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Leo Tolstoi Meine Beichte Anaconda

Leo Tolstoi Meine Beichte - Buch.de · PDF fileTolstoi Beichte: Inhalt 29.05.2012 13 ... Gewisse Erinnerungen gaben mir den Gedanken ein, ... mals ein, die Religion um Rat zu fragen

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Leo Tolstoi

Meine Beichte

Anaconda

Tolstoi Beichte:Inhalt 29.05.2012 13:03 Seite 3

Russischer Originaltitel: Ispoved. Die anonyme deutsche Über -setzung folgt der Ausgabe Berlin: Globus Verlag o. J. [ca. 1902],die den Zusatz »Vom Verfasser autorisierte Ausgabe« trägt.Orthografie und Interpunktion wurden den Regeln derneuen deutschen Rechtschreibung angepasst.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: Ilja Jefimowitsch Repin (1844–1930), »Porträt LeoTolstoi« (1887), Tretjakow-Galerie, Moskau, © akg-imagesUmschlaggestaltung: agilmedien, KölnSatz und Layout: paquémedia, www.paque.dePrinted in Czech Republic 2012ISBN [email protected]

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Erster Kinderglaube. – Frühzeitiger Skeptizismus. –Der Atheismus im Gymnasium. – Mystizismus des DimitriTolstoi. – Wie man zu glauben aufhört. – Die Orthodoxieverbürgt nicht immer auch die Tugend. – Geschichte desHerrn S. – Der Glaube an das Vollkommene.

Ich bin nach den Grundsätzen der orthodoxen, christ-lichen Kirche getauft und erzogen worden. Man lehr-te mich diese Grundsätze in den ersten Jahren mei-nes Lebens während meiner Kindheit und meines rei-feren Jünglingsalters. Aber als ich achtzehn Jahr alt warund zwei Jahre die Universität besucht hatte, glaubteich schon nicht mehr an das, was man mich gelehrthatte.

Gewisse Erinnerungen gaben mir den Gedanken ein,dass ich niemals ernsthaft geglaubt hatte, und dass das,was ich für Glauben und Religion gehalten, nur Ver-trauen auf die oftmals gehörten Glaubensansichten der»Großen« war. Aber auch dieses Vertrauen war nur sehrschwach. Ich erinnere mich, dass, als ich ungefähr elfJahre alt war, Waldemar M., ein Schüler aus dem Gym-nasium, der inzwischen verstorben ist, uns eines Sonn-tags besuchte und uns als eine große Neuigkeit eine so-eben im Gymnasium gemachte Entdeckung ankündig-

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8 Ite. Diese Entdeckung bestand darin, dass es keinen Gottgebe und dass das, was man uns gelehrt hatte, reine Er-findung sei.

Das geschah im Jahr 1838. Ich erinnere mich ganz ge-nau, wie sehr sich meine älteren Brüder für dieseNeuigkeit interessierten und mich aufforderten, michihrer Ansicht anzuschließen. Wir begeisterten uns alleganz außerordentlich und nahmen diese Nachricht alsetwas höchst Spaßhaftes auf, das durchaus im Bereichder Möglichkeit läge.

Ich erinnere mich ferner, dass während meines Auf-enthalts auf der Universität mein ältester Bruder Dimi-tri sich plötzlich mit aller Leidenschaft, die ihm eigen-tümlich war, der Religion widmete. Als er anfing, allenGottesdiensten beizuwohnen, zu fasten, kurz mit einemWort, ein wohlgefälliges und moralisches Leben zu füh-ren, machten wir alle, sogar die ältesten, uns über ihnlustig, indem wir ihm, Gott mag wissen warum, denNamen Noah beilegten.

Ich erinnere mich ferner, dass Herr Maußin-Pusch-kin, der damals Rektor an der Universität von Kasanwar, uns manchmal zum Ball einlud, und wenn meinBruder seine Einladung abschlug, er ihn von seinemEntschluss abbringen wollte, indem er ironisch zu ihmsagte, auch David habe ja vor der Bundeslade getanzt.

Ich beteiligte mich damals an den Spöttereien der Äl-teren und zog daraus den Schluss, dass man wohl denKatechismus lernen und zur Kirche gehen müsse, dass esaber durchaus nicht nötig sei, die Sache allzu ernst auf-zufassen.

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Der Mangel an Religion trat bei mir ein, wie es im-mer geschah und wie es bei Leuten unserer Gesell-schaftsklasse stets der Fall war.

Ich erinnere mich auch, dass ich noch in sehr ju-gendlichem Alter Voltaire las, und dass seine Spöttereien,anstatt Entrüstung bei mir hervorzurufen, mich aufshöchste belustigten.

Ich glaube, das geschieht in den weitaus meisten Fäl-len in folgender Weise:

Die Leute leben wie eben jedermann lebt, und je-dermann gründet seine Lebensweise auf Grundsätzen,die mit der Religion nicht nur nichts gemein haben,sondern die, in den weitaus meisten Fällen, ihnen voll-ständig entgegengesetzt sind. Das Lehren der Religionist ohne jede Wirkung auf das Leben. Sie regelt in kei-ner Weise unsere Beziehungen zu den anderen Men-schen, und in unserer eigenen Existenz fällt es uns nie-mals ein, die Religion um Rat zu fragen. Diese Lehrefindet ihre Anwendung nur außerhalb des eigentlichenLebens und hat mit diesem nicht die geringsten Bezie-hungen. Kommt man aber einmal mit ihr in Berüh-rung, so ist es gleichsam etwas Phänomenales, das mitdem Leben keinerlei Anknüpfungspunkte hat.

Damals wie auch heute ist es ganz und gar unmög-lich, aus dem Leben des Menschen, aus seinen Hand-lungen zu erkennen, ob er glaubt oder nicht. Wenn eseinen Unterschied gibt zwischen dem, was die Ortho-doxie öffentlich bekennt, und dem, was sie bestreitet, sofällt diese Betrachtung nicht zu Gunsten des Ersterenaus.

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