Lenin - Werke 37

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Lenin - Werke

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  • PROLETARIER ALLER LNDER, VEREINIGT EUCH!

    LENINWE RKE

    37

  • HERAUSGEGEBEN AUF BESCHLUSSDES IX. PARTEITAGES DER KPR(B) UND DES

    II. SOWJETKONGRESSES DER UdSSR

    DIE DEUTSCHE AUSGABE ERSCHEINTAUF BESCHLUSS DES ZENTRALKOMITEESDER SOZIALISTISCHEN EINHEITSPARTEI

    DEUTSCHLANDS

  • I N S T I T U T F Q R M A R X I S M U S - L E N I N I S M U S B E I M ZK D E R K P d S U

    WI.LENINWERKE

    INS DEUTSCHE BERTRAGENNACH DER VIERTEN RUSSISCHEN AUSGABE

    DIE DEUTSCHE AUSGABEWIRD VOM INSTITUT FR MARXISMUS-LENINISMUS

    BEIM ZENTRALKOMITEE DER SED BESORGT

  • WI.1ENINBAND 37

    BRIEFE AN DIE ANGEHRIGEN1893-1922

  • Rassischer Originaltitel:

    B.H. ILEBHH COIHHEHHH

    Dietz Verlag GmbH, Berlin 1. Auflage 1962Printed in the Gennan Oemocratic Repablic Alle Rechte vorbehalten

    Gestaltung and Typographie: Dietz Entwarf Lizenznammer 1Gesamtherstellang: Karl-Marx-Werk Pnedt V15/30

    ES I C

  • VII

    VORWORT

    Band 37 der Werke W. I. Lenins enthlt die persnlichen Briefe, Tele-gramme und kurzen Mitteilungen W. I. Lenins an seine Angehrigen ausden Jahren 1893-1922. Der Band umfat die Briefe W.I.Lenins anseine Mutter Maria Alexandrowna Uljanowa, an seine Schwestern AnnaIljinitschna und Maria Iljinitschna Uljanowa, an seinen Bruder DmitriIljitsch Uljanow, an N. K. Krupskaja und an den Mann seiner Schwester -A. I. Uljanowa-Jelisarowa - M. T. Jelisarow. Insgesamt enthlt der Band274 Briefe W. I. Lenins.

    Der grte Teil der in dem Band enthaltenen Briefe wurde in derZeitschrift Proletarskaja Rewoluzija", Jahrgang 1924,1929 und 1930, inden Lenin-Sammelbnden III, XXIV, XXV, XXXV und in den von A. I.Uljanowa-Jelisarowa und M. I. Uljanowa herausgegebenen Sammelbn-den Briefe an die Angehrigen", Ausgaben von 1930, 1931 und 1934,verffentlicht.

    Inhalt und Bedeutung der Briefe W. I. Lenins an seine Angehrigenwerden in dem Vorwort von M. I. Uljanowa zur Ausgabe des Sammel-bandes von 1930 sowie in dem Vorwort (bzw. Aufsatz) Zu den BriefenWl. Ujitschs an die Angehrigen" von A. I. Uljanowa-Jelisarowa zu denAusgaben des gleichen Sammelbandes von 1931 und 1934 ausfhrlich er-lutert. Diese Vorworte sind dem vorliegenden Band vorangestellt.

    W. I. Lenin hat an seine Mutter und die anderen nahen Angehrigenmindestens einmal in einer bis anderthalb Wochen geschrieben. GrereIntervalle zwischen seinen in dem Band abgedruckten Briefen zeugen vonder Tatsache, da ein erheblicher Teil des Briefwechsels zwischen W. I.Lenin und seinen Angehrigen nicht erhalten geblieben ist. Dies erklrt

  • VIU Vorwort

    sich dadurch, da fast der gesamte Briefwechsel in die vorrevolutionrePeriode fllt, in der bei den Angehrigen W. I. Lenins hufig Haussuchun-gen und Verhaftungen stattfanden. Ein groer Teil der Briefe W. I. Leninsan seine Angehrigen ist der Polizei in die Hnde gefallen und weistSpuren ihrer Kontrolle auf - die Ochrana-Beamten haben die sie inter-essierenden Stellen mit Rotstift unterstrichen u. dgl. m. Ein Teil der bei denHaussuchungen beschlagnahmten Briefe wurde berhaupt nicht zurck-gegeben, einige Briefe wurden nach der Revolution in den Akten derGendarmerieverwaltungen gefunden, von einigen Briefen sind nur ein-zelne Bltter erhalten. Viele Briefe gingen whrend des imperialistischenKrieges von 1914 bis 1917 verloren, als die Auslandskorrespondenz einerbesonders strengen Zensur unterlag.

    Am vollstndigsten erhalten ist der Briefwechsel vom Ende der neun-ziger Jahre und aus den Jahren 1908 und 1909, als die Verffentlichungvon W. I. Lenins Arbeiten konomische Studien und Aufstze", DieEntwicklung des Kapitalismus in Ruland" und Materialismus und Empi-riokritizismus" vorbereitet wurde. Diese Briefe enthalten Bitten um ber-sendung von Literatur und Auftrge im Zusammenhang mit der Heraus-gabe der Bcher und der Korrektur.

    Fast alle Briefe W. I. Lenins an seine Angehrigen sind nach dem Manu-skript gedruckt, und nur in einigen Fllen werden sie nach Kopien aus denAkten des Polizeidepartements in der Form (vollstndig oder auszugsweise)verffentlicht, wie sie erhalten sind.

    Elf Briefe W. I. Lenins werden in dem Band zum erstenmal verffent-licht (sie sind im Inhaltsverzeichnis durch ein Sternchen-* gekennzeichnet).In einem dieser Briefe - an M. A. Uljanowa vom 1. Juli 1912 teilt W. I.Lenin mit, da er von Paris nach Krakau bergesiedelt ist. Die ber-siedlung war notwendig, damit er nher an das Zentrum der Arbeiter-bewegung-Petersburg-herankam, bessere Verbindung mit der Prawda"und der bolschewistischen Fraktion in der IV. Reichsduma halten undstndig die Ttigkeit der Parteiorganisationen anleiten konnte. In seinemBrief vom 15. Juli 1919, der an den Agitations- und InstrukteurdampferKrasnaja Swesda" adressiert ist, unterrichtet W. I. Lenin N. K. Krup-skaja ber die Lage an der Ostfront die Einnahme von Jekaterinburg(Swerdlowsk) - und ber den Umschwung im Sden.

    Unter den in dem Band zum erstenmal verffentlichten Dokumenten

  • Vorwort l x

    befinden sich kleine briefliche Mitteilungen W. I. Lenins an M. I. Ulja-nowa und N. K. Krupskaja aus den Jahren 1919 bis 1922.

    Im Anhang werden 54 Briefe von N. K. Krupskaja an M. A., A. I. undM. I. Uljanowa verffentlicht, die nheren Einblick in die Lebensverhlt-nisse W. I. Lenins in der Verbannung und Emigration geben und einzelneFakten aus seinem Briefwechsel erklren. Von diesen Briefen werden achtzum erstenmal verffentlicht. Briefe, die N. K. Krupskaja gemeinsam mitW. I. Lenin geschrieben hat, sind in den Haupttext des Bandes aufge-nommen.

    Die in Band 37 enthaltenen Briefe sind in chronologischer Folge an-geordnet; das Datum erscheint nach altem Stil, wenn sie in Ruland ab-geschickt, und nach neuem Stil, wenn sie im Ausland abgeschickt sind.In den von Lenin datierten Briefen bleibt die Eintragung des Datums, wiesie im Manuskript steht; in den Fllen, wo das Datum im Manuskriptfehlt, wird es von der Redaktion am Schlu des Briefes angegeben. Fernerwird dort angegeben, von wo der Brief wohin geschickt wurde imd woer zum erstenmal verffentlicht worden ist.

    Auer den Anmerkungen enthlt der Band ein Namenverzeichnis undein Verzeichnis der Literatur, die W. I. Lenin in seinen Briefen erwhnt.

    Der Band wird durch Fotografien der Angehrigen und durch Auf-nahmen von einigen Orten, an denen W. I. Lenin gelebt hat, illustriert.Auerdem sind zwei Briefe W. I. Lenins als Faksimile wiedergegeben.

  • W.I. LENIN

    1897

  • XI

    VORWORT ZU DEM SAMMELBANDBRIEFE AN DIE ANGEHRIGEN",

    AUSGABE VON 1930

    Die nachfolgend verffentlichten Briefe W. I. Lenins sind hauptsch-lich an seine Matter Maria Alexandrowna und an seine Schwester MariaIljinitschna gerichtet* und umfassen den Zeitraum von 1894 bis 1917**,d. h. von den ersten Jahren der revolutionren Ttigkeit Wladimir Iljitschsbis zu seiner Rckkehr nach Ruland nach der Februarrevolution. Wh-rend dieser Periode, die fast ein Vierteljahrhundert ausmacht, entstandund formierte sich unsere Partei. Und whrend dieser ganzen ruhmvollen

    * Wenn auch gewhnlich der Inhalt dieser Briefe zumindest fr alle die-jenigen Mitglieder unserer Familie bestimmt war, die zur gegebenen Zeit zu-sammen lebten, um Wiederholungen zu vermeiden".

    ** Nicht aufgenommen wurde hier der Briefwechsel Wladimir Iljitschs mitseinen Angehrigen aus der Zeit seiner Verbannung (siehe ProletarskajaRewolazija" Nr. 2/3, 4, 5, 6 und 8, Jahrgang 1929) und aus dem Jahre 1896,als Wladimir Iljitsch in Petersburg in Untersuchungshaft sa (vom 9. XII. 1895bis zum 29.1. 1897 alten Stils), fast die ganze Zeit von seiner Mutter und denSchwestern besucht wurde und mit ihnen nur einen sehr unbedeutenden per-snlichen Briefwechsel fhrte (siehe A. I. Jelisarowa-Uljanowas AufsatzWladimir Iljitsch im Gefngnis" in Nr. 3 der Proletarskaja Rewoluzija",Jahrgang 1924, und die diesem Aufsatz beigefgten zwei Briefe WladimirIljitschs aus dem Jahre 1896). Von November 1905 bis Dezember 1907 lebteWladimir Iljitsch in Petersburg bzw. in Finnland, kam oft mit seinen An-gehrigen zusammen und schrieb ihnen kaum. Auerdem gibt es noch eineReihe von Briefen an Anna Iljinitschna und Maria Alexandrowna, besondersaus der Zeit, als Maria Iljinitschna im Ausland lebte. Diese Briefe werdenspter verffentlicht werden. (Die von M. I. Uljanowa erwhnten Briefe W. I.Lenins sind in den vorliegenden Band aufgenommen. Die Red)

  • TA. J. Wjanowa

    fnfundzwanzigjhrigen Periode stand Wladimir lljitsch an der Spitzedieser Partei, leitete und erzog sie. Sein Leben ging ganz im revolutionrenKampf auf, und von diesem Kampf, von der Arbeit fr die Sache des Pro-letariats ist sein persnliches Leben nicht zu trennen.

    Aber wenn wir auch die Gesamtausgabe der Werke Lenins und eineziemlich umfangreiche Literatur ber den Leninismus besitzen (sowohlwissenschaftliche Forschungen als audi populre Schriften), ist doch Leninals Mensch in seiner ausgeprgten, vielseitigen Individualitt bis jetzt nuruerst unzulnglich oder fast berhaupt nicht dargestellt worden.

    Die dem Leser vorliegenden Briefe schlieen diese Lcke zum 7e.Man kann sich danach bis zu einem gewissen Qrade ein Urteil ber Wladi-mir Iljitschs Lebensweise, seine Gewohnheiten, Neigungen, sein Verhltniszu den Menschen usw. bilden. Wir sagen ausdrcklich: bis zu einem ge-wissen Grade. Denn vor allem ist dies bei weitem keine vollstndige Samm-lung seiner Briefe an die Angehrigen in dem bezeichneten Zeitraum. Beiden hufigen bersiedlungen von einer Stadt in die andere, bei den zahl-reichen Haussuchungen und Verhaftungen, von denen bald das eine, balddas andere Mitglied unserer Familie betroffen wurde, sind viele seinerBriefe entweder der Polizei in die Hnde gefallen und nicht zurckgegebenworden* oder auf andere Weise verlorengegangen. Oft gingen auch beider Befrderung Briefe verloren, besonders whrend des imperialistischenKrieges. Deswegen kehrt manchmal ein und dieselbe Frage in mehrerenBriefen nacheinander wieder. Auerdem tragen diese Briefe die Spurendes Polizeiregimes in der Zeit des Zarismus. Zwar wurde der gesamte dieArbeit betreffende Briefwechsel (alle Mitteilungen ber revolutionre Er-eignisse, das Parteileben usw.) zu jener Zeit von uns konspirativ gefhrt,mit Geheimtinte und gewhnlich in Bchern und Zeitschriften, und wurdean fremde, saubere" Adressen geschickt.** Aber das persnliche Lebenund die revolutionre Arbeit waren so eng miteinander verbunden, da

    * So haben wir im Zentralarchiv Auszge aus sechs Briefen WladimirIljitschs gefunden, die einer Akte der Moskauer Gendarmerieverwaltung alsBeweisstcke" beigefgt waren. Diese Auszge werden von uns im Anhanggebracht. (Siehe den vorliegenden Band, S. 485/486. Die Red.)

    ** Diese Briefe in Ruland aufzubewahren, war natrlich unmglich, undvon ihnen ist nur ein Teil in Kopien, die im Ausland angefertigt wurden, erhal-ten geblieben.

  • Vorwort zu dem Sammelband Briefe an die Angehrigen" x n l

    der persnliche, legale Briefwechsel durch das Polizeiregime zweifellossehr gelitten hat und von uns stark eingeschrnkt wurde. Und nicht um-sonst schrieb Wladimir Iljitsch in einem Brief an seine Schwester MariaIljinitschna, die sich damals m der Verbannung in Wologda befand: Inunserer (und besonders in Deiner und meiner) Lage ist es sehr schwer,den Briefwechsel zu fhren, wie man mchte."

    Das galt jedoch nicht nur fr Maria Iljinitschna, sondern fr alle Mit-glieder unserer Familie, denn sie waren mit Wladimir Iljitsch nicht nurblutsverwandt, sondern auch verwandt durch ihre Anschauungen undberzeugungen. Sie alle (auch Anna Iljinitschnas Mann - M. T. Jelisarow)waren damals Sozialdemokraten und gehrten dem revolutionren Flgelder Partei an, sie alle beteiligten sich in grerem oder geringerem Maean der revolutionren Arbeit, waren zutiefst am Leben der Partei inter-essiert, freuten sich ber ihre Erfolge und waren ber Mierfolge bekm-mert. Und sogar unsere Mutter, die 1835 geboren war und zu Ende derneunziger Jahre, als die Haussuchungen und Verhaftungen in unsererFamilie besonders hufig wurden, bereits ber 60 Jahre alt war, brachteunserer revolutionren Ttigkeit vollste Sympathie entgegen.

    Der gesamte legale Briefwechsel der Revolutionre stand unter Kon-trolle, und wir muten uns mit allerlei Andeutungen, Decknamen u. dgl.behelfen, um auf diese oder jene Weise die uns interessierenden Fragenzu berhren, den Empfang dieses oder jenes illegalen Briefes zu besttigen,uns nach Bekannten zu erkundigen usw.

    Der Leser wird sehen, da Wladimir Iljitschs Briefe, die unmittelbaran seine Mutter, seine Schwester oder seinen Bruder adressiert sind, fastkeine Vor- und Zunamen enthalten - das htte fr die Person, derenName in einem solchen Brief erwhnt worden wre, Unannehmlichkeitennach sich ziehen knnen. Wir hatten aber selbstverstndlich nicht im ge-ringsten den Wunsch, jemandem Unannehmlichkeiten, wenn nicht garnoch Schlimmeres zu bereiten. Wenn sich aber in Wladimir Iljitschs Brie-fen dennoch Vornamen und bisweilen Zunamen finden, so nur von Ge-nossen und Bekannten, deren Bekanntschaft mit uns ohnehin infolge ver-schiedener Umstnde (gemeinsame Verbannung wegen der gleichen Sache,Studium an der gleichen Lehranstalt u. dgl. m.) durch die Polizei festge-stellt war oder auf rein geschftlichen Beziehungen beruhte (Namen vonVerlegern, Buchhndlern usw.). Um die Nennung des Namens eines mehr

  • XIV M.J.TMjanowa

    oder minder legalen Bekannten zu vermeiden, ber den Wladimir Iljitschetwas mitteilen oder dem er einen Gru bermitteln wollte usw., bedienteer sich in diesen Briefen durchweg verschiedener Decknamen und Um-schreibungen, die mit dieser oder jener uns bekannten Tatsache oder die-sem oder jenem uns bekannten Ereignis zusammenhingen. So nennt Wla-dimir Iljitsch 1.1. Skworzow-Stepanow, mit dem er eine Zeitlang - berAnna Iljinitschna und Maria Iljinitschna - in regem Briefwechsel stand*,den Historiker" (er hatte dabei dessen historische Arbeiten im Auge).

    Als Wladimir Iljitsch W. W. Worowski, der sich zur gleichen Zeit wieMaria Iljinitschna in Wologda in der Verbannung befand, einen Grusandte, schrieb er: Gru an die polnischen Freunde, verbunden mit demWunsch, da sie in jeder Hinsicht helfen." Als chinesischen Reisenden"bezeichnet er A. P. Skljarenko, der damals bei der Eisenbahn in der Mand-schurei angestellt war, als den Herrn, mit dem wir im vergangenen JahrBoot gefahren sind", W. A. Lewizki usw. ,

    Auch wenn illegale Publikationen, konspirative Zuschriften, Bcher mitdarin enthaltenen, mit Geheimtinte geschriebenen Briefen usw. geschicktwurden, mute man darber verklausuliert schreiben.

    Ende Dezember 1900 gab die Verfasserin dieser Zeilen dem ins Aus-land reisenden G. B. Krassin fr Wladimir Iljitsch das Manifest der Parteider Sozialrevolutionre" mit, das sie aus Grnden der Konspiration ineinem Album mit Fotografien versteckt hatte. Wladimir Iljitsch freute sichber diese Sendung sehr, und er schrieb in seinem Brief vom 16.1.1901:Ich danke sehr fr die bersandten Bcher und besonders fr die auer-ordentlich schnen und interessanten Fotografien, die der Cousin aus Wiengeschickt hat; ich wrde sehr gern fter solche Geschenke bekommen."

    Die Iskra" und andere illegale Publikationen wurden beispielsweise inKuverts an saubere", legale Adressen nach Ruland geschickt. SolcheAdressen gaben wir auch an, um fr uns Literatur zu bekommen. Manch-mal wurde eine derartige Sendung auch in den legalen Briefen angekn-digt, damit wir die Mglichkeit hatten, uns rechtzeitig bei dem Empfnger

    * Von diesem Briefwechsel ist leider nur ein Brief vom 16. XII. 1909 erhal-ten. Siehe Werke Lenins, Bd. XIV, 2. Ausgabe, S. 212-216. CVon dem Brief-wechsel W. I. Lenins mit I. I. Skworzow-Stepanow sind zwei Briefe erhalten -einer vom 2. und einer vom 16. Dezember 1909. Siehe Werke, Bd. 34, S. 401 bis404, und Bd. 16, S. 110-116. Die Red.)

  • Vorwort zu dem Sammelband 'Briefe an die Angehrigen" XV

    zu erkundigen. Eine solche Mitteilung ist offensichtlich auch in folgendenWorten Wladimir Iljitschs enthalten (Brief vom 14. XII. 1900): Mirfllt ein, da ich Dir am neunten eine Kleinigkeit geschickt habe, fr dieDu Dich interessiertest." Wolodja hat sich sehr ber Deinen langen Briefgefreut", schreibt Nadeshda Konstantinowna in ihrem Brief vom 8. II.1916. Vielleicht schreibst Du wieder einmal." Da unser legaler Brief-wechsel sich niemals durch groen Umfang auszeichnete und wir whrenddes imperialistischen Krieges, als dieser Brief geschrieben wurde, haupt-schlich auf Postkarten korrespondierten, die zudem eingeschrieben ge-schickt wurden, weil viele Briefe verlorengingen, bezeichnen die angefhr-ten Worte offensichtlich einen in einem Buch enthaltenen illegalen Brief.

    In der ersten Zeit seines Auslandsaufenthalts im Jahre 1900, als Wladi-mir Iljitsch noch nicht wute, fr wie lange er sich dort einrichten wrde,gab er uns aus Grnden der Konspiration fr den Briefwechsel nicht seinepersnliche Adresse an, und whrend er in der Schweiz bzw. in Mnchenlebte, schrieben wir ihm nach Paris bzw. nach Prag. In seinem Brief vom2. III. 1901 teilt er seine neue Adresse mit und fgt hinzu: Ich bin zu-sammen mit meinem Vermieter umgezogen." Franz Modrcek, an denunsere Briefe adressiert wurden, war damals tatschlich in eine neue Woh-nung umgezogen, aber Wladimir Iljitsch wohnte nach wie vor in Mnchenin seiner alten Wohnung.

    Zu Wladimir Iljitschs Charakterzgen gehrte seine groe Zuver-lssigkeit und Pnktlichkeit wie auch die strenge Sparsamkeit beim Ver-brauch von Mitteln berhaupt, besonders aber fr sich persnlich. Wahr-scheinlich hatte Wladimir Iljitsch diese Egenschaften von seiner Muttergeerbt, der er in vielen Charakterzgen hnelte. Unsere Mutter aber warmtterlicherseits deutscher Abstammung, und die angegebenen Charakter-zge waren ihr in hohem Mae eigen.

    Wie sorgsam Wladimir Iljitsch mit Geld umging und wie sparsam erbei Ausgaben fr sich selbst war, geht aus seinem Brief vom 5. X. 1895hervor.*

    Ich habe nun in St. Petersburg zum erstenmal ber meine Einnahmenund Ausgaben Buch gefhrt, um zu sehen, wieviel ich tatschlich ver-

    * Gemeint ist der Brief vom 5. Oktober 1893. (Siehe den vorliegenden Band,S. 1/2. Die Red.)

  • XVI M. 7. Uljanowa

    brauche. Wie sich herausstellt, habe ich in dem Monat vom 28. VIII. biszum 27. IX. insgesamt 54 Rubel 30 Kopeken ausgegeben, nicht eingerech-net die Bezahlung fr die Sachen (etwa 10 Rubel) und die Unkosten freine Gerichtsangelegenheit (auch etwa 10 Rubel), die ich vielleicht ber-nehmen werde. Zwar handelt es sich bei diesen 54 Rubel zum Teil umAusgaben, die nicht jeden Monat gemacht werden mssen (berschuhe,Kleidung, Bcher, Rechenbrett usw.), aber selbst wenn man das abzieht(16 Rubel), habe ich dennoch zuviel verausgabt - 38 Rubel in einem Mo-nat. Offensichtlich habe ich nicht gengend hausgehalten; allein fr diePferdebahn habe ich zum Beispiel in dem einen Monat 1 Rubel 36 Kope-ken ausgegeben. Wahrscheinlich werde ich, wenn ich mich eingelebt habe,weniger brauchen."

    Und er lebte wirklich sparsam, besonders wenn er selbst keine Ein-knfte hatte und eine Beihilfe" - so nannte er die finanzielle Unterstt-zung seitens seiner Mutter - in Anspruch nehmen mute. Er sparte so,da er sich whrend seines Aufenthalts in Petersburg im Jahre 1893 nichteinmal die Russkije Wedomosti"* bestellte, sondern sie in der ffent-lichen Bibliothek 2 Wochen nach Erscheinen" las. Vielleicht bestelle ichsie mir, wenn ich hier Arbeit habe", schrieb er seiner Schwester.

    Dieser Zug blieb Wladimir Iljitsch das ganze Leben eigen und trat nichtnur in den Zeiten deutlich hervor, als er in Ruland keinen Verdienst hatteoder es ihm in der Emigration nidit gelang, einen Verleger fr seine lite-rarischen Arbeiten zu finden (es braucht nur an die Tatsache erinnert zuwerden, da seine Agrarfrage" ganze zehn Jahre liegenblieb und erst1917 verffentlicht wurde) und er sich daher manchmal direkt in einerkritischen Lage befand (siehe zum Beispiel seinen Brief an GenossenSchljapnikow vom September 1916**), sondern auch dann, als er materiellvllig gesichert war, d. h. nach der Revolution von 1917.

    Wo Wladimir Iljitsch das Sparen jedoch schwerfiel - das waren dieBcher. Er brauchte sie fr seine Arbeiten, um in der auslndischen undrussischen Politik und konomie usw. usf. auf dem laufenden zu bleiben.

    Zu meinem groen Schrecken", schreibt er in dem Brief vom 29. VIII.1895 aus Berlin an seine Mutter, sehe ich, da ich schon wieder in finan-

    * Die Russkije Wedomosti" waren damals von allen brgerlichen Zeitun-gen die anstndigste und interessanteste Zeitung.

    ** Siehe Werke, Bd. 35, S. 213. Die Red.

  • Vorwort zu dem Sammelband Brieje an die Angehrigen" x v n

    ziellen Schwierigkeiten' bin: die .Versuchung', Bcher u. dgl. m. zu kau-fen, ist so gro, da der Teufel wissen mag, wo das Geld bleibt." Aberauch hier war er bemht, sich hauptschlich dadurch einzuschrnken, daer zur Arbeit in die Bibliotheken ging, zumal er whrend seiner Emigrationdort ruhigere Arbeitsbedingungen vorfand: ohne die ganze Unruhe unddie endlosen ermdenden Gesprche, wie sie fr die Emigranten charak-teristisch waren, die sich in der ihnen fremden, ungewohnten Umweltnicht zurechtfanden und sich gern das Herz in Gesprchen erleichterten.

    brigens benutzte Wladimir Iljitsch Bibliotheken durchaus nicht nur imAusland, sondern auch, als er in Ruland lebte. In einem Brief an seineMutter aus Petersburg schreibt er, mit seinem neuen Zimmer sei er zu-frieden, es liege gar nicht weit vom Zentrum (zur Bibliothek beispiels-weise nur 15 Minuten zu Fu)". Als er in die Verbannung fuhr, benutzteer sogar die wenigen Tage, die er auf der Durchreise in Moskau ver-brachte, um im Rumjanzew-Museum zu arbeiten. Whrend seines Aufent-halts in Krasnojarsk, als er auf die Aufnahme des Schiffsverkehrs wartete,um in den Kreis Minussinsk zu fahren, arbeitete er in der Bibliothek Ju-dins, obwohl er deswegen tglich etwa 5 Werst zu gehen hatte.

    In der Verbannung, wo an Bibliotheken nicht zu denken war, versuchteWladimir Iljitsch diesen Mangel auszugleichen, indem er uns bat, fr ihndie Zusendung von Bibliotheksbchern mit der Post zu organisieren. Einigesolche Versuche wurden unternommen, aber die bersendung beanspruchtezuviel Zeit (hin und zurck etwa einen Monat), die Bcher wurden jedochvon der Bibliothek nur befristet ausgeliehen.

    Aber manchmal behalf Wladimir Iljitsch sich auch spter in dieserWeise. So schreibt er in seinem Brief an Anna Iljinitschna vom 11.11.1914*: Was die zusammenfassende Sammlung statistischer Daten berdie Kriminalflle in den Jahren 1905-1908 anbelangt, so wrde idi bitten,sie nicht zu kaufen (das ist nicht ntig und zu teuer), sondern sie aus eineiBibliothek zu entleihen (entweder aus der des Rats der Anwlte oder ausder der Reichsduma) und sie mir fr einen Monat herzuschicken."

    Auch als Wladimir Iljitsch im Ausland lebte, benutzte er stndig dieBibliotheken. In Berlin arbeitete er in der Kniglichen Bibliothek. In Genfhatte er seinen geliebten Klub" (Societe de Lecture"), in dem man sidi

    * Der Brief ist nicht erhalten, und diesen Auszug haben wir einer Akte desPolizeidepartements entnommen. (Siehe den vorliegenden Bd., S. 445. Die Red.)

    1 Lenin, Werke, Bd. 37

  • JA. 7. Vljanowa

    einschreiben und einen bestimmten, allerdings sehr geringen Mitglieds-beitrag entrichten mute, um in der Bibliothek dieses Klubs" arbeiten zuknnen. In Paris arbeitete er in der Nationalbibliothek, klagte allerdingsdarber, sie sei schlecht eingerichtet", in London arbeitete er im Briti-schen Museum, und nur whrend seines Aufenthalts in Mnchen stellte ermit Bedauern fest, es gebe hier keine Bibliothek", und in Krakau benutzteer die Bibliothek wenig. In seinem Brief an M. I. Uljanowa vom 22. IV.1914 schreibt er, in Krakau sei die Bibliothek schlecht und uerst unbe-quem", aber er gehe auch kaum dorthin . . . " Die Arbeit in der Zeitung(der Prawda"), alle mglichen Verhandlungen mit Genossen, die nachKrakau in erheblich grerer Zahl kamen als nach Frankreich oder in dieSchweiz, die Leitung der Arbeit der sozialdemokratischen Fraktion derReichsduma, die Parteikonferenzen und -beratungen usw. beanspruchtenzuviel Kraft, als da es noch mglich gewesen wre, viel Zeit fr die wis-senschaftliche Arbeit aufzubringen. Aber audi da schreibt WladimirIljitsch: So manches Mal dachten wir an Genf, wo man besser arbeitenkonnte, eine gut eingerichtete Bibliothek zur Verfgung stand und dasLeben weniger sinnlos und nervenaufreibend war."

    Und als Wladimir Iljitsch nach seiner Verhaftung in Galizien zu Anfangdes imperialistischen Krieges erneut in die Schweiz kommt, schreibt er:Die Bibliotheken hier sind gut, und was die Benutzung der Bcher anbe-langt, hat sich alles ganz gut geregelt. Nach der Periode tagtglicher jour-nalistischer Arbeit ist es sogar angenehm, ein wenig zu lesen." Spter fhrter mit Nadeshda Konstantinowna von Bern nach Zrich, um unter ande-rem in den hiesigen Bibliotheken etwas zu arbeiten", die nach seinenWorten viel besser sind als in Bern" (dabei fhrt er jedoch auch die poli-tische Parteiarbeit intensiv weiter, was unter anderem durch seinen soebenim Lenin-Sammelband XI verffentlichten Briefwechsel mit den GenossenKarpinski und Rawitsch, der in diesen Zeitabschnitt fllt, anschaulich illu-striert wird*). Whrend aber Wladimir Iljitsch im Ausland insofern gn-stige Bedingungen hatte, als er in den Bibliotheken auslndische Bcherlesen und Zeitungen und Zeitsdiriften durchsehen konnte, machte sich dasFehlen russischer Bcher stets empfindlich bemerkbar. Deutsdie Bcherkann idi mir, hier leidit beschaffen", schreibt er in seinem Brief vom

    * Ein Teil dieses Briefwechsels ist in Band 36 der Werke W. I. Lenins auf-genommen. Die Red.

  • Vorwort zu dem Sammelband Briefe an die Angehrigen" Xix

    2. IV. 1902, an ihnen fehlt es nicht. Aber an russischen Bchern fehlt eshier."-Neue Bcher seheichwenig",schreibt er in seinem Brief vom6.IV.1900. Und zweifellos hat die Tatsache, da er die von ihm bentigtenBcher nicht immer zur Hand hatte, Wladimir Iljitschs Arbeit whrendseines Lebens im Ausland oft nicht wenig behindert. Deswegen finden sichin seinen Briefen an die Angehrigen stndig Bitten, ihm diese oder jeneBcher, die er fr die Arbeit brauchte (Statistik, Bcher zur Agrarfrage, zurPhilosophie u. dgl. m.), sowie auch Neuerscheinungen, Zeitschriften undbelletristische Bcher zu schicken. Und wiederum kann man sich an Handdieser Briefe bis zu einem gewissen g r a d e ein Urteil bilden, welcheWissensgebiete Wladimir Iljitsch in diesem oder jenem Zeitabschnitt in-teressierten und fr welche seiner Arbeiten er die Literatur benutzte.

    Groe Aufmerksamkeit widmet er bei dieser Literatur den verschie-denen statistischen Sammelbnden.

    Welch groe Bedeutung Wladimir Iljitsch der Statistik, den exaktenTatsachen", den unbestreitbaren Tatsachen"* beima, sieht man anschau-lich an seinen Arbeiten und an den diesen Arbeiten vorausgehenden Ent-wrfen, Auszgen und Berechnungen. Charakteristisch in dieser Beziehungist auch seine unvollendete und noch unverffentlichte Arbeit Statistikund Soziologie" (gezeichnet P. Pirjutschew - neues Pseudonym, das Wla-dimir Iljitsch annahm, um die Herausgabe dieser Arbeit zu erleichtern),die die Bedeutung und Rolle der nationalen Bewegungen, die Wechsel-beziehung des Nationalen und des Internationalen"** behandelt.

    In dieser Arbeit finden wir die folgende Stelle:Auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Erscheinungen", schreibt Wla-

    dimir Iljitsch, gibt es ein auerordentlich verbreitetes und ebenso fehler-haftes Verfahren, nmlich das Herausgreifen einzelner Tatsachen und dasJonglieren mit Beispielen. Beispiele einfach zusammentragen macht keineMhe, hat aber auch keine oder nur rein negative Bedeutung, denn woraufes ankommt, das ist die konkrete historische Situation, auf die sich dieeinzelnen Flle beziehen. Tatsachen sind, nimmt man sie in ihrer Qesamt-foei't, in ihrem Zusammenhang, nicht nur hartnackige', sondern auch un-bedingt beweiskrftige Dinge. Nimmt man aber einzelne Tatsachen, los-gelst vom Ganzen, losgelst aus ihrem Zusammenhang, sind die Daten

    * Siehe Werke, Bd. 23, S. 285. Die Red.** Siehe ebenda, S. 284. Die Red.

  • M.I.Uljanowalckenhaft, sind sie willkrlich herausgegriffen, dann ist das eben nur einJonglieren mit Daten oder etwas nodi Schlimmeres... Man mu ver-suchen, aus exakten und unbestreitbaren Tatsachen ein Fundament zu er-richten, auf das man sich sttzen kann und mit dem man jede der all-gemeinen* oder ,auf Beispielen fuenden' Betrachtungen konfrontierenkann, mit denen heutzutage in einigen Lndern so malos Mibrauch ge-trieben wird. Damit es wirklich ein Fundament wird, kommt es darauf an,nicht einzelne Tatsachen herauszugreifen, sondern den Qesamikomplexder auf die betreffende Frage bezglichen Tatsachen zu betrachten, ohneeine einzige Ausnahme, denn sonst taucht unvermeidlich der Verdacht, undzwar der vllig berechtigte Verdacht auf, da die Tatsachen willkrlichausgewhlt oder zusammengestellt sind, da nicht der objektive Zusam-menhang und die objektive wechselseitige Abhngigkeit der historischenErscheinungen in ihrer Gesamtheit dargestellt werden, sondern da es sichum ein ,subjektives' Machwerk zur Rechtfertigung einer vielleicht schmut-zigen Sache handelt. Das kommt vor . . . und hufiger, als man denkt."*

    Im Jahre 1902 bat Wladimir Iljitsch darum, ihm von den Bchern,die er in Sibirien bei sich gehabt hatte, die gesamte Statistik"** ins Aus-land zu schicken, nach der (wie er in seinem Brief vom 2. IV. 1902 schreibt)ich mich hier ein wenig zu sehnen beginne . . . " Spter schrieb WladimirIljitsch, um aus verschiedenen Stdten und regelmiger statistisches Mate-rial zu bekommen, sogar eine spezielle Erklrung eine Bitte*** an dieStatistiker auf dem im Winter 1909/1910 in Moskau tagenden Kongreder rzte und Naturwissenschaftler (auf diesem Kongre gab es eine

    * Siehe Werke, Bd. 23, S. 285/286. Die Red.** Diese Statistik, die Wladimir Iljitsch fr sein Buch Die Entwicklung des

    Kapitalismus in Ruland" benutzt hatte, wurde zusammen mit anderen BchernWladimir Iljitschs im Jahre 1929 dem Lenin-Institut aus dem Ausland ber-geben, und an Hand der Auszge und Bemerkungen, die sich in diesen Bchernfinden, wird noch eine Reihe wertvoller Schlufolgerungen ber Iljitschs Arbeitgezogen werden knnen. (Ein Teil der vorbereitenden Materialien zu W. I.Lenins Buch Die Entwicklung des Kapitalismus in Ruland" wurde 1940 imLenin-Sammelband XXXIII verffentlicht. Die Red.)*** Da wir sie verffentlichen knnen, verdanken wir wiederum der Mos-

    kauer Gendarmerie, die sie in ihren Akten aufbewahrt hat. (Siehe den vor-liegenden Band, S. 381/382. Die Red.)

  • Vorwort zu dem Sammelband Briefe an die Angehrigen" xxi

    Untersektion der Statistiker). Auf diese Erklrung antwortete eine ganzeReihe von Statistikern aus der Provinz, und Wladimir Iljitsch sdireibt inseinem Brief vom 2.1. 1910: Ich habe noch einen Brief ber Statistik ausRjasan erhalten - es ist groartig, da ich offenbar von vielen Seiten Hilfebekommen werde."

    Als Wladimir lljitsch im Jahre 1908 am Materialismus und Empirio-kritizismus" arbeitete, bestellte er sich Professor Tschelpanows Buch berAvenarius und seine Schule, das Buch ber die Immanenzphilosophie"u. a. ber diese seine Arbeit schreibt er an seine Schwester: Ich habemich sehr mit den Maus ten beschftigt und denke, da ich all ihren un-beschreiblichen Plattheiten (und denen des ,Empiriomonismus' auch) aufden Grund gekommen bin."

    Anllich einer Anfrage, ob das Manuskript ber die jngste Etappedes Kapitalismus (Der Imperialismus als hchstes Stadium des Kapitalis-mus"*) eingetroffen sei, schreibt Wladimir lljitsch: Ich messe dieser ko-nomischen Arbeit besonders groe Bedeutung bei und mchte sie so schnellwie mglich vollstndig verffentlicht sehen." (Brief vom 22. X. 1916.) Be-kanntlich ging dieser Wunsch nicht in Erfllung (obwohl Wladimir lljitschsich nach Krften bemhte, sich nach der ,Strenge der Zensur' zu rich-ten", wie er in seinem Brief an M. N. Pokrowski vom 2. VII. 1916schreibt**): In Wladimir Iljitschs Arbeit wurde eine ganze Reihe von Ver-nderungen und Krzungen vorgenommen, und erst zehn Jahre sptergelangte sie in ihrer ursprnglichen Gestalt an die ffentlichkeit.

    Aus Wladimir Iljitschs Briefen an seine Angehrigen erfahren wir vondem Zusammenhang, in dem er seine (noch unverffentlichte) ArbeitDas kapitalistische System der modernen Landwirtschaft"*** in Angriffgenommen hatte. In dem Brief vom 22. X. 1916 schreibt er an seine Schwe-ster: Du schreibst, ,der Verleger mchte die Agrarfrage" als Buch undnicht als Broschre herausbringen'. Ich verstehe das so, da ich die Fort-setzung schicken soll (d. h. als Ergnzung zu der Abhandlung ber Ame-rika die versprochene Abhandlung ber Deutschland schreiben soll). Ichwerde diese Arbeit in Angriff nehmen, sobald ich mit dem fertig bin, wasich zur Abgeltung des Vorschusses fr den alten Verleger schreiben mu."

    * Siehe Werke, Bd. 22, S. 189-309. Die Red.** Siehe Werke, Bd. 35, S. 203. Die Red.

    *** Siehe Werke, Bd. 16, S. 431^55. Die Red.

  • X M I 511J. Uljanowa

    Das Manuskript der genannten Arbeit, das im Institut aufbewahrt wird,ist unvollendet, offensichtlich hat die Revolution Wladimir Iljitsch ge-hindert", es fertigzustellen.

    Die dem Leser vorgelegten Briefe Wladimir Iljitschs geben ein gewissesBild sowohl von den Bedingungen seiner literarischen Arbeit als auchvon den Schwierigkeiten, mit denen die Verffentlichung der Resultatedieser Arbeit verbunden war. Wir meinen seine legalen Arbeiten. In die-ser Hinsicht hatte Wladimir Iljitsch whrend der ganzen vorrevolutionrenPeriode (ausgenommen die Periode der ersten Revolution und die Zeitder Swesda" und der Prawda" - 1912-1914 - , als er fr legale Zeitun-gen arbeiten konnte und als es, wenn auch nur fr kurze Zeit, eigenelegale Verlage gab) nicht nur deshalb ungnstige Bedingungen, weil er imAusland beispielsweise die fr die Arbeit ntigen russischen Bcher undanderen Materialien stndig entbehrte.

    Groe Schwierigkeiten entstanden auch durch die Zensurbedingungen:Wladimir Iljitschs Aufstze wurden zusammengestrichen und entstellt(wie zum Beispiel der Aufsatz Eine unkritische Kritik"), seine Bcherwurden beschlagnahmt (Die Agrarfrage", II. Band) usw. usf. Auerdemaber entstanden auch dadurch groe Schwierigkeiten, da er fern vonRuland lebte und deswegen oft keine Mglichkeit hatte, in direkte Ver-bindung mit Verlagen zu treten usw. Charakteristisch sind zum Beispielseine zahlreichen Versuche, sich eine Arbeit fr das Enzyklopdische Lexi-kon von Granat zu beschaffen. Es wre schn, eine Arbeit fr das Enzy-klopdische Lexikon zu bekommen", schreibt er in dem Brief an seineSchwester vom 22. XII. 1914, aber das ist sicher nicht so einfach zuarrangieren, wenn man nicht die Gelegenheit hat, den Redaktionssekretrkennenzulernen." Wladimir Iljitsch kannte diesen Sekretr nicht, undwenn er sich direkt an die Redaktion Granat wandte, wurden seine Briefemitunter berhaupt nicht oder mit groer Versptung beantwortet. Obman dort nicht noch eine Arbeit fr das Enzyklopdische Lexikon be-kommen kann", schreibt er im Februar 1915 an seine Schwester. Ichhabe an den Sekretr geschrieben, aber er antwortet nicht."* - Ich habe

    * Nicht besser stand es zu jener Zeit auch mit den Antworten anderer Ver-leger auf Wladimir Iljitschs Briefe. Siehe dazu Lenins Brief 3 (vom 27. XI. 01)an L. I. Axelrod, Lenin-Sammelband XI, S. 326. (Siehe Werke, Bd. 36,S. 71/72. Die Red.)

  • "Vorwort zu dem Sammelband 'Briefe an die Angehrigen" xxm

    hier leider berhaupt keine Beziehungen zu Verlagen mehr", schreibt er imJahre 1912.

    Und wre nicht die groe Hilfe gewesen, welche die Genossen und dieAngehrigen Wladimir Iljitsch bei der Suche nach Verlegern, bei derKorrektur seiner Arbeiten usw. erwiesen, so htten der Verffentlichungdieser Arbeiten noch erheblich grere Schwierigkeiten entgegengestanden.Aber nicht immer waren die Schwestern und der Bruder in der Lage,Wladimir Iljitsch in dieser Hinsicht zu helfen, besonders wenn sie sich imGefngnis oder in der Verbannung befanden. Und 1904 zum Beispielbittet er seine Mutter, ihm Mark Timofejewitschs Adresse zu geben,weil er an ihn ein literarisches Anliegen" habe (Brief vom 20.1.1904).

    Aber ebenso wie Wladimir Iljitsch systematisch, beharrlich und uerstfruchtbar zu arbeiten verstand, verstand er es auch, sich zu erholen, sofernsich die Mglichkeit dazu bot. Am besten erholte er sich in der Einsamkeitder Natur. Hier" (in Styrs Udde in Finnland, wo er sich ausruhte, nach-dem er furchtbar erschpft" vom V. Parteitag zurckgekehrt war. 7/1. TA.)kann man sich wunderbar erholen, baden gehen, Spaziergnge machen keine Menschen, keine Arbeit. Einsamkeit und Mue sind fr mich diebeste Erholung." Hier, wo Lidija Michailowna Knipowitsch ihn mit gr-ter Aufmerksamkeit umsorgte, konnte er sich wirklich vorzglich erholen,und spter dachte er noch daran zurck, als er in einem Brief an MariaIljinitschna, die gerade eine schwere Typhuserkrankung berstandenhatte, schrieb: Jetzt mte man Dich nach Styrs Udde schicken!"

    Wladimir Iljitsch liebte die Natur sehr, und in seinen Briefen finden sichstndig Beschreibungen der Naturschnheiten, wohin auch immer dasSchicksal ihn verschlug. Die Natur hier ist prachtvoll", schreibt er seinerMutter 1895 auf der Fahrt in die Schweiz. Ich freue mich immerzu daran.Gleich nach der deutschen Station, von der ich Dir geschrieben habe, be-gannen die Alpen, dann kamen Seen, so da ich mich nicht vom Fensterlosreien konnte." Ich gehe spazieren man kann hier jetzt ganz guteSpaziergnge machen", schreibt er an Maria Alexandrowna, und es gibtin Pskow (wie auch in der Umgebung) offenbar nicht wenig schne Stel-len." Dieser Tage habe ich . . . eine Fahrt auf einem sehr schnen Seegemacht und bei dem guten Wetter die herrliche Landsdiaft genossen . . . " ,teilt er aus dem Ausland mit. Dieser Tage habe ich mit Nadja und einemFreund einen wunderschnen Ausflug auf den Saleve gemacht. Unten in

  • JA. 1. Wjanowa

    ganz Genf war es neblig-trbe, auf dem Berg aber (etwa 1200 Meter berdem Meeresspiegel) - herrliche Sonne, Schnee, Rodelschlitten, ganz wieein schner russischer Wintertag. Und unterhalb des Berges - la mer dubrouillard, ein richtiges Meer von Nebel, Wolken, hinter denen mannichts sehen konnte; nur die Berge, aber auch nur die ganz hohen, ragtenheraus. Sogar der Kleine Saleve (900 Meter) lag vllig im Nebel." -Nadja und ich haben schon eine beachtliche Zahl von Fahrten und Wan-derungen in die Umgebung gemacht und haben auch sehr schne Stellengefunden", lesen wir in dem Brief vom 27. IX. 1902. Wladimir Iljitschhatte wahrscheinlich recht, als er schrieb: Unter den Genossen hier sindwir die einzigen, die sich mit der ganzen Umgebung der Stadt vertrautmachen. Wir suchen uns verschiedene ,Feld'wege aus, kennen die nahe-gelegenen Ortschaften und haben auch nodi etwas weitere Fahrten vor."

    Wenn es Wladimir Iljitsch und Nadeshda Konstantinowna nicht mglichwar, im Sommer einige Zeit auerhalb der Stadt zuzubringen, wo sie sichsofort auf ein lndliches Leben" umstellten (wir stehen frh auf undgehen fast mit den Hhnern schlafen"), unternahmen sie, als sie in derSchweiz lebten, manchmal Wanderungen in die Berge. Die Beschreibungeiner solchen Wanderung finden wir in Nadeshda Konstantinownas Briefan Maria Alexandrowna vom 2. VII. 1904. Genf haben wir schon voreiner Woche verlassen", lesen wir dort, und ruhen uns nun im vollenSinne des Wortes aus. Die Arbeit und die Sorgen haben wir in Genf ge-lassen, und hier schlafen wir 10 Standen tglich, gehen baden, machenSpaziergnge - Wolodja liest nicht einmal richtig Zeitung, berhaupthaben wir an Bchern nur ein Minimum mitgenommen, und auch die schik-ken wir morgen ungelesen nach Genf zurck. Wir selbst werden uns um4 Uhr frh die Ruckscke umhngen und fr etwa zwei Wochen in die Bergegehen. Unser Weg wird nach Interlaken und von dort nach Luzem fhren,wir lesen im Baedeker und berlegen uns unsere Wanderung sorgfltig...Wolodja und idi haben es uns zur Bedingung gemacht, von keinerleiArbeit zu sprechen, sie luft uns ja nicht davon. Wir wollen nicht darbersprechen und nach Mglichkeit nicht einmal daran denken."

    Aber solche Wanderungen blieben eine groe Seltenheit und wurdennur dann unternommen, wenn die Arbeit und die Fraktionskmpfe dieGesundheit und die Nerven schon allzusehr angegriffen hatten wie nachdem Winter 1903/1904, nach dem II. Parteitag und -der Spaltung der

  • Vorwort zu dem Sammelband Briefe an die Angehrigen" x x v

    Partei. Wenn es mglich war, im Sommer aufs Land zu fahren, setzteWladimir Iljitsch gewhnlich auch dort nach einigen Tagen vlligen Aus-spannens seine Arbeit fort. Lie es sich jedoch nicht ermglichen, aus derStadt wegzufahren, oder konnte man nur fr kurze Zeit verreisen, sowurden zu Fu oder mit dem Fahrrad Ausflge in die Umgebung, manch-mal auch in die Berge, unternommen, und zwar gewhnlich am Sonntag.Irgendwie richtet man sich unwillkrlich ganz nach den Einheimischen,da wir nmlich gerade am Sonntag Spazierengehen, obwohl das unprak-tisch ist, denn berall ist es berfllt", schreibt Wladimir Iljitsch in demBrief vom 29. III. 1903 an seine Mutter. Wenn sie einen solchen Ausflugmaditen, nahmen sie sich gewhnlich statt des Mittagessens belegte Brotemit und blieben den ganzen Tag fort. Es ist ganz natrlich, da sowohlWladimir Iljitsch als auch Nadeshda Konstantinowna sich, wie sie scherz-haft sagten, der Partei der Progulisten" (Freunde des Spazierengehens)ansdilossen, whrend andere Genossen zur Partei der Cinemisten"(Freunde des Kinobesudies) gehrten.

    Und wirklich, Wladimir Iljitsdi hatte fr die verschiedenen Vergngun-gen, bei denen andere Genossen Erholung von der angespannten Arbeitfanden, wenig brig. Besonders als er im Ausland lebte, ging er, wie essdieint, niemals ins Kino und selten ins Theater. Bei seinem ersten Aus-landsaufenthalt sah er sidi in Berlin Die Weber" an; audi als er sichim Ausland in der Emigration befand, ging er ins Theater, vorwiegendjedoch dann, wenn er dort ziemlich einsam" (d. h. ohne Familie) lebteoder wenn er nach angestrengter Arbeit in einer Grostadt etwas zu er-ledigen hatte und diese Reise auch dazu benutzte, um sich ein wenigaufzumuntern". Aber die Auffhrungen in den auslndischen Theaterngefielen Wladimir Iljitsch nicht sehr (mandimal verlieen er und NadeshdaKonstantinowna das Theater schon nach dem ersten Akt und muten des-wegen von den Genossen scherzhafte Vorwrfe wegen des umsonst aus-gegebenen Geldes ber sidi ergehen lassen), und bei Wladimir Iljitsdisspteren Theaterbesudien scheint nur die Auffhrung des LebendenLeichnams" Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Sehr gefiel ihm dagegendas Knstlertheater, das er noch whrend seines Aufenthalts in Moskau,vor der Emigration, gemeinsam mit Lalajanz (Kolumbus") besuchte,und in einem Brief an seine Mutter vom Februar 1901 sdireibt er, erdenke bis zum heutigen Tag gern" an diesen Besuch. Wie gern wrden

  • XXVI 511 3. llljanowa

    wir uns im russischen Knstlertheater ,Das Nachtasyl' ansehen", lesenwir in seinem Brief vom 4. II. 1903. Das Nachtasyl" konnte er erstviele Jahre spter sehen, als er nach der Revolution in Moskau lebte.

    Verhltnismig selten ging Wladimir Iljitsch auch ins Konzert, ob-wohl er die Musik liebte. Vor kurzem besuchten wir zum erstenmal indiesem Winter ein gutes Konzert", lesen wir in dem gleichen Brief,und es hat uns sehr gefallen - besonders die letzte Symphonie vonTschaikowski (Symphonie pathetique)." Dieser Tage war ich in derOper und hrte mit groem Genu ,Die Jdin': ich habe sie einmal inKasan gehrt (es sang Zakrzewski), vor ungefhr 13 Jahren mu dasgewesen sein", schreibt er am 9. II. 1901 an seine Mutter, aber einigeMotive sind mir im Gedchtnis geblieben." Und diese Motive hat erdann bisweilen vor sich hin gepfiffen (in seiner besonderen Art, durchdie Zhne zu pfeifen). Spter im Ausland ging Wladimir Iljitsch seltenin die Oper und ins Konzert. Musik wirkte zu stark auf seine Nerven,und wenn diese nicht in Ordnung waren, was in der unruhigen, aufreiben-den Atmosphre des Emigrantenlebens sehr oft vorkam, konnte er keineMusik vertragen. Eine nicht unwesentliche Ursache fr WladimirIljitschs zurckgezogene Lebensweise (was Zerstreuungen anbelangt)waren auch seine groe Arbeitsbelastung und die bescheidenen Geld-mittel.

    Verhltnismig wenig Aufmerksamkeit schenkte Wladimir Iljitschauch den verschiedenen Sehenswrdigkeiten: Im allgemeinen sind siemir ziemlich gleichgltig", schreibt er 1895 in einem Brief aus Berlin,und meistens gerate ich nur zufllig dorthin, berhaupt gefllt mir einBummel auf verschiedenen Volksfesten und Volksbelustigungen mehr alsder Besuch von Museen, Theatern, Passagen u. dgl. m." Fr einen solchenBummel" in verschiedene Gegenden benutzte Wladimir Iljitsch, als er imJahre 1895 in Berlin lebte, gewhnlich die Abendstunden, und das gabihm die Mglichkeit, die Berliner Sitten zu studieren und sich an diedeutsche Sprache zu gewhnen". Aber mit diesem Studium der Sittenbefate er sich nicht nur, als er whrend seines ersten Auslandsaufent-halts in Berlin lebte - in seinen Briefen an die Angehrigen finden sichnicht wenig Stellen, aus denen hervorgeht, da er auch, als er in Parislebte bzw. ab und zu dorthin reiste, seine Freude daran hatte, das dortigeLeben zu beobachten, wobei ihm die Ungezwungenheit auffiel, mit der

  • Vorwort zw dem Sammelband Briefe an die Angehrigen" XXVII

    sich die Menschen auf den Straen und Boulevards bewegten. Parisist eine Stadt, in der es sich mit bescheidenen Mitteln schwer leben ltund die sehr ermdet", schrieb Wladimir Iljitsch, nachdem er fr einigeTage dorthin gefahren war. Jedoch fr einen kurzen Aufenthalt, umeinen Besuch, einen Ausflug dorthin zu machen, gibt es keine schnereund heiterere Stadt." Auf der Durchreise durch die Tschechoslowakeiinteressiert Wladimir Iljitsch sich auch fr das tschechische Leben, under bedauert, da er nicht Tschechisch gelernt hat; in lebhaften Farbenbeschreibt er das Leben und die Sitten der galizischen Bauern, die erwhrend seines Aufenthalts in Galizien beobachten konnte, den Karne-val auf den Straen Mnchens mit der Papierschlangen- und Konfetti-schlacht usw. Er liebte das Leben in allen seinen Erscheinungsformenund war wie selten jemand imstande, es umfassend zu beobachten undzu studieren.

    An Hand der nachfolgend verffentlichten Briefe Wladimir Iljitschskann man sich auch ein Urteil ber sein Verhltnis zu den Angehrigenund bis zu einem gewissen Grade zu den Menschen berhaupt bilden.Wieviel Aufmerksamkeit und Besorgtheit ihnen gegenber offenbartsich in diesen Briefen! Wladimir Iljitsch hing sehr an seinen Angehrigen,besonders an seiner Mutter, und aus allen seinen Briefen, sowohl aus denunmittelbar an sie gerichteten als auch aus denen an die anderen Mit-glieder unserer Familie, wird sichtbar, wie sehr er um das Wohlergehender Mutter besorgt war und darum, da sie etwas ruhiger und bequemerlebte. In seinen Briefen fragt er stndig, wie das Befinden ist, wie sich dieWohnungsfrage geregelt hat und ob die Wohnung nicht kalt ist. Michbeunruhigt", schreibt er 1909 an seine Mutter, da Eure Wohnung kalti s t . . . Da Du Dich nur nicht erkltest. . . Kann man nicht irgend etwasunternehmen, vielleicht lt sich ein kleiner eiserner Ofen aufstellen? . . . "In diesen Briefen finden sich so viele Ratschlge, sich im Sommer richtigauszuruhen", weniger herumzulaufen, recht viel auszuruhen und gesundzu bleiben" u. dgl. m.

    Besonders stark offenbarte sich Wladimir Iljitschs Sorge um seine Mut-ter, wenn ein Unglck sie ereilte, und solches Unglck gab es in ihremLeben nur zu oft. Bald das eine, bald das andere Mitglied unserer Familiewurde verhaftet oder verbannt, manchmal waren auch gleich mehrerein Haft, und sie, die damals schon hochbetagt war, mute wieder und

  • XXVIII M. 1. Uljanowa

    wieder ins Gefngnis gehen, um die Ihren zu besuchen und ihnen etwaszu bringen, sie mute stundenlang in den Wartezimmern der Gendarmenund der Ochrana-Leute herumsitzen und zeitweise in vlliger Einsam-keit den Schmerz um ihre der Freiheit beraubten Kinder tragen. Wiebesorgt Wladimir Iljitsch in diesen Perioden ihres Lebens um sie warund wie schwer ihm die Trennung von ihr fiel, geht besonders deutlichaus seinem Brief an die Mutter vom 1. IX. 1901 hervor. Maria IIji-nitschna und Mark Timofejewitsch saen damals im Gefngnis, AnnaIljinitschna befand sich im Ausland und konnte nicht nach Rulandzurckkehren, weil dann auch sie in der gleichen Sache verhaftet wordenwre, Dmitri Iljitsch konnte ebenfalls nicht bei der Mutter bleiben, weiler sein Universittsstudium in Jurjew abschlieen mute. Ebenso einsamwar sie in einer fremden Stadt, als Dmitri Iljitsch, Anna Iljinitschna undMaria Iljinitschna 1904 in Kiew in Sachen des Zentralkomitees und desKiewer Komitees der Partei verhaftet worden waren.

    Wladimir Iljitsch hatte immer den Wunsch, da seine Mutter bei ihmlebte, und er lud sie wiederholt zu sich ein. Aber das lie sich unteranderem auch deswegen schwer verwirklichen, weil die Mutter immerbei denjenigen ihrer Kinder sein wollte, die ihrer Hilfe besonders be-durften, in Ruland aber hatten diejenigen, auf welche die Strafma-nahmen der Polizei herabhagelten, diese Hilfe fast immer ntig. Des-wegen konnte sie nur zweimal (whrend der ersten und whrend derzweiten Emigration Wladimir Iljitschs) fr kurze Zeit ins Ausland kom-men und mit ihm zusammentreffen. 1902 verbrachte sie etwa einenMonat mit Wladimir Iljitsch und Anna Iljinitschna in Loguivy in Nord-frankreich. Das zweite und zugleich letzte Mal sah sie Wladimir Iljitschin Stockholm wieder, wohin sie 1910 mit Maria Iljinitschna reiste,um mit ihm zusammenzutreffen. Fr diese Reisen gab Wladimir Iljitschimmer die genaue Reiseroute an und riet ihr, in Hotels zu bernachten,damit die Reise sie nicht zu sehr anstrengt". In Stockholm hatte M. A.Uljanowa auch zum ersten und letzten Mal Gelegenheit, Wladimir Iljitschauf einer Versammlung emigrierter Arbeiter sprechen zu hren. Alswir wieder abreisten, begleitete Wladimir Iljitsch uns bis zur Anlege-stelle - den Dampfer durfte er nicht betreten, weil das Schiff einer rus-sischen Gesellschaft gehrte und er dort verhaftet werden konnte - , undbis heute ist mir sein Gesichtsausdruck in Erinnerung, als er dort stand

  • Vorwort zu dem Sammelband Briefe an die Angehrigen" XXIX

    und seiner Mutter nachsah. Wieviel Schmerz drckte sich da in seinemGesicht aus! Als ahnte er, da dies das letzte Wiedersehen mit seinerMutter sein sollte. So ist es auch tatschlich gekommen. Er konnte mitseinen Angehrigen nicht mehr zusammentreffen, bis er nach der Februar-revolution nach Ruland zurckkehrte, die Mutter aber starb kurz vorher,im Juli 1916. Der erste Brief Wladimir Iljitschs nach Empfang der Nach-richt von ihrem Tode hat uns nicht erreicht. Auch sein folgender Brief istnicht erhalten, aber soweit ich mich entsinnen kann, ging auch aus ihmhervor, wie schwer ihn dieser Verlust getroffen hatte, welchen Schmerzer ihm bereitete und wie liebevoll er sich uns gegenber zeigte, die wirebenfalls durch diesen Tod niedergedrckt waren.

    Stets verhielt sich Wladimir Iljitsch auch seinen Schwestern und seinemBruder sowie M. T. Jelisarow gegenber sehr aufmerksam; er inter-essierte sich stndig dafr, wie es ihnen ging, wie ihr Befinden war, ob sieeinen Verdienst hatten, ob sie sich gut erholten usw. Er bemhte sichdarum, uns bersetzungen zu verschaffen, und schickte zu diesem Zweckmanchmal auslndische Bcher, er interessierte sich auch fr unsere Lek-tre und unsere Studien, lud uns zu sich ein usw. Auch den Genossengegenber zeigte sich Wladimir Iljitsch sehr aufmerksam, er erkundigtesich danach, wie sie lebten, und war bemht, ihnen auch in materiellerHinsicht behilflich zu sein. So bernahm er die Abfassung von Vor-worten zu bersetzungen der Genossen, um ihnen die Herausgabe dieserbersetzungen zu erleichtern und ihnen auf diese Weise zu einem Ver-dienst zu verhelfen.

    Den Genossen, die die Bedingungen des Emigrantenlebens und deslegalen Briefwechsels zur Zeit des Zarismus nicht kennen, mag es selt-sam und unverstndlich erscheinen, da in Wladimir Iljitschs Briefen nichtselten erwhnt wird, er lebe sehr still", ruhig", still und friedlich"u. dgl. m., und zwar in Perioden wie zum Beispiel whrend des imperia-listischen Krieges, da aus der Literatur und dem illegalen Briefwechselersichtlich ist, da er im Kampf gegen den Chauvinismus, unter dessenEinflu auch die Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien geratenwar, eine unbndige Energie an den Tag legte. Es darf jedoch nichtvergessen werden, da Wladimir Iljitsch damals nur in der Presse undnoch dazu in einem Organ, das einmal in mehreren Wochen oder garmehreren Monaten herauskam und dessen bersendung ebenso wie die

  • M.J.Wjanowabersendung von Broschren uerst schwierig war, sowie in kleinenVersammlungen fr Emigranten oder kleinen Zirkeln auslndischer Ar-beiter auftreten konnte. Es versteht sich, da diese Mglichkeiten frWladimir Iljitsch beraus drftig waren, und wenn er nach N. K. Krup-skajas Bericht zu Beginn der Revolution in Ruland den Eindruck einesLwen machte, der aus seinem Kfig auszubrechen suchte war dann nichtdas Emigrantendasein und die Trennung von Ruland fr ihn auch vorher,besonders in der Periode des imperialistischen Krieges, ein Kfig, der ihn,den Fhrer, den Volkstribun, in betrchtlichem Mae einengte und nichtzur Entfaltung kommen lie? Es drngte ihn zu einer viel breiterenArbeit, er war aber gezwungen, mit zwei, drei Genossen zu arbeiten, umber sie an die Massen heranzukommen. Und war eine solche Ttigkeitwie auch berhaupt die ganze Situation in dem verschlafenen Bern"fr eine Natur wie Wladimir Iljitsch denn nicht wirklich allzu still"und ruhig"? . . .

    In dem legalen Briefwechsel tritt nur hin und wieder seine Erbitterunggegen die abscheulichen Opportunisten schdlichsten Typs", gegen dieblen Plattheiten zur Abstimmung ber die Kredite" u. dgl. m. zutage.Hier legten die Zensurbedingungen ihm Fesseln an, und man braucht sichnur anzusehen, welche Stze in seinen Briefen (siehe Anhang*) denOchrana-Leuten und Gendarmen auffielen" und zu Beweisstcken"wurden, um zu verstehen, da sowohl er als auch seine Angehrigen sichdamals in einer Lage befanden, in der es sehr schwer" war, den Brief-wechsel zu fhren, wie man mchte".

    Und nicht umsonst haben wir zu Anfang unseres Vorworts voraus-geschickt, da Wladimir Iljitschs Briefe an seine Angehrigen haupt-schlich fr seine Charakterisierung als Mensch bedeutsam und interessantsind (eine Charakterisierung, die natrlich bei weitem nicht vollstndigund infolge des Polizeiregimes ein wenig einseitig ist). In diesem Sinnebilden sie nach unserer Ansicht einen wertvollen Beitrag zur Literaturber Wladimir Iljitsch, und es bleibt nur zu bedauern, da so viele vonseinen Briefen sowohl an seine Angehrigen als auch an die Genossen ver-lorengegangen sind, ber Lenin als Fhrer, als Politiker und Wissenschaft-ler berichten andere Dokumente und in erster Linie sein reiches literari-sches Erbe.

    * Siehe den vorliegenden Band, S. 485/486. Die Hed.

  • Vorwort zu dem'Sammelband Briefe an die Angehrigen" x x x l

    Besonders schwer war fr Wladimir Iljitsch die zweite Emigration. Undals er nach dem Leben in und bei Petersburg nach Genf kam, fiel ihm dieRckkehr an den alten Ort besonders schwer. Wir stecken jetzt schoneinige Tage in diesem verfluchten Genf.. .", schreibt er in seinem Briefan Maria Iljinitschna vom 14.1. 1908. Ein elendes Nest, aber da ltsich nichts machen. Wir werden uns daran gewhnen." Und mit der ihmeigenen Beharrlichkeit und Energie ging Wladimir Iljitsch an die Arbeit,denn er verstand es, sich an jegliche Bedingungen zu gewhnen". Un-angenehm war nur die bersiedlung selbst, als bergang vom Besse-ren zum Schlechteren. Aber das war unvermeidbar", schreibt er in demfolgenden Brief an seine Mutter. Und wiederum machte sich fr ihnin dieser Zeit, als bergang vom Besseren zum Schlechteren, das Fehlender fr seine Arbeit ntigen literarischen Materialien, der Neuerschei-nungen und Zeitungen besonders empfindlich bemerkbar, denn in Peters-burg hatte er die Mglichkeit gehabt, alle Zeitungen und Zeitschriftenzu lesen und alle Neuerscheinungen zu verfolgen. Und er bittet darum,ihm die Protokolle der III. Duma zu beschaffen (die offizielle Ausgabeder stenografischen Berichte sowie die Erklrungen, Anfragen und Ge-setzesvorlagen, die in der Duma eingebracht werden)" und ihm lcken-los alles" zu schicken. Ihn interessieren auch die Programme, Ankndi-gungen und Flugschriften der Oktobristen, der Rechten, der Kosaken-gruppe usw.". Ihm fehlen diese notwendigen Materialien, whrend inder Duma alle diese ,Papiere' wahrscheinlich herumliegen und niemandsie braucht". Ebenfalls bittet er darum, ihm alle Neuerscheinungen derMenschewiki" zu schicken, Gewerkschaftszeitschriften, die dem Verbotentgangen sind, u. dgl. m.

    In der Zeit seiner Emigration fehlte es Wladimir Iljitsch jedoch nichtnur an Bchern, so sehr wir uns auch bemhten, ihn wenigstens mit deninteressantesten Erscheinungen auf dem Bchermarkt zu versorgen, son-dern auch an russischen Zeitungen. Besonders schlecht stand es damitwhrend des imperialistischen Krieges, als Wladimir Iljitsch zeitweiseberhaupt keine russischen Zeitungen bekam. Schickt mir wchentlich1

    einmal gelesene russische Zeitungen, ich bekomme sonst keine", schreibter in seinem Brief vom 20. IX. 1916.

    Sehr fehlte es auch an einem Verdienst, besonders in Wladimir Iljitschsletzten Emigrationsjahren. In Krze werden alle unsere alten Quellen

  • TA. 7. Wjanowa

    fr den Lebensunterhalt erschpft sein, und die Frage nach einem Ver-dienst wird ziemlich akut." (14. XII. 1915.) Und diese Frage machte ihm,wie Nadeshda Konstantinowna schreibt, ziemliche Sorge", denn er warin bezug auf Geldsachen und Hilfe, von welcher Seite sie auch kommenmochte, peinlich genau. Ich werde mich hinsetzen und schreiben, was auchimmer es sei", schreibt er am 20. IX. 1916, denn hier ist alles verdammtteuer und das Leben verteufelt schwer geworden."

    Und noch wenige Monate vor der Februarrevolution, im Herbst 1916,mute Wladimir Hjitsch sich Bcher zum bersetzen suchen und mitVerlegern ber ihre Herausgabe korrespondieren. Wie unproduktiv wreseine Kraft genutzt worden, htte er wirklich seine Zeit fr bersetzun-gen vergeuden mssen, aber auch das hat schlielich und endlich dieRevolution verhindert".

    Das waren seine Lebensbedingungen in der Emigration kurz vor derRevolution. Die Trennung von Ruland, von den Arbeitermassen, zudenen er stets in unmittelbare Verbindung zu treten suchte, die schwerenBedingungen des Emigrantendaseins - kein Wunder, da die Nervenkrank" wurden, da der ganze Organismus erheblich mitgenommen war,wenn auch die unbeugsame Willenskraft und Energie Wladimir Hjitschniemals verlieen.

    Bitterkeit klingt aus seinem Brief vom 15. II. 1917, wenn er die Scherz-worte Nadeshda Konstantinownas beim Empfang von Geld aus Ru-land wiedergibt: Du bekommst nun wohl eine ,Pension'."

    Nach diesem Brief aber, in dem hinter Scherzworten so deutlich dieschweren Bedingungen sichtbar werden, unter denen Wladimir Hjitschvor der Revolution leben mute, die kurze, freudige telegrafische Mit-teilung: Eintreffen Montag nachts 11. Verstndigt ,Prawda'."

    Zu Ende war das Warten in der Emigration. Zu Ende war auch derBriefwechsel mit den Angehrigen.

    Nur noch zwei kleine Briefe habe ich von Wladimir Hjitsch bekommen*,sie waren ebenso kurz wie sein illegaler Aufenthalt in Finnland zur Zeitder Kerenskiherrschaft und des Kornilowabenteuers am Vorabend desgroen Oktobersieges.

    TA. Wjanowa

    * Siehe den vorliegenden Band, S. 472, 473. Die Red.

  • xxxni

    Z U D E N BRIEFEN W L I L J I T S C H SAN DIE A N G E H R I G E N *

    Die Bedeutung des persnlichen Briefwechsels fr die Biographie einesMenschen und fr die Erschlieung seiner Persnlichkeit liegt darin, daer diesen Menschen in seinem tglichen Leben und in seinem Verhltniszu den anderen Menschen zeigt und dadurch hilft, auf bestimmte Cha-rakterzge des Betreffenden ein Licht zu werfen, die durch seine wissen-schaftliche oder gesellschaftliche Ttigkeit ungengend oder berhauptnicht beleuchtet werden, und da er in jedem Falle neue Einzelheiten zuseiner Charakteristik beisteuert. Obwohl die Briefe von Wladimir Iljitschgewhnlich sehr kurz und gedrngt und frei von allen Gefhlsergssensind, die er ebensowenig liebte wie berhaupt jede Redseligkeit, obwohlman in ihnen den ganz der Sache hingegebenen Menschen sprt, der ge-wohnt ist, alles Persnliche hintanzustellen, spiegeln dennoch auch siemehr oder weniger den Charakter ihres Verfassers wider.

    Es darf auch nicht vergessen werden, da dieser Briefwechsel unterden Bedingungen der zaristischen Zensur gefhrt wurde, da man stetsauf eine Kontrolle der Briefe gefat sein und daher besonders kurz undgedrngt schreiben mute. In unserer . . . Lage ist es sehr schwer, denBriefwechsel zu fhren, wie man mchte", schrieb Wladimir Iljitsch anseine Schwester Maria Iljinitschna. In den mit Geheimtinte geschriebenenBriefen konnte man sich freier ausdrcken; in ihnen finden sich auerden rein sadilichen Mitteilungen Berichte ber letzte Neuigkeiten aus derPartei, ber Kongresse und Konferenzen, treffende, in zwei, drei Wortenzusammengefate Charakteristiken Wladimir Iljitschs von Menschen und

    * Aufsatz von A. I. Uljanowa-Jelisarowa zu dem Sammelband Briefe andie Angehrigen", Ausgaben von 1931 und 1934. Die Red.

    3 Lenin, Werke, Bd. 37

  • XXXIV A . 1 Wjanowa-Jelisarowa

    Richtungen in der Partei, scharfe und entschiedene uerungen, wie Wla-dimir Iljitsch sie im persnlichen Gesprch zu tun pflegte. Aber dieseBriefe muten, wenn sie gelesen waren, vernichtet werden, und so istselbstverstndlich nicht ein einziger von ihnen erhalten geblieben. Manschrieb sie zwischen die Zeilen von Briefen oder noch hufiger zwischendie Zeilen von Bchern, Zeitschriften und irgendwelchen Druckschriften.Und wenn Wladimir Iljitsch bei der Aufzhlung empfangener Bcherschreibt, da ein Tagebuch des Kongresses der Techniker" oder einAbdruck aus dem ,Archiv'" sehr interessant" gewesen sei und er Anjutadafr besonderen Dank" sage, so bedeutet das natrlich, da er einenmit Geheimtinte geschriebenen Brief erhalten hat. Nicht aufbewahrt habeich auch diejenigen Briefe, die mit gewhnlicher Tinte geschrieben, abernicht an midi persnlich adressiert waren, beispielsweise die Briefe, dieich 1913 und 1914 ber die Redaktion der Zeitschrift Prosweschtsche-nije" unter einem vereinbarten Pseudonym erhielt. Auch die an meinePrivatadresse geschickten Briefe aufzuheben, war nicht immer zweck-mig: ich erinnere mich an einige, um deren Vernichtung Iljitsch selbstbat.

    ber die in diesen Sammelband aufgenommenen Briefe lt sich nochsagen, da sie zwar an nahe Angehrige gerichtet sind und daher natr-lich viel rein Familires enthalten, das weniger von allgemeinem Inter-esse ist, da es sich jedoch anderseits um Menschen handelt, die nichtnur blutsverwandt, sondern auch verwandt durch ihre berzeugungenwaren; mit ihnen wurde auch ber die Arbeit korrespondiert, so dazeitweise die legalen Briefe als Ergnzung dienten und gleichsam Gliederin der Gesamtkette des Briefwechsels darstellen. Und wenn sich Wladi-mir Iljitsch auch niemals wegen der Arbeit unmittelbar an seine Mutter ge-wandt hat, so brauchte er doch auch nichts vor ihr zu verheimlichen, weiler wute, da sie seinen gesamten revolutionren Bestrebungen, seinerganzen Arbeit volle Sympathie entgegenbrachte. Infolgedessen waren imallgemeinen die an ein Familienmitglied gerichteten Briefe zum grtenTeil auch fr alle anderen bestimmt. In Briefen an die Mutter wurdenAuftrge an die Schwestern, den Bruder oder den Schwager erteilt, unddie Briefe wurden gewhnlich von allen Familienmitgliedern gelesen unddenen, die sich in einer anderen Stadt befanden, hufig zugeschickt.

    Der Briefwechsel Wladimir Iljitschs mit seinen Angehrigen gewinnt

  • Zw den Briefen Wl. Jljitsdbs an die Angehrigen XXXV

    natrlich auch dadurch noch an Bedeutung, d a er jene ein Vierteljahr-hunder t dauernde Per iode umfat , in der unsere Partei entstand u n d sichformierte, bei deren Aufbau Wlad imi r Iljitsch eine so hervorragende Rollegespielt ha t .

    A m inhaltsreichsten und intensivsten war der Briefwechsel in den Jah-ren 1 8 9 7 - 1 8 9 9 u n d 1908/1909, als Wlad imi r Iljitsch zwei groe Bcherverffentlichte: Die Entwicklung des Kapitalismus in Ruland" undMaterial ismus u n d Empiriokri t izismus" - denn dieser Briefwechsel s tandin Zusammenhang mit best immten Auf t rgen wegen der Herausgabe , mitder Korrek tur u. dgl. m . Die Briefe aus der ersten der beiden Periodensind auerdem noch deshalb inhaltsreicher und zahlreicher, weil sie wh-rend de r Jah re der Verbannung geschrieben sind, wo die unfreiwilligeEinsamkeit u n d Isoliertheit vom Leben auch bei den verschlossenstenMenschen eine Ne igung zum Briefeschreiben hervorruft . A n H a n d de rBriefe Wlad imi r Iljitschs aus dieser Periode, namentlich an H a n d derbesonders ausfhrlichen Briefe, die er an seine M u t t e r richtete, kann m a nsich am besten ein Bild von seinen Lebensbedingungen, Neigungen und Ge-wohnhei ten machen - in ihnen tr i t t seine Persnlichkeit, wenn man sosagen darf, am plastischsten hervor .

    Ferner zeigt sich aber in den Briefen aus der Verbannung und das istdas wesentlichste ,. d a Wlad imi r Iljitsch keineswegs vom Leben los-gelst war , vielmehr be rhr t er in ihnen alle fr jene Zei t b rennendenFragen de r marxistischen Theor ie u n d Praxis . M a n ersieht aus ihnen,wenn auch durch Pseudonyme verschleiert - anders w a r es ja nicht mg-lich - , sein Verhltnis zu den Mitgliedern der Gruppe Befreiung derArbe i t " , zu Plechanow und Axel rod , die volle Solidaritt mi t ihnen unddie hohe Achtung, die er ihnen entgegenbrachte, seine Verbindung mitihnen, sowohl durch Briefe als auch durch meine Verhandlungen, dieich whrend der Auslandsreise im Jahre 1897 in seinem Auf t rag fhrte .Wlad imi r Iljitsch heb t in den Briefen hervor , d a man jene politischeIsolierung", vor der Axel rod gewarnt ha t te , un t e r keinen Ums tndenzulassen drfe . Dar in ha t der A u t o r meines Erachtens vollkommen u n dtausendmal recht, besonders gegenber den engstirnigen Anhnge rn der,konomik'."* Mit den letztgenannten hatte er Maslow und Co. im Auge,d. h. die Redaktion der Zeitung Samarski Westnik", die der von Struve

    * Siehe Werke, Bd. 34, S. 10. Die Red.

  • XXXVI J. J. Zlljanowa-Jelisaroiva

    geleiteten Zeitschrift Nowoje Slowo" eine sympathisierende Einstellungzur Bourgeoisie, zum Liberalismus vorgeworfen hatte. Wladimir Iljitschsah es damals als die dringendste Aufgabe an, sich nicht auf die Propa-ganda und Agitation nur fr den konomischen Kampf zu beschrnken.Es ist wichtig, nicht die Illusion aufkommen zu lassen, da man alleindurdi den Kampf gegen die Fabrikherren etwas erreichen kann", sagteer mir kurz vor seiner Verhaftung. Man mu das politische Bewutseinder Arbeiter von Anfang an entwickeln." In vollem Einvernehmen mitder Gruppe Befreiung der Arbeit" stellte Wladimir Iljitsch sich daher,ebenso wie auch Fedossejew und Martow, bei diesen damaligen Mei-nungsverschiedenheiten zwischen Struve und den Leuten vom SamarskiWestnik" auf die Seite Struves und verteidigte ihn in Briefen an Maslowund Co. Einer der Briefe Wladimir Iljitschs war nach Maslows Wortensehr angriffslustig geschrieben und schlo mit den Worten: Wenn IhrKrieg wollt, so sollt Ihr ihn haben." Auch in den Briefen des Jahres 1899wendet sich Wladimir Iljitsch wiederholt gegen die Samaraer.

    Was die Samaraer betrifft, bezweifle ich sehr, da sie etwas Ver-nnftiges sagen (man hat mir bereits von den Vorwrfen wegen brger-licher Einstellung' geschrieben)" (Brief vom 13. Februar 1899). Zu seinerRezension ber das Buch von Gwosdew schreibt er: Sehr angenehm wares nicht, die Rezension zu schreiben. Das Buch hat mir nicht gefallen:nichts Neues, Gemeinpltze, ein stellenweise unmglicher S t i l . . . "Wenn es gelnge, dieses Thema" (gemeint ist der Aufsatz ber dasErbe. A. J.) mit Menschen zu errtern, deren Horizont ber GwosdewsAnschauungen hinausgeht, so wre das sehr ntzlich und sehr inter-essant. (Haben Sie Gwosdews Buch ber das Kulakentum gelesen?* Mei-nes Erachtens ist es sehr, sehr schwach.)"

    Aber whrend Wladimir Iljitsch noch im Einvernehmen mit Axelrodund Plechanow, die schon 1895 bei seiner ersten Auslandsreise den not-wendigen bergang von den Zirkeldebatten mit den Volkstmlern, vonder Isolierung zur Organisierung einer politischen Partei der Sozial-demokratie verlangt hatten, den Kampf gegen den konomismus fhrte,stellte er in einer neuen Broschre von Axelrod (ber das Verhltniszwischen liberaler und sozialistischer Demokratie in Ruland) bereits ein

    * R. Qwosdew, Das wuchertreibende Kulakentum, seine sozialkonomischeBedeutung", St. Petersburg 1899.

  • Zu den 'Briefen Wl 31jitsdhs an die Angehrigen xxxvn

    anderes Extrem fest. Er weist darauf hin, da der Autor den Klassen-charakter der Bewegung ungengend hervorhebt und sich zu wohlwollendber die frondierenden Agrarier uert, man msse von ihrer Utilisierungsprechen, nicht aber von ihrer Untersttzung.

    In diesen Briefen kommt auch Iljitschs Emprung ber die damals ent-standene revisionistische Strmung zum Ausdruck: ber das Buch vonBernstein, ber die Aufstze der deutschen Revisionisten in der ZeitschriftDie Neue Zeit" und ber den Artikel von Bulgakow. ber den letzt-genannten schreibt er.- Bulgakow dagegen hat mich einfach aufgebracht:so ein Unsinn, so ein ausgemachter Unsinn und eine so grenzenlose pro-fessorale berheblichkeit - wei der Teufel, was das i s t ! . . . " Kautskywird dort direkt verflscht." Ich gedenke, ,ber das Buch Kautskys . . . ' "(gegen Bernstein. A.'].) zu schreiben." (Siehe den Brief vom I .V. 99.)

    ber Bernstein schreibt er:Das Buch von Bernstein habe ich mir mit Nadja gleich vorgenommen;

    wir haben ber die Hlfte gelesen, und der Inhalt setzt uns immer mehrin Erstaunen. Theoretisch ist es unglaublich schwach; eine Wiederholungfremder Gedanken. Phrasen ber Kritik, und nicht einmal der Versucheiner ernsthaften und selbstndigen Kritik. Praktisch ist es Opportunis-mus . . . Dabei aber feiger Opportunismus, denn das Programm direktwill Bernstein nicht anrhren. . . Bernsteins Hinweise, da sich vieleRussen mit ihm solidarisieren . . . , haben uns vollends emprt. Ja, wir sindhier wohl in der Tat richtige ,Alte' geworden und hinter den ,neuenWorten' . . . , die man bei Bernstein abschreibt, zurckgeblieben'. Ichwerde Anjuta bald ausfhrlicher zu diesem Thema schreiben."*

    Iljitsch bittet seine Schwester Maria Iljinitschna (am 22. VIII. 99), ihmdie Berichte vom Parteitag in Hannover zu beschaffen, der im Oktoberstattfinden sollte. Die Hauptfrage auf dem Parteitag in Hannover warbekanntlich die Frage Bernstein. Bei der Absendung seiner Rezensionber den Artikel von Bulgakow an das Nowoje Slowo" (sie wurde imNautschnoje Obosrenije" verffentlicht)** schreibt Iljitsch:

    * D. h. mit Geheimtinte.** W. I. Lenins Artikel Der Kapitalismus in der Landwirtschaft (ber das

    Buch Kautskys und einen Artikel des Herrn Bulgakow)" (siehe Werke, Bd. 4,S. 95-150) wurde an die Zeitschrift Natschalo" geschickt; er wurde in derZeitschrift Shisn" im Januar/Februar 1900 verffentlicht. Die Red.

  • XXXVHI A.J. Wjanowa-Jelisarowa

    Natrlich ist eine Polemik mit den eigenen Leuten unangenehm, undich habe mich bemht, den Ton zu mildern, aber Meinungsverschieden-heiten zu verschweigen ist nicht nur unangenehm, sondern geradezusdbdlidb - und man kann die grundstzlichen Meinungsverschieden-heiten zwischen ,Orthodoxie' und ,Kritizismus', die im deutschen undrussischen Marxismus aufgetreten sind, auch gar nicht verschweigen."

    Auch Tugan-Baranowski erregt Wladimir Iljitschs Emprung: Nr. 5des ,Nautschnoje Obosrenije'" (Brief vom 20. VI. 99) habe ich mir an-gesehen und finde den dort abgedruckten Aufsatz von Tugan-Baranowskiungeheuer dumm und unsinnig: er hat einfach willkrlich die Mehrwert-rate verndert, um Marx zu ,widerlegen', und setzt folgende absurdeAnnahme voraus: Vernderung der Arbeitsproduktivitt ohne Vernde-rung des Produktenwerts. Ich wei nicht, ob es lohnt, ber solche un-sinnigen Aufstze jedesmal zu schreiben: soll er doch zunchst sein Ver-sprechen halten und das etwas ausfhrlicher entwickeln, berhaupt werdeich zum immer entschiedeneren Gegner der neuesten ..kritischen Strmung'im Marxismus und des Neukantianismus (der unter anderem die Idee derTrennung der soziologischen und der konomischen Gesetze aufgebrachthat). Der Verfasser der ,Beitrge zur Geschichte des Materialismus'* hatvllig recht, wenn er den Neukantianismus als reaktionre Theorieder reaktionren Bourgeoisie kennzeichnet und gegen Bernstein auf-tritt."

    Ein zweiter Artikel Wladimir Iljitschs heit Noch einmal zur Frageder Realisationstheorie"** (er ist bereits hauptschlich gegen Struve ge-richtet, dessen Sympathie fr den Revisionismus immer klarer zutage trat).Wladimir Iljitschs Kritik hat hier allerdings noch den Charakter einerkameradschaftlichen Kritik an einem Gleichgesinnten.

    Ich stelle jetzt den Aufsatz fertig, in dem ich Struve antworte. Erhat meines Erachtehs vieles durcheinandergebracht und kann mit diesemArtikel nicht wenig Miverstndnisse bei seinen Anhngern und Schaden-freude bei den Gegnern hervorrufen." (7. III.)

    Aber allmhlich tauchen bereits ernstere Befrchtungen auf, die in denBriefen des gleichen Jahres an Potressow (Lenin-Sammelband IV) be-stimmter zum Ausdruck kommen. Gleichzeitig schreibt er, er habe be-

    * Plechanow.** Siehe Werke, Bd. 4, S. 64-83. Die TKe.

  • Zu den Briefen "Wl. Jljsdis an die Angehrigen xxxix

    gnnen, an Hand der wenigen ihm damals zur Verfgung stehendenphilosophischen Bcher Philosophie zu studieren.

    Wolodja liest unentwegt alle mgliche Philosophie (das ist jetzt seineoffizielle Beschftigung), Holbach, Helvetius u. dgl. m.", schreibt N. K.Krupskaja in ihrem Brief an M. A. Uljanowa vom 20. VI. 99.

    Schlielich findet auch das wohl grte politische Faktum jener Periode- das sogenannte Credo" und die von einer Gruppe von 17 Sozialdemo-kraten verfate Antwort darauf* - in seinen Briefen Erwhnung:

    Anjuta schreibe ich bald ausfhrlicher** wegen des ,Credo' (das michund uns alle sehr interessiert und emprt)." (1. VIII. 99.)

    Was das Credo der Jungen*** anbelangt, so hat mich die Inhaltlosig-keit dieser Phrasen geradezu erschttert. Das ist kein Credo, sonderneinfach eine klgliche Anhufung von Worten! Ich beabsichtige, darberausfhrlicher zu schreiben." (25. VIII. 99.)

    Ich hatte Iljitsch das Dokument bersandt und ihm ganz zufllig diesenNamen gegeben. In meinem mit Geheimtinte geschriebenen Brief hatte ichmich, ohne dem besondere Bedeutung beizumessen, einfach so kurz wiemglich ausgedrckt: Ich schicke Dir das ,Credo' der Jungen."

    Als dann diese Bezeichnung sich einbrgerte und von einem Anti-Credo" gesprochen wurde, beunruhigte es mich, da ich durch die falscheBezeichnung unfreiwillig die Bedeutung des Dokuments bertrieben hatte,und ich schrieb Iljitsch davon "wiederum mit Geheimtinte. Aber er mudie Stelle in dem Brief wohl berlesen haben, denn als ich ihm nach seinerRckkehr aus der Verbannung sagte, da dieses Dokument kein Glaubens-symbol einer Gruppe der Jungen sei, sondern der Feder von zwei Auto-ren - Kuskowa und Prokopowitsch - entstamme, und da die BezeichnungCredo" auf mich zurckgehe, da war Wladimir Iljitsch erstaunt undfragte zurck: Auf dich?" Aber nach kurzem Schweigen sagte er, das seigleichgltig, man habe doch darauf antworten mssen. So ist das Doku-ment unter diesem Namen bekannt geworden.

    Wir sehen also, da Wladimir Iljitsch in den Briefen, die er aus derVerbannung an seine Angehrigen geschrieben hat, zu allen brennendenFragen des damaligen Parteilebens Stellung nimmt,- in ihnen zeichnet sich

    * Siehe Werke, Bd. 4, S. 159-175. Die Red.** d. h. mit Geheimtinte.

    ***. der Jungen" bei Lenin deutsch. Der Tibers.

  • XL A . LtHjanowa-Jelisarowa

    die Grundrichtung seines Weges ab, der die Enge des konomismusebenso meiden mute wie die Gefahr des Wohlwollens gegenber denLiberalen, das zur Verschwommenheit fhren konnte, wie auch die reinintellektuelle Neigung zum Revisionismus, zur Kritik um der Kritik willen.Schon in der Verbannung whlte er die Genossen fr den zuknftigenAufbau der Partei aus, auch fr jene unverkleidete" Literatur*, von de-ren Notwendigkeit er Potressow schreibt und fr die er im gleichen Briefvon seinen Genossen in der Verbannung einzig und allein Martow nennt,der als einziger fr alle diese Angelegenheiten" (die Interessen der Zeit-schrift, der Partei) ein wirkliches und aktives Interesse zeigt". Er ent-wirft den Plan der Iskra".

    In Wladimir Iljitschs Briefen aus den Jahren 1908/1909 - der Zeit, alssein Buch Materialismus und Empiriokritizismus" herausgegeben wurde -finden sich ebenfalls uerungen zu allgemeinen Themen, insbesonderezum Thema seines Buches, wenn auch viel weniger als in seinen Briefenaus der Verbannung, die berhaupt ausfhrlicher sind. Aber die Versucheeiner Revision des Marxismus von der philosophischen Seite her, die beiuns unter Fhrung von Bogdanow und Lunatscharski unternommen wur-den, emprten Wladimir Iljitsch nicht weniger als die gleichen VersucheBernsteins von der politisch-konomischen Seite her. Wir haben gesehen,da die Richtung des Neukantianismus im Marxismus ihn schon in Sibi-rien veranlat hatte, sich dem Studium der Philosophie zuzuwenden. Inden Jahren der Reaktion nach unserer ersten Revolution zwang ihn dieRichtung des Gottsuchertums, sich dem Philosophiestudium mit allerGrndlichkeit zu widmen und ein Buch zu schreiben, das dieser Abwei-chung vom Marxismus auf den Grund ging.

    Meine Arbeit zur Philosophie", schreibt Wladimir Iljitsch seiner* L. Kamenews Deutung dieser Worte im Vorwort zu Lenins Briefen und in

    Anmerkung 41 (Lenin-Sammelband IV, S. 19) ist offensichtlich falsch. Unterder Bezeichnung verkleidete Literatur" ist selbstverstndlich nicht die liberaleLiteratur zu verstehen, die sich in das Gewand der Sozialdemokratie hllt,sondern die eigene, sozialdemokratische Literatur, die aus Zensurgriindengezwungen ist, legale Formen anzunehmen - d. h., auer der legalen Literaturist auch eine illegale sozialdemokratische Literatur ntig. Von der Notwendig-keit, sich gegen die verkleideten Liberalen" abzugrenzen, ist an dieser Stellenicht die Rede. Anders kann man das berhaupt nicht auffassen.

  • Zu den 'Briefen Wl. Jljitsdos an die Angehrigen XL1

    Sdiwester Mar ia Iljinitschna am 13. VII. 1908, ist durch meine Krankhei tstark verzgert worden . Aber jetzt bin id i fast ganz wiederhergestellt undwerde das Budi unbedingt schreiben. Id i habe mid i sehr mi t den Madi i s tenbesdiftigt und denke, d a id i all ihren unbeschreiblichen Plattheiten (unddenen des ,Empiriomonismus' auch) auf den G r u n d gekommen bin ."

    Wladimir Iljitsch w a r furchtbar emprt ber das Pfaffentum" - einTerminus , mi t dem er jedes Got tsudier tum, jedes Streben, in dieser oderjener Form religise Ansdiauungen in den Marxismus hineinzutragen,kermzeidmet. Aus Zensurrcksichten sdilgt e r vor, das W o r t Pfaffen-tum" berall d u r d i das W o r t Fideismus" zu ersetzen und in einer An-merkung eine Erluterung zu geben (Fideismus ist eine Lehre, die denGlauben an die Stelle des Wissens setzt oder berhaupt dem Glauben einegewisse Bedeutung beilegt"*).

    So wurde es auch in dem Budi gedruckt. Im Manuskr ip t aber lauteteder Satz, zu dem diese Anmerkung gemacht wurde , s o : Gesttzt auf allediese angeblich neuesten Lehren, versteigen sidi unsere Vernidi ter desdialektisdien Materialismus khn bis zum direkten Pfaffentum (das t r i t tbei Lunatscharski am klarsten hervor, aber durchaus n id i t bei ihm allein!)."U n d Wladimir Iljitsch fiel mit aller Schrfe ber diese Vernichter" lieb-er ba t mich, in bezug auf sie nichts zu mildern, und stimmte nu r wider-strebend einigen Milderungen aus Rcksicht auf die Zensur zu.

    Er hat sich den lieben Got t h inzugedadi t - wird m a n auswediselnmssen: ,Er brad i te es fertig, nun , gelinde gesagt, religise Begriffeh inzuzudenken" ' oder so hnlidi ."

    Im Manuskr ip t wurde dieser Ausdruck in folgendem Satz e rwhnt :Denken und ,hinzudenken' kann man sich jede Hlle und alle mglichenTeufel. Lunatscharski brachte es sogar fertig, sich einen lieben Got t hin-zuzudenken." W o es jedoch keine Zensurrcksiditen gab, sdirieb e r mi r :Bitte mildere an den Stellen gegen Bogdanow, unatsdjarski und Co.nichts .Es ist unmglidi zu mildern. Du hast gestridien, da Tsdiernowein ,ehrlidierer' Gegner ist, als sie es sind, und das ist sehr schade. Es istnicht die richtige Nuance herausgekommen. Meine Ansdiuldigungen stehenso nicht im richtigen Verhltnis. Der Angelpunkt ist gerade, da unsereMadiisten unehrHdbe, gemeine und feige Feinde des Marxismus in derPhilosophie sind." Und weiter: Mildere bitte nicht die Stellen gegen

    * Siehe Werke, Bd. 14, S. 9. Die Red.

  • XLI1 . A.lWjanowa-'JeHsarowa

    Bogdanow und gegen LunatscharsTds Pfaffentum. Die Beziehungen zwi-schen uns sind gnzlich abgebrochen. Es gibt keinen Grund, etwas zu mil-dern." (9. III. 09.)

    Nimm vor allem", schreibt er am 21. Mrz, nicht den ,Purischke-witsch' und das brige im Abschnitt zur Kritik des Kantianismus heraus!"

    Iljitsch verglich die Machisten deswegen mit Purischkewitsch", weilebenso, wie dieser erklrte, er kritisiere die Kadetten konsequenter undentschiedener als die Marxisten, auch die Machisten versicherten, sie kriti-sierten Kant konsequenter und entschiedener als die Marxisten. Man darfaber doch nicht vergessen, Herr Purischkewitsch, wendet sich Iljitsch anihn, da Sie die Kadetten kritisierten, weil sie Ihnen zu sehr Demokratensind, wir aber, weil sie es nidoi gengend sind. Die Machisten ben Kritikan Kant, weil er ihnen zu sehr Materialist ist, wir aber kritisieren ihn,weil er nidit gengend Materialist ist. Die Machisten kritisieren Kant vonrechts, wir von links." (Werke, Bd. XIII, S. 163.)*

    Und weiter schrieb Wladimir Iljitsch, als er den Zusatz zu Absdxnitt 1des Kapitels IV - Von welcher Seite kritisierte N. G. Tschernyschewskiden Kantianismus?" - bersandte: Ich halte es fr uerst wichtig, denMadlisten Tschernyschewski entgegenzustellen." Die politische Seite die-ser Meinungsverschiedenheiten, die als Meinungsverschiedenheiten mitder Gruppe Wperjod" [Vorwrts] bekannt sind, erwhnt Iljitsch in denlegalen Briefen jener Periode nur mit wenigen Worten: Bei uns sieht estraurig aus: es wird sicher zu einer Spaltung** kommen; ich hoffe, Dir inein bis anderthalb Monaten Genaueres mitteilen zu knnen. Vorlufigkann man nicht mehr als Vermutungen anstellen." (26. V.) be r dieseSpaltung wird ausfhrlich in der Mitteilung ber eine Beratung der er-weiterten Redaktion des ,Proletari'" und den dort beigefgten Reso-lutionen gesprochen: 5. ber die Abspaltung des Gen. Maximow (Bog-danow) und 4. ber die Parteischule (auf Capri), fr die die Redaktiondes Proletari" die Verantwortung ablehnt, in Anbetradit der Tatsache,da die Initiatoren und Organisatoren der Schule in N. N. ausnahmslosVertreter des Otsowismus, des Ultimatismus und des Gottbildnertumssind" (Juni 09, Werke, Bd. XIV, S'. 89-103).***

    * Siehe Werke, Bd. 14, S. 196. Die TLed.** Spaltung" bei Lenin deutsdi. Der Tibers.

    *** Siehe Werke, Bd. 15, S. 427-454. Die Red.

  • 2M den Briefen Wl. Jljitsdbs an die Angehrigen XLU1

    In den Briefen der letzten Jahre, die berhaupt sprlicher sind, werdengesellschaftliche Themen noch weniger berhrt.

    Die ersten Jahre der zweiten Emigration gingen sehr de und traurigdahin und waren fr Iljitsch schwer. Das bemerkte ich auch selbst, als ichihn im Herbst 1911 in Paris besuchte. Seine Stimmung war damals spr-bar weniger zuversichtlich als sonst. Einmal, whrend eines Spaziergangszu zweit, sagte er zu mir: Ob ich die nchste Revolution noch erlebenwerde?" Ich habe noch seinen traurigen Gesichtsausdruck dabei vor Au-gen, der mich an eine 1895 bei der Odirana aufgenommene Fotografie vonihm erinnerte. Das war die Zeit der schlimmsten Reaktion. Die Wieder-geburt kndigte sich damals erst in einigen Symptomen an wie zum Bei-spiel in der Tatsache, da die Swesda" und die Mysl" erschienen.

    So klang in seinem Brief vom 3. Januar 1911 eine freudige Note auf,als er mitteilte: Gestern habe ich aus Ruland Nr. 1 der ,Swesda' erhaltenund heute Nr. 1 der ,Mysl'. Ist das eine Freude!... Ist das erfreulich!!"

    Seine gedrckte Stimmung wurde natrlich noch durch jenes furcht-bare Geznk" verstrkt, ber das Wladimir Iljitsch 1910 schrieb und dasseine Arbeit beraus schlecht vorangehen lie - d. h. die Meinungsver-schiedenheiten mit dem Auslandsbro des ZK und der Gruppe Wpe-rjod". Diese Zeit, in der es besonders viel Geznk" gab, meint WladimirIljitsch auch in seinem Brief vom 3. Januar 1911, in dem er sich bei M. T.Jelisarow wegen seiner Sumigkeit beim Beantworten von Briefen ent-schuldigt.

    Vom Herbst 1912 an, der Zeit seiner bersiedlung nach Kfakau, gehtaus den Briefen hervor, da Wladimir Iljitschs Stimmung sich sehr gehobenhat. Er schreibt, es gehe ihnen besser als in Paris - die Nerven ruhten sichaus, man komme mehr zur literarischen Arbeit, und es gebe weniger Ge-znk. Die Arbeit in der Prawda", der Aufschwung unter den Arbeiternund in der revolutionren Ttigkeit wirkten auf Wladimir Iljitsch natr-lich sehr positiv. Auch das Geznk lie merklich nach - so schreibt Wladi-mir Iljitsch, Gorki sei uns weniger unfreundlich gesonnen. Bald danachtrat Gorki bekanntlich in die Redaktion der bolschewistischen ZeitschriftProsweschtschenije" ein.

    Wladimir Iljitsch schreibt von dem Vorhaben, bei der Prawda" Bro-schren herauszugeben,- er kommt mehr mit Russen zusammen und fhltsich offensichtlich Ruland nher: er ldt M. T. Jelisarow zu sich in den

  • XLIV A. J. liljanowa-'Jelisarowa

    Kurort Zakopane ein und teilt dabei mit, da es dorthin von Warschaudirekte Zugverbindungen gebe,- auch mich ldt er ein, wobei er darauf an-spielt, da der Grenzbertritt fr Grenzanwohner nur 30 Kopeken kostet.

    berhaupt gefllt ihm das Leben in Krakau, und er schreibt, er habenidit vor, umzuziehen - es sei denn, ein Krieg vertreibt uns, aber ichglaube nicht recht an Krieg".

    Vom Herbst 1913 an wohnte ich in Petersburg, wo ich in der bolsche-wistischen Zeitschrift Prosweschtschenije", in der Zeitschrift Rabot-niza" sowie auch in der Prawda" mitarbeitete. In dieser Zeit fhrteWladimir Iljitsch auer dem mit Geheimtinte geschriebenen Briefwechselmit mir auch einen umfangreichen Briefwechsel ber literarische Ange-legenheiten, der unter dem Pseudonym Andrej Nikolajewitsch an dieRedaktion des Prosweschtschenije" adressiert wurde. Von diesem Brief-wechsel geschftlichen Charakters habe ich zur Zeit nur noch zwei perlu-strierte Briefe, die in die vorliegende Sammlung der Briefe an die Ange-hrigen nicht aufgenommen worden sind.

    In den Kriegsjahren war der Briefwechsel natrlich krglicher, undviele Briefe gingen verloren. Aber auch in den wenigen Briefen, die erhal-ten geblieben sind, und sogar auf Postkarten berhrt Wladimir Iljitschdie fr ihn brennendsten allgemeinen Fragen. So heit es in der Post-karte vom l.il . 10: Die letzte Zeit war bei uns sehr ,strmisch', aber esendete mit dem Versuch, mit den Menschewiki Frieden zu schlieen, jaja,so seltsam das auch ist; unser Fraktionsorgan hat sein Erscheinen einge-stellt, und wir versuchen, strker die Vereinigung voranzubringen. Wirwerden sehen, ob es gelingt."

    In der Postkarte vom 24. III. 12 heit es: brigens gibt es hier zwi-schen den Unseren Raufereien, und man bewirft sich mit Schmutz, wie eslange nidit und wohl berhaupt kaum jemals vorgekommen ist. Alle Grup-pen und Untergruppen ziehen gegen die letzte Konferenz und ihre Ver-anstalter zu Felde, so da es auf den Versammlungen hier budistblidi zuSchlgereien gekommen ist."

    In seinem Brief vom 14. XI. 14 schreibt er: Es ist sehr traurig, dasAnwachsen des Chauvinismus in den versdiiedenen Lndern und solcheverrterisdien Handlungen wie die der deutsdien* (und ja nidit nur der

    * Die Stimmabgabe der deutschen Sozialdemokraten fr die Kriegskrediteam 4. August 1914.

  • Zu den Briefen 1VI. JljHsdhs an die Angehrigen XLV

    deutschen) Marxis ten oder Quasimarxisten zu beobachten . . . Es ist ganzverstndlich, da die Liberalen Plechanow erneut lobpreisen: er ha t dieseschndliche Strafe voll und ganz v e r d i e n t . . . Ich habe die schmachvolleund schamlose N r . des ,Sowremenny Mir ' g e s e h e n . . . eine einzigeS c h a n d e ! . . . " *

    Aber in diesen Jahren, als jegliche Korrespondenz mit dem ZK starkeingeschrnkt wurde , fhrten wir um so intensiver unseren mit Geheim-tinte geschriebenen Briefwechsel ber die Arbeit , und in der einzigen ausdem Jahre 1915 erhaltenen Postkarte Wladimir Iljitschs dankt er mir be-sonders - sehr, sehr, sehr" - fr das Buch, fr die hchst interessanteSammlung pdagogischer Ausgaben und fr den Brief". Hchst inter-essant" war die Sammlung pdagogischer Ausgaben natrlich wegen desmit Geheimtinte zwischen die Zeilen geschriebenen Briefes.

    Wladimir Iljitschs Briefe an die Angehrigen spiegeln also, wie wirsehen, den Kampf wider, den er sein ganzes Leben lang fr das richtigeVerstehen des Marxismus, fr seine richtige Anwendung in den verschie-denen Entwicklungsstadien der proletarischen Bewegung gefhrt hat .

    Versuchen wir nun, auf Grund dieser Briefe einige Verallgemeinerun-gen vorzunehmen und kurz jene Seiten der Persnlichkeit, jene Charakter-zge Wladimir Iljitschs zu kennzeichnen, die nach unserer Me