für die Aufklärung der FrauenInterview mit Narin Feteh, Redaktionsmitglied der Frauenzeitung Truska 41

Aufruf zur Beteiligung an der Weltfrauenkonferenz in VenezuelaKurdisches Frauenbüro für Frieden – Cenî 44

Die 18. Hüseyin-Çelebi-Literaturveranstaltung in StuttgartDie Freiheit zu schreibenCane Zerey, Vorbereitungskomitee 45

2011 wird richtungsweisend für Wassergroßprojekte in KurdistanSolidarität mit den Menschen im Tigristal!Ercan Ayboğa, Initiative zur Rettung von Hasankeyf 47

Bericht von einer Reise ins ZapatistenlandLangsam, aber vorwärtsErcan Ayboğa 50

Tschador, Roman von Murathan MunganAuf der Suche nach der vertrauten WeiblichkeitBuchbesprechung von Susanne Roden 53

Internet:Abschlussresolution der 7. InternationalenKonferenz im EU-Parlament in Brüssel

Im Kurdistan Report Nr. 153 Januar/Februar 2011 berichten wir über:

l Unterstützungl Hilfel Öffentlichkeitsarbeitl Solidarität

Informationen:

AZADÎ e.V.Graf-Adolf-Str.70a40210 DüsseldorfTel: 0211 / 830 29 08E-mail: [email protected]://www.nadir.org/azadi

AZADÎ e.V.RECHTSHILFEFONDS

für Kurdinnen und Kurden in Deutschland

SPENDEN ERBETENGLS Gemeinschaftsbank eG

mit Ökobank BLZ 430 60 967

Kto. Nr. 8 035 782 600

FREIHEITAZADIFREIHEITAZADÎFrankreich:Centre d’Information du Kurdistan147 Rue Lafayette; 75010 ParisTel: (33) 1 42 81 22 71E-Mail: [email protected]

Schweiz:KURD-CHR15 rues des Savoises1205 GenevreTel: (41) 22 32 81 984E-Mail: [email protected]

Niederlande:FED-KOMSloterkade 10 1058 HD Amsterdam NLTel: (31) 20 - 61 41 816E-Mail: [email protected]://www.fedkom.nl

Dänemark:FEY-KURDVictoriagade 16 c, 2 Sal1655 KobenhavnTel: (45) 33 - 22 89 98E-Mail: [email protected]://www.kurder.dk

Australien:Australian Kurdish Association Inc.93 Main StreetBlacktown 2148 SydneyTel: (61) 2 - 96 76 72 45

Zypern:Kypriaki Epitropi Allileggyis stoKourdistanTach. Thyr. 256071311 Lefkosia / KyprosTel: (357) 2 - 37 42 16E-Mail: [email protected]

Russländische Föderation:Mala Kurdaul. Vilgelma Pika, d. 4/A129 226 MoskvaTel./Fax: (70) 95 - 18 71 200E-Mail: [email protected]

Ungarn:KURDISZTÁNI INFORMÁCIÓS ÉSKULTÚRÁLIS EGYESÜLETDózsa György út 58; 1076 Budapest(36) 30 405 8790, (36) 30 873 7521E-Mail: [email protected]

Belgien:KNK - Kurdistan National Kongress |Zentrale41 Rue Jean Stas 1060 BrüsselTel: (32) 2 647 30 84E-Mail: [email protected]

Belgien:KON-KURD41 Rue Jean Stas 1060 BrüsselTel: (32) 2 647 99 53E-Mail: [email protected]

Deutschland:Ceni - Kurdisches Frauenbüro für Friedene.V.Corneliusstr. 12540215 DüsseldorfTel: (49) 211 - 5989251E-Mail: [email protected]

Deutschland:YEK-KOMGraf-Adolf-Str. 70a40210 DüsseldorfTel: (49) 211 - 17 11 451E-Mail: [email protected]://www.yekkom.com/

Deutschland:Internationale InitiativeFreiheit für Abdullah Öcalan - Frieden inKurdistanPostfach 100511, D-50445 KölnTel: (49) 221 130 15 59E-Mail: [email protected]://www.freedom-for-ocalan.com

Deutschland:ISKU | Informationsstelle Kurdistan e.V.Büro für Internet und ÖffentlichkeitsarbeitStahltwiete 10; 22761 Hamburg,Tel: 040 / 42102845E-Mail: [email protected]://isku.org

Österreich:FEY-KOMJurekgasse 261050 Wien Tel: (43) 1 - 9718824 E-Mail: [email protected]

Italien:Ufficio d´Informazione del Kurdistan inItaliaUIKI-OnlusVia Gregorio VII 278, int. 1800165 RomaTel: (39) 06 - 636892E-Mail: [email protected]://www.uikionlus.com

ImpressumDer Kurdistan Reporterscheint regelmäßig

Redaktion:W. Struwe (V.i.S.d.P.),S. Karabulut,B. Ruprecht, E. Millich

Kontaktadresse:Kurdistan Reportc/o ISKU –InformationsstelleKurdistan e.V.Stahltwiete 1022761 Hamburg

Bankverbindung:Dr. H. J. SchneiderHamburger SparkasseKto.Nr. 102 021 21 20BLZ 200 505 50

Internet-Adresse:[email protected]

Druck:PrimaPrint, Köln

Preise:Jahresabonnement6 Exempl. 15,– Euro

plus Portokosten

Einzelexempl.: 2,50 Euro

Titelbild:Gever (Yüksekova)Proteste nach demMordversuch an kurdi-schem JugendlichenFoto: DIHA

Rückseite:Ausstellung vomIHD in Mersin "Genehmigt" 100Bilder von 100 politi-schen Gefangenen Foto: DIHA

Namentlich gezeichneteArtikel geben nichtunbedingt die Meinungder Redaktion wieder.Artikel, LeserInnen -briefe und Fotos sinderwünscht und werdennach Mög lichkeit abge-druckt. Die Redaktionbehält sich das Rechtauf Kürzungen vor.Nachdruck – auch aus-zugsweise – nur mitGenehmigung derRedaktion.Wir bedanken uns fürdie Unterstützung zahl-reicher Freundinnenund Freunde.

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editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

willkommen zu einer neuen Nummer des KurdistanReport in einem neuenJahr.

Seit unserer letzten Ausgabe ist es jetzt sozusagen amtlich: Die von der kur-dischen Freiheitsbewegung im letzten August begonnene Waffenruhe wurdeals „Aktionspause“ bis zur türkischen Parlamentswahl im Juni 2011 ausge-dehnt.

Natürlich – wie immer in den letzten Jahren – nicht bedingungslos, son-dern geknüpft an bestimmte Entwicklungen, einer stetigen Neubewertungder Situation unterworfen und unter dem Vorbehalt aktiver bewaffneter Not-wehr- und Vergeltungsaktionen, der „legitimen Selbstverteidigung“ eben.

Der Gedanke drängt sich auf, dass die Bewegung doch bisher eigentlichgelernt haben müsste, dass ihren einseitigen Waffenruhen seit 1993 regelmä-ßig die Anerkennung der Gegenseite versagt bleibt, dass ihnen keine Zuge-ständnisse folgen. Trotz vorgeblicher Beteuerungen irgendwelcher staatlicherVertreter, die bei Abdullah Öcalan vorsprechen.

Wir müssen immer wieder konstatieren, dass es keine Substanz hat, was inder kurdischen Frage vom türkischen Staat, von der türkischen politischenKlasse kommt. Im Gegenteil, alle Meldungen der letzten Zeit illustrieren nurdie bekannte türkische Strategie, die organisierte kurdische Freiheitsbewegungauf militärischer und auf politischer Ebene vernichten zu wollen. Im Südostendes Landes Zustände wie unter einer Militärdiktatur (z. B. Dauerbeschuss derGrenzregionen), eine Atmosphäre des Staatsterrors mit Massakern (wie inPeyanis) und politischen Mord(versuch)en (wie in Gever), Massenprozessegegen die VertreterInnen der kurdischen Zivilgesellschaft (besonders derKCK-Prozess) – im Einzelnen eigentlich alles kleine Kriegserklärungen. Nega-tivposten in einer politischen Bilanz. Und in einer solchen Situation eine Waf-fenpause?

Müsste es da nicht heißen: im Osten nichts Neues? Vordergründig und vonaußen betrachtet sieht es danach aus, ja. Einerseits.

Andererseits müssen wir aber erstens wohl davon ausgehen, dass die kurdi-sche Freiheitsbewegung, wenn sie schon etwas gelernt haben müsste (sieheoben), dann auch im politisch-taktischen Verhalten. Ihre Handlungsweisemag sich für uns darstellen, als bewege sie sich zwischen politischem Langmutund strategischem Denken. Doch gehört es nicht zum Beispiel auch zum poli-tischen Geschick, in einer verfahrenen konfrontativen Situation den Druckmindern und der Diplomatie wieder Raum schaffen zu können?

Und zweitens besteht ein wesentlicher Unterschied zu früher: Seit Juni gibtes die „vierte strategische Phase“ mit dem Projekt der „Demokratischen Auto-nomie“. Also die basisdemokratische Realisierung und Verankerung der kur-dischen Existenz.

So sind doch noch Positivposten in der politischen Bilanz zu vermerken.Und es lässt sich feststellen, dass die kurdische Seite in diesem Konflikt eigent-lich doch am längeren Hebel sitzt: Sie verfügt über eine Perspektive (Selbst-bestimmung), ein entsprechendes politisches Projekt (Demokratische Auto-nomie) und einen langen Atem, es zu verwirklichen. Die Gegenseite hat keinZiel außer Vernichtung, zwar mit internationaler Unterstützung, aber per-spektivlos.

Und so findet in der aktuellen Situation eine Waffenruhe ihre Berechti-gung, um zumindest die Chance zum Frieden nicht zu verbauen. Und wer aneinem gerechten Frieden interessiert ist – oder, wie Sebahat Tuncel formuliert,„wer eine andere Welt für möglich hält“ –, sollte sie unterstützen.

In diesem Sinne Ihnen und uns ein erfolgreiches Jahr 2011,Ihre Redaktion„Die Zeit ist reif für einen neuen Aufbruch der interna-

tionalen Frauenbewegung!“ Cenî ruft mit zur Weltkon-ferenz im März 2011 nach Venezuela auf. Fotos: DIHA

Die Menschen in Gever lassen sich von der Repressionder türkischen Regierung nicht mehr einschüchtern. Sieorganisieren ihre legitime Selbstverteidigung.

Trotz Aktionspause der HPG sind seit August 2010 32Guerillas vom türkischen Militär getötet worden. JedeBeerdigung ist eine Demonstration der Bevölkerung.

Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 2011

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 2011

Im Jahre 2010 ist die Regierung der Partei für Gerechtigkeitund Aufschwung AKP, oder generell der türkische Staat, in

der Kurdenfrage an einem neuen Punkt angelangt.

Am 1. Juni 2010 erklärte die Gemeinschaft der Gesellschaf-ten Kurdistans KCK den Beginn einer neuen Phase in der Kur-distanfrage. Von diesem Zeitpunkt an weitete sich der Kriegbis zum 13. August auf zuvor noch nie betroffene Landstricheaus. Die Guerilla bewies, dass sie nicht nur in den Bergen Kur-distans, sondern auch in zentralen Provinzen, Landkreisen,selbst im Westen der Türkei wie in Istanbul, in Adana, in derSchwarzmeer- oder Mittelmeergegend aktiv werden kann.

In eben diesem Zeitraum von zweieinhalb Monaten wurdein der politischen Welt und der Öffentlichkeit in der Türkeiein breitgefächerter Diskurs darüber geführt, dass die Arbei-terpartei Kurdistans PKK nicht an Kraft verloren habe unddass der türkische Staat mit seinen Militäroperationen wederdie Kraft der PKK mindern noch die Kurdenfrage lösenkönne. Staatspräsident, AKP-Regierung, Militär, Inlandsnach-richtendienst MIT und weitere Instanzen der staatlichenAdministration kamen zusammen und konferierten. Die meis -ten dieser Gespräche waren geheim und vor der Öffentlichkeitverborgen. Man wollte ein Ende der PKK-Aktionen.

Darum kam es auf Imralı zu Gesprächen mit Abdullah Öca-lan, dem Gründer und Vorsitzenden der PKK. Infolge dieserGespräche erklärte die KCK am 13. August eine befristete ein-seitige Waffenpause, um das Verfassungsreferendum am 12.September ungestört verlaufen lassen zu können. Später setz-ten Vertreter des Staates die Gespräche mit Öcalan auf Imralıfort. Allerdings wurden in der Provinz Hakkari bei einemKontra-Angriff neun Zivilisten von türkischem Militär ermor-det.

Einerseits führte der Staat Gespräche mit Öcalan, und ande-rerseits hielten die Operationen des Militärs an. Trotz allemerklärte die KCK auf einen Appell Öcalans hin, sie könne dieAktionspause bis in die Sommermonate 2011 verlängern.Auch dies war eine komplizierte Phase, und die Frage nachihrem Verlauf ließ im Hinblick auf die Regierung erheblicheZweifel aufkommen: auf der einen Seite die anhaltende Waf-fenruhe und demgegenüber diverse Militäroperationen, aufder anderen Seite Bürgermeister, ehemalige Abgeordnete, Mit-glieder und Mitarbeiter der im Dezember 2009 verbotenenPartei für eine Demokratische Gesellschaft DTP und der Par-

tei für Frieden und Demokratie BDP, die bis zu anderthalbJahre lang inhaftiert auf ihren Gerichtstermin warteten. Als esdann zur Verhandlung kam, wurden sie daran gehindert, ihreVerteidigung auf Kurdisch zu führen. In den Regierungserklä-rungen ließ sich kein einziger Ansatz zur Konfliktlösung fin-den, der die Kurden hätte überzeugen können.

Denn die Gespräche auf Imralı mit Öcalan um eine Verlän-gerung der Waffenruhe wurden zwar von der AKP nichtdementiert, ihnen wurde jedoch gleichzeitig weder Relevanznoch offizielle Tragweite und somit keinerlei Verbindlichkeitzugesprochen.

Gleichzeitig äußerte Premier R. Tayyip Erdoğan: „Niemandsoll Bildung in der Muttersprache fordern. Das wird es nichtgeben.“ Prägnant auch die Aussage des Gerichts von Amed(Diyarbakır), das Kurdisch, als es die Angeklagten im KCK-Prozess benutzen wollten, als „eine nicht bekannte Sprache“definierte und seinen Gebrauch unterband. Die Haltung desGerichts, die Tatsache, dass Kurden sich vor Gericht nicht inihrer Muttersprache verteidigen dürfen, zog sowohl Reaktio-nen aus der türkischen und kurdischen Gesellschaft als auchmancher AKP-Abgeordneter nach sich.

Für diesen Zweck werden die Namen des Bürgermeistersvon Amed (Diyarbakır), Osman Baydemir, oder andererinstrumentalisiert, um Gegenpropaganda oder Verleumdun-gen über die kurdische politische Sphäre in die Welt zu setzen,insbesondere in den kurdischen Regionen. Obgleich sowohlOsman Baydemir als auch kurdische Parteien solche Spekula-tionen dementieren, versuchen Ankara-zentrierte und AKP-nahe Mediengruppen Nachrichten dieser Art weiterhin auf derTagesordnung zu halten.

Andererseits bietet auch die Republikanische VolksparteiCHP auf Grund ihrer internen Veränderungen und aktuellenDebatten keinen Nährboden für optimistische Einschätzun-gen, wenn man sie im Lichte der Kurdenfrage betrachtet. DieVeränderungen in der CHP hinsichtlich ihrer Kurdenpolitikbetreffen lediglich den Stimmenfang in Kurdistan, wo ihreWahlprognosen momentan fast auf Null geschrumpft sind;mit formellen Rundreisen in den kurdischen Gebieten will siedie Kurden davon überzeugen, sich ihr politisch anzunähern –davon sind sie weit entfernt.

Während in den Medien die Idee eines alternativen Wahl-bündnisses zwischen CHP und BDP aufkam, hat dies sogar in

Der türkische Staat und die kurdische Frage:

Prognosen für 2011

Baki Gül

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Ankara und besonders bei der AKP für Empörunggesorgt, aber eine solche Alternative erscheintkurzfristig auch unrealistisch. Denn die CHP ver-steht unter Veränderung ihre Anpassung an dieoffizielle staatsdoktrinäre Politik und will, miteiner formalen Herangehensweise, eine funda-mentale Macht sein. Natürlich kann die Dynamikder Veränderung den Anstoß zur Demokratisie-rung in der CHP geben, allein ist davon momen-tan zumindest noch nichts zu sehen.

Mit der Partei der Nationalistischen BewegungMHP sieht es noch schlechter aus. Die MHPbleibt bei ihrer Haltung, mit einer nationalisti-schen und rassistischen Politik den Krieg fortzu-setzen. Und ist zudem noch weit reaktionärer alsdie anderen Parteien. Folglich zeigt sich auch fürdie Lösung der Kurdenfrage kein Potenzial in derAnkara-zentrierten Politik, das die Kurden über-zeugen könnte.

Kurdische Seite als Wegweiser bei derKonflikt lösung, Zurückhaltung beim

türkischen StaatDie Kurden versuchten in diesem Prozess, Zei-

chen des guten Willens zu setzen.Die KCK verlängerte im September die

Aktionspause vom 13. August um einen Monatund am 1. November schließlich bis zur Parla-mentswahl 2011. In seinem Appell legte derKCK-Exekutivrat sein Augenmerk darauf, dass dieWaffenruhe im Sinne eines fortwährenden Frie-dens und einer demokratischen Lösung verstan-den werden sollte.

Abdullah Öcalan machte darauf aufmerksam,dass bei den Gesprächen auf Imralı nicht klargeworden sei, ob die AKP, insbesondere PremierErdoğan, überhaupt an einer Lösung des Pro-blems interessiert ist oder nicht; wenn die Gespräche auf eineLiquidation der PKK abzielten, werde er sich am 1. März 2011zurückziehen. Dies illustriert, dass sich keine Lösung der kur-dischen Frage abzeichnet. Trotz alledem haben die Kurdenbeharrlich an ihren Belangen wie „Bildung in der Mutterspra-che“ und „Kurdisch in öffentlichen Einrichtungen“ und derForderung nach einer „neuen Verfassung“ festgehalten und somit ihren Aktivitäten eine beachtliche Agenda geschaffen.

Insbesondere das KCK-Verfahren – mit Tausenden Ange-klagten und vielfach als das „Verfahren des politischen Geno-zids“ umschrieben – wird bei den Kurden als Maßstab für dieErnsthaftigkeit der AKP-Regierung bei der Konfliktlösungangesehen. Denn es betrifft in erster Linie die Politik der Kur-den in den gesetzlichen Parteien, ihre gewählten Vorsitzenden,Bürgermeister und Abgeordneten. Dass die AKP-Regierungjegliche Diskussion um eine „neue Verfassung“ im Anschluss

an das Verfassungs-Referendum vom 12. September 2010 imKeim erstickte, hat die Erwartungen der Kurden gedämpft.

Nichtsdestotrotz haben die Kurden und gewerkschaftlichenOrganisationen ihre Pläne zur Vorbereitung von Arbeitskreisenfür eine „neue demokratische Verfassung“ nicht abgesagt.Sowohl in Kurdistan die BDP und der Demokratische Volks-kongress DTK, der unter seinem Dach über 1000 zivilgesell-schaftliche Gruppen vereint, als auch der Friedensrat der Tür-kei haben dafür Arbeitsgruppen gebildet.

Also hat der Demokratische Volkskongress parallel zur Waf-fenruhe in den kurdischen Provinzen, Ortschaften, Kommu-nen, Städten und Großstädten zahlreiche Veranstaltungen mitverschiedenen Gesellschaftskreisen organisiert, um diese Phasein einen Prozess dauerhaften Friedens umzuwandeln. Es wurdegetagt zu Themen wie demokratische Selbstverwaltung,Gesundheitswesen, Kultur, Politik und Religion. Es gab eben-falls Bemühungen, Konferenzen auf internationaler Ebene zur

„Wir sind alle KCK“ ist die Antwort der Bevölkerung auf die Festnahmen undden Gerichtsprozess in Amed gegen die gewählten PolitikerInnen, Bürgermeis -terInnen und MenschenrechtlerInnen. Neben der Forderung nach deren Frei-lassung steht auch die Forderung nach dem Recht auf den öffentlichenGebrauch der Muttersprache. Foto: DIHA

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 2011

kurdischen Problematik zu organisieren, um so eine Friedens-politik im internationalen Scheinwerferlicht entwickeln zukönnen.

Doch kam trotz aller Anstrengungen keine positive Reso-nanz von Regierungsseite. Ganz im Gegenteil brachte die AKPin Kurdistan auf religiöser Ebene eine neue „Liquidations- undAssimilationspolitik“ ins Spiel. Sogenannte „İrşad“-Truppen,die vom islamischen Glauben Abgekommene zurückführensollen, wurden aufgestellt und Rundschreiben an die Geist-lichen der Moscheen geschickt, außerdem wurde die Grün-dung weiterer islamischer Sekten wie Aczimendi oderNakşibendi in Kurdistan forciert.

Folglich wird insbesondere die Kurdenpolitik der AKP-Regierung gründlich infrage gestellt. Die Situation, das ihnenwiderfahrende Unrecht, sowohl der reelle Druck der Regie-rung in der Muttersprachenfrage als auch die Art der Bezie-hungen der AKP auf internationalem Parkett stimmen dieKurden distanziert und misstrauisch gegenüber der AKP.

ZukunftsaussichtenWie könnten die Aussichtslosigkeit und die wenig vielver-

sprechende Herangehensweise der Regierung in ihrer Kurden-politik das Problem in der bevorstehenden Phase beeinflussen?

Die KCK wird fraglos das von ihrem Vorsitzenden vorgege-bene Datum berücksichtigen. Der 1. März 2011 wird für dieKurden zu einem Tag von immenser Bedeutung werden.

Die Proteste anlässlich der Verschleppung Öcalans in dieTürkei vom 15. Februar 1999 könnten dieses Jahr noch grö-ßer und heftiger ausfallen. Vor allem denkbare negative Ent-scheidungen im KCK-Verfahren in Amed (Diyarbakır) könn-ten zu politischen Verschärfungen auf beiden Seiten führen.Denn nach dem 15. Februar wird auch in diesem Jahr der fürdie Kurden sehr wichtige März mit Aufständen und Massen-demonstrationen begangen. So zum Beispiel der Internationa-le Frauentag am 8. März, der Jahrestag des Massenmords vonHalabja am 16. März und der 21. März, der Tag des kurdi-schen Widerstands- und Neujahrsfestes Newroz.

Dem wird entgegenkommen, dass die Kurden den neuenVerfassungsdiskurs ausgeformt, die Verhandlungen überWahlbündnisse beendet und eine Wahlstrategie entwickelthaben werden, und auf lokaler Ebene werden sie in KurdistanLösungsalternativen oder fehlende Alternativen mit zivilgesell-schaftlichen Organisationen und dem Volk diskutiert haben.Das auf politischer und gesellschaftlicher Ebene noch organi-sierter erscheinende kurdische Potenzial wird auch auf diplo-matischer Ebene aktiver werden.

Aus der Sicht der Guerilla werden die Ereignisse auf jederEbene genauer beobachtet und grundsätzlich angegangen wer-den. Der KCK-Exekutivratsvorsitzende Murat Karayılan unddas HPG-Hauptquartier haben immer wieder betont, diediplomatischen und politischen Vorgänge aufmerksam zu ver-folgen, die Aktivitäten des türkischen Militärs aus der Nähe zubeobachten und im gegebenen Falle vom Recht der Notwehr[„legitime Selbstverteidigung“] aktiv Gebrauch zu machen.

Die kurdische Seite betont, dass Staat und Medien in derTürkei das Thema „Ende des bewaffneten Widerstands undNiederlegung der Waffen“ sehr oberflächlich behandeln. Kur-dische Organisationen, die in strategischer Hinsicht von einerLösung der kurdischen Frage auf politischer Grundlage, mitfriedlichen und demokratischen Mitteln, ausgehen, sehen denbewaffneten Widerstand der Guerilla als Mittel der Notwehrgegen die kolonialistische Assimilation und Gewalt. Aber sieweisen weiter darauf hin, dass die Gewalt der Waffen ohnehinkein Problem mehr darstellen würde, wenn internationalabgesichert die kurdische Frage in eine Phase der demokrati-schen Lösung und des dauerhaften Friedens eintrete. Und fallseine Periode bewaffneter Auseinandersetzungen wieder begin-nen sollte, dann gewappnet und ausgedehnt als „revolutionä-rer Volkskampf“.

Folglich wird die Türkei im Jahre 2011 ein größeres Chaoserleben, wenn die Gespräche von Imralı – insbesondere in derAKP-Regierung, den Parlamentsparteien und allen staatlichenInstanzen – politisch nicht gebührend thematisiert und in eineAnnäherung an eine Lösung umgesetzt werden können. DieKurden werden ihre eigene Lösung mit der „demokratischenSelbstverwaltung“ formulieren und realisieren. Es mag sein,dass sich die Türkei in einer Balkanisierungs- und „Irakisie-rungs“-Situation wiederfindet. Sobald die Auseinandersetzun-gen durch das Ausbleiben von Alternativen im Problemlö-sungsprozess angeheizt werden, könnte das kommende Jahr2011 zum Jahr des eigentlichen Bruchs zwischen Türken undKurden werden.

Lediglich um Konfliktlösung bemühte Institutionen undAkteure könnten die Phase positiv umdrehen und einen zügi-geren Lösungsweg einläuten. Die Anerkennung der Gesprächemit Öcalan auf Imralı, des Dialogs und von Verhandlungen alsbewährte Werkzeuge würde den Prozess beschleunigen. Undebenso könnte ihn die Realisierung der immer wieder ange-kündigten, aber sabotierten Treffen mit kurdischen Vertreternpositiv beeinflussen.

Selbstverständlich müsste dafür die türkische Öffentlichkeitin jeder Hinsicht offen- und für eine Lösung bereit gemachtwerden. Dies kann nur geschehen, wenn die Medien Schlussmachen mit ihrer Kurdenphobie und die Politik mit ihrerkonfrontativen Haltung. In dem Falle, dass Dialog und Ver-handlungen auf demokratisch-politischer Basis geführt wer-den, könnte sich eine Lösung sehr schnell entwickeln. Daherist der Vorschlag der kurdischen Seite einer „Kommission zurErforschung der Wahrheit und Schaffung von Gerechtigkeit“eine ausgezeichnete Gelegenheit. Nähme das türkische Parla-ment diesen Vorschlag an und käme es dabei zu einer Ent-scheidung, könnte sich der Friedensprozess sehr viel einfachergestalten.

Folglich befinden wir uns in einer Phase, die für eineLösung des Konflikts rund um die kurdische Frage Hoffnungschöpfen lässt. Und in der Hoffnung auf eine Lösung unddauerhaften Frieden wünsche ich unseren Lesern ein frohesneues Jahr 2011. t

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 2011 7

Sie haben am 1. November die Aktionspause bis zurWahl verlängert. In der Erklärung heißt es, die türki-sche Regierung habe Ihre früheren Forderungen nichterfüllt. Warum wurde die Aktionspause dennoch ver-längert?

Wir hatten am 13. April 2009 eine einseitige Waffenruheverkündet. Diese Phase hielt über ein Jahr lang an. Die AKP-Regierung ließ indessen am 14. April kurdische Politikerinnenund Politiker verhaften; sie leitete eine Phase des politischenGenozids ein und beschloss, mit dem Projekt der „demokrati-schen Öffnung“ die kurdische Freiheitsbewegung zu liquidie-ren. Dagegen verkündeten wir am 1. Juni 2010 offiziell die„vierte strategische Phase“ [vgl. KR Nr. 152, S. 14ff.], um dieLösung der kurdischen Frage aus eigener Kraft zu schaffen.

Sie wurde gegenüber der Realität des Staates und der Regie-rung, die für eine Lösung nicht bereit waren, als eine Etappedeklariert, in der wir die Lösung mit dem Widerstand ent -wickeln werden. Unser Vorsitzender zog sich zurück [vomGesprächsangebot]. Daraufhin schickte der Staat eine Delega-tion zu ihm. Die unterbreitete den Vorschlag, der Vorsitzendesolle erneut die Initiative ergreifen, und die militärischen Akti-vitäten sollten eingestellt und die Lösungsphase diskutiertwerden. Also verkündeten wir am 13. August 2010 eine erneu-te Waffenruhe, unsere Lösungsinitiative blieb aber wiederunbeantwortet. Der Vorsitzende Öcalan sprach erneut vonRückzug und es kam zu einer immer angespannteren Situa-tion, denn die AKP-Regierung verweigerte konsequent Schrit-te in Richtung einer Lösung. Ihre Wortwahl und ihre Metho-den trugen nicht zur Lösung bei, im Gegenteil, sie führten indie Ausweglosigkeit. Aber im Rahmen des Dialogs auf Imralıwurde die Phase der Aktionspause bis zur Parlamentswahl2011 ausgedehnt. Sie bietet wichtige Möglichkeiten zurLösung der kurdischen Frage und allen, die eine Lösung wol-len, eine große Chance. Wichtig ist, dass in dieser Phase ernst -

hafte und vertrauensbildende Schritte für die friedliche unddemokratische Lösung des Problems unternommen werden.

Haben Sie vor der Verlängerung der Waffenruhe Signa-le seitens des Staates erhalten, die darauf hindeuteten,dass Ihre Forderungen beantwortet werden könnten?

Es ist natürlich keine Phase der Waffenruhe, die einseitigentwickelt wurde. Es gibt Schritte, die von staatlicher Seitegetan werden müssen. Es wurde darüber gesprochen und einRahmen erarbeitet, was gegenseitig bis zur Wahl zu unterneh-men sei. Wir haben das Unsere getan und werden es auchweiterhin tun. Angesichts dessen müssen auch Staat undRegierung ihrer Verantwortung nachkommen. Wie derÖffentlichkeit auch gut bekannt ist, war die Verlängerung derAktionspause nur auf Grund der Initiative unseres Vorsitzen-den möglich. Er gelangte aus dem Dialog mit der staatlichenDelegation und durch die gegenseitig gemachten Verspre-chungen und Rahmenvereinbarungen zu seinem Schluss,demzufolge er sich in einem Schreiben an uns für die Verlän-gerung der Waffenruhe aussprach.

In unserer entsprechenden Erklärung dazu haben wir diedem Staat zufallenden Schritte aufgelistet, die auch von dertürkischen Öffentlichkeit debattiert wurden. Die in fünf Arti-keln formulierten Forderungen sind nicht unerfüllbar. Es han-delt sich dabei um Vorstufen, damit die Waffenruhe zu einerdauerhaften werden und die Phase sich in Richtung einerdemokratischen Lösung wandeln kann. Unsere Forderungenwären auch diejenigen anderer Menschen, die sich über dieLösung des Problems Gedanken machen. Es geht daher nichtum unrealistische, willkürliche Forderungen.

Was müssen Regierung und Staat bis zur Wahl umset-zen, damit diese Phase der Waffenruhe einen dauerhaf-ten Charakter annimmt?

Interview mit dem KCK-Exekutivratsvorsitzenden Murat Karayılan

Es gibt nur einen Ansprechpartner:Abdullah ÖcalanGülistan Tara, Nachrichtenagentur ANF, 8. und 9. November 2010

Am 1. November 2010 verlängerte die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) ihre am 13. Augustverkündete Waffenruhe in der Türkei, Aktionspause genannt, bis zur Parlamentswahl im Juni 2011. DieTagesordnung zur kurdischen Frage wird bestimmt vom Kontakt des Staates mit dem kurdischen Volksver-treter Abdullah Öcalan auf Imralı. Im vorliegenden Interview beleuchtet Murat Karayılan, Vorsitzender desExekutivrates der KCK, wie es zu dieser Verlängerung kam, den Stand der Gespräche auf Imralı und mögli-che Entwicklungen in dieser Phase.Wir bringen eine Zusammenfassung des veröffentlichten Gesprächs.

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Die Grundlagen für eine Lösung sollten bis zur Wahlgeschaffen werden. Es scheint, dass die AKP geneigt ist, dieWaffenruhe erst einmal bis zur Wahl anzunehmen und eineProblemlösung auf später zu verschieben. Das ist keine förder-liche Haltung. Es ist notwendig, bis zur Wahl die Basis für eineLösung vorzubereiten und entsprechende Schritte dafür ein-zuleiten. Parallel dazu sollte die Gesellschaft ebenfalls auf eineLösung vorbereitet werden. Wir erwarten nicht, dass bis zurWahl alles abgeschlossen sein kann, denn die kurdische Frageist die schwerwiegendste Frage der Türkei und daher nichtkurzfristig zu lösen. Aber es bedarf einiger praktischer Schrit-te, die Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit signalisieren, ersterSchritte, mit denen offensichtlich Abstand genommen wirdvon der Zwangsassimilierung der Kurden. Die gegenwärtigeHaltung drückt ungefähr aus: „Ich akzeptiere Dich als Kurde,aber ich kann unmöglich akzeptieren, dass Du überall Kur-disch sprichst.“ Mit diesen langfristig auf Zwangsassimilationausgerichteten taktischen Manövern können die kurdischeGesellschaft und unsere Bewegung nicht getäuscht werden.

Der Staat sollte als Erstes seine ungerechte Haltung gegendas kurdische Volk, d. h. den Fehler seiner Vernichtungs- undVerleugnungspolitik, akzeptieren. Diese Politik hat seit 85 Jah-ren in Kurdistan zu großen Tragödien geführt und ist ein gra-vierender Fehler. Der Staat muss diesen Fehler eingestehen.Eine entsprechende Bewertung der kurdischen Aufständeginge in die richtige Richtung. Die Wahrheit kann der türki-schen Gesellschaft nur in einem solchen Rahmen vermitteltwerden. Anderenfalls gelten ihr die kurdischen Aufständischenals „Terroristen“ und „Mörder“. Denn seit 85 Jahren wurde ihr

diese Politik aufgenötigt. Aber es entspricht nicht der Realität.Jeder mit einem gewissen Bewusstsein weiß, dass dem nicht soist. In der Vergangenheit wurden die Anführer der kurdischenAufstände wie z. B. Seyit Riza oder Seyh Sait als „Banditen“oder „Räuber“ tituliert. Bis heute kennen wir nicht den Ver-bleib ihrer Leichname. Auf einer solchen Grundlage wurdenin Kurdistan Massaker verübt. Die Massaker von Dersim undZilan können nicht aus dem Bewusstsein getilgt werden.

Die Worte Ihsan Sabri Çağlayangils, der jahrelang [zwischen1965 und 1977] an der Regierung der Türkei beteiligt war,gingen erst jüngst durch die Medien: „Wir haben sie wie Rat-ten mit Giftgas ausgerottet.“ Zu glauben, die kurdische Fragelösen zu können, ohne diese Tragödien unseres Volkes einzu-gestehen und öffentlich zu machen, ist ein gewaltiger Irrtum.Auch heute wird der Vorsitzende des aktuellen Aufstands als„Kopf des separatistischen Terrors“ bezeichnet. Ist das wirklichso? Wollen wir heute die Türkei wirklich spalten? Nein! Seit 18Jahren setzen wir uns für die Anerkennung der kulturellen undethnischen Rechte des kurdischen Volkes innerhalb der Türkeiein und versuchen, den großen historischen Fehler, auf demsich die Republik Türkei gegründet hat, zu korrigieren. Dafürkämpfen wir und versuchen wir, das Problem mittels Dialogzu lösen.

Sind diese Schritte gleichzeitig Basis für eine dauerhaf-te Lösung?

Für den Weg zu einer dauerhaften Lösung hat unser Vorsit-zender auf die Notwendigkeit zweier unterschiedlicher Proto-

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Allein in Kurdistan und der Türkei gingen Hunderttausende zum 32. Jahrestag der Gründung der Kurdischen Arbeiterpartei PKK auf die Stra-ße. Obwohl der türkische Staat dies vielerorts zu verhindern versuchte, ließen sich die Menschen davon nicht abhalten. Mancherorts kam es zuheftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Foto: DIHA

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kolle verwiesen. Ein Protokoll über Sicherheitsfragen und einpolitisches Protokoll, d. h. zu Verfassungs- und demokrati-schen Rechten. Die Lösung des Problems hängt vom Maß desFortschritts bei diesen Protokollen ab. Daher haben wir dieGründung entsprechender Kommissionen zu beiden Themenvorgeschlagen. Die erste, die Verfassungskommission, solltesich mit der Frage befassen, was demokratische Rechte sind.Die zweite, die Gerechtigkeits- und Wahrheitskommission,hätte die Aufgabe, die Wahrheit über die Ereignisse währendder militärischen Auseinandersetzungen aufzudecken und aufdieser Grundlage den Weg zur Lösung aufzuzeigen.

Wie kann dieses Problem gelöst werden? Es wird viel darü-ber gesprochen, wie die Entwaffnung aussehen könnte. The-men wie dieses könnten behandelt werden und auf diese Weisekönnte man zur Lösung gelangen. Unser Vorschlag ist wichtigfür ihre Entwicklung. Die Kommissionen würden die Grund-lage für die Lösung schaffen. Sie könnten sofort ihre Arbeitaufnehmen und ausarbeiten, was dafür geleistet werden müs-ste.

Wir beobachten das alles. Was wird die AKP-Regierungmachen und was der türkische Staat? Wie wird ihre Haltungzu den Militäroperationen aussehen? Wie werden sie sichgegenüber den politischen Gefangenen verhalten? Wie gegen-über den zwei Protokollen, werden die beiden Kommissionengegründet werden? Wir beobachten das und merken es uns. Esist sinnvoll, an dieser Stelle darauf hinzuweisen: Gegenwärtigherrscht bei Regierung und Parlament keine Lösungsmenta-lität. Daher begreifen wir diese Phase auch als eine, in der sichdie Lösungsmentalität in Regierung und Parlament ent -wickeln soll.

Bei der AKP-Regierung gibt es keinen Begriff von einerLösung. Das Problem ist nicht mit oberflächlichen und selbst-süchtig berechnenden Vorgehensweisen zu lösen. Unmöglich,ohne die Kurden ernst zu nehmen und ohne Verhandlungenmit ihnen aufzunehmen. Wir verweisen immer wieder darauf,dass das, was die AKP sich als Lösung vorstellt, nichts damitzu tun hat, sondern vielmehr auf die Liquidierung des Willensdes kurdischen Volkes und der Freiheitsbewegung abzielt.Wird man davon Abstand nehmen oder nicht? Das ist einewichtige Frage.

In Ihrer Erklärung sagen Sie, die AKP-Regierung seinicht aufrichtig und ihr Ziel die Liquidierung. Wiesieht vor diesem Hintergrund die Lösungsformel derAKP aus?

Müssen die AKP-Regierung und der türkische Staat das Zielverfolgen, die kurdische Freiheitsbewegung und den freienWillen des kurdischen Volkes zu liquidieren? Nein, müssen sienicht. Wenn in der täglichen politischen Praxis Liquidierungs-bestrebungen zu erkennen sind, dann lässt es sich nicht an dieLösung glauben. So sieht es im Moment aus. Es sollte allen klarsein, dass gegenwärtig keine Lösungsatmosphäre herrscht.Regierung und Staat haben von unserem Vorsitzenden eineWaffenruhe gefordert, um ihre eigene Lösungsformel ent -wickeln zu können. Wie sieht diese aus? Bedingte Schritte imRahmen individueller Rechte und dies als Lösung hinstellen,

und auf der anderen Seite die Freiheitskraft, die eine wahreWillensbildung darstellt, minimieren und liquidieren. DieAKP agiert daher zweigleisig. Während sie zum einen dieHoffnung auf eine Lösung weckt und eine entsprechendeAtmosphäre erzeugt, arbeitet sie wie wild für die Liquidierung.Alle diese wichtigen Fragen werden sich in den bevorstehen-den sechs, sieben Monaten klären. Diese Zeitspanne ist mei-ner Meinung nach für die Türkei lebenswichtig, sie ist einestrategische.

Was ist zu erwarten, wenn die von Ihnen eingeleitetePhase der Waffenruhe nicht positiv weiterentwickeltwerden wird?

Diese Chance sollte nicht vergeben werden. Es wäre schadeum die Türkei. Warum? Weil wir keine Bewegung und keinVolk sind, die diese negativen Entwicklungen nicht sehen unddie Liquidierung zulassen werden. Auch wir haben unserenPlan A, Plan B, Plan C. Wenn Plan A nicht aufgehen sollte,nehmen wir Plan B. Wir sind eine Kraft, die auf eigenenFüßen steht und sich selbst helfen kann. Wir sind nicht aufandere angewiesen, es gibt nichts, womit wir absolut aufge-schmissen wären. Wir sind in der Lage, wenn nötig unserenWeg zu gehen. Daher ist die Phase äußerst wichtig.

Wenn die Türkei diese Zeitspanne richtig nutzt, wird es eineGelegenheit, all ihre Probleme, allen voran die kurdischeFrage, ernsthaft und tiefgründig zu lösen. Wenn sie nochmalsselbstsüchtig handelt, das Problem oberflächlich angeht unddie Liquidierungsversuche ununterbrochen anhalten, wird eseine neue Phase, die auch die Teilung der Türkei beinhaltenkönnte. Das wäre ein großer Fehler. Denn die kurdische Frei-heitsbewegung ist heute in der Lage, mit ihrer Dynamik jedeForm von Widerstand zu entwickeln. Dies sollte nicht alsDrohung verstanden werden. Wir wollen eine friedlicheLösung, aber auch diese Option ist eine Realität. Ohne sie zuerwähnen, wäre ein objektives Bild der Situation nicht mög-lich.

Die PKK ist heute in der Region eine wichtige Akteurin.Eine Freiheitsbewegung, in den Herzen des kurdischen Volkesverankert und mit großem Organisierungspotential. Sie hatein gesellschaftliches Niveau erreicht. Sie ist eine Bewegungmit einer ideologischen und philosophischen Sichtweise, dieauf der Grundlage der Geschwisterlichkeit der Völker undinnerhalb der bestehenden Grenzen die Lösung der kurdi-schen Frage vorsieht. Wenn sich das nicht realisieren lässt, gibtes auch andere Alternativen. Die sind auch gegenwärtig exis -tent. Diesen Umstand benennen wir ganz klar. Das sollte rich-tig bewertet werden. Vor diesem Hintergrund sollte der türki-sche Staat mit all seinen Organen wissen, dass wir eine strate-gische Phase durchleben. Die Bedingungen für eine gesell-schaftliche Übereinkunft in der Türkei sowie für einen Fort-schritt auf der Grundlage der Stärkung sind vorhanden. Soll-ten die Wege und Methoden nicht entsprechend ausgewähltwerden, sollte noch immer an dem Irrtum festgehalten wer-den, das kurdische Volk durch Repression und Vernichtungunterdrücken zu können, dann hätte das negative Auswirkun-gen.

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Herr Öcalan erklärte auf Imralı seinen Anwältengegenüber, dass ernsthafte Gespräche mit dem Staatgeführt werden. Haben Sie Kenntnis über den Inhaltdieser Gespräche?

Ja, wir wissen um den Inhalt der Gespräche zwischen demStaat und unserem Vorsitzenden. Es gibt einen fünfseitigenBrief von ihm an uns, sehr inhaltsreich und mit Auskunft überden Rahmen dieser Phase. Daher sind wir informiert. Aber zuwelchen Themen und wie die Gespräche geführt werden, daskann nicht ich, sondern müssen die Gesprächspartner öffent-lich machen, wenn sie wollen. Der Staat wird sich wahr-scheinlich nicht dazu äußern, aber wenn unser Vorsitzender esmöchte, kann er entsprechende Erklärungen abgeben. So hater ja schon bereits in den Konsultationen mit seinen Anwältengewisse Auskünfte über den Inhalt der Gespräche gegeben.Daher wäre es nicht angebracht, wenn ich darüber etwas sagte.Uns sind die Themen bekannt, auch welche Ebene dieseDiskussionen erreicht haben. Wie gesagt, ich halte es nicht fürnotwendig, dazu Details zu verraten. Der Staat hat sich bislangnicht sehr an den im Dialog festgelegten Rahmen gehalten.

Wir werden sehen, inwieweit er es in Zukunft tun wird odernicht. Ich will nur noch anführen: Es stimmt, wir haben dieWaffenruhe bis zur Wahl 2011 verlängert. Aber dieserBeschluss ist nicht uneingeschränkt. Wir werden unsere Ent-scheidung befolgen und die organisatorische Disziplin einhal-ten, damit alle unsere Einheiten dem Beschluss nachkommen.Auch die AKP-Regierung muss ihre Schritte unternehmen.Wenn sie das nicht tut und ihren eigenen Weg verfolgt, denWillen unseres Volkes zu brechen versucht und an der Ver-nichtungsabsicht festhält, dann werden wir zu einer neuenBewertung gezwungen sein. Die Waffenpause bis zur Wahl istkeine leichte Beute. Daher werden wir jeden zweiten, drittenMonat eine Lagebewertung vornehmen und im März danneine gründliche.

Worin unterscheidet sich die jüngste Waffenpause vonden vorherigen und wie wird sich diese Phase vermut-lich entwickeln?

Die 8. Waffenruhe unterscheidet sich sehr von den vorheri-gen. Einige von denen waren einseitig, einige wiederum dieFolge indirekter Kontakte, Briefe und Informationen. Diejüngste Phase ist infolge direkter Kontakte und des Dialogsmit unserem Vorsitzenden eingeleitet worden. Das ist wichtigund bezeichnet den Unterschied. Niemand sollte der Illusionverfallen, dass sich der Dialog mit unserem Vorsitzendenweiterentwickelt und das Verhandlungsstadium erreicht hat.Noch hat sich keine Lösungsmentalität auf der Gegenseiteentwickelt. Es ist wichtig herauszufinden, ob dieser Dialogwirklich mit der Absicht zur Lösung geführt wird oder ob siedabei eigentlich ihren bisherigen Lösungsansatz aufzwingenwollen. Daher sollten alle Interessierten wissen, dass bislangkein konkretisiertes Lösungsprojekt besteht. Auch Parteienhaben keine Übereinkunft über die Grundzüge einer Lösunggetroffen. Die bisherigen Gespräche können als Meinungsaus-tausch definiert werden. Aber der türkische Staat hat nicht

einmal die befolgt. Es bleibt abzuwarten, wie sie sich inZukunft verhalten werden.

Aber es besteht auch eine große Chance für dieLösung, oder?

Es ist zweifelsohne wichtig, dass der Dialog mit unseremVorsitzenden aufgenommen wurde. Das bedeutet aber nicht,dass er zwangsläufig zur Lösung führen wird. In dem Briefunseres Vorsitzenden an uns gibt es keine klare Betonungbezüglich der Lösung. Eine achtsame Annäherung lässt sichfeststellen. Die Phase entwickelt sich eigentlich so: Entwederwir werden eine strategische Lösung entwickeln oder wir wer-den einen strategischen Krieg führen. Das hängt allein von derHaltung des türkischen Staates und der AKP-Regierung ab.Wenn sich eine Phase der Übereinkunft herausbilden wird, sowird es im Rahmen einer strategischen Lösung und gesell-schaftlichen Übereinkunft passieren. Wenn dem nicht so seinsollte, wenn die türkischen Verantwortlichen sich dieser Phasemit dem Ziel unserer Schwächung taktisch annähern sollten,dann wäre offensichtlich, dass die Phase sich in eine strategi-sche Auseinandersetzung umkehrt. Jeder sollte sich dessenbewusst sein.

Vertreter des Staates äußerten, dass auch mit Ihnendirekte Kontakte bestünden. Gibt es diese Kontakte?

Der einzige Gesprächspartner bei der Lösung der kurdi-schen Frage ist unser Vorsitzender Öcalan. Er ist der umfas-sende und obligatorische Gesprächspartner. Es stimmt, wirhatten vorher erklärt, dass die Führung der Bewegung da sei,wenn der Vorsitzende nicht als Gesprächspartner anerkanntwerden sollte, und falls die Führung der Bewegung nichtakzeptiert werden sollte, die BDP in Frage käme. Wenn aberheute der direkte Dialog mit dem Vorsitzenden besteht, so ister für uns alle bindend. Und es ist daher unwichtig, ob mit unsKontakt aufgebaut wird oder nicht. Es kann auch nicht not-wendig sein. Wenn doch, dann zur Stärkung des Dialogs mitunserem Vorsitzenden und zur Vorbereitung der Grundlagen.Ein eigenständiger Dialog kommt daher nicht in Frage. ImRahmen des Protokolls zu den verfassungsrechtlichen unddemokratischen Rechten könnte die BDP einen wichtigenBeitrag leisten und als Gesprächspartnerin in Zusammenhangmit dem Vorsitzenden einbezogen werden.

Einschätzungen wie die einiger Schriftsteller und Journalis -ten, dass es nicht nur einen, sondern mehrere Gesprächspart-ner und innerhalb der PKK auch unterschiedliche Gruppengäbe, entsprechen nicht der Realität. Die kurdische Freiheits-bewegung hat eine einheitliche Haltung. Alle Flügel der kur-dischen Freiheitsbewegung, seien es der legale, rechtliche, ille-gale, militärisch-politische, betrachten den Vorsitzenden alsdie entscheidende Führungspersönlichkeit. Daher können dieanderen Akteure im Rahmen des Dialogs und der Verhand-lungen mit unserem Vorsitzenden im Einklang ihren Beitragin der aktuellen Phase leisten. t

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ANF: Im Rahmen der kurdischen Frage hat sich einDialog entwickelt, den sogar die Regierung nicht leug-net. Auf Imralı gibt es einen Dialog zwischen HerrnÖcalan und dem Staat. Wo findet sich die BDP imRahmen dieses Dialogs wieder?

Demirtaş: Wenn der von Ihnen erwähnte Dialog konkreteGestalt annimmt, muss für eine neue Verfassung bzw. für juris -tische Schritte im Parlament die BDP wahrgenommen wer-den. Die BDP ist also Ansprechpartnerin, wenn es um die Ver-fassung und sonstige juristische Neuerungen geht. Das aberwird nicht mit den herkömmlichen Kontakten zwischen BDPund AKP bzw. Staat möglich sein. Das ist ausschließlich miteiner umfangreichen Debatte möglich. Die BDP ist auf soetwas vorbereitet, aber von Seiten der Regierung bzw. des Staa-tes ist eine solche Absichtserklärung noch nicht gekommen.

Haben Sie von der Regierung noch gar keine Signaleerhalten?

Innenminister Atalay äußerte letztens, dass die BDP dielegitime Ansprechpartnerin und somit mehr als nur eine poli-tische Partei sei. Das war eine sehr wichtige Aussage. Wir wer-den in Zukunft auf diesen Punkt drängen. Ob sie aber als Dia-logwunsch verstanden werden darf oder nicht, wird sich in dennächsten Wochen herausstellen.

Kann man diese Erklärung als einen „Anfang“ deuten?

Ja, das könnte es durchaus sein.

Man kann sagen, dass nach dem Verfassungsreferendumnun der Fokus auf die Parlamentswahl gerichtet ist. Aufder Konferenz im Europaparlament sagten Sie, dassIhnen die Hände gebunden seien. Wie wird eine Parteisich so auf die Wahl vorbereiten können?

Uns Parteien sind die Hände seit zwanzig Jahren gebunden.Trotzdem sind wir stets stärker, größer und siegreicher ausjeder Wahl hervorgegangen. Bei der kommenden Wahl werdenwir ebenfalls stärker werden, auch wenn sie uns die Hände bin-den oder den Mund verbieten. Um aber eine wahre Repräsen-tation zu gewährleisten, müssen die Wahlhürde gesenkt undunsere verhafteten FreundInnen freigelassen werden. DiesePunkte sind sehr wichtig. Aber selbst wenn dies nichtgeschieht, werden wir es nicht als Ausrede benutzen und dieWahlvorbereitungen lockern.

Wir haben bereits eine Wahlkommission gegründet undgewisse Vorarbeiten erledigt. Der Wahlkampf hat für unsschon begonnen. Wir haben unsere Mängel in Form verschie-dener Berichte dokumentiert und werden auf ihre Beseitigunghinarbeiten.

Was werden die zentrale Punkte Ihrer Wahlkampagnesein?

In Kurdistan und der Türkei hat der Parlamentswahlkampf begonnen

Demirtaş: Ein starker Block gegendie AKP ist nötig!Delil Firat, ANF, 20. November 2010

Selahattin Demirtaş, Co-Vorsitzender der Partei für Frieden und Demokratie (BDP), nahm am 17. und 18.November 2010 an der 7. Internationalen Konferenz zum Thema „Die EU, die Türkei und die Kurden“ imEuropaparlament in Brüssel teil. In diesem Zusammenhang stand er auch der Nachrichtenagentur Firat(ANF) für ein Interview zur Verfügung.Demirtaş unterstrich dabei, dass in der Türkei allein die kurdische Bewegung gegen die Partei für Gerech-tigkeit und Fortschritt (AKP) standhaft geblieben sei, und fügte hinzu: „Alle anderen sind der AKP ideolo-gisch erlegen. Auch organisatorisch haben sie vor ihr kapituliert.“ Demirtaş betonte, dass für einen Lösungs-weg ein starker demokratischer Block, einschließlich der Republikanischen Volkspartei (CHP), entstehenmüsse. Nur so könne man die ideologische Ausbreitung der AKP stoppen.Demirtaş sprach auch über die Rolle der BDP bei der Lösung der kurdischen Frage, ihre Wahlstrategie undüber eine mögliche Zusammenarbeit mit der CHP und dem Projekt der „Demokratischen Autonomie“.

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Bei dieser Wahl wird die Verfassung im Mittelpunkt stehen.Es wird um eine neue, demokratische Verfassung gehen. Wirals die Partei für Frieden und Demokratie werden mit unseremVerfassungsvorschlag zum Volk gehen. Bis zum Februar wirder vorbereitet sein.

Wird dieser Vorschlag auf der „Demokratischen Auto-nomie“ beruhen?

Es wird eine Verfassung der Türkei sein. Auch eine Demo-kratische Autonomie, welche die Lösung der kurdischen Fragebeinhaltet, wird in dieser Verfassung formuliert sein. Nichtnur die Autonomie, all unsere Projekte im Zusammenhangmit der Türkei, soziale und wirtschaftliche Rechte, individuel-le Rechte und Freiheiten, Glaubensfreiheit und das Recht aufSelbstorganisierung, vom Modell der Staatsführung bis zumRechtssystem – bei allen Themen werden wir als BDP unsereGedanken in diesem Vorschlag für eine neue Verfassung for-mulieren.

Werden Sie als „unabhängige KandidatInnen“ kandi-dieren, wenn die Wahlhürde nicht gesenkt wird?

Momentan wäre es zu früh, diese Frage zu beantworten.Zum richtigen Zeitpunkt wird sich unsere Partei versammelnund Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit o. Ä. auswerten.Momentan aber ist noch nichts beschlossen.

Einerseits kündigt sich entweder eine Phase des Dia-logs oder auch schwerer Auseinandersetzungen mit derAKP an, andererseits ist da die CHP. Kann eineZusammenarbeit – besonders noch vor der Wahl – zwi-schen BDP und CHP möglich sein? Wenn ja, unterwelchen Umständen?

Ob nun mit der CHP oder einer anderen politischen Partei,auf der Grundlage unserer Prinzipien sind wir für eineZusammenarbeit sowohl für Wahlen als auch strategischer

Natur stets offen gewesen. Dabei haben wir in der Vergangen-heit unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Wir aber halten esfür äußerst wichtig, einen starken demokratischen Blockgegen die ideologische Ausbreitung der AKP zu errichten.Momentan ist die einzige Kraft, die gegen die AKP standhaftbleiben kann, die kurdische Bewegung. Das beruht auf ihrerideologischen und organisatorischen Kraft. Alle anderen muss -ten gegen die AKP ihre Niederlage hinnehmen und kapitu-lierten vor ihr.

Wenn die kurdische Bewegung mit allen demokratischenKräften – einschließlich CHP – im Rahmen demokratischerPrinzipien einen Block bilden kann, dann wird unserer Mei-nung nach die ideologisch-hegemoniale Ausbreitung der AKPgestoppt. Eine andere Alternative gibt es nicht. Wir als kurdi-sche Bewegung bzw. als BDP haben in den kurdischen Regio-nen die AKP gestoppt und zum Rückzug gezwungen. Den-noch ist ein solcher Block notwendig, wenn wir dasselbe in derganzen Türkei bewirken wollen. Mit der CHP können wir sol-che Themen besprechen – auf der Basis unserer Prinzipien.Wenn die CHP aufrichtig ist, können wir, die Zusammenar-beit mit eingeschlossen, alles besprechen.

Der zivile Ungehorsam, der im Rahmen der Forderungnach muttersprachlicher Bildung zur Anwendung kam,stellt für die türkische Politik eine ganz neue Heraus-forderung dar. Welche neuen Forderungen werden Sieim Rahmen der „Demokratischen Autonomie“ in denVordergrund stellen?

Wir sehen die Autonomie als eine Aufbauphase an. Nachunserer Ansicht würde es beispielsweise keine Hindernisse fürdie Bildung in eigener Sprache geben. Jeder könnte im Rah-men seiner Möglichkeiten Schulklassen gründen und in derjeweiligen Muttersprache unterrichten. Auf der einen Seitekönnte man zur Schule gehen, auf der anderen Seite könntendiese muttersprachlichen Klassen ihre Arbeit aufnehmen.Dagegen darf es keinerlei Einwände geben, denn es handeltsich um ein elementares Recht.

Wenn dies unter der Führung der Bewegung für die kurdi-sche Sprache und Erziehung (TZP) [vgl. KR 152] geschähe,wäre es viel bedeutungsvoller. Wenn beispielsweise der Demo-kratische Volkskongress (DTK) diese Arbeiten in Gang setzenwürde, würden wir als BDP dies unterstützen. Außerdem wer-den wir uns um wirtschaftliche Investitionen, den Aufbau vonKooperativen und um Investitionen kurdischer Geschäftsleutekümmern, um das Arbeitslosigkeits- und Armutsproblemangehen zu können.

Das sind alles Bestandteile der Demokratischen Autonomie.Zusammen mit alldem steht die Organisierung von Stadträ-tInnen, die im Rahmen des DTK arbeiten und von der BDPunterstützt werden, auf unserer Tagesordnung. Auf dieseWeise wird die Demokratische Autonomie Schritt für Schrittaufgebaut. Besonders die Arbeiten bezüglich der Mutterspra-che sind in diesem Hinblick von großer Bedeutung. Ihre Legi-timation beruht auf internationalem Recht. Wir werden alsBDP daher in diesem Zusammenhang alles unterstützen undmitorganisieren. t

Selahattin Demirtaş, Co-Vorsitzender der Partei für Frieden undDemokratie (BDP) vor der Presse in Ankara Foto: DIHA

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Wie Sie wissen, hat die kurdische Frage eine beinahe 200-jährige Geschichte im Nahen/Mittleren Osten. Die

KurdInnen spielten im sogenannten „Befreiungskampf“ derTürkei eine wichtige Rolle, weswegen die Verfassung von 1921diesen Umstand entsprechend mit Vorsicht behandelte. Diese„Vorsicht“ hielt jedoch nicht lange an: Mit der neuen türki-schen Verfassung von 1924 wurden alle nicht-türkischen Kul-turen, Identitäten, allen voran die KurdInnen, verleugnet.Durch die verfassungsmäßige Legitimation konnte die offi-zielle türkische Staatsdoktrin, die die Assimilation beinhaltet,widergespiegelt werden; und wenn Assimilation nicht ver-wirklicht werden konnte, drohte die Vernichtung. Die Praxiseiner solchen Doktrin führte in der Türkei zu großen Tragö-dien und viel Leid. Die Massaker von Dersim, Zilan, Maraş,um nur einige zu nennen, die die ersichtliche physische Ver-nichtung der Aleviten bezweckten, lassen sich heute offiziellauf die aktive Initiative des Staates zurückführen und sind hin-reichend bekannt geworden. Die Türkei, die im Namen dertürkischen Nation die ganze Vielfältigkeit und die Identitätenverleugnete, hat schon drei Militärputsche hinter sich gebrachtund anschließend eine Verfassung etabliert, die unter demSchutz der Militärdiktatur die Freiheits-, Menschen- undDemokratierechte entwertete. Natürlich haben die KurdInnengegen dieses diktatorische Prinzip immer wieder protestiertund Widerstand geleistet, was auf blutigste Weise bekämpftwurde.

Als aufschlussreichstes Beispiel dient hier Dersim. Nachoffiziellen staatlichen Angaben gab es 28 kurdische Aufstände,die alle niedergeschlagen wurden.

Mit der PKK haben die KurdInnen sich einmal mehr gegendie Assimilationspolitik der Türkei gewandt. Weil der Staatversucht, sie stets als terroristisch abzustempeln, da sie sich fürdie Freiheit des kurdischen Volkes einsetzt, sich für dessenGleichberechtigung, Demokratie, Friedensvorschläge ein-bringt, musste das ca. 50 000 Menschen das Leben kosten.Dieses große Trugbild [der Terrorgefahr] wird auf der ganzenWelt als Waffe gegen die Menschen gerichtet, die sich fürGleichberechtigung und Freiheit einsetzen. So kann auch dieTürkei gern Termini, wie z. B. terroristisch, nach Beliebennutzen. Schließlich sind die USA und die EU dabei federfüh-rend. Es muss aber hinzugefügt werden, dass diese Bündnissemiterlebt haben, wie Widerstand auch zum Sieg führen kann.Das kurdische Volk wird auch entsprechend seinen berechtig-

ten und legitimen Kampf für Demokratie und eine friedlicheLösung bestehen.

Die Gründung der türkischen Republik zog durch die häu-figen Vernichtungs- und Unterdrückungspraktiken immermehr Widerstand, immer mehr Aufstände nach sich.

Solange die Forderungen des kurdischen Volkes nichtbeachtet werden, so lange wird es Widerstand geben. Die Ver-leugnungspolitik der Türkei sowie ihre Umsetzung durch Ver-nichtung und Assimilation blieben erfolglos. Daran hatte,nicht zuletzt, der 30-jährige Kampf der Bewegung großenAnteil. Heutzutage thematisieren die türkischen Medien dieGleichberechtigungs- und Freiheitsforderungen der KurdIn-nen viel offener und nehmen sie entsprechend ernst. DieÄnderung der Verfassung durch das Referendum am12.09.2010 beweist dies. Die Türkei hat lediglich zwei Mög-lichkeiten: Entweder entspricht sie den Forderungen der Kur-dInnen mit ihrer Verankerung in der Verfassung und gehtsomit einen weiteren Schritt in Richtung friedlicher LösungODER die Kriegssituation bleibt bestehen, was wiederum zusich ausweitenden Gefechten und Chaos führen wird. Für eineEntscheidung bedarf es politischer Entschlossenheit. Jedochhat die AKP bis jetzt keine Lösungsansätze wagen wollen; imGegenteil, sie hat die Forderungen nach einer demokratischenVerfassung beiseitegewischt und dadurch die Hoffnungen aufÄnderung erstickt. Die KurdInnen haben einen starkenWillen. Sie nutzen die Zeit bis zu den kommenden Wahlenund nehmen den damit einhergehenden einseitigen Waffen-stillstand wahr.

In den letzten 30 Jahren hat die Welt viele Veränderungenerlebt. Sie wandelte sich von einem bipolaren zu einem multi-polaren System. So kam der Demokratie, aufgrund verschie-denster Kulturen, eine wachsende Bedeutung zu.

Außerdem grübeln die Staaten der Welt über eine möglicheLösung der aktuellen Finanzkrise wie auch der Klimaverände-rung. Die veränderten Verhältnisse regen einen neuen Diskursan, der die europäischen Demokratien hinterfragt und ihreWidersprüche wie auch Probleme analysiert. Die kurdischeBewegung, die sich zum 21. Jahrhundert neu formierte, hateine geeignete ideologische Perspektive für die Lösung der kur-dischen Frage als auch zur Überwindung der kapitalistischenModernität vorlegen können. Sie versteht den Staat als eineneklatanten Widerspruch zu Gleichberechtigung und Freiheit,

Demokratische Autonomie als antikapitalistische Perspektive

Für alle, die eine andere Welt fürmöglich haltenSebahat Tuncel, BDP-Abgeordnete im türkischen Parlament, Istanbul

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die sie zu ihren Grundprinzipien zählt. Mit Hilfe seiner Büro-kratie bringt der Staat nämlich überall, wo er besteht, Unter-drückung, Herrschaft und Unterwerfung mit sich, die diejeweilige Gesellschaft niederzuringen suchen. Die neue Linieder kurdischen Bewegung beinhaltet die Erkenntnis, dassdurch einen Staat keine Lösungen erzielt werden können unddass dieser durch die Gesellschaft, die das Leben dann gestal-ten wird, ersetzt werden muss.

Zwar hatte die Bewegung ehemals das Ziel eines unabhän-gigen und vereinten kurdischen Staates, erkannte aber nachihrer politischen Neuausrichtung den Staat, als Konstruktionder kapitalistischen Modernität, als Kern allen Übels, der allesDemokratische bekämpft und Konflikte unter den Menschenschafft. Stattdessen fordert die Bewegung eine demokratischeGesellschaft, die nach Lösungsansätzen sucht. Dieses Modellsoll jedoch nicht nur für KurdInnen oder Kurdistan gelten,sondern bietet eine Perspektive für die ganze Menschheit. Indiesem Sinne ist die Lösung der kurdischen Frage nicht ledig-lich mit der Überwindung des bewaffneten Konflikts gewähr-leistet. Parallel dazu muss als Antwort gegen kapitalistischeModernität und Staatsdenken eine demokratische Modernitätentwickelt werden können. Zusammengefasst: Die Lösung derkurdischen Freiheitsfrage im Einheitsstaat Türkei ist nur durchdie verfassungsmäßige Etablierung der Forderungen des kur-dischen Volkes gewährleistet, die auch der religiösen, kulturel-len Vielfältigkeit zugute kommen muss.

Im Zusammenhang mit den Diskussionen zur Lösung derkurdischen Frage werden die Erfahrungen anderer Länder aufder Welt ausgetauscht, die vergleichbare Situationen hattenoder haben. Als gemeinsame Erkenntnis bleibt festzustellen,dass nur Dialog und Verhandlungen Konflikte lösen können.In einer Verhandlungsphase muss es die beidseitige Bereit-schaft zur Lösung des Konflikts und die Annäherung angemeinsame Standpunkte geben, womit also das gemeinsameStreben nach Frieden als höchste Priorität betrachtet wird.

So gewinnt das Konzept der kurdischen Forderung immermehr an Bedeutung, was aber natürlich nicht bedeutet, dassdie Konfliktlösungen anderer Länder gänzlich mit der Lösungder kurdischen Freiheitsproblematik gleichgesetzt werdenkönnen.

Die Lösung soll nicht allein die Beendigung des bewaffne-ten Kampfes realisieren, sondern auch gleich eine progressive,demokratische Gesellschaft befördern, die die Auffassung desModells der „Demokratischen Autonomie“ für den gesamtenNahen/Mittleren Osten begründen kann. Denn der Grund-satz der Demokratischen Autonomie beinhaltet zudem jaGleichberechtigung und Freiheit, was nicht nur für ein Volk,eine Religion, ein Geschlecht gilt. Das Konzept soll in derLage sein, alle gesellschaftlichen Bereiche anzusprechen, worinsich Glaubensrichtungen, Demokratie, Ökologie sowie gleich-berechtigte Geschlechterverhältnisse widerspiegeln können. Esbeinhaltet außerdem die Selbstorganisierung der Dorfkomi-tees, Stadträte, Frauen- und Jugendräte, Bildungsinstitutionenusw., die sich auf eine direkte demokratische Basis stützen. Mitdem Aufbau von Kommunalparlamenten können Fragen deskommunalen Bildungs- und Gesundheitswesens, des Sportsund der Ökonomie vor Ort geregelt werden.

Belange der Außenpolitik, der inneren Sicherheit u. Ä. sol-len regional gelöst werden können. Die Sicherheit sollte, nachspanischem Beispiel, zentral UND kommunal eigene Kräftebilden können, die auch zusammenarbeiten müssen. Fragender äußeren Sicherheit liegen weiterhin in der Kompetenz derZentralregierung. Natürlich sind das alles Punkte weitererDiskussionen.

Es ist eine neue Methode politischen Handelns. Statt derzentralen Autorität soll sich die Bevölkerung auf ihrer eigenenkommunalen Ebene selbst leiten. Dafür ist die Türkei mitihrer Politik und Verwaltung auf dem Weg in eine Reform.Auch wenn dieses Lösungskonzept der Türkei zuerst angebo-ten wird, so ist es für Kurdistan essentiell, um den Krieg zuüberwinden. Es kann sich zu einer Beispiellösung entwickeln.Die KurdInnen haben ihre Forderungen des Öfteren an dieTürkei gerichtet, die aber hat das politische Projekt stets igno-riert. In naher Zukunft wird sich die Herangehensweise desStaates an die Lösungsvorschläge dennoch konkretisieren.

Als Letztes soll betont sein, dass das Projekt der Demokra-tischen Autonomie nicht nur die kurdische Frage lösen wird,sondern auch eine neue, alternative Perspektive gegen diekapitalistische Modernität und das zugehörige Staatsverständ-nis eröffnen kann. Es wird sich zeigen, dass die Emanzipationder Geschlechter, die Zusammenführung der Vielfalt in einedemokratische Gesellschaft – in eine Konstellation vonGleichberechtigung und Freiheit – ein ökologisches unddemokratisches Gesellschaftsmodell möglich machen. Das istebenso für andere antikapitalistische Bewegungen äußerstinteressant. Die Alternative zur kapitalistischen Modernitätmit ihren Widersprüchen und Konflikten ist die demokrati-sche Modernität. Für alle, die eine andere Welt für möglichhalten, wird dies relevant werden. t

Die kurdischen PolitikerInnen wie hier die BDP-Abgeordnete SebahatTuncel sind nicht nur im Wahlkampf unter der Bevölkerung. Sie suchenden Kontakt und die Diskussion, um das Projekt der DemokratischenAutonomie mit Leben zu füllen. Foto: DIHA

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 2011 15

Was versteht der Kongress der Demokratischen Gesell-schaft (Demokratik Toplum Kongresi, DTK) unter dem

„nationalistischen Staat“, dem „Demokratischen Konfödera-lismus“ und der „Demokratischen Autonomie“?

Unter Berücksichtigung internationaler Erfahrungen wer-den Diskussionen bzgl. der Umsetzung des Projekts „Demo-kratische Türkei und autonomes Kurdistan“ geführt.

Als Ergebnis der Diskussionen soll ein Dokument zu denGesetzen der demokratischen Kommunalverwaltungen prä-sentiert werden. Dessen Inhalt will der DTK anschließend imRahmen von Volksversammlungen mit der Bevölkerungöffentlich erörtern.

Der DTK hat im Rahmen der Bemühungen zur Lösung desKonflikts seit 2007 folgende sieben Arbeitskreise gebildet:„Die kurdische Frage“, „Verfassungsrechtliche Prioritäten derkurdischen Frage“, „Alternative Wirtschaftsformen undBeschäftigungsverhältnisse“, „Der Glaube in Mesopotamien“,„Internationale Erfahrungen mit Verhandlungen und Lösun-gen“, „Die Rolle Nusaybins in der mesopotamischenGeschichte“ und „Die internationale Sprach- und Kulturbil-dung und die demokratischen Kommunalverwaltungen“.

Der Kongress der Demokratischen Gesellschaftdiskutiert mit der regionalen Bevölkerung vor Ort

Die Co-Vorsitzenden des DTK starteten anlässlich ihrergeplanten Sitzungen in der Region ihre Reise in Colemêrg(Hakkari).

Die Delegation des DTK hielt in Gever (Yüksekova), Wan(Van) und den Landkreisen von Wan die ersten der regionalgeplanten Versammlungen mit zivilgesellschaftlichen Vertre-tern, Meinungsführern, religiösen Gruppen, Gemeindevorste-hern und vielen Bürgern ab. Daran nahmen Hunderte gelade-ner Gäste teil. Die DTK-Co-Vorsitzenden und die sie beglei-tende Delegation wurden an den unterschiedlichen Stationender Reise von tausenden Menschen empfangen.

Ahmet Türk sprach während dieser Empfänge zur Bevölke-rung und sagte: „Wir versuchen, die seit 30 Jahren errungenenWerte des kurdischen Volkes zu schützen, und bemühen uns,das vergossene Blut in Frieden umzuwandeln. Auf der anderenSeite versucht der Staat, dieses Volk durch Militäroperationenund Folter zu unterdrücken. Wir beharren jedoch darauf, dassdieses Problem durch Dialog gelöst werden sollte. In dieserPhase hat Herr Öcalan eine Situation herbeigeführt, in der die

Waffen schweigen und das Blutvergießen aufhören könnte.Diese Gelegenheit wird dem Staat vom kurdischen Volk gebo-ten, und sie darf nicht vergeben werden. Wir fordern die Frei-heit der Völker und propagieren nicht die Separation. Wirstreben danach, den freien Menschen und das freie Individu-um zu schaffen.“

Türk betonte weiter, die künftigen Schritte gemeinsam mitder Bevölkerung zu gehen: „Wir wollen in der zukünftigenPhase den Frieden schaffen, und um die Demokratische Auto-nomie aufzubauen, wollen wir die Meinungen und Ideen aller,unabhängig von ihrer Überzeugung, einholen. Unsere Bemü-hungen, die darauf abzielen, unserem Volk die Möglichkeitenzur Selbstverwaltung und zur Regierungsteilhabe zu geben,gehen weiter. Ein Beispiel dafür ist die Erklärung von Amed(Diyarbakır), welche auch international für Aufmerksamkeitgesorgt hat und von 641 Personen und Vereinigungen unter-zeichnet wurde.“

Die Ergebnisse der regionalen Arbeit des Kongresses der Demokratischen Gesellschaft

Die Organisationskommission des DTK hat die Beschlüsseder Konferenz vom 2. und 3. Dezember 2010 in Amed(Diyarbakır) veröffentlicht und betont, dass die Stadträte, wel-che eine wichtige Säule der Demokratischen Autonomie dar-stellen würden, gestärkt und da, wo sie nicht vorhanden seien,aufgebaut werden müssten. Auch die Organisationskommis-sion selbst müsse unter Berücksichtigung der autonomenPrinzipien neu strukturiert werden. Nach dem Beschluss zumAufbau der Demokratischen Autonomie haben die DTK-Kommissionen ihre Arbeit vertieft und sind bis in die kom-munale Basis gegangen.

Man will bis Januar 2011 alle existierenden Stadträte über-prüfen, bei Bedarf stärken und neue aufbauen. Zu diesemZweck wird man unter Beachtung der regionalen Besonder-heiten eine konkrete Planung verabschieden.

Die DTK-Organisationskommission hat Folgendes imZusammenhang mit dem Aufbau der Demokratischen Auto-nomie beschlossen:

„Es wird festgestellt, dass primär Regelungen und Arbeits-schritte für die Rechte der Demokratischen Autonomie, derSicherheit der Bevölkerung und der anderen Bereiche definiertwerden müssen. In diesem Sinne muss unser Volk, das durchkulturellen und physischen Genozid bedroht sowie der staat-

DTK und BDP arbeiten für die Demokratische Autonomie

Selbstverwaltung und Beteiligungder BevölkerungZusammenfassung aus Veröffentlichungen der Nachrichtenagenturen DIHA und ANF

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 201116

lich organisierten Prostitution, dem Drogenhandel und gesell-schaftlicher Ausbeutung ausgesetzt ist, seine eigene Sicher-heits- und Organisationsstruktur hervorbringen.“

Die DTK-Organisationskommission erklärt, dass sie sichselbst unter Beachtung der Grundlagen und Bedürfnisse derDemokratischen Autonomie neu strukturieren werde. Zu die-sem Zweck werde man Volksversammlungen und Bildungsar-beit organisieren:

„Die DTK-Organisationskommission erkennt an, dass,obwohl das kurdische Volk der jetzigen Phase mit einem Geistder Freiheit begegnet, sie selbst Defizite beim Aufbau derOrgane und Strukturen aufweist, während sie eine Vorreiter-rolle hätte erfüllen müssen. Daher konnte gegen den genozid-artigen Angriff auf militärischer, politischer und kulturellerEbene die Demokratische Autonomie nicht ausreichendumgesetzt werden, so dass sich auch ein demokratischer Volks-widerstand nicht ausreichend entwickeln konnte.“

Dies könnte ein Rahmenpapier zur Demokratischen Auto-nomie sein

Was bedeutet das Projekt der Demokratischen Autonomie?Das Projekt der Demokratischen Autonomie, welches

durch die Studien der kurdischen FührungspersönlichkeitAbdullah Öcalan auf die Agenda gekommen ist, gewinntimmer mehr an Bedeutung. Öcalan nannte das Konzept derDemokratischen Autonomie das Lösungsprojekt des kurdi-schen Volkes und beschrieb es folgendermaßen:

Wenn die demokratische Nation der Geist ist, dann ist dieDemokratische Autonomie der Körper. Die DemokratischeAutonomie ist die konkretisierte Form und Struktur derdemokratischen Nation, als wenn sich das Fleisch um dieKnochen gelegt hat.

Die Demokratische Autonomie hat verschiedene Ebenenbzw. Dimensionen:

„Wir wollen in der zukünftigen Phase den Frieden schaffen, und um die Demokratische Autonomie aufzubauen, wollen wir die Meinungen undIdeen aller, unabhängig von ihrer Überzeugung, einholen. Unsere Bemühungen, die darauf abzielen, unserem Volk die Möglichkeiten zur Selbst-verwaltung und zur Regierungsteilhabe zu geben, gehen weiter.“ Ahmet Türk, Co-Vorsitzender des DTK Foto: DIHA

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 2011 17

Die politische Dimension: Auf dieser Ebene gibt es ein Par-lament oder einen Volkskongress, und dieser hat eine Exekuti-ve.

Die rechtliche Dimension: Hier wird dem rechtlichen Sta-tus des Projekts der Demokratischen Autonomie Ausdruckverliehen. (Die Katalanen definieren dies als Status). Es ist sehrwichtig, wie der rechtliche Status der Kurden geregelt wirdund in die Verfassung und die Gesetze Eingang findet. MitGesetzen und Normen können der Rahmen und der Inhaltder Demokratischen Autonomie bestimmt werden.

Die wirtschaftliche Dimension: Hier muss erörtert werden,wie die Wirtschaftsordnung auszusehen hat, und eine Politikzu Staudämmen sowie über- und unterirdischen Ressourcenbestimmt werden. Eine kapitalistische Wirtschaftsordnung isthier ausgeschlossen. Vielleicht können wir die kapitalistischeWirtschaftsordnung nicht ganz beseitigen, jedoch ist es mög-lich, diese durch Einschränkungen so anzupassen, dass wirunser eigenes Wirtschaftssystem aufbauen können. Alle diesePunkte sind zu diskutieren.

Die kulturelle Dimension: Die kulturelle Dimensionumfasst Sprache, muttersprachlichen Unterricht, dieGeschichte und die Kunst. Wie ist das Verhältnis des Kurdi-schen zum Türkischen zu gestalten, wie hat der muttersprach-liche Unterricht zu laufen, wie hat die Sprachenpolitik derdemokratischen Nation auszusehen? All dies muss diskutiertund eine neue Bildungspolitik gestaltet werden.

Es muss auch ausführlich darüber diskutiert werden, wie dieKurden den kulturellen Genozid überwinden können, um sodarüber ein Bewusstsein zu schaffen.

Die Dimension der elementaren Selbstverteidigung: Wirkönnten dies auch die Sicherheitsdimension nennen, im Zugederer wir den Genozid thematisieren und uns fragen, wie dieKurden diesem entgehen könnten. Der Genozidbegriff in die-sem Kontext umfasst alle Definitionen des Genozids. Erbetrifft nicht lediglich den physischen, sondern auch alleanderen Formen des Genozids, wie z. B. den kulturellen.Kurz, die kurdische Gesellschaft schafft und erlangt hier dieFähigkeit zur elementaren Selbstverteidigung. Damit istgemeint, dass die Bevölkerung für die eigene Sicherheit sorgtund nicht zu einer bewaffneten Struktur wie die PKK und dieKCK übergeht. Das bedeutet, dass die demokratische Gesell-schaft sich auf allen Ebenen organisiert, in Institutionen ver-einigt und so ihr eigenes Sicherheitssystem entwickelt. Da dieBevölkerung zu einem anderen Schluss kommen könnte, musssie dies ausdiskutieren und zum Beispiel klären, ob sie imMilitär vertreten sein will oder nicht. Oder wie sie dem Dorf-schützersystem und der Betätigung der Dorfschützer ein Endesetzen kann.

Diese Sicherheitsdimension ist für die Bevölkerung genauso wichtig wie Wasser und Brot, und ohne diese kann mannicht leben.

Die diplomatische Dimension: Hier wird die Beziehungdes kurdischen Volkes zu anderen Völkern und Gesellschaftenthematisiert. Mit den Nachbarstaaten und den Kurden inanderen Staaten wird es Beziehungen geben. Und wie wir mitanderen Gesellschaften in Beziehung treten und zusammen

leben wollen, das gilt es in dieser diplomatischen Dimensionzu klären.

Das Projekt der Demokratischen Autonomie der BDP

Auch die Partei für Frieden und Demokratie BDP hat, wiedie zuvor verbotene Partei für eine demokratische GesellschaftDTP, das Projekt der Demokratischen Autonomie zu ihrerHauptforderung erklärt und es in neun Punkte untergliedert.

Darunter fallen Lösungskonzepte wie die grundlegendeReform im politischen Bereich und im Verwaltungssystem, dieBeteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen,autonome Verwaltung und Regionalparlamente. Dies sind dieKernthemen des Projekts der Demokratischen Autonomie.

Der Rahmen der von der BDP vertretenen Auffassung vonder Demokratischen Autonomie wird wie folgt beschrieben:

1. Die Türkei muss eine grundlegende Reform im politischenund administrativen System durchführen, um dieses zudemokratisieren.

2. Allein durch einen Systemwandel kann den Problemennicht begegnet werden, daher muss zu deren Überwindungdas Augenmerk auf die Kompetenz der Gesellschaft gelegtwerden.

3. Die Verfahren und Methoden, welche zur Lösung der Pro-bleme eingesetzt werden, müssen der Philosophie der Stär-kung der Basis, der Beteiligung der Bevölkerung und derenBefähigung zu Entscheidungen entsprechen.

4. Um die Beteiligung der Bevölkerung an Entscheidungs-prozessen zu gewährleisten, plädiert sie im Kern für Räte bishin zur kommunalen Ebene.

5. In der regionalen und kommunalen Struktur muss die kul-turelle Vielfalt ihren Ausdruck finden und gegen Kriterienwie „Ethnie“ und „Land und Boden“ verteidigt werden.

6. Während für die gesamte Nation der Türkei die Fahne unddie offizielle Sprache gelten, haben die regionalen und kom-munalen Strukturen auch für sich die Möglichkeit, mit ihreneigenen Farben und Symbolen ihre demokratische Grund-verwaltung aufzubauen.

7. Die Verwaltung der Demokratischen Autonomie organi-siert sich in einem Regionalparlament, wobei deren Mitglie-der als regionale Abgeordnete zu sehen sind. Das Parlamentwählt den Parlamentspräsidenten und die verantwortlichenExekutiv-Komitees für die einzelnen Bereiche. Der Präsidentund die Mitglieder der Komitees sind für die Umsetzung derParlamentsbeschlüsse zuständig.

8. Jede Region ist mit ihrem eigenen Namen oder nach demgrößten Bezirk in ihrem Verwaltungsbereich zu benennen.

9. Im Modell der Demokratischen Autonomie sind dieBezirksgouverneure damit beauftragt, die Beschlüsse derZentralregierung und der Regionalverwaltung umzusetzen.Auch die Provinzialvertretungen der Ministerien unterliegendieser Verpflichtung. Strukturen wie Bezirksparlamente,Kommunen und Gemeindevorsteher werden fort -bestehen. t

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„Vielleicht haben wir bislang weder die Revolutiongewonnen noch den Frieden erreicht. Aber wir erleb-

ten, wie sich der Tag der Revolution anfühlen wird. Das hatuns das kurdische Volk spüren lassen.“ Mit diesen Wortenbeschreiben Hamiyet Dinçer und Gülbahar Çiçekçi ein Jahr,nachdem sie die Grenze von Habur nach Silopi überquert hat-ten, rückblickend die Ereignisse und Gefühle, die sie in denTagen um den 20. Oktober 2009 erlebten. Sie hatten sich aufeigenen Wunsch hin an der Friedensgruppe beteiligt, die sichvon der Guerilla aus den Bergen Kandils auf den Weg mach-te, um zur Überwindung der politische Sackgasse in der Tür-kei und einer demokratischen Lösung der kurdischen Fragebeizutragen.

Hamiyet Dinçer erläutert den damaligen politischen Kon-text wie folgt: „Im vergangenen Jahr sah die politische Situa-tion so aus, als seien neue Möglichkeiten entstanden. DieAKP-Regierung hatte unter dem Namen ‘Demokratische Öff-nung’ verkündet, sie werde die kurdische Frage lösen. Es sahnach einer neuen Initiative aus, wobei sie behaupteten, wirkönnten in der Türkei politisch arbeiten. Unsere Führungwollte den Puls der Zeit nutzen und die AKP-Regierung aufdie Probe stellen, um herauszufinden, wie ehrlich sie an derLösung der kurdischen Frage interessiert war.“ Um die Dialog-und Friedensbereitschaft von kurdischer Seite aus zu manifes -tieren, rief Abdullah Öcalan dazu auf, drei Friedensgruppenzusammenzustellen, die die gesamte kurdische Gesellschaftrepräsentieren sollten. Aus Maxmur kamen Menschen, dieaufgrund des Krieges und der Dorfzerstörungen durch dentürkischen Staat ihre Heimat hatten verlassen müssen. In derGruppe aus Kandil gab es Menschen, die gegen die staatlicheUnterdrückung und Völkermordpolitik Widerstand leistenwollten und in die Berge gegangen waren. Eine dritte Gruppe,die sich auf ihre Rückkehr vorbereitete, bestand aus in Europaim Exil lebenden KurdInnen. Die Gruppen bestanden zu glei-chen Anteilen aus Männern und Frauen, wobei alle Alters-gruppen vom Säugling über Kinder, Jugendliche und Erwach-sene bis hin zu alten Menschen vertreten waren.

Die Gründe für diese Gruppenzusammensetzung erörtertGülbahar Çiçekçi folgendermaßen: „Diese drei Gruppen zeig-ten auf, dass die kurdische Frage eine sehr weite Dimension

besitzt. Zugleich hat jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmerder Friedensgruppe – darunter auch Kinder – eine individuel-le Geschichte und individuelle Probleme, die wiederum auchrepräsentativ für die Geschichte und die Probleme der kurdi-schen Gesellschaft sind. Zum Beispiel war unter uns ein Kindim Alter von 6 Monaten. Dieses Baby hat das Problem, dass esnicht in seiner Muttersprache eine Schulbildung empfangenund sein Leben gestalten können wird. Seine Mutter war vorder Flucht nach Maxmur durch Dorfschützer mit dem Todebedroht worden. Alle diese Menschen hatten den Wunsch,dass die kurdische Frage auf friedliche und demokratischeWeise gelöst wird. Andere unter uns waren in Europa zurSchule gegangen und hatten dort studiert. Unsere persön-lichen Lebensgeschichten stellen jeweils einen Teil der kurdi-schen Frage dar. Deswegen haben wir auch in der Türkeiimmer wieder gesagt: ‘Wenn es Euch gelingt, die Problemeunserer 34-köpfigen Gruppe zu lösen, dann ist die kurdischeFrage an sich schon gelöst!’“

Die Friedensgruppen aus Kandil und Maxmur wurden vonder Bevölkerung aus Südkurdistan mit großen Erwartungenund einer unbeschreiblichen Aufregung bis zum Grenzüber-gang nach Habur begleitet. Gegenüber auf der anderen Seiteder Grenze hatte sich bereits die Bevölkerung aus Silopi ver-sammelt. Lieder und Freiheitsparolen überwanden trotzGrenzschutzanlagen und Militäraufgeboten die Grenze undvereinten sich.

Obwohl bei der Einreise in die Türkei das Risiko einer Fest-nahme nicht ganz auszuschließen gewesen war, beschlossen dieFriedensgruppen einstimmig: „Nachdem sich so viele Men-schen hier angesammelt und gemeinsam ihren Willen auf eineso starke Weise hier manifestiert haben, werden wir weiterge-hen, selbst wenn wir dafür 40 Jahre Gefängnis oder sogar denTod in Kauf nehmen müssen. Wir lassen uns nicht aufhalten,wir gehen weiter!“

Beim Grenzübertritt wurden alle einzeln durch die Staats-anwaltschaft verhört. Als die Verhöre am Morgen abgeschlos-sen waren, wurden fünf Gruppenmitglieder festgenommen.„Sie wollten es so darstellen, als hätten einige von uns das Reu-egesetz in Anspruch genommen“, sagt Hamiyet Dinçerempört. Aber natürlich haben sie dagegen protestiert und

Zwei Frauen aus der Friedensgruppe blicken auf die Ereignisse um den 20. Oktober 2009 zurück

Ein langer Weg – und doch so nah?!

Şervîn Nûdem, 4. Dezember 2010

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gesagt: „Wir haben alle die gleiche Aussage gemacht und sindalle mit dem gleichen Ziel aufgrund des Aufrufs AbdullahÖcalans gekommen.“ Zugleich wurde die Bevölkerung, die inSilopi versammelt war, immer unruhiger und fing an, die Poli-zei und die Grenzbeamten anzugreifen. Das Volk hatte keineGeduld mehr, denn die Menschen warteten seit 2–3 Tagen imFreien auf den Straßen. Dann wurde plötzlich ein Schnellge-richtsverfahren durchgeführt und letztendlich alle freigelassen.

„Vor Freude befanden sich die Menschen in einer ArtTrancezustand. Es war wie ein kollektives Fest und Gebet derkurdischen Bevölkerung. Es war, als ob dies der Tag der Befrei-ung gewesen sei“, beschreibt Gülbahar Çiçekçi den Momentdes Zusammentreffens mit der Bevölke-rung. Dem fügt Hamiyet Dinçer hinzu:„Die Gefühle, die wir damals erlebten,waren etwas sehr Außergewöhnliches. Eswar eine ganz besondere emotionale undliebevolle Atmosphäre. Ich kann sagen, eswaren historische Tage. Bislang warenüber den Grenzübergang bei Haburimmer nur Leichname von Guerillaszurück gekehrt. Zum ersten Mal konntedas kurdische Volk seine Kinder an derGrenze lebendig wiedersehen und inEmpfang nehmen. Auch für uns war das sehr außergewöhn-lich. Früher, wenn wir bei der Guerilla zusammengesessen undversucht haben, uns auszumalen, wie der Tag der Befreiungsein würde, dann träumten wir davon, uns auf den PlätzenAmeds wiederzutreffen. Von vielen FreundInnen, die mittler-

weile gefallen sind, hatten wir uns mit den Worten verab-schiedet: ‘Eines Tages werden wir uns auf den Plätzen Amedsin Freiheit wiedersehen.’ Uns kam jetzt die Rolle zu, die Träu-me unserer gefallenen GenossInnen zu verwirklichen und alsBotschafterInnen für den Frieden tätig zu werden. Diese Auf-gabe hatten uns unsere FreundInnen in den Bergen übertra-gen.“

Für den Weg von Silopi nach Amed, der normalerweise 4bis 5 Stunden dauert, brauchte der Bus der Friedensgruppe 3Tage. Denn Tausende von Menschen waren zur Begrüßungauf den Straßen. Gülbahar Çiçekçi schildert die Atmosphäre:„Die Welle der Kraft und Einheit der kurdischen Bevölkerungverlief über die Grenzen hinweg und dann weiter von Silopibis Amed. Das hat den Staat und insbesondere die nationalis -

tischen Parteien in Panik versetzt.“ Zuvor hatte Erdoğan nochgesagt: „Wer freut sich nicht, wenn er die Bilder aus Habursieht?“ Doch als der damalige CHP-Vorsitzende Baykal daraufdie Regierung angriff und meinte: „Die sind nicht gekommen,um sich zu ergeben, sondern um uns zum Ergeben zu zwin-gen!“, da machte die Regierung schnell einen Rückzieher.

Aber die Wirklichkeit ist: Wir sind weder gekommen, um uns zu ergeben,noch um irgendwen zum Ergeben zu zwingen!Genau zu diesem Zeitpunkt begannen in Izmir und an

anderen Orten die Lynchangriffe gegen KurdInnen. Gülbahar

Çiçekçi schätzt das Ziel dieser geplanten rassistischen Pogromeso ein: „Sie wollten uns damit zu verstehen geben, dass dieFriedensgruppe aus Europa von ihrem Kommen absehen soll.Denn in den kurdischen Regionen dauerten die Freude unddie Feiern weiterhin an. Wäre zu so einem Zeitpunkt mit dem

Kommen der Gruppe aus Europa auchnoch in Istanbul eine solche Atmosphäregeschaffen worden, dann wäre das dieKrönung gewesen. Gerne hätten wir dieFreude, die wir in Amed erlebt hatten, mitden Menschen in der Türkei geteilt.Jedoch wollte der Staat nicht zulassen,dass nach dieser Manifestation des Frei-heitswunsches in Kurdistan jetzt auchnoch die Serhildans im Westen der Türkeiweitergehen könnten. Deshalb haben sieeinerseits Lynchangriffe organisiert, ande-

rerseits wurde das Kommen der Gruppe aus Europa bürokra-tisch verhindert. Während wir ohne Pässe einreisen konnten,wurden die Einreisegesuche der Friedensgruppe aus Europaaufgrund unzulänglicher Ausweisdokumente zurückgewiesen.Zunächst schuf der Staat bürokratische Hürden, dann kamenauch noch Drohungen hinzu. Damit hatte sich das Kommeneiner Friedensgruppe aus Europa erübrigt.“

Der türkische Staat vermittelte den Eindruck, als könne eres nicht ertragen, dass sich eine langjährige Hoffnung undSehnsucht des kurdischen Volkes erfüllen könnte, das einstim-mig „Frieden, Geschwisterlichkeit und Lösung der kurdischenFrage!“ forderte. Das war für den türkischen Staat unerträg-lich. Seine Reaktion darauf lautete: „Wir werden alles noch

Gülbahar Çiçekçi schloss sich im Jahr 2000von Istanbul aus der kurdischen Befreiungs-bewegung an. Ursprünglich kommt sie ausCewlig (Bingöl) und war in der Pressearbeitaktiv. Sie ist eine der drei SprecherInnen derFriedensgruppe aus Kandil.

Hamiyet Dinçer schloss sich im Jahr 1992 alserste Frau aus Elbak (Başkale) der Guerilla an.Sie war verheiratet und Mutter, als sie gemein-sam mit ihrem Ehemann in die Berge ging. Inverschiedenen Teilen Kurdistans war sie inden Arbeiten der Frauenbewegung aktiv,bevor sie sich der Friedensgruppe aus Kandilanschloss.

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mal auslöschen und von vorne beginnen!“ Und danach ging esdann wieder von vorne los.

Trotz Repressionen, Gerichtsverfahren, Verhaftungswellenund Militäroperationen einschließlich erneuter Dorfzerstö-rungen bemühten sich die Mitglieder der Friedensgruppen 8Monate lang in der Türkei an jedem Ort, Plattformen des Dia-logs für den Frieden aufzubauen und zu stärken. Nach Mei-nung von Gülbahar Çiçekçi, die im dreiköpfigen SprecherIn-nenrat der Friedensgruppe die Frauen repräsentierte, war dieInitiativkraft der Frauen in den Friedensgruppen in vielenSituationen entscheidend: „Beide Gruppen bestanden jeweils

zur Hälfte aus Frauen und Männern. Jedoch haben die Frau-en insgesamt eine bestimmende, führende Rolle gespielt.Denn viele von uns hatten zuvor in der Gesellschaftsorganisie-rung gearbeitet und kannten die Bevölkerung gut. Die männ-lichen Genossen taten sich damit schwerer. Sie waren meistensstiller und wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Als Frauenwaren wir aktiv, beteiligten uns an den Diskussionen, Ver-sammlungen und Kundgebungen. Wir besaßen unter derBevölkerung eine größere Wirkungskraft und uns wurde gro-ßer Respekt entgegengebracht. Die Menschen begegneten unsganz offen, ohne irgendwelche Zweifel oder Zurückhaltung.“

Neben ihrer aktiven Mitarbeit in den Gremien des Frie-densrates in der Türkei nahmen die Frauen aus der Friedens-gruppe auch an der ersten nationalen kurdischen Frauenkon-ferenz in Amed teil und waren als offizielle Vertreterinnen derPKK zu einer Konferenz mit dem Thema „Friedensprozesse“eingeladen. Dort hatten sie die Möglichkeit, mit VertreterIn-

nen anderer revolutionären Bewegungen wie z. B. aus demBaskenland, Südafrika und anderen Teilen der Welt ihreErfahrungen auszutauschen. Das politische und gesellschaftli-che Engagement ihrer Friedensarbeit war eng miteinander ver-knüpft. Gülbahar Çiçekçi berichtet: „Wenn es Probleme zwi-schen verschiedenen Stämmen oder familiäre Probleme gab,dann sind wir Frauen dorthin gegangen und haben eine Füh-rungsrolle bei der Lösung dieser gesellschaftlichen Problemegespielt. Einige Entwicklungen, die heute stattfinden, gehenauf das Engagement der Frauen aus der Friedensgruppezurück. So sind die Mütter im Alter von 65 oder 70 Jahren ausder Maxmur-Gruppe von Haus zu Haus zu den Familien

gegangen und haben mit denFrauen gesprochen. An Orten wieSilopi oder Şirnex, an denen frü-her Frauen kaum Rederecht hat-ten, haben diese Mütter dieBevölkerung organisiert. Siehaben die Frauen eigenständigversammelt und mit ihnen Ver-sammlungen durchgeführt. Dashat eine große Begeisterung aus-gelöst. Zum Beispiel war eine derMütter in der Gegend von Silopiunterwegs. Sie ist in ihr Dorfgegangen, in dem es Dorfschützergab. Dort ist sie zu einem Hausvon Dorfschützern gegangen, diezugleich ihre Verwandten waren.Sie hat ihnen gesagt: ‚Wenn Ihrwollt, dass ich Euer Haus betrete,dann müsst Ihr zuerst die Waffenniederlegen!‘ Heute sehen wir,dass langjährige Dorfschützerdort in den Regionen Silopi undGever ihre Waffen niederlegen.Das ist ein Ergebnis der Arbeitder Frauen aus der Friedensgrup-pe. Sie haben genau das geschafft,

wovor sich der Staat am meisten fürchtet: Sie haben die Spal-tung der Gesellschaft überwunden.“

Dazu Hamiyet Dinçer: „Je mehr du in der Türkei von Frie-den sprichst, desto mehr machst du dich schuldig und strafbar.An jedem Ort, an dem wir vom Frieden gesprochen haben,leiteten sie danach ein neues Strafverfahren gegen uns ein. Siezogen einzelne Wörter aus unseren Reden heraus und benutz-ten diese als Vorwände für Anklagen. Aber wir sind nichtschuldig! Wenn der Staat von Demokratie redet, dann mussauch ich das Recht haben, mich auszudrücken. Aber leiderhaben wir gesehen, dass das in der Türkei nicht möglich ist.Unser Kommen hatte Abdullah Öcalan als einen Test für dieTürkei bezeichnet. Aber leider hat die Türkei diesen Test nichtbestanden.“

Wie schwer sich die Friedensarbeit in der Türkei gestaltet,wird allein daran deutlich, dass gegen alle 30 volljährigen Mit-

Am 20. Oktober 2009 wurde die Friedengruppe von tausenden Menschen an der Grenze zur Türkei emp-fangen. „Es war, als ob dies der Tag der Befreiung gewesen sei“, so Gülbahar Çiçekçi. Foto: DIHA

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glieder der Friedensgruppe ein Strafverfahren eröffnet wurde,in dem die Staatsanwaltschaft Gefängnisstrafen von insgesamt490 Jahren fordert.

Neben diesen Anklagen wegen Mitgliedschaft bzw. Unter-stützung einer illegalen Organisation wurden gegen jedes Mit-glied der Friedensgruppen noch mindestens 10 bis 12 weitereVerfahren eröffnet. Weder die Anklageschriften noch die Straf-verfahren haben eine rechtliche Substanz. Die Prozessaktenwurden aus öffentlichen politischen Erklärungen zusammen-gestellt. Als belastende Beweise werden die Aussage von MuratKarayılan „Wir schicken eine Friedensgruppe“ sowie die Auf-forderung Abdullah Öcalans „Es sollen Friedensgruppen kom-men, um die politische Stagnation zu überwinden“ angeführt.Dabei hatten die Friedensgruppen schon bei ihrer Einreiseerklärt, dass sie aufgrund des Aufrufs Abdullah Öcalansgekommen seien. Damals war der Artikel 221, das Reuegesetz,überhaupt nicht zur Sprache gekommen. Aber bei den erneu-ten Gerichtsverfahren, die am 17. und 24. Juni 2010 began-nen, wurde plötzlich allen Gruppenmitgliedern die Fragegestellt: „Bereust du es oder nicht?“ Die Antwort lautete auchdieses Mal einstimmig: „Wir bereuen nichts! Wir sind miteinem Ziel gekommen. Wir bereuen weder unser Ziel nochunser Kommen noch unsere Teilnahme an der PKK.“

Daraufhin wurden zehn Mitglieder der Friedensgruppen beiden ersten Gerichtsterminen verhaftet. Seitdem sind ElifUludağ, Zehra Tunç, Lütfü Taş, Hüseyin Ipek, Nurettin Tur-gut, Caziye Kabul, Ayşe Kara, Mustafa Ayhan, Sosin Yaman,Abdullah Yaman und deren Sohn, sprich vier FreundInnenvon der Guerilla und sieben Menschen aus der Bevölkerungvon Maxmur, im Gefängnis von Amed (Diyarbakır) gefangen.Um ihren Kampf für einen gerechten Frieden besser fortsetzenzu können, kehrten dreizehn der noch in Freiheit befindlichenMitglieder der Friedensgruppen am 19. Juli 2010 nach Süd-kurdistan in das Flüchtlingscamp Maxmur zurück, währendder Gerichtsprozess in der Türkei gegen sie weitergeht. Am25.11.2010 wurde gegen elf von ihnen Haftbefehl erlassen.

Dazu Hamiyet Dinçer: „Wir hatten zunächst vermutet, dasssie die FreundInnen von der Guerilla verhaften, die Menschenaus Maxmur jedoch freilassen würden. Aber der Staat hat dakeinen Unterschied gemacht. Selbst alte Mütter wurden ver-haftet, ohne dass ihnen das Gericht auch nur eine Fragegestellt hätte. Es war so, als seien wir zur Plage für den Staatgeworden. Der Staat wusste nicht mehr, wie er mit uns umge-hen sollte, denn wir hatten der Öffentlichkeit gezeigt, dassseine Behauptungen, er würde die kurdische Frage lösen wol-len, nicht richtig waren. Angeblich waren in der Nähe vonZaxo Lager aufgebaut worden, um die Rückkehr von 5 000Menschen aus Maxmur vorzubereiten. Aber in Wirklichkeitwar der Staat für die Rückkehr dieser Menschen gar nichtbereit. Beispielsweise gab es in unserer Gruppe drei Universi-tätsabsolventInnen, die Politik, Soziologie und Jura studierthatten. Aber ihre Diplome wurden nicht anerkannt. Bei eineroffiziellen Einrichtung wurde unser Soziologe als ‚Analphabet‘und ‚Dummer‘ beleidigt, weil er nicht Türkisch sprach. Dar-auf haben wir gefragt: Wie wollt ihr die kurdische Frage lösen?

Allein in Maxmur gibt es 5 000 SchülerInnen, die von derGrundschule bis zur Universitätsvorbereitungsklasse in derkurdischen Sprache unterrichtet werden. Wie sollen dieseSchülerInnen zur Schule gehen, wenn die Türkei das Recht aufmuttersprachlichen Unterricht nicht anerkennt? Diejenigen,die in Maxmur zum Gymnasium gehen, müssten dann in derTürkei nochmal mit der Grundschule anfangen. DoktorInnenoder AnwältInnen aus Maxmur, die im Irak studiert haben,müssten dann in der Türkei als HilfsarbeiterInnen arbeitenoder wären arbeitslos. Auf diese Widersprüche haben wir hin-gewiesen. Da zeigte sich, dass das sogenannte ‚Paket für einedemokratische Öffnung‘ leer war. Bezüglich des Rechts aufMuttersprache, der Lösung gesellschaftlicher Probleme oderder Wiedergutmachung für die durch Krieg und Vertreibungerlittenen Schäden hatte der türkische Staat darin nichts vor-gesehen.

In den 8 Monaten, die wir in der Türkei waren, begann eineneue Phase. Wir hatten die Morde sogenannter ‚unbekannterTäter‘, die in den 90er Jahren an der Tagesordnung gewesenwaren, so langsam vergessen gehabt. Aber diese Morde began-nen wieder von Neuem. Wir hatten Dorfverbrennungen wiein den Jahren 1992–94 vergessen. Aber in dieser Zeit wurdenin der Region Êlîh (Batman) erneut zwei Dörfer verbrannt.Wir hatten die Waffen niedergelegt und waren in die Türkeigekommen, um politisch zu arbeiten. Doch diejenigen, die inden Ebenen und Städten politische Arbeit machen, werdenmit Handschellen abgeführt. Der letzte Tropfen, der das Fasszum Überlaufen brachte, war die Verhaftung unserer Freun-dInnen bei den Prozessen am 17. und 24. Juni 2010. Dasmachte es notwendig, dem Staat gegenüber eine klare Haltungeinzunehmen. Der Staat ließ vorher schon jeden unsererSchritte Tag und Nacht durch die Polizei überwachen. UnsereTelefone und Wohnungen wurden abgehört. Für den Frie-densprozess fanden wir es letztendlich notwendig, als Gruppeeinen gemeinsamen Beschluss zu fassen, unsererseits eine klareHaltung zu zeigen und aus der Türkei auszureisen. Doch auchjetzt gehen unsere Arbeiten für den Frieden, für die Revolu-tion weiter. Wie lange dieser Kampf auch weitergehen mag,letztendlich wird es zum Frieden kommen. Aber wir arbeitendaran, das möglichst schnell zu realisieren.“

Hamiyet Dinçer und Gülbahar Çiçekçi, die nun beimUNHCR ihre Anerkennung als politische Flüchtlinge bean-tragt haben, setzen gemeinsam mit den anderen Mitgliedernder Friedensgruppe von Maxmur aus ihren Einsatz für einengerechten Frieden fort. Die Phase der Aktionslosigkeit, die sei-tens der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans KCK am1.11.2010 bis zu den Parlamentswahlen in der Türkei im Juni2011 einseitig verlängert wurde, sehen sie als eine wichtigeChance. Ob der Weg hin zu einem beidseitigen Friedenspro-zess nah oder doch noch sehr lang sein wird, wird daran lie-gen, wie diese Chance durch den türkischen Staat aber auchdurch demokratische und internationalistische Kräfte für soli-darisches Engagement genutzt werden wird. t

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 201122

Dieses Verfahren begann angeblich mit einer telefonischenAnzeige bei der Polizeidirektion Diyarbakır. Am

14.02.2007, sofort nach der Anzeige, wurde die Telefonüber-wachung der angezeigten Person eingeleitet. Zu einem späte-ren Zeitpunkt wurden alle Telefone von Personen, die Kontaktmit ihr hatten, angezapft. Auf diese Weise wurden über zweiJahre die Telefone von Dutzenden Personen abgehört. Als obdies nicht reichte, wurde das auf Beschluss des Leitungskomi-tees der Partei für eine Demokratische Gesellschaft DTP eröff-nete Büro der Kommission für Ökologie und kommunale Ver-waltung mit Kameras überwacht, ebenso wurden auch alle imInneren stattfindenden Gespräche mitgehört. Das Büro derKommission wurde mit einer vom Richter auf eine Wochebefristeten Abhörgenehmigung 60 Wochen lang überwacht.Jede/r, die/der das Büro betrat oder herauskam, taucht in derAnklage als Beschuldigte/r auf.

Als Ergebnis dieser Operation geht die Zahl der Festge-nommenen und Inhaftierten in die Tausende. Die politischenAktivitäten von DTP und BDP (Partei für Frieden undDemokratie, Nachfolgerin der Dez. 2009 verbotenen DTP)sind sozusagen zum Ziel der Strafermittlungen geworden. ImMoment stehen weitere KCK-Prozesse in Şirnex (Şırnak), Êlîh(Batman), Mêrdîn (Mardin), Wan (Van), Adana, Mersin undAntep an. Ein Verfahren in Sêrt (Siirt) im Rahmen der KCK-Operationen steht noch aus; eine Anklage ist jedoch auchnach 10 Monaten Haft gegen die Angeklagten nicht erhobenworden.

Der Beginn der OperationBei der DTP-Operation (nach deren Verbot dann gegen die

BDP) wurden zu Beginn am 14. April 2009 zeitgleich bei 60Mitgliedern der DTP und deren Führung um fünf Uhr mor-gens Razzien durchgeführt. Danach folgten im Juni, Septem-ber und schließlich am 24.12.2009 im Rahmen desselbenErmittlungsverfahrens ähnliche Operationen. Die Anzahl derInhaftierten betrug nach diesen Einsätzen 103. Nach stunden-langen Durchsuchungen wurde eine große Menge an Compu-tern, Speichermedien, schriftlichen Dokumenten, CDs,Büchern und ähnlichen Dingen beschlagnahmt. Das Verfah-ren wurde von Anfang an geheim durchgeführt, das heißt, eswurde verhindert, dass AnwältInnen und deren inhaftierteMandantInnen die Anklagepunkte gegen sie erfahren und eineentsprechende Verteidigung vorbereiten konnten. Endlich, 14

Monate nach Beginn der Operation, wurde im Juni 2010 dieAnklageschrift dem Gericht übergeben. Die Akte besteht aus366 Ordnern mit Zusatzunterlagen und einer 7480 Seitenstarken Anklageschrift, welche innerhalb einer Woche ange-nommen worden war. Der Beginn des Prozesses wurde auf den18. Oktober 2010 festgelegt.

Das Profil der AngeklagtenDer Großteil der Angeklagten in diesem Verfahren sind

StellvertreterInnen der DTP-Vorsitzenden, AnwältInnen,Mitglieder von zivilgesellschaftlichen Organisationen undGewerkschaften, Frauen, die sich gegen Diskriminierung stel-len, GründerInnen des Kongresses der DemokratischenGesellschaft DTK, Co-Vorsitzende von BDP/DTP, ehemaligeAbgeordnete, Leitungspersonen und ihre MitarbeiterInnen,ehemalige und amtierende BürgermeisterInnen. Kurz heraus-gestellt, das gemeinsame Merkmal der Angeklagten ist: Sie ste-hen oppositionell zur Praxis des Staates und zu seiner Politikin der kurdischen Frage.

Die Anschuldigungen in der Anklageschrift und ihre Grundlage

Von den 152 Angeklagten droht 11 eine lebenslange Inhaf-tierung. Die übrigen sollen wegen Mitgliedschaft in und Lei-tung einer (verbotenen) Organisation zu Haftstrafen zwischen5 und 20 Jahren verurteilt werden. Die Grundlagen der Ankla-ge liefern vor allem abgehörte Telefonate und durch technischeÜberwachung erlangte Informationen. Es gibt keine Spur, diedarauf hinweist, dass die Angeklagten in irgendeine Artgewalttätiger Aktion verwickelt gewesen wären. Außerdemfinden sich in den Akten Aussagen sogenannter „geheimerZeugInnen“ gegen sie.

Der Beginn des Prozesses und die Probleme während des Prozesses

Ganze 18 Monate nach der Operation vom 14. April 2009begann am 18. Oktober 2010 der Prozess. Der erste Verhand-lungstag wurde eröffnet mit der Feststellung der Identität unddes Standes der Angeklagten. Diese wollten während der Auf-nahme ihrer Personalien Kurdisch sprechen. Das Gericht wiesdiesen Wunsch der Angeklagten zurück und nahm stattdessen

Eine kurze Analyse des KCK-Verfahrens

Gemeinsames Merkmal der Angeklagten: oppositionellCihan Aydın, Rechtsanwalt Amed (Diyarbakır)

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die in den Akten vermerkten Personalien zur Kenntnis.Schließlich wurde es nicht akzeptiert, dass die Angeklagtensich im Gericht auf Kurdisch ausdrückten. Den letztlich nach18 Monaten vor Gericht gebrachten Angeklagten wurde hiererneut verunmöglicht sich zu verteidigen.

Hintergrund des Prozesses und dessen Einfluss auf die kurdische politische Bewegung

Um den Hintergrund des Prozesses verstehen zu können,muss man sich die Ergebnisse der Wahlen von 2004 und 2009vor Augen führen. Bei den Regionalwahlen 2004 konnte dieAKP in den kurdischen Gebieten im Ver-gleich zu vorherigen Wahlen einen starkenAnstieg ihrer Stimmenzahl verzeichnen.Die DTP errang 2004 50 Bürgermeiste-rInnenposten, diese Zahl konnte sie beiden Regionalwahlen 2009 auf 99 erhöhen.Der Erfolg der DTP 2009 führte zu einergroßen Desillusionierung bei der AKP.Diese sah den Grund ihrer Niederlage inden kurdischen PolitikerInnen und eröff-nete eine Festnahmewelle gegen sie. Wie-der hatte der Staat die kurdische Fragenicht richtig interpretieren können, daranhatten auch Kreise, welche die Regierungpolitisch falsch beraten, einen großenAnteil; das ist die gemeinsame Ansichtpolitischer Kreise in der Türkei. Schließ-lich gibt es noch einen anderen Faktor, dernicht außer Acht gelassen werden sollte.Im Kontext der Maßnahmen gegen dieextralegalen Strukturen von Ergenekonund im Militär diente die DTP-Operation auch dazu, in derÖffentlichkeit eine Art von Gleichgewicht zu vermitteln. Sofolgte ja die Operation gegen die kurdischen PolitikerInnendirekt denen gegen Mitglieder von Ergenekon und Militär.Die Regierung versuchte auf diese Weise, nationalistischeKreise zu beschwichtigen.

Der Eindruck, den der Prozess bei KurdInnen hinterlässt

Ziel dieses Prozesses sind ohne Zweifel die gewählten zivilenPolitikerInnen, die für die Interessen der kurdischen Bevölke-rung eintreten. In einer Zeit, in der die Regierung die zivileLösung der kurdischen Frage zur Sprache bringt, stellen diedem Diskurs genau entgegengesetzten, gegen den zivilenBereich gerichteten, Operationen und Verhaftungen ohneZweifel einen schweren Schlag gegen diese Suche nach einerzivilen Lösung dar. Gleichzeitig sorgt die Regierung damit fürdie berechtigte Befürchtung, dass sie bei der Suche nach einerzivilen Lösung nicht aufrichtig ist. Wenn man die letzten Jahrebeurteilt, dann kommt man zu der Feststellung, dass, wenndie kurdische zivile Politik geschwächt wird, ganz natürlichund unausweichlich der bewaffnete Kampf an Kraft gewinnt.Es ist deutlich geworden, dass diese Realität von der Regierung

nicht ausreichend wahrgenommen wurde. Vor diesem Hinter-grund ist es nur möglich, dass die Regierung entweder keinLösungsprojekt hat und in dieser Sache nicht aufrichtig istoder aber das Problem nicht einsehen konnte und dadurchnicht über passende Lösungsansätze oder eine Perspektive ver-fügt.

Es gibt keinen Zweifel, dass die seit mehr als 30 Jahren kon-tinuierlich angewandte Law-and-Order-Politik in der kurdi-schen Frage der Hauptgrund für die Unlösbarkeit dieses Pro-blems ist. In den letzten Jahren beobachten wir allerdings, dassdie Justiz als Reservekraft an ihre Seite tritt. Durch diesen Pro-zess ist der seidene Faden der „gemeinsamen Bürgerschaft“

zwischen den KurdInnen und dem Staat noch dünner gewor-den. Die Praxis, Personen, die keine Gewalt anwenden, nichtzur Gewalt aufrufen, sofort mit aller Härte zu bestrafen,bewirkt im Bewusstsein der Bevölkerung eine Trennung vomStaat. Wenn der Staat, anstatt die Suche nach einer friedlichenLösung zu befördern, kurdische zivile PolitikerInnen unterKCK-Anschuldigungen oder irgendetwas anderem inhaftiertund verurteilt, dann ist das keine intelligente Maßnahme. Vonbesonderer Bedeutung ist die Aussage eines unserer Mandan-tInnen, Herrn Hatip Dicles, während des Prozesses: „Ich habediese KCK-Verfassung das erste Mal in diesem Verfahren gese-hen und gelesen, und sie hat mir gefallen. Dass eine Organi-sation [Anm. d. Ü.: gemeint die PKK] solche Anstrengungenunternehmen kann, sich zu ändern, sich in eine zivile Organi-sation zu verwandeln, das muss der Staat unterstützen.“

Unterm Strich stellt sich der Prozess, der die Repressiongegen die KurdInnen auf die nationale und die internationaleTagesordnung gehievt hat, als ein Scheideweg in der kurdi-schen Frage dar. Wenn die Repression so weitergeht, wird derEindruck entstehen, dass die zivilen politischen Bemühungender KurdInnen vergebens sind. Dieser Eindruck kann zurRenaissance einer ungewollten und gefährlichen Epoche derGewalt führen. t

Internationaler Protest gegen die KCK-Operationen bei Prozessbeginn in Amed Foto: DIHA

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Im Rahmen unserer Menschenrechtsdelegation im Oktober2010 besuchten wir u. a. die Region Colemêrg (Hakkari),

die, angrenzend an iranisches und irakisches Staatsgebiet, vomKrieg schwer gezeichnet ist. Bombardierungen und Gefechtesind in dieser Region an der Tagesordnung. Aber auch dersogenannte „tiefe Staat“, also Todesschwadronen, die sich ausJITEM2-Mitgliedern, Soldaten und Dorfschützern rekrutie-ren, zeigt hier besondere Aktivität. Das Gebiet ist aber nichtnur Schauplatz von Repression, sondern auch ein Ort, an demdie kurdische Freiheitsbewegung eine sehr starke Verankerungin der Bevölkerung zeigt. Aus diesem Grund gerät insbeson-dere die Zivilbevölkerung immer wieder ins Fadenkreuz staat-licher und parastaatlicher Angriffe.

So explodierte am Morgen des 16.09.2010 um 9.00 Uhreine ferngezündete Antipanzermine aus deutscher Produktionin der Nähe des Dorfes Peyanis (Geçitli) unter einem Reisebusund riss neun DorfbewohnerInnen, unter ihnen auch Kinder,in den Tod. Für die türkischen Medien und einen Großteil derstaatlichen Kreise waren die Schuldigen schnell gefunden: diekurdische Freiheitsbewegung und ihre Guerilla. [vgl. KR 152,S. 25ff.]

Eine Analyse und Recherche der Fakten durch Menschen-rechtlerInnen3 aus der Region wirft jedoch ein ganz anderesLicht auf die Tat.

In den türkischen Medien wurde das Dorf mit seinen etwa900 EinwohnerInnen als ein zum türkischen Militär loyalesDorfschützerdorf dargestellt und damit das angebliche Massa-ker der PKK begründet. Zwei entscheidende Fakten sprechendagegen. Einerseits ist dieses Dorf schon vor einiger Zeit zurPartei für Frieden und Demokratie (BDP) übergetreten,unterstützt die kurdische Freiheitsbewegung und kam einemvon der BDP und der gesamten kurdischen Bewegung getra-genen Verfassungsreferendumsboykott am 12.09.2010 zu99 % nach. Andererseits zählt weder der verwendete Spreng-satz in Form einer Antipanzermine noch ein Massaker an derZivilbevölkerung zu den Mitteln der kurdischen Guerilla.4

Weiterhin wurden am Tatort zurückgelassene Rucksäckevon Spezialeinheiten der Region gefunden, welche Sprengsät-ze, Kabel und Anleitungen aus Militärbesitz enthielten. Darü-

ber hinaus liegt der Tatort auf einer übersichtlichen Ebene, diean allen möglichen Fluchtwegen von Militärstützpunktenabgesperrt ist. Dorfschützerstationen in einer Entfernung von100 bzw. 200 m haben direkten Blick auf den Tatort. Dasheißt, der Tatort befindet sich auf einer gut einsehbaren Ebenein einem extrem militarisierten Gebiet. Zur Tatzeit war Tages-licht und selbst bei Nacht wäre es den Tätern nicht möglichgewesen, ohne Hilfe des Militärs zu entkommen, da alle Aus-gänge des Tals von Militärbasen besetzt sind.

Der Tatablauf stellt sich in diesem Zusammenhang wie folgtdar: Nachdem die Täter den Sprengsatz gelegt hatten, zogensie sich zurück, um ihn zu zünden. Dabei wurden mehrereTaschen zurückgelassen. Nach der Detonation funkten dieTäter, dass ihre Ausrüstung dort zurückgeblieben sei undgeholt werden müsse. Die Bevölkerung war jedoch schon anden Tatort geströmt und hatte die Beweise in Besitz genom-men. Erst nach 40 Minuten kam das Militär zum Tatort undfeuerte mehrfach in die Luft, um die Menschen zu zerstreuenund Zugriff auf die Taschen zu bekommen. Die Bevölkerungübergab die Taschen jedoch erst später nach eingehenderDokumentation direkt der Staatsanwaltschaft und ließ sichnicht einschüchtern.

Schon vor der Tat war eine Order an die Dorfschützer derRegion herausgegangen, eine sich dort bewegende Gruppenicht zu behelligen. Obwohl der Ort per Hubschrauber ausColemêrg (Hakkari) in drei Minuten erreichbar ist und dastürkische Militär bei jedem Auftauchen von KämpferInnender PKK üblicherweise eine Operation mit Luftunterstützungstartet, blieben Maßnahmen dieser Art an diesem Tag aus.Selbst der Gouverneur erklärte, er verstehe nicht, warum dasso war. Auch die sonst immer in der Nähe des Tatorts dienst-tuenden Dorfschützer waren nach Augenzeugenberichtenschon eine Woche nicht mehr zu sehen gewesen und dieArmee hatte eine Woche vorher ihre tägliche Suche nachSprengkörpern entlang der Straße eingestellt. Nach demAnschlag entschloss sich die Bevölkerung des Dorfes, geschlos-sen die Region zu verlassen, da ihre Sicherheit nicht mehr ga -rantiert sei. Nur durch große Anstrengungen von BDP undMenschenrechtsaktivistInnen konnte sie zum Bleiben über-

Aktueller Ermittlungsstand zum Massaker am 16.09.10 in Peyanis/Colemêrg

„Das Massaker in Peyanis ist eineBotschaft des Staates an die kurdi-sche Bevölkerung“1

Michael Knapp, Kurdistansolidaritätskomitee Berlin

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zeugt werden. Die Menschen in dem Dorf fühlen sich insbe-sondere von den staatlichen Behörden, aber auch vom inter-nationalen Interesse alleingelassen. Es wird befürchtet, dass dieErmittlungen möglichst bald abgeschlossen werden sollen,ohne dass die wirklichen Täter ermittelt worden sind. Auchdrei Monate nach dem Verbrechen hat sich nichts getan, umdiese zu ergreifen.

Hediye Gör, Mutter von drei Kindern, deren Mann bei demMassaker getötet worden war, erklärte: „Ich richte mich hieran den Staat, wenn er behauptet, es gäbe hier keine Diskrimi-nierung, warum ist dann seit drei Monaten nichts passiert?Warum wird sich nicht mit dem Ereignis beschäftigt? Fragtder Staat etwa nach der Situation der hinterbliebenen Fami-lien? Wie sie wohl leben? Seht, bei dem Ereignis in Istanbul5

hatten sie nach nicht einmal zwei Tagen die Verdächtigen.Aber wenn unsere Kinder und Geschwister umgebracht wer-den, fragt niemand danach. Es sind drei Monate vergangenund trotzdem sagt niemand irgendetwas. Die Hälfte der Ange-hörigen der bei diesem Ereignis Getöteten erstickt an psychi-schen Problemen.“6 Insbesondere die Kinder in dem Ort lei-den unter schweren Traumata.

Abla Gör erklärte dazu: „Fragen sie etwa, wie diejenigen, dieihre Mütter, Väter und Geschwister verloren haben, es ertra-gen? Sie sollen herkommen und es sich anschauen. Wenn siedanach ein ruhiges Gewissen haben, werden wir nichts sagen.Sie sollen herkommen und sehen, was die Hinterbliebenenerleben. Schauen wir, ob sie es aushalten. (...) Allein meineGeschwister und ich, wir sind als zwölf Kinder ohne Elternteilzurückgeblieben. Niemand darf zu diesem Ereignis schweigen.Die, die das getan haben, müssen gefunden werden (…) Das

sagen wir nicht nur für unsere Geschwister, wir sehen alle, diegestorben sind, als unsere Familie.“

Angriffe dieser Art kommen in der Türkei, insbesondere inden kurdischen Gebieten, mit regelmäßiger Häufigkeit imZusammenhang mit Waffenstillständen und Friedensbemü-hungen von kurdischer Seite vor. So kam es nach einer am15.12.1995 von Seiten der Guerilla erklärten einseitigen Waf-fenruhe am 16.01.1996 in Basê (Güçlükonak) in der ProvinzŞirnex (Şırnak) zu einem Massaker an elf Dorfschützern, dieaus einem Bus herausgeholt und erschossen wurden. Ihre Lei-chen wurden verbrannt. Der Staat und der Generalstabbeschuldigten die PKK, während auch hier nach Ermittlungenvon Menschenrechtsorganisationen der tiefe Staat verwickeltwar. Die Guerilla dementierte ihre Beteiligung an dem Massa-ker sofort. Es ist bezeichnend, dass hier ebenfalls Dorfschützergetötet wurden, die nicht mehr loyal zum türkischen Staatwaren. Mittlerweile sind die Täter und die Hintermänner ausdem türkischen Militär bekannt. Der Dorfschützer AhmetÖzalp hatte nach Zeugenaussagen 50 000 $ vom örtlichenMilitärkommandanten Selahattin Uğur erhalten und war auf-gefordert worden, den Mord der PKK unterzuschieben. Derehemalige Staatsminister des damaligen Kabinetts, AdnanEkmen, erklärte neuerdings zu diesem Massaker: „Es ist nichtmöglich, dass die PKK dort eine Aktion durchgeführt hat. DieAusweise der Ermordeten befinden sich bei den Sicherheitsbe-hörden; die Menschen wurden verbrannt, aber ihre Ausweisewurden nicht beschädigt. Das bedeutet, dass den Verbranntenvor ihrer Ermordung die Ausweise abgenommen wordenwaren.“

Am Morgen des 16.09.2010 um 9.00 Uhr explodierte eine ferngezündete Antipanzermine aus deutscher Produktion in der Nähe des Dorfes Peyanis(Geçitli) unter einem Reisebus und riss neun DorfbewohnerInnen, unter ihnen auch Kinder, in den Tod. Die Bevölkerung eilte zu dem Tatort undsicherte die Beweise vor dem Militär. Die Menschen in dem Dorf Peyanis fühlen sich insbesondere von den staatlichen Behörden, aber auch vom inter-nationalen Interesse alleingelassen. Es wird befürchtet, dass die Ermittlungen bald abgeschlossen werden, ohne dass die wirklichen Täter ermittelt wor-den sind. Foto: DIHA

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Ein weiteres Massaker, das eine ähnliche Handschrift trägt,ereignete sich während eines anderen Waffenstillstands derkurdischen Guerilla. Am 26. September 2007 wurden zwölfPersonen in der Nähe von Elkê (Beytüşşebap), ebenfalls in derProvinz Şirnex (Şırnak), erschossen, als sie mit einem Minibusunterwegs waren. Der Generalstab beschuldigte die PKK,während diese dementierte und auch die örtliche Bevölkerungauf ein Werk des extralegalen Geheimdienstes JITEM verwies.Auch hier waren die Opfer Dorfschützer. Ein Teil von ihnenwar kurz zuvor wegen „Unterstützung der PKK“ festgenom-men, der andere Teil zur Erledigung eines „Auftrags“ zumMilitärstützpunkt bestellt worden.7 Auch aus den letztenTagen wurden erneut Einheiten der parastaatlichen Todes-schwadron „Dolch-Team“ (Hançer Timi) in der ProvinzŞırnak gemeldet.8 Die Gruppe, die u. a. für die Ermordungvon zwei DTP-Mitgliedern im letzten Jahr verantwortlich war,setzt sich aus Dorfschützern, JITEM-Mitgliedern und Militärszusammen.9

Das jüngste Beispiel für die Repressionspolitik des türkischenStaates erschütterte die Region während der Fertigstellung die-ses Artikels am 10. Dezember. Auf der Straße zwischen Gever(Yüksekova) und Wan (Van) stoppten nach ZeugInnenaussa-gen Soldaten zwei Fahrzeuge, in denen sich BDP-Mitgliederbefanden, ließen die InsassInnen aussteigen, sich mit demGesicht nach unten auf den Boden legen und schossen demSprecher der kurdischen Demokratischen PatriotischenJugend (DYG), Serdar Karabağ, in den Kopf. Sein Zustand istauch am 12.12. immer noch kritisch. Acht weitere BDP-Mit-glieder wurden festgenommen, über ihre Situation wurde vonder Staatsanwaltschaft eine Geheimhaltungsverfügung erlas-sen. Das bedeutet, dass mindestens in den ersten 24 Stundennach der Festnahme weder anwaltliche Gespräche noch Besu-che möglich sind. Weiterhin bleibt die Akte sowohl für dieBeschuldigten als auch ihre AnwältInnen bis Prozessbeginnuneinsehbar.

Der Gouverneur der Provinz Colemêrg (Hakkari) verbreite-te sofort nach dem Angriff, Serdar Karabağ habe sich selbst inden Kopf geschossen – angesichts der Umstände eine dreisteLüge, deren Widerlegung durch die Geheimhaltungsverfü-gungen behindert werden soll.10

Erol Aydın aus der BDP-Leitung erklärte dazu: „Die Bevöl-kerung von Gever (Yüksekova) erlebt seit dem Referendum11

eine offene Feindschaft [Anm. d. Ü.: des Staates]. In den letz-ten Tagen legten Jandarma und Polizei Hinterhalte in denStadtvierteln, um Provokationen zu schaffen. Das neueste Bei-spiel dieser Politik ist das, was gestern unserem Jugendmitar-beiter passiert ist. Von unseren im Stadtzentrum angehaltenenFreunden sollte Sedat Karabağ offen hingerichtet werden.“

Angriffe wie die aktuellen Vorfälle dienen der Einschüchte-rung und der psychologischen Kriegsführung. Es kommtnicht von ungefähr, dass das Dorf Peyanis, in dem das Massa-ker verübt wurde, eine BDP-Hochburg ist. Die AKP, die ihrVerfassungsreferendum vom 12. September 2010 zur Macht-frage erhoben hatte, scheiterte in den kurdischen Provinzen,allen voran Colemêrg (Hakkari), kläglich. Kurz nach dem

Referendum wurde die Region Colemêrg (Hakkari) vonErdoğan und der AKP nahestehenden Medien wie der Zei-tung Zaman zum Ziel massiver Kriegshetze gemacht, indembehauptet wurde, die Regionen müssten „gesäubert“ bzw.„befreit“ werden. Es wurde unterstellt, die Menschen würdenaus der Region vor der PKK fliehen, Aussagen wurden nach-weislich in verschiedenen türkischen Medien verfälschtwiedergegeben und teilweise vollständig erfunden.

Die Co-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskon-gresses (DTK), Aysel Tuğluk, machte am 01.12.10 in Amed(Diyarbakır) noch einmal deutlich, dass das Verbrechen inPeyanis von Kräften aus dem Staatsapparat verübt worden sei,um der kurdischen Bevölkerung eine Botschaft zu vermitteln:„Wenn Ihr die Demokratische Autonomie ausruft, dann wirdes für Euch so.“ Sie erklärte weiter, dass der Staat zwar auf dereinen Seite mit Herrn Öcalan spreche, aber hinter allem dieStrategie zur Vernichtung der kurdischen Bewegung stehe.Militärisch hole der türkische Staat gerade zu einem letztengroßen Schlag gegen die kurdische Freiheitsbewegung aus.

Sowohl die türkischen als auch die internationalen Mediengriffen bei allen erwähnten Massakern jeweils die Version destürkischen Staates nur allzu bereitwillig auf, ohne eigeneRecherchen anzustellen. Während die Meldung „Die PKKermordet Zivilisten“ um die Welt geht, bleiben die Stimmender Menschen aus der Region ungehört. Dass die Situation inder Region ganz anders aussieht, zeigt das Beispiel des JirkiAşirets, eines „Clans“ von Dorfschützern, der seit mehrerenJahrzehnten gegen die PKK kämpft und über mehrere tausendBewaffnete verfügt. Dieser Aşiret erklärte, dass sie sicher seien,dass das Massaker nicht von der PKK begangen worden sei,und dass sie auch nicht fürchten würden, das zu äußern. DesWeiteren erklärten sie, dass sie die Waffen niederlegen undvon nun an auf Seiten der BDP und der kurdischen Bewegungstehen würden. Allein dieses Beispiel macht deutlich, dass dertürkische Staat trotz schmutziger Kriegsführung in den kurdi-schen Gebieten und am deutlichsten in der Provinz Colemêrg(Hakkari) immer weiter an Boden verliert. t

Fußnoten:1 Aysel Tuğluk (Co-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses(DTK))2 offiziell geleugneter Jandarma-Geheimdienst3 siehe auch Bericht der IHD-Abteilungen von Wan (Van), Colemêrg (Hakkari)und Amed (Diyarbakır) vom 20.09.104 Die PKK selbst hat die Antiminenkonvention von Ottawa unterzeichnet undzeigt in ihrer Praxis auch, im Gegensatz zur Türkei, deren konsequente Durch-setzung.5 Sie bezieht sich hier auf den Bombenanschlag vom Taksim am 31.10.10.6 siehe www.yuksekovahaber.com7 In diesem Rahmen ließe sich die Liste um etliche weitere Massaker erweitern.Erwähnt sei hier nur das Massaker von Mardin/Bilge, bei dem 44 Menschengetötet wurden. Unser Delegationsbericht hierzu kann unter: http://de.indyme-dia.org/2009/05/250614.shtml abgerufen werden.8 ANF 03.12.109 Yüksekovahaber, 06.08.1010 ANF 11.12.1011 Verfassungsreferendum der Regierungspartei AKP, welches in Gever (Yükse-kova) zu fast 100 % boykottiert wurde.

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Rasim Gencer, ein Vater von fünf Kindern, war 1993 wegenPKK-Mitgliedschaft festgenommen und zu lebensläng-

licher Haft verurteilt worden. Er war kontinuierlich Miss-handlungen, Zellendurchsuchungen und Bedrohungen durchGefängnispersonal ausgesetzt.2

Aufgrund seines Todes fand am 21.10.10 in Wan eineDemonstration für die Freilassung der Gefangenen und gegendie Todesfälle hinter Gittern statt. Diese Demonstrationwurde von der Polizei angegriffen, es kam zu mehreren Fest-nahmen. Später besetzten schwer bewaffnete Polizisten undSpezialeinheiten mit Wasserwerfern und Panzern strategischePunkte in der Stadt.

Im Anschluss an die Demonstration fand eine Trauerfeier inBostaniçi, einem Vorort von Wan, statt, an der unsere Delega-tion Gelegenheit hatte teilzunehmen. Vor dem Ort versam-melte sich die Dorfbevölkerung zu einem Trauerzug, derschnell zu einer politischen Demonstration anschwoll. Es wur-den Parolen für die Gefallenen, für den Frieden, für die PKKund ihren Vorsitzenden gerufen. Die Menschen machtendadurch deutlich, dass auch der Tote Rasim Gencer als einGefallener des kurdischen Freiheitskampfes anzusehen ist. DerDemonstrationszug wurde von einem starken Frauenblockangeführt, an dem insbesondere viele Friedensmütter teilnah-men. Diese Frauen, die oft selbst Mütter von Gefallenen sind,traten sehr deutlich für ein Ende des Krieges ein und themati-sierten immer wieder, dass der türkische Staat und Europa denKrieg vorantreiben und die immer wieder zum Frieden ausge-streckte Hand der kurdischen Freiheitsbewegung in der Lufthängen lassen.

Der Zug, an dem etliche hundert Menschen teilnahmen,endete am Trauerzelt, wo Reden gehalten wurden, die dendeutlichen Wunsch nach Frieden und Anerkennung der Rech-te der kurdischen Bevölkerung zum Ausdruck brachten. Ins-gesamt war die Stimmung voller Trauer, Wut und Kraft.Sowohl Familienangehörige als auch AktivistInnen des Gefan-genenhilfsvereins TUHAD-DER machten in Reden, aberauch in Gesprächen deutlich, dass der türkische Staat dieGefangenen wie Geiseln behandelt. Uns wurde immer wiederberichtet, wie sie misshandelt, bedroht und unter katastropha-len Bedingungen inhaftiert werden, um an ihnen Rache zunehmen für den mit Repression nicht zu zerschlagendenKampf der kurdischen Freiheitsbewegung. Fast jedeR unsererGespächspartnerInnen konnte von Gefallenen, Ermordeten,Gefolterten oder Inhaftierten aus ihren Familien berichten.

Dass das Beispiel Rasim Gencer symptomatisch für dieSituation der politischen Gefangenen in der Türkei ist, zeigtein Blick auf die aktuelle Lage. Im Moment ist die unmittel-bare Freilassung von 50 in akuter Lebensgefahr schwebendenGefangenen unerlässlich.3 Den schwer erkrankten Gefange-nen4 wird eine adäquate medizinische Versorgung verweigert.Aufgrund von Erkrankungen sind allein in den letzten dreiJahren mindestens 15 kurdische politische Gefangene gestor-ben.

Nach Angaben des Gefangenenhilfsvereins TUHAD-DERwird Gefangenen im Allgemeinen eine angemessene vitamin-reiche Ernährung, ganz zu schweigen von Spezialdiäten fürErkrankte, verweigert. Das ist besonders gravierend, wennGefangene beispielsweise auf glutenfreie Ernährung oder Spe-zialdiäten zur Behandlung von Diabetes angewiesen sind.Durch diese Form der Nichtbehandlung und die damit ein-hergehende Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes ist

Der Tod von Rasim Gencer

Gefangene als Geiseln des türkischen StaatesMichael Knapp, Kurdistansolidaritätskomitee Berlin

Dieser Bericht beruht auf den Erfahrungen unserer Menschenrechtsdelegation in die kurdischen Provinzenauf türkischem Staatsgebiet im Oktober 2010. Im Rahmen dieser Reise besuchten wir am 21.10. die kurdischeMetropole Wan (Van).1 Da am 19.10., also kurz vor unserer Ankunft, der seit 1993 inhaftierte und schwerkranke kurdische politische Gefangene aus der PKK Rasim Gencer (40) im E-Typ-Gefängnis von Muş aneinem Herzinfarkt gestorben war, wurden wir sofort mit dem Thema der lebensgefährlich erkrankten Gefan-genen konfrontiert. Rasim Gencers Zustand war schon seit langem als kritisch bekannt gewesen. Deshalb warer einer von 50 kurdischen politischen Gefangenen, deren Freilassung aufgrund ihres kritischen Gesund-heitszustandes schon seit längerem u. a. von Menschenrechtsorganisationen gefordert wird.

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es nicht übertrieben zu sagen, dass die Gefangenen Stück fürStück zu Tode gebracht werden.

Im Rahmen von Reformen des Gefängniswesens wurde erstvor wenigen Jahren die Haftsituation der Gefangenen weiterverschärft. So wurde ihnen beispielsweise verboten, Nahrungs-mittel von Angehörigen zu bekommen. Dies macht sie voll-kommen abhängig von der ungesunden Ernährung imGefängnis und den überteuerten Gefängnisläden, die ebenfallskeine frischen Produkte führen.

Selbst notwendige Renovierungsarbeiten am Gefängnis wiez. B. das Streichen von Wänden oder Vorgehen gegen Schim-mel werden häufig nicht vom Staat bezahlt, sondern vonAngehörigen oder Gefangenenhilfsorganisationen.5 Dies führtinsbesondere bei für lange Zeit Inhaftierten zu schwerenErkrankungen. In vielen kurdischen und türkischen Städtenfinden zurzeit aus diesen Gründen Kampagnen für die sofor-tige Freilassung der kranken Gefangenen statt.

Während in vielen Gefängnissen auch durch die massiveÜberbelegung und die schlechte Ausstattung, Übergriffe,Bedrohungen und Misshandlungen viele Gefangene verletztwerden oder erkranken, führt andererseits in F-Typ-Gefäng-nissen, also Isolationshaftgefängnissen nach deutschem

Modell, die Folter durch Isolation, die sensorische Depriva-tion, zu schweren physischen und psychischen Erkrankungen.

Die Gefangenen werden auf verschiedenste Art schikaniertund schlecht behandelt. Nach Auskunft des Anwalts vomMenschenrechtsverein IHD Diyarbakır sollen beispielsweisedie kranken Gefangenen aus Amed (Diyarbakır) zur Behand-lung in den oft von MenschenrechtlerInnen kritisierten „Ring-Fahrzeugen“ in das über 1 000 km entfernte Istanbul gebrachtwerden. Diese Fahrzeuge sind neben der extrem schlechtenUnterbringung der Gefangenen als Orte systematischer Über-griffe und Folter gefürchtet. Die Gefangenen werden von derZelle bis zum Ende des Transports mit Handschellen gefesseltund werden ohne Heizung bzw. Lüftung transportiert. Siewerden in der Regel an den Händen, oft auch an den Füßenzusammengekettet und so mehrere Tage lang auf Transportgeschickt. Die Bedingungen dieser Transporte allein sindgesundheitsgefährdend. Meist bekommen sie nicht ausrei-chend Flüssigkeit, geschweige denn Nahrung. In den völligüberbelegten Transportzellen können oft nicht alle Gefange-nen sitzen – viele berichten, dass sie nicht auf die Toilettegelassen werden, auch nicht bei tagelangen Transporten. Nichtnur nach der Ansicht von AnwältInnen stellt dies neben den

Demonstration in Istanbul gegen die unerträglichen Haftbedingungen der erkrankten Gefangenen und für ihre Freilassung bzw. eine adäquate medizini-sche Versorgung. Die Liste der Gefangenen, die aufgrund ihrer Erkrankung freigelassen werden müssen, nimmt immer weiter zu. Foto: DIHA

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 2011 29

Schlägen, Durchsuchungen und Misshandlungen in den Fahr-zeugen eine Form der Folter dar, die gerade bei den schwererkrankten Gefangenen lebensbedrohlich ist.6 Diese Transpor-te führen häufig zu schwerer Traumatisierung, oft Todesangst,Problemen durch Dehydrierung und Verletzungen z. B. durchFesselungen. Eine andere Form des Transports und der Ver-sorgung der Gefangenen wird systematisch verweigert.7

Täglich werden weitere Personen im Rahmen der andau-ernden Repression gegen die kurdische Freiheitsbewegunginhaftiert. So sind mittlerweile mehr als 1 700 PolitikerInnen,MenschenrechtlerInnen, JournalistInnen, Frauenaktivistinnenallein aufgrund ihres legalen politischen Engagements seitApril 2009 inhaftiert worden. Die türkische Justiz verhängtsystematisch Geheimhaltungsverfügungen über die Verfahren,so dass weder den Inhaftierten, noch ihren AnwältInnen biszum Prozessbeginn bekannt wird, wessen sie angeklagt sind.So wird eine effektive Verteidigung verhindert und es werdenMenschen für Dinge inhaftiert, die sich im Verfahren alsunhaltbare Anklagepunkte erweisen. So wird die Strafe derVerurteilung vorgezogen.

Diese Inhaftierungswelle führt zu einer drastischen Überbe-legung der Gefängnisse, so dass Gefangene vielerorts keineeigenen Betten haben, sondern in Schichten schlafen müssen.In der politischen Abteilung im E-Typ-Frauengefängnis vonBitlis sitzen 27 Frauen und Kinder in einer Zelle. Ihnen stehtzu den Hofgängen ein Areal von 13 m² zur Verfügung. Die am02.07.10 in Şemzinan (Şemdinli) gefangen genommene Gue-rillakämpferin Cihan Öner wurde 42 Tage lang mit Geschoss-splittern im Körper von der Jandarma und dem Militär festge-halten, ohne behandelt zu werden.8 Auch im Frauengefängnisvon Bitlis wurde sie nicht behandelt, angeblich weil sie nichtbereit war, sich auf demütigende Art und Weise durchsuchenzu lassen. Zehn Tage lang kümmerten sich die Mitgefangenenum sie. Der BDP-Abgeordnete Hamit Geylani erklärte zu die-sem Fall: „Indem die Splitter 42 Tage lang nicht aus ihremBein entfernt wurden, wurde sie gefoltert. Auch in diesemGefängnis sind weitere Gefangene schwer erkrankt und wer-den nicht versorgt. Die Behandlung zur Verhinderung einerBlutvergiftung bei Öner wurde so von der Gefängnisleitungbewusst verweigert. Die Anzeigen von Angehörigen bei derGefängnisleitung blieben ergebnislos.“

Es herrscht ein doppelter Standard beim Umgang mitGefangenen, einerseits werden Ergenekon-Gefangene, sobaldsie krank sind, automatisch entlassen, andererseits sterbenGefangene aus linken Bewegungen im Gefängnis und erhaltennicht einmal eine angemessene Behandlung.

Gegen die Tode hinter Gittern, für die Freilassung der kran-ken Gefangenen engagieren sich in den kurdischen Gebietenund der Türkei viele verschiedene Menschenrechts- und Ange-hörigenorganisationen und die kurdische Friedens- undDemokratiepartei BDP. Dass gerade auch diese konkrete undhumanitäre Arbeit in der Türkei gefährlich ist, belegen dieInhaftierungen etlicher AktivistInnen aus eben diesen Gefan-

genenhilfsorganisationen und ihren Vorständen.Die Gefangenen führten bisher aus Protest gegen diese Situ-

ation mehrere Hungerstreiks und Aktionen durch. Erst am01.12.10 kam es im H-Typ-Gefängnis von Erzirom (Erzu-rum) zu einem Aufstand gegen die Repression und die Miss-handlungen im Gefängnis.9

Unsere Aufgabe in Europa muss es sein, vor der Situation derGefangenen nicht die Augen zu verschließen, denn gerade dieModernisierung und die Einführung von Isolationsfolter undAntiterrorparagrafen sind Exporte aus Europa. Die Verfasst-heit des türkischen Staates und der hinter ihm stehenden euro-päischen Staaten zeigt sich auch daran, wie die Menschen hin-ter Gittern behandelt werden. Lasst uns dagegen zusammenangehen, durch gemeinsame Proteste, Kontakt mit den Gefan-genen und gemeinsamen Widerstand. t

Fußnoten:1 Der gesamte Delegationsbericht findet sich unter:http://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/erklaerungen/2010/10/Delegationsbe-richt%20Okt%202010.pdf2 siehe parlamentarische Anfrage der DTP, Nr. 443, vom 18.12.20083 RA. Serdar Çelebi, IHD Diyarbakır4 Krankheiten sind dabei unter anderem verschiedenste Krebsarten in unter-schiedlichen Stadien, Herzerkrankungen, Diabetes u. a.5 Zu diesem Thema sind mehrere aktuelle Beispiele aus dem Männergefängnisvon Amed (Diyarbakır) bekannt.6 IHD Diyarbakır7 ebd.8 parlamentarische Anfrage von Hamit Geylani, BDP9 ANF 01.12.10

„Genehmigt“ 100 Bilder von 100 politischen Gefangenen Ausstellung vom IHD in Mersin Foto: DIHA

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 201130

Momentan ist die kurdische Frage in der Türkei und inKurdistan überschattet von einer Vielzahl von Aspekten.

Dabei steht die nachhaltige Gestaltung des sogenannten Frie-densprozesses zur Debatte. Auf der einen Seite lässt die türki-sche Regierung Verlautbarungen eines Friedensprozesses undder politischen Öffnung gegenüber den kurdischen Interessenin der ausländischen, türkischen und kurdischen Öffentlich-keit verbreiten, aber auf der anderen Seite sind kurdische Par-teien, Initiativen, Politiker und Menschenrechtsaktivisten seitden Kommunalwahlen im März 2009 einer Reihe staatlicher,polizeilicher und militärischer Repressionen ausgesetzt.

Insbesondere nach dem Verbot der Partei für eine demokra-tische Gesellschaft (DTP) im Dezember 2009 verschärftensich die polizeilichen Maßnahmen. Mittlerweile sindinsgesamt 1 700 Politiker und Menschenrechtsaktivisten inGewahrsam. Von der Verhaftungswelle sind u. a. gewählteRepräsentanten der Partei für Frieden und Demokratie(BDP), der Nachfolgepartei der DTP, und Mitglieder vonMenschenrechtsorganisationen wie dem Menschenrechtsver-ein (IHD), aber auch eine Vielzahl von Demonstrantenbetroffen.1

Großes Aufsehen erregte dabei die Verhaftung von Minder-jährigen, die zu hohen, mehrjährigen Haftstrafen verurteiltwurden. Grundlage bildet das Anti-Terror-Gesetz, wonach dieKinder und Jugendlichen ungeachtet nationaler und interna-tionaler Kinderschutzgesetze nach Erwachsenenrecht ange-klagt wurden. Dies stellt einen Bruch mit der von der Türkeiunterzeichneten UN-Konvention für die Rechte von Kinderndar. Im Zuge der anhaltenden Proteste im In- und Auslandwurden im Juli 2010 Reformen verabschiedet, die vorsehen,einen Teil der Verfahren vor Jugendgerichten neu aufzurollen.Bisher blieb es bei den Lippenbekenntnissen.2

Bei genauerer Betrachtung der rechtlichen Grundlagen, aufdie sich die Staatsanwaltschaft und die Richter bei den Ver-haftungen berufen, stoßen wir auf das Strafgesetzbuch, das2005 durch das Anti-Terror-Gesetz erweitert wurde. Der imNovember erschienene Bericht von Human Rights Watchbestätigt die Vermutung, dass das Anti-Terror-Gesetz wesent-liche Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsrechte ein-schränkt und ein Konglomerat von Straftatbeständen vereint.Darunter fallen sowohl die Teilnahme an Demonstrationen alsauch die Unterstützung oder aber Mitgliedschaft in einer als„terroristisch“ gebrandmarkten Organisation.

Es gibt primär zwei Paragraphen des Strafgesetzbuches, dieerlauben, Mitglieder und Unterstützer krimineller undbewaffneter Organisationen mit Haftstrafen zwischen 2 und15 Jahren zu belangen, und zwar die Artikel 220 und 314. ImJahre 2005 ist das Anti-Terror-Gesetz hinzugefügt worden, daszur Anklage von Unterstützern, Mitgliedern, aber auch Teil-nehmern einer Demonstration verbotener Organisationenbenutzt wird (Artikel 2 und 7).

Dabei ist bemerkenswert, dass Artikel 7 erlaubt, Vermum-mung bei Demonstrationen, das Tragen von Symbolen undZeichen, aber auch das Rufen von Parolen „terroristischerOrganisationen“ mit mehrjähriger Haftstrafe zu ahnden,gleich einem Vergehen, mit dem Aktivisten verbotener Orga-nisationen verurteilt werden.3

Die Gleichsetzung von Protest, Unterstützung, Mitglied-schaft und Aktivität kristallisierte sich im Laufe der letztenJahre heraus. In einer ersten Anklagewelle zwischen 2007 und2008 hatte die türkische Justiz in einer Vielzahl von Fällenmithilfe des Anti-Terror-Gesetzes verurteilt. Infolge der Beru-fungsverfahren kam es in der höheren Instanz zu Verschärfun-gen der Urteile, die nun als Präzedenzfälle dienen. Dabeiwurde den Angeklagten vorgeworfen, im Auftrag verbotenerOrganisationen gehandelt zu haben, ohne eine Anweisungs-und Handlungskette zwischen der Organisation und denDemonstrationsteilnehmern nachzuweisen. Das Resultat ist,dass allein die Teilnahme an einer Demonstration ausreichte,um beispielsweise Felat Özer als Mitglied einer bewaffnetenOrganisation zu 14 Jahren Haft zu verurteilen. Die Richterberiefen sich auf Video- und Bildmaterial, das ihn im Jahre2006 bei der Beisetzung eines Guerillas und zudem anNewroz-Demonstrationen und bei späteren Protesten beimRufen von Parolen, teilweise unter Vermummung, zeigte. Esgab keine Belege für Absprachen mit einer verbotenen Orga-nisation oder einer Handlung im Auftrag einer solchen. Undes gab keine Beweise für eine begangene Gewalttat.4

Human Rights Watch kritisiert, nach Auswertung von 14Fällen, den Interpretationsspielraum des Anti-Terror-Gesetzes,der zu Lasten der Angeklagten, in besagten Fällen sogar zuLasten von Demonstrierenden ausgelegt wird, denn diesererlaube, Demonstranten als vermeintliche Terroristen zu lan-gen Haftstrafen zu verurteilen, „for activities such as shouting

Verstoß des türkischen Anti-Terror-Gesetzes gegen elementare Grundrechte

Wie aus Demonstranten Terroristen werdenEmel Engintepe (Kurd-Akad, Netzwerk kurdischer AkademikerInnen e. V.)

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slogans, making victory signs, holding up banners, and thro-wing stones“.5

Auch der kürzlich erschienene Fortschrittsbericht der Euro-päischen Kommission beanstandet die strenge Auslegung desTerrorismusparagraphen, mit dem grundlegende Freiheits-rechte wie die Meinungsfreiheit eingeschränkt würden. DasAnti-Terror-Gesetz solle geändert werden, um den weitenInterpretationsrahmen einzugrenzen und die unverhältnismä-ßig hohe Anzahl an Terrorismus-Anklagen zu reduzieren.6

Jüngst bezogen prokurdische Nichtregierungsorganisatio-nen vor Ort Stellung gegen die scharfe Gesetzgebung. Beieinem Treffen in Diyarbakır haben 683 NGOs ihre Grund-forderungen nach Einstellung der Militäroperationen, Sen-kung der 10%-Hürde bei den Parlamentswahlen, Reformie-rung der Verfassung, Recht auf Verteidigung in der Mutter-sprache, Verhandlungen mit Abdullah Öcalan und die Ein-richtung einer Wahrheits- und Gerechtigkeitskommissionbekräftigt. Darüber hinaus wurde explizit die Aufhebung desAnti-Terror-Gesetzes verlangt.7

Es wird sich zeigen, inwiefern die ambivalente Politik derRegierungskräfte, die zwischen vermeintlichen Zugeständnis-sen und zutiefst antidemokratischer Repression laviert, sich imErgebnis der Parlamentswahlen im Juni 2011 widerspiegelnwird. Auf die Stimmen der Angehörigen der zigtausend Inhaf-tierten können die Regierungsparteien eher weniger zählen,wohingegen die Zahl der protestierenden „Terroristen“ unwei-gerlich zunehmen wird. t

Fußnoten:1 Am 18. Oktober 2010 begann der Prozess gegen die insgesamt 151 Politikerund Menschenrechtsaktivisten. Darunter befinden sich Kommunalpolitiker derBDP, beispielsweise der Bürgermeister von Diyarbakır, Osman Baydemir, undMitglieder des IHD, so auch dessen Vorsitzender Muharrem Erbey. Ihnen wirdSeparatismus vorgeworfen, Unterstützung einer und Mitgliedschaft in einerbewaffneten Organisation. Zwar gelang es den Angeklagten bisweilen, demSchauprozess eine politische Wendung zu geben, indem sie darauf beharrten,ihre Verteidigung in kurdischer Sprache zu führen, jedoch täuscht dies nichtüber den Ernst der Lage hinweg. Die Verhaftungs- und Klagewelle zielt unmiss-verständlich darauf ab, die kommunalpolitischen Strukturen in den kurdischenGebieten lahmzulegen und die protestierenden Bevölkerungsmassen einzu-schüchtern. Eine Delegation von Prozessbeobachtern aus dem Ausland konntesich davon überzeugen, dass die Prozesse politisch motiviert sind, aber auchdavon, dass die Solidarität seitens der kurdischen Bevölkerung ungebrochen ist.In den ersten Prozess tagen sammelten sich täglich, dem martialischen Polizeiauf-gebot zum Trotz, Tausende Protestierende vor dem Gerichtsgebäude. Der Pro-zess wird aller Voraussicht nach im Januar 2011 fortgesetzt.Bericht der Menschenrechtsdelegation aus Brüssel, Berlin, NRW und Hamburg,November 2010: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/erklaerungen/ -2010/10/Delegationsbericht%20Okt%202010.pdf (28.11.2010);http://www.andrej-hunko.de/start/aktuell/122-tuerkei-bericht-der-menschen-rechtsdelegation-aus-bruessel-berlin-nrw-und-hamburg (28.11.2010)2 ISKU | Informationsstelle Kurdistan e. V.: NUCE, Nr. 490, 19. November20103 Appendix: Translation of Relevant Articles: 2005 Turkish Penal Code and2006 Revision to the Anti-Terror Law, in: Human Rights Watch: Protesting as aTerrorist Offense, 01. November 2010, S. 72; http://www.hrw.org/node/93926(27.11.2010)4 Human Rights Watch: Protesting as a Terrorist Offense, 01. November 2010,S. 25ff; http://www.hrw.org/node/93926 (27.11.2010)5 Human Rights Watch: Protesting as a Terrorist Offense, 01. November 2010,

S. 19; http://www.hrw.org/node/93926 (27.11.2010)6 „Restrictions on the exercise of fundamental freedoms, in particular freedomof expression, stemming from a wide definition of terrorism under the Anti-Ter-ror Law continue to be a cause of concern.“, European Commission: Turkey2010 Progress Report, 09. November 2010, S. 35;http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2010/package/tr_rap-port_2010_en.pdf (27.11.2010)7 ISKU |Informationsstelle Kurdistan e. V.: NUCE, Nr. 490, 19. November2010

Die Liste der getöteten Kinder im Krieg der Türkei gegen die Kurden undKurdinnen ist bei einer Kundgebung in Istanbul veröffentlicht worden.Auch die Zahl der Kinder in den Gefängnissen der Türkei nimmt trotz desrevidierten Antiterrorgesetzes immer weiter zu. Kinder werden mit derBeschuldigung, „Mitglied einer illegalen Organisation“ zu sein oder „imAuftrag einer Organisation zu handeln“ oder „öffentliches Eigentum zubeschädigen“, „explosives Material zu verwenden“ bzw. „das Demonstra-tionsrecht zu verletzen“, in Gewahrsam genommen. Foto: DIHA

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Am 17. und 18. November fand im Europaparlament inBrüssel die 7. Internationale Konferenz zum Thema „Die

EU, die Türkei und die KurdInnen“ unter dem Motto „DerWeg zum Frieden – sich der Herausforderung stellen“ statt.Veranstalter waren die EU Turkey Civic Commission(EUTCC) und die Europaparlamentsfraktion der GUE/NGL– Vereinigte Europäische Linke / Nordische Grüne Linke.Ihren Schirm gaben der Veranstaltung u. a. Erzbischof Des-mond Tutu, Bianca Jagger, Noam Chomsky, Yaşar Kemal,Leyla Zana und die fraktionsübergreifende „KurdischeFreundschaftsgruppe im Europaparlament“. An zwei Tagengaben gut 30 ReferentInnen einen tiefen Einblick in diemomentane Situation in der Türkei und der EU, insbesonderein Bezug auf die kurdische Frage. Unter den Vortragendenbefanden sich PolitikerInnen der Partei für Frieden undDemokratie (BDP), des Demokratischen Gesellschaftskon-gresses (DTK), EuropaparlamentarierInnen aus mehrerenFraktionen (darunter Konservative, Grüne, SozialdemokratIn-nen und Linke), JournalistInnen aus der Türkei, AnwältInnenund MenschenrechtlerInnen.

Im Vergleich zu den Konferenzen in den letzten Jahren istbesonders bemerkenswert, dass sämtliche RednerInnen zurzeit

eine Möglichkeit zumBeginn eines langfristi-gen Friedensprozessessehen und dazu einenDialog mit sämtlichenBeteiligten inklusiveder PKK und AbdullahÖcalans für notwendighalten. Bereits JürgenKlute, der Vorsitzende

der „Kurdischen Freundschaftsgruppe im Europaparlament“von der Partei Die Linke – in seiner Eröffnungsrede – und Erz-bischof Desmond Tutu – in einer Videobotschaft – verdeut-lichten, dass es an der Zeit ist, die PKK von der EU-Terrorlis -te zu streichen und einen perspektivischen Dialog zu begin-nen, der auch eine Grundvoraussetzung zur notwendigenDemokratisierung der Türkei sei. In erfolgreich gelösten inter-nationalen Konflikten, wie z. B. in Südafrika (in Bezug auf denANC), habe sich gezeigt, dass die Entkriminalisierung derAkteure ein erster, notwendiger Schritt sei. „Die EU-Terrorlis -te ist kein Instrument zur Bekämpfung des Terrorismus, son-

dern zur Unterdrückung von unliebsamer Opposition“, so derTenor, der sich durch die Beiträge während der gesamten Kon-ferenz fortsetzte. „Die kurdischen Akteure samt PKK sind seitJahren bereit einen Frieden zu ermöglichen, jedoch nichtbedingungslos; die türkische Regierung muss ihre Ernsthaftig-keit diesbezüglich noch unter Beweis stellen“, so die realisti-sche Einschätzung vieler der RednerInnen.

Beispiele zur konkreten Gestaltung von Friedensprozessen ininternationalen Konflikten gaben Nomfundo Walaza vomDesmond Tutu Friedenscenter, die Mitglied einer Wahrheits-kommission in Südafrika war, und Raymond Mc Cartney, derals IRA-Mitglied jahrelang im Gefängnis saß und heute außen-politischer Sprecher von Sinn Féin ist. Frau Walaza schilderte,dass die „Truth and Reconsiliation Commissions“ in Südafrikasehr basisorientiert gestaltet wurden. Jeder Mensch konnte indiesen Wahrheitskommissionen seine Erfahrungen schildern.In einem kollektiven Prozess fand dann eine Aufarbeitung, dienicht hauptsächlich auf Strafen ausgerichtet war, statt. Nurdurch eine derartige Beteiligung der Bevölkerung wäre derBeginn eines lang andauernden positiven gesellschaftlichenWandels mit Rückschlägen und Fortschritten möglich gewe-sen. Raymond Mc Cartney betonte, dass ohne die LeitfigurGerry Adams ein Friedensprozess in Nordirland nicht möglichgewesen wäre. Er wies diesbezüglich darauf hin, dass es gut sei,Abdullah Öcalan als tragende Kraft in einen möglichen Frie-densprozess einzubeziehen. Auch Alyn Smith von der ScottishNational Party (SNP) und John Austin, ein langjähriger Abge-ordneter der englischen Labour Party bereicherten die Konfe-renz mit ihrem Wissen über die mögliche Gestaltung von Frie-densprozessen, am Beispiel Nordirlands und demokratischerBeteiligung am Beispiel des schottischen Parlaments. JohnAustin hatte in den 1990er Jahren Abdullah Öcalan in Syrienbesucht und setzt sich seitdem für einen Dialog mit der PKKein. Jeder internationale Konflikt sei jedoch unterschiedlich inseiner Ausprägung. Von daher müsse die Besonderheit auchjeweils zu variierenden Lösungen führen, waren sich dieDebattierenden einig.

Der Journalist Cengiz Çandar, der u. a. für die türkischeZeitung Radikal schreibt und in den neunziger Jahren Minis -terpräsident Turgut Özal bei ersten Annäherungen an die PKKberiet, sieht in den Schritten der letzten Monate die Möglich-keit zum Beginn einer langfristigen Arbeit am Frieden. Dazu

Ein Bericht zur 7. Internationalen Konferenz im EU-Parlament in Brüssel

„Der Weg zum Frieden – sich derHerausforderung stellen“Martin Dolzer

„Die EU-Terrorliste ist keinInstrument zur Bekämpfungdes Terrorismus, sondernzur Unterdrückung vonunliebsamer Opposition“

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müsste allerdings auch die türkische Regierung für einen beid-seitigen Waffenstillstand eintreten und offensiv einen ehr-lichen Dialog anstreben. Ruşen Çakır, der u. a. für CNN Türkarbeitet, sieht ebenfalls Möglichkeiten zur Beilegung des Strei-tes zwischen Bevölkerungsgruppen, die ihre „Brüderschaft“erkennen und sich die Hand reichen sollten. Hierzu müssteallerdings die kurdische Seite zuerst bedingungslos die Waffenniederlegen. Dass ein derartiges Vorgehen kaum positiveErgebnisse herbeiführen kann, würde dadurch deutlich, dassinsbesondere in Zeiten von einseitigen Waffenstillständen dastürkische Militär seine Operationen ausweite und der Staatbesonders repressiv gegen legal politisch Tätige vorgehe, wurdedem Journalisten von mehreren RednerInnen entgegengehal-ten.

Leyla Zana, Selahattin Demirtaş (Parlamentsabgeordneterder BDP), Yüksel Genç (Vorsitzende des DTK), Sebahat Tun-cel (Parlamentsabgeordnete der BDP) sowie Ömer Güneş(Anwalt von Abdullah Öcalan) konnten aus eigener Erfahrungüber die Situation in der Türkei berichten. Insgesamt gibt esihrer Ansicht nach gute und positive Zeichen für den Beginneines friedlichen Wandels. Die parlamentarische und kommu-nalpolitische Arbeit der BDP und die immer wieder seitensder PKK ausgerufenenWaffenstillstände machensich bemerkbar. Auch dassder Staat anfängt intensi-ver mit Abdullah Öcalanzu sprechen, wird positivgewertet. Allerdings wäremehr Transparenz in die-sem Prozess zu wünschen.U. a. die anhaltendeRepression, erneut zuneh-mende Menschenrechts-verletzungen, die KCK-Prozesse mit mehr als1 700 Beteiligten und dieKriminalisierung derBDP sowie von Men-schenrechtlerInnen imAllgemeinen, die nachwie vor katastrophaleSituation der politischenGefangenen sowie einewenig unabhängige Justizstünden jedoch einerpositiven Entwicklung imWeg. Auch der Bürger-meister der Stadt Amed(Diyarbakır), OsmanBaydemir, kritisierte ineinem Grußwort, da erseit mehr als 10 Monateneinem Reiseverbot unter-liegt und daher nicht per-sönlich anwesend sein

konnte, dass eine solche Politik einer Demokratisierung undDemilitarisierung der türkischen Gesellschaft im Weg stehe.

Leyla Zana, Sebahat Tuncel und Yüksel Genç machten ins-besondere auf Exklusionsprozesse gegenüber ethnischen undreligiösen Gruppen, wie den AlevitInnen, den LazInnen, denArmenierInnen und den ChristInnen im Verlauf der türki-schen Geschichte, sowie die anhaltende Unterdrückung derFrauen in der chauvinistischen türkischen Gesellschaft auf-merksam. Aufgrund der mehrfachen Unterdrückung ist dieBefreiung der Frauen ein zentrales Moment von gesellschaft-lichen Fortschritten, so die RednerInnen. „Die politisch Ver-antwortlichen sollten in einem möglichen positiven Prozessauch durch institutionalisierte Bildungsarbeit über Friedens-möglichkeiten und die Notwendigkeit von Demokratisie-rungs- und Gleichstellungsprozessen informieren, so dass sichdie Sehnsucht nach einer Ko-Existenz sämtlicher Bevölke-rungsgruppen, auch bei der gesamten türkischen Bevölkerung,entwickeln kann“, betonte Leyla Zana. Dazu gehöre es auch,kulturelle Rechte durchzusetzen und das Nutzen und Lehrender kurdischen Sprache zu ermöglichen und die politischmotivierten Repressionen zu beenden.

Der Menschenrechtsverein IHD ruft zu einer Menschenrechtswoche auf, um gegen die Menschenrechtsverstößeder Türkei zu protestieren. Foto: DIHA

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In mehreren Beiträgen von Europaabgeordneten wurde dieZwiespältigkeit der Politik der AKP kritisiert. Einerseits wür-den Reformen, wenn auch oft nur auf dem Papier, durchge-führt. Auch wenn in den letzten zehn Jahren einige positiveEntwicklungen zu erkennen sind, reiche das jedoch langenicht aus. Denn andererseits werden weiterhin Aspekte einerVerleugnungs- und Vernichtungspolitik angewandt. Deutlichwurde, dass die KCK-Verfahren kein juristisches Fundamenthaben. Die Anklagen beruhen lediglich auf einer abstraktzugeschriebenen organischen Verknüpfung der Beschuldigtenmit der PKK und dem Vorwurf der Propaganda für eine ter-roristische Vereinigung. Besonders davon betroffen sind inter-national wirksame PolitikerInnen. Die Realität in den kurdi-schen Provinzen ist allerdings, dass die Bevölkerung familiärmit der PKK verknüpft ist. In jeder Familie gibt es gefalleneGuerillakämpferInnen oder zwangsrekrutierte Soldaten undFälle von durch staatliche oder paramilitärische Kräfte gefol-

terten oder getötetenVerwandten. Jederernsthaft an einerLösung interessierteVerantwortliche müssediese Realität zurKenntnis nehmen unddamit arbeiten. Frag-lich sei, ob die AKPlediglich vor den Wah-len im nächsten Früh-sommer taktisch agie-re, um die WählerIn-

nen in Kurdistan zu besänftigen – oder ob die bisher nur ange-deuteten Reformschritte auch fortgesetzt würden, so dieBefürchtungen. Indikatoren dafür wären unter anderem dieReduzierung der 10%-Hürde bei Wahlen und weitere Refor-men der Verfassung.

Besonders deutlich schilderten MenschenrechtlerInnen dieSituation der InlandsmigrantInnen und die erneut zunehmen-den Menschenrechtsverletzungen. Die Fälle von Folter habenerneut zugenommen, noch immer komme es zu Vertreibun-gen aus Dörfern, Übergriffen durch Dorfschützer und Polizei-beamte, vermehrt auch auf Kinder und Jugendliche – beigleichzeitig über 99%iger Straflosigkeit von TäterInnen ausstaatlichen Kreisen. Auch die Pressefreiheit werde besondersdurch den Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches unddas „Antiterror-Gesetz“ ausgehebelt. Zudem agiere die Justizwenig unabhängig. Verfahren wegen Menschenrechtsverlet-zungen würden immer wieder verzögert, abgelehnt oder unterGeheimhaltung gestellt und so ein juristisches Vorgehen ver-hindert. Im ersten Halbjahr 2010 sei es zudem zu mehr als 19extralegalen Hinrichtungen und zu mehreren Kriegsverbre-chen durch das türkische Militär gekommen. Berichtet wurdeüber Chemiewaffeneinsätze gegen Guerillas, postmortale Ver-stümmelungen und Morde durch aufgesetzte Schüsse bei fest-genommenen Guerillas, Vergewaltigungen durch Mitgliederdes Geheimdienstes JİTEM und weitere schwere Menschen-rechtsverletzungen. In den Provinzen Colemêrg (Hakkari),

Şirnex (Şırnak), Dersim (Tunceli), Sêrt (Siirt), Wan (Van) undAgirî (Ağri) fänden neben nahezu täglichen Militäroperatio-nen auch systematische Angriffe auf die Zivilbevölkerungstatt.

Leider war keinE VertreterIn der türkischen Regierunganwesend, um sich zum Thema zu äußern. Besonders kritischbetrachteten Europaabgeordnete die Türkeipolitik innerhalbder EU. Die Kriminalisierung der politisch tätigen KurdInnenauf Grundlage der EU-Terrorliste sowie die fortgesetzten Waf-fenlieferungen und eine wenig vernünftige Gesamtstrategiepolitischen Handelns, die hauptsächlich auf wirtschaftlichenund geostrategischen Momenten beruhe, kritisierte besondersscharf der dänische Sozialist Søren Bo Søndergaard.

Insgesamt war die Konferenz sehr interessant und im Sinneeiner Demonstration von allseitigem Friedenswillen und demAufzeigen von Dialogmöglichkeiten auch erfolgreich. Dasinternationale Interesse an dem Thema kam deutlich zumAusdruck. Ein großes Lob auch an die VeranstalterInnen fürihre sehr gute Vorbereitung und Durchführung der Konfe-renz.

Geteilt wurde die Ansicht, dass die kurdische Frage letzt -endlich in der Region selbst gelöst werden muss. Dass dieeuropäischen PolitikerInnen und die Bevölkerungen auch auf-grund kolonialistischer Politik in der Vergangenheit und heut-zutage sowie der wirtschaftlichen, militärischen und bündnis-politischen Verflechtungen mit der Türkei für die jetzige Lageund weitere Entwicklungen mitverantwortlich sind, stehtaußer Frage.

Die Aussicht auf einen Friedensprozess – und die Klarheit derüberwiegenden Anzahl der TeilnehmerInnen, die eine Einbe-ziehung der Beteiligten samt PKK und Abdullah Öcalan füreinen nötigen Schritt zum Frieden halten – stimmt zunächsteinmal hoffnungsvoll. Deutlich sichtbar ist aber auch, dasseinige Kräfte in der Türkei und in Europa versuchen, die kur-dischen AkteurInnen in einem solchen Prozess zu spalten. Dieemanzipatorische und selbstbewusste Kraft der kurdischenBevölkerung und Bewegung, in einer geostrategisch so wichti-gen Region, ist mit den herrschenden Interessen der Regie-rungen sichtlich nur schwer vereinbar. So lassen sich auch diezwiespältige Politik der AKP und die Desinformation überden schon begonnenen öffentlichen Dialog und Ereignisse inder Türkei im europäischen Mainstream erklären. Die Versu-che, die dynamischen Teile der Bewegung zu schwächen, sindunübersehbar. Weitere Schritte in einem anstehenden Frie-dens- und Demokratisierungsprozess stets im Bewusstsein vonKräfteverhältnissen und der Interessen der jeweiligen Akteurezu gehen, ist sicherlich gut, um nicht bereits errungene Eman-zipationsschritte bedingungslos aufzugeben.

Die Abschlussresolution der siebten internationalen Konferenzzum Thema: „Die EU, die Türkei und die KurdInnen“ ist inder Internetausgabe zu finden: www.kurdistanreport.de t

Die emanzipatorische undselbstbewusste Kraft der kur-dischen Bevölkerung undBewegung, in einer geostrate-gisch so wichtigen Region, istmit den herrschenden Inter-essen der Regierungen sicht-lich nur schwer vereinbar.

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Im November 2009 wurde auf Initiative des kurdischen„Vereins für Demokratie und internationales Recht“ (MAF-

DAD) und AZADÎ eine internationale juristische Fachtagungdurchgeführt. Mitveranstalterinnen waren die „Vereinigungdemokratischer Juristinnen und Juristen“ (VDJ), die „Vereini-gung Europäischer Juristinnen und Juristen für Demokratieund Menschenrechte in aller Welt“ (EJDM) sowie die „Inter-nationale Liga für Menschenrechte“. Unter dem Arbeitstitel„Der so genannte Anti-Terrror-Kampf am Beispiel der Kur-dinnen und Kurden – Die Praxis im europäischen Rechts-raum“ tauschten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ausBelgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien,Griechenland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, derSchweiz und aus der Türkei ihre Erfahrungen zu den verschie-denen Aspekte der so genannten EU-Sicherheitsarchitekturaus.

Ein Ergebnis der Diskussionen dieser zweitägigen Fachta-gung war die Erkenntnis, dass eine Indizierung der kurdischenBewegung auf der EU-Terrorliste politisch falsch sei und auf-gehoben werden müsse. Auf Vorschlag von italienischen Kol-leg_innen wurde gemeinsam ein entsprechender Aufruftexterarbeitet und am 19. Oktober 2010 auf einer Pressekonferenzin Brüssel durch die Vorsitzende von MAF-DAD, Heike Geis-weid, den Generalsekretär der EJDM, Thomas Schmidt, dasMitglied des „Progress Lawyers Network“, Jan Fermon (Bel-gien), den Rechtsanwalt aus Italien, Mario Angelelli, sowiePierre Robert, Mitglied des „Syndicat des Avocats pour laDémocratie“ (Belgien), der Öffentlichkeit vorgestellt. Nach-stehend der Wortlaut des Appells.

Europäische Juristinnen und Juristen fordern:Streichung der PKK von EU-Terrorliste

„Seit 2002 wird die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) aufWunsch der türkischen Regierung in der vom Rat der Euro-päischen Union regelmäßig aktualisierten Terrorliste geführt.

Als wesentliche Begründung wurden Gewalttaten der PKK inder Türkei und im Ausland genannt.

Im Dezember 2009 wurde die Partei der DemokratischenGesellschaft (DTP) vom türkischen Verfassungsgericht verbo-ten. Die DTP hatte sich für eine nationale Anerkennung derKurden und eine friedliche Lösung der Kurdenfrage einge-setzt. Damit wurde den etwa 20 Millionen Kurden in der Tür-kei die Möglichkeit genommen, sich für ihre Rechte undInteressen auf friedlichem Weg einzusetzen.

Im Anschluss an das Verbot der DTP gab es Ende 2009 eineReihe von Protesten, denen eine Welle von repressiven Maß-nahmen und Festnahmen gegen Bürgermeister, Mitglieder derörtlichen Verwaltungen, Menschenrechtsaktivisten und politi-sche Repräsentanten der kurdischen Bewegung in der Türkeifolgten. Die repressiven Maßnahmen und Festnahmen haltenbis zum heutigen Tage an. Inzwischen hat die PKK wiederbewaffnete Aktionen gegen türkisches Militär ergriffen.

Die politische und rechtliche Einschätzung der PKK warund ist in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Unionunterschiedlich und schwankend. So hat zum Beispiel derdeutsche Bundesgerichtshof 2004 entschieden, dass nur dieFührungsebene der PKK als kriminelle Vereinigung einzustu-fen sei. 2008 hat der Europäische Gerichtshof (erste Instanz)in Luxemburg die Aufnahme der PKK in die Terrorliste derEU aus formalen Gründen für nichtig erklärt, weil sie nichtbegründet worden sei und damit gegen europäisches Rechtverstoße. Der Rat der Europäischen Union meint den Verfah-rensfehler inzwischen behoben zu haben und führt die PKKweiterhin auf der Terrorliste. In einem jüngst beendetem Ver-fahren hat auch die große Kammer des EuGH die Rechtswid-rigkeit der EU-Terrorliste zumindest bis zum Jahre 2007 fest-gestellt, weil den Betroffenen keine Begründung mitgeteiltwurde und eine angemessene gerichtliche Kontrollmöglichkeitfehle (C-550/09, 29.6.2010). Selbst innerhalb der EU gibt esnur wenige Länder – wie die Bundesrepublik Deutschland,Großbritannien und Frankreich -, die dem Wunsch der türki-schen Regierung gefolgt sind, eine Betätigung der PKK zuuntersagen.

Die aktuelle Schärfe des Konflikts verdeutlicht die Notwen-digkeit einer politischen Lösung der „Kurdenfrage“. Den viel-fältigen diesbezüglichen Ankündigungen des türkischen Minis -terpräsidenten sind kaum konkrete politische Schritte gefolgt.

Europäische Juristinnen und Juristen fordern:

Streichung der PKK von EU-TerrorlisteAZADÎ e. V., 13. November 2010

„Die Listung der PKK als Terrororganisation istauch politisch falsch, weil damit letztlich eine politi-sche Lösung der Kurdenfrage erheblich erschwertwird und eher eine Grundlage für weitere Partei-verbote in der Türkei geschaffen wird.“

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 201136

Die vom Ministerpräsidenten vorbereitete Verfassungsände-rung sieht immer noch keine gleichberechtigte Anerkennungdes kurdischen Volkes vor. Die Mehrheit des türkischen Parla-ments ist noch nicht einmal bereit, das Verfassungsgericht inseiner Kompetenz bei der Verhängung von Parteiverboten ein-zuschränken.

Die Terrorliste des Rates der Europäischen Union ist seiner-zeit auf Druck der US-Regierung nach dem Anschlag vom 11.September 2001 beschlossen worden. Sie gehörte zu einerReihe von Maßnahmen, die einer rechtsstaatlichen Grundlageentbehren. Einerseits ist der Terrorismusbegriff unzureichendbestimmt für einen derart schwerwiegenden Eingriff in per-sönliche und politische Freiheitsrechte. Zum anderen fehlt einrechtsstaatliches Verfahren, mit dem sich die betroffenen Per-sonen und Organisationen zur Wehr setzen können.

Konkret bezogen auf die PKK ist die Einordnung als „Ter-rororganisation“ rechtlich und politisch falsch. Die Aufnahmeder PKK in die Terrorliste der Europäischen Union trägt demUmstand nicht angemessen Rechnung, dass die PKK seit 1993wiederholt einseitige Waffenstillstände erklärt und umgesetzthat. Die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen derPKK und dem türkischen Militär müssen auch vor demHintergrund gesehen werden, dass die türkische Regierung derangekündigten Lösung der Kurdenfrage keine konkretenSchritte folgen ließ, sondern die Repressionen gegen die kur-dische Zivilgesellschaft eher verschärft und in großem Umfangsogar Kinder verhaftet und verurteilt wurden.

Mit der Aufnahme der PKK in die Terrorliste wird von derEU auch – ungeachtet der seit Jahrzehnten gegenüber denKurden in der Türkei von der Regierung verübten politischenund kulturellen Unterdrückung, Vertreibung, Folterung undErmordung – das international anerkannte Recht auf Wider-stand geleugnet. Damit werden vom Rat der EuropäischenUnion selbst die Ergebnisse des von der Europäischen Kom-mission jährlich veröffentlichten Fortschrittsberichts ignoriert,in welchem die schweren Menschenrechtsverstöße gegen diekurdische Bevölkerung regelmäßig gerügt werden.

Die Listung der PKK als Terrororganisation ist auch poli-tisch falsch, weil damit letztlich eine politische Lösung derKurdenfrage erheblich erschwert wird und eher eine Grundla-ge für weitere Parteiverbote in der Türkei geschaffen wird.

Die Europäische Union hat in der Vergangenheit gezeigt,dass sie in der Lage ist, über ihre Beitrittskriterien durchauspositiven Einfluss auszuüben auf die politische und rechtlicheEntwicklung in der Türkei. Mit der Streichung der PKK vonder Terrorliste könnte ein weiterer wichtiger Anstoß geliefertwerden für eine politische Lösung der kurdischen Frage in derTürkei.“

Die UnterstützerInnen dieser Erklärung fordern daher:

– die Streichung der PKK von der Terrorliste der EuropäischenUnion

– die aktive Unterstützung einer friedlichen Lösung der Kur-denfrage und der kurdischen Zivilgesellschaft durch dieEuropäische Union

– keine Auslieferung von kurdischen politischen Flüchtlingenan den Verfolgerstaat Türkei

– keine Einschränkung des Asylrechts aus Gründen der Mit-gliedschaft in kurdischen Organisationen

– die generelle Aufhebung der EU-Terrorliste

Unterzeichner: European Association of Lawyers for Democracy and WorldHuman Rights (ELDH), with lawyers in 16 European Coun-tries, www.eldh.eu European Democratic Lawyers (EDL-AED), with lawyers in 6European countries, www.aeud.org International Association of Democratic Lawyers (IADL),www.iadllaw.org Association for Democracy and International Law (MAF-DAD), www.mafdad.org Progress Lawyers Network, www.progresslaw.net Union of Bulgarian Jurists, www.sub.bg Haldane Society of Socialist Lawyers, www.haldane.org Association Française des Juristes Démocrates Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e. V.,www.vdj.de Alternative Intervention of Athens Lawyers [AIAL],www.epda.gr Giuristi Democratici, www.giuristidemocratici.it Demokratische Juristinnen und Juristen der Schweiz [DJS],www.djs-jds.ch Progressive Lawyers Organization [ÇHD], www.cagdashu-kukculardernegi.org Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV),www.rav.de Droit et solidarité, www.droitsolidarite.free.fr

Weitere Unterzeichnungen sind willkommen!

Kontakt für weitere Information und Unterstützung desAppells: European Association of Lawyers for Democracy and WorldHuman Rights (ELDH), with lawyers in 16 European Coun-tries, [email protected] or [email protected], 0049-211-444 001 Association for Democracy and International Law (MAF-DAD), [email protected], 0049-221-355 33 22 30 t

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 2011 37

Acht Monate nach der Parlamentswahl kamen alle politi-schen Gruppen in Bagdad zusammen und einigten sich

über die neu zu bildende Regierung. Am nächsten Tag tratNuri al-Maliki im Namen der Liste „Rechtsstaat“ vor dieMedien: „(…) Es ist wichtig, dass einige Kreise sich sowohl ander Regierungsbildung beteiligen als sich auch der mit derUnterstützung des Terrors drohenden Machtbeteiligung derBaath entgegenstellen. Diese Kreise sollten die Gesetze Iraksnicht verletzen und das Prinzip der gleichberechtigten Vertei-lung beachten.“ Diese Botschaft richtete sich an die sunniti-schen Kreise. Es ist bezeichnend, dass sie unmittelbar nachdem Treffen in Bagdad abgegeben wurde. Es hat denAnschein, als hätten die sunnitischen Gruppen die getroffeneÜbereinkunft ungewollt akzeptiert. Aus der genannten Ver-sammlung ging Nuri al-Maliki gestärkt hervor, so dass er einesolche Drohung aussprechen konnte. Sie war auf den ehema-ligen Gouverneur von Mosul, Osama al-Nujaifi, gemünzt, diestärkste Persönlichkeit der Sunniten, auch als fundamentalisti-scher Baath-Nationalist und kurdenfeindlich bekannt.

Die Regierungsbildung im Irak gestaltete sich äußerst proble-matisch. Während die Kurden von Beginn an erklärten, siewürden nicht auf den Posten des Staatspräsidenten verzichten,beharrten die Schiiten indessen auf dem des Ministerpräsiden-ten. Die Sunniten, als stärkste politische Kraft aus der Wahlhervorgegangen, beanspruchten in erster Linie das Amt desStaatspräsidenten und, als dies unwahrscheinlich erschien, dasdes Ministerpräsidenten. Obwohl stärkste Partei, war klar, dasssie auf die Unterstützung entweder der Kurden oder der Schi-iten angewiesen waren, weil sie die Regierung nicht allein stel-len konnten. Auch die Schiiten mit insgesamt 159 Parla-mentssitzen (der Listen „Rechtsstaat“ und „Nationales Bünd-nis“) waren dazu nicht in der Lage. Diese Konstellation stärk-te die Position der Kurden. Denen stehen die Schiiten nochnäher als die Sunniten. Die Tatsache, dass sich unter den Sun-niten Mitglieder der ehemaligen Baath-Partei finden, führtezeitweise zu ernsthaften kurdisch-sunnitischen Konflikten.Der Mosuler Ex-Gouverneur Osama al-Nujaifi ist einer vonihnen und Iyad Allawi darunter der Gewichtigste. Daserschwerte die Arbeit der sunnitischen Liste. Auch im Fallekurdischer Unterstützung für die Sunniten hätte es nicht zurRegierungsbildung gereicht. Mindestens eine Gruppe derSchiiten hätte mitziehen müssen. Trotz auswärtigen Beistandsdurch in erster Linie USA, Türkei, Saudi-Arabien, Jordanien

und Syrien bleibt wegen der nötigen schiitischen Steigbügel-hilfe eine Regierungsbildung der Allawi-Gruppe unmöglich.

Diese Situation wiederum stärkt den Einfluss des Irans. Derwar um eine Beilegung, zumindest um einen Aufschub derWidersprüche unter den schiitischen Gruppen bemüht.Gleichzeitig drängte er die Kurden drohend mit einer Wort-wahl jenseits diplomatischer Gepflogenheiten, sich klar an sei-ner Seite zu positionieren, ansonsten er alle Beziehungen zuihnen abbräche, so die Botschaft. Zur Untermauerung mitpraktischen Angriffen ließ er über die Organisation Ensar ElSüne kurdische Siedlungsgebiete bombardieren. Für den Iranist die Regierungsbildung im Irak äußerst wichtig. Sollte dieMacht dort in sunnitische Hände gelangen, würden die Akti-vitäten gegen ihn zunehmen, so befürchtet er, und USA, Tür-kei und sunnitisch-arabische Staaten würden ihre Stellungenihm gegenüber noch weiter ausbauen. Vor diesem Hinter-grund betrachtete der Iran die Regierungsbildung im Irakregelrecht als Vorbereitungsphase für einen Regionalkrieggegen sich. Aus diesem Grunde verfolgte er diese Phase äußerstaufmerksam und versuchte, den Ausgang zu seinen Gunstenzu wenden. Es war kein Zufall, dass Necirvan Barzani (Demo-kratische Partei Kurdistan PDK) vor der Regierungsbildungden Iran besucht hatte. Zeitnah wurden Militante von EnsarEl Süne festgenommen, bevor sie ihre geplanten Selbstmord-anschläge in kurdischen Gebieten durchführen konnten. DasGerücht über den Aufenthalt von Mitgliedern dieser Gruppenin Kurdistan hatte sich unter den Kurden verbreitet. Es istdavon auszugehen, dass Nercirvan Barzani für den Iran dieBotschaft hatte: „Wir werden bei der Regierungsbildung mitden schiitischen Gruppen gehen und in unseren regionalenund internationalen Beziehungen den Iran berücksichtigen.“Barzani war klar, was es bedeuten könnte, den Iran nicht miteinzubeziehen.

Sowohl die USA als auch die Türkei übten Druck auf dieKurden aus, nicht auf dem Posten des Staatspräsidenten zubeharren. Der kurdische Abgeordnete Mahmut Osmanbezichtigte die USA dieser Nötigung öffentlich. Auch MassudBarzani gestand gegenüber der Presse ein, nie zuvor einem der-artigen Druck ausgesetzt gewesen zu sein. Die USA warengegen eine Regierung mit großem schiitischem Einfluss, ihrZiel war ein ausgewogenes Kräfteverhältnis zwischen Schiitenund Sunniten. Den Kurden räumten sie lediglich die Rolle

Die neue Regierung im Irak und ihre Auswirkung auf das Kräftegleichgewicht

Den Kurden räumten sie lediglichdie Rolle eines Jokers ein ...Adem Uzun

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 201138

eines Jokers ein, nach Bedarf einsetzbar, nicht als eigentlicheSpielkarte. Sie versuchten als Erstes, Nuri al-Maliki zu neutra-lisieren und eine Regierung aus den Listen „Nationales Bünd-nis“ (Ammar El Hekim) und „Al Iraqija“ (Allawi) unter kur-discher Beteiligung zu bilden. Wäre diese Rechnung aufgegan-gen, hätten die USA ein Gegengewicht zum Iran herstellenkönnen. Als dies nicht möglich erschien, versuchten sie, dieSunniten über den Staatspräsidentenposten zu beteiligen, undforderten die Kurden aus diesem Grunde zum Verzicht auf.Als Massud Barzani das Ausmaß des politischen Drucks ein-gestand, meinte er damit nicht nur den von Seiten der USA.Denn daneben wurden die Kurden auch vom Iran bedrängt,den Staatspräsidentenposten nicht aufzugeben und den sunni-tischen Einfluss nicht wachsen zu lassen.

Bei all diesen Analysen darf die Türkei nicht außer Achtgelassen werden. Der letzte Besuch des türkischen Außenmi-nisters Ahmet Davutoğlu in Südkurdistan war ein Teil derdiplomatischen Bemühungen, die Kurden von ihrem Festhal-ten am Staatspräsidentenposten abzubringen. Die Türkeibefürchtet, die Kurden könnten sich den Schiiten und demIran annähern und ihre Position innerhalb der irakischen Zen-tralregierung stärken. Dies hätte zur Folge, dass sich die Bin-dungen zwischen den Kurden und der Türkei abschwächenund die Türkei ihren Einfluss auf die Kurden verliert. Dieswiederum würde ein eigenständiges Handeln der Kurdenbewirken und neuen ökonomischen, politischen, diplomati-schen, ja sogar militärischen Bündnissen auf regionaler und

internationaler Ebene die Tür öffnen. Um dies zu verhindern,muss sie den Einfluss der Kurden in der irakischen Zentralre-gierung schwächen und deren Absichten zu neuen internatio-nalen Bündnissen durchkreuzen. Dies ist aus Sicht der Türkeinur über die irakische Zentralregierung möglich. Sie will einKurdistan, das auf den türkischen Staat angewiesen ist undregional und international die Schutzherrschaft der Türkeiakzeptiert. Ein solches Kurdistan stellt für die Türkei keineGefahr dar.

Außerdem ist die Türkei bestrebt, die regionale Stärkung desIran zu verhindern. Diese würde ihr die irakische und kurdi-sche Karte aus der Hand schlagen. Sie würde so ihre regionaleFührungsposition sowie die Kontrolle über die Kurden verlie-ren. Diese beiden Aspekte bestimmen die Koordinaten dertürkischen Außenpolitik. Die Regierungsbildung im Irakinteressiert daher nicht nur die USA, den Iran und die sunni-tisch-arabischen Länder, sondern auch die Türkei.

Auch wenn „Al Iraqija“ sich aus der Regierung zurückzieht,so hat die Phase der Regierungsbildung begonnen. Das wirdnicht reibungslos ablaufen. Momentan sind die Sunnitenerneut herausgedrängt und die gegenwärtige Konstellationwerden weder die USA noch die sunnitisch-arabischen Staatenoder die Türkei ohne weiteres akzeptieren. Aus diesem Grun-de besteht die Gefahr neuer konfessionell bedingter Ausein-andersetzungen im Irak. Auch die an die Baath gerichteteErklärung al-Malikis deutet darauf hin. Sollten neue konfes-sionelle Kämpfe ausbrechen, so werden hierbei sunnitisch-ara-

bische Staaten und die Türkei eineRolle spielen. Sie werden dieaktuelle Niederlage auf diese Weisezu kompensieren versuchen.

Prognose:Nuri al-Maliki wird Minister-

präsident. Um die Befugnisse desschiitischen Führers im Gleichge-wicht zu halten, werden der sunni-tischen „Al-Iraqija“-Liste unter-schiedliche Posten zugeteilt. Umdies zu gewährleisten, wurde der„Nationale Rat für strategischePolitik“ unter dem Vorsitz vonIyad Allawi gebildet. Osama al-Nujaifi wurde zum Parlamentsprä-sidenten, Celal Talabani zumStaatspräsidenten gewählt. Tala -bani beauftragte al-Maliki mit derRegierungsbildung. Auf dieseWeise bekam die von den USA, derTürkei, Saudi-Arabien und Jorda-nien unterstützte sunnitischeGruppe nicht den Posten desMinisterpräsidenten, aber anderewichtige Ämter. t

Der türkische Außenminister Davutoğlu besucht den Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan im Nor-den des Iraks, Massud Barzanî. Foto: DIHA

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 2011 39

Die Parlamentswahl im Irak am 8. März 2010 war einregelrechter Lackmustest für die irakischen Kräfte. Wer

mit wem enge Beziehungen pflegt, welche diplomatische,militärische, ökonomische und geheimdienstliche Ebene dieseBeziehungen erreicht haben, das stellte sich aus verschiedenenPerspektiven dar. Es gestaltete sich nicht nur für die iraki-schen, sondern auch für die kurdischen Gruppen als eineernst hafte Prüfung. Für wen ist diese Prüfung wie ausgefallen?Das wird in naher Zukunft klar werden. Gegenwärtig kanngesagt werden, dass die Kurden während der gesamten Phaseder Regierungsbildung im Irak eine bedeutende Rolle gespielthaben. Ihre Position, die unterschiedlichen Parteienzusammenzubringen, war entscheidend. Davon scheint auchdie Öffentlichkeit überzeugt zu sein.

Es gibt Fakten die das belegen. Drei Tage vor der Wahl desirakischen Minister- und des Staatspräsidenten kamen allepolitischen Führungspersonen im Irak unter dem Vorsitz vonMassud Barzani in der südkurdischen Stadt Selahattin zusam-men. Auf den anschließenden Sitzungen in Bagdad gab es anbestimmten Punkten Übereinkünfte. Die Tatsache, dass dieKurden bei der Regierungsbildung im Irak eine Vermittlerrol-le spielten, wurde dabei klar. Entspricht es der Wahrheit odernicht? Wir können lediglich anhand von Fakten die Situationversuchen zu analysieren.

Falls die Kurden die Kraft besitzen, die politischen Kräfteim Irak zusammenzubringen, so müssten sie im Vergleich zufrüher eine noch stärkere Position in der ZentralregierungIraks haben. Damit sie die Regierung unterstützen, müsstenmeiner Meinung nach zumindest die formulierten 19 Artikelakzeptiert werden. Wenn ihre Position tatsächlich so stark war,warum kam es dann zu den Problemen um die Staatspräsi-dentschaft? Wie konnten sie ferner die politischen Kräfte imIrak, die trotz achtmonatiger diplomatischer Bemühungenund Erpressungen seitens der USA, des Iran, der Türkei undder sunnitisch-arabischen Länder nicht zu einer Regierungs-bildung gebracht werden konnten, allein überzeugen? Dieserscheint nicht sehr logisch.

Die Kurden standen während der Regierungsbildungsphaseunter dem Druck der USA, der Türkei, des Iran und der sun-nitisch-arabischen Staaten. Vor allem die Türkei sah in derStärkung der Kurden in der irakischen Zentralregierung eine

große Gefahr für sich. Die Regierung ist bis dato nicht gebil-det. Der Posten des Staatspräsidenten ist kein Amt, das diePosition der Kurden in der Zentralregierung Iraks stärkenwird. Die Bedeutung dieses Amtes für die Kurden kann ledig-lich darin liegen, dass sie, die sie seit Jahrhunderten in dieserRegion verleugnet wurden und weder über einen nationalennoch internationalen Status verfügen, mit ihrer nationalenIdentität einen Staatspräsidenten stellen und internationalesPrestige gewinnen, zugleich den Konkurs der regionalen undinternationalen Verleugnungspolitik gegen die Kurden augen-fällig machen.

Auch wenn es nur um diese beiden Aspekte geht, ist eswichtig, dass die Kurden dieses Amt nicht aufgeben. Es mussdennoch betont wer-den, dass es praktischgesehen keine wichtigeFunktion hat. DiePosition der Kurdeninnerhalb der Zentral-regierung wird sich erstherausstellen, wenn dieRegierung gebildet ist.Ihre eigentliche Stärke wird dadurch bestimmt werden, welcheMinister sie stellen und inwieweit sie in der Administrationvertreten sein werden.

Die regionale und internationale Konjunktur offeriert denKurden – wenn auch ungewollt – eine wichtige Rolle. Dieseliegt aber nicht in der Regierungsbildung oder darin, die poli-tischen Führungspersonen des Irak zusammenzubringen. Ihreeigentliche Rolle besteht darin, über die Zentralregierung denregionalen und internationalen Kräften die Lösung der kurdi-schen Frage aufzuzwingen. In erster Linie könnte die Rück -führung der dem Irak eingegliederten 42 % des südkurdischenTerritoriums, die im Artikel 140 der irakischen Verfassunggeregelt ist, bei der Lösung von Bedeutung sein. Auch wenndas in dieser Zeit ebenfalls zur Sprache gekommen sein sollte,bin ich der Meinung, dass nicht sonderlich darauf beharrtworden ist. Vielmehr versuchen die südkurdischen Kräfte, das,was sie im Moment in der Hand halten, nicht zu verlieren.

Die irakischen Kräfte, die sich dieses Dilemmas der Kurdenbewusst sind, versuchen die Lösung der Probleme um Kirkuk,

Die Situation der südkurdischen Parteien

Keine Initiative, um die kurdischeFrage zu lösenSavaş Andok

Die regionale und internatio-nale Konjunktur offeriert denKurden – wenn auch unge-wollt – eine wichtige Rolle.

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 201140

um die Anwendung des Artikels 140, um die Peschmerga unddas Öl aufzuschieben. Es heißt, zwischen Nuri al-Maliki undMassud Barzani sei ein Abkommen getroffen worden, das dieLösung des Problems um Kirkuk innerhalb von zwei Jahrenvorsehe. Aber aus welchen Gründen auch immer wird diesesAbkommen nicht öffentlich gemacht. Vielmehr beruht dieBerichterstattung zu diesem Thema auf Gerüchten, die nie-mand widerruft. Diese offiziell undementierten Gerüchteerwecken daher den Anschein, als seien ihre Quellen offizielle.Auch wenn sie nicht selbst die Informationen streuen, soscheint es, dass deren Verbreitung ihnen nicht widerstrebt.Weil diese Art von Abkommen das Schicksal der Kurdenbetrifft, ist es wünschenswert, dass sie veröffentlicht werden.Hinter geschlossenen Türen solche Abkommen zu treffen, istnur zum Vorteil der Zentralregierung Iraks.

Ich denke, dass diese Situation eine bewusste Zermür-bungstaktik beschreibt. Weil die irakische Regierung momen-tan keine negative Haltung gegenüber der Lösung des Pro-

blems zeigen kann, versucht sie auf diese Weise, sie aufzu-schieben, die Kurden zu ermüden und ihnen die Hoffnung zunehmen. Die Kurden sollten diese Politik nicht mittragen.

Die Situation der kurdischen KräfteNeben der Haltung der Zentralregierung ist bei der Lösung

des Problems die Haltung der Kurden entscheidend. Diesehaben keine diesbezügliche gemeinsame Politik. Sie führenauch untereinander Machtkämpfe. Südkurdistan ist wie einkleines Modell des Irak. So wie regionale und internationaleMächte die irakischen politischen Kräfte auf unterschiedlicheWeise beeinflusst und auf ihre Linie gebracht haben, so habensie auch die kurdischen Kräfte ähnlich beeinflusst. Ein Beispieldafür ist die neue Goran-Bewegung, die in kurzer Zeit ange-wachsen ist. Es ist inzwischen ersichtlich, dass es sich dabei umeine Operation der USA gegen die YNK handelt.

Zum einen soll damit ein Ausgleich zur Annäherung derPatriotischen Partei Kurdistans YNK an den Iran geschaffen

werden, zum anderen beinhaltet es auch eine Botschaft an dieDemokratische Partei Kurdistan PDK. Die Goran-Bewegungstellt für die USA ein Sicherheitsventil in ihrer Politik imSüden dar. Auf der anderen Seite soll auf diese Weise verhin-dert werden, dass die südkurdische Opposition sich radikalenBewegungen nähert. Weder sollen PDK und YNK vollkom-men an Bedeutung verlieren noch derart an Stärke gewinnen,dass sie sich von den USA lossagen können. Bei nähererBetrachtung zeigt sich die Goran-Bewegung als keine Organi-sation mit einer starken ideologischen und organisatorischenBasis. Sie formt sich vielmehr um Necirvan Mustafa und solldie mit der Politik von YNK und zum Teil auch PDK Unzu-friedenen sammeln. Mit politischen Argumenten gegen dieFehler von YNK und PKD hat sie sich entwickelt. Anfänglichwar sie in ihrer Kritik äußerst radikal, aber in letzter Zeit hatsich auch dies abgeschwächt.

Die Basis der Goran-Bewegung in Kurdistan kommt über-wiegend aus der Altersgruppe zwischen 18 und 25 Jahren.

Goran spricht diese Klientel an. Die Hauptphilosophielautet: „Lass sie machen!“, d. h. die liberale Freiheits-philosophie. In der aktuellen Situation versucht sie, dieBevölkerung über die Mängel der YNK und PKD anzu-sprechen. Sie verfolgt eine kurzfristige Politik. IhrZulauf ist nicht mehr so stark wie in der Anfangszeit.Bei der Parlamentswahl hat sie meiner Meinung nachihr Maximum erreicht. Die anfängliche Hoffnung, diesie ihrer Wählerschaft geboten hat, wandelt sich immermehr in Hoffnungslosigkeit. Die Bevölkerung hattenicht mehr daran geglaubt, dass sich in Südkurdistanneben PDK und YNK eine andere Kraft entwickelnkönne. Die Goran-Bewegung hat diese fehlende Hoff-nung in der Bevölkerung geweckt. Aber momentan hatsich die Vorstellung, sie könne eine Alternative zu PDKund YNK darstellen, verflüchtigt. Daher schrumpft ihreBasis, was wiederum den islamischen BewegungenZulauf beschert. Wenn die Goran-Basis keine andere

Alternative vorfindet, besteht die Gefahr, dass sie zu islami-schen Kräften abdriftet. Die kulturelle Regeneration in Süd-kurdistan spielt hierbei ebenfalls eine wichtige Rolle. Währenddamit ein Teil der Gesellschaft regeneriert wird, nähert sich einanderer konservativer Teil, der dem entfliehen will, den isla-mischen Kräften.

Das Hauptbestreben der politischen Gruppen, allen vorander PDK und der YNK, in Südkurdistan besteht darin, finan-zielle Vorteile für sich zu erlangen. Ihr wesentlicher Kampfgeht darum, welche Partei wie viel Profit aus der Macht ziehenkann. Aus diesem Grunde haben die gegenwärtigen politi-schen Kräfte in Südkurdistan keinerlei ernsthafte Projekte undPolitik, um die kurdische Frage zu lösen. Die Verlautbarungendazu richten sich auch nur an die eigene Öffentlichkeit. DieKurden scheinen mit dem auf die drei Provinzen begrenztenStatus zufrieden zu sein. Solange sie diesen Status aufrechter-halten, werden sie meiner Meinung nach keine ernsthaftenProbleme mit anderen Kräften haben. t

Die Friedensmütter aus der Türkei vor dem Parlament in Südkurdistan Foto: DIHA

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 2011 41

Können Sie die Frauenzeitung Truska kurz vorstellen?

Die Frauenzeitung Truska ist zum ersten Mal am 30. Juni2004 erschienen. Sie ist das Presseorgan der Organisation Frei-heitsliebender Frauen Kurdistans (Rêkxirawên Jinên Azad yênKurdistanê – RJAK) und wird seitens dieser Organisation her-ausgegeben. Aufgrund mangelnder finanzieller Möglichkeitenund organisatorischer Probleme mussten wir nach den erstenzehn Ausgaben die Herausgabe vorübergehend einstellen. Dieautonome Zeitungsarbeit von Frauen war etwas sehr Neues inSüdkurdistan, deshalb mangelte es an Unterstützung undInteresse für diese Arbeit. Wir haben wiederholt bei der Regie-rung und anderen Einrichtungen Förderanträge gestellt,jedoch haben wir die notwendige finanzielle Unterstützungnicht erhalten. Wir haben dann angefangen, Spenden für dieweitere Herausgabe zu sammeln und Unterstützerinnen fürunsere Arbeiten zu organisieren. Dadurch konnten wir am 8.März 2007 mit einer Sonderausgabe zum InternationalenFrauentag wieder mit der Herausgabe unserer Zeitung begin-nen. Seitdem erscheint unsere Zeitung ohne Unterbrechungalle zwei Wochen. Es ist die einzige intellektuelle Frauenzei-tung, die hier zweiwöchentlich erscheint und wir haben dasZiel, unsere Zeitung künftig wöchentlich herausbringen zukönnen. Es gibt andere Frauenzeitschriften, die monatlicherscheinen, oder allgemeine Wochenzeitungen, aber keineFrauenwochenzeitungen.

Wie haben Sie es geschafft, die finanziellen Problemeder Zeitung zu lösen? Wie wird die Zeitung verkauft?

Die Frauenorganisation hat unsere Arbeit mit besonderenProjekten unterstützt, aber auch ihre eigene Organisierungverbreitern können, womit auch das Interesse an unserer Zei-tung gestiegen ist und wir eine größere Leserinnenschaft hin-zugewonnen haben. Die Zeitung wird in einigen Geschäftenund an Schulen verkauft. Aber die meisten Zeitungen werdendurch Aktivistinnen der Frauenorganisation per Hand verteiltund verkauft. An einigen Orten läuft das sehr gut, an anderenOrten – wo die Frauen weniger finanzielle Mittel haben – wirddie Zeitung auch unentgeltlich weitergegeben. Aufgrundunserer begrenzten finanziellen Mittel hat unsere Zeitung eineAuflage von 1 000 Stück.

Von welchen Frauen wird die Truska vorrangig gelesen?Sind das Frauen aus einer bestimmten Schicht, sind esStudentinnen?

Unser Prinzip ist es nicht, die Menschen aus den reichenSchichten zu erreichen, auf die sich eh alle stürzen. Es geht unsvielmehr um die Frauen, die irgendwo in den Ecken zurück -geblieben sind, die Fähigkeiten haben, die niemand kennt.Wir möchten diese Frauen erreichen und ihnen Anstöße dazugeben, ihre Fähigkeiten zu erkennen und sich mitzuteilen. Ichkann sagen, dass die Truska die Stimme der Frauen ist, diekaum Möglichkeiten besitzen, sich politisch zu engagieren.Wir versuchen, wichtige und tiefgehende Inhalte mit einereinfachen Sprache zu vermitteln, so dass Frauen aus allen Tei-len der Gesellschaft sich informieren und weiterbilden kön-nen. Des Weiteren verteilen wir unsere Zeitung an alle Frauen -organisationen und -einrichtungen sowie an die Bibliothekender Universitäten.

In welchen Gebieten wird die Zeitung verteilt?

Die gesamte Zeitung erscheint in Soranî und wird in denGebieten verteilt, in denen hauptsächlich Soranî gesprochenwird, wie z. B. Hewler, Diyana, Süleymania, Germiyan, Qala-dize, Kerkuk. In Gebieten wie Duhok, wo schwerpunktmäßig

Truska, eine Frauenzeitung in Südkurdistan

Funke des Feuers für die Aufklärung der FrauenInterview mit Narin Feteh, Redaktionsmitglied der Frauenzeitung Truska, Oktober 2010

Narin Feteh Foto: Truska

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Kurmancî gesprochen wird, können wir kaum Frauen errei-chen.

Was bedeutet Truska?

Funke – sie ist ein Funke des Feuers für die Aufklärung derFrauen. Aus diesem Grund haben wir den Namen gewählt.

Was sind die Hauptinhalte von Truska? Gibt esbestimmte Themenseiten?

Die Truska umfasst 8 Seiten. Ein Teil sind aktuelle und auchinternationale Frauennachrichten. Nachrichten darüber, wasin den letzten 15 Tagen auf der Welt aus Frauensicht Wichti-ges passiert ist, jedes Ereignis, jeder Schritt, der für Frauen vonBedeutung sein und ihnen neue Anstöße geben könnte. Wei-ter geht es um Politik und nationale Themen, wobei die natio-nale Frage, d. h. die Lösung der kurdischen Frage, für unsimmer noch ein sehr grundlegender Widerspruch ist. Gesell-schaft und deren Probleme und Entwicklungen, Kunst, Kul-

tur, Natur und Gesundheit sind Themen. Histori-sche Frauenpersönlichkeiten werden vorgestellt.

Weiter geht es um Probleme, die Frauen in derGesellschaft erleben. Die Seite „Gedanken undZuhause“ lädt alle Frauen ein, ihre Gedanken, egalzu welchem Thema, aufzuschreiben. Und eineunserer Seiten heißt „verloren gegangene Nach-richten“. Dort wird über aktuelle Kampagnen vonFrauenbewegungen berichtet, wie z. B. derzeitüber die Kampagne gegen die Vergewaltigungskul-tur: „Unser Freiheitskampf wird die Vergewalti-gungskultur überwinden!“ Außerdem gibt es„ungewöhnliche“ Nachrichten Frauen betreffend,wie neue Ergebnisse archäologischer Ausgrabun-gen oder etwas über das Leben von Göttinnen.

In jeder Ausgabe setzen wir einen anderen The-menschwerpunkt. Das kann ein Interview miteiner Künstlerin, mit einer Politikerin oder mitAktivistinnen in zivilgesellschaftlichen Organisa-tionen sein.

Wie sieht die Beteiligung Eurer Leserinnenan der Zeitungsarbeit aus?

Seit Anfang an beteiligen sich viele Frauenehrenamtlich an unseren Arbeiten. In allen Städtengibt es Frauen als regionale Vertretung unserer Zei-tung. Anfangs war es schwer, Schreiberinnen zufinden. Aber sowohl quantitativ als auch qualitativkonnten wir unsere Autorinnengruppe verbessern.Es geht uns dabei darum, die gedankliche Stärkeund die Ausdruckskraft von Frauen zu fördern. Esgibt zum Beispiel einige Autorinnen, die anfangsqualitativ sehr schwache Artikel geschriebenhaben, die aber jetzt die Ereignisse auf eine solchstarke Weise interpretieren, wie es häufig langjähri-

gen Politikerinnen noch nicht einmal gelingt. Einer unsererErfolge ist es, dass wir durch die Zeitung das Interesse vonFrauen am Lesen und Schreiben geweckt haben und sieAnsporn bekommen haben, ihre Fähigkeiten in diesemBereich zu erweitern.

Wer ist in der Redaktion der Truska? Sind das vorran-gig Schriftstellerinnen und Akademikerinnen?

Wir haben diesbezüglich keine Grenze gesetzt, weil es einesunserer Ziele war, gegenüber dem patriarchalen System undden herrschenden Medien eine alternative Frauenpresse aufzu-bauen. In der herrschenden Presse z. B. müssen JournalistIn-nen bestimmte Schulabschlüsse und Diplome vorweisen. Aberdadurch wird die Informationsvielfalt eingeschränkt. Wirbeziehen Frauen aus allen Gesellschaftsschichten in unsereZeitungsarbeit mit ein – Hausfrauen, einige davon haben nurdie Grundschule besucht, Universitätsprofessorinnen oderStudentinnen.

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Eine Ausgabe der Truska

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Seid Ihr als eine alternative Frauenzeitung, die sich kri-tisch mit vielen Themen auseinandersetzt, seitens derMänner oder seitens des Staates mit Angriffen konfron-tiert gewesen?

Wir haben einen offiziellen Status, der uns diese Arbeitenermöglicht. Zwar haben einige Behörden Informationen überuns eingeholt, aber mit ernsthaften Hindernissen seitens desStaates waren wir noch nicht konfrontiert.

Im Unterschied zu den anderen Frauenzeitungen haben wiruns von Anfang an dagegen entschieden, Beiträge von Män-nern zu veröffentlichen. Das wurde von einigen als feministi-sche Haltung bewertet. Einige Männer meinten, wir würdenMänner diskriminieren und seien nicht in der Lage, alle The-men abzudecken, und dass wir die Zeitung nach kurzer Zeitwieder einstellen müssten, wenn wir uns nur auf Beiträge vonFrauen verlassen würden. Aber mit unserer dreijährigen Praxishaben wir bewiesen, dass diese anfänglichen Behauptungenvon Männern gegenstandslos waren.

Gibt es Themen, die Ihr aufgrund gesellschaftlicheroder politischer Tabus nicht in dem Umfang behandelnkönnt, wie Ihr gerne wolltet?

Bislang haben wir uns in unseren Beiträgen immer darumbemüht, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Einige Stu-dentinnen meinten, dass sie erstaunt sind, dass die Zeitungtrotz ihrer radikalen Sprache bislang nicht geschlossen wurde.Aber als eine alternative Frauenzeitung dürfen wir nicht davorzurückschrecken, die Wahrheit zu sagen. Es ist ein Ziel unse-res Frauenfreiheitskampfes, unsere Probleme und Forderungenmutig zur Diskussion stellen zu können. Wenn wir die Situa-tion der Frauen nicht auf radikale Weise analysieren, könnenwir die herrschenden Verhältnisse nicht verändern.

Wenn wir die Statistiken über das große Ausmaß anGewalt gegen Frauen ansehen oder uns tagtäglichNachrichten über Morde an Frauen erreichen, kanndies auch eine lähmende Wirkung haben. Wie behan-delt Ihr vor diesem Hintergrund das Thema Gewaltgegen Frauen?

Die Anzahl von Frauenmorden, Frauenselbstmorden undSelbstverbrennungen ist hier in der Region um ein deutlicheshöher als in anderen Teilen Kurdistans. Wenn wir über dieseVorfälle in unserer Zeitung berichten, dann um den Kampfvon Frauen gegen patriarchale Gewalt zu stärken. Hierbeimüssen wir die gesellschaftlichen Ursachen richtig darstellen.Zum Beispiel wird häufig behauptet, junge Frauen hätten sichselbst verbrannt. Doch in Wirklichkeit sind viele dieser Vorfäl-le Morde, die unter dem Vorwand der „Familienehre“ began-gen werden. Juristische Ermittlungen bei als Selbstmordegetarnten Frauenmorden gibt es nicht, sie bleiben straffrei. Esist ein harter Kampf. Du musst zugleich gegen die patriarcha-len Geistesstrukturen und die feudale Stammesmentalitätankämpfen. Seitens der Polizei werden solche Vorfälle meistensgedeckt.

In der Gesellschaft werden immer noch alle Probleme ver-tuscht, die durch patriarchale Herrschaft und Mentalität ver-ursacht wurden. Diejenigen, die regieren, sind Männer; dieje-nigen, die Frauen töten, sind Männer; diejenigen, die Frauenunterdrücken, sind Männer; und auch diejenigen, die das allesvertuschen wollen, sind Männer. Gegenüber dieser Realitätwerden dir manchmal vollständig die Handlungsmöglichkei-ten genommen. Nur mit einem richtigen Bewusstsein ist esmöglich, dem etwas entgegenzusetzen. Wir wollen durch dieZeitung zu dieser Bewusstseinsbildung beitragen. Wir versu-chen, den Frauen beizubringen, dass Selbstmorde keineLösung sind. Im Gegenteil, zur Lösung dieser Probleme ist esnötig, dass Frauen leben und gemeinsam kämpfen.

Welchen Platz und welche Rolle hat in Eurer Zeitungder Widerstand von Frauen?

Als kurdische Frauen besitzen wir ein langes geschichtlichesErbe und eine Tradition des Widerstandes. Auf diese Traditionbeziehen wir uns in unserer Arbeit. Beispiele wie Leyla Qasim,wie die Freiheitskämpferinnen Zilan oder Viyan haben wir vorAugen. Tausende kurdische Frauen und Mädchen sind heutein den Bergen Kurdistans, sie leisten Widerstand gegen dieharten Bedingungen und Angriffe. Ich meine, dass Frauen ausaller Welt von diesem Widerstand und Freiheitskampf der kur-dischen Frauen etwas lernen können, was auch für die Ent-wicklung von Kämpfen in anderen Teilen der Welt von Nut-zen sein kann. Frauen leisten tagtäglich lebendigen Wider-stand. Das ist die Hauptquelle unserer Arbeit.

Welche Art von Unterstützung und Solidarität erwartetIhr von Frauen aus Kurdistan und anderen Teilen derWelt?

Meiner Meinung nach gibt es etwas, was Frauen aus allenLändern miteinander verbindet: Das sind die Schmerzen, diesie aufgrund ihres Frauseins, ihrer Frauenidentität erleben. Imübertragenen Sinne könnten wir Frauen als eine weltweitunterdrückte Nation bezeichnen, deren Rechte mit Füßengetreten werden. Oder wir könnten Frauen auch als eineunterdrückte Klasse bezeichnen. Aufgrund dessen haben Frau-en gemeinsame Probleme. Deshalb können wir einen gemein-samen Aufruf an alle Frauen starten, der lautet, dass wir unsereideellen und materiellen Werte noch mehr miteinander teilenund eine gemeinsame Identität als Frauen erreichen müssen.Vielleicht bin ich eine kurdische Frau, aber vor meinem Kur-dischsein bin ich zuerst eine Frau. Auf der Grundlage diesesBewusstseins bewege ich mich und rufe auch andere Frauenauf, unsere Gemeinsamkeiten mehr in den Vordergrund zustellen. Mit dem Aufbau unserer Einheit unter Frauen wird esuns auch gelingen, das patriarchale System und seine Gewalt-strukturen zu überwinden. In diesem Rahmen unterstütze ichden Aufruf des Hohen Rates Kurdischer Frauen (KJB) für diegemeinsame Organisierung eines Weltfrauenkongresses undrufe Frauen aus aller Welt auf, sich in diesen Prozess einzu-bringen. Auf diese Weise wird es uns gelingen, uns gemeinsamfür die Lösung unserer Probleme einzusetzen. t

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Kurdisches Frauenbüro für Frieden – Cenî e. V.Corneliusstr. 125, D-40215 Düsseldorf

tel. +49 (0) 211 59 89 251, fax: +49 (0) 211 59 89 253E-mail: [email protected], www.ceni-kurdistan.com

Aufruf zur Beteiligung an der Weltfrauenkonferenz in Venezuela

„Die Zeit ist reif für einen neuen Aufbruch der internationalen Frauenbewegung!“ Unter diesem Motto wird zwischen dem 4.und 8. März 2011 die Weltkonferenz der Basisfrauen in Caracas/Venezuela stattfinden.

Als kurdische Frauen beteiligen wir uns an dieser Konferenz mit dem Ziel, unsere Erfahrungen und Standpunkte in diesen Pro-zess hineinzutragen, sowie durch den Austausch unter Frauenbewegungen und Aktivistinnen gemeinsam die Stärke für einenneuen Aufbruch im weltweiten Frauenbefreiungskampf zu gewinnen. Um unserer Sehnsucht nach einem Leben frei von Unter-drückung und Ausbeutung näherzukommen, ist es wichtig, die unterschiedlichen Realitäten und Bedürfnisse von Frauen ausverschiedenen Ländern besser kennenzulernen und gemeinsame Perspektiven für unseren Kampf um Frieden und Freiheit zuentwickeln. Deshalb sehen wir einen offenen und gleichberechtigten Austausch als eine Vorraussetzung dafür, Alternativen zumherrschenden patriarchalen, kapitalistischen Herrschaftssystem aufbauen zu können.

Die kurdische Frauenbewegung hat in den vergangenen fünfzehn Jahren immer wieder neue Anstöße dazu gegeben, den Frau-enbefreiungskampf als einen universellen und internationalistischen Kampf zu organisieren. Zugleich hat sie am Aufbau vondemokratisch-ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaftsperspektiven mitgewirkt. Hierzu gehörten auch der Entwurffür einen neuen Gesellschaftsvertrag sowie der Aufruf zur Organisierung eines Weltfrauenkongresses, der parallel zum Gedan-ken der Weltfrauenkonferenz der Basisfrauen in Venezuela entstand. Aus der Überzeugung, dass die internationale Vernetzungund Stärkung von Frauenkämpfen eine dringende Notwendigkeit sind, haben wir als kurdische Frauen uns dazu entschlossen,unsere Positionen und Erfahrungen in den Vorbereitungsprozess für die Frauenkonferenz in Venezuela einzubringen. Hierbeiwar es für uns ein grundlegendes Prinzip, dass die Rechte und Freiheiten von Frauen, d. h. unser organisierter Kampf gegenSexismus und jegliche Form von Ausbeutung, nicht allgemeinpolitischen oder anderweitigen Interessen geopfert werden dürfen.

Im Rahmen dieser Zielsetzung hat sich das Kurdische Frauenbüro für Frieden – CENÎ e. V. aktiv an den Arbeiten des Vorberei-tungskomitees der Weltfrauenkonferenz seit dessen Gründung im Jahr 2008 beteiligt. Während dieses Vorbereitungsprozesseshaben wir einerseits produktive Auseinandersetzungen führen und auf gemeinsame Perspektiven hinarbeiten können. Anderer-seits haben wir aber auch erlebt, dass es nicht immer leicht ist, einen gleichberechtigten Dialog und einen offenen, solidarischenUmgang unter verschiedenen Frauen/-organisationen zu realisieren. Jedoch war und ist es uns wichtig, unsere Kritiken undAnsichten auszutauschen und darüber den Weg für neue Entwicklungen zu ebnen, anstatt uns nur gegenseitig zu bestätigen, unsmiteinander zu „arrangieren“ oder auf Distanz zu gehen. Wenn wir hierarchisches Denken und dominante Herangehensweisenunter Frauen überwinden wollen, dann sind kritische und selbstkritische Reflexionen zum Entstehen eines gemeinsamen Pro-zesses notwendig.

Vor diesem Hintergrund wollen wir uns als kurdische Frauen aus allen vier Teilen Kurdistans und dem Exil gemeinsam mitFreundinnen der kurdischen Frauenbewegung an der Weltfrauenkonferenz in Venezuela beteiligen. Wir möchten unsere Mei-nungen und Erfahrungen bei der Generalversammlung sowie in den Diskussionsforen zu verschiedenen Themenbereichen ein-bringen. Deshalb rufen wir zu einer starken Beteiligung an der Weltkonferenz der Basisfrauen in Venezuela auf und laden alleinteressierten Frauen aus unserem Umfeld ein, zwecks weiterer Planungen mit uns Kontakt aufzunehmen.

Der weltweite Frauenkampf und unsere Organisierung werden die Vergewaltigungskultur überwinden!

Internationale Frauensolidarität für ein freies Leben in einer freien Gesellschaft und einer freien Welt!

Kurdisches Frauenbüro für Frieden – CENÎ e. V.Dezember 2010

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 2011 45

Was ist Freiheit? Wie ist dieser Begriff zu definieren? Lebeich in Freiheit? Natürlich wird jeder Mensch diese Fra-

gen aufgrund der individuellen Situation und der Lebensum-stände entsprechend anders beantworten, beispielsweise „Ichlebe in Freiheit, da ich mich frei bewegen kann“, oder „Ichkann meine Meinung frei äußern und nach freiheitlichenPrinzipien leben“. Und wie ist es mit einem Menschen hinterGittern oder einem, dem jegliche freiheitlichen Rechte entzo-gen wurden? Diese Menschen versuchen sich ihre Freiheit neuzu definieren, das heißt, dass sie sich Wege suchen, um in derUnfreiheit die Freiheit zu finden. In den Gefängnissen, wo dieFreiheit in Ketten liegt, wird die Freiheit zu schreiben ent -deckt. Dies heißt wiederum, dass man durch das SchreibenGefühle, Gedanken, Meinungen und Hoffnungen zu Wortbringen kann. Die Freiheit findet sich in den gedichteten Ver-sen und Geschichten wieder. Die Sehnsucht nach Freiheitwird so durch die Freiheit zu schreiben gestillt.

Wir, der Verband der Studierenden aus Kurdistan e. V.(Yekîtiya Xwendekarên Kurdistan – YXK), organisieren all-jährlich seit 1993 zum Andenken an unseren Ehrenvorsitzen-den Hüseyin Çelebi einen Literaturwettbewerb. Im Zuge des-sen können auch Genossinnen und Genossen aus den Gefäng-nissen in Kurdistan und der Türkei am Wettbewerb teilneh-men. Dies bietet ihnen die Möglichkeit, ihre Gedichte undGeschichten an die Öffentlichkeit zu bringen. Die Stimmender Gefangenen erreichen uns in literarischer Form und ver-mitteln uns ihre Gefühle, Gedanken und Sehnsüchte. Für unsist dieser Aspekt natürlich ein besonderes Merkmal der Litera-turveranstaltung, denn so kann die Absicht der Isolation inden Gefängnissen gebrochen werden. Ihr starker Wille undihre Widerstandskraft geben uns wiederum die Kraft, diegemeinsamen Ziele und Bestrebungen nach Freiheit fortzu-führen. Unsere Genossinnen und Genossen in den Gefängnis-sen beweisen, dass die Gedanken und Wünsche eines Men-schen niemals in Ketten gelegt werden können. Den freiheit-lichen Kern in uns zu entdecken, zu bewahren und zu schüt-zen und diesen nach außen zu vermitteln, entfaltet erst diegemeinsame Freiheit. Ein einzelner Mensch kann nicht fürsich allein die Freiheit erlangen, sondern erst, wenn die Bedin-gungen für ein freies Leben für alle erfüllt werden, kann auchein Einzelner frei sein. Für ein solches Leben muss gekämpftwerden und der Wunsch nach Freiheit nach außen getragenwerden. Die Gefangenen führen ihren Kampf auch in den

Gefängnissen in verschiedenster Form weiter. So kann durchdie Teilnahme an der Literaturveranstaltung ebenfalls ihreStimme nach außen hin ertönen und eine Brücke zwischenihnen und uns gebaut werden. Mit großer Aufregung werdenjedes Jahr die Briefe aus den verschiedenen Gefängnissengeöffnet: Auffallend bei diesen Briefen ist meist die fein säu-berliche Schrift der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die dieMühe und Sorgfalt der Arbeit sehr gut verdeutlicht. Zu denAusgezeichneten gehören ebenfalls jedes Jahr Teilnehmerinnenund Teilnehmer aus den Gefängnissen.

Auch unser Ehrenvorsitzender Hüseyin Çelebi schriebGedichte. Aufgrund seiner politischen Ansichten und Akti-vitäten war er selbst im Gefängnis in Deutschland. Ein wert-voller Mensch, der in seinem Handeln stets an alle seine Mit-menschen dachte, wurde eingesperrt. Doch damit ließ er sichnicht abschrecken und hielt den Kontakt zur Gesellschaft,indem er Briefe schrieb – die Freiheit zu schreiben.

Mit 23 Jahren ist Hüseyin während des Südkriegs, den dietürkische Armee mit Hilfe der südkurdischen Parteien führte,am 11. Oktober 1992 gefallen. Der junge Hüseyin gilt als Vor-bild seiner Generation. Dies ist auch heute noch so, denn erist auch ein Vorbild unserer Generation. Seine vielfältigenEigenschaften zeichnen seinen besonderen Charakter aus. Erwar nicht nur ein Militanter, sondern auch ein Diplomat,Internationalist, Lyriker und Revolutionär. Um das Andenkenan Hüseyin und alle Gefallenen aufrechtzuerhalten und ihmgerecht zu werden, versprechen wir, dass wir uns stets weiter-entwickeln und bemühen werden. Wir werden dem Weg, densie eingeschlagen haben, folgen und niemals ausweichen.

Zum 18. Mal fand nun am 6. November 2010 die Hüse -yin-Çelebi-Literaturveranstaltung in Stuttgart statt. Diese Ver-anstaltung stellt mittlerweile sowohl qualitativ als auch quan-titativ die bedeutendste kurdische Literaturveranstaltung dar,welche ausschließlich von Seiten Studierender organisiertwird. So wurde die wertvolle Tradition auch in diesem Jahrfortgeführt. Die diesjährigen 28 Preisträgerinnen und Preisträ-ger wurden auf der Veranstaltung bekannt gegeben. Im Zugedieser Preisverleihung fand auch in diesem Jahr ein interessan-tes Vorprogramm statt, das Seminare zu literarischen Themenbeinhaltete. Auch dieses Mal wurde ein Aspekt besonders her-vorgehoben: In Dimilkî (Kirmanckî), einem Dialekt des Kur-

Die 18. Hüseyin-Çelebi-Literaturveranstaltung in Stuttgart

Die Freiheit zu schreiben

Cane Zerey, Vorbereitungskomitee

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 201146

dischen, wurde im Vorprogramm ein Semi-nar gehalten. Im Bühnenprogramm wurdedies unter anderem durch die musikalischeDarbietung betont. Nach dem Vorpro-gramm folgte, neben der feierlichen Über-gabe der Auszeichnungen, das reich be -stück te musikalische und literarische Büh-nenprogramm.

Die Preisträgerinnen und Preisträger

Kategorie Gedicht Kurmancî:1. „Neftelîn“ – Bawer Rûken2. „Dendikfiroş“ – İnan Eroğlu3. „Yezdan Wenda Ye“ – Bedran DereLobende Erwähnung:1. „Çavên Xewna Min“ – Ehmed Ronîar2. „Kê Diya Min Kuşt?“ – Mahmud Baran3. „Dawiya Hêviya Sibê“ – Huseyîn Koçuk

Kategorie Erzählung Kurmancî:1. Welat Esen2. Janbiyan Ar; Zero Perîxanî3. Semra Çelebî; Loqman BudakLobende Erwähnung:1. Ayten Ökmen Uluca2. Kemal Demirbaş3. Jan Zıryan; M. Emin Sırça

Kategorie Gedicht und Erzählung Dimilkî(Kirmanckî):1. „Xatir“ – Ali Aydın Çiçek2. „Mi Xo Kişt“ – Lerzan Jandil3. „Gula Dila“ – Tevfik Kalkan; „Resmê To“ – Sinan SütpakLobende Erwähnung:„Pelweyê Vewre Bermayêne“ – Sinan Süt-pak (Erzählung)

Kategorie Gedicht Türkisch:1. Hasan Polat2. Ömer Besim Yaviç3. Hüseyin K. Baykuş; Abdürrezzak Gül-mez

Kategorie Erzählung Türkisch:1. „Annemin Tavukları“ – Naif Bal2. „Duvardaki Silah“ – Hüseyin Bul3. „Geride Bıraktıkları“ – Umut BeyazLobende Erwähnung:„Önemli Misafir“ – Deniz Faruk Zeren

Jury:Gedicht Kurdisch (Kurmancî): Kawa Nemir, Jan Dêran, YeqînH.Gedicht Türkisch: Şükrü Erbaş, Aydın Şimşek, Emel İrtemErzählung Kurdisch (Kurmancî): Lorîn S. Doxan, Mehmet

Dîcle, Mîran JanbarErzählung Türkisch: Ethem Baran, Ömer Leventoğlu,Abdullah AtaşçıGedicht und Erzählung Kurdisch (Kirmanckî): Roşan Lezgîn,İlhami Sertkaya t

Mobilisierungsplakat für die 18. Hüseyin-Çelebi-Literaturveranstaltung in Stuttgarthttp://www.yxk-online.de

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Kurdistan Report 153 / Januar – Februar 2011 47

In den letzten drei bis vier Monaten hat sich viel rund um dasseit Jahren heftig umstrittene Ilısu-Staudamm- und Wasser-

kraftwerkprojekt am Tigris getan. Dieses destruktive Projekt inden kurdischen Provinzen ist nicht von der Tagesordnunggestrichen worden, wie es einige erwartet oder gar gehofft hat-ten. Aber der Widerstand der Betroffenen geht weiter, ohnedie Hoffnung auf die Verhinderung des Projekts zu verlieren.

Seit März 2010 wird im Dorf Ilısu rund um die Uhr gebaut.Der Staat will das für ihn zum Prestige erhobene Projekt umjeden Preis durchsetzen, denn mit diesem Staudamm würdenmehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden. In ersterLinie geht es tatsächlich um die Großmachtpolitik im Mittle-ren Osten, wo das aufgestaute Wasser als Waffe und Ware ein-gesetzt werden soll. Hinzu kommt als zweites strategisches Zieldie Fortführung der Assimilation der kurdischen Bevölkerung.Ein weiterer sehr wichtiger Grund ist der Profit für das Kapi-tal durch die intensive Ausbeutung der natürlichenRessourcen. Damit eng verknüpft ist die Korruption, d. h. dieSelbstbedienung der politischen Eliten in der Republik Türkeials eine weitere Ursache für das Beharren des Staates. Nichtganz unbedeutend ist die Stromproduktion, auch wenn siesehr teuer (aus Sicht der Kapitalinvestition und natürlich inAnbetracht der katastrophalen sozialen und ökologischenKosten) zu erstehen ist.

In diesem Sinne ist der türkische Ministerpräsident Erdoğanam 31. Oktober 2010 höchstpersönlich nach Ilısu gefahren,um die amtliche Schlüsselübergabe für das kürzlich fertigge-stellte Dorf Neu-Ilısu durchzuführen. Er wollte es sich nichtentgehen lassen, den Menschen der Region zu zeigen, wie sehrdie Regierung auf der Realisierung dieses Projekt besteht. Ineiner großen öffentlichen Show übergab er persönlich vielenFamilien den Schlüssel. Die Menschen von Ilısu wollen abergar nicht in die neuen Häuser, weshalb sie alle dem Minister-präsidenten persönlich bei dieser Schlüsselvergabe einen Briefübergaben. Die neu gebauten Häuser sehen auf den Fotosnicht schlecht aus, haben sogar eine grüne Wiese! Was für eineIrrationalität, denn um diese Jahreszeit sind alle Wiesen längstausgetrocknet und die Ästhetik der dortigen Landschaft liegtin der Kombination von Wäldern, Bergen, Felsen, Obstgärtenund dem Tigris. Außerdem ist immer noch unklar, welcheEinkommen die Menschen in Zukunft haben werden. Dass sieverschuldet in die neuen Häuser einziehen müssen, sollte

bekannt sein. Dass alles jedoch wird allerdings nicht in denbürgerlichen türkischen Medien erwähnt.

In seiner Rede bei dieser Schlüsselübergabe zeigte Erdoğan,wie diese Regierung in gefährlicher Weise versucht, dieAktivis tInnen, die aktiv gegen diese zerstörerischen Projektearbeiten, zu diffamieren. Am gleichen Tag explodierte in Istan-bul auf dem bekannten Taksim-Platz eine Bombe. Erdoğanbrachte diesen Anschlag in Verbindung mit den Gegnern desIlısu-Projektes. Denn er ließ verlauten, dass die Bombenlegergegen die Entwicklung des Landes und gegen Projekte wie die-ses Großprojekt wären. Da hinter muss schon Verrücktheitund böseste Absicht stecken, um solche Verbindungen herzu-stellen. Die Initiative zur Rettung von Hasankeyf denkt, dasser diese Aussage getroffen hat, weil der Widerstand gegen dasIlısu-Projekt weitergeführt wird. Erst zwei Wochen zuvor, warein erfolgreiches Hasankeyf-Solidaritätscamp durchgeführtworden.

Vom 11. bis 17. Oktober 2010 wurde in Heskîf (Hasan-keyf ) ein solches Camp zum ersten Mal organisiert, um dieAblehnung des Ilısu-Projekts und den ungebrochenen Wider-standswillen der Bevölkerung und der Öffentlichkeit deutlichzu zeigen. Es war ein Camp, an dem Menschen aus den umlie-genden Städten, AktivistInnen von staudammkritischenBewegungen aus der ganzen Türkei, aus anderen Ländern undnatürlich die Menschen aus Heskîf (Hasankeyf ) selbst sowieaus den umliegenden 5–6 Dörfern teilgenommen haben.Gerade die tägliche Teilnahme der Betroffenen – insbesondereabends – gab dem Camp eine besondere Bedeutung; es zeigte,wie sehr die lokalen Menschen verstehen, was hier passierensoll. Jeden Abend fanden sich mehrere hundert Menschen –auch dutzende Frauen aus Heskîf (Hasankeyf ), was unüblichist – bei kleinen Konzerten auf der gegenüberliegenden Seitevon Heskîf (Hasankeyf ) zusammen. In der Ortschaft selbst istdie Burg und das Gebiet darum herum nach wie vor seit Juli2010 gesperrt, was den Tourismus fast zum Erliegen gebrachthat. Die Einnahmen sind in diesem Jahr drastisch zurückge-gangen. Und keine 1,5 km entfernt wird an Neu-Hasankeyfdurch den Staat gebaut, was den Zorn der Menschen nochmehr erregt.

Teil des Austausches von Ideen und Erfahrungen der Teil-nehmerInnen waren Podiumsdiskussionen, Aktionen des zivi-len Ungehorsams, Konzerte, Wettbewerbe, Theaterperforman-ces und Tanzshows. Trotz des zeitweilig schlechten Wettersund der begrenzten Ressourcen war das Camp erfolgreich.

2011 wird richtungsweisend für Wassergroßprojekte in Kurdistan

Solidarität mit den Menschen im Tigristal!Ercan Ayboğa, Initiative zur Rettung von Hasankeyf, Dezember 2010

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Diese Erfahrung hat den Willen für weitere Solidaritäts- undWiderstandscamps verstärkt.

Das Camp war notwendig, um den Widerstand gegen denIlısu-Staudamm in 2011 auf eine höhere Stufe bringen zukönnen. Es schaffte ein Bewusstsein, dass direkte Aktionen derBetroffenen notwendig sind und dass die Menschen in denumliegenden Städten ihre aktiven UnterstützerInnen sind.Auch sollte die Kampagne gegen den Ilısu-Staudamm als einesoziale Bewegung verstanden werden. Ansonsten ist derKampf nicht zu gewinnen. Nur in erster Linie direkt Betroffe-ne als Hauptagitatoren haben die notwendige Kraft, dauerhaftund mit dem notwendigen Beharren den Stopp dieser zerstö-rerischen Projekte zu erzwingen. In diese Richtung entwickeltsich die Initiative, doch vor uns liegt noch ein langer Weg.Wenn sich tausende, zehntausende Menschen auf dem Landfür die Verteidigung ihres Lebens und ihrer natürlichenRessourcen organisieren, können sie im ganzen Land eine sozi-ale und ökologische Bewusstseinsveränderung anstoßen. EinBewusstsein, dass das vorhandene Wachstumsmodell im Staatin Frage stellt. Denn dieses Wachstumsmodell versteht die vor-handenen Ressourcen nur zur maximalen Ausbeutung, es willdie im Wege stehenden Menschen vertreiben, die kulturellenVerschiedenheiten assimilieren und die Widerstandsbewegun-gen vernichten. Was übrig bleiben wird, ist ein Planet, der fürweite Teile der Bevölkerung unbewohnbar gemacht wird.

Währenddessen bemüht sich die Initiative zur Rettung vonHasankeyf weiterhin um den Aufbau eines funktionierenden

Netzwerks auf Türkeiebene. Das im März 2010 ins Lebengerufene River Movements läuft nicht wie geplant, weil einigeGruppen sich entweder in der Wasserplattform oder dem Was-serparlament engagieren oder weil einige die Notwendigkeitdafür nicht sehen. Diese beiden Bündnisse, die von mehrerenNGOs und politischen Gruppen dominiert werden, sind ent-weder zu ideologisch-nationalistisch oder politisch liberal undsehr kompromissbereit. Es ist anzunehmen, dass die beidenBündnisse die staudammkritischen Bewegungen für ihre poli-tischen Ziele instrumentalisieren. Wichtig ist, dass die stau-dammkritischen Bewegungen auf ihre Kraft vertrauen undsich untereinander vernetzen, worum sich einige staudamm-kritische Gruppen außerhalb dieser beiden hierarchisch aufge-bauten Bündnisse bemühen. Dieser schwierige Prozess wirdallerdings noch eine erhebliche Zeit in Anspruch nehmen,doch letztendlich erfolgreich sein. Gleichzeitig bemüht sichdie Initiative zur Rettung von Hasankeyf, die Bewegungen inden kurdischen Provinzen näher zusammenzubringen. Nebenden bekannten Bewegungen in Heskîf-Tigris, Dersim-Mun-zur, Cizîr-Tigris und Colemêrg-Zap gibt es keine Proteste,obwohl überall gebaut wird. Zuletzt wurde auf dem Botan-Fluss ein Staudamm errichtet, mit verheerenden Folgen. Dasam 29. und 30. Januar 2011 in Amed (Diyarbakır) geplanteÖkologieforum wird für eine Vertiefung der Diskussion einenweiteren Raum eröffnen.

Parallel zu diesen Netzwerkaktivitäten gehen die internatio-nalen Beziehungen weiter. Drei AktivistInnen der Initiativezur Rettung von Hasankeyf nahmen am 3. InternationalenTreffen von Staudammbetroffenen und Verbündeten in Mexi-co im Oktober 2010 teil. Die Initiative organisierte die Teil-nahme aus dem Mittleren Osten zu diesem wichtigen alle 6–7Jahre stattfindenden Treffen. Dieses Treffen war eine guteGelegenheit zum Aufbau neuer Kontakte sowie zum Aus-tausch von Erfahrungen beim Kampf gegen zerstörerischeStaudämme und zum Schöpfen neuer Kraft im eigenenWiderstand. Dieses Treffen fand in dem Dorf Temacapulinstatt, das von einem im Bau befindlichen Staudamm bedrohtist. Hier haben wir eine ähnliche Situation wie im Tigristal.Trotz einer jahrelangen Kampagne wird dort weitergebaut.Wir konnten mit eigenen Augen sehen, wie alle Menschen vonTemacapulin sich beherzt und aktiv für ihr Dorf einsetzen.Der Ilısu-Staudamm war eines der am meisten behandeltenProjekte bei diesem 6-tägigen Treffen mit 320 AktivistInnen.Nähere Informationen zu diesem Treffen sind auf der Inter-netseite http://www.internationalrivers.org/en/riversforlife3zu finden.

Eine weitere wichtige Aktivität war das Internationale Was-serrechtssymposium am 5. und 6. November in Amed(Diyarbakır). Organisiert wurde es von der Wasserrechtskam-pagne (Su Hakki Kampanyasi, www.suhakki.org), die mit unsgemeinsam Anfang 2010 ins Leben gerufen wurde. Sie setztsich gegen die Privatisierung von Wasserdienstleistungen und-ressourcen ein. Es ist die Nachfolgekampagne der „AnotherWater Management is Possible“ Kampagne, die im März 2009das Alternative Wasserforum organisierte. Das SymposiumProtest der Studierenden der Dicle-Universität in Heskîf Foto: Ayboğa

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wurde zusammen mit DISKI, der Wasser-behörde der Stadt Amed (Diyarbakır), aufdie Beine gestellt. Neben der Entwicklungdes Bewusstseins für das Lebensrecht aufWasser sollten Alternativen für die kommu-nale Wasserbewirtschaftung herausgearbei-tet werden. Mit internationaler Beteiligung,u. a. mit Oscar Olivera aus Bolivien undVertretern von AEOPAS (Verein der Kom-munen und anderen Organisationen gegendie Privatisierung des Wassers) aus Spanien,wurde ein sehr informatives Symposiumorganisiert, in dem Staudämme immer wie-der im Zentrum standen. Große und zer-störerische Staudämme wurden kritisiertund stattdessen die Übertragung der Ver-antwortlichkeit für die Wasserressourcen andie Kommunen und zivilen Strukturen imjeweiligen Einzugsgebiet gefordert.

Schließlich fand am 18. November 2010im EU-Parlament eine Versammlung zuFlüssen und Staudämmen in der Türkeistatt, an der die Initiative zur Rettung vonHasankeyf und die Free Munzur Initiativeteilnahmen. VertreterInnen von acht stau-dammkritischen Bewegungen aus der Tür-kei waren anwesend. Sie machten klar, wiekatastrophal die Wasser- und Staudammpo-litik der Türkei ist, ohne zu große Hoff-nungen in die EU zu setzen. Sie machtendie EU darauf aufmerksam, dass sie in meh-reren Jahren ein Land mit tausenden gro-ßen und kleinen Staudämmen und ohnefrei fließende Flüsse aufnehmen würde,wenn die Türkei ihre Wasserprojekte reali-sieren könnte. Organisiert wurde diese Ver-sammlung von ECA Watch Österreich undeinigen EU-ParlamentarierInnen ange-sichts der Tatsache, dass seit einem Jahr dieEU in den Beitrittsverhandlungen mit derTürkei auch das Umweltkapitel – also auchWasser – behandelt.

Die Initiative zur Rettung von Hasankeyfwürde sich über jede Unterstützung für dievielen geplanten Aktivitäten im Jahre 2011freuen. Im Jahr 2011 wird sich vieles in die-ser Auseinandersetzung entscheiden. DieIlısu-Hasankeyf-Aktionskreise in Hamburg,Berlin und anderswo würden sich über eineaktive Teilnahme sehr freuen, denn auch inEuropa sind einige Aktionstage gegen dieIlısu- und die Munzur-Staudämme geplant.

Weitere Infos unter: www.hasankeyfgirisimi.comwww.stopilisu.com t

Aufruf zum Ökologie-Forum29.–30. Januar 2011, Amed (Diyarbakır)

Unsere Beziehung zur Natur ist von Beginn unserer Existenz an ein unver-meidbares Phänomen gewesen. Wir bedienen uns aus der Natur auch weiter-hin so lebensnotwendiger Dinge wie Ernährung, Unterkunft, Kleidung undder Luft, die wir atmen. Diese Natur, die so großzügig alle ihre Vorzüge mit uns geteilt hat, ist heut-zutage dabei, wegen grenzenloser Wünsche der Menschheit aufzugeben.Das bis jetzt vorherrschende ökonomische und politische System hat dieErde in einen unbewohnbaren Ort verwandelt. Die Bestrebungen und Wün-sche von KapitalistInnen degradierten Mensch und Natur zu wegwerfbarenWaren.In den Kriegen der Herrschenden um Hegemonie sind Mensch und Naturimmer die Ersten, die ausgeschaltet werden.Die wichtigsten Gründe für die seit Jahren anhaltenden Kriege im NahenOsten sind die Kämpfe um Macht und die Forderungen der Bevölkerungnach Anerkennung ihrer Vielfalt und daraus folgend ihrer Kontrolle überAusbeutung der natürlichen Ressourcen.Besonders häufig werden im Nahen Osten die Menschen für Wasser, Öl oderMineralienvorkommen vertrieben, wodurch sie in Abhängigkeit zummodernen globalen kapitalistischen System geraten.Zudem wird die vielfältige landwirtschaftliche Produktion durch Mono-und transgene Kulturen im Namen von „Effizienz“ ausgelöscht, und dieseZerstörung zeigt sich dann in sozialen sowie ökologischen, ökonomischenund kulturellen Aspekten.Das Ökosystem hat bereits seine Grenzen, die Zerstörungen zu verdauen,erreicht. Die globale Erwärmung ist einer der Indikatoren dieser Ermüdungund macht nun den reichen Herren Angst, die sagen: „Die Welt gehört mir!“Die Menschheit steht am Scheideweg.Um die Tore für neue Wahrnehmungen zu öffnen und ein Netz für diesenKampf zu weben, rufen wir an dieser Weggabelung alle Öko-AktivistInnen,Gruppen und Initiativen und Basisorganisationen, frei von Diskriminierungdurch Religion, Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht, zum Ökologie-Forum nach Amed (Diyarbakır) vom 29.–30. Januar 2011 auf.Außerdem grüßen und laden wir alle Bewegungen gegen das zerstörerischeSystem und die Globalisierung von Cochabamba bis zu den alternativenWasserforen, von den Bewegungen gegen Staudämme bis zu Organisationenfür Autonomie ein, am Ökologie-Forum teilzunehmen.

Themen-Achsen:Verwaltung der natürlichen Ressourcen und deren Verbrauch im NahenOsten.Suche nach einem sozialen System auf ökologischer und politischer Ebene:Erfahrungen und Widerstände.Nebenwirkungen von und Alternativen zu einer gentechnisch modifiziertenWelt: Ernährungssouveränität und transgene Organismen in Mesopotamien.Ökologische Diversität: Diversität der Menschen und der Natur (Biodiver-sität).Ursachen der ökologischen Krise und Ansätze für Auswege hieraus.Nachhaltige Städte (Öko-Städte) und alternative Technologien.

Kontakt- und Anmeldeadresse ist die Studiengruppe Ökologie des Mesopo-tamischen Sozialforums MSF: [email protected]

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Ruhig ist es um die Zapatisten geworden. Während noch bisvor sechs, sieben Jahren viele Linke in Deutschland und

Europa über die Bewegung der Zapatisten im mexikanischenBundesstaat Chiapas als eine Hoffnung gegen den erdrücken-den kapitalistischen Neoliberalismus gesprochen haben, ist esheute seltener der Fall. Die halbe Welt bewunderte die vor-wiegend indigenen Aktivisten der Zapatisten, wie sie sich miteinem Aufstand gegen die jahrhundertelange Vernichtung undAusgrenzung wehrten. Am 1. Januar 1994, dem Tag desInkrafttretens des Freihandelsabkommens NAFTA zwischenden USA, Kanada und Mexiko, nahmen sie sechs Städte inChiapas mit relativ einfacher Bewaffnung ein. Wie eineBombe schlug diese Aktion in den Weltnachrichten ein. DieKämpfe mit der mexikanischen Armee hörten wenige Tagespäter auf, was vor allem die Folge einer riesigen Solidaritäts-welle in Mexiko und weltweit war. Nach zwei Jahren wurdeein Autonomieabkommen (San Andreas) vereinbart, wasjedoch nie vom mexikanischen Parlament ratifiziert wurde.Noch bis 2001 dauerten die Gespräche zwischen Regierungund den Zapatisten, die ihren Namen auf den bäuerlichenRevolutionsführer Zapata in der mexikanischen Revolutionvon vor genau hundert Jahren stützen. In diesen Jahren wardie Solidaritätsbewegung auf dem Höhepunkt, es wurdensogar im lacandonischen Urwald internationale Treffen zuKolonialismus in Lateinamerika, Neoliberalismus und ande-ren Themen organisiert. Vor allem rätselte man, wer der „Sub-comandante Marcos“ denn war. Woher kam der mysteriöseund ebenso intellektuelle Mann? Als die Zapatisten feststell-ten, dass die Regierung nicht wirklich zu Zugeständnissenbereit war, verkündeten sie 2003, dass sie das Abkommen von1996 einseitig umsetzen würden. Seither bemühen sich dieZapatisten politisch darum. Und seit Januar 2009 schweigensie, de facto gibt es keine Erklärung ihrerseits ... Alle rätselnwiederum: Warum?

60 verschiedene indigene Sprachen allein im Staat Mexiko

Verstehen konnte ich den Mann neben mir im Kleinbuskaum. In den vergangenen Monaten hatte ich mich doch sosehr bemüht, etwas Spanisch zu lernen. In den letzten zweiWochen meines bisherigen Mexikoaufenthalts hatte es doch soüberraschend gut geklappt. Es dauerte noch einige Minuten,bis ich ihn im durch die hohen Berge Chiapas’ schleudernden

vollen Kleinbus grob verstand. Er spricht ebenfalls kaum Spa-nisch, aha. Seine eigentliche Sprache ist Tzotzil, und er ist Leh-rer auf Tzotzil in einer Grundschule eines nahen Ortes. Ichwusste, was Tzotzil bedeutet. Das machte mich glücklich. Nureinen Tag vorher hatte mir ein politischer Aktivist erklärt, dassTzotzil eine der am weitverbreitetsten indigenen Sprachen vonChiapas sei. Trotz der politischen Repressionen in Mexiko undinsbesondere in Chiapas ist es in einigen Regionen inzwischengeschafft worden, dass infolge größere Kampagnen in Ortenmit hohem indigenen Bevölkerungsanteil die jeweilige indige-ne Sprache – es sollen mehr als 60 verschiedene indigene Spra-chen allein im Staat Mexiko geben! – an den Schulen nebenSpanisch gelehrt wird, teilweise mehr als Spanisch. Damit wirdder anhaltenden Assimilation der indigenen Kulturen etwasentgegengewirkt. Mit „Rojbash“ verabschiedete sich der sym-pathische Mann aus dem Kleinbus. Dieses Wort bedeutet„Buenos dias“ auf Kurdisch. Das wollte er lernen, bevor er aus-steigt. Das entsprechende Wort auf Tzotzil habe ich auch ler-nen können.

Das Land ist eigentlich eine tickende ZeitbombeNicht nur in Chiapas, sondern in ganz Mexiko stehen die

indigenen Menschen seit den 90er Jahren verstärkt auf undorganisieren sich. Der Zapatistenaufstand hat dies erheblichbeschleunigt. Auch wenn Mexiko nach wie vor von einer über-wiegend chauvinistischen weißen Oberschicht und Drogen-kartellen beherrscht wird, gibt es große Bewegungen der Indi-genen und der sozial Entrechteten. Vor allem in den Bundes-staaten Oaxaca und Guerrero gibt es mit 30 Prozent einenhohen Bevölkerungsanteil an Indigenen. Bekanntlich sind diemeisten Bewohner Mexikos sogenannte Mestizen, Nachfahrender europäischen Eroberer und der Indigenen. Vor allem indiesen beiden Bundesstaaten und in Chiapas sollen 16 Gueril-lagruppen existieren, was eine Folge der extremen Ausbeutungund Ausgrenzung ist. Wenn wir die brutale Gewalt im NordenMexikos durch die Drogenkartelle berücksichtigen, ist dasLand eigentlich eine tickende Zeitbombe. So formulierte esProfessor Octavio aus Mexico City in einem ausführlichenGespräch. Er setzt sich mit den sozialen Konflikten und derAusbeutung der natürlichen Ressourcen auseinander. Dannfragte er, ob die Europäer „die Kommune von Oaxaca ken-nen“. Die sei vielleicht gewaltiger als die von Paris 1871 gewe-sen. Eine selbstorganisierte Struktur vertrieb den ausbeuteri-

Bericht von einer Reise ins Zapatistenland

Langsam, aber vorwärts

Ercan Ayboğa, Oktober 2010

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schen und korrupten Staat aus der südmexikanischen600 000-Einwohner-Stadt für zwei Monate. Doch wurde dieKommune von Oaxaca brutal durch einen Polizeieinsatz mitHunderten Toten niedergeschlagen.

Die Wiederauferstehung der Indigenen ist auch eine Aus-einandersetzung mit der Geschichte des gebeutelten Landes.Auch breite Kreise der Gesellschaft außerhalb der Indigenenkritisieren die offizielle Geschichtsschreibung und entdeckendie ursprüngliche, sozialere und naturverbundene Kultur desLandes wieder. Viele Mestizen wollen auch wissen, woher einTeil ihrer Vorfahren eigentlich kommt und welche Gesell-schaftsformation sie haben.

„Ich bin stolz, ein Indigener zu sein“, sagte mir ein Indige-ner im Menschenrechtsverein Frayba (von „Fray Bartolomé deLas Casas“) in San Cristóbal, dem politischen Zentrum vonChiapas: „Früher schämten wir uns wegen unserer Herkunft.Wir wollten gut Spanisch sprechen und uns wie weiße Mexi-kaner verhalten. Unsere Kultur empfanden wir als primitiv.“

Ihm entgegnete ich, dass es genauso in Kurdistan – demLand meiner Eltern – war, sich dies erst seit 20 Jahren ändereund ich ihn daher tatsächlich nicht nur verstehe, sondern esihm gleich empfinde. Bis 1994 war es in San Cristóbal oft so,dass ein Indigener vom Bürgersteig auf die Straße herunter-stieg, wenn ihm ein Weißer entgegenkam. Doch währendmeines viertägigen Aufenthalts in dieser wunderschönen Stadtwar davon absolut nichts mehr zu sehen.

Die Zentren der Zapatisten„Was? Ich soll zu einem Karakol?“, fragte ich den Freund

vor mir, und fuhr fort: „Höre ich da richtig?“. „Ja, das sind dieZentren der Zapatisten“, antwortete er mir. „Ach so, ich asso-ziiere das mit den türkischen Polizei- bzw. Militärstationen.Diese heißen so und sind oft Folterzentren. Einmal musste ichmal hin, und es war schrecklich.“ Dann stellte ich fest, dassdiese Zentren „Caracol“ geschrieben werden.

Ich hatte den Freund gefragt, wie ich den Zapatisten einenkurzen Besuch abstatten könnte. Am nächsten Morgen nahmich einen Kleinbus, der direkt zu einem der fünf Caracolesfuhr. Jedes dieser Caracoles vertritt etwa 200 zapatistisch orga-nisierte Dörfer. Die Caracoles sind etwas größere Dörfer,besitzen Kliniken, Schulen in den jeweiligen indigenen Spra-chen, sind Treffpunkt für regelmäßig stattfindende Versamm-lungen der angebundenen Dörfer und haben auch Verkaufs-geschäfte der vielen zapatistischen Kollektive. Hier sitzt auchdie „Junta“, der Rat, der von den BewohnerInnen der Dörfergewählt wurde. Da die Zapatisten gerade schwiegen, war esnatürlich nicht möglich, diese Junta zu treffen. Doch ein Spa-ziergang und kurze Gespräche mit den dortigen Menschenwaren machbar. Allerdings durften wir Fotos nur von einemTeil der Gebäude machen.

Auffallend waren die vielen Besucher an diesem Tag in die-sem Caracol. Es kamen uns zwei europäisch wirkende Jugend-

liche entgegen; mit einer älteren Frau aus Argentinien, die dortin einem Chiapas-Solidaritätsverein aktiv ist und Projekte derZapatisten mitfinanziert. Mit einem Professor der Politikwis-senschaft aus Mexico City konnten wir uns etwas unterhalten.Überhaupt sind in San Cristóbal unzählige junge EuropäerIn-nen und NordamerikanerInnen anzutreffen. Neben den älte-ren weißen Touristen waren sie zu Hunderten da. Da fragte ichmich, was die hier alle tun. Nach ein bis zwei Tagen verstandich, dass ein erheblicher Teil von ihnen als Freiwillige da ist,um von Zeit zu Zeit für etwa zwei Wochen in die zapatisti-schen Dörfer zu gehen. Nämlich in die Dörfer, die von Angrif-fen der sogenannten Paramilitärs bedroht sind. Paramilitärssind normale Kleinbauern in Chiapas, die mit staatlicherUnterstützung bewaffnet werden und immer wieder zapatisti-sche Strukturen angreifen. Sie handeln im Sinne der Regie-rung, die sich nach außen zurückhält, wenn Ländereienbesetzt, Menschen entführt, Frauen vergewaltigt und manch-mal auch Menschen ermordet werden. Nicht anders sind dieMilizen in Kurdistan, sagte ich, als mir dies geschildert wurde.Die Freiwilligen sollen in solch einem Fall nur beobachtenund alles aufschreiben und fotografieren. Als ich mich imMenschenrechtszentrum Frayba aufhielt, kam eine Gruppevon Indigenen, die einen Tag vorher nach einer Woche Haftfreigekommen war. Frayba hatte sich für sie eingesetzt. Siewaren von Paramilitärs aus einem Nachbardorf festgenom-men, wegen einer Straftat beschuldigt und dem Militär über-geben worden. Die Indigenen zeigten sich mir in keinsterWeise eingeschüchtert und waren sehr entschlossen, ihrenWeg der Freiheit weiterzugehen. Ihnen war ein bemerkens-werter Wille anzusehen, der nicht durch Gewalt zu stoppenist.

Eine Kombination aus Basisdemokratie und Rätestruktur

Die zapatistische Bewegung hält ihre Stärke 16 Jahre nachdem Aufstand vom 1994 aufrecht und versucht sie weiter zuvertiefen. Sie konzentriert sich darauf, die De-facto-Autono-mie und die basisdemokratischen Strukturen auszubauen. Diepraktizierte Demokratie ist – soweit ich es verstehen konnte –eine Kombination aus Basisdemokratie und Rätestruktur. Inden Caracoles treffen sich die Delegierten, die die Meinungender verschiedenen Dörfer in die Diskussion auf höherer Ebeneeinfließen lassen. Bis es zu einer Entscheidung kommt, kön-nen Monate vergehen, weshalb meistens vier grundsätzlicheEntscheidungen pro Jahr gefällt werden sollen.

In den Gesprächen mit verschiedenen zapatistischen Aktivis -ten wurde hervorgehoben, dass die jetzige Organisations -struktur der Zapatisten eine lange und tiefgehende Vergan-genheit hat. Sie entstand nicht vor 20 oder 30 Jahren. Als voretwa 500 Jahren die spanischen Truppen das heutige Mexikoeroberten, konnten sich die Indigenen in einigen Regionen –so auch in Chiapas – nur am Leben erhalten, indem sie sich inKommunen neu organisierten. Die bis dahin existierendeKlassenstruktur wäre aufgehoben und eine große Solidaritätund kommunales Eigentum entwickelt worden. Über Jahr-

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hunderte konnten sie sich in ländlichen Regionen schützen. InChiapas war es so, dass die Indigenen überwiegend in den Ber-gen des Nordens, Ostens und auch Südens lebten, während ingroßen Städten wie San Christóbal die Weißen und auchMestizen lebten. Als ein besonderes Ereignis wurde mir zwei-mal die Umzingelung San Cristóbals im 19. Jahrhundertgenannt. Damit protestierten die in armen Verhältnissenlebenden Indigenen gegen ihre Ausgrenzung und Unterdrü -ckung. Nach einigen Tagen kam die mexikanische Armee undmetzelte die mehreren Tausend Indigenen nieder. Kein Pardonselbst für einen friedlichen Protest. In den 70er Jahren des 20.Jahrhunderts unterstützte der damalige Bischof von San Cri-stóbal, der der Befreiungstheologie nahestand, die Indigenenund bestärkte sie in ihrer Selbstorganisation auf dem Land.Ende der 70er Jahre schloss sich eine sechsköpfige Gruppe vonlinken und nicht-indigenen Intellektuellen – darunter Sub-comandante Marcos – diesen Kleinbauernorganisationen an,um den bewaffneten Widerstand zu beginnen. Sie gründetenaus den legalen Organisationen heraus im Untergrund dieEZLN, die „Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung“.Diese war verantwortlich für den Aufstand von 1994. Wiegroß der Anteil der jungen Menschen aus der Stadt war, darü-ber wird viel diskutiert. Es wäre wohl ohne diese sechs nichtzum Aufstand gekommen, sagen so einige. Doch die eigentli-che Grundlage sei die seit Jahrhunderten bestehende Selbstor-ganisation der Indigenen.

In diesem Zusammenhang wird immer wieder auch überdie jetzige Rolle von Marcos diskutiert. Hat er noch die bedeu-tende Stellung wie vor 10–15 Jahren? Wenn ich nein sagenwürde, könnte ich das mit der sich vertiefenden Autonomieund Emanzipation begründen. Wenn ich ja sagen würde,könnte ich anführen, dass trotz der neuesten Entwicklungenbei den Zapatistas eine Person wie Marcos sehr viel zu sagenhat. Aus historischer Sicht sehr bedeutende politische Anfüh-rer können es selten sein lassen, sich trotz offiziellem Rückzug

nicht einzumischen. Da über die inneren Beziehungen derZapatisten wenig bekannt ist, kann diese Frage kaum beant-wortet werden.

Was suchen so viele NGOs hier?Schließlich machte ich mir an den letzten Tagen noch über

die vielen NGOs (Nichtregierungsorganisationen) in San Cri-stóbal Gedanken. Nach der Hauptstadt befinden sich diemeis ten NGOs Mexikos in San Cristóbal. Mehrere DutzendNGOs sind anzutreffen, was eigentlich sehr ungewöhnlich ist.„Was suchen so viele NGOs hier?“, frage ich mich. Es ist klar,dass es einfach mit den Zapatisten zusammenhängt. Währendein Teil der NGOs bürgerlich, liberal oder sozialdemokratischist, bezeichnet sich der andere Teil als links. Die Ziele derersten Gruppe ist klar, sie haben keine großen Befreiungsziele,vielmehr sollen sie u. a. die zapatistische Bewegung durch dieVerbreitung liberaler und sozialdemokratischer Ansätze undPraktiken untergraben. Doch bei den linken NGOs und Pro-jekten – seien es mexikanische oder internationale – ist zuhinterfragen, ob sie alle wirklich den Menschen in Chiapashelfen oder sie um ihrer selbst Willen existieren. Auf jeden Fallgeht es für einen Teil um ernsthafte Solidarität und Engage-ment. Doch: Da die Zapatisten einen großen Sympathiewertweltweit genießen, eignen sie sich ideal, um von Stiftungenund anderen Einrichtungen Gelder zu erhalten, um sich so aufden eigenen Beinen zu halten. Gerade deshalb soll es bei denZapatisten inzwischen mehr Vorsicht gegenüber NGOs geben.

Aus Erfahrung kann ich deutlich sagen, dass es solcheundurchsichtigen linken NGOs nicht nur in Chiapas gibt.Nehmen wir zum Beispiel die sozialen Bewegungen, die sichgegen destruktive Talsperren einsetzen – hier kenne ich micham besten aus. In einigen Teilen der Welt verhalten sich heutediese sozialen Bewegungen der Betroffenen distanziert zuNGOs, mit denen sie zuvor eine engere Zusammenarbeit hat-ten. In diesen Beispielen verfolgten viele NGOs in der Ver-gangenheit im Endeffekt viele andere Ziele als die Bewegun-gen selbst und verloren teilweise die eigentliche Sache. So ginges ihnen um ihre Eigenpräsentation, die Aufrechterhaltungeigener Arbeitsplätze durch Sicherung gewisser Gelder, dasAufdrücken von gewissen Aktivitäten in den jeweils finanzier-ten Projekten, eine Verhinderung einer notwendigen Radika-lisierung der jeweiligen Bewegung bzw. der Auseinanderset-zung. Sie näherten sich den jeweiligen sozialen Bewegungenteilweise sehr arrogant an. Vor allem in Indien halten die sozi-alen Bewegungen um Land und Wasser heutzutage einengewissen Abstand.

Der Besuch im Zapatistenland hat sich zweifellos sehrgelohnt, auch wenn es nur vier Tage waren und kein sehrdirekter Dialog zustande kam. 16 Jahre hörte ich immer wie-der von dieser Bewegung, nun konnte ich mir selbst ein direk-tes, wenn auch eher oberflächliches Bild machen. Es wirdinteressant sein zu hören, wie sich die Bewegung der Zapatis -ten, die einen hohen emanzipatorischen Anspruch hat, weiterentwickelt. t

Im Oktober 2010 fand das 3. Internationale Treffen von Staudammbe-troffenen in Temacapulin statt. Foto: Ayboğa:

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Tschador, ein in festem sanfttürkisgrünem Deckel mit oran-gefarbenem Blumenornament eingebundenes Buch, ein

echtes Taschenformat, klein und dennoch gehaltvoll. Die Ein-bandgestaltung des Berliner Verlages Blumenbar ist wirklichsehr gelungen, Spiegel und fliegendes Blatt greifen das Oran-ge des Blumenornamentes des Deckels auf und man tauchtgespannt in den Inhalt des Romans ein, der unter dem Origi-naltitel Çador 2004 im Verlag Metis in Istanbul veröffentlichtwurde.

„Als Kind war er einmal hinter einer Schlange her gewesenund hatte sich verlaufen. Da die Schlange nicht sehr groß war,hielt er sie für ein harmloses Jungtier und fühlte sich ihr nahe.Sich wie in einem Zauber windend, kam das Tier schließlichvom Weg ab und schlängelte sich weiter auf die Ebene zu, wodie Wüste begann.“ Dass die Schlange dabei eine Spur hinter-ließ, die ihrem Körper glich und zugleich einen Weg markier-te, hatte Akhbar verzaubert, denn er konnte so einem vorge-zeichneten Weg – eben nicht der Schlange – folgen.

Diese Kindheitserinnerung trägt Akhbar bei seiner Rück -kehr in die Heimat nach vielen Jahren im Exil als machtvolleErinnerung mit sich und biegt in die Straßen seiner Kindheitein. Es scheint, als sei er nie fortgegangen. Er steht vor der imRahmen smaragdgrün gestrichenen und mit schmiedeeisernenVerzierungen versehenen Tür, die einst dem Viertel alle Ehregemacht hatte, denn dort wohnte ein Hausherr, der nachMekka gepilgert war.

Als seine Hand zu dem Türklopfer greift, um ihn zu betäti-gen, erzittert sein Herz, denn er steht vor der eigenen Haustür.

Akhbar hört die Stimme einer Frau und nachdem die Türein wenig geöffnet worden ist, steht er einer Burka gegenüberund kann hinter dem schweren Stoff nur die Gegenwart einesnach Licht fahndenden Augenpaares erahnen.

Ein neues Regime ist an der Macht und obwohl er balderfahren muss, dass sein Bruder sich den Soldaten des Islamangeschlossen hatte und vermutlich zum Märtyrer wurde, sogibt er dennoch die Hoffnung nicht auf, die von ihm gelieb-ten Menschen zu finden. Seine Mutter, seine Schwester, seineJugendliebe. Akhbar läuft von Tür zu Tür, erahnt hinter eini-gen Mauern noch den Geruch von geklopften Teppichen undfrisch gewaschenen Kelims und hofft aufgrund dieser ihmwohlvertrauten Details, doch auf der richtigen Spur zu sein.

Akhbar versucht sich die Silhouetten der ihm wichtigenFrauen unter den nun eingeführten Stoffzelten vorzustellen

und er ist sich sicher, dass er sie auch unter diesen Stoffmassenerkennen würde. Er erinnert sich, dass seine Freundin manch-mal ein Seidentuch um die Schultern schlang, aber mehr zumSchmuck als zur Bedeckung.

Für Akhbar wird die Situation immer grotesker, er hat dasWeibliche im täglichen Leben immer als angenehm empfun-den; dass Frauen sich jahrhundertelang geschmückt haben,um gesehen zu werden, das war für ihn selbstverständlich.Nun sollen sie sich unsichtbar machen.

Er empfindet eine Leere, wenn er beim Blickwechsel in dieFenster der Burkas sieht, und fragt sich, ob die Frauen, derenGesichter er nicht zu sehen bekommt, wohl auch die Leere desNichts empfinden. Wie sieht denn die Welt überhaupt aus,wenn man sie nur noch durch so ein Fenster mit Gitter er -blickt?

Die von ihm im Ausland manchmal als Heimweh angese-hene Schwermut hatte er mit dem Fehlen der Heimat begrün-det. Die tiefe Betrübnis, die nun bei seiner Suche in der Hei-mat aufkommt, kann durch die Enttäuschungen allein nichterklärt werden. Nein, er fühlt sich grundsätzlich fremd.

Er hatte wochenlang kein weibliches Gesicht gesehen, erwar auf die geliebten Gesichter fixiert gewesen und in seinerAufregung bei der Suche hatte er zunächst gar nicht begriffen,dass in seinem Land noch mehr verloren gegangen war als nurder Krieg: nämlich die Weiblichkeit.

Murathan Mungan, 1955 in Istanbul geboren, beschreibt inseinem Buch sehr eindringlich und facettenreich nicht nur dieSuche von Akhbar, sondern eben die Veränderungen im täg-lichen Leben der Menschen, nach Kriegszerstörung und einemRegimewechsel nach dem Krieg. Im Alltagsbild herrschen anallen Orten Sicherheitskräfte mit Knüppeln sowie Sittenwäch-ter vor. Es herrschen Zufall und Willkür. Auf ein Gesetz kannman sich einstellen, Willkür verleiht dagegen dauerhafteMacht, da alles und das jederzeit passieren kann. Er beschreibteindringlich die menschenverachtende Situation der Frauen,die Situation auf den Friedhöfen, das öffentliche Schlachten,die Zurschaustellung des Todes bei öffentlichen Hinrichtun-gen.

„Bilder vom Tod sind immer so deutlich, dass sie Missver-ständnisse ausschließen. Und ein Tod, der jederzeit auftretenkann, ist der größte Trumpf der unsichtbaren Macht. So wares nun“, stellt Akhbar bei seinen Überlegungen fest.

Tschador, Roman von Murathan Mungan

Auf der Suche nach der vertrautenWeiblichkeitBuchbesprechung von Susanne Roden

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Es wird betont, dass es sich um ein fiktives Land handelt,und jeder Leser möge seine eigenen Verbindungen zu aktuel-len politischen Vorkommnissen knüpfen.

Kriegszerstörungen, Folgen des Krieges, Vertreibung, Exilsi-tuation haben viele Menschen auf der Welt durchlebt, Frauenund Kinder leiden in allen internationalen Konflikten undKrisengebieten am meisten.

All diese Dinge beschreibt Murathan Mungan mit der nurihm möglichen sprachlichen Intensität und macht dabei dieUnterdrückung der Frau durch Einführen des Tragens einerBurka in der Öffentlichkeit, Zwangsverheiratung von allein-stehenden Frauen verbunden mit Zwangsumsiedlungen zudem hochexplosiven Thema des Romans Tschador.

Es ist beeindruckend, wie Mungan durch das Einbindenvon märchenartigen Gleichnissen und Gedankenzügen bei derErzählung durch Akhbar, der als Mann in dieser Situation dieempfundene Ohnmacht und Empörung in seinen Gedankenzum Ausdruck bringt, zum Seismographen für den Verlust ineiner zunehmend unfreien Gesellschaft wird.

Folgendes Zitat von Mina Ahadi, der Vorsitzenden des Zen-tralrates der Ex-Muslime und des „International CommitteeAgainst Execution“, drängt sich mir auf:

„Wenn ich Präsidentin vom Iran wäre, sollte jeder über michWitze machen, über mich lachen und mich kritisieren dürfen.Der Iran ist klug, reich und leistungsstark, er kann ein vollkom-men säkularer Staat mit Menschen- und Frauenrechten werden.“

Jedes Jahr im Dezember verurteilt eine UNO-Resolutionden Iran wegen seiner Menschenrechtsverletzungen. Seit 1985kann man diese Resolutionen online im UNO-Archiv einse-hen. 22 Mal in 24 Jahren wurde dem Iran bescheinigt, dass erdie Menschenrechte mit Füßen tritt, und dies sollte besondersuns Deutsche als den wichtigsten Handelspartner des Iraninnerhalb Europas interessieren.

Am 07.01.1936 war der „Tschador“ im Iran für Frauen ver-boten worden, und bis zum Jahr 1979 wurde dieses Datum als„Tag der Befreiung der Frau“ gefeiert. Es gibt viele aktuelleArtikel und Berichte zum Thema Tschador und der Situationder Frauen, wie z. B. von Filmemacherin Sudabeh Mortezai,die für eine Dokumentation in die heilige Stadt Qom, das ide-ologische Zentrum der Macht in der Islamischen RepublikIran – als „Vatikan der Schiiten“ bezeichnet und südlich vonTeheran gelegen –, gereist ist, um über die Ehe auf Zeit (Dauervon einer halben Stunde bis zu 99 Jahren) und die Situationder Frauen zu berichten. Sie ist Iranerin, lebt in Wien und hatin einem Interview geäußert, sie habe sich noch nie so nacktwie voll verschleiert im Iran gefühlt.

Das Thema Vollverschleierung mit einer Burka hat nunauch Europa nachhaltig erreicht. Das französische Parlamenthat am Vorabend des 14. Juli, des Jahrestages der Französi-schen Revolution, das Burka-Verbot verabschiedet.

Die Fachwelt der Islamwissenschaftler ist sich einig, dassweder das islamische Kopftuch zur Haarbedeckung noch derGanzkörperschleier religiös begründet sind, und selbst wenndem so wäre, dann könnte es nicht sein, dass daraus ein Ver-stoß gegen elementarste Menschenrechte zu dulden sei.

Somit senden Tschador und Burka politische Signale aus.Sie sind offenbar ein Problem des Patriarchats und nicht desKoran und so beschreibt Mungan diese Ambivalenz zwischenSymbolik und Realismus leise und behutsam, fest eingebun-den im Erzählstil eines orientalischen Märchens.

Er hat offenbar ganz bewusst die Bezeichnung Çador für sei-nen Buchtitel gewählt, denn dies ist die persische Bezeichnungfür das von muslimischen Frauen getragene Kopftuch, das imArabischen als Hijab betitelt wird.

Die Frage nach dem Tragen einer Kopfbedeckung sowohlfür Frauen als auch für Männer in der Öffentlichkeit hat sichin den 1980er Jahren sowohl durch Modeeinflüsse als auchdurch veränderte Bräuche und Auslegungen in Glaubensfra-gen im europäischen Raum gewandelt, genauso wie sich dieEinstellung zu dem früher üblichen Tragen von schwarzerKleidung älterer Menschen grundlegend gewandelt hat.

Das Gebot einer Kopfbedeckung für Frauen während desGebetes und während des Gottesdienstes ist keine unbekann-te Größe und somit dem ursprünglichen Kopftuch im Islamvergleichbar. Während es aber Tendenzen zur Entschleierungim Christentum gegeben hat, findet nun eine Gegenbewegungim Islam statt und das, obwohl die zur Begründung aus demKoran erwähnten Suren eher auf Schicklichkeit abzielen, dassnämlich durch einen Schal (himar) der Schmuck bedeckt wer-den sollte. Es geht um Zurückhaltung und gegen Protzereigegenüber armen Frauen, die keinen Schmuck tragen (Sure24, 31). Ferner geht es um die Kenntlichmachung der Frauenund Töchter des Propheten durch das Tragen eines Gewandes(gilbab), damit diese erkannt werden (Sure 33, 59), und esgeht um eine Abschirmung (higab), wobei es sich um eine ArtTrennwand handelte und kein Kleidungsstück (Sure 33, 53).

Und so bleibt uns nur der gemeinsame Weg mit Akhbar aufseiner Reise, der durch den allgegenwärtigen Anblick von ver-schleierten Frauenverunsichert ist, fürden die Verschleie-rung zu einem Sym-bol der Entfrem-dung wird, aberauch zeitgleich einemagische Anzie-hungskraft entwi -ckelt. Lassen Siesich über den Aus-gang der Suche vonAkhbar beim Lesenüberraschen. t

Murathan Mungan: TschadorRoman, Blumenbar Verlag, Berlin 2008ISBN 978-3-936738-41-4

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Der türkische Staat und die kurdische Frage:Prognosen für 2011Baki Gül 4

Interview mit dem KCK-Exekutivratsvorsitzenden Murat KarayılanEs gibt nur einen Ansprechpartner: Abdullah ÖcalanGülistan Tara, Nachrichtenagentur ANF 7

In Kurdistan und der Türkei hat der Parlamentswahlkampf begonnenDemirtaş: Ein starker Block gegen die AKP ist nötig!Delil Firat, ANF 11

Demokratische Autonomie als antikapitalistische PerspektiveFür alle, die eine andere Welt für möglich haltenSebahat Tuncel, BDP-Abgeordnete 13

DTK und BDP arbeiten für die Demokratische AutonomieSelbstverwaltung und Beteiligungder BevölkerungZusammenfassung aus Veröffentlichungender Nachrichtenagenturen DIHA und ANF 15

Zwei Frauen aus der Friedensgruppe blicken auf die Ereignisse um den 20. Oktober 2009 zurückEin langer Weg – und doch so nah?!Şervîn Nûdem 18

Eine kurze Analyse des KCK-VerfahrensGemeinsames Merkmal der Angeklagten:oppositionellCihan Aydın, Rechtsanwalt Amed (Diyarbakır) 22

Aktueller Ermittlungsstand zum Massaker am 16.09.10 in Peyanis/Colemêrg„Das Massaker in Peyanis ist eine Botschaft des Staates an die kurdische Bevölkerung“Michael Knapp, Kurdistansolidaritätskomitee Berlin 24

Der Tod von Rasim GencerGefangene als Geiseln des türkischen StaatesMichael Knapp, Kurdistansolidaritätskomitee Berlin 27

Verstoß des türkischen Anti-Terror-Gesetzes gegen elementare GrundrechteWie aus Demonstranten Terroristen werdenEmel Engintepe, Kurd-Akad 30

Ein Bericht zur 7. Internationalen Konferenz im EU-Parlament in Brüssel„Der Weg zum Frieden – sich der Herausforderung stellen“Martin Dolzer 32

Europäische Juristinnen und Juristen fordern:Streichung der PKK von EU-TerrorlisteAZADÎ e. V. 35

Die neue Regierung im Irak und ihre Auswirkung auf das KräftegleichgewichtDen Kurden räumten sie lediglich die Rolle eines Jokers ein ...Adem Uzun 37

Die Situation der südkurdischen ParteienKeine Initiative, um die kurdische Frage zu lösenSavaş Andok 39

Truska, eine Frauenzeitung in SüdkurdistanFunke des Feuers für die Aufklärung der FrauenInterview mit Narin Feteh, Redaktionsmitglied der Frauenzeitung Truska 41

Aufruf zur Beteiligung an der Weltfrauenkonferenz in VenezuelaKurdisches Frauenbüro für Frieden – Cenî 44

Die 18. Hüseyin-Çelebi-Literaturveranstaltung in StuttgartDie Freiheit zu schreibenCane Zerey, Vorbereitungskomitee 45

2011 wird richtungsweisend für Wassergroßprojekte in KurdistanSolidarität mit den Menschen im Tigristal!Ercan Ayboğa, Initiative zur Rettung von Hasankeyf 47

Bericht von einer Reise ins ZapatistenlandLangsam, aber vorwärtsErcan Ayboğa 50

Tschador, Roman von Murathan MunganAuf der Suche nach der vertrauten WeiblichkeitBuchbesprechung von Susanne Roden 53

Internet:Abschlussresolution der 7. InternationalenKonferenz im EU-Parlament in Brüssel

Im Kurdistan Report Nr. 153 Januar/Februar 2011 berichten wir über:

l Unterstützungl Hilfel Öffentlichkeitsarbeitl Solidarität

Informationen:

AZADÎ e.V.Graf-Adolf-Str.70a40210 DüsseldorfTel: 0211 / 830 29 08E-mail: [email protected]://www.nadir.org/azadi

AZADÎ e.V.RECHTSHILFEFONDS

für Kurdinnen und Kurden in Deutschland

SPENDEN ERBETENGLS Gemeinschaftsbank eG

mit Ökobank BLZ 430 60 967

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FREIHEITAZADIFREIHEITAZADÎFrankreich:Centre d’Information du Kurdistan147 Rue Lafayette; 75010 ParisTel: (33) 1 42 81 22 71E-Mail: [email protected]

Schweiz:KURD-CHR15 rues des Savoises1205 GenevreTel: (41) 22 32 81 984E-Mail: [email protected]

Niederlande:FED-KOMSloterkade 10 1058 HD Amsterdam NLTel: (31) 20 - 61 41 816E-Mail: [email protected]://www.fedkom.nl

Dänemark:FEY-KURDVictoriagade 16 c, 2 Sal1655 KobenhavnTel: (45) 33 - 22 89 98E-Mail: [email protected]://www.kurder.dk

Australien:Australian Kurdish Association Inc.93 Main StreetBlacktown 2148 SydneyTel: (61) 2 - 96 76 72 45

Zypern:Kypriaki Epitropi Allileggyis stoKourdistanTach. Thyr. 256071311 Lefkosia / KyprosTel: (357) 2 - 37 42 16E-Mail: [email protected]

Russländische Föderation:Mala Kurdaul. Vilgelma Pika, d. 4/A129 226 MoskvaTel./Fax: (70) 95 - 18 71 200E-Mail: [email protected]

Ungarn:KURDISZTÁNI INFORMÁCIÓS ÉSKULTÚRÁLIS EGYESÜLETDózsa György út 58; 1076 Budapest(36) 30 405 8790, (36) 30 873 7521E-Mail: [email protected]

Belgien:KNK - Kurdistan National Kongress |Zentrale41 Rue Jean Stas 1060 BrüsselTel: (32) 2 647 30 84E-Mail: [email protected]

Belgien:KON-KURD41 Rue Jean Stas 1060 BrüsselTel: (32) 2 647 99 53E-Mail: [email protected]

Deutschland:Ceni - Kurdisches Frauenbüro für Friedene.V.Corneliusstr. 12540215 DüsseldorfTel: (49) 211 - 5989251E-Mail: [email protected]

Deutschland:YEK-KOMGraf-Adolf-Str. 70a40210 DüsseldorfTel: (49) 211 - 17 11 451E-Mail: [email protected]://www.yekkom.com/

Deutschland:Internationale InitiativeFreiheit für Abdullah Öcalan - Frieden inKurdistanPostfach 100511, D-50445 KölnTel: (49) 221 130 15 59E-Mail: [email protected]://www.freedom-for-ocalan.com

Deutschland:ISKU | Informationsstelle Kurdistan e.V.Büro für Internet und ÖffentlichkeitsarbeitStahltwiete 10; 22761 Hamburg,Tel: 040 / 42102845E-Mail: [email protected]://isku.org

Österreich:FEY-KOMJurekgasse 261050 Wien Tel: (43) 1 - 9718824 E-Mail: [email protected]

Italien:Ufficio d´Informazione del Kurdistan inItaliaUIKI-OnlusVia Gregorio VII 278, int. 1800165 RomaTel: (39) 06 - 636892E-Mail: [email protected]://www.uikionlus.com

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Titelbild:Gever (Yüksekova)Proteste nach demMordversuch an kurdi-schem JugendlichenFoto: DIHA

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„Stolz, schöne ZukunftErkenne, wir sind die ÜberbringerUnd unter den Menschen, wie eine Perle verstecktWächst der Sieg und kommt uns nahe“ (A. Behramoğlu)

"Genehmigt"100 Bilder von 100 politischen Gefangenen

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KURDISTANREPORT

Für ein freies Kurdistan in einem demokratischen Mittleren Osten

Nr. 153 Januar/Februar 2011 2,50 €