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Leona Francombe Madame Ernestine und die Entdeckung der Liebe

Leona Francombe Madame Ernestine und die Entdeckung der Liebe · sogar den Fuß bo den vor, so dass Er nesti ne letz ten En des froh war, sich am Ende des Tages in ihre Zu fucht zurück

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Leona Francombe

Madame Ernestine und die Entdeckung der Liebe

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Leona Francombe

Madame Ernestine und die Entdeckung

der LiebeRO MAN

Deutsch von Doris Heinemann

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Leona Francombe

Madame Ernestine und die Entdeckung

der LiebeRO MAN

Deutsch von Doris Heinemann

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Die Ori gi nal aus ga be trägt den Ti tel DAN CING WITH SWANS.

Das Zi tat von Walt Whit man auf S. 441 folgt der deut schen Über set zung von Jür gen Brô can, zi tiert nach: Walt Whit man: Gras blät ter,

Mün chen 2009, S. 610. Der Ab druck er folgt mit freund li cher Ge neh mi gung des Carl Han ser Ver lags, Mün chen.

Die im Ro man be find li chen Zi ta te aus Ho mers Odys see fol gen der deut schen Über set zung von Jo hann Hein rich Voß, zi tiert nach:

Ho mers Odys see von Jo hann Hein rich Voß, Ab druck der 1. Aus ga be vom Jah re 1781, mit ei ner Ein lei tung von Mi cha el Bern ays, Stutt gart 1881.

Die Zi ta te wur den be hut sam der neu en deut schen Recht schrei bung an ge gli chen.

Die ses Buch ist auch als E-Book er hält lich.

Ver lags grup pe Ran dom House FSC® N001967Das für die ses Buch ver wen de te FSC®-zer tifi zier te Pa pier

EOS lie fert Sal zer Pa pier, St. Pöl ten, Aust ria.

1. Auf a geCo py right © der Ori gi nal aus ga be 2014 by Le ona Franc ombe

Co py right © der deutsch spra chi gen Aus ga be 2014by Wil helm Gold mann Ver lag, Mün chen,

in der Ver lags grup pe Ran dom House GmbHUm schlag ge stal tung: UNO Wer be agen tur, Mün chen

Um schlag mo tiv: © Jarek Blaminsky/Arcangel Images; Fince Pic®, München

Lek to rat: Vera Thi elen hausSatz: Buch-Werk statt GmbH, Bad Aib ling

Druck: GGP Me dia GmbH, Pöß neckPrin ted in Germ any

ISBN 978-3-442-31354-9www.gold mann-ver lag.de

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For Dad,in lov ing me mory

Deine Heimat, dein Hausund was dir irgendwo lieb ist

Homer

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Coda

Es soll te ihr letz ter Abend als Har ry Bi shops Haus häl te rin sein. Hät te sie es ge wusst, hät te sie viel leicht so gar selbst Schu bert ge wählt: nüch tern und ehr lich. Ein an ge mes se ner Ab schieds-gruß. Doch ob wohl die Mu sik die Macht hat, jede Wen dung des mensch li chen Schick sals aus zu drü cken – und die ein oder an de re, wie zum Bei spiel den jä hen Tod, so gar aus zu lö sen –, hät te Er nes-ti ne die sen be son de ren Diens tag mit sei ner ein zig ar ti gen Ka tast-ro phe lie ber schwei gend be gan gen.

Der Abend be gann ab so lut un auf äl lig. Wie je den Diens tag kam Har ry frü her aus dem Kon su lat zu rück und er war te te, dass sein Abend es sen um 18 Uhr 45 auf dem Tisch stand. Es war sein Streich quar tett-Abend. Die üb ri gen Quar tett-Mit glie der wür den in ei ner knap pen Stun de ein tref en, und dann wür de es leb haft zu ge hen in der ver schla fe nen Vil la: das Ge läch ter und die Fop pe rei en der Män ner und, wenn die Wir kung des Bur-gun ders ein ge setzt hät te, ei ni ge hel den haf te An läu fe, Mu sik zu ma chen.

Er nes ti ne ser vier te ihr köst li ches Rip pen stück am Gra nit tre-sen in der Kü che, wo Har ry sei ne Mahl zei ten meis tens ein nahm.

»Dan ke, Er nes ti ne«, sag te er und hob sei nen freund li chen Spa-ni el blick kurz von der Zei tung. Er wirk te müde und trau rig.

»Bit te, Mon si eur«, er wi der te sie mit ei ner leich ten Ver beu gung. Sie zö ger te, nor ma ler wei se war er nicht so me lan cho lisch. »Kann ich noch ir gend et was für Sie tun?«

»Nein, dan ke.«

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»Heu te Abend wie der Schu bert, Mon si eur?«Bei die ser für Haus häl te rin nen eher un ty pi schen Fra ge blick te

er ein wei te res Mal auf. »Jetzt, wo Sie es sa gen: Ja.«Sie schenk te ihm ein gro ßes Glas Grim ber gen ein. »Schu bert

macht so vie les leich ter, fin de ich«, sag te sie sanft und über ließ ihn sei nem Abend es sen.

An die sem Abend spra chen sie nicht mehr mit ei nan der.Sie spra chen über haupt nie wie der mit ei nan der.Wie selt sam, soll te Er nes ti ne spä ter den ken, dass sie an die-

sem Abend das Be dürf nis ge habt hat te, noch ein mal eine Run de durch alle Räu me des Hau ses zu ma chen, so als hät te sie viel leicht nie wie der Ge le gen heit dazu. Denn ei gent lich hat te sie schon al-les in Ord nung ge bracht und ge putzt. Har rys Un ord nung war eben so aus ufernd wie sei ne Groß zü gig keit, und Er nes ti ne hat-te je den Euro, den sie als sei ne Haus häl te rin be kam, ehr lich ver-dient. Den noch schritt sie noch ein mal lang sam durch alle vier Schlaf zim mer (von de nen nur eins be nutzt wur de), strich hier ei-nen Bett ü ber wurf glatt, zupf te dort an ei nem Samt vor hang und rieb mit dem Le der tuch, das sie im mer da bei hat te, ein letz tes Mal über die Was ser häh ne und Dusch köp fe. Sie trab te die Trep pe hi-nun ter und fuhr da bei mit dem Le der über das Mes sing ge län der. So war sie den gan zen Tag über tä tig ge we sen, und nun war sie recht schaf en müde, kein Wun der bei ei ner Frau, die ge ra de die Un tie fen des zwei und fünf zig sten Ge burts tags um schif te. Doch sie mach te em sig wei ter, ließ das Tuch über die Wand leuch ter in der Ein gangs hal le wan dern, rich te te die Fran sen des Per sers im Sa lon aus und rück te die Ka raf e auf der Ma ha go ni bar zu recht. An je der Schwel le blieb sie ei nen Au gen blick ste hen, als woll te sie Ab schied neh men.

Har rys Brüs se ler Vil la stand an der Ave nue Al phonse XIII – ei gent lich ein spa ni scher Kö nig, wie Er nes ti ne von den Non nen in der Schu le ge lernt hat te, die Stra ße je doch war we der kö nig-lich noch spa nisch, nur grün und präch tig. Wie fast alle Ge bäu-

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de hier war auch die se Vil la mit der Ab sicht ge baut wor den zu re prä sen tie ren. In der Ein gangs hal le und den Flu ren hall ten die Schrit te wie in ei nem öf ent li chen Ge bäu de, und in der Kü che hät te man eine Fuß ball mann schaft un ter brin gen kön nen. Er nes-ti ne hat te sich ein mal aus ge rech net, dass sie als Har rys Haus häl-te rin mehr als zehn Ki lo me ter am Tag zu rück leg te. Die letz ten Me ter wa ren stets schmerz voll, aber tröst lich, denn sie führ ten sie durch den Flur zum Dienst bo ten trakt und zu dem win zi gen Zim mer, in dem sie leb te.

Das Zim mer chen um schloss sie wie eine Höh le. Hier pfeg-te sie die klei nen Dra men und Zwi schen fäl le des Ta ges Re vue pas sie ren zu las sen. Har ry Bi shop war ein an stän di ger und an-ge neh mer Ar beit ge ber. Doch er trank gern zu viel und re de te dann zu laut, oft über Kon su lats an ge le gen hei ten, die ei gent lich nicht für die Oh ren ei ner Haus häl te rin be stimmt wa ren. Und alle paar Wo chen brach te er eine an de re Dame mit nach Hau-se. Was nicht wei ter schlimm ge we sen wäre, wenn sich die be-tref en den Da men bei ih ren Lie bes be mü hun gen aufs Bett be-schränkt hät ten, doch das ta ten sie nicht, sie zo gen So fas oder so gar den Fuß bo den vor, so dass Er nes ti ne letz ten En des froh war, sich am Ende des Ta ges in ihre Zu fucht zu rück zie hen zu kön nen. Sie hat te Bel gi en nie ver las sen und schon gar nicht den gro ßen Teich über quert, der Har ry von sei nen ame ri ka ni schen Lands leu ten trenn te, da her wuss te sie nicht ge nau, was an Har-ry Bi shop ty pisch ame ri ka nisch war und was nur ty pisch Har-ry. Wie auch im mer, si cher war es nicht Sa che ei nes Haus mäd-chens, Kom men ta re ab zu ge ben. Wie alle gu ten Dienst bo ten konn te auch Er nes ti ne sich dumm stel len, wenn sie das Ge fühl hat te, zu viel er fah ren zu ha ben.

Sie sah auf ihre Uhr. 19 Uhr 18. Noch ge nug Zeit, die Bib li o thek zu über prü fen, be vor Har rys Quar tett an kam. Die ses holz ver tä-fel te Sank tu a ri um war für die Män ner Pro ben raum, Trink lo kal und Beicht stuhl zu gleich. Manch mal frag te Er nes ti ne sich, wa-

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rum Har ry dort über haupt noch Bü cher auf be wahr te. Sie strich über den ro ten Samt stuhl vor der Flü gel tür und schloss vol ler Vor freu de kurz die Au gen: Mit ein we nig Glück wür de sie es sich in etwa ei ner Stun de auf ge nau die sem ro ten Samt be quem ma chen. Denn dann, ver mu te te sie, wür de das Gläs er klin gen ver-stum men und die Mu sik be gin nen.

Es war ein völ li ger Ver stoß ge gen jeg li ches häus li che Pro to-koll, vor ei nem Raum zu sit zen und zu hor chen. Doch Er nes ti ne war si cher, dass ihr nie mand et was Der ar ti ges un ter stellt hät te in den fast vier Jah ren, die sie nun schon in Har rys Diens ten stand. Wer käme auf den Ge dan ken, dass ein Dienst mäd chen Streich-quar tet te lieb te – noch dazu, wenn das Quar tett, wie in die sem Fall, aus ei ner An samm lung trink freu di ger Ama teu re be stand? Noch dazu nach ei nem har ten Tag des Toi let ten schrub bens und Staub be kämp fens! Sie öf ne te eine der Ei chen tü ren und at me te tief und be frie digt ein. Der Raum roch im mer noch nach Zit ro-ne und La ven del, ih ren Haupt waf en ge gen den Schmutz. (Bald wür de es hier nach Zi gar ren und Schweiß rie chen, aber das ging sie vor dem nächs ten Mor gen nichts an.) Wie wohl tu end es war, mit ten in ei nem Raum zu ste hen, tief Luft zu ho len und in Form die ses de zen ten Duf tes die Früch te sei ner ei ge nen Ar beit zu ern-ten. Und dann war da noch die ser an de re, so be tö ren de Ge ruch, den kein La ven del, kei ne Zit ro ne ver trei ben konn te.

Das Le der al ter Bü cher.Ach, Har ry Bi shops Bü cher …Die Bib li o thek war ein Ge schenk sei nes Va ters Ho ward Bi shop

ge we sen. Der be rühm te Se na tor wäre ver mut lich eher trau rig als er staunt ge we sen, wenn er er fah ren hät te, dass sein Sohn, der mit Yale und der Wa shing ton Un iver sity prun ken konn te, die ses Ge-schenk nie ge nutzt hat te.

Er nes ti ne lä chel te in sich hi nein. Was wür de wohl Se na tor Bi-shop sa gen, wenn er er füh re, dass Har rys Haus häl te rin mehr Zeit in der Bib li o thek ver brach te als ihr Ar beit ge ber?

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Sie um run de te Har rys Cel lo, das ne ben dem Flü gel auf der Sei-te lag, und nä her te sich der Hei li gen Wand: Ma ha go ni bor de vom Bo den bis zur De cke. Ver gol de te Buch rü cken glänz ten he run ter, mar mo rier te Erst aus ga ben ver ström ten ei nen schwa chen Schim-mel duft. Phi lo so phie, Ly rik, Ge schich te, Li te ra tur.

Die Stil le hier war un ver gleich lich: un ter schwel lig und über-mäch tig, das sanf te Rau schen der Wor te in War te po si ti on. Sie wuss te, man brauch te so ei nen Band nur zu öf nen, und schon brach es spru delnd aus ihm her vor, ent hüll te er all sei ne Ge heim-nis se. Die se Er fah rung hat te sie be reits als Kind auf dem Schoß ih res Va ters ge macht, und da wa ren es nur e sels ohr ige Ta schen-bü cher ge we sen. Aber hier, vor die ser Ma ha go ni wand …

Er nes ti ne wi der stand der Ver su chung nicht län ger.Sie war klein und un ter setzt und brauch te die Holz lei ter, um

das zu er rei chen, wo nach sie such te. Sie schob sie an die rich-ti ge Stel le und klet ter te hi nauf, rasch, denn je den Au gen blick konn te es klin geln, und es ge hör te zu ih ren Auf ga ben, Be su cher in Emp fang zu neh men. Auf ih rem Weg nach oben schwenk-te sie de mons t ra tiv ihr Le der tuch, für den Fall, dass man sie auf die sen Ab we gen er tap pen soll te. Eng li sche Ti ta nen nick ten ihr zu, als sie an ih nen vor bei klet ter te, Shakes peare, die Ge schwis-ter Bron të, Tho mas Hardy. Auch die gro ßen ame ri ka ni schen Schrift stel ler hat te der Se na tor nicht ver ges sen: Emily Dic kin-son, Will iam Whar ton, Scott Fitz ge rald. Sie und vie le an de re ver such ten sie zu ver lo cken, aber heu te hat te sie kei ne Zeit für sie.

Ah, da war sie schon: Har rys in ro tes Le der ge bun de ne Ho-mer-Aus ga be. Er nes ti ne wünsch te sich jetzt nur ein paar Mi nu-ten Muße, um ihre rau en Hän de über das Kalbs le der glei ten zu las sen und den sü ßen Holz ge ruch ein zu at men, sie blät ter te durch die Sei ten, sah auf den Sti chen füch tig Odys seus, mus ku lös und gram ge beugt, und ihre Lieb lings göt tin Ath ene, die, ganz Fal ten-wurf und Ent schluss kraft, ih ren Speer em por reck te.

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Eine Klin gel hall te durch die wei te Ein gangs hal le.Er nes ti ne seufz te. Scha de, auch für Ho mer wür de sie heu te

kei ne Zeit ha ben.Has tig klet ter te sie die Lei ter hi nun ter und eil te in die Hal le,

un ter wegs zupf te sie das Kit tel kleid ih rer Dienst bo ten tracht zu-recht und strich die Schür ze glatt.

Sie schob noch ihre grau en Lo cken zu rück, dann öf ne te sie ei-nem blas sen, nüch tern wir ken den Mann mit ei nem Ins tru men-ten kas ten die Tür.

»Bon soir, Mon si eur«, sag te Er nes ti ne und nahm ihm Schirm und Brat sche ab.

»Bon soir, Ma dame«, ant wor te te er und neig te höf ich den Kopf.Wal ter Goos sens war das ein zi ge Mit glied in Har rys Quar-

tett, das sie mit »Ma dame« an re de te. Er war zu dem der ein zi-ge ech te Gen tle man un ter den vie ren und zu fäl lig ein bel gi scher Lands mann.

Wal ter blieb noch vor der Tür ste hen, um sich die Was ser trop-fen von den Är meln zu klop fen. Sei ne fi schi ge Bläs se leuch te te fahl un ter der Haus tür lam pe.

»Scheuß li ches Wet ter heu te Abend.« Sei ne Au gen zuck ten hin ter den di cken Bril len glä sern hin und her. Sein Haar war sorg-fäl tig ge schei telt, und er brauch te ei nen Mo ment, um ein paar ver rutsch te Sträh nen wie der über eine kah le Stel le zu le gen.

»Ja, Mon si eur«, er wi der te Er nes ti ne. »Aber wir ha ben ja auch schon Ende Ok to ber.«

Sie führ te ihn hi nein, nahm ihm den Man tel ab und gab ihm sei ne Brat sche zu rück. Die se klei ne Cho reo gra phie hat te Har ry Zeit ge ge ben, in der Hal le zu er schei nen und sei nem Gast die Hand zu schüt teln. Die bei den hat ten so ziem lich nichts ge mein-sam, ab ge se hen von Schu bert (also mehr als ge nug in Er nes ti nes Au gen). Wal ter fand we nig Ge fal len am Small talk – und gar kei-nen an Har rys bis si gen Be mer kun gen –, Har ry wie de rum fehl-te die Ge duld für vor neh me Höf ich keit. Soll te Wal ter ir gend wo

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ei nen Fun ken Hu mor be sit zen, so wür de Har ry ver dammt noch mal nicht nach ihm su chen.

Wal ter ging di rekt in die Bib li o thek, um sein Ins tru ment zu stim men.

Er nes ti ne blieb in der Nähe der Tür, denn gleich wür de der nächs te Teil der im mer glei chen Cho reo gra phie be gin nen. Wie-der klin gel te es, und vor der Tür stan den Har rys Lands leu te, die die sel ben Pres ti ge-Schu len und -Hoch schu len be sucht hat ten wie er: Mar shall Ross III. und Irv ing Geist. Die Her ren brauch-ten eine Wei le, um sich aus ih ren nas sen Män teln zu schä len, wo-bei sie pi kan te Ein zel hei ten vom Tage aus tausch ten. »Hey, wie geht’s?« – »Pri ma!« – »Warst du ges tern Abend bei Vic tor?« – »Nee, ver passt.« – »Du wirst es nicht glau ben …« Die tie fen Stim men hall ten über die schwar zen und wei ßen Flie sen und hi nauf ins Trep pen haus. In das Stim men ge wirr misch te sich der kla gen de Ton von Wal ters Brat sche. Er nes ti ne sah von ih rer Be-schäf ti gung auf und warf durch die Tür ei nen Blick auf den erns-ten Mann, der sei nem wi der spens ti gen Ins tru ment Mu sik ent-lock te. Sie wuss te, dass Wal ter der ein zi ge aus ge bil de te Mu si ker des Quar tetts war. In sei ner Ver gan gen heit hat te das Kö nig li che Kon ser va to ri um in Brüs sel eine nicht mehr ge nau zu be stim men-de Rol le ge spielt, und das ver schaf te dem Quar tett eine ge wis se Le gi ti mi tät, ver mu te te Er nes ti ne, ob wohl Wal ter eine weit be-schei de ne re Stel lung be klei de te als sei ne Mit spie ler. Sie hat te nie da rü ber zu spe ku lie ren ge wagt, was aus ei nem Brat schis ten den Chauf eur der Adels fa mi lie de Wasse ige ge macht ha ben moch te, der bei Wind und Wet ter drau ßen da rauf war ten muss te, dass er ei nen Ba ron oder eine Ba ro nin heim fah ren durf te.

Er nes ti ne be weg te sich zwi schen den plau dern den Män nern, sam mel te Män tel und Re gen schir me ein und lief im mer wie der zum Gar de ro ben schrank. Für die Män ner war sie so sicht bar wie eine Am sel, die am hin ters ten Ende des Gar tens nach Wür mern pickt. Sie be mer ken nur den Raum, den ich ein neh me, dach te sie. Sie

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fra gen sich, was ih ren Ell bo gen im Weg ist. Dann se hen sie nach un­ten und stel len fest, dass da je mand steht.

»Du hast also Vic tors Por sche ges tern Abend nicht be wun-dern kön nen?«, frag te Mar shall Ross und wand sich aus sei nem Schal. »Wirk lich scha de. Aber er fährt si cher da mit an die Küs-te.« Ohne hin zu se hen, hielt er den bor deaux ro ten Kasch mir schal in die Luft. Er nes ti ne hat te ihn ge ra de von sei nem teu ren Woll-man tel be freit, und er nahm an, dass sie noch da war. Zu fäl lig war sie es. Sie nahm den Schal und gönn te sich noch ei nen klei nen Auf schub, be vor sie Mar shalls Dunst kreis ver ließ.

Er war groß und kräf tig, sei ne Züge wa ren so ener gisch ge-schnit ten wie die al ler durch und durch ame ri ka ni schen Ath le-ten und Po li ti ker. Eine ele gan te wei ße Tol le in dem an sons ten dunk len Haar fiel ge schickt ar ran giert in die Stirn. Mar shall füll-te Har rys Ein gangs hal le mit der über wäl ti gen den Ener gie und na tür li chen Au to ri tät ei nes ge bo re nen An füh rers. Und tat säch-lich, sei ne bei den Lands leu te tanz ten wil lig nach sei ner Pfei fe, be wun der ten groß zü gig sei ne An sich ten und lach ten über sei ne Wit ze. Die drei Män ner wa ren Spiel ge fähr ten auf dem in ter-na ti o na len Tum mel platz Brüs sel: Har ry, ein klei ne rer Dip lo mat; Mar shall, Mar ke ting lei ter; Irv ing, Ju ni or part ner in der Brüs se ler Nie der las sung der Kanz lei Geist, Geist & Sons. Alle drei, vom schö nen Schein ge blen det, um kreis ten fas zi niert die Zwil lings-göt zen Geld und Pres ti ge. Doch Mar shall Ross war der je ni ge, der die Um lauf bah nen der bei den an de ren be stimm te. Die schie nen da mit zu frie den zu sein, ihn zu um krei sen: Har ry auf ei nem en-ge ren, Irv ing, der Har vard ge ra de erst ent wach sen war, auf ei nem weit ent fern ten Or bit.

Er nes ti ne, Mar shalls Man tel und Schal über dem Arm, trö-del te noch ein biss chen im Epi zent rum he rum. Je den Diens tag schloss sie eine klei ne Wet te mit sich selbst ab, wie lan ge sie bei den Män nern ver wei len konn te, bis es je mand be merk te. Wenn sie mit ei nem Man tel oder Schal be schäf tigt war, stie gen ihre

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Chan cen. In der ver gan ge nen Wo che war es eine Mi nu te oder et was mehr ge we sen, in der da vor fast zwei. Wie nahe konn te sie der Welt die ser Män ner kom men, ohne tat säch lich in sie ein zu-tre ten? Zwi schen ih nen war ein fei nes Netz ge spannt, mit blo-ßem Auge nicht er kenn bar, doch sie spür te, wie es leicht nach gab, als sie sich zu den Män nern hin neig te – so weit, dass sie de ren lau war men Atem wahr nahm, wäh rend das Netz be reits straf ge-spannt war und sie je der zeit zu rück schnel len las sen konn te.

Und tat säch lich hat te sie sich zu weit hi nü ber ge lehnt. Ihr Fuß lan de te auf ei nem frem den Fuß.

Sie sah nach un ten: Ihr ab ge sto ße ner Stra ßen schuh stand auf Mar shalls glän zen dem Slip per. Wü tend starr te er sie an. Tie fes Schwei gen leg te sich über die Ein gangs hal le. Er nes ti ne fing sei-nen Blick in ei ner An wand lung von Toll kühn heit mit ih ren hel-len grau en Au gen auf. Ein Mo ment, den sie bei de nicht ver ges-sen wür den. Denn in der kur zen Zeit, die sie brauch te, um ih ren Fuß zu rück zu zie hen, er kann te sie das Un be ha gen in Mar shalls Blick – als wäre ihm ge ra de auf ge gan gen, dass ihn die ver ein ten Kräf te von E li te schu len, Vor stands er fah rung und gu tem Aus se-hen mög li cher wei se nicht ge gen die ses selt sa me klei ne Ge schöpf mit den grau en Lo cken ge wapp net hat ten.

Wal ters Vi o la hus te te und klag te im Hin ter grund und er in ner-te an den An lass des Tref ens.

»Bit te ho len Sie den Wein«, fuhr Har ry Er nes ti ne an. Nor ma-ler wei se schlug er ihr ge gen über kei nen sol chen Ton an. Er war in vol lem Schwung ge we sen, doch jetzt wirk te er an ge spannt und müde. Sei ne üb li che läs si ge Jo vi a li tät war wie ver fo gen.

Die Män ner schlen der ten in die Bib li o thek.Er nes ti ne trat zwei Schrit te zu rück und ging dann in die Kü-

che. Was ist bloß mit Mon si eur los?, dach te sie und warf da bei ei-nen Blick zu rück auf die Bo den fie sen. Sie seufz te lei se. Sie wür-de die Hal le noch ein mal wi schen müs sen, be vor sie sich in ihr Zim mer zu rück zog.

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Er nes ti ne stell te ein Tab lett mit vier Glä sern und ei ner Fla-sche Bur gun der auf den De ckel des Flü gels und be ob ach te te die Män ner un auf äl lig, wäh rend sie den Wein ein schenk te. In ner-lich lä chel te sie – das Quar tett war in ge wis ser Wei se eine Sum-me fun da men ta ler mensch li cher Ei gen schaf ten: Ar ro ganz, Ehr-geiz, Me lan cho lie und Freu de, wenn man es von der ers ten Gei ge (Mar shall) bis hi nun ter zum Cel lo (Har ry) be trach te te. Ich fra­ge mich, ob Schu bert über haupt an so et was ge dacht hat, dach te sie träu me risch. Schließ lich gibt es vier Win de und vier Him mels rich­tun gen. Ihr fie len die vier grie chi schen Tu gen den aus Har rys Pla-ton-Band ein, Mä ßi gung, Weis heit, Tap fer keit und Ge rech tig-keit, doch sie kam zu dem Schluss, dass sie wohl nicht alle vier in Har rys Quar tett ver tre ten wa ren.

Er nes ti ne ging zur Tür und wand te den Män nern ihr brei tes, of e nes Ge sicht zu. Sie blick ten wie im Chor auf. Eine klei ne, er grau te Dienst bo tin konn ten sie ig no rie ren, doch die se leuch-ten den, ab so lut frei mü ti gen Au gen konn te nie mand über se hen.

Er nes ti ne wünsch te ih nen bonne soir ée und schloss die Tür hin-ter sich.

End lich! Der Au gen blick, auf den sie so ge war tet hat te. Sie ließ sich auf den ro ten Samt stuhl sin ken. Je der Mus kel ent spann te sich dank bar. Sie ver schränk te die stei fen und noch von der Mö-bel po li tur fe cki gen Hän de auf der Schür ze und dank te lä chelnd ih rem gü ti gen Ge schick. Die Bü cher wand, das Live-Quar tett – was konn te sie sich Schö ne res wün schen? Für eine Haus halts-noma din wie sie, die jah re lang von ei nem mod ri gen Kel ler zum nächs ten ge zo gen war, in Res tau rants und Bü ros die Bö den auf-ge wischt und auf sel ten ge öf ne ten Spei chern Spinn we ben ent-fernt hat te, war Har ry Bi shops Vil la eine In sel auf ein sa mer, sturm ge peitsch ter See. Wie lan ge sie bei ei nem Aus län der als Haus halts an ge stell te wür de ar bei ten kön nen, war völ lig un si cher. Sie konn te nur hof en, dass sie die sen Zu fuchts ort noch eine Wei le be hal ten wür de, be vor sie wie der die Se gel set zen muss te.

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Das Quar tett be gann zu spie len. Er nes ti ne ließ den Kopf ge gen die Wand sin ken und schloss die Au gen. An ge neh me Har mo ni en si cker ten durch die Tür – nicht un be dingt an ge nehm für das Ohr ei nes Mu sik pro fis, aber doch be schwingt von ehr li chem Be mü-hen, und Er nes ti ne stieß den tie fen Seuf zer ei nes Men schen aus, der sei ne Ret ter end lich na hen sieht.

Sie kann te sich mit dem Klang von Streich ins tru men ten aus. Ihr Va ter hat te im Wohn zim mer ei nen al ten Plat ten spie ler ge-habt, und als Kind hat te sie, den Kopf ans Tisch bein ge lehnt, zugeschaut, wie sich die al ten, teils wel li gen Vin yl-Plat ten knis-ternd dreh ten. Beet ho ven und Brahms mit ein we nig Cole Por ter zur Auf o cke rung. Für ei nen Metz ger hat te Papa ei nen ziem lich aus ge fal le nen Ge schmack ge habt. Der An blick die ser wir beln den Plat ten hat te die klei ne Er nes ti ne ge nau so stark fas zi niert wie ihr Klang. Die Mit glie der von Har rys Quar tett konn ten sich na tür-lich nicht mit Me nu hin oder Ois trach mes sen. Doch ihr Schu bert schaf te es über die Gren ze zwi schen schmerz lich und an rüh rend, ein wirk lich be deu ten der Schritt.

»Den lang sa men Satz aus Schu berts G-Dur-Quar tett«, hat te Har ry am Abend zu vor ge sagt, als sie lei se sei ne Kaf ee tas se aus der Bib li o thek ge holt und da bei ge fragt hat te, was er übe.

»Es ist wun der schön«, sag te sie. Ver le gen strich sie mit ih rem Är mel über den De ckel des Flü gels.

»Das Cel lo muss in die sem Stück wirk lich sin gen«, er läu ter-te Har ry. Er blick te so ernst von sei nem No ten pult auf, als hät te ihm Schu bert dies so e ben per sön lich mit ge teilt. Dann lä chel te er sie ver schmitzt an. »Ein Glück, dass mein Leh rer mir die ses un-glaub li che Ins tru ment ge lie hen hat!«

Er nes ti ne be wun der te pficht schul digst das Cel lo – ein Ama ti, das dem gro ßen Séba stien Bal tha sar ge hör te. Selbst sie wuss te, wer er war – je der Bel gi er, der auch nur füch tig mit klas si scher Mu sik in Be rüh rung ge kom men war, hat te von die sem be rühm-ten Lands mann ge hört.

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Har rys sonst so vol les und le ben di ges Ge sicht wur de ge dan-ken voll schwer. Und dann sag te er et was, das Er nes ti ne nie ver-ges sen wür de: »Es war Schu berts letz tes Streich quar tett.« Er sprach lei se, als könn te je mand lau schen. »Ein selt sa mes Ge fühl, wenn man es spielt. Als wür de man mit dem Tod spre chen – aber auf eine gute Art.«

Er spiel te jetzt das sel be Solo, ge quetscht und um die rich ti ge Ton hö he kämp fend. Doch trotz die ses rü den An grifs auf ihre Schön heit konn te sich die Mu sik ir gend wie durch set zen. Er nes-ti ne lieb te Schu berts sanf te Wür de – wie die Ins tru men te sich höf ich ge gen sei tig das Wort über lie ßen und dann plötz lich alle zu gleich ein fie len, um ge mein sam eine Kri se zu über win den. So-gar die vie len Pat zer von Har rys Quar tett-Freun den ge fie len ihr. Sie hat te oft ge nug auf ih rem Plüsch sitz vor der Tür ge ses sen, um die we ni gen rei nen Töne zu er ken nen, die das Quar tett un-ver sehrt auf stei gen ließ. Der Nach hall die ser Töne in ih rer mü-den See le war al les War ten wert. In sol chen Au gen bli cken schien ihre kal te äu ße re Um lauf bahn doch nicht so weit von der die ser Män ner ent fernt zu sein.

Jäh ver stumm te die Mu sik, viel zu früh für Er nes ti ne.Sie öf ne te die Au gen und sah auf ihre Arm band uhr: Erst kurz

nach acht. Wie selt sam. Das Quar tett übte nor ma ler wei se min-des tens eine Stun de, be vor es eine Pau se mach te. Viel leicht war je man dem schlecht ge wor den, oder es gab ein Pro blem mit ei-nem Bo gen. Aber was sie hör te, wa ren die Ge räu sche von Ins-tru men ten, die ein ge packt, und No ten pul ten, die zu sam men ge-klappt wur den.

Er nes ti ne sprang auf: Die Bib li o thek stür öf ne te sich. Nor ma-ler wei se lag sie längst mit ei nem Buch im Bett, wenn die Män-ner auf bra chen, und nie mand wür de da rauf ge fasst sein, sie hier vor der Tür he rum lun gern zu se hen, noch dazu ohne Staub tuch, Mopp, Scheu er lap pen oder ein an de res Werk zeug ih rer Pro fes-si on.

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Sie schlüpf te in den dunk len Flur zur Kü che und press te sich an die Wand. Wal ter kam als Ers ter aus der Bib li o thek, die tei gi gen Wan gen rot von der voll brach ten An stren gung; Irv ing folg te ihm bald. Die bei den Män ner hol ten wort los ihre Män tel und gin gen hi naus in die nas se, stür mi sche Nacht. Der Trep pen schacht saug-te ei nen Luft zug in die Hal le und mit ihm ein paar wel ke Blät ter von der Haus tür trep pe.

Er nes ti ne hielt die Luft an: Die se re bel li sche Toll kühn heit er grif wie der von ihr Be sitz. (Du rennst noch in dein Ver der ben, ché rie, wenn du nicht vor sich tig bist, hat te ihr Va ter sie immer ge warnt.) Auf Ze hen spit zen husch te sie zu rück Rich tung Bib li-o thek. Ein schma ler Licht strei fen fiel auf das Schach brett mus ter der Flie sen, Irv ing hat te eine der Tü ren an ge lehnt ge las sen. Aus dem In nern hör te man ge dämpf tes Schar ren und das me lo di ö se Klin gen ei ner Fla sche ge gen ein Glas.

Er nes ti ne hock te sich auf die Kan te des Stuhls, den sie eben erst ver las sen hat te, be reit auf zu sprin gen, soll te je mand ohne Vor-war nung aus der Bib li o thek auf tau chen.

Die Stil le hin ter den Tü ren wirk te un be hag lich und wach sam. Dann sag te Har ry: »Gut, dass wir end lich Ge le gen heit zum Re-den ha ben.« Er ma chte eine Pau se. »Ich zie he mich aus der Sa-che zu rück, Mar shall.«

»Was in Got tes Na men willst du da mit sa gen?« Mar shalls klin-gen der Ba ri ton drang durch den Tür spalt und hall te über dem Flie sen bo den. »Al les läuft bes tens. Al les ist, wie es sein soll.«

»Mag sein. Aber ich möch te ein fach nichts mehr da mit zu tun ha ben.« Har ry mach te wie der eine Pau se. »Und ich bin bis über bei de Oh ren ver schul det, Mar shall. Das weißt du.«

Mar shall lach te rau. »Nun ja, un ser klei nes Un ter neh men soll te all dei ne Schul den be zah len kön nen – mehr als das. Wir wer den rei cher sein als je der Sul tan!«

»Es ist ein Ha sar deur-Un ter neh men. Und es ist ge gen das Ge-setz, ver dammt noch mal! Ich hät te mich nie da rauf ein las sen sol-

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len. Frü her oder spä ter wer den die bel gi schen Be hör den hin ter uns her sein. Was willst du dann tun?«

»Hör zu, Har ry«, sag te Mar shall be gü tig end. »Jetzt steckst du mit drin. Du kannst dich nicht mehr zu rück zie hen.«

»Ist dir wirk lich wohl da bei zu mu te, wenn du das Recht ei nes frem den Lan des brichst?«, frag te Har ry he raus for dernd. »Wirk­lich?«

»Nun mal sach te, Har ry. Seit wann lässt du dich von dei nem Ge wis sen lei ten? Es ist eine Win-win-Si tu a ti on. Und ver giss nicht, wir ha ben jede Men ge VIPs an Bord. Die ver schaf en uns Res pek ta bi li tät, das sind Leu te, von de nen die bel gi schen Be hör-den lie ber die Fin ger las sen, glaub mir. Willst du sie jetzt wirk-lich im Stich las sen?«

Har ry sag te eine Wei le nichts. Er nes ti ne hör te, wie je mand durch die Bib li o thek ging, und dann wie der das Pling ei nes Fla-schen hal ses an ei nem Glas.

»Wir ste cken da ge mein sam drin«, sag te Mar shall. »Wir ha-ben die Pa pie re ge mein sam un ter zeich net. Es ist ein fait ac com­pli, mein Freund.«

»Hör zu, Mar shall. Wie ich schon sag te: Ich will ein fach nichts mehr da mit zu tun ha ben, das ist al les. Da für habe ich nicht die Ner ven.«

Mar shall wur de sanf ter. »Bist du krank oder so?«»Ich weiß nicht. Viel leicht. Eher ge stresst.«Ei ni ge span nungs ge la de ne Se kun den.Dann wie der Har ry, klein laut: »Ich kann nicht wei ter in die sem

Haus woh nen, so viel ist si cher. Die Mie te ist ver dammt teu er. Ich su che mir was Klei ne res und ver kau fe ein paar Sa chen von mei nem Kram.«

»Dann wirst du auch auf Er nes ti ne ver zich ten müs sen«, sag te Mar shall in ei nem Ton, als wäre Har rys Haus mäd chen ein wert-vol les Mö bel stück.

Har ry seufz te trau rig. »Ich wer de auf eine Men ge Din ge ver-

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zich ten müs sen, glaub mir. Sie ist nur ein Kol la te ral scha den, fürch te ich.«

Er nes ti ne krampf te die Hän de um den Rand des Stuhls. Der rote Samt scheu er te ge gen ihre ver schwitz ten Hand fä chen. Was in al ler Welt woll te er da mit sa gen? Ihr Herz schlug hef tig und un re gel mä ßig. Viel leicht war es das Bes te, jetzt zu Bett zu ge hen, dach te sie, be vor Har ry et was noch Schreck li che res sag te.

Den noch blieb sie und hielt sich mit feuch ten Hän den am Samt fest.

»Du wirst se hen, al les wird gut«, sag te Mar shall sal bungs voll. »Ver trau mir. Du wirst in den nächs ten Mo na ten so viel Geld ver die nen, dass du dich dann kaum noch an dei ne Schul den er-in nern kannst.« Of en sicht lich hat te er aus Har rys Ton eine Ka-pi tu la ti on he raus ge hört.

Doch zu früh.»Ich fürch te, du musst dich auf eine Über ra schung ge fasst ma-

chen, Mar shall, al ter Kna be«, sag te Har ry nun et was küh ner. »Ich bin be reits raus aus dem Ge schäft.«

Mar shall ver stand gar nichts mehr. »Was zur Höl le willst du da mit sa gen?«

»Ich mei ne da mit, dass ich nicht mehr im Be sitz mei nes An-teils bin.«

»Was?«, ex plo dier te Mar shall. »Du darfst dei nen An teil nicht ver kau fen, ohne mich vor her zu fra gen. Ich bin dein Part ner!«

»Ich habe ihn nicht ei gent lich ver kauft.«Mar shall senk te die Stim me. »Was hast du ge tan?«Sein dro hen der Ton ließ Er nes ti ne er schau ern. Es war ein selt-

sam elekt ri sie ren des Ge fühl, und sie nä her te sich un will kür lich der Tür, um bes ser hö ren zu kön nen.

»Das wirst du zu ge ge be ner Zeit he raus fin den«, sag te Har ry, und Er nes ti ne war ir gend wie ent täuscht.

Da nach va ger Lärm. So ging es eine Wei le wei ter, mit sehr viel Be we gung und lau ten Stim men in der Bib li o thek. Als selt sa mer

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Kont ra punkt er hob sich drau ßen nun auch ein Wind, drück te ge-gen die Fens ter und summ te in der Ein gangs hal le.

Die Män ner ent fern ten sich schließ lich von der Tür, die Aus ei-nan der set zung wur de lei ser. Die Wein fa sche wur de ein biss chen zu hef tig auf den De ckel des Flü gels ge stellt, und dann hör te sie wie der Mar shalls Stim me, wie der dro hend: »Ich wer de mit dem No tar da rü ber spre chen, mal se hen, was er dazu zu sa gen hat. Boon dael war der je ni ge, der den Deal ein ge fä delt hat.«

»Ver such es ru hig«, er wi der te Har ry. »Aber ich neh me an, er hat noch ein paar Skru pel – nicht vie le, aber ein paar. Viel leicht sorgt er da für, dass mein Ge schäft ver trau lich bleibt.«

»Boon dael wird tun, was ich ihm sage!«, brüll te Mar shall. »Wenn du dich jetzt zu rück ziehst, Har ry Bi shop, bist du ru i-niert! Da für wer de ich ver dammt noch mal sor gen!«

Sei ne Stim me klang er schre ckend nah. Er nes ti ne stahl sich in das Dun kel des Kü chen furs.

Ge ra de noch recht zei tig.Se kun den spä ter fog die Bib li o thek stür auf, und Mar shalls

im po san te Ge stalt stand im Rah men. Mit we ni gen ener gi schen Schrit ten ging er zum Gar de ro ben schrank. Er hat te erst ei nen Arm im Man tel är mel, als er schon die Haus tür auf riss und nur kurz auf der Schwel le ste hen blieb, um sich den Gei gen kas ten über die Schul ter zu hän gen. Sein dunk les Haar glänz te un ter der Haus tür lam pe, die wei ße Sträh ne strahl te wie ein Leucht feu er.

Er starr te noch ein mal zu rück in die Ein gangs hal le.Er nes ti ne keuch te und press te sich mög lichst fach an die

Wand.Mar shall stand noch im mer auf der Schwel le und blick te prü-

fend in das Dun kel jen seits der Bib li o thek.Fast starr vor Angst kroch Er nes ti ne ein paar Schrit te zu rück.

Er hat mich be stimmt ge se hen!Eine Bö trug den küh len Hauch des Herbs tes in die Hal le.

Mar shalls lan ger Man tel schlug ihm um die Bei ne. Er blieb noch

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ei nen Au gen blick ste hen, und Er nes ti ne hielt den Atem an, da von über zeugt, dass er sie in der Dun kel heit er späht hat te.

Doch er dreh te sich um und schlug die Tür zu.Jetzt herrsch te eine er schöpf te, re sig nier te Stil le.Lei se be weg te sich Er nes ti ne in Rich tung des Dienst bo ten-

trak tes und des Zim mers, das ihr Heim war. Sie wand te sich noch ein mal um, für den Fall, dass Har ry aus der Bib li o thek auf tauch te. Sag ihm, dass du es ge hört hast, pre dig te sie sich Mut, wenn er dich so wie so hi naus wirft, soll test du lie ber dei ne Zu kunft pla nen. Mit ei-nem Mal hör te sie ei nen tie fen Seuf zer hin ter den Ei chen tü ren. Er nes ti ne er starr te. Der Seuf zer klet ter te die Ton lei ter hi nauf, ver hielt be bend und glitt dann tief hi nun ter ins Pa thos. Har ry hat te wie der zu spie len be gon nen. Er nes ti ne stand un schlüs sig im Flur, neu gie rig, was nun fol gen wür de. Har ry hat te noch nie nach ei ner Quar tett-Pro be ge übt. Er war ganz im Ge gen teil im-mer der Ers te, der das Ins tru ment zur Sei te stell te und die Bur-gun der-Fla sche an steu er te. Er nes ti ne lausch te ge bannt, und das Cel lo er ging sich in ei ner Viel zahl opernh af ter Töne und Me lo-di en – Lamen tos, Schreie, Schluch zer, Fle hen, al les mit In grimm falsch ge spielt –, um schließ lich in trü bes Brum men über zu ge-hen. Nach ei ner kur zen Pau se er klang, wenn auch kip pe lig, wie-der Har rys gro ßes Solo aus dem Schu bert-Quar tett.

Er nes ti ne be weg te sich lang sam auf die Bib li o thek zu und leg te den Kopf in den Na cken. Sie hat te ihre be vor ste hen de Ent las sung vo rü ber ge hend ver ges sen, als wür den ir gend wo da oben Schu-berts Me lo di en schwin gen und sie aus ih ren ir di schen Küm mer-nis sen em por- und hin weg tra gen. Er nes ti ne ver such te sich Har-ry an Séba stien Bal tha sars herr li chem Ama ti-Cel lo vor zu stel len, das Spa ni el ge sicht mit den Hän ge ba cken ernst über die Sai ten ge beugt, mit dem rund li chen Arm em sig den Bo gen füh rend. Sie hat te ihn noch nie mit sol cher Lei den schaft spie len hö ren, mit ei ner so ed len In ten ti on. Für ei nen kur zen, glück se li gen Au-gen blick stan den ihr die Bü cher hin ter ihm vor Au gen – die ser

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Schrein, vor dem nie je mand be te te. Har rys Me lo die schrie wie-der auf, herz zer rei ßend – und mit ei nem Mal dach te sie: Na tür­lich! Har ry be te te ge ra de. Ganz si cher war Mu sik, die so klang, eine Art Ge bet.

Das Cel lo ver stumm te wie von je man dem er stickt.Wie der herrsch te Stil le.Er nes ti ne frös tel te in der zu gi gen Hal le, sie war te te da rauf, dass

die Mu sik wie der ein setz te. Doch aus der Bib li o thek drang kein Laut mehr – kein Schar ren von Fü ßen, kein Schlie ßen ei nes Cel-lo kas tens. Nicht ein mal das Klin gen ei nes Gla ses.

Sie schlich zur Bib li o thek und war te te. Die Stil le hin ter der Tür hat te sich ver än dert, sie war tie fer ge wor den.

Ge gen alle An stands re geln öf ne te Er nes ti ne die Tür, ohne an-zu klop fen. Zorn wall te in ihr auf, als sie sich in ner lich da rauf vor-be rei te te, Har ry mit sei nem Ent las sungs plan zu kon fron tie ren, noch be vor er es ihr selbst sa gen konn te.

»Mon si eur?«Vor ihr lag das ver trau te Schlacht feld. No ten und No ten stän der

über all auf dem Bo den; lee re Wein glä ser, die ge fähr lich schief auf dem di cken Tep pich stan den. Ne ben den Bü cher re ga len stand ein Fens ter sperr an gel weit of en. Der Bur gun der befand sich nicht mehr auf dem Tab lett auf dem Flü gel, son dern war nach läs sig auf Men dels sohn-No ten ab ge stellt wor den, zahl rei che dunk le Rin-ge auf dem creme wei ßen Pa pier zeug ten vom be weg ten Abend der Fla sche.

Ihr Herz krampf te sich zu sam men. Selbst von der Tür aus war so fort klar zu er ken nen, dass et was nicht stimm te.

»Mon si eur? Al les in Ord nung?«Sie ging auf Har ry zu. Er saß an sei nem Cel lo, die Knie ge-

spreizt und den Kör per so über das Ins tru ment ge beugt, als wol-le er es gleich wie der ver füh ren. Der Bo gen hing noch zwi schen Dau men und Zei ge fin ger. Sein Kopf war über das Grif brett ge-sun ken, die Nase drück te sich seit lich auf die Sai ten. Zu sei nen

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Fü ßen war ein Wein glas um ge fal len und hat te sei nen blut ro ten In halt über den beigen Tep pich er gos sen.

Er nes ti ne nahm ih ren gan zen Mut zu sam men und leg te zwei Fin ger an Har rys Hals. Sie schrie lei se auf: Er war tot.

Ihr ers ter ver rück ter Ge dan ke war, Schu bert selbst sei der Tä-ter ge we sen. Schließ lich war zum To des zeit punkt sonst nie mand in der Bib li o thek ge we sen. Und er hat te ganz si cher ein Mo tiv, wenn man es recht be dach te: Har ry hät te sich eben so gut mit Gott ein las sen kön nen, als er sich so unbedarft an den spä ten Schu bert wag te. Ein sol ches Un ter fan gen konn te je den Ama-teur das Le ben kos ten.

Ihr Geist sprang in die Re a li tät zu rück. War es viel leicht ein-fach nur ein schreck li cher Irr tum? Har ry war nicht tot, si cher nicht! Er war bloß ein ge schla fen – je den Au gen blick wür de er den Kopf he ben.

»Mon si eur!«, rief sie.Der Wind ant wor te te mit ei nem ab wei sen den Äch zen und

warf eine Hand voll Re gen ge gen die Fens ter schei be.Er nes ti ne stand reg los da. Nur ein lang sa mes Küh ler wer den ih-

rer Fin ger spit zen ver riet den Schock, der sich in ihr aus brei te te.Als wür de man mit dem Tod spre chen – aber auf eine gute Art …Har rys Wor te füll ten die schreck li che Lee re in der Bib li o thek.

Hat te er am Abend vor her sein Schick sal vo raus ge ahnt? Wie ein Flüs tern? Wie ei nen kal ten Atem im Na cken? Oder viel leicht wie et was völ lig an de res: eine sanf te Me lo die. Oder eine Heim-kehr. Je den falls et was An ge neh mes. Nie mand, der sei nen Ver-stand noch bei sam men hat te, wür de wirk lich mit dem Tod spre-chen, auch wenn Har ry das Spie len die ser Schu bert-Me lo die so be schrie ben hat te. Doch es schien ihm Freu de ge macht zu ha ben, ge nau dies zu tun, denn bei nä he rer Be trach tung sei nes reg lo sen Ge sichts konn te Er nes ti ne se hen, dass es sehr zu frie den wirk te. Sein ge fühl lo ses »Kol la te ral scha den« ver schwand aus ih ren Ge-dan ken.

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Ich muss die Po li zei ru fen. Oder den Kran ken wa gen.Sie ging zu dem Te le fon auf Har rys Schreib tisch, doch dann

dreh te sie sich un schlüs sig um. Erst muss te sie sich um das Durch ei nan der küm mern, das die Män ner hin ter las sen hat ten. Der a mö ben förm ige gro ße Wein feck mach te ihr Sor gen, doch sie war zu müde, ihr selbst ge mach tes Haus mit tel zu ho len, und be schloss, die Fleck ent fer nung auf den nächs ten Tag zu ver schie-ben. Ir gend je mand hat te von drau ßen Schlamm her ein ge tra gen. Ihr Blick ver folg te die schmut zi gen Fuß spu ren bis zum Pult rechts, wo die zwei te Vi o li ne saß. Irv ing, dach te sie. Quel coc hon! Sie ver brach te ei ni ge rat lo se Mi nu ten da mit, die ein zel nen Stim-men von Schu berts G-Dur-Quar tett auf zu le sen, dann schloss sie das Fens ter, sam mel te drei der Wein glä ser ein und stell te sie auf den Flü gel. Sie wag te es je doch nicht, Har rys Glas zu ho len. Es war nichts zu hö ren au ßer dem Wind in den Pap peln vor dem Haus und ih rem stür mi schen Herz schlag, der mit je der Mi nu te lau ter in ih ren Oh ren hall te.

Nach dem Auf räu men hielt Er nes ti ne ei nen kur zen Mo ment lang inne, ver wirrt da rü ber, dass sie über haupt auf ge räumt hat te. Ihre Au gen glit ten wie der über Har ry. Er hat te im mer schwer ge-trun ken, sei ne ex zes si ven Ge la ge wa ren le gen där. Viel leicht hat te sein Herz ein fach auf ge ge ben.

Sie stell te die lee re Wein fa sche auf das Tab lett zu rück.Dann dach te sie wie der an den hef ti gen Wort wech sel. Über

wel che Art Deal hat ten Har ry und Mar shall ge strit ten? Of-fen sicht lich über et was Il le ga les. Aber un ter Be tei li gung ver-schie de ner Wür den trä ger, so schien es. Har ry hat te ge sagt, dass er sich aus der Un ter neh mung zu rück zie hen woll te. Er nes ti ne schürz te die Lip pen und ver such te sich ge nau an das zu er in-nern, was sie ge hört hat te, doch al les, was ihr wie der ein fiel, war: Ich wer de auf eine Men ge Din ge ver zich ten müs sen, sie ist nur ein Kol la te ral scha den. Har ry war plei te – und ver mut lich schon seit Län ge rem. In sei ner Ver zweif ung hat te er ver sucht, sei ne ge-

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schäft li chen Ver pfich tun gen ge gen über Mar shall los zu wer den. Har ry war schon er le digt ge we sen, noch be vor der Tod zu ihm ge kom men war.

Er nes ti ne ging lang sam aus der Bib li o thek und durch die Kü-che zu dem Kor ri dor, der zum Dienst bo ten trakt führ te. Rings um sie schien sich das lee re Haus un be hag lich zu re gen. Wind stö ße at ta ckier ten die Haus tür und braus ten durch die Pap peln. Es war die Jah res zeit, in der sich das bel gi sche Wet ter ohne die ge rings te Rück sicht auf die Lan des be woh ner die un mög lichs ten Kap ri o len und Mis se ta ten er laubt.

Sie schloss sich in ih rem Zim mer ein. Ihre klei ne Höh le um-fing sie. Ich muss wirk lich je man den an ru fen.

Sie horch te in das schla fen de Haus und ver such te die auf stei-gen de Pa nik in Schach zu hal ten. Mit ei nem Mal klär te sich ihr Geist auf selt sa me Wei se, und zwi schen all den Scher ben sah sie ihre schutz lo se Lage in al ler Deut lich keit. Was soll ich tun? Was soll ich nur tun? Sie schritt den win zi gen Raum – ei nen mo der-nen Schuh kar ton bar je der Schön heit und je den Charmes – ab. Fünf Schrit te in jede Rich tung: zwei vor bei an dem ab ge sto ße nen Me tall bett, ei ner bis zum Wasch be cken, zwei wei te re vor bei an den mit der Ta schen buch-Bib li o thek ih res Va ters voll ge stopf ten Re ga len, dann zu rück zum Bett. Un ter ih ren Fü ßen lag der ver-schlis se ne Pfau en mus ter tep pich, den sie aus dem Wohn zim mer ih rer Kin der zeit ge ret tet hat te. Die ser win zi ge Raum war ihr Zu-hau se, und sie lieb te es.

Sie be trach te te sich in dem Spie gel über der Fri sier kom mo de: Eine trau ri ge alte Jung fer mitt le ren Al ters starr te zu rück. Har ry Bi shop hat te ihr vier Jah re lang Ob dach und Ar beit ge ge ben. Wo soll te sie hin? Wer wür de sie jetzt ein stel len?

Ei ni ge Stun den spä ter wach te sie, noch voll stän dig an ge zo gen, auf ih rem Bett auf. Es war nach drei Uhr mor gens, und sie hat te noch nie man den we gen Har rys Tod alar miert.

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Das Haus fühl te sich so kühl an wie eine Gruft. Er nes ti ne zog eine un för mi ge Strick ja cke über ihre Dienst mäd chen-Tracht und ging zu rück in die Ein gangs hal le. An den Bib li o theks tü ren mach te sie Halt, sie leg te ihre Hand auf die Klin ke, be schloss dann aber, nicht wie der hi nein zu ge hen. Statt des sen such te sie im Gar de ro ben schrank nach ih rem Re gen man tel. Ir gend ei ne un be-kann te Macht hat te die Din ge nun in die Hand ge nom men, und es gab nichts, was sie da ge gen tun konn te. Sie zog ver se hent lich Har rys Re gen man tel he raus und schlüpf te has tig in die wei ten Är mel. Es wür de noch eine Wei le dau ern, bis sie die sen un frei-wil li gen Tausch be merk te.

Ir gend et was dräng te – ja, zwang sie re gel recht – weg zu ge hen, ob wohl sie nicht die ge rings te Ah nung hat te, wo hin sie ge hen soll te und wann sie zu rück kom men wür de. Sie wuss te nur, dass sie wegmuss te. Ganz gleich wo hin. Nur nicht hierblei ben.

Er nes ti ne ging hi naus in die to sen de Nacht.In ei nem wei te ren selt sam kla ren Mo ment wur de ihr be wusst,

dass sie den Bo den in der Ein gangs hal le nicht noch ein mal auf-ge wischt hat te, nach dem die Män ner ge gan gen wa ren.

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Un ge wöhn li ches

»Ver giss nie zu träu men, ché rie. Im Traum wirst du Orte be su chen, an die du sonst nie ge kom men wä rest.«

Orte, an die ich nie ge kom men wäre …Er nes ti ne hat te un zäh li ge Male über die Wor te ih res Va ters

nach ge dacht, wenn sie auf ih rer Bank in sei ner Metz ge rei in der Rue du Ba illi saß und ihn be ob ach te te. Pa trick Van der meer hat-te die An ge wohn heit, plötz lich sein Mes ser auf die ab ge nutz te Flä che sei nes Hack blocks zu le gen, ne ben ei nen Ko te lett strang oder ein Huhn, das noch im Be sitz sei nes Kop fes und sei ner Bei-ne war. Er stütz te dann ei nen Ell bo gen auf die Glas the ke, leg-te das Kinn in die Hand und wand te sein brei tes, träu me ri sches Ge sicht der Stra ße zu. Der Blick sei ner sehr hel len, trä nen glän-zen den blau en Au gen glitt über die ge schäf ti gen Men schen, die ru ßi gen Ge bäu de auf der an de ren Stra ßen sei te und dann noch wei ter, um sich schließ lich auf ei nen un sicht ba ren Punkt ir gend-wo über den ro ten Zie gel dä chern zu rich ten.

Er nes ti ne hat te ei nen gro ßen Teil ih rer Kind heit da mit ver-bracht, auf die ser nied ri gen Holz bank zu sit zen und zu le sen. Hin und wie der sah sie von ih rem Buch auf und frag te sich, wo-hin ge nau Papa von sei nen Träu men ge tra gen wur de. Sie folg te sei nem Blick, hin weg über die Au tos, die wü tend über das Kopf-stein pfas ter rat ter ten, und die Leu te, die sich dem nass kal ten bel gi schen Ne bel ent ge gen stemm ten. Doch ir gend was hin der te ih ren Blick im mer da ran, nach oben ab zu drif ten wie Pa pas Blick: Mon si eur Maucq zum Bei spiel, der sei nen cho le ri schen Jack Rus-

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sel-Ter ri er aus führ te; oder Ma dame Na gel ma ckers, die sich auf ih rem Bal kon auf der an de ren Stra ßen sei te über das schmut zi ge Ge län der lehn te, um ihre Ge ra ni en zu gie ßen. Bei je dem Wet ter trug Ma dame Na gel ma ckers ein Haus kleid, das ihre Stor chen bei-ne in ih rer gan zen ma ge ren Pracht zur Gel tung brach te. Ein mal war das Was ser aus den Blu men käs ten über ge lau fen und auf den Bür ger steig ge klatscht, wo ge ra de Mon si eur Maucq stand und ge dul dig da rauf war te te, dass sein Hund ei nen über aus kom ple-xen Schnüf el vor gang ab schloss. Das Was ser lan de te zwi schen Mann und Hund. Mon si eur Maucq blick te er schro cken auf zu den dür ren Stor chen bei nen. Und dann folg te ein fas zi nie ren der Wort wech sel …

Doch das wa ren si cher nicht die Orte, an die Papa von sei nen Träu men ge tra gen wur de.

Wo hin geht er ge nau? Und wa rum soll te ich mir wün schen, auch dort hin zu ge lan gen?

Und so saß Er nes ti ne in ih rem Win kel im Ge schäft, brü te te über al lem Mög li chen und las. Tat säch lich ver brach te sie ei nen Groß teil ih rer Kind heit auf die ser Bank, um ge ben von Schin ken und Sa la mis und Len den stü cken und die sen di cken knob lauch-ge würz ten Würs ten, die man bis zur an de ren Stra ßen sei te roch.

Pa tricks Kun den grüß ten sie, wenn sie he rein ka men, und tu-schel ten über sie, wenn sie wie der drau ßen wa ren. Die Da men Na gel ma ckers und Ponce let wur den auf der Rue du Ba illi oft in trau ter Zwei sam keit ge sich tet. Sie gin gen zu sam men ein kau fen, sie gin gen sams tags ge mein sam zur Mes se, und, was für Pa trick Van der meer das Wich tigs te war, sie kauf ten ihre esc alo pes de veau und ihre Schweins fü ße im mer bei ihm.

Die Frau en lie ßen sich Zeit, und wenn sie wie der gin gen, ra-schel ten sie mit ih ren Plas tik tü ten vol ler Fleisch he rum und war-fen Sei ten bli cke auf das Mäd chen auf der Bank.

»Sie ist mehr ein Jun ge als ein Mäd chen!«»Oui, oui, ich weiß. Aber es liegt da ran, dass Pa trick ihr die

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Lo cken im mer viel zu kurz schnei det. C’est hor ri ble. Und was für selt sam brei te Händ chen.«

»Ja, sie ist ir gend wie so klein wüch sig. La pau vre. Da wür de auch der bes te Haar schnitt nichts nüt zen.«

»Mag sein. Aber sie hat so hüb sche Au gen. Groß und klar. Inc roy able. Es ist, als könn te sie ein fach durch ei nen hin durch-schau en.«

»Ja, hübsch schon. Aber mit sol chen Au gen wird sie nie ei nen Mann fin den. Sie sieht zu viel.«

Er nes ti ne be kam den ei nen oder an de ren Ge sprächs fet zen mit, wäh rend sie in ihr Buch schau te, aber die Krän kun gen tra fen sie nicht über mä ßig. Mit zu sam men ge press ten Lip pen sah sie zu, wie die Da men in ih ren hoch ha cki gen Schu hen über die La den-schwel le stö ckel ten. Papa hat te ihr er klärt, sie habe eine Be ga-bung: Sie kön ne Men schen le sen wie Buch sta ben auf ei ner Sei te, und sie sol le sich nicht zu vie le Ge dan ken über de ren Be mer-kun gen ma chen. »Es ist al les Teil dei ner Per sön lich keit«, sag te er. »Und du soll test stolz da rauf sein.«

Er nes ti ne hat te oh ne hin an dern orts viel zu viel um die Oh ren, als dass sie sich um das Ge schwätz von Pa tricks Kun den hät te küm mern kön nen. Sie hat te alle Hän de voll da mit zu tun, Wolfs-bluts Hun de schlit ten über das Eis zu len ken oder sich mit Ro-bin Hood von ei ner mäch ti gen Ei che zu schwin gen. Auch Ivan-hoe brauch te im mer mal wie der drin gend ihre Un ter stüt zung bei ei nem Schwert kampf. Und nach dem Pa trick sei ner Toch ter zu ih rem vier zehn ten Ge burts tag sei ne ge lieb te Ho mer-Aus ga be ge schenkt hat te, konn te selbst der Ge ruch der Knob lauch wurst sie nicht von Kal yp sos Ge sang ab len ken oder den schar fen Ge-schmack der Gischt über de cken, wenn sie an Odys seus’ Sei te über das Meer se gel te.

Abends nah men Va ter und Toch ter wie der ihre bei den schwe-ren Ses sel in der Woh nung über dem Ge schäft in Be sitz. Zwi-schen ih nen lag ein ver schlis se ner run der Tep pich mit Pfau en-

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mus ter, des sen lose Fä den Pa trick hin und wie der mit ei nem Schnitz mes ser ab schnitt. Sie tran ken Erd beer tee und spra chen we nig, um ge ben von ei nem Wust von Bü chern und schä bi ger Vor nehm heit, also ei nem der Kon temp la ti on för der li chen Kli-ma. An sehr vie len Aben den im Jahr wa ren die Wohn zim mer-fens ter vom Dampf aus der Kü che be schla gen, so dass man nicht hin durch se hen konn te. Die Feuch tig keit glit zer te im Licht der Stra ßen la ter nen, und Er nes ti ne ku schel te sich an eine Leh ne ih res Ses sels und fi xier te ei nen di cken Trop fen nach dem an de-ren, um sei nen lan gen, müh sa men Weg bis zur Fens ter bank zu ver fol gen.

Auf ei nem Tisch chen am Fens ter stand der alte Plat ten spie-ler. Pa trick setz te ihn nicht je den Abend in Gang, aber wenn er es tat, sah Er nes ti ne zu, wie die ver bo ge nen LPs sich auf dem Tel ler well ten und dreh ten wie in ei nem lang sa men, som mer li-chen Stru del, der ei nen, wenn man ihm mit dem Ru der boot zu nahe kam, un ver se hens in Träu me zie hen konn te. Er nes ti ne wur-de schläf rig, und wenn sie sich auf den Pfau en tep pich leg te und die Au gen schloss, trieb sie durch die Mär chen wel ten der Mu-sik: lich ter glän zen de gran di o se Pa läs te; grü ne Lich tun gen; See-land schaf ten mit ein sa men schrei en den Mö wen oder, wenn der Heiz kör per nicht mit ten in ei nem lang sa men Satz ein kla gen des Ge räusch von sich gab, ein gol den schim mern der Win kel wie ein Zu hau se.

Über all la gen bil li ge Ta schen bü cher, auf den Re ga len, den Ar-beits fä chen, dem Kü chen tisch, so gar auf dem Ba de wan nen rand. Pa tricks Le se hun ger war un er sätt lich: Phi lo so phie und Ge schich-te, tem po rei che Thril ler und Klas si ker. Er hat te eine un ge wöhn li-che Schwä che für ame ri ka ni sche Dich tung – über haupt für al les Ame ri ka ni sche. Ob wohl er ei ner der vie len Brüs se ler mit fä mi-schem Fa mi li en na men, aber Fran zö sisch als ers ter Spra che war, spiel te Eng lisch, das er sich ganz al lein bei ge bracht hat te, in sei-ner Samm lung eine gro ße Rol le. Pa trick mach te sich die Mühe,

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mit sei ner Toch ter, kaum hat te die se le sen ge lernt, wäh rend des Abend es sens Eng lisch zu spre chen.

Er nes ti ne hat te schon ei ni ge Jah re an der schreck li chen Mäd-chen schu le Not re Dame des Misè res hin ter sich, als ihr end lich die Ver bin dung auf ging: Wie eine Mor gen rö te über dunk ler See ging ihr auf, dass die Ver träumt heit ih res Va ters et was mit dem al ten Plat ten spie ler und sei ner cha o ti schen Bü cher samm lung zu tun hat te. Sie wa ren sei ne kost ba ren Trans port mit tel, wenn er mit ten im Schnitt das Mes ser nie der leg te. Na tür lich! Ge nau wie sie bau te auch Papa im Geis te Kö nig rei che auf.

An ih rem vier zehn ten Ge burts tag schloss Pa trick das Ge schäft frü her, so dass ihm ge nug Zeit blieb, in der gan zen Woh nung Ker zen an zu zün den und ei nen Strauß Tul pen auf den Kü chen-tisch zu stel len. Er lief so gar rasch zu der Bä cke rei ge gen über der Kir che, weil Er nes ti ne den moel leux au cho co lat von dort am liebs-ten moch te. Sie aßen ge ra de die üb rig ge blie be ne En ten-Ter ri-ne aus dem La den, als Pa trick das in Metz ge rei pa pier ge wi ckel te und ver schnür te Päck chen her vor hol te, das er auf sei nem Schoß ver steckt ge hal ten hat te.

Er nes ti ne schau te ihn aus ih ren hel len grau en Au gen an und lä chel te spitz bü bisch. »Weiß ich, was drin ist, Papa?«, frag te sie und be trach te te das klei ne recht e cki ge Pa ket.

Pa trick ge noss ihre Of en heit. »Durch aus mög lich, ché rie. Durch aus mög lich.« Sie riss Schnur und Pa pier ab und keuch-te: »Oh, Papa …« Pa trick lieb te Ho mer so sehr, dass sei ne zer-fed der te eng li sche Über set zung der Odys see ei nen nicht min der lan gen und ge fahr vol len Weg hin ter sich hat te als der be rühm te Held selbst. Es war eins der we ni gen ge bun de nen Bü cher in sei-nem Be sitz, und ge nau die ses Exemp lar hielt Er nes ti ne jetzt in der Hand. Sie dreh te und wen de te den reh brau nen Every man-Band lie be voll hin und her und strich über das raue, fe cki ge Lei-nen. End lich sah sie zu ih rem Va ter auf und öf ne te es. Auf Eng-lisch hat te er hi nein ge schrie ben:

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Für mei ne lie be Er nes ti neMö gest Du Dei ne ei ge ne ma gi sche Odys see fin den, auch wenn Du Ith aka nie ver lässt.Dein Dich lie ben der Papa

Die 19-Uhr-Stra ßen bahn rum pel te vor bei, ein De tail, an das Er-nes ti ne sich noch ge nau er in ner te, denn nach dem sie die Wid-mung ih res Va ters ge le sen hat te, wa ren ihr die Trä nen ge kom men und sie hat te auf die Stra ße hin aus se hen müs sen.

Nun wuss te sie es.Das strah len de Grie chen land war Pa pas Ziel! Die bal sa mi-

schen Haine, Kal ypso in ih rer Grot te, die Obst gär ten Phö ni zi-ens … Das war es, was Pa trick am Him mel über Ma dame Na gel-ma ckers’ Bal kon he rauf be schwor. Er brauch te bloß auf zu schau en, und schon wur de sei ne klei ne feisch er füll te Welt vom ewi gen Licht Homers er hellt.

Er nes ti ne drück te ihre Wan ge an die Fens ter schei be und wisch-te eine Trä ne weg. Sie be ob ach te te Mon si eur Maucq, der un ten auf dem Bür ger steig he rum stand. Im All ge mei nen rich te te er sich nach der 19-Uhr-Bahn. Der Müll war schon auf die Bür ger stei ge ge stellt wor den, und sein Jack Rus sell nahm ge ra de ei nen tie fen ge nie ße ri schen Zug aus ei ner Plas tik tü te. Schließ lich wand te sie sich vom Fens ter ab und sah ih ren Va ter an.

Er lä chel te. »Ach, du mei ne grau äu gi ge Athe ne. Mit dei nen Au gen bist du ganz si cher eine Men schen le se rin, ché rie. Du siehst so vie les, was an de re nicht se hen kön nen.« Sein ver schwom me-ner Blick wur de un ge wöhn lich klar. »Das Ge heim nis liegt im Ge-wöhn li chen, ver giss das nicht. Nur dort fin dest du al les mög li che Un ge wöhn li che. Denk dran: Du musst Ith aka nicht un be dingt ver las sen, um ein Aben teu er zu er le ben.«

»Be eil dich, Nel ly! Zut! Wa rum bist du im mer so spät dran? Das ist heu te das drit te Mal. Wir wer den ganz si cher be straft.« Nor-

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ma ler wei se fuhr Er nes ti ne ihre bes te Freun din nicht so an, aber die Schul lei te rin hat te ganz klar ge sagt: Noch eine ein zi ge Ver-spä tung, und sie wür den be straft!

Je den Mor gen nahm Nel ly Le grand die Stra ßen bahn vom nahe am Stadt zent rum ge le ge nen Sa blon, wo sie bei ih rem On-kel über des sen schi ckem Pra li nen ge schäft Cho co la tier Bert rand wohn te. Am Ende der Rue du Ba illi stieg sie aus und rann te die an dert halb Häu ser blocks bis zur Metz ge rei. Von dort aus gin-gen die Mäd chen zu Fuß wei ter zur Schu le. Das öde Ins ti tut, an dem sie ihre Bil dung durch lit ten, lag in der Nach bar ge mein de, gute fünf und zwan zig Fuß mi nu ten ent fernt, doch sie lieb ten die-sen ge mein samen Spa zier gang durch die en gen Kopf stein pfas-ter-Gas sen und über die ver schla fe nen Plät ze mit ih ren klei nen Grün fächen. Und wäh rend sie sich in ihre Ge sprä che ver tief-ten, stie ßen ihre schwe ren Schul ta schen ka me rad schaft lich ge-gen ei nan der.

»Was hast du zum Ge burts tag be kom men?«, frag te Nel ly und wur de da bei lang sa mer wie je des Mal, wenn sie die Ecke zur Ave-nue Mont joie er reich ten und die trut zi gen Backst ein mau ern der Schu le in Sicht ka men.

Er nes ti ne sag te es ihr.»Was? Noch ein Buch? Ehr lich, Ne sty. Ein Buch wird dir im

Le ben nie den rich ti gen Platz ver schaf en.«»Mit dem ›rich ti gen Platz‹ meinst du ver mut lich den an der

Sei te ei nes Ehe manns?« Er nes ti ne warf ih rer Freun din ei nen dis-kre ten Sei ten blick zu. Schon mit vier zehn – und zur Ver zweif-lung der Non nen – trug Nel ly je den Mor gen Lip pen stift und Lid strich auf und zähm te ihr üp pi ges ro tes Haar mit Gel. Zu dem ent wi ckel te sie sich be reits an Stel len, an de nen bei Er nes ti ne nie et was knos pen wür de: Bei Nel ly fie len die Fal ten des Schul u ni-form rocks wie ein ge bro che ner Fä cher über die Hüf ten, und im-mer sprang der mitt le re Knopf über ih rem Bu sen wie der auf – wie er schre ckend, dach te Er nes ti ne, der so et was je doch er spart

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blei ben soll te. Zu dem um schweb te Nel ly stän dig der Scho ko la-den duft aus dem Ge schäft ih res On kels, was sie nur noch ap pe-tit li cher mach te.

»Ach, Nel ly, das wirst du nie ver ste hen. Bü cher kön nen … Sie brin gen dich … Nun ja, ir gend wo hin, so ist das eben.«

»Wo hin?« Nel ly zog ih ren Rock nach un ten und strich sich das Haar glatt, als sie die Schu le be tra ten.

Wo hin? Er nes ti ne eil te hin ter ih rer Freun din durch den go ti-schen Ein gangs bo gen, der von ei ner le ben di gen Dar stel lung der Sie ben Tod sün den ge ziert wur de.

Wo hin? Wie soll te sie Nel ly, die so erd ge bun den, so un komp li-ziert war, et was über die Wör ter er klä ren? Dass sie von der Sei te auf er ste hen und ei nen an Orte ohne Wän de und Fens ter tra gen kön nen, an Orte, die auf Er den nicht ih res glei chen hat ten?

Schwes ter As sum pta lau er te ih nen wie be fürch tet in der Ein-gangs hal le auf. Sie stand reg los ne ben der Sta tue des hei li gen Bar tho lo mä us, und ihre Tracht ver lieh ihr das Aus se hen ei nes Raub vo gels. Zu fäl lig war te te sie an der be schä dig ten Sei te des Hei li gen (der Sta tue war schon vor ge rau mer Zeit der dro hen-de Zei ge fin ger ab han denge kom men), was Schwes ter As sum ptas mor gend li cher Ter ror herr schaft nun doch ein we nig von ih rem Schre cken nahm.

Wort los führ te sie Er nes ti ne und Nel ly in ihr Büro.An schlie ßend wa ren die Mäd chen in der düs te ren Höh le der

Schul lei te rin meh re re Stun den da mit be schäf tigt, Bö den zu schrub ben und Bü cher ab zu stau ben. Sie wa ren nicht zum ers ten Mal so ein ge sperrt wor den. Aber es war ih nen zum ers ten Mal be foh len wor den sau ber zu ma chen, und wenn Er nes ti ne spä ter da ran zu rück dach te, wur de ihr klar, dass das Sau ber ma chen – letzt lich eine eh ren wer te Tä tig keit, auch wenn man sie für eine ge mei ne, hu mor lo se Non ne aus führ te – ihr da mals in ge wis ser Wei se in te res san ter vor ge kom men war als das Le sen. Denn die Wör ter auf Schwes ter As sum ptas Re ga len wa ren ein ge ker kert.

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Die Ago nie des hei li gen Bo ni fa ti us und Zwan zig Wei sen, der Sün­de zu ent kom men la gen beim Ab stau ben kalt in Er nes ti nes Hand. Ganz of en sicht lich wa ren die se Bü cher nie ge öf net wor den. Lag hier das Ziel for mel ler Bil dung? Ver gli chen mit Pa pas Bib li o thek, die, zer fed dert und fe ckig, ein la dend über sämt li che Mö bel ver-teilt war, wirk te Schwes ter As sum ptas wie das li te ra ri sche Pen-dant zum Keusch heits gür tel.

»Wenn wir end lich hier raus sind, ma chen wir erst mal ei nen drauf !«, sag te Nel ly und tauch te ih ren Lap pen in den Ei mer. Sie un ter drück te ihr Ki chern, da mit es nicht von ei ner zu fäl lig im Flur vor bei lau fen den Non ne ge hört wur de. Dann plat zier te sie mit ih-rem Lap pen eine Pfüt ze ne ben ei nem der Bei ne von Schwes ter As sum ptas rie si gem Schreib tisch und ließ sie dort ste hen.

Er nes ti ne sag te nichts. Sie wrang ge las sen ih ren ei ge nen Lap-pen aus und ver teil te dann Nel lys Pfüt ze auf dem Holz bo den. Beim Wi schen ver fiel ihr Kör per in eine selt sam an ge neh me Vor- und Rück be we gung. In die sem Rhyth mus be weg te sie sich durch den Raum, ver gaß Nel lys An we sen heit nach und nach und war zu neh mend fas zi niert von der schritt wei sen Be frei ung ih rer Ge-dan ken wäh rend des Wis chens.

Slisch … Sluusch.Ein be ru hi gen des Wie gen wie auf ei nem Boot, das auf den

Wel len treibt. Et was in ihr be gann zu leuch ten, wur de frei.»Hey! Ne sty!« Nel ly warf ih ren Scheu er lap pen in den Ei mer,

dass es spritz te, schwang sich auf den Schreib tisch und ließ ihre braun be strumpf ten Bei ne bau meln. »Hörst du mir über haupt zu? Wäre es nicht toll, hier end lich raus zu kom men? Was meinst du, wo hin sol len wir ge hen? Ita li en? Oder viel leicht Mal lor ca? Das wäre exo ti scher. Wir könn ten da kell nern. Denk doch nur an all die gut aus se hen den rei chen Män ner!« Er nes ti ne ant wor te te im-mer noch nicht. Sie stütz te sich auf ih ren Schrub ber stiel und schau te hi naus in den Him mel, an dem die Wol ken ihre tau ben-grau en Brüs te tief über die Schu le hän gen lie ßen.

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»Ich gehe weit weg, wenn ich hier weg ge he, Nel ly«, sag te sie träu me risch. »Wei ter als bis nach Spa ni en oder Ita li en. Wei ter weg, als du dir vor stel len kannst.« Sie zö ger te kurz. »Ich glau be nicht, dass du mit kom men kannst.«

»Wo ist das?« Nel ly warf ei nen füch ti gen Blick auf die Tür, be-vor sie ei nen Kau gum mi aus der Ta sche ih rer Schul u ni form hol te und ihn sich in den Mund stopf te.

»Da, wo Odys seus hin geht«, hät te Er nes ti ne am liebs ten ge sagt. Aber sie wuss te, dass Nel ly an dem Tag ge schwänzt hat te, an dem Schwes ter Ben edicta mit ih nen über Ho mer ge spro chen hat te. Nel ly wür de nur den ken, dass Er nes ti ne Grie chen land mein te, wo man na tür lich auch rei che und gut aus se hen de Män ner fin-den konn te. Und nicht die Sei ten ei nes Bu ches.

Er nes ti ne warf Nel ly ei nen Blick zu und be gann wie der zu wi schen. In ner lich lä chel te sie. Nel ly war nur we ni ge fett rei che Mahl zei ten da von ent fernt, dick zu sein; sie selbst war klein und fach wie ein Li ne al. Ne sty … Nel ly war die Ein zi ge, die sie so nann te. Nel ly und Ne sty … In Er nes ti nes Oh ren klang es im mer wie ein al ber nes bel gi sches Lust spiel. Sie seufz te und wrang ih-ren Scheu er lap pen aus. Viel leicht könn ten sie ir gend wo an ei-ner Büh ne Ar beit fin den, wenn die Non nen Nel lys Leb haf tig keit nicht völ lig er stick ten.

Als Pa tricks Ge sund heit nach zu las sen be gann, war sei ne Toch ter erst sech zehn. Nichts Erns tes, ver si cher ten ih nen die Ärz te. Ein Un wohl sein, wei ter nichts; viel leicht eine win zi ge Ver dau ungs-stö rung, weil er zu viel von sei ner ei ge nen Ly o ner ge ges sen habe. Neh men Sie ei nen Säu re blo cker und ver ges sen Sie Ihre Grip pe-Imp fung nicht!

Doch noch be vor er ärzt li chen Rat such te, ver mu te te Er nes ti ne et was an de res: Sie war si cher, dass die See le ih res Va ters litt. Der hoch her zi ge Metz ger blu te te in ner lich, es war ein leich ter, aber stän di ger Blut ver lust aus ei ner Wun de, die kein Arzt je fin den

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wür de. Ihre Ver mu tung be stä tig te sich an dem Tag, als sie auf dem Weg zur Schu le durch die Metz ge rei rann te und Pa trick nicht hin ter der The ke stand. Die Tür zur Stra ße war schon of en für die Kun den, der Flie sen bo den glänz te von ih rem mor gend li chen Auf-wi schen, alle Fleisch wa ren wa ren aus den gro ßen E del stahl kühl-schrän ken hin ter dem La den ge holt und sorg fäl tig in der Aus la ge ver teilt wor den. Doch in der Metz ge rei fehl te der Metz ger.

Er nes ti ne trat auf den Bür ger steig hi naus. Jetzt sah sie ihn: eine sanft ge neig te Ge stalt mit der wei ßen Metz gerschür ze als be-schei de nem Se gel, die, den Blick starr nach oben ge rich tet, sanft ge gen die Pas san ten stieß.

»Papa!« Er nes ti ne warf sich die schwe re Schul ta sche über die Schul ter und rann te zu ihm. »Papa, was machst du da? Du wirst dich er käl ten. Der La den ist of en – da kann doch je der rein ge-hen. Papa? Hörst du mich?«

Sie nahm ihn beim Arm und führ te ihn zum Ge schäft zu rück. Zwei Kun den, die hi nein- und dann ver blüft wie der hi naus ge-gan gen wa ren, stan den ei nen Au gen blick auf der Schwel le und be trach te ten das Schau spiel ei nes Metz gers, der die Ori en tie rung ver lo ren hat te.

Er nes ti ne ließ ihre Bü cher an der Tür fal len und half ih rem Va-ter auf den Ho cker hin ter der The ke. Sie hol te eine Fla sche Ev ian aus dem Kun den kühl schrank und zwang ihn, sie zu trin ken. »Da, das wird dir hel fen«, sag te sie lei se.

»Dan ke, mei ne Lie be.« Pa trick strich sich über die brei te glän-zen de Stirn. Sei ne blau en Au gen schwam men. Und dann sag te er: »Bit te sag Kal ypso, dass sie mir schreck lich feh len wird, aber ich muss jetzt wirk lich los.« Er starr te durchs Fens ter auf eine blen-dend hel le Lü cke zwi schen den Wol ken. »Du sagst es ihr, nicht wahr, ché rie?« Er wand te sich wie der Er nes ti ne zu. »Bit te ver giss es nicht, sie kann manch mal ziem lich schwie rig sein.«

Und so, von ei nem Tag auf den an de ren, wur de Er nes ti ne er-wach sen.

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Es war nicht so schwie rig, wie sie ge dacht hat te, als sie von ih-rem Eh ren sitz auf der Holz bank auf die an de re Sei te der The ke wech sel te. Aber mit nur sech zehn Jah ren hat te sie noch viel zu ler nen. Sie stand stolz und groß – nun ja, so groß eine Per son ih rer klei nen Sta tur eben ste hen konn te – hin ter Pa tricks erst klas si gen Fleisch wa ren und ver such te sich an all die Tech ni ken zu er in nern, die ihr Va ter ihr bei ge bracht hat te. Vie le Wo chen hin durch hat-te sie über all an den Hän den Pfas ter, weil das Mes ser eben doch aus ge rutscht war. Wenn sie den La den ge schlos sen hat te, ging sie erst mit dem Bis sell über den Flie sen bo den, um den Schmutz und den Staub, den die Kun den von der Stra ße her ein ge tra gen hat ten, zu ent fer nen, und dann wisch te sie feucht auf. Der Bis sell, Pa-tricks selt sa mes Rei ni gungs ge rät, war eine hand be trie be ne Kehr-ma schi ne, de ren Her kunft im Dun keln lag, die aber, so lan ge sich Er nes ti ne zu rück er in nern konn te, in ei ner Ecke nahe beim Hack-klotz an der Wand ge lehnt hat te. Pa trick selbst hat te nur ge wusst, dass sie Jahr zehn te zu vor in der gleich na mi gen Fab rik in Ame ri ka her ge stellt, auf ver mut lich ver schlun ge nen We gen nach Bel gi en ge langt und dort als ein sa mer Flücht ling im Wohl tä tig keits-Läd-chen des Vier tels ge stran det war. Pa trick war hin ge ris sen ge we sen von die sen ame ri ka ni schen Wur zeln. Mit ei nem rät sel haft ab we-sen den Lä cheln pfeg te er die Kehr ma schi ne aus ih rer Ecke zu zie hen, und je des Mal, wenn er ihre Bürs ten über den Bo den wir-beln ließ, summ te er Broad way-Me lo di en und tän zel te ne ben ihr her. »Die Lie der habe ich von ei nem ame ri ka ni schen GI ge lernt«, hat te er Er nes ti ne er klärt, »mit ten im schlimms ten Kriegs win ter, als ich bei ei ner Tan te in der Nähe von Bast ogne war.« Er nes ti ne auf ih rer Bank hat te mit ge summt und mit dem Fuß den Takt ge-schla gen, wäh rend sie ihm zu sah. Doch jetzt war sie vol ler Trau er, wäh rend die Bürs ten wir bel ten. Sie brach te es nicht übers Herz zu tan zen wie da mals ihr Va ter. Ihre Kraft reich te ge ra de eben noch, um den La den zu schlie ßen und in die Woh nung hi nauf zu ge hen, um ih rem Va ter das Abend es sen zu ma chen.

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Pa trick ver brach te sei ne Zeit jetzt le send und träu mend am Kü-chen tisch und hat te ei nen selt sa men Frie den da bei ge fun den. Er lä chel te Er nes ti ne vage an, wenn sie kam, und streck te ihr die Hand ent ge gen, dann wand te er sich wie der dem perl wei ßen Licht streif am Him mel zu. Jetzt kann ihn nichts mehr zu rück brin gen, dach te sie müde und mach te sich da ran, den Speck an zu bra ten.

Sie schloss ihre schu li sche Aus bil dung nie ab. Eine ir gend wie trau ri ge Iro nie, dass statt Er nes ti ne mit ih rer ver zeh ren den Neu-gier und ih rem un still ba ren Wis sens durst aus ge rech net Nel ly, der jede Bil dungs an stren gung so läs tig war wie ein Stein im Schuh, den stren gen Lehr plan von Not re Dame des Misè res ab schlie-ßen soll te.

Auf dem Rück weg von der Schu le schau te sie manch mal in der Metz ge rei vor bei. »Du hast viel leicht Glück«, be merk te sie ein mal, wäh rend sie die Paté von ih ren Fin gern schleck te. »Du kannst in der Mit tags pau se durch die Ge schäf te bum meln.«

»Nel ly, in der Mit tags pau se küm me re ich mich um mei nen Va ter.«

»Ach ja, das hat te ich ver ges sen.« Nel ly wur de vor Scham über ihre Ge dan ken lo sig keit so rot wie ihr Haar. Ihr war durch aus klar, dass letz ten En des viel leicht sie die Glück li che sein könn te.

Die Zeit ver ging, wie Was ser foss sie über zwei Jahr zehn te, und ob wohl Er nes ti ne we nig Hof nung hat te, noch et was an de-res aus ih rem Le ben zu ma chen, lie ßen ihre hel len, grau en Au-gen den Ho ri zont nie los, auch wenn ihr Schiff ein in seich ten Ge wäs sern trieb.

Sie lehn te den Hei rats an trag von Mon si eur de Pauw ab, ei nem schon äl te ren Kun den von Pa trick, und frag te sich spä ter, ob das ein wei ser Ent schluss ge we sen war. Die ser Gen tle man be trieb näm lich ein An ti qui tä ten ge schäft am Sa blon und ver stand ei-ni ges von kost ba ren Ge gen stän den: Er ta xier te Er nes ti ne von den Lo cken bis hi nun ter zu den be que men brei ten Schu hen und er klär te sal bungs voll, sie wer de die Ehe mit ihm si cher mit der

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Leona Francombe

Madame Ernestine und die Entdeckung der LiebeRoman

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Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 480 Seiten, 13,5 x 21,5 cmISBN: 978-3-442-31354-9

Goldmann

Erscheinungstermin: Mai 2014