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Michael Großheim Anja Kathrin Hild Corinna Lagemann Nina Trčka (Hg.) Leib, Ort, Gefühl Perspektiven der räumlichen Erfahrung VERLAG KARL ALBER B Neue Phänomenologie

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Michael GroßheimAnja Kathrin HildCorinna LagemannNina Trčka (Hg.)

Leib, Ort, GefühlPerspektiven der

räumlichen Erfahrung

VERLAG KARL ALBER B

Neue Phänomenologie

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NEUE PHÄNOMENOLOGIE A

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Was fühlen wir an bestimmten Orten? Der vorliegende Band istan der Schnittstelle von Raum- und Gefühlstheorie angesiedelt.Einen zentralen Ausgangspunkt bildet dabei die leibliche Exis-tenz. Die Räumlichkeit von Gefühlen steht genauso zur Debattewie das gefühlshafte Erleben bestimmter Orte. Beiträge zumgemeinschaftlichen Erleben von Räumen und Gefühlen, zumZeitgeist sowie zur Lebenswelt thematisieren die soziale Dimen-sion des Problemfeldes.

Die Herausgeberinnen und der Herausgeber:

Michael Großheim ist Inhaber der Hermann-Schmitz-Stiftungs-professur für Phänomenologische Philosophie an der UniversitätRostock.Anja Kathrin Hild, Corinna Lagemann und Nina Trčka pro-movieren an der Freien Universität Berlin.

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Michael GroßheimAnja Kathrin HildCorinna LagemannNina Trčka (Hg.)

Leib, Ort, Gefühl

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Neue Phänomenologie

Herausgegeben von derGesellschaft für Neue Phänomenologie

Band 22

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Michael GroßheimAnja Kathrin HildCorinna LagemannNina Trčka (Hg.)

Leib, Ort, GefühlPerspektiven der räumlichen Erfahrung

Verlag Karl Alber Freiburg /München

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Gefördert durch die Gesellschaft für Neue Phänomenologie e.V.

Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier

ISBN (Buch) 978-3-495-48643-6ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80838-2

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Inhalt

Michael Großheim, Anja Kathrin Hild,Corinna Lagemann, Nina TrčkaEinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Hermann SchmitzVon der Scham zum Neid . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Steffen Kammler und Steffen KluckDer Geist einer Zeit und eines Ortes. Anmerkungen zurBedeutung von Situationen in sozialer Hinsicht . . . . . 35

Yuho HisayamaIndividuum und Atmosphäre. Überlegungen zum Dis-tanzproblem am Beispiel des japanischen Wortes kûki . 56

Toru TaniÜbertragung und Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

Thilo BillmeierUrsprüngliches Sicherleiden. Negativität in der Theorieabsoluter Affektivität (Rolf Kühn, Michel Henry) . . . . . 99

Corinna LagemannZur Räumlichkeit der Gefühle. Befindlichkeit und Le-benswelt bei Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

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Anja Kathrin HildDer Erscheinungsraum der Person. Eine Annäherung mitHannah Arendt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

Annika SchlitteDer Raumbezug der »erhabenen Gemütsstimmung« –Überlegungen im Ausgang von Kant und Simmel . . . . . 177

Nina TrčkaSinn für das Maßlose: Das mathematisch Erhabene undder horror vacui. Leibliche Räumlichkeit als Quelleästhetischer Gefühle und spezifischer Ängste . . . . . . 203

Anne EusterschulteSchwindel. Essayistische Annäherung an existentielleHaltlosigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Miriam Fischer-Geboers und Tom GeboersAisthesis des Raums. Ansätze zu einer Kritik des mathe-matischen Vorstellungsraums . . . . . . . . . . . . . . . 262

Thorsten StreubelDer ›große‹ Mensch und seine mundanen Gefühle.Zur Räumlichkeit von Gefühlen und ihrem Erleben . . . 285

Jürgen Hasse und Oliver MüllerZur Spürbarkeit von Architektur. Das Beispiel der(neuen) Goethe-Universität in Frankfurt am Main . . . . 305

Uta EwaldVertikale Erlebnisse. Ein erweitertes Raumverständnis,aufgezeigt am Beispiel des Hallenkletterns . . . . . . . . 345

Robert Josef KozljaničLeben, Wohnen, Fühlen. Von der beheimatendenFunktion ›herzerwärmender‹ Orte . . . . . . . . . . . . 369

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Inhalt

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Gerhard DanzerÜber das mäßige Glück in medizinischen Räumen . . . . 393

Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . 409

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416

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Einleitung

Wie fühlen wir uns an bestimmten Orten? Und wie räumlich istdas Fühlen selbst? Welche Konsequenzen hat die Orientierung ammathematischen Vorstellungsraum für unser Befinden und unsereWahrnehmung? Wie kann man theoretisch den Geist einer Zeitfassen, der die Lebenswirklichkeit ganzer Gesellschaften mitbe-stimmt? Diesen und ähnlichen Fragen gehen die Autorinnen undAutoren des vorliegenden Sammelbandes aus unterschiedlichenDisziplinen und Perspektiven nach.Der Band resultiert aus der Auseinandersetzung mit einer Leer-

stelle, die zwischen Raum- und Gefühlstheorien auch im Zuge desspatial turn noch immer besteht. Gemeinsamer Problemhorizontsind der systematische Zusammenhang und die wechselseitigeDurchdringung von Raum, Ort und Gefühl, die bislang nicht an-gemessen zur Sprache gekommen sind.Auch wenn mittlerweile in den unterschiedlichsten Unter-

suchungen die Rede von der Räumlichkeit Einzug hält, so scheintdiese Rede doch häufig lediglich metaphorisch zu sein. DieserBand möchte gerade die Verschränkung von Raumkonzepten the-matisieren. Ausgehend von phänomenologischen Konzepten leib-licher Existenz scheint diese Verschränkung am genausten in denBlick genommen werden zu können, wie viele der hier versam-melten Beiträge deutlich machen.In den folgenden Texten steht die Räumlichkeit von Gefühlen

ebenso zur Debatte wie das gefühlte Involviertsein in die Um-gebung, die Rolle der Gefühle für das Raumerleben und das Er-leben besonderer Orte sowie kollektive Erscheinungsformen wieder Geist einer Zeit und eines Ortes und die Schwierigkeiten einerpersönlichen Abgrenzung von diesem. Auch die spezifische Räum-

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lichkeit intersubjektiver und interpersonaler Beziehungen wirdthematisch. Hierbei kommen unterschiedliche Ansätze zur Be-währung, um am konkreten Gefühls- oder RaumphänomenReichweiten, Zugangsarten und Komplementarität verschiedenerZugänge zu präsentieren. So ist ein Netz von thematischen undkonzeptionellen Bezügen entstanden, das eine Diskussion er-öffnen möchte.Gemeinsam ist fast allen Beiträgen, dass sie phänomenologisch

arbeiten oder zumindest eine starke Nähe zur Phänomenologiehaben. Erkennbar wird dies an der prominenten Rolle der Leib-lichkeit in vielen Beiträgen. Dadurch wird sichergestellt, dass trotzder Vielfalt methodischer Herangehensweisen und referenziellerKontexte eine Grundlage entsteht, auf die unterschiedliche Dis-ziplinen bei weiterführenden Forschungen zurückgreifen könnenund die innerhalb der verschiedenen philosophischen Strömun-gen als Bezugs- oder Abgrenzungspunkt dienen kann.Die Autorinnen und Autoren arbeiten mit Husserl, Heidegger,

Bollnow, Merleau-Ponty, Schütz, Luckmann, Bachelard, Schmitz,Henry, Kühn, Guzzoni, Augé, aber auch mit Simmel, Kant undArendt und beziehen literarische Texte in ihrer Spezifität mit ein.Neben rein philosophischen Arbeiten stehen humangeografischeForschungsbeiträge sowie kulturwissenschaftlich orientierte Tex-te. Schließlich wird in zwei Beiträgen der Horizont der deutschenPhilosophie beispielhaft auf eine weitere Tradition hin gelenktund geöffnet, und zwar zur japanischen Philosophie hin.Der Band wird eröffnet mit einem Beitrag von Hermann

Schmitz, dessen Philosophie einen der zentralen Bezugspunkteder Beiträge darstellt. Er zeigt in seinem Text Von der Scham zumNeid zunächst die Zusammengehörigkeit der zwei »kathartischen«Gefühle Scham und Zorn auf – eine Zusammengehörigkeit alspolare Gegenstücke, die sich aus der spezifischen Räumlichkeitdieser Gefühle ergibt. Hierbei entfaltet er die phänomenologischeAuffassung des Gefühls als einer in spezifischer Weise räumlichenAtmosphäre. Auf diese Weise kann Schmitz die Ausweglosigkeitder Scham im Vergleich zum Zorn, der sich im Handeln entlädt,gefühlsräumlich fassen. Dass Scham dem Neid zugrundeliegt,zeigt Schmitz zum einen über die Ausweglosigkeit der Scham,

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Einleitung

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die im Neid auf Andere einen Ankerpunkt findet, zum anderenüber den latenten Anspruch, hinter dem eigenen Ichideal zurück-zubleiben, der im Neid zugedeckt wird. Neid zeigt sich damit alsMissgunst aus Scham.

SteffenKammlerund Steffen Kluckuntersuchen in ihremBeitragDer Geist einer Zeit und eines Ortes. Anmerkungen zur Bedeutungvon Situationen in sozialer Hinsicht das Phänomen des Zeitgeistes.Ausgehend von der Erfahrung, dass die konkrete Lebenswirklich-keit jedesMenschen eine spezifische überindividuelle Prägung auf-weist, die sich aus bestimmten räumlichen und zeitlichen Voraus-setzungen ergibt (»Zeitgeist«), suchen sie dieses Phänomen anhandvon phänomenologischen Konzepten zu erhellen und dem kultur-kritischen Diskurs zugänglich zu machen. Unter Rückgriff aufKonzepte der Neuen Phänomenologie können sie zeigen, dass dasPhänomen des Zeitgeistes mit Hermann Schmitz’ Begriff der Si-tuation beschrieben werden kann. Gleichzeitig wird deutlich, dasses Unterschiede zwischen räumlicher und zeitlicher Situation undder jeweiligenWirkung auf die Disposition des Individuums gibt.Mit Yuho Hisayamas Text Individuum und Atmosphäre. Über-

legungen zum Distanzproblem am Beispiel des japanischen Worteskûki wird eine Erweiterung der phänomenologischen Perspektivehin zur japanischen Philosophie unternommen. In seinem Beitraguntersucht der Autor, inwiefern kûki ein atmosphärisches Phäno-men ist, dem sich die Betroffenen kaum entziehen können. Aus-gangspunkt seiner Untersuchung sind drei Konnotationen, diemit der Verwendung des Begriffs im Japanischen verbunden sind.

Toru Tani geht in seinem Beitrag Übertragung und Mediumvon Michel Henrys Theorie der Affektivität als Immanenz ausund kontrastiert sie mit der Philosophie von Megumi Sakabe,um die bei Henry zu scharfe Trennung zwischen der Immanenzund der Transzendenz zu problematisieren. Dazu legt er den japa-nischen Begriff »utsushi« zugrunde und zeigt auf, wie das Gefühlals ein fundamentales Phänomen des »Übergangs« und der »Spie-gelung« verstanden werden kann. Dabei deutet er die linguistischeThese von Émile Benveniste über das Personalpronomen räum-lich aus und greift auf Husserls Theorie von Gefühl und Aktzurück. Er kann so den ursprünglichen zwischenpersönlichen

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Einleitung

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Ort freilegen, der sich in der wechselseitigen Übertragung des Ge-fühls öffnet.

Thilo Billmeier setzt sich in seinem BeitragUrsprüngliches Sich-erleiden. Negativität in der Theorie absoluter Affektivität mit RolfKühns Theorie des Fühlens auseinander, die an die von MichelHenry entwickelte lebensphänomenologische Lehre vom Lebenals absoluter Affektivität anknüpft. In der LebensphänomenologieHenrys und ihrer Aneignung durch Rolf Kühn kommt dem Phä-nomen der Last, genauer jener Erfahrung vonUnausweichlichkeit,die Henry das Sichselbsterleiden nennt, eine Schlüsselstellung zu.Wie der Geworfenheit und Befindlichkeit in der existenzialenHermeneutik als Komplementärstruktur Entwurf und Verstehengegenüberstehen, soll in der Theorie absoluter Affektivität demGefühl der Last ein entgegengesetztes Gefühl der Freude zuge-hören. Die Schwierigkeiten, die sich mit dem Projekt dieser Zu-sammengehörigkeit von Last und Freude verbinden, sind außer-ordentlich perspektivenreich und werden an Kühns Interpretationin Macht der Gefühle entwickelt sowie anschließend in den syste-matischen Zusammenhang der lebensphänomenologischen Ge-fühlslehre zurückgestellt.

Corinna Lagemann geht in ihrem Text Zur Räumlichkeit derGefühle. Befindlichkeit und Lebenswelt bei Heidegger der Bedeu-tung der Gefühle für Lebenswelt und existenziale Räumlichkeitnach. Dabei wird die Lebenswelt als dynamisches Gefüge von af-fektiv gefärbten Verweisungen und Bedeutsamkeiten verstanden,die eine spezifische Räumlichkeit besitzt, welche sich infolge vongefühlsmäßigen Widerfahrnissen stets verschiebt und neu ordnet.In diesem Zusammenhang kommen der Heideggerschen Grund-befindlichkeit der Angst sowie dem von ihr abkünftigen Modusder Furcht und ihren je eigenen Räumlichkeiten eine besondereRolle zu, ebenso dem strukturierenden und dem Dasein immerschon zugrundeliegenden Moment der Sorge, welches die Bezügeund Verweisungen allererst herstellt. Die Konzeption Heideggerswird als einflussreiche Theorie in Abgrenzung vom traditionellenInnenwelt-Paradigma gewürdigt, gleichzeitig werden Schwach-stellen des Ansatzes benannt und anschließende Forschungs-ansätze in den Blick genommen.

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Einleitung

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Anja Kathrin Hild geht in ihrem BeitragDer Erscheinungsraumder Person. Eine Annäherung mit Hannah Arendt der Frage nach,wie der Raum zu verstehen ist, der bei Arendt Ermöglichungs-bedingung für das Erscheinen der Person ist. Der Erscheinungs-raum der Person, der bei Arendt vor allem ein politischer Raumist, wird hier als Kreuzung aus einem Raum praktischen Wissensund dem persönlichen affektiven Möglichkeitsraum verstanden.

Annika Schlitte arbeitet in ihrem Beitrag Der Raumbezug der»erhabenen Gemütsstimmung« – Überlegungen im Ausgang vonKant und Simmel den Raumbezug des Erhabenen heraus und klärtseinen Status als Gefühl. Sie geht von Kants Kritik der Urteilskraftaus und setzt sie ins Verhältnis zu Georg Simmels Thematisierungdes Erhabenen, um anschließend zu einer neuen, phänomeno-logisch orientierten Position zu kommen.

Nina Trčka untersucht in ihrem Text Sinn für das Maßlose,ausgehend von Kants Charakteristik in der Kritik der Urteilskraft,die leiblichen Quellen für das mathematisch Erhabene und ver-gleicht es mit dem horror vacui, der Weiteangst. Sie zeigt, dassbei der ästhetischen Erfahrung des mathematisch Erhabenen einspielerisches und kontrolliertes ›Kippen‹ in primitivere leiblicheRaumformen geschieht, das genossen werden kann – wohingegendieses Umkippen ohne Steuerbarkeit von der Person als horror va-cui (Weiteangst) erlebt wird. Der ästhetische Genuss hat dabeiseine Quelle in der Kontrolle des Zerfalls leiblicher Ganzheit, wel-che mit dem Kippen in primitivere Raumformen einhergeht. DerGenießende spielt dabei mit einer latent im Leibe vorhandenenAngst.

Anne Eusterschulte lotet in ihrem Beitrag Schwindel. Essayisti-sche Annäherung an existentielle Haltlosigkeiten den Spielraum auszwischen Schwindel als Gefühlszustand und als Erkenntnisweisebzw. Erkenntniskritik. Sie entfaltet eine Poetologie des Schwin-dels als Raum literarischer Imagination.

Miriam Fischer-Geboers und Tom Geboers stellen in ihrem TextAisthesis des Raums. Ansätze zu einer Kritik des mathematischen Vor-stellungsraums der modernen Raumauffassung eine andere, leib-lich fundierte »Raum-wahr-nehmung« entgegen. Sie untersuchenzunächst die Gegensätzlichkeit sowie die wechselseitige Durch-

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dringung des mathematischen Vorstellungsraums und des sinnlicherlebten Raums. Sie zeigen kritisch die Veränderungen auf, welcheaus der Gestaltung der Umwelt nach dem Muster des mathemati-schen respektive technischen Raums resultieren. Denn durch dentechnischen Fortschritt entstehen Räume in unserer Lebenswelt,die den Charakter des mathematischen Vorstellungsraums aufwei-sen und dadurch die subjektive Verbindung mit und Anbindungan bestimmte Orte erschweren bzw. das Wesen des Ortes aus-schließen. Sie erarbeiten dabei ein Verständnis des Ortes, bei demdie (emotionale) Bindung des Menschen an diesen als Beseelungdes Raums eine zentrale Rolle spielt.

Thorsten Streubels Beitrag Der ›große‹ Mensch und seine munda-nen Gefühle. Zur Räumlichkeit von Gefühlen und ihrem Erlebengeht systematisch den anthropologischen Voraussetzungen derRäumlichkeit von Gefühlen nach. Streubel zeigt auf, dass Emo-tionstheorien abhängig von ihren fundamentalanthropologischenFundierungen sind.In ihrem Beitrag Zur Spürbarkeit von Architektur. Das Beispiel

der (neuen) Goethe-Universität in Frankfurt am Main untersuchenJürgen Hasse und Oliver Müller auf der Basis empirischer Erhe-bungen die Wirkung moderner Universitätsarchitektur. Am Bei-spiel des neuen Campus der Goethe-Universität Frankfurt amMain zeigen die Autoren, wie gesellschaftlich-symbolische Wahr-nehmung und sinnlich-leibliches Erleben von Bauwerken sichdurchdringen, divergieren oder harmonieren können.

Uta Ewald analysiert in ihrem Aufsatz Vertikale Erlebnisse. Einerweitertes Raumverständnis, aufgezeigt am Beispiel des Hallenklet-terns die leibliche Kommunikation zwischen kletternder und si-chernder Person. Sie zeigt, welche Einflüsse die ortsräumliche Ge-staltung von Kletterhallen sowie der Eventcharakter des Hallen-kletterns auf die leibliche Interaktion des Kletterteams habenund welche Konsequenzen sich daraus für die Sicherheit der klet-ternden Person ergeben.

Robert Josef Kozljanič geht in seinem Text Leben, Wohnen, Füh-len. Von der beheimatenden Funktion ›herzerwärmender‹ Orte demPhänomen der affektiven Bezogenheit auf bestimmte Orte undden damit verbundenen Resonanzphänomenen nach. Ausgehend

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von der Frage, wie man urbane Räume, Wohn- und Arbeitsflä-chen so gestalten kann, dass den Bedürfnissen der Menschen nachWohnlichkeit und ›Heimeligkeit‹ Rechnung getragen wird, ent-wickelt er in Anlehnung an Heidegger und Bachelard ein Konzeptdes ›herzerwärmenden‹ Ortes als einer spezifischen Räumlichkeit,die dem menschlichen Erleben angemessen ist. Dieses Konzepterweitert das Verständnis des anthropologischen Raums (Augé),denn während dieser noch dem geometrischen Raum verhaftetist, bezieht der ›herzerwärmende‹ Ort seinen Gehalt aus seineraffektiven Qualität: Aus dem, woran das Herz hängt – und hatdarüber hinaus einen starken zeitlichen Aspekt: Der ›herzerwär-mende‹ Ort ist deshalb affektiv bedeutsam und beheimatend, weiler historisch (ans Herz) gewachsen ist.

Gerhard Danzer beschreibt in seinem Beitrag Über das mäßigeGlück in medizinischen Räumen aus medizinischer Perspektive daskomplexe Zusammenspiel von Innen- und Außenräumen in dermedizinischen Praxis. Anhand von Stationen eines Menschen-lebens mit all seinen gesundheitlichen Wechselfällen geht er demräumlichen Erleben des Individuums nach. In Anlehnung an Ba-chelard unternimmt Danzer eine Topo-Analyse im Bereich dermedizinischen Räume. Dabei untersucht er das vielschichtigeWechselverhältnis zwischen Innen- und Außenräumen und dieBedeutung des affektiven Bezogenseins auf die (oftmals sterile,unzugängliche) Umgebung sowie Einflussgrößen wie etwa Privat-sphäre (z.B. im Geburts- und Sterbeprozess), Kommunikationzwischen Arzt und Patient im Sprechzimmer sowie die Entfrem-dung des Patienten von seinem persönlichen ›Innenraum‹ im La-bor, wenn das Unsichtbare öffentlich wird. Darüber hinaus gehter auf das besondere Raumerleben des psychotischen Menschenund die gewandelte Rolle der psychiatrischen Einrichtung alsSchutzraum ein.

Michael Großheim, Anja Kathrin Hild,Corinna Lagemann, Nina Trčka

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Hermann Schmitz

Von der Scham zum Neid

Zorn und Scham sind zwei als polare Gegenstücke zusammen-gehörige Gefühle. Ich lege meine phänomenologische Auffassungdes Gefühls zu Grunde. Phänomenologie ist der Versuch, dasDenken für die unwillkürliche Lebenserfahrung begriffsfähig zumachen. Unwillkürliche Lebenserfahrung ist alles, was Menschenmerklich widerfährt, ohne dass sie es sich mit konstruktiver Ab-sicht zurechtgemacht haben. Zu den ältesten Konstruktionen, diedie Phänomenologie bei der Suche nach der unwillkürlichen Le-benserfahrung wegräumen muss, gehört die Einschließung des ge-samten Erlebens eines Bewussthabers in eine gegen die Außenweltabgeschlossene private Innenwelt, genannt »Seele« oder »Bewusst-sein«.1 Wenn dieser Bann gebrochen ist, erweisen sich die Gefühleals räumlich ergossene Atmosphären und leiblich ergreifendeMächte.2 Der Leib, durch den die Gefühle ergreifen, ist nichtder sicht- und tastbare Körper, sondern der ohne Beistand derfünf Sinne gespürte Leib, dessen Dynamik ihn in der leiblichenKommunikation, Wahrnehmung und alle Kontakte stiftend,

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1 Vgl. Schmitz, Hermann: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 3. Auf-lage Freiburg 2012, S. 29–45; ebenfalls Schmitz: Bewusstsein, Freiburg 2010,S. 24–53, S. 113 f.2 Diese Auffassung vom Gefühl habe ich seit 1969 (System der Philosophie,Bd. III, Teil 2: Der Gefühlsraum, in Studienausgabe 2005) vielfältig vertreten;aus letzter Zeit: Schmitz, Hermann: Gefühle als Atmosphären, in: S. Debus/R. Posner (Hg.), Atmosphären im Alltag, Bonn 2007, S. 260–280; Schmitz, Her-mann: Entseelung der Gefühle, in: ders., Jenseits des Naturalismus, Freiburg 2010,S. 145–164, vgl. S. 131–201 Raum und Gefühl; dort S. 181–201 über Zorn undScham; ders.: Atmosphäre und Gefühl – für eine neue Phänomenologie, in:Christiane Heibach (Hg.), Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens,München 2012, S. 33–56; ders.:Das Reich der Normen, Freiburg 2012, S. 49–59.

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übergreift.3 Eine Atmosphäre im hier gemeinten Sinn ist die aus-gedehnte Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich des-sen, was als anwesend erlebt wird. Flächenlos sind außer demRaum des Leibes und dem Raum der Gefühle als Atmosphärenz.B. der Raum des Schalls, der Raum der einprägsamen Stille,der Raum des auftreffenden (nicht als bewegte Luft verdinglich-ten) Windes, der Raum des Wetters, der Raum des unauffälligenRückfeldes, der Raum des Wassers für den Schwimmer, der sichohne optische Vergegenwärtigung vorwärts kämpft oder ruhig tra-gen lässt. Gefühle sind Halbdinge wie die Stimme (eines Men-schen oder Tieres), der Wind, die reißende Schwere (wenn manausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt), Melodien oderProbleme, die man nicht los wird, der wiederkehrende Schmerz,die in Langeweile oder gespannter Erwartung unerträglich auf-dringliche Zeit; sie unterscheiden sich von Dingen im Vollsinn(Volldingen) durch unterbrechbare Dauer und unmittelbare Kau-salität (d.h. solche, in der Ursache und Einwirkung dem Effektgegenüber zusammenfallen).Zorn und Scham sind thematisch zentrierte Gefühle. Solche

werden, namentlich in der philosophischen Literatur, als intentio-nale oder auf einen Gegenstand abzielende bezeichnet, doch istdie Rede vom Gegenstand eines Gefühls zu undifferenziert, dadas Thema, um das die Atmosphäre eines Gefühls zentriert seinkann, in vielen, wenn auch nicht allen, Fällen in zwei Gliedergegabelt ist, in Verankerungspunkt und Verdichtungsbereich.Nach Metzger, der sich aber auf optische Gestalten beschränkt,ist Verankerungspunkt einer Gestalt die Stelle, von wo sie sichanschaulich aufbaut, beim Blatt der Ansatz am Stiel, Verdich-tungsbereich dagegen der Bereich, in dem sich ihre Eigenart präg-nant verdichtet, beim Blatt der gezackte Umriss.4 Ich habe dieseBegriffe auf Gefühle übertragen, wo sie aber, anders als bei Metz-ger, nicht nur zusammen brauchbar sind. Freude kann z.B. Freu-

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Hermann Schmitz

3 Schmitz, Hermann: Der Leib, Berlin 2011, S. 1–53; S. 89–96: Leib und Ge-fühl.4 Metzger, Wolfgang: Psychologie, 5. Auflage Darmstadt 1975, S. 178–180,S. 181–185.

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de an etwas (z.B. einer schönen Landschaft, Verdichtungsbereich)ohne Freude über etwas sein, oder Freude über etwas (z.B. ein mitMühe und Not bestandenes Examen, Verankerungspunkt) ohneFreude an etwas, oder Freude an und über etwas (z.B. ein mitGlanz durchgemachtes und bestandenes Examen), oder gegen-standslose Freude. Mit leiblicher Angst ergreifende Bangigkeitwird zu Grauen, wenn sie schon einen Verdichtungsbereich hat,dem aber der Verankerungspunkt noch fehlt; sobald dieser hin-zutritt, konsolidiert sich das Grauen zur gesättigten Furcht, z.B.zur Furcht vor dem potentiellen Mörder (Verdichtungsbereich)wegen der Aussicht auf den Tod (Verankerungspunkt). Die Prä-position könnte an ein bloßes Kausalverhältnis denken lassen,aber dann müsste der Tod als der eigentlich gefürchtete Effektim Vordergrund stehen, während die Furcht bei Konfrontationmit dem lebensgefährlichen Angreifer in erster Linie diesem,dem potentiellen Mörder, gilt. Zorn und Scham sind zentrierteGefühle, die nur ergreifen können, wenn beide Stellen des Zen-trums, Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt, besetztsind. Verdichtungsbereich des Zorns ist der, auf den man zornigist, Verankerungspunkt das, worüber man zürnt. Verdichtungs-bereich der Scham ist der beschämende Umstand, Verankerungs-punkt der Beschämte, zu unterscheiden von dem, der sich schämt,denn es kann sein, dass einer sich beschämend benimmt, also derBeschämte ist, ohne sich zu schämen, während die Umstehendenpeinlich berührt sind.An derUnterscheidung vonVerdichtungsbereich undVeranke-

rungspunkt lassen Zorn und Scham sich auf Übereinstimmungund Gegensatz vergleichen. Beide sind kathartische Gefühle, diedurch eine Störung, die ihr Verankerungspunkt ist, eintreten unddarauf drängen, sich durch einen Angriff, der die Störung kompen-siert, an ihrem Verdichtungsbereich auszulassen und dadurch auf-zuheben. Diese eigentümliche Drehform fehlt bei der Furcht, dieauch darauf aus ist, sich auszulassen und dadurch aufzuheben, aberdiese Katharsis wendet sich nicht auf den Verdichtungsbereich, et-wa den potentiellen Mörder, zurück, sondern strebt von ihm wegoder über ihn (»über seine Leiche«) hinaus ins Freie. Gemeinsamsind Zorn und Scham die ursprünglichen Unrechtserfahrungen,

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Von der Scham zum Neid

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aus denen sich das Recht bildet.5 Derselbe Sachverhalt, als eigenesUnrecht verstanden, wird Verankerungspunkt der Scham, als Un-recht Anderer verstanden. Verankerungspunkt des Zorns: Zorn isteine explosive, allseitig zentrifugale Erregung, die sich nur nachvorne wendet, wenn sie die Gegner vor sich hat; Scham ist eineimplosive, allseitig zentripetale Erregung, wie die Bangnis imnächtlichen Wald. Zorn aktiviert mit Dominanzanspruch; Schampassiviert mit Unterwerfungsdruck und lähmt. Zorn steigert sichzum Gipfel einer terminalen Aktion, der ein jähes Verebben folgt,in dem die von ihm heftig angefachte leibliche Spannung er-schlafft; er gleicht damit dem Geschlechtsakt, dem der Racheaktentspricht. Scham dagegen fixiert den Beschämten, der sichschämt, durch zentripetalen Rückschlag ihrer Atmosphäre gegendas Abprallen einer von diesem ausgehenden Initiative an einerZurückweisung. Dieser Umschlag spielt sich im Richtungsraumab. Die gewöhnliche Raumvorstellung, geleitet von Geometrieund Naturwissenschaft, orientiert sich an dem dreidimensionalenOrtsraum, der über umkehrbaren Verbindungsbahnen zwischenBlickzielen konstruiert wird, indem an diesen Bahnen Lagen undAbstände abgelesen und über diesen relative Orte eingeführt wer-den, die sich durch Lagen und Abstände an ihnen befindlicherOb-jekte gegenseitig bestimmen, d.h. identifizierbarmachen. Ich habenachgewiesen, dass dieser Ortsraum zur zirkelfreien Einführungdes Schöpfens aus tieferen, dem spürbaren Leib und der leiblichenKommunikation verwandten Schichten der Räumlichkeit bedarf.6Die nächste Schicht ist der Richtungsraum, die Domäne aller flüs-

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Hermann Schmitz

5 Schmitz, Hermann:Der Rechtsraum (= System der Philosophie, Bd. III, Teil 3),Bonn 1973, in Studienausgabe 2005, darin S. 20–47: Die Gefühlsbasis desRechts: Die Hauptgefühle (Zorn und Scham), S. 105–110: Rechtskulturen desZorns und der Scham; entsprechend: Das Reich der Normen, S. 60–68, S. 91–97.6 Dazu und zu meiner Lehre vom Raum überhaupt nenne ich an neueren Dar-stellungen: Schmitz, Hermann: Situationen und Konstellationen, Freiburg 2005,S. 186–204: Der erlebte und der gedachte Raum; Schmitz: Jenseits des Naturalis-mus, S. 132–144: Raumformen und Raumfüllung; Schmitz: Der Leib, S. 121–128: Leib und Raum; Schmitz: Atmosphärische Räume, in: Rainer Goetz/StefanGraupner (Hg.), Atmosphären II, München 2012, S. 17–30.

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sigenMotorik, die imOrtsraum, wenn man sich bei jedem Schrittan Lagen und Abstände relativer Orte halten müsste, unmöglichwäre. Im Richtungsraum gibt es keine Orte, wo etwas ist, stattdessen aber in leiblicher Kommunikation in einander greifendeunumkehrbare Richtungen, teils leibliche des Blickes und des mitihm zusammen geschalteten motorischen Körperschemas7, teilsBewegungssuggestionen – Vorzeichnungen möglicher oder bevor-stehender Bewegung an ruhenden oder bewegten Gestalten oderBewegungen, immer über das Ausmaß der ausgeführten Bewe-gung hinaus und in den spürbaren Leib übernehmbar –, an denendie reagierende Eigenbewegung im Umgang leiblicher Kommuni-kationMaß nimmt. Darüber hinaus gibt es im Richtungsraum dieabgründigen, gleichfalls unumkehrbaren Richtungen, die ohneangebbare Quelle über den Leib kommen, wie die Richtungender reißenden Schwere und der gerichteten Gefühle, etwa derSehnsucht, der Bangnis oder des Zorns, der wie ein Blitz einschlägtoder im Leib spürbar aufsteigt und nicht nur diesen, sondern denZürnenden selbst mit einem Impuls mitreißt, dem dieser anfangs,ehe er sich sammeln und mit Preisgabe oder Widerstand Stellungnehmen kann, den eigenen Impuls einordnen muss.Scham entsteht, wenn eine ausgreifende Initiative oder Pro-

vokation an einer Mauer der Zurückhaltung abprallt und dadurcheine ihrer Expansion entgegen gesetzte Atmosphäre des Gefühlsweckt, in der abgründig einstrahlende Richtungen dominieren.Der so von durchbohrender Scham in Gestalt zentripetaler Vek-toren des Gefühls ergriffene Leib kann seine eigenen, zentrifugalaus der Enge in die Weite führenden Richtungen, wie die des Bli-ckes, nicht gegen das Übergewicht der Scham behaupten; er sinktzusammen, als ob er sich in sich verkriechen wollte. Kramer fanddafür in den Akten der Stadt Höchstadt an der Aisch aus dem Jahr1697 die bezeichnende Wendung »sich in sein Lungen und Inge-weid hinein schämen.«8 Der expansive Impuls »Weg!« ist der

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7 Zum motorischen Körperschema: Schmitz: Der Leib, S. 21–23.8 Kramer, Karl-Sigismund: Volksleben im Hochstift Bamberg und im FürstentumCoburg (1500–1800). Eine Volkskunde auf Grund archivarischer Quellen, Würz-burg 1967, S. 195.

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Scham mit der Angst und dem Schmerz gemeinsam, aber wäh-rend er sich bei diesen wenigstens symbolisch im Schrei entladenkann, ist das »Weg!« der Scham aussichtslos, da es gerade dahinzielt, wo man schon ist, »in sein Lungen und Ingeweid«. Der Be-schämte kann nicht mehr aufrecht stehen und geradeaus sehen; ersenkt den Blick vor den seine expansive Tendenz erstickendenRichtungen des Gefühls, die gegebenenfalls durch beschämendauf ihn gerichtete Blicke und zeigende Finger übertragen werden.Die Übertragungsleistung wird an den von allen Seiten zeigendenFingern dadurch deutlich, dass der beschämende Effekt ver-schwindet oder in einen komischen umschlägt, wenn die Fingerihr Ziel berühren. Sie sind also nur Träger und Versinnlicher vonüber sie und ihre eigene Bewegung hinausgehenden Bewegungs-suggestionen des ergreifenden Gefühls.Die Scham ist also gleichsam die unglückliche Schwester des

Zorns, dessen kathartischer Impuls, wenn nichts ihn hemmt, sichim Racheakt frei entladen kann, während der kathartische Impulsder Scham sich selbst vereitelt und keinen Ausweg zulässt als dender Selbstvernichtung durch Einstimmen in den Chor der zentri-petal durchbohrenden Erregung mit dem Dolch des Harakirioder des mentalen Harakiri der Penthesilea Kleists. Dem vonScham Ergriffenen bleibt nicht einmal die Souveränität des Rich-ters über sich selbst; sein sich herabsetzendes Urteil über sich istnur abgenötigte Zustimmung zu der vom Gefühl über ihn ver-hängten Demütigung. Das zeigt sich an dem verschiedenen Sinndes Reflexivpronomens »sich« bei Anwendung auf Zorn undScham. Soweit man sich selbst überhaupt zürnen kann – etwa imRückblick wegen einer Dummheit, mit der man sich selbst einBein gestellt hat –, hat das Pronomen den aktiven Sinn, sich etwasanzutun; in der Wendung »sich schämen« ist es dagegen rein me-dial gebraucht, wie beim Sich-ärgern und Sich-fürchten, und sig-nalisiert: Ich stecke in der Scham, muss mich ihr fügen, mich beu-gen lassen.Da die Scham sich selbst ihre Katharsis vereitelt, indem sie

dem Beschämten bloß den Weg der ihn paradox fixierendenFlucht in sich zurücklässt, bleibt diesem kein Ausweg ins Freieals der Versuch einer Konversion der Scham, tunlichst in einen

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anderen Affekt. Dafür bietet sich zunächst der Zorn an, der glück-lichere Bruder der Scham. In der Tat gibt es die Möglichkeit,Scham in Zorn umzuwechseln und dadurch abzulösen. Das deut-lichste Beispiel dafür ist die früher weit verbreitete Duellsitte derhöheren Stände. Wer eine Beleidigung auf sich sitzen ließ, galt alsFeigling, dem der Mut zur Retorsion fehle, und Feigheit als dasschlimmste Stigma der Beschämung. Diese aber konnte man ab-wenden durch die Geste des Zorns, den Beleidiger zum Kampfauf Leben und Tod herauszufordern und ihm bei dieser Gelegen-heit das Risiko zuzuschieben, selbst als Feigling entlarvt zu wer-den, wenn er zurückzuckte. Wie auch das Duell ausging, die Ehrewar gerettet und die Beschämung gemieden oder geheilt. Der for-cierte Aufwand für den schlagkräftigen Schutz der Ehre, der dieabendländische Geschichte durchzieht und besonders bei Ger-manen und Beduinen auffällt, ist die wachsame Befestigung desFluchtweges aus der Scham in den rächenden Zorn9, dem sich bisheute viele Benachteiligte anschließen, die Scham über ihre Lagein laute Empörung verwandeln. Aber das gelingt nicht immer, seies, dass die Kräfte (oder der Mut) nicht reichen oder das Forumfehlt, auf dem man für seine laute Empörung Gehör fände. Dannbietet sich eine andere Konversion der Scham an, die zum Neid.Ich habe die Scham als Rückschlag einer abgründig ergreifen-

den Atmosphäre des Gefühls auf das Abprallen einer Initiativegedeutet und diese Auffassung eben wiederholt. Nun hat die frühverstorbene Anna Blume in ihrer schönen Dissertation diese Deu-tung als zu kurz gegriffen angefochten und mir Beispiele heftigerScham entgegengehalten, an denen ihrer Meinung nach gar keineInitiative des anschließend Beschämten beteiligt ist, vielmehr ge-rade dessen Passivität ihn in die Scham stürzt.10 Diese Beispiellistesoll mir nun als Sprungbrett für den Übergang von der Schamzum Neid dienen, nämlich als Wegweisung zu derjenigen Formvon Scham, die solche Konversien gestattet. Dabei will ich meine

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9 Schmitz: Der Rechtsraum, S. 48–54: Die Verletzung der Ehre.10 Blume, Anna: Scham und Selbstbewusstsein. Zur Phänomenologie konkreter Sub-jektivität bei Hermann Schmitz, Freiburg/München 2003, S. 94–108: Darstel-lung und Diskussion der Schmitz’schen These.

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ältere Bestimmung der Scham durch eine Erweiterung des Be-griffs der Initiative verteidigen und weiterführen. Ich lasse als Ini-tiative nun auch den latenten Geltungsanspruch gelten, der in derVerfolgung des sogenannten Ichideals oder Leitbildes der eigenenPerson besteht, also dessen, worauf jemand aus ist, weil er sichdazu bestimmt oder dafür bestimmt hält, als ganze Person so zusein. Man könnte auch von einem Ideal der Selbstverwirklichungsprechen. Dabei handelt es sich weniger um ein explizites Pro-gramm als um das, was ich als eine partielle prospektive Situationin der zuständlichen persönlichen Situation oder Persönlichkeitdes Betreffenden beschrieben habe.11 Eine Situation ist Mannig-faltiges, das zusammengehalten und mehr oder weniger abge-hoben wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeu-tungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. DieBedeutsamkeit ist binnendiffus, wenn nicht alle Bedeutungen inihr einzeln sind. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. EineSituation ist zuständlich, wenn sie sich sinnvoll erst nach längerenFristen auf Veränderungen prüfen lässt. Die persönliche Situationbildet sich im Zug der personalen Emanzipation12, wenn durchVereinzelung und Neutralisierung von Bedeutungen ein Bereichdes Fremden etabliert wird, dem Eigenes als persönliche Eigen-welt gegenüberstehen kann. In der persönlichen Eigenwelt, zuder alles gehört, woran die Person in Zu- oder Abneigung, Ab-wehr oder Zugriff gleichsam »hängt«, bildet sich lebenslang einepersönliche Situation aus und um, zu der in der persönlichen Ei-genwelt gehört, was die Person sich und nicht anderem zulegt. Inder persönlichen Situation gleiten und reiben sich, wie zähflüssigeMassen, viele partielle Situationen, darunter prospektive, die vor-zeichnen, worauf die Person aus ist und wovon sie weg will. Siesind ihr nicht ohne Weiteres zugänglich. Von dieser Art ist daspersönliche Leitbild oder Ichideal.

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11 Zur persönlichen Situation vgl. Schmitz, Hermann: Die Person (= System derPhilosophie, Bd. IV), Bonn 1980, in Studienausgabe 2005, S. 287–473; ebenfallsSchmitz: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 106–136; Schmitz: Be-wusstsein, S. 99–109.12 Schmitz: Das Reich der Normen, S. 18–23.

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Die Fälle vermeintlich bloß passiv, ohne Eigeninitiative, wi-derfahrender Scham, die Anna Blume mir entgegenhält, sind mei-nes Erachtens solche, in denen die Initiative in dem in der Per-sönlichkeit enthaltenen Anspruch steckt, dem Ichideal zu genü-gen; indem dieser Anspruch in auffälliger Weise durchkreuzt undniedergeschlagen wird, prallt er an den Umständen ab, und es ent-steht die für Scham von mir beschriebene Situation. Um dieseThese zu rechtfertigen, will ich die von Blume ausgeführten Bei-spiele unter 8 Titeln durchnehmen, ohne ins Einzelne zu gehen.1. Scham auf Grund sozialer Minderwertigkeitskomplexe.132. Scham dessen, über den sich Andere lustig machen, ihn ver-höhnen, seine Gedanken ausplaudern.

3. Scham einer Frau, deren körperliche Formen von anderen öf-fentlich kommentiert werden.

4. Scham, körperlich, dadurch animalisch bedürftig und unbe-einflussbaren Veränderungen ausgesetzt zu sein.

5. Scham, von anderen entblößt zu werden.Bei 3–5 handelt es sich meines Erachtens um die Augustinus-Scham, den eigenen Körper nicht beherrschen und daher dervom Ichideal geforderten Meisterschaft nicht genügen zu können;im Fall 3 übernimmt der Körper die Provokation, die die Frausich vorbehalten oder einbehalten möchte.146. Scham, einem Mensch in der Not nicht geholfen zu haben7. Scham, als KZ-Häftling ohnmächtiger Zeuge einer Misshand-lung zu sein.

8. Scham weiblicher Opfer sexueller Misshandlung, besondersdann, wenn sie dabei ungewollt in sexuelle Erregung geratensind.

In allen diesen Fällen handelt es sich meines Erachtens darum,dass die Beschämten, die sich schämen, sich etwas vergeben oderetwas erlitten haben, das sie ihrem Ichideal gegenüber herabsetzt.Diese Fälle, in denen die einen Rückschlag der Atmosphäre

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13 Beispiele (Hekabe nach Euripides und Anton Reiser) nach Schmitz: DerRechtsraum, S. 37.14 Zu Augustinus vgl. Schmitz, Hermann: Der Weg der europäischen Philosophie,Bd. II, Freiburg 2007, S. 36–38.

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provozierende scheiternde Initiative auf den latenten Anspruch,dem eigenen Ichideal zu genügen, und auf dessen Scheitern aneiner Unzulänglichkeit beschränkt ist, sind geeignet, die Brückevon der Scham zum Neid zu schlagen. Neid ist, nach der Defini-tion in Grimms Deutschem Wörterbuch15, »jene gehässige undinnerlich quälende Gesinnung, das Missvergnügen, mit demman die Wohlfahrt und die Vorzüge anderer wahrnimmt, sieihnen missgönnt mit dem meist hinzukommenden Wunsche, sievernichten oder selbst besitzen zu können.« Selbstquälerei stehtim Allgemeinen im Dienst der Beseitigung oder Kompensationeines eigenen Mangels; hier aber heftet sie sich an Wohlfahrt oderVorzüge Anderer, also ohne die Selbstdienlichkeit, die ihr sonstSinn verleiht, und wirkt im Neid daher sinnlos. Dieser Scheinvon Sinnlosigkeit schwindet, wenn man die Funktion des Neidesin der Aufgabe erkennt, von der Ausweglosigkeit einer Scham ab-zulenken. Es handelt sich um die Scham, ganz oder teilweise hin-ter dem eigenen Ichideal zurückzubleiben, sofern diese Schamausgelöst wird durch die Anwesenheit eines Anderen oder einerGruppe Anderer, von dem oder der dem Beschämten aufdringlichdie Ausfüllung der Lücke vorgehalten wird, deren Klaffen in sei-nem Ichideal ihn beschämt. Diese Auslösung von Scham durchdas Vorhalten eines Vorzugs, den er selbst erreichen möchte, umsich gemäß seinem Leitbild bejahen zu können, aber nicht zu er-reichen vermag, sucht der Neidische abzuwenden, indem er demoder den Vorzüglichen seine (ihre) Vorzüge in Gedanken oder inder Tat abnimmt. Das kann auf zwei Weisen geschehen, entwederso, dass er sie herabsetzt oder schädigt, oder noch raffinierter so,dass er seinem Ichideal in der Form, wie er es bei den Beneidetenverwirklicht sieht, untreu wird und umgekehrt seinen mangelhaf-ten Zustand idealisiert, die Beneideten aber, gemessen an diesemneuen Ideal, entwertet. So verfuhren nach Nietzsches Deutungdie Christen, als sie, die Zukurzgekommenen aus der Unter-schicht, die von ihnen beneideten Aristokraten um deren groß-artigen, selbstbewussten Lebensstils willen als die hochmütigen,

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15 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, München 1984,Bd. 13, Spalte 551.

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ausschweifenden, angriffslustigen Bösen denunzierten und da-gegen ihren schlichten (schlechten) Lebensstil der kleinen Leute,die bescheiden, demütig, duldsam, leidbereit sind, als das Gute inGeltung setzten.16 Scham wird Neid, wenn sie dem Vorbild derVerkörperung des schmerzlich ganz oder teilweise unerreichtenIchideals seinen sie weckenden Glanz zu nehmen trachtet, damitder Beschämte wenigstens vom akuten Druck seiner Scham ent-lastet wird, ohne freilich deren Stachel, seine Unzulänglichkeit,abschütteln zu können. Weil diese Abhilfe den verbleibenden Sta-chel des Ungenügens an sich selbst nur zudeckt, bleibt sie zwie-spältig, und an diesem Zwiespalt krankt der Neid; daraus ergibtsich seine Verbissenheit, seine Verklemmtheit, sein Ungenügen ansich selbst, sein Nagen und Zehren.

Neid ist Missgunst aus Scham. Diese neue Bestimmung seinesWesens, die nach Belieben als Definition oder als These gelesenwerden kann, greift über die speziellen Formen scheinbar passiverScham ohne Eigeninitiative auf so gut wie alle Gestalten Neidweckender Beschämung durch ein Vorbild, das dem Beschämtendessen schmerzlich gespürte Unzulänglichkeit vorhält, über, weildiese Beschämung immer als Verletzung des Ichideals verstandenwerden kann. Die Triftigkeit dieser These erhellt sich an einemtypischen Zug der Physiognomie des Neidischen, seinem eigen-tümlich schiefen oder »scheelen« Blick, mit dem er den Beneide-ten von der Seite her ansieht, statt ihm gerade und aufrecht in dieAugen zu schauen. Die Überlieferung pointiert mit vielen Zeug-nissen diese »Scheelsucht« des Neiders.17 Der Beschämte senktden Blick, weil dieser den (eventuell durch Umstehende vermit-telten) Andrang der Atmosphäre nicht aushält; der Neider, halb-wegs von seiner Scham entlastet, meidet den Blick nicht ganz,aber halbwegs, indem er nur verstohlen und zur Seite hin zu bli-cken wagt. Ein ganz besonderes charakteristisches Merkmal der

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16 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral (Erste Abhandlung: »Gut undBöse«, »Gut und Schlecht«) (= Philosophische Werke in sechs Bänden, Bd. 6),Hamburg 2013.17 Haubl, Rolf: Neidisch sind immer nur die anderen, München 2009, S. 62–66(mit Bildzeugnissen); Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 14, Spalten 2487 und2551 (Zeugnisse von Logau, Gryphius, Herder, Grillparzer).