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1 La Ferrassie und die Vorbedingungen zur Entstehung figürlicher Darstellung Thesen zur Klassifizierung und Entstehung von Paläokunst Eine Betrachtung von Lutz Fiedler und Christian Humburg Inhalt: 1. Kunst und Stil im anthropologischen Verständnis 2. Darstellung von Kultur im Paläolithikum 3. Eine neue Deutung der Moustérien-Befunde von La Ferrassie 4. Die nonreale Wirklichkeit figürlicher Darstellung 5. Abstract 6. Résumé 7. Literatur 1. Kunst und Stil im anthropologischen Verständnis In den letzten Jahrzehnten wurden von amerikanischen und englischen Wissenschaftlern zahlreiche dogmatische Artikel über mittelpaläolithische Menschen, insbesondere den Neandertaler veröffentlicht. In vielen dieser Arbeiten wurde betont, dass diese Hominiden noch keine richtigen Menschen waren. Erst mit dem Cro-Magnon-Typus sei Kultur, also symbolisches Denken, Sprache, Religion und Kunst in die Welt gekommen. Die Engstirnigkeit derartiger Behauptungen zeigte sich vor allem in einem völlig unreflektierten Kulturbegriff und erstaunlichem Unverständnis der in den überlieferten lithischen Repertoires offenbar werdenden techno-sozialen Konzeptionen. Neuere Arbeiten über die kulturellen Leistungen der Neandertaler verdrängen gegenwärtig die schrillen Äußerungen über den geistlosen, steinebenutzenden Aasfresser. Da in dieser Debatte immer wieder der Begriff der Kunst strapaziert wird ohne dabei ein grundsätzliches, Kultur konstituierendes Darstellungsvermögen einzubeziehen, werden der neuen Interpretation der alten Befunde von La Ferrassie zunächst Definitionen von kulturellem Selbstverständnis, Stil und Kunst vorangestellt. Kunst im anthropologischen Sinn ist nicht alleine das, was in unserer eigenen kulturellen Prägung oder in irgendeinem anderen kulturellen Selbstverständnis als "eigentliche" Kunst gewertet und innerhalb des jeweiligen Existenzmilieus als etwas Besonderes verstanden wird. Kunst ist im Sinne E. Cassirers eine Kommunikationsform, eine symbolische Form, verzahnt mit Sprache, Mythos und Technik, durch die der Mensch sich selbst und seine Welt wahrnimmt und versteht

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La Ferrassie und die Vorbedingungen zur Entstehung figürlicher Darstellung Thesen zur Klassifizierung und Entstehung von Paläo kunst Eine Betrachtung von Lutz Fiedler und Christian Humburg Inhalt: 1. Kunst und Stil im anthropologischen Verständnis 2. Darstellung von Kultur im Paläolithikum 3. Eine neue Deutung der Moustérien-Befunde von La Ferrassie 4. Die nonreale Wirklichkeit figürlicher Darstellung 5. Abstract 6. Résumé 7. Literatur 1. Kunst und Stil im anthropologischen Verständnis In den letzten Jahrzehnten wurden von amerikanischen und englischen Wissenschaftlern zahlreiche dogmatische Artikel über mittelpaläolithische Menschen, insbesondere den Neandertaler veröffentlicht. In vielen dieser Arbeiten wurde betont, dass diese Hominiden noch keine richtigen Menschen waren. Erst mit dem Cro-Magnon-Typus sei Kultur, also symbolisches Denken, Sprache, Religion und Kunst in die Welt gekommen. Die Engstirnigkeit derartiger Behauptungen zeigte sich vor allem in einem völlig unreflektierten Kulturbegriff und erstaunlichem Unverständnis der in den überlieferten lithischen Repertoires offenbar werdenden techno-sozialen Konzeptionen. Neuere Arbeiten über die kulturellen Leistungen der Neandertaler verdrängen gegenwärtig die schrillen Äußerungen über den geistlosen, steinebenutzenden Aasfresser. Da in dieser Debatte immer wieder der Begriff der Kunst strapaziert wird ohne dabei ein grundsätzliches, Kultur konstituierendes Darstellungsvermögen einzubeziehen, werden der neuen Interpretation der alten Befunde von La Ferrassie zunächst Definitionen von kulturellem Selbstverständnis, Stil und Kunst vorangestellt. Kunst im anthropologischen Sinn ist nicht alleine das, was in unserer eigenen kulturellen Prägung oder in irgendeinem anderen kulturellen Selbstverständnis als "eigentliche" Kunst gewertet und innerhalb des jeweiligen Existenzmilieus als etwas Besonderes verstanden wird. Kunst ist im Sinne E. Cassirers eine Kommunikationsform, eine symbolische Form, verzahnt mit Sprache, Mythos und Technik, durch die der Mensch sich selbst und seine Welt wahrnimmt und versteht

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(Cassirer 1944). Damit tritt der Begriff Kunst aus seiner gewohnten Klassifizierung als etwas Nicht-utilitäres und Abgehobenes heraus (Fiedler und Greve 1998). In diesem Verständnis hat Kunst vor allem mit Gesellschaft, Kommunikation, Identität und Formgebung zu tun. Europäisch-westliche Vorstellungen, die damit individuellen Ausdruck, Freiheit und Kreativität verbinden, müssen in einer wissenschaftlich-anthropologischen Definition in den Hintergrund treten.

Abb.1

Kunst als Form vielschichtiger Orientierung, des Selbstverständnisses und der Anordnung zum Handeln schließt nicht allein alle sogenannten Kunstarten wie Musik, Literatur, Schauspiel, Architektur, Plastik, Malerei usw. ein, sondern umfasst gleichwertig - um Beispiele der eigenen westlichen Zivilisation zu nennen - Kitsch, Reklame, technisches Design, Speisezubereitung, Umgangsformen, Mode, Schlager, Volkskunst, Comics, Kosmetik, Frisuren, Schmuck, Verpackung usw. Alle "Sachen" einer Kultur haben ihren besonderen, mehr oder weniger zeitabhängigen, wandelbaren Stil sowie diesem untergeordnet eine Unzahl von individuellen Dingen mit "Erkennbarkeit". Die kultur- und epochenabhängige "Erkennbarkeit" wird erlernt und schließt ein, den Sinn der Sachen und das Wissen um ihre Nutzungsmöglichkeiten unmittelbar zu verstehen. Das bedeutet, dass kulturelle Umwelt insgesamt gestaltet ist und dass auch die Gestaltung des nur Nützlichen, Technischen und Banalen weitgehend einem Stil unterliegt, der keineswegs non-utilitär ist, sondern das Verständnis der "Sachen" sowie ihren Gebrauch und Wert vermittelt. Gerade die Archäologie zeigt, dass Fundobjekte einer jeweiligen "Epoche" einen bestimmten Stil haben, in zeit- und kulturspezifischer Weise gestaltet worden sind,

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also bestimmten Denkweisen, Kommunikationsmustern und Orientierungssystemen unterlagen. Entscheidend ist dabei, dass das Nützliche mit seiner bestimmten Funktion auch stets mit variabler stilistischer Form verbunden ist.

Abb. 2

So kann ein Messer beispielsweise spitz sein, ein schräg abgeschnittenes Ende haben, zungenförmig gestaltet sein oder wie ein Eskimo- oder Inka-Messer halbmondförmig aussehen sowie darüber hinaus die unterschiedlichst gearbeiteten (auch verzierten) Griffformen besitzen - in jeder Form kann es ein kulturspezifisches "Küchenmesser" sein. Ein kulturspezifisches Küchenmesser wird jedem Mitglied der entsprechenden Gesellschaft in seiner Gestalt und seinem Nutzen vertraut sein; es ist selbstverständlich und verleiht dadurch, wie alle Kulturgüter, soziale und

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persönliche Identität (Fiedler 1998 u. 2002 c). Was für das beispielsweise gewählte Messer gilt, trifft ebenso auf Bekleidungsstücke, Küchengerichte, Lieder, Häuser, Tempel, Masken, Statuetten, Ikonen usw. zu.

Abb.3

2. Darstellung von Kultur im Paläolithikum Die Sorgfalt der Formgebung von "Sachen" steht mit der Bedeutung oder dem Wert in Zusammenhang, den die Gemeinschaft oder das Individuum ihnen jeweils beimisst. Umso höher die Wertschätzung ausfällt, desto mehr wird die Gestaltung kultiviert. Umgekehrt vermittelt der formale gestalterische Aufwand von Sachen deren Bedeutung und Ansehen.

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Hier liegt offensichtlich die anthropologische Ursache für die "schöne" Form, für Dekor und Farbgebung. Sowohl die Gesellschaft kann eine "Sache" durch sorgsame, aufwendige Gestaltung auszeichnen als auch ein Individuum sich selbst in seiner Gemeinschaft durch herausragende "Sachen" hervortun. Diese Erkenntnis steht im Widerspruch zu Randall Whites Hypothese, nach der er frühe Schmuckobjekte aus dem Beginn des Jungpaläolithikums als Rangzeichen deutet (White 1989). Sie wären es nur, wenn sicher ist, dass sie von der Gemeinschaft verliehen wurden; sie wären es nicht, wenn sie persönlichen Wünschen nach Ansehnlichkeit gedient hätten, egal ob der Schmuck nur als verschönernd verstanden wurde oder ihm auch magische oder heraldische Funktionen beigemessen wurden. Keineswegs deuten sich mit diesen Fundgegenständen erste gesellschaftliche Differenzierungen an, denn die ethologische Forschung an Primaten zeigt, dass das Sichselbst-Hervortun auch im Tierreich verwurzelt ist. Bekannt sind Schimpansenmänner, die sich mit Ästen oder anderen Gegenständen zum Imponieren ausstatten (Lawick-Goodall 1975). Unabhängig vom Gedanken an die gesellschaftliche Nützlichkeit des Auffallenden oder Schönen, bezeugen sowohl frühe Schmuckfundstücke (Bednarik 2003) als auch einige funktional und ästhetisch hervorragend gearbeitete Stein- und Holzartefakte des älteren Paläolithikums, dass schon der Homo erectus alle mentalen und handwerklichen Voraussetzungen besaß, Kunst zu schaffen.

Abb. 4

Dingliche Artefakte sind realisierte Symbole (Fiedler 2002 c). Sowohl die (in den Köpfen) abstrakten, als auch die konkreten (dinglichen) Symbole sind nur in einem Kommunikationssystem zu verstehen und sie besitzen darin eine allgemeine, verbindliche Akzeptanz. Sie geben der Gesellschaft und ihren Individuen Identität,

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Weltverständnis und Orientierung. Jede allgemeine kulturelle Tradition ist ein symbolisches System, das von den Mitgliedern einer Gemeinschaft durch praktischen Umgang und Sprache erlernt wird sowie im Denken, Sprechen, Verstehen und Handeln fortwährend realisiert und dargestellt wird. Die Verbalsprache, ihre Begriffe und Grammatik, sind ebenso symbolisch wie die dingliche Kultur. Sie steht dazu in einem selbstähnlichen Verhältnis, denn Wörter können mit Geräten verglichen werden, die alle jeweils bestimmten Zwecken und Zusammenhängen dienen (Wittgenstein 1984). Symbole haben eine Doppelnatur: sie bestehen in Gedanken abstrakt und sie sind in "Sachen", also in Zeichen, Objekten, Organisationsmustern, Sprache und Handlungen realisierbar. Es ist das Eigentümliche eines symbolischen Systems, dass es sich selbst stets weiter zu symbolisieren vermag. Auch Abstrakta, Symbole, sind in weiteren Symbolen, also Zeichen oder Wörtern symbolisierbar (wie z.B. der Begriff Symbol selbst ein Symbol ist). Das führte schon im Paläolithikum dazu, dass "abstrakte" graphische Zeichen sehr früh auftraten. Es bleibt allerdings die Frage, ob solche Muster, wie beispielsweise die gleichmäßigen Strichbündel von Bilzingsleben (Mania 1990) oder von La Ferrassie (Grab1), sogenannte abstrahierte Zeichen sind, oder ob sie gleichsam unmittelbare Darstellung von Rhythmus und dessen Intensität sind. Dessen ungeachtet liegt es auf der Hand, dass derartige einfache Muster die Grundlage für eine Weiterentwicklung graphischer Zeichen waren und später - Jungpaläolithikum bis Neolithikum - im System von Piktogrammen zur Schrift führten (Kuckenburg 1996). (Grab 1, Abb. 10) So weit hier das anthropologische Verständnis von Kunst einsichtig und logisch erscheint, bezieht es sich auf "Sachen", die einen deutlichen Bezug zur Existenzsicherung, zur sozialen Organisation und einer bewussten, allgemein technischen Ergologie hatten. Wie aber steht es mit der graphischen, malerischen und plastischen Kunst, die Lebewesen zur Abbildung bringt? Abgebildete Lebewesen erfüllen ja nicht, was die übrigen Darstellungen der Symbole sind, nämlich Realisationen ihres funktionierenden Selbst zu sein. Die Zeichnung oder Plastik eines Tieres "funktioniert" nicht, denn das Dargestellte ist real nur eine Imagination aus nicht lebenden Linien, Flächen und Werkstoff. Im Paläolithikum erscheint sehr früh ein Instrumentarium festgelegter Artefaktformen. Sie waren als verbindliche "Bilder im Kopf" gespeichert (Fiedler 2002 a). Faustkeile beispielsweise erfüllten in ihrer Realisation die technischen Aufgaben und weiterführenden Ziele, mit denen ebenso die Formvorstellung und die Herstellungsmethode gedanklich-symbolisch verbunden waren. Natürlich konnten auch besonders "schön" gemachte Faustkeile sowohl der Selbstdarstellung dienen, als auch mythologische Ansprüche erfüllen, aber sie waren dessen ungeachtet stets gut verwendbare Geräte. So wie die Faustkeile als Abbildungen des vorgestellten Musters reale Funktionen besaßen, so mussten es auch die übrigen Realisationen haben: Behausungen, Speere, Feuerstellen, Zeichen, Jagdteams, soziale Bindungen. Es könnte jetzt das Argument folgen, dass naturgemäß mit der sogenannten Weiterentwicklung des Menschen und seiner Kultur auch eine Weiterentwicklung zur graphischen Symbolik stattfand, in der die Abbildungen von Menschen und Tieren (mit zunehmender Kunstfertigkeit) mehr und mehr in den Vordergrund traten und auch zu kommunikativen Beschreibungen von Tieren, Jagd oder mythischen Ereignissen benutzt wurden. Aber gerade dafür finden sich in den teilweise reichen archäologischen Quellen des Paläolithikums nicht viele überzeugende Belege (Leonardi 1975 , Bednarik 2003).

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3. Eine neue Deutung der Moustérien-Befunde von La Ferrassie Zu den frühen Beispielen anthropomorpher Darstellungen des Mittelpaläolithikums gehört nach unserer Hypothese der schon lange bekannte, aber bisher nicht verstandene Grabungsbefund von La Ferrassie: neun in strenger Ordnung aufgeschüttete Hügel und sechs ovalen Gruben unter dem teilweise verwitterten Abri (Peyrony 1934). Die etwa gleich großen, fast 0,5 bis 0,7 m hohen Hügel von etwa 0,75 bis 1 m Durchmesser waren in drei parallelen Reihen jeweils zu dritt angeordnet, wobei die beiden flankierenden zur mittleren Reihe um den halben Abstand, den die Hügel zueinander einhalten, versetzt waren. (Peyrony 1934; Abb. 1)

Abb.5

Diese Figuration (Abb.2) lässt es zu, darin eine anthropomorphe Beschreibung in Schneemann-Prinzip zu erkennen (Greve & Fiedler1998): Kopf, Rumpf, Extremitäten und - in Analogie zu der benachbarten "weiblichen" Figuration - auch das Geschlecht. Im „Kopf“ fand sich die Bestattung eines kleinen Kindes, ein wichtiger Hinweis auf die Vorstellung der Neandertaler vom "Sitz der Seele". Einen knappen Meter oberhalb des Kopfes, genau in der Symmetrieachse der Figuration, fand H. Delporte 1973 eine weitere Kinderbestattung in einer flachen Grube (Delporte 1984). Die zweite Figuration (Abb.2) unter dem gleichen Abri besteht aus einer Gruppe von sechs etwa gleich großen, durchschnittlich 1,7 m langen ovalen Eingrabungen (Abb. 1). Sie befindet sich rechts, östlich benachbart der Hügelgruppe. Drei der Gruben sind miteinander und zur Abi-Rückwand etwa parallel angeordnet. Zwei weitere befinden sich rechts davon. Ihre gemeinsame Längsachse ist um etwa 115° zur Richtung der drei ersten Gruben versetzt. Diese beiden bilden mit der mittleren der zuerst genannten sowie mit einer weiteren, links befindlichen ein offenes "S". Seine

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beiden Bögen sind mit der ersten und dritten Grube der parallelen Dreiergruppe ausgefüllt. Die länglich-ovalen Gruben geben durch die Richtungsänderung ihrer Längsachsen eine unmissverständliche Anleitung zum "Lesen" des Gesamtbildes (Abb. 2). So interpretiert ist es eine auf der Seite liegende weibliche Figur, die dem männlichen Bild zugewandt ist. Zusammengefügt erinnert sie an bekannte jungpaläolithische Frauendarstellungen Europas in Seitenansicht (z.B. Cussac oder Pech Merle). Im "Bauch" - oder Uterus - dieser Struktur befand sich das Skelett eines Kleinkindes. Es war mit einer dicken Kalksteinplatte abgedeckt, die mit mehreren Paaren von eingepickten Grübchen versehen war (Abb. 6 – 8). Beide annähernd gleich große Strukturen lagen nebeneinander, beide mit den "Köpfen" Richtung Abi-Rückwand, so, als ob hier ein über lebensgroßes Menschenpaar ruhte In dieser Weise wäre das Abri-Areal ein sakraler Bereich und zugleich Wohnstelle der Lebenden. Damit mögen die relativ häufigen Bestattungen der Neandertaler unter Abris in einem Zusammenhang stehen, die dann ein deutlicher Hinweis darauf wären, dass im Mittelpaläolithikum Tod und Leben nicht als etwas zu Trennendes, sondern als zusammen gehörende Teile des Daseins verstanden wurden (Greve & Fiedler 1998).

Abb. 6

Die Befunde aus dem Moustérien von La Ferrassie zeigen durch die beinahe architektonische Aufteilung des Abri-Raumes mittels anthropomorpher Hügel und Gruben sowie der begleitenden Bestattungen ein erstaunliches "künstlerisches" Konzept.

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Abb. 7

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Ob die Gräber alle annähernd gleichzeitig zu datieren sind (Delporte 1984) oder ob sie sich über viele Jahrzehnte verteilen, ist ungewiss. Sehr wahrscheinlich ist aber, dass die Strukturen des „mythischen Paares“ nicht für ein kurzfristiges Ereignis angelegt worden waren, sondern lange sichtbar, vielleicht auch in Teilen gelegentlich kultisch renoviert blieben. Denn die umgebenden Gräber, Gruben und Gräbchen scheinen sowohl räumlich als auch in ihren Ausrichtungen Bezug darauf zu nehmen. Im Verhältnis zum bisherigen wissenschaftlichen Verständnis des Mittelpaläolithikums wäre diese Interpretation völlig neu. Ebenso erstaunlich ist die in den figuralen Strukturen deutlich werdende duale Vorstellung von Mann und Frau. Der Mann wurde in aufsteigenden Formen symbolisiert, die Frau in Hohlformen. Damit werden ein aktives, raumgreifende Wesen des Mannes und ein bergendes, fruchtbares, der Erde verbundenes Wesen der Frau beschrieben. Die "Frau" ist etwa 1 m größer als der "Mann". Das mag die Gleichwertigkeit der Geschlechter belegen. Es wäre zudem möglich, dass Aushubmaterial der Gruben zum Errichten der Hügel benutzt wurde, der Mann also aus der Frau geschaffen wurde. Ebenso mag die Kleinkindbestattung im "Kopf" der männlichen Figuration nicht unbedingt ein Hinweis darauf sein, dass die damaligen Menschen nur dem Manne „Köpfchen“ zubilligten. Es könnte ebenso der Hinweis darauf sein, dass der Jäger während all seiner Aktivitäten an seine Nachkommen, seine Familie und seine Gruppe zu denken hatte. Das Kinderskelett im "Uterus" der weiblichen Figuration ist dementsprechend die eindeutige Symbolisierung von Fruchtbarkeit und Leben.

Abb. 8

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Diese komplexen Strukturen öffnen uns so einen hypothetischen Einblicke in eine Gedanken- und Geisteswelt, die den Neandertalern bisher nicht zugetraut wurde. Allerdings sind die sogar erheblich älteren Wurfspeere und übrigen Holzgeräte von Schöningen seit einigen Jahren der endgültige Beleg dafür, dass unsere frühen Vorfahren keine unorganisierten Beutegreifer und Aasfresser waren (Thieme 1999). Es war übrigens Hartmut Thieme, der bei der Analyse der Wohnplatzstrukturen der Fundschicht B1 von Rheindahlen schon vor zwanzig Jahren darauf hinwies, dass die Verteilungsmuster der Steinartefakte ein eigentümlich duales Muster aufwiesen (Thieme 1983 u. 1988/1990), ein Hinweis, der bisher keine wissenschaftliche Resonanz gefunden hat. Interessanterweise ist die Doppelstruktur von La Ferrassie keine Beschreibung des optischen Eindrucks von Menschen, sondern eine synthetische Form, die in additiver Weise die Kraftbereiche menschlicher Organe verkörpert. Eine solche Darstellungsweise (Schneemann-Manier) ist gelegentlich noch bei heutigen Vorschulkindern zu beobachten, die aus dem analytischen Wissen vom Körper in ähnlich addierender Methodik aus Kringeln oder Strichen intentionale anthropomorphe Gebilde zusammensetzen (Fiedler 2002 b). Das heißt natürlich nicht, dass Neandertaler die Denkweise heutiger Kinder besaßen, sondern dass es bei der Darstellung von Lebewesen auch andere Konzepte gibt als die, die uns in unserer Kultur allgemein vertraut sind.

Abb. 9

Eine additiv-summarische Auffassung des Menschen findet sich übrigens nicht allein in Zeichnungen sogenannter primitiver Menschen und von Kindern, sondern taucht auch in der "Modernen Kunst" des 20. Jahrhunderts auf (z.B. die Maler Fernand Léger, Joan Miró oder Jean Dubuffet) Dass auch der Homo sapiens

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sapiens des Jungpaläolithikums gelegentlich eine vergleichbare Darstellungsweise benutzte, belegt die Elfenbeingravierung einer Frau von Předmosti (Abb. 6 – 8). Sie ist im Gegensatz zu vielen anderen weiblichen Bildnissen des mittleren Jungpaläolithikums (Gravettien) nicht "naturalistisch", sondern eine aus Ovalen und Bändern zusammengesetzte Figur, die weniger anatomisch richtig als eher in einer gleichsam topographischen Ordnung Kopf, Brüste, Arme, Bauch und Uterus sowie Beine erkennen lässt. Anders als die vielen übrigen "Venusfiguren" des gleichen europäischen Kulturhorizonts, die eine betonte Wiedergabe sichtbarer Körperlichkeit sind, steht diese Elfenbein-Graphik den Figurationen von La Ferrassie nahe. Man könnte sich zu der Aussage versteigen, sie hätte nichts mit der sogenannten naturalistischen Kunst des Jungpaläolithikums gemein, doch auch dort, wie beispielsweise auf den Statuetten von Mezin, finden sich "abstrakte" Muster, die nicht-naturalistisch sind.

Abb.10

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Selbstverständlich entzieht sich die hier vorgelegte Betrachtungsweise der Figurationen von La Ferrassie eines absoluten Beweises. Doch die Stimmigkeit (correspondence) aller Einzelheiten (Ausrichtung, Anzahl 2,3.6 u.9 [Bergounioux 1958], Position der Kinderskelette, Hügel und Eingrabungen, Beziehung zu den einander zugewandten Bestattungen einer Frau und eines Mannes im Westteil des Abris, Vergleichbarkeit mit "naiver" Darstellungsweise) lässt keine andere Möglichkeit zu, in dieser sonderbaren und ungewöhnlich aufwendigen Anlage eine anthropomorphe männlich-weibliche Darstellung zu erkennen. Ob es weitere, ähnlich lesbare Zeichen - eventuell die gepickten Näpfchen (cupules) an Felswänden oder auf Blöcken - aus dem älteren Paläolithikum gibt, ist zukünftig zu prüfen. Möglicherweise ergeben sich anhand jüngerer steinzeitlicher Darstellungen sowohl des frankokantabrischen Raums, als aber besonders auch anderer Gebiete der Erde, diesbezüglich neue Aspekte. Übergänge von einer additiven zu einer organischen Gestaltung, wie sie in der Darstellungsweise von Kindern zwischen dem vierten und neunten Lebensjahr auftauchen, kommen unseres Wissens mit der Ausnahme der Figur von Předmosti im Jungpaläolithikum Europas nicht vor, begegnen uns aber später vielfältig in der Kunst des pazifischen Raumes und Afrikas. Die zahlreichen feinen, verwirrenden Ritz- und Schnittlinien auf Knochenstücken aus dem Mittelpaläolithikum Europas (Leonardi 1975) müssen in diesem Zusammenhang allerdings nochmals unter die Lupe genommen werden. Es genügt nicht, sie alle als unbeabsichtigte Zufälle oder als Ergebnisse bodenmechanischer Prozesse abzutun (Bednarik 2003). 4. Die nonreale Wirklichkeit figürlicher Darstellun g Die jungpaläolithischen Tierdarstellungen mit ihrem visuellen Wirklichkeitsbezug traten relativ plötzlich und im südwestlichen Europa in überraschender Fülle und "Qualität" auf. Als Höhlenkunst wurden sie an überwiegend versteckten Orten realisiert und hatten dort keinen Schauwert, sondern eine magisch-religiöse Funktion (Greve und Fiedler 1998). Die ältesten figürlichen Darstellungen des Jungpaläolithikums gehören allerdings noch nicht zur eigentlichen Höhlenkunst, sondern sind mobile Objekte oder Malereien im Tageslicht: eine gemalte Antilope aus dem Apollo-11-Abri (Namibia), ein Steinblock mit einem Pferdekopf aus dem Abri von Combe Capelle (Frankreich), geschnitzte Tierkonturen aus Sungir (Russland), die Statuetten von Tier-Mensch-Mischwesen aus dem Hohlestein und dem Geissenklösterle (Deutschland) und vom Galgenberg (Österreich) sowie die geschnitzten Tierfiguren aus der Vogelherd-Höhle (Djindjian, Koslowski & Otte 1999). Diese als sehr früh einzustufenden Objekte stehen möglicherweise mit einigen wenigen Funden in Zusammenhang, die aus dem Alt- und Mittelpaläolithikum stammen. Es sind naturgeformte Gesteinsstücke, die der Mensch unter Umständen manipuliert hat (Bednarik 1999, 2001 u. 2003). Entsprechende alt- und mittelpaläolithische figürliche Darstellungen scheinen eine lange Geschichte zu haben. Diese ist uns schwer erschließbar, weil dabei sowohl mit vergänglichen Materialien als auch mit Ausdrucksformen gerechnet werden muss, die nicht im Bereich unserer Kunst-Erwartungen liegen. Doch welchen Sinn hatten sie, welchen Zwecken unterlagen sie und welche psychischen und ethologischen Vorbedingungen könnten dazu geführt haben, dass Lebewesen, also menschliche Gestalten, Gesichter oder Tiere, in "toten" Materialien nachempfunden wurden (Fiedler 2002 a)? Die Frage ist von außerordentlich großer Bedeutung, nicht deshalb, weil hier die Voraussetzungen und Anfänge von bildender Kunst gesucht werden, sondern deshalb, weil es um eine einzigartige anthropologische Tatsache geht. Denn keine anderen Lebewesen der Welt erzeugen dinghafte, optisch ähnlich erscheinende

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Imaginationen von sich selbst oder von anderen Lebewesen. Es geht dabei um eine kulturelle Leistung, die keinen anderen Sinn erkennen lässt, als den einer beabsichtigten Scheinbarkeit oder Über-Wirklichkeit (Surrealität). Sie steht im Gegensatz zur analysierbaren Realität und weist Bezüge zu Phantasien im kindlichen Spiel, zu Traum, Halluzination, Pantomime und Sprache auf. Die Umstände ihrer qualitätvollen Erzeugung und die zahlreichen archäologisch überlieferten Objekte dieser Art belegen die Bedeutung, die man den Werken zumaß. Ihr bei allem "Naturalismus" offensichtlicher dinglicher Nonrealismus mag mit der frühen Erkenntnis zusammenhängen, dass die Wirklichkeit dual und die Welt der Gedanken etwas Geistiges sowie die Dingwelt etwas Konkretes ist. Flächige Bilder und plastische Figuren werden ja erst durch ihre betrachtende Interpretation zu dem, was sie darstellen sollen. Insofern könnte ihnen eine Mittlerrolle zwischen Geist und Ding zugewiesen werden.

Abb. 11

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So selbstverständlich figürliche Darstellungen seit dem Jungpaläolithikum in fast allen Kulturen der Welt geworden sind und heute mittels Photographie, TV und Cyberspace die Grenzen der augenfälligen Distanz zwischen Realität und Machwerk schon gewollt durchbrechen, so ist doch festzustellen, dass diese Irrealität eine "schöne" Eigentümlichkeit ist, deren unmittelbare Nützlichkeit kulturanthropologisch nicht einfach auf der Hand liegt, es sei denn, es ginge um die Manipulation der Realität, die Beherrschbarkeit (der Erscheinung) von Menschen und Tieren sowie die damit verbundenen Techniken und schließlich auch Beherrschbarkeit des Irrationalen, also um Zauber und Religion einerseits sowie die Verdinglichung des Lebens andererseits.

Abb. 12

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Doch derartige Motive haben sich vermutlich erst mit der Weiterentwicklung bildlicher Darstellungen eingestellt. Weder Australopithecus noch Homo erectus haben daran denken können. Sieht man von dem rund 4 Mio. Jahre alten, absichtlich transportierten Gesichts-Stein von Makapansgat ab, stammen die ältesten Figuren aus der Faustkeilkultur (Bednarik 1999, 2001 u. 2003). In jener Zeit müssen die Vorbedingungen zur Entstehung figürlicher Darstellungen voll ausgeprägt gewesen sein. Sie sind archäologisch nicht zu fassen, doch Verhaltensforschung und Psychologie erlauben es doch, vorsichtig die Bereiche zu umreißen, die als Ausgangsposition zur Darstellung gemeinter, aber nonrealer Lebendigkeit vorhanden waren. A. In der Phantasie spielender Kinder können beispielsweise rundliche Kiefernzapfen Schafe sein und ein länglicher Fichtenzapfen der Hirte. Auch wenn das Kind weiß, mit was es real spielt, so kann es vollständig das Gemeinte auf Dinge übertragen, die kaum eine optische Ähnlichkeit damit haben, geschweige denn, dass sie einen Hauch des vorgestellten Lebens in sich hätten. Dass die spielerische Imagination nicht allein auf Menschen beschränkt ist, mögen die scheinbaren Kampf- und Sexualhandlungen zeigen, die viele Jungtiere geselliger Säuger untereinander ausführen, egal ob das triebbestimmt ist oder nicht, denn auch das Spiel mit Puppen unserer Kinder könnte ja - zumindest auch - triebbestimmt sein. Das Auseinanderfallen von Phantasie und Wirklichkeit wird gewöhnlich mit der Adoleszenz abgelegt oder doch als kindgemäß und damit un-erwachsen abgetan. Was allerdings bleibt, ist die Übertragbarkeit von erwünschter Lebendigkeit auf Objekte - man denke nur an die gezielt suggerierte Sexualsymbolik vieler Konsumgüter. Solche Übertragungen sind nicht alleine auf unsere moderne Kultur beschränkt, sondern spielen eine große Rolle bei vielen Völkern und zu allen Zeiten. So ist anzunehmen, dass auch frühe Menschen in manchen Objekten etwas erkennen konnten oder wollten, was diese banalerweise nicht waren. Die Kluft zwischen bloßem Ding einerseits und damit Gemeintem andererseits gehört zum allgemeinen Erfahrungsschatz der Menschen. Sie kann aber auch als Pfad zwischen diesseitiger Realität und transzendenter Wirklichkeit interpretiert werden. Damit zeigt sich der Bezug, der offensichtlich von je her zwischen Bildern und Mystik oder Religion besteht (Greve & Fiedler 1998). B. In Träumen, Fieberanfällen, Rauschzuständen aber auch in der Einbildung unter psychischen Anspannungen können Lebewesen erblickt werden, ohne dass sie real vorhanden sind. Selbstverständlich ist zu hinterfragen, ob frühe Menschen vor dem Homo sapiens sapiens geistig und mental zu derartigen Visionen befähigt waren. Dass Tiere tatsächlich träumen können, ist längst eine Tatsache (Griffin 1985). Dass Tiere visuellen Irrtümern unterliegen können, also etwas wahrnehmen, was von ihnen danach als nicht zutreffend erkannt wird, ist jedem Verhaltensforscher vertraut (z.B. eine Katze, die in einen Spiegel guckt und sich nur den Bruchteil einer Sekunde diesem Abbild widmet). Deshalb ist davon auszugehen, dass auch Australopithecus und Homo erectus zu derartigen (Fehl-) Leistungen in der Lage waren. Aber fraglich bleibt weiterhin, ob diese Hominiden Traum- und Trugbilder als Irrtümer abtun und sogleich vergessen konnten, oder ob mit dem zunehmend symbolisch arbeitenden Gedächtnis solche Erscheinungen klassifiziert und dauerhaft gespeichert werden konnten. Die Menschen des frühen Jungpaläolithikums und der Zeit beginnender Höhlenmalerei waren dazu sicher in der Lage. Die Tier-Mensch-Darstellungen dieser Epoche belegen, dass sie von der Wirklichkeit irrealer theriomorpher Erscheinungen wussten. Wenn Tiere in bestimmten Formen oder Strukturen ihrer Umwelt nicht die richtige Nahrung, Partner oder Feinde erkennen könnten, gäbe es kein animalisches Leben auf der Erde. Die Speicherung von Erkennungsmustern im neuronalen System, die den realen Sachen zu- und übergeordnet sind sowie deren spontane Abrufbarkeit

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im notwendigen Augenblick schließt auf Grund der Abstraktheit dieser Vorgänge Irrtümer nicht aus. Ein Huhn pickt auch ein Sandkorn, das einem Samen ähnelt, "versehentlich" auf oder eine Antilope erschrickt vor einem plötzlichen Schattenspiel. Schimpansen erschrecken vor einer nachgebauten Leopardenattrappe, greifen sie dann "mutig" an und erkennen später ihren Irrtum (Lawick-Goodall 1975). Kein Schimpanse würde aber ein solches Leoparden-Surrogat basteln. Aber ein Australopithecus hob einen Stein auf, der einem Gesicht ähnlich sieht, und trug ihn nachweislich viele Kilometer von seinem ursprünglichen Fundort fort (Bednarik 1999). Es ist unmöglich zu beantworten, ob das Spiel, kommunikativer Spaß oder schon ein Hauch von Gefallen am Irrealen, Magischen war. Wir können aber vermuten, dass mit der nachweislichen Behandlung des Steins eine Art erste, keimende Einsicht über ein Ding einerseits und dessen Deutungsmöglichkeit andererseits verbunden war, eine Einsicht, die eine Voraussetzung für die erst viel später nachweisbare Fähigkeit ist, eigenhändig das Gemeinte in oder auf Stein zu gestalten. C. Es muss aus den oben genannten Gründen schon relativ früh in der Menschheitsgeschichte, spätestens seit der Faustkeilkultur (Fiedler 1997), eine Erkenntnis darüber vorgelegen haben, dass es in der gedanklichen Repräsentation von Sachen nicht nur solche mit eindeutigen, real-banalen Pendants gibt, sondern auch solche, die durch ihr Erscheinungsbild eine überraschende oder verwirrende Doppelbedeutung haben können. Ein gesichtsförmiger Stein, eine schlangenförmige Wurzel oder eine menschengestaltige Felsklippe gehören zum naturgemäßen Erfahrungsbereich und können in der Erinnerung als Dinge mit einer gewöhnlichen und einer zusätzlich scheinbaren Realität gespeichert werden, deren Paradoxie einer Erklärung bedarf. Dies kann auf mythische Weise geschehen oder psychologisch versucht werden. Die Erfahrungen mit der möglichen Doppeldeutigkeit sichtbarer Dinge werden im Denken und Kommunizieren durch diesbezügliche "Bilder im Kopf" sowie dazugehörenden verbalen Begriffen vertreten. In der jungpaläolithischen Höhlenmalerei, in australischen Felsbildern oder in christlichen Ikonen wird dieses reale Sein und imaginäre Scheinen intentional erzeugt, um mystischen Ansprüchen zu dienen (Greve & Fiedler 1998). Aber schon vorher stand der Mensch vor der alltäglichen Erfahrung, dass das, was er dachte, längst keine Realität, sondern eine Wirksamkeit seines Geistes war. Der Name einer Sache, beispielsweise Fluss, ist nicht der Fluss selbst, sondern eine nicht dinglich fassbare innere Wirklichkeit. Die Abstraktheit der Sprache und des Denkens einerseits und deren grundsätzlicher Bezug zur umgebenden Welt der Sachen führt wie von selbst zur Einsicht über die konsequent duale Rolle von Geist und Ding. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass die Menschen vor dem Cro-Magnon diese Einsicht sogleich mit der uns von den späteren Religionen bekannten Transzendenz, einem eigenen, von Welt und Leben unabhängigen Bereich verbanden. Da es aber Kindern möglich war, im Spiel einem Stück Holz den gemeinten Charakter eines Tieres zu geben, und es einem Erwachsenen möglich war, in einer Wolke ein Gesicht, in den Sternen eine Figuration oder im rissigen Muster eines Felsens ein Bildnis zu erkennen, dämmerte die Erkenntnis, dass die kontemplative Betrachtung von Dingen, das Hineinsehen, Erkennen und Benennen eine Möglichkeit ist, das Gewöhnliche und Banale geistig zu beleben und zu erleben. Diese Erfahrung einer Vergeistigung von Welt kann eine Ursache für das Entstehen eines umfassenden Animismus sein. Erst eine animistische Weltsicht ermöglicht es, in der selbst erzeugten Ritzlinienkontur eines Mammuts nicht einfach ein unsinniges Surrogat, eine Falle visueller Irritation, sondern etwas Besonderes zu verstehen. Die "Beseelung" des

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Abbildes entspricht außerdem dem Wunsch, dem Gemeinten über den flüchtigen Augenblick - und letztlich den Tod - hinaus Beständigkeit zu verleihen (Fiedler 1999). Hier bestehen sogar Berührungspunkte zwischen Höhlenmalerei, Ahnenbildnissen, alt-ägyptischen Sarkophag-Portraits und der darstellenden Kunst des Abendlandes. Im Rahmen dieser Theorien vertreten die anthropomorphen Figurationen aus La Ferrassie ein älteres aber keineswegs primitiveres Konzept des Denkens und Darstellens. Sie sind vermutlich ein frühes Zeugnis der menschlichen Selbstreflektion (Peyrony 1934). In diesem Sinne gehören sie aber auch zu dem Fundament, auf dem der Weg zu einer Verdinglichung des Lebendigen (of all vivacity), damit auch zu der Kunst imaginärer Wirklichkeit und interpretativer Weltsicht beschritten wurde. 5. Abstract Archaeologists and anthropologists are often asking for art predating Lascaux, Chauvet or Vogelherd. Neanderthal palaeoart usually has been seen with great scepticism in the debate of the last 30 years. Was that the reason nobody noticed the figurative structures from the Mousterian level of La Ferrassie? Out-of-date scientific ideas vanish now. And it is high time to change the old perspective on culture, representation and Neanderthal artefacts. The structures of La Ferrassie organize the shelter space as a whole. To proceed on the assumption that this originates of a unique/homogeneous conception the scene is legible to read. Our hypothesis is: The nine small mounds of La Ferrassie represent – in a snowman stile – an antropomorph figuration. The six ovate depressions represent a pregnant female with a child in her uterus. Neither figuration is created in a manner of visual naturalism. The knowledge of body function is added up in the mounds and pits. This art is more contemplative than naturalistic. So the La Ferrassie structures could be of great importance in regard to thinking and spiritualism of Middle Palaeolithic man. This leads to the discussion about the reason and the origin of figurative representation and art 6. Résumé Les structures découvertes par D. Peyrony dans la couche moustérienne de La Ferrassie laissent reconnaître un concept cohérent d’axes perpendiculaires, de groupements par deux et trois ainsi qu‘ une dualité de contraires. Les sépultures d’adultes et d’enfants, soigneusement positionnées, s’intègrent dans cette organisation. Il est dès lors possible de reconnaître dans la structure de six fosses ovales la représentation sommaire d’une femme enceinte et dans le groupe de neuf monticules celle d’un homme. Les représentations ne sont pas figuratives dans le sens d’un naturalisme visuel, mais démarquent les différentes parties du corps de façon additive (comme un bonhomme de neige). Le déchiffrement des structures de La Ferrassie permet une nouvelle compréhension de la symbolique et de la culture d’Homo sapiens neanderthalensis.

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Keywords origin of Palaeolithic art, culture, symbols, thinking l’origine de l’art paléolithique, la culture, les symbols, le esprit Ursprünge der Kunst im Paläolithikum, Kultur, Symbole, Denken