8
Der indogermanische Aorist und das germanische Präteritum Alfred Bammesberger 1. In einem wohlfundierten Beitrag hat der Herr Jubilar (Polome 1964) auch die Frage, ob im germanischen starken Präteritum Spuren des thematischen Aorists der Grundsprache zu erkennen seien, eingehend erörtert. In allen wesentlichen Punkten scheinen mir seine Ausführungen zutreffend. Ich möchte aber aus zwei Grün- den die Fragestellung nochmals aufrollen. Zum einen zeigen einige neuere Veröffentlichungen, daß Polomes Ansichten keineswegs die allgemeine Anerkennung gefunden haben, die sie verdienen. Zum anderen meine ich aber auch, daß eine gewisse Revision der Frage, ob Aoristformen der Grundsprache im Präteritalsystem des Ger- manischen fortleben, angebracht ist. 2. Daß das starke Präteritum des Germanischen in seinem Grund- stock auf das indogermanische Perfekt zurückgeht, unterliegt kei- nem Zweifel. Sowohl die Gestaltung der Wurzel als auch Einzel- heiten des Endungssatzes sprechen eindeutig für diese Herleitung. Ein Präteritum wie urg. *baid/bid-u- > got. baidjbid-u-m ,wartete, warteten' weist im Singular den Reflex der o-stufigen Wurzel auf, im Plural erscheint die Schwundstufe. Diese Ablautverteilung ent- spricht den Verhältnissen beim indogermanischen Perfekt (vgl. gr. woida/widme = ai. veda/vidma < idg. *woid-ajwid-me). Auch der Endungssatz des Singulars ist problemlos von den grundsprachli- chen Personalkennzeichen im Perfekt herleitbar: got. gaf/gafi/gaf ,ich gab, du gabst, er gab' setzt die Endungen idg. -a/-tha/-e (vgl. gr. woida/woisthalwoide) fort. 1 Aber in einer Reihe von wesentlichen Charakterzügen weicht das starke Präteritum des Germanischen sehr auffallend vom grundsprachlichen Perfekt ab. Hierher gehören der weitgehende Mangel der Reduplikation und jedenfalls einige Besonderheiten im Endungssatz. Eine dieser Besonderheiten soll zuerst erwähnt werden. 3. Für 2. Sg. des Perfekts wird die Endung urg. *-t(a) klar durch das Gotische und Skandinavische erwiesen. Im Westgermanischen Brought to you by | University of Virginia (University of Virginia) Authenticated | 172.16.1.226 Download Date | 7/5/12 2:19 PM

Languages and Cultures Volume 113 || Der indogermanische Aorist und das germanische Prateritum

  • Upload
    werner

  • View
    216

  • Download
    3

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Languages and Cultures Volume 113 || Der indogermanische Aorist und das germanische Prateritum

Der indogermanische Aorist und dasgermanische Präteritum

Alfred Bammesberger

1. In einem wohlfundierten Beitrag hat der Herr Jubilar (Polome1964) auch die Frage, ob im germanischen starken PräteritumSpuren des thematischen Aorists der Grundsprache zu erkennenseien, eingehend erörtert. In allen wesentlichen Punkten scheinenmir seine Ausführungen zutreffend. Ich möchte aber aus zwei Grün-den die Fragestellung nochmals aufrollen. Zum einen zeigen einigeneuere Veröffentlichungen, daß Polomes Ansichten keineswegs dieallgemeine Anerkennung gefunden haben, die sie verdienen. Zumanderen meine ich aber auch, daß eine gewisse Revision der Frage,ob Aoristformen der Grundsprache im Präteritalsystem des Ger-manischen fortleben, angebracht ist.

2. Daß das starke Präteritum des Germanischen in seinem Grund-stock auf das indogermanische Perfekt zurückgeht, unterliegt kei-nem Zweifel. Sowohl die Gestaltung der Wurzel als auch Einzel-heiten des Endungssatzes sprechen eindeutig für diese Herleitung.Ein Präteritum wie urg. *baid/bid-u- > got. baidjbid-u-m ,wartete,warteten' weist im Singular den Reflex der o-stufigen Wurzel auf,im Plural erscheint die Schwundstufe. Diese Ablautverteilung ent-spricht den Verhältnissen beim indogermanischen Perfekt (vgl. gr.woida/widme = ai. veda/vidma < idg. *woid-ajwid-me). Auch derEndungssatz des Singulars ist problemlos von den grundsprachli-chen Personalkennzeichen im Perfekt herleitbar: got. gaf/gafi/gaf,ich gab, du gabst, er gab' setzt die Endungen idg. -a/-tha/-e (vgl.gr. woida/woisthalwoide) fort.1 Aber in einer Reihe von wesentlichenCharakterzügen weicht das starke Präteritum des Germanischensehr auffallend vom grundsprachlichen Perfekt ab. Hierher gehörender weitgehende Mangel der Reduplikation und jedenfalls einigeBesonderheiten im Endungssatz. Eine dieser Besonderheiten sollzuerst erwähnt werden.

3. Für 2. Sg. des Perfekts wird die Endung urg. *-t(a) klar durchdas Gotische und Skandinavische erwiesen. Im Westgermanischen

Brought to you by | University of Virginia (University of Virginia)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 7/5/12 2:19 PM

Page 2: Languages and Cultures Volume 113 || Der indogermanische Aorist und das germanische Prateritum

56 Alfred Bammesberger

findet sich diese Endung bei den Präteritopräsentien, die regelrechtauf das grundsprachliche Perfekt zurückgehen: ae. scealt ,du sollst'= got. skalt etc. Im Paradigma des starken Präteritums tritt dagegenfür 2. Sg. eine Form auf, die die Wurzelgestalt des Plurals versehenmit einer Endung -i aufweist: ahd. zugi = ae. tuge ,du zogst'(gegenüber ahd. ih zoh = ae. ic teah). Die Formen des Typs wgerm.*tug-i (gegenüber got. tauht < urg. *tauhta ,du zogst') werden seitlangem als aus dem Paradigma des thematischen Aorists stammenderklärt. Auf den ersten Blick besticht die Erklärung ohne jedenZweifel.2

4. Im Griechischen und Arischen sind bekanntlich die thematischenAoriste des Typs gr. elipon (< idg. *e-likw-o-) weit verbreitet. Daim Germanischen das Augment auch sonst fehlt, könnte man an-nehmen, daß eine Vorform idg. *duk-e-s (vgl. gr. (e-)lipes < *likw-e-s) zu urg. *tug-i-z geführt hätte. Wgerm. *tugi ist der regelrechteReflex von urg. *tugiz. Diese Form wäre dann in das Präteritalpa-radigma integriert worden, wobei sicherlich die Tatsache eine Rollespielte, daß durch Kontaktwirkungen die 2. Sg. des Präteritumshäufig eine andere Wurzelgestalt aufwies als der Rest des Paradig-mas, z. B. ae. mcetlmcess (> mast!) bei der Wurzel met- ,messen'. Indieser Form kann die Erklärung von 2. Sg. -i im Westgermanischenjedoch auf keinen Fall zutreffen.3

5. Cardona (1960) hat nämlich unwiderleglich nachgewiesen, daßder thematische Aorist relativ spät, wahrscheinlich sogar erst ineinzelsprachlicher Zeit entstanden ist. Da somit Formen des Typsidg. *duk-e-s dem grundsprachlichen morphologischen System nichtangehören, dürfen sie zur Erklärung der westgermanischen Reflexenicht verwendet werden. In neuerer Zeit sind zwei weitere Vor-schläge zur Erklärung der westgermanischen Form vorgebrachtworden.

6. Bech (1969) geht von der sicherlich richtigen Annahme aus, daßim Urgermanischen die 2. Sg. des Perfekts so wie im Gotischen undSkandinavischen auf *-t(a) endete. Dann muß 2. Sg. -/ im West-germanischen ohne jeden Zweifel eine Neuerung darstellen. NachBech ist 2. Sg. -/ gemäß der Proportion l. PL (Prät.) -um (vgl. got.gebum ,wir gaben') : X = l. PL (Präs.) -um : 2. Sg. (Präs.) -izentstanden. Diese Proportion erklärt problemlos das Auftreten derfür den Plural charakteristischen Wurzelalternante in 2. Sg. Aber

Brought to you by | University of Virginia (University of Virginia)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 7/5/12 2:19 PM

Page 3: Languages and Cultures Volume 113 || Der indogermanische Aorist und das germanische Prateritum

Der indogermanische Aorist und das germanische Präteritum 57

die Proportion als solche ist nicht ohne weiteres annehmbar, l. Pl.Präs, -um ist sicherlich eine Neuerung an Stelle von urg. -am (vgl.got. bairam ,wir tragen').4 Die Erklärung von -um in der 1. Pl. Präs.ist überaus schwierig. Es dürfte jedenfalls kaum gestattet sein, die1. Pl. auf -um als Teil der analogischen Proportion einzusetzen.

7. Wenn aber 2. Sg. wgerm. -i nicht aus dem indikativischen Per-fektparadigma kommt, dann lohnt sich die Frage, ob das Modus-system als Ausgangspunkt dieser Form dienen kann. Polome (1964:879) hat dafür plädiert, daß in wgerm. -i der Reflex des Optativsdes Perfekts gesehen werden soll. Diese Herleitung erscheint durch-aus einleuchtend.

8. Wenn es sich bei wgerm. *tug-i jedoch letztlich um den Optativdes Perfekts handelt, dann erhebt sich wiederum die Frage, warumdie an sich für das Perfekt typische Reduplikation (2.) hier fehlt.Wenn man ferner bedenkt, daß jedenfalls im benachbarten Italischund Keltisch ein neues Präteritalsystem durch Synkretismus vonPerfekt und Aorist entstanden ist, dann wird man die Frage, obauch im germanischen Präteritum Spuren des indogermanischenAorists zu erkennen sind, einer ernsthaften Prüfung für wert halten.Dazu wäre in erster Linie eine umfassende Darstellung des grund-sprachlichen Aoristsystems nötig. Dies kann im Rahmen des vor-liegenden Beitrags nicht geleistet werden.

9. Einige knappe Andeutungen sind aber trotzdem möglich. Alssicherlich grundsprachlich kann der athematische Wurzelaorist desTyps *stä-l gelten. Daß häufig sekundäre Überführung in die the-matische Klasse stattfand, spricht eindeutig für den rezenten Cha-rakter des thematischen Aorists. Der s-Aorist und der reduplizierteAorist mögen in Keimen auf die Grundsprache zurückgehen, siesind aber für die vorliegenden Zwecke nicht von großer Bedeutung.Wir haben in erster Linie die Frage zu untersuchen, ob der athe-matische Wurzelaorist im Germanischen ererbt wurde. Die Beweis-führung kann hier naturgemäß nur indirekt erfolgen, da der athe-matische Wurzelaorist als produktive Kategorie im Germanischenfehlt. Einige Spuren kann man aber doch erkennen.

10. Einige Präsensformen des Germanischen lassen sich am ehestenauf den kurzvokalischen Konjunktiv von athematischen Wurzelao-risten zurückführen. Etwa urg. *kwem-a- (> got. qimari) kann ohne

Brought to you by | University of Virginia (University of Virginia)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 7/5/12 2:19 PM

Page 4: Languages and Cultures Volume 113 || Der indogermanische Aorist und das germanische Prateritum

58 Alfred Bammesberger

weiteres mit dem Konjunktiv idg. *gwem-o- des im Vedischen klarbezeugten athematischen Wurzelaorists *gwem- verknüpft werden.5

Ich habe eine Reihe solcher Beispiele gesammelt (Bammesberger1982a).

11. Man wird unter diesen Umständen fragen, ob sich vielleichteinige Formen des Aoristsystems im Präteritum des Germanischenerkennen lassen. Ich würde die Frage mit einem zurückhaltenden„ja" beantworten. Mit aller gebotenen Vorsicht trage ich mögli-cherweise hierhergehöriges Material vor.

12. Eine der Wurzeln, die in der Grundsprache zweifellos einenathematischen Wurzelaorist aufwiesen, ist idg. *stä-. Das germani-sche Verb für ,stehen' gehört sicherlich zu dieser Wurzel, wenngleichdie Stammbildung im einzelnen wenig klar ist. Es lohnt sich zuuntersuchen, ob im Präteritum vielleicht ein Fortsetzer des grund-sprachlichen athematischen Wurzelaorists zu erkennen ist. DieFrage, wie ein Wurzelaorist stä- im Paradigma ablautete, kann dabeiunberücksichtigt bleiben, da jedenfalls im Germanischen mit Neue-rungen zu rechnen ist. Es ist anzunehmen, daß die Hochstufe we-nigstens teilweise in den Bereich der Schwundstufe eindrang. ImSingular sind auf jeden Fall für eine Vorstufe des Germanischen dieFormen *stä-m, *stä-s, *stä-t anzusetzen. Die lautgesetzliche Ent-wicklung dieser Formen läßt sich kaum mit Sicherheit bestimmen.Jedenfalls wäre -s in 2. Sg. erhalten geblieben, wobei mit Sonorisie-rung im Auslaut zu rechnen ist. Ob der auslautende Dental in 3. Sg.*stä-t geschwunden wäre, läßt sich mangels eindeutiger Parallelfällenicht entscheiden. Selbst wenn -t in stät bei der Entwicklung insGermanische lautgesetzlich gefallen wäre, so konnte nach dem Vor-bild von -s (oder -z) in 2. Sg. stös/stöz eine 3. Sg. stop gebildetwerden. Es ist aber auch damit zu rechnen, daß urg. *stöp derlautgesetzliche Reflex von idg. *stät ist.

13. Eine Form 3. Sg. stop im Germanischen mußte wohl in dasSystem der starken Präteritalformen integriert werden. Da 3. Sg.des auf das Perfekt zurückgehenden starken Präteritums im Urger-manischen wohl nach Abfall von idg. -e (vgl. idg. *woide > urg.wait) endungslos war, konnte stop als aus einer „Wurzel" stop +Endung 0 bestehend aufgefaßt werden. Nach dem Vorbild vonPräteritalformen wie för(-) wurde stop sekundär im Paradigmaverallgemeinert.

Brought to you by | University of Virginia (University of Virginia)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 7/5/12 2:19 PM

Page 5: Languages and Cultures Volume 113 || Der indogermanische Aorist und das germanische Prateritum

Der indogermanische Aorist und das germanische Präteritum 59

14. Zumindest versuchsweise kann eine solche Entwicklung bei einerweiteren Wurzel, die im Indogermanischen sicherlich einen athema-tischen Wurzelaorist aufwies, angenommen werden. Auch für idg.*gnö- ist wohl anzunehmen, daß im grundsprachlichen ParadigmaAblaut zwischen Hochstufe *gnö- und Schwundstufe *gna- auftrat.Wenn die schwundstufige Alternante durch das Aoristparadigmaverallgemeinert wurde, dann kann etwa in 3. Sg. *gnd-t > urg.*kunp- entstanden sein. Offensichtlich wurde 3. Sg. nicht als Grund-lage eines „starken" Präteritums interpretiert, wobei wohl der Man-gel von Präteritalformen mit „schwundstufigem" Vokalismus imSingular ausschlaggebend war. *kunp- diente als Grundlage eines„schwachen" Präteritums: *kunf>e- folgte dem Vorbild von skulde-,sollte'. Das „Partizip" urg. *kunpa- (got. kunps, ae. cüd etc.) weistdie gleiche Stammgestalt auf, die ebenfalls von einer Ausgangsformidg. *gnd-to- her nicht erklärbar ist.

15. Noch eine dritte Wurzel, die grundsprachlich sicherlich einenathematischen Wurzelaorist aufwies, wurde ins Germanische ererbt.Freilich muß offen bleiben, wie zu idg. *dhe- ,setzen, stellen, legen'das athematische Präsens *dö-(mi) im Germanischen entstehenkonnte.6 Daß aber das „schwache" Präteritum mit Hilfe von For-men der Wurzel *dhe- > urg. *de- aufgebaut wurde, ist wohlanzunehmen. Die Vielfalt der Probleme, die mit dem schwachenPräteritum verbunden sind, kann hier nicht erörtert werden. Abernach den bisherigen Ausführungen ist immerhin damit zu rechnen,daß auf der Basis von 3. Sg. *dhe-t > urg. dep eine „Präteritalform"deff/ded im Germanischen entwickelt wurde. Auf diesem Wege läßtsich die sonst so überaus schwierige Form got. -dedum (< -ded-)im Plural des schwachen Präteritums (z. B. nasidedum ,wir retteten')relativ leicht erklären. Daß eine Reihe von Fragen offen bleiben,soll natürlich nicht verschwiegen werden.

16. Nach den vorgebrachten Überlegungen besteht wohl wenigstenseine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß der athematische Wurzelaoristfür eine Frühstufe des Germanischen anzusetzen ist. Dann lohntsich aber eine erneute Untersuchung der eingangs (2. — 3.) erwähntenPersonalkennzeichen. Bei wgerm. -i für 2. Sg. dürfte die Verknüp-fung mit dem Optativ unausweichlich sein. Aber es muß sich nichtum den Optativ des Perfekts handeln. Der Optativ des Wurzelaoristshätte zum gleichen Resultat geführt. Etwa idg. *duk-ye- (Optativeines Wurzelaorists deuk/duk-) ergab mit Durchführung der schwa-

Brought to you by | University of Virginia (University of Virginia)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 7/5/12 2:19 PM

Page 6: Languages and Cultures Volume 113 || Der indogermanische Aorist und das germanische Prateritum

60 Alfred Bammesberger

chen Alternante des Optativmerkmals urg. *tug-i-. 2. Sg. lauteteurg. *tug-i-z.

17. Vermutlich wurde auslautendes - nach dem Schwund von -zgekürzt. Die weitere Entwicklung im Westgermanischen ging in zweiRichtungen. Der produktive Optativ wurde im Deutschen und Eng-lischen verschieden umgestaltet. Im Deutschen wurde nach denFormen mit erhaltenem -i- dieses Merkmal als charakteristisch fürden Optativ verallgemeinert. Im Englischen nahm der präteritaleOptativ die Merkmale des Präsensoptativs an.7 Die Form auf -iwurde sozusagen ,funktionslos'. Sie übernahm die Funktion desIndikativs.

18. In diesem Zusammenhang gehört auch die Behandlung der3. PL auf -un. Die Erklärung dieser Form machte schon immerSchwierigkeiten. Aus dem Perfektsystem kann dieses Personalkenn-zeichen kaum stammen. Aber das Präsens/Aoristsystem scheintauch nicht unmittelbar eine brauchbare Anknüpfungsmöglichkeitzu bieten.

19. Für den athematischen Wurzelaorist ist in 3. Pl. die Endung-ent zu erwarten: idg. *drok-ent, *std-ent > *stent, *dd-ent > *dentetc. Das «f-Partizip wurde mit Hilfe des ablautenden Suffixes -ont-j-qt- gebildet: *d^k-ont-j-r}t-, *st9-ont-f-%t-, *d9-ont-j-i}t- etc. Im Ger-manischen sollten die Reflexe dieser Formen als (3. Pl.) *-inp und(Part.) *-anp-/-unp- auftreten. Im Präsens bestand eine Entspre-chung in der Morphemgestalt bei (3. Pl.) *-anpi und (Part.) *-anp-.Dementsprechend konnte im Aorist nach dem Part. *-an/?-/-unp-auch die 3. Pl. zu *-anp/-unp umgestaltet werden. Daß -anp für3. Pl. im Präteritalsystem ausgeschieden wurde, wird mehrereGründe haben. Man kann daran denken, daß der Anklang anpräsentisches -anp(i) vermieden werden sollte. Auch beim Part,wurde -anp- im Präsenssystem verwendet, so daß -unp- für dasPräteritum verfügbar war. Letztlich ist zu erwähnen, daß -unp(-)beim Vokal des Suffixes für das aktive Perfektpartizip -uz-, das imUrgermanischen kategoriell bestand, Anklang fand. Von -unp(-)aus wurde -u- dann auch in 1. Pl. -u-m (got. gebum), 2. Pl. (gebup)und im Dual (1. Du. gebu [-«?], 2. Du. gebuts) eingeführt.

20. Spuren des athematischen Wurzelaorists lassen sich somit imgermanischen Verbalsystem doch mit gewisser Wahrscheinlichkeit

Brought to you by | University of Virginia (University of Virginia)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 7/5/12 2:19 PM

Page 7: Languages and Cultures Volume 113 || Der indogermanische Aorist und das germanische Prateritum

Der indogermanische Aorist und das germanische Präteritum 61

nachweisen. Es ist daher wohl gestattet, die Kategorie des athe-matischen Wurzelaorists für eine Vor- oder Frühstufe des Germa-nischen zu postulieren. Bei der Erklärung des germanischen Präte-ritalsystems ist dann damit zu rechnen, daß Relikte dieser Kategoriemit Formen des ererbten Perfektsystems verschmolzen sind. DieSuche nach Spuren des athematischen Wurzelaorists im Germani-schen dürfte sich weiterhin lohnen.

Anmerkungen

\. Die Pluralendungen bereiten für die historische Einordnung große Schwierig-keiten. Leider ist aber die Rekonstruktion des Plurals bei indogermanischenPerfektparadigmata ebenfalls unklar.

2. Ohne auf Polome zu verweisen, bringt etwa Austefjord (1979: 214) die alteDeutung, daß wgerm. -i in 2. Sg. aus dem Aoristparadigma stamme, vor.

3. Diese Herleitung wird etwa auch bei Meid (1971: 13 und Anm. 13) vertreten.4. Über das Verhältnis von ahd. nemames zu nemumes vgl. auch Manczak (1978:

310).5. Der Vorschlag, daß idg. *gwem-e- > urg. *kwem-i- als Konjunktiv des Wurzel-

aorists *gwem- zu betrachten sei, findet sich bei Hoffmann (1955).6. Zur Erklärung des problematischen Vokals -ö- bei urg. *dö-mi ,ich tue' kann

man auf das Perfekt idg. *dhe-dhö- (> ai. dadhau) verweisen, dem der o-stufigeVokal regelrecht zukommt; möglicherweise basiert das neugeschaffene Präsens*dö-mi auf dem Perfekt.

7. Die Entwicklung des athematischen Optativs im Altenglischen habe ich inmeinem Aufsatz aus dem Jahre 1982 (= Bammesberger 1982b) nachzuzeichnenversucht.

Literaturhinweise

Austefjord, Anders1979 „Zur Vorgeschichte des germanischen starken Präteritums", Indo-

germanische Forschungen 84: 208 — 215.Bammesberger, Alfred

1982a „Einige e-stufige Präsentien des Urgermanischen und ihr Verhältniszu indogermanischen athematischen Wurzelaoristen", Beiträge zurGeschichte der deutschen Sprache und Literatur (Tübingen) 104: 339 —344.

1982b „Der Optativ bei athematischen Verbalstämmen im Altenglischen",Anglia 100:413-418.

Bech, Gunnar1969 „Das Schicksal der 2. Sg. Ind. Perf. im Germanischen", Studia

neophilologica 41: 75 — 92.

Brought to you by | University of Virginia (University of Virginia)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 7/5/12 2:19 PM

Page 8: Languages and Cultures Volume 113 || Der indogermanische Aorist und das germanische Prateritum

62 Alfred Bammesberger

Cardona, George1960 The Indo-European thematic aorists (Yale dissertation).

Hoffmann, Karl1955 „Vedisch gamati", Münchener Studien zur Sprachwissenschaft 7:

89-92 = Narten, Johanna (ed.). 1976. Karl Hoffmann: Aufsätze zurIndoiranistik (Wiesbaden: Reichert) 2: 384-386.

Manczak, Witold1978 „Irregular sound change due to frequency in German", in: Fisiak,

Jacek (ed.), Recent developments in historical phonology (The Hague —Paris-New York: Mouton), 309-319.

Meid, Wolfgang1971 Das germanische Praeteritum (Innsbruck: Innsbrucker Beiträge zur

Sprachwissenschaft 3).Polome, Edgar C.

1964 „Diachronie development of structural patterns in the Germanicconjugation system", in: Lunt, Horace G. (ed.), Proceedings of theNinth International Congress of Linguists (The Hague: Mouton),870-880.

Postscriptum

Seit Abschluß des hier vorgelegten Manuskripts ist die Frage, wieurg. *stop- zu erklären ist, noch verschiedentlich erörtert worden;vgl. S. Nerup, "The problem of Gothic standen" APILKU (Ar-bejdspapirer udsendt af Institut fpr Lingvistik, K0benhavens Uni-versitet) 3: 113-115 (1984); J. E. Rasmussen, "Editor's Note: Stan-dan andgangan," ibid. 116; Gernot Schmidt, "Got. standan, gaggan,iddja" Sprachwissenschaft 9: 211-230 (1984); Anders Austefjord,"Das präteritale ö der 6. Ablautreihe", Indogermanische Forschungen92: 168-171 (1987).

Brought to you by | University of Virginia (University of Virginia)Authenticated | 172.16.1.226

Download Date | 7/5/12 2:19 PM