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Leonie Wagner (Hrsg.) Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen

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Leonie Wagner (Hrsg.)

Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen

Leonie Wagner (Hrsg.)

Soziale Arbeit undSoziale Bewegungen

1. Auflage 2009

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009

Lektorat: Stefanie Laux

VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

ISBN 978-3-531-15678-1

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Den InitiatorInnen der „Aktion pro Bildung“ in Holzminden

Inhalt

Leonie Wagner Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen – Einleitung .................................................... 9

Leonie Wagner und Cornelia Wenzel Frauenbewegungen und Soziale Arbeit........................................................................... 21 Gisela Notz Bürgerliche Sozialreform, Arbeiterbewegung und Soziale Arbeit ............................... 73

Leonie Wagner Jugendbewegungen und Soziale Arbeit ......................................................................... 109

Studenten- und Alternativbewegungen Leonie Wagner „Bunte Flecken im grauen Alltag“ – Alternative Projekte im Kontext Sozialer Arbeit ................................................ 152 Anne Dudeck Stärken entdecken, Widersprüche erkennen und Handlungsmöglichkeiten leben – Selbstorganisierte Bildungsarbeit ............................................................ 171 Norbert Wohlfahrt Selbsthilfe als Ergänzung und kritische Begleitung Sozialer Arbeit ................. 181 Swantje Penke Soziale Arbeit in Bewegung – Die „Arbeitskreise Kritische Sozialarbeit“ gestern und heute .......................... 192

8 Inhalt

Carsten Nöthling Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen in der DDR ................................................. 207 Peter Rieker Rechtsextremismus und Soziale Arbeit. Kinder und Jugendliche im Fokus der rechtsextremen Szene ...................................................................................................... 231

Leonie Wagner Globalisierungskritische Bewegungen und Soziale Arbeit – (noch) nicht existierende Beziehungen ......................................................................... 253

AutorInnen ....................................................................................................................... 277

Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen – Einleitung1 Leonie Wagner

Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen scheinen historisch eng miteinander ver-bunden (u.a. Müller 1997/1999. Staub-Bernasconi 1995, Wendt 1995). So hat die Frauenbewegung Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts maßgeblich zur Etablierung der Berufsausbildung und Professionalisierung der Sozialen Arbeit beigetragen, die Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg in sozialpädagogi-scher Hinsicht Pionierarbeit geleistet und die Arbeiterbewegung zumindest indirekt zur Schaffung eines differenzierten sozialpolitischen Systems beigetragen. Auch die Neuen Sozialen Bewegungen haben der Sozialen Arbeit wichtige Impulse gegeben: Sei dies in der Jugendhilfe durch Skandalisierung der Zustände in den Erziehungs-heimen, in der Frauenarbeit durch die Thematisierung von Gewaltverhältnissen oder in der Psychiatrie durch die Infragestellung von Normalitätskonzepten.

Dieser enge Zusammenhang scheint so selbstverständlich, da von Sozialen Bewegungen soziale Probleme und gesellschaftliche Widersprüche aufgegriffen werden, die mit tradierten Formen gesellschaftlicher Organisation nicht oder nicht hinreichend lösbar erscheinen. Dies sind vielfach auch die Probleme, mit denen Soziale Arbeit sich beschäftigt bzw. auf die Soziale Arbeit reagieren sollte. Soziale Bewegungen zeigen notwendige Veränderungen an und beteiligen sich am Prozess der Umsetzung. Soziale Arbeit reagiert ebenfalls auf sozialen Wandel und hat die Aufgabe, bestehende und neue Unzulänglichkeiten gesellschaftlicher Verhältnisse zu bearbeiten.

Trotz dieser engen Beziehungen haben Soziale Arbeit und Soziale Bewegun-gen sich aber nicht immer und nicht immer in einträchtiger Harmonie aufeinander bezogen. Soziale Bewegungen haben Soziale Arbeit häufig kritisiert oder gar als Ganzes abgelehnt (z.B. Arbeiterbewegung, Teile der Neuen Frauenbewegung). Die Beiträge dieses Bandes gehen deshalb einem gleichermaßen spannungsreichen wie produktiven Verhältnis nach und zeigen Annäherungen und Abgrenzungen vor dem Hintergrund gesellschaftlichen und sozialen Wandels.

1 Ich danke Jörg Ritters für die umsichtige und zuverlässige Mitarbeit bei der Korrektur

und Lektorierung der Beiträge.

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Soziale Bewegungen Ein Problem, das die theoretische Einordnung Sozialer Bewegungen begleitet, ist ihre spezifische Form, die sie zwischen einzelnen Protestereignissen und festen Organisationen (z.B. Parteien oder Gewerkschaften) ansiedelt. Soziale Bewegungen haben im Unterschied zu Organisationen kein tatsächliches Gründungsdatum, son-dern es handelt sich um Zusammenschlüsse, die sich eher in ihrer Mobilisierungs-wirkung bestimmen lassen. Auch das Ende einer Sozialen Bewegung ist nicht ein-fach zu bestimmen, da sie in der Regel entweder in Organisationen aufgehen oder sich langsam auflösen, wobei „Bewegungsreste“ noch längere Zeit weiter bestehen können. Soziale Bewegungen führen keine Mitgliedslisten, sondern sind durch eine fluktuierende Teilnahme oder Beteiligung gekennzeichnet, sie sind nur in ihren Aktivitäten sichtbar und deshalb auf Mobilisierung größerer Gruppen angewiesen.

Zwar lassen sich in einigen Fällen bestimmte Tendenzen einer Institutionalisie-rung von (Teilen der) Bewegungen ausmachen, dies trifft aber nicht für alle und nicht für alle Zeiten zu. So waren z. B. die Arbeiter- und die Ökologiebewegung relativ stark organisiert, d. h. durch Vereine, Verbände etc. strukturiert. Demgegen-über verfügte die Neue Frauenbewegung über eine relativ geringe Organisation bzw. lehnte eine solche sogar explizit ab. Soziale Bewegungen verfügen zudem nicht über festgeschriebene Programme oder Zielformulierungen, d. h. ihre Programma-tik ist eher diffus angelegt, auch wenn bestimmte Ziele verfolgt werden. Soziale Bewegungen sind in Definitionen schwer fassbar, sie entziehen sich, sind fluide und Definitionen bergen zudem die Gefahr, die Spezifik einer Bewegung zu verfehlen (Görg 1992: 14).

Roland Roth und Dieter Rucht nehmen in dem von ihnen herausgegeben Handbuch „Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945“ einen Abgren-zungsversuch gegenüber „Protestereignissen“ vor und definieren Soziale Bewegun-gen wie folgt:

„Von Bewegungen sprechen wir erst, wenn ein Netzwerk von Gruppen und Or-ganisationen, gestützt auf eine kollektive Identität, eine gewisse Kontinuität des Protestgeschehens sichert, das mit dem Anspruch auf Gestaltung des gesellschaft-lichen Wandels verknüpft ist, also mehr darstellt als bloßes Neinsagen.“ (Roth/Rucht 2008a: 13)

Damit schließen Roth und Rucht im Wesentlichen an die breit rezipierte Definition Raschkes (1988: 78) an, lassen aber dessen weitere Kriterien wie insbesondere die breit angelegten und wechselnden Formen von Mitgliedschafts- bzw. Partizipations-formen sowie die nicht festgelegten Organisations- und Protestformen aus.

Einleitung 11

Relevant für die Entstehungsmöglichkeiten Sozialer Bewegungen sind zudem die jeweiligen Formen politischer Herrschaft bzw. die Bedingungen, unter denen politische Partizipation stattfinden kann. Da Soziale Bewegungen auf ein gewisses Maß an Öffentlichkeit angewiesen sind bzw. darauf, dass „Gegenöffentlichkeit“ zugelassen wird, kann der Stand der Meinungs- und Pressefreiheit einen entschei-denden Einfluss auf ihre Entstehungs- und Ausweitungsmöglichkeiten haben (Raschke 1988: 84ff).

Soziale Bewegungen sind immer sowohl Ausdruck als auch Motor (Gerhard 1994: 151), Produkte und Produzenten (Raschke 1988: 11) sozialen Wandels. Ihr Entstehen zeigt, wie Hermann Giesecke (1981: 11) mit Bezug auf die Alte Jugend-bewegung feststellt,

„daß Selbstverständlichkeiten einer politischen Kultur fragwürdig geworden sind, daß entweder neue Bedürfnisse in traditionellen Institutionen nicht mehr befrie-digt werden, oder daß umgekehrt gesellschaftliche Veränderungen ‚alte’ Bedürf-nisse nicht mehr befriedigen.“

Zentral ist in diesem Zusammenhang auch, dass diese Kritik an den Verhältnissen überhaupt nur einsetzen kann, wenn Gesellschaft als veränderbar begriffen wird. Soziale Bewegungen im modernen Sinn entstehen insofern erst mit der Erkenntnis der Gestalt- und Veränderbarkeit der Verhältnisse (Roth/Rucht 2008a: 14).

Mit der Herausbildung bürgerlicher Gesellschaftsstrukturen zu Beginn des 19. Jahrhunderts vollzog sich insofern auch ein ideologischer und politischer Wandel. In Anknüpfung an die Ideen von u.a. Aufklärung, Humanismus, Idealismus ent-standen in Deutschland um 1848 frühbürgerliche Bewegungen, die sich gegen abso-lutistische Herrschaftsformen, für Presse- und Versammlungsfreiheit, Gerichtsre-formen sowie eine einheitliche Verfassung für ein geeintes Deutsches Reich einsetz-ten. Nach der Niederschlagung der revolutionären Bestrebungen setzte in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ein erneuter Aufschwung im Bewegungssektor ein. Arbeiterbewegung (Notz i.ds. Band), Frauenbewegung (Wagner/Wenzel i.ds. Band) und Jugendbewegung (Wagner i.ds. Band) waren im letzten Drittel des Jahrhunderts die stärksten Gruppierungen. Insbesondere Frauen- und Arbeiterbewegung zeich-neten sich in diesem Zusammenhang durch einen hohen Organisationsgrad aus. Ihre Bedeutung ging in den ersten Dekaden des 20. Jahrhundert zurück, als nach dem Ersten Weltkrieg einige politische Ziele als erkämpft galten (z.B. Wahlrecht). Um die Jahrhundertwende setzte daneben die Formierung rechtsorientierter Bewe-gungen ein, deren Anziehungskraft schließlich mit zur Regierungsübernahme durch die NSDAP im Jahr 1933 beitrug. Die Folge war, dass die Organisationen der ande-

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ren Bewegungen verboten wurden oder sich selbst auflösten, wenn sie nicht im Zuge der „Gleichschaltung“ NS-Formationen und –Verbänden beitraten.

Der Nationalsozialismus hatte sich zwar selbst als „Bewegung“ begriffen, strebte aber als totalitäres Regime eine absolute Herrschaft im politischen und pri-vaten Bereich an (Zippelius 1985). Politische Positionen, die von der NS-Doktrin abwichen, wurden insofern verfolgt. Die Möglichkeiten für Öffentlichkeit wurden durch die Zentralisierung und Überwachung von Medien und Gruppierungen ex-trem eingeschränkt und Sozialen Bewegungen damit jeglicher legale Entfaltungs-raum genommen.

Soziale Bewegungen konnten deshalb erst nach dem Ende der nationalsoziali-stischen Herrschaft in der Bundesrepublik wieder entstehen. Nach ersten Anfängen, die eher noch als abgegrenzte Proteste zu bezeichnen sind (z.B. gegen die Wieder-bewaffnung), entstanden ausgelöst durch die Studentenbewegung in den 1970er und 80er Jahren wieder relevante Bewegungen (Brand/Büsser/Rucht 1986: 15ff). Diese unterschieden sich von den „alten“ Bewegungen zum einen in den Organisations-formen, zum anderen in ihrer Zielrichtung. Diese sog. „Neuen Sozialen Bewegun-gen“ haben größtenteils eher leicht strukturierte Zusammenhänge mit flachen Hie-rarchien ausgebildet und zielten auf Veränderungen sowohl in der Politik als auch in der Lebensweise. Thematisiert wurden auch die „sozialen Kosten der gesellschaftli-chen Modernisierung“ (Haupert 1991:4). Im Kontext der Neuen Sozialen Bewe-gungen entstand ein vielfältiges Spektrum von „Alternativ-Bewegungen“ und mit ihnen eine große Anzahl alternativer Projekte und Einrichtungen, in denen andere Lebens- und Arbeitsformen ausprobiert und weiter entwickelt wurden (vgl. die Beiträge von Dudeck; Penke; Wohlfahrt; Wagner: Alternativbewegungen i.ds. Band).

Nach einer Hochphase setzte in den 1980er Jahren ein Rückgang an Mobilisie-rungskraft ein. Die Neuen Sozialen Bewegungen lösten sich langsam auf, Teile gingen in Nichtregierungsorganisationen (NGOs) über, die zwar die Themen und Anliegen der Bewegungen vertreten, aber keine vergleichbare Mobilisierung herstel-len, sondern eher im Bereich politischer Entscheidungen agieren.

In der DDR konnten aufgrund der Herrschafts- und Ideologieansprüche der „Sozialistischen Einheitspartei“ (SED) Soziale Bewegungen im modernen Sinne nicht bzw. erst sehr spät entstehen. Protest wurde zudem häufig kriminalisiert. Dennoch bildeten sich – vor allem unter dem Dach der Kirchen – Gruppen, die ihre Unzufriedenheit mit den Verhältnissen Teilöffentlichkeiten mitteilen konnten. Erst in den 1980er Jahren verbesserten sich die Bedingungen für Soziale Bewegun-gen, die dann die Auflösung der DDR mitbewirkten (Nöthling i.ds. Band).

Einleitung 13

Nach der Auflösung der Neuen Sozialen Bewegungen und dem Übergang der DDR-Bevölkerung in das bundesdeutsche System ist in Deutschland erst etwa im Jahr 2001 wieder Bewegung in die Bewegungslandschaft gekommen: Globalisie-rungskritik wurde zum neuen und internationalen Fokus verschiedener Bewegungs-formationen. In der deutschen Öffentlichkeit steht hierfür vor allem das Netzwerk „attac“ (Wagner i.ds. Band).

Rucht/Roth (2008: 494) weisen darauf hin, dass die von den Globalisierungs-kritischen Bewegungen vertretenen Positionen zwar zu Teilen auch von rechtsex-trem orientierten Gruppierungen vertreten werden, die „allerdings weder deren Demokratisierungsanspruch noch deren internationale Grundhaltung und die For-derungen nach globaler Solidarität teilen“. Die „rechte Szene“ hat jedoch in den letzten Jahren in der Bundesrepublik erheblichen Zuwachs gewonnen und neben den in einigen Landtagen und Kommunen vertretenen Parteien ein Netz verschie-dener Gruppen und Organisationen ausgebildet (Rieker i.ds. Band).

Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen Soziale Arbeit als Instrument staatlicher Sozialpolitik und als Beruf ist ebenso wie Soziale Bewegungen „ein typisches Produkt der Moderne“ (Rauschenbach/Züchner 2002: 844). Soziale Bewegungen haben auf den Entstehungs- und Etablierungspro-zess dieser Profession sowie auf deren weitere Ausgestaltung zum Teil erheblichen Einfluss gehabt. So geht Silvia Staub-Bernasconi (1995: 58) davon aus, dass

„professionelle Soziale Arbeit aus sozialen Bewegungen mit selbstdefinierten Bedürfnis-sen, Zielen und Forderungen, Anrechten und Aufträgen, nämlich der Frauen-, Friedens- und sozialreformerischen Settlementbewegung, und nicht etwa aus staatlichen, juristischen Vorgaben oder verwaltungstechnischen Dekreten und Mandaten hervorgegangen ist“ (Hervorh.i.Orig).

Auch C.W. Müller stellt in seiner Methodengeschichte die enge Verbindung zwi-schen Sozialer Arbeit und Sozialen Bewegungen fest (Müller 1997/1999). Allerdings haben Soziale Bewegungen Soziale Arbeit auch immer wieder kritisiert und zwar – nach Staub-Bernasconi – vor allem dann, wenn sie sich zu stark „mit den Forderun-gen der Mächtigen verbündete – seien dies Kirche, Wirtschaft, Staat, Gerichtsbar-keit, Psychiatrie und Anstaltswesen und erst recht Diktatur und Naziregime“ und sich „unkritisch als Normen- und Gesetzesanwenderin“ verstand. Zu Unrecht sei Soziale Arbeit von – vor allem den Neuen Sozialen Bewegungen – kritisiert worden,

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wenn ein eigenständiger professioneller Zugang in Frage gestellt wurde (Staub-Bernasconi 1995: 59).

Am Beispiel der Arbeiterbewegung wird deutlich, dass sich diese Bewegung weniger auf Soziale Arbeit direkt, als vielmehr – aufgrund der Bevorzugung eines revolutionäreren Ansatzes – zögerlich auf sozialpolitische Forderungen bezogen hat. Ähnliches gilt für die oppositionellen Gruppen in der DDR. Gleichzeitig wur-den hier aber Unterstützungssysteme entwickelt, die zwar nicht professionalisierte, aber für die Betroffenen wichtige Ausgleichsfunktionen übernommen haben.

Das Strukturdilemma Sozialer Arbeit, das Ausbalancieren von Hilfe und Kon-trolle (Becker-Lenz 2005) sowie das Streben nach Sozialer Veränderung (Brown 2008: 4) durchzieht das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Sozialen Bewegungen seit den Anfängen. So verweist C.W. Müller (1999: 14) in seiner Methodengeschich-te der Sozialen Arbeit mit Bezug auf Klaus Mollenhauer darauf, dass die Geschichte der Fürsorge als „großangelegter Lehrprozess für jene breiten Schichten der Bevöl-kerung des 18. und 19. Jahrhunderts“ angesehen werden muss, denen ein starkes Erwerbsstreben und damit die Einpassung in die Normen der Industriegesellschaft „abging“. Im Transformationsprozess hin zu einer modernen Industrie- und Er-werbsarbeitsgesellschaft erfüllte Soziale Arbeit damit nicht zuletzt die Funktion, den seit der Reformation sich wandelnden Begriff von „Arbeit“ in Kombination mit den wirtschaftlichen und politischen Erfordernissen, in der Bevölkerung durchzu-setzen. Arbeit war nicht länger das, was mit Mühsal und Schweiß verbunden eher negativ konnotiert war, sondern wurde zum zentralen Sicherungsfaktor und Identi-tätskriterium der Moderne (Müller 1999: 15).2 Insofern befürchteten VertreterInnen der Arbeiterbewegung und der Proletarischen Jugendbewegung eine Schwächung des revolutionären Potentials und stellten einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen repressiver (Sozialistengesetze) und fürsorglicher (Sozialpolitik) Politik fest.

Soziale Arbeit war aus Sicht des Bürgertums hingegen der Versuch, die „Klas-sengegensätze“ zu überbrücken und dabei zudem die Ideen der Aufklärung (u.a. Menschenwürde) umzusetzen. Dies war gleichzeitig mit einer Kritik an den beste-henden Formen von Wohltätigkeit verbunden, die eher planlos und nicht auf nach-haltige Hilfe bedacht, Almosen ausgaben oder zwar geplante, aber nicht ausreichen-de und den Situationen der Bedürftigen angemessene Konzepte verfolgten (Müller 1999: 20). Aus Sicht der Bürgerlichen Frauenbewegung kam noch der Aspekt hinzu, dass Soziale Arbeit als mögliches Berufsfeld von Frauen erschlossen und damit

2 Müllers Einschätzung weicht insofern von Positionen ab, die in der Entstehung Sozia-

ler Arbeit als Beruf vor allem eine Kontinuitätslinie aus der Mildtätigkeit und Barm-herzigkeit des Christentums entdecken.

Einleitung 15 bürgerlichen Frauen und Mädchen eine sinnvolle Betätigung und eine Beteiligung an gesellschaftlichen (und politischen) Prozessen ermöglicht werden sollte (Salomon 1932/33).

Hinsichtlich der Alten Frauenbewegung war die Kritik an der Sozialen Arbeit vor allem auf deren mangelnde Professionalisierung gerichtet: Gegen eine ungeplan-te „Hilfe“, die eher aus caritativem Gefühl denn aus sozialer Verantwortung heraus geleistet wurde. Dem wurde eine (wissenschaftliche) Ausbildung gegenübergestellt, in der die Grundlagen für eine auf modernen Erkenntnissen basierende Tätigkeit vermittelt werden sollten. Gleichzeitig wurde damit jedoch auch Kritik an einem gesellschaftlichen und politischen System geäußert, das nicht nur Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen zulässt, sondern durch Normen und Gesetze teilweise selbst hervorbringt. In dieses System sollte Soziale Arbeit im Verein mit der Frauenbewe-gung eingreifen und sowohl indirekt als auch direkt an der Reform der Verhältnisse mitwirken. Der Arbeiterjugendbewegung ging es hingegen zunächst darum, die Arbeits- und Lebensbedingungen jugendlicher ArbeiterInnen zu verbessern. In ihren Projekten war sie – anders als der größte Teil der Bürgerlichen Jugendbewe-gung – internationalistisch und koedukativ ausgerichtet. Die Arbeiterjugendbewe-gung hat insbesondere auf die Inhalte und Methoden der Politischen Bildung und der Internationalen Jugendarbeit Einfluss genommen.

Für die Bürgerliche Jugendbewegung ist ebenfalls keine ursprünglich selbstver-ständliche Beziehung zur Sozialen Arbeit festzustellen. Erst nach dem Ersten Welt-krieg wurde Soziale Arbeit als über die „Selbsthilfe“ hinausgehender Betätigungsbe-reich erschlossen. Für Teile der in der bürgerlichen Jugendbewegung Aktiven wurde Soziale Arbeit sowohl zu einem Instrument der Klassenversöhnung als auch zu einem (sozial-pädagogischen) Arbeitsfeld. Hier ging es darum, die in den Gruppen und Bünden gemachten Erfahrungen der Selbsterziehung und der Gruppenpädago-gik aus der Bewegung heraus in die gesellschaftlichen Institutionen zu übertragen. Und dies stieß zudem nicht auf ungeteilte Gegenliebe in den Bünden, sondern un-terlag bisweilen dem Verdacht des Hineintragens „wesensfremder Tendenzen“ (Buchhierl 1974: 1478). Von Seiten der Jugendbewegten wurden vor allem die Zu-stände in der Fürsorgeerziehung kritisch unter die Lupe genommen und zu verän-dern gesucht. Wegschließen und Stigmatisierung Jugendlicher wurden in ihren nega-tiven Folgen erkannt und reformpädagogische Konzepte entwickelt. Auf ähnliche Zustände und Probleme in der Heimerziehung reagierte dann in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die Studentenbewegung. Beide Male also stand Soziale Arbeit als gesellschaftliches Instrument in der Kritik, da sie sich nicht im Sinne der Klien-tInnen, sondern einseitig im Sinne eines möglichst reibungslosen Ablaufs der Ver-

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wahrung engagierte oder auch reaktionäre Erziehungsziele und -methoden prakti-zierte.

Insgesamt wurde Soziale Arbeit von den Neuen Sozialen Bewegungen gerade dort kritisiert, wo sie die gesellschaftlichen Ursachen von Marginalisierung und Diskriminierung nicht zur Kenntnis nahm und statt dessen allein eine auf die Ver-änderung und Anpassung der Individuen gerichtete Arbeit entfaltete (Staub-Bernasconi 1995: 58f).Vor allem die Neue Frauenbewegung hatte in ihren Anfängen ein teilweise sehr distanziertes Verhältnis zur Sozialen Arbeit, da sie den Zusam-menhang von Privatem und Politischem verschleiere und statt dessen mittels Ein-zelfallhilfe (und der daran geknüpften Vermutung der Selbstverschuldung von Hilfsbedürftigkeit) einer tatsächlichen Reform der Verhältnisse entgegen stehe.

Die Vorstellung dessen, was politisch und was privat ist, scheint für das Ver-hältnis von Sozialer Arbeit und Sozialen Bewegungen insgesamt eine nicht geringe Rolle zu spielen. Zumindest in den Anfängen Sozialer Bewegungen lehnen diese es überwiegend ab, sich um „das Private“ zu kümmern, streben nach weitergehenden – gesellschaftlichen oder politischen – Veränderungen. Soziale Arbeit erscheint dann unpolitisch und den Zielen der Bewegung nicht adäquat bzw. sogar hinderlich zu sein. Paradigmatisch steht für diese Position die Arbeiterbewegung, die Soziale Arbeit und Sozialreformen über längere Zeit ablehnte, da eine Linderung der Klas-senlage die zu mobilisierenden revolutionären Kräfte schwächen könnte (Ritter 1998). Erst in der weiteren Entwicklung werden die Bedeutung des Privaten für gesellschaftliche Veränderungen stärker in den Blick genommen und engere Bezie-hungen zur Sozialen Arbeit aufgebaut.

Dort wo Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen sich dann annäherten ge-schah dies häufig über eine kritische Perspektive: gemeinsame Kritik an den gesell-schaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Verhältnissen, die Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen überhaupt notwendig werden lassen; Kritik aber auch an den bestehenden Formen der Wohlfahrtspflege bzw. Sozialen Arbeit (Staub-Bernasconi 1995: 58f).

Im Kontext dieser kritischen Beziehung wurden dann weiterführende Ansätze entwickelt und umgesetzt. Damit wurden die Ziele Sozialer Bewegungen in soziale Praxis übersetzt und zur Anwendung gebracht. Das heißt, aus der Kritik wurden Alternativen entworfen und so die Arbeitsfelder und Methoden der Sozialen Arbeit erweitert. Im Kontext der Neuen Sozialen Bewegungen wurde zur Aktivierung größerer Potentiale und zur Verbesserung der sozialen Lage in einigen Stadtteilen z.B. Gemeinwesenarbeit als gemeinsamer Lern- und Veränderungsprozess etabliert. Dabei ging es um „Eigenaktivität, Solidarisierung, Entscheidungsfähigkeit und Selbstorganisation“ (Wendt 1995: 337). In diesem Zusammenhang wurde auch

Einleitung 17 soziale Kulturarbeit zu einem eigenständigen Ansatz Sozialer Arbeit entwickelt (ebd.: 346-347) und mit dem Entstehen von Selbsthilfegruppen die Bedeutung der Eigentätigkeit der KlientInnen und die Grenzen Sozialer Arbeit deutlich gemacht (Müller 1997: 193-194; Wohlfahrt i.ds. Band). Gleichzeitig warnt Wendt (1995: 337) Soziale Arbeit davor, sich zu stark „auf fluktuierende Interessenbekundungen, die eher Folge einer Bewegung als ihr Substrat sind“ zu stützen.

In den 80er und zunehmend in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts hat hin-sichtlich dieser Alternativen jedoch ein Prozess eingesetzt, der eine zunehmende Professionalisierung und Institutionalisierung zur Folge hatte. Eine parallele Ent-wicklung lässt sich auch für die Sozialen Bewegungen feststellen: Mit der gesell-schaftlichen (Teil-)Anerkennung wurden zentrale Themen intensiver, aber auch isolierter bearbeitet, die Bearbeitung wurde zunehmend an Bewegungs- oder Nicht-Regierungs-Organisationen delegiert. Damit einher ging jedoch auch eine Entpoliti-sierung von sozialen Problemen, eine Re-Individualisierung, die in neoliberalen Politik- und Subjektentwürfen ihren zugespitzten Ausdruck findet.

Politisch rechts orientierte Gruppen haben in den letzten Jahren zunehmend begonnen, die Lücken sozialer Angebotssysteme zu nutzen. Hier wurden in unter-schiedlichen Feldern Aktivitäten entwickelt, die zwar nicht immer erfolgreich sind, aber jedenfalls eher angenommen werden, wenn Alternativen fehlen.

Zwischen Globalisierungskritischen Bewegungen und Sozialer Arbeit bestehen bislang keine Verbindungen, obwohl inhaltlich bezogen auf die Folgen der neolibe-ralen Globalisierung durchaus Anknüpfungspunkte existieren. Die Bewegungen sind derzeit scheinbar zu stark auf sozial- und entwicklungspolitische Zusammen-hänge konzentriert und nehmen Soziale Arbeit als potentielle Bündnispartnerin dabei nicht wahr. In verschiedenen Veröffentlichungen aus der Sozialen Arbeit wird zwar die Beschäftigung mit Globalisierung, seltener auch mit Globalisierungskriti-schen Bewegungen angemahnt, in der Profession scheint die Bedeutung dieser Prozesse für die Arbeit „vor Ort“ jedoch noch nicht hinreichend wahrgenommen zu werden.

Insofern gilt für die jetzige Situation, was C.W. Müller in Bezug auf die Neuen Sozialen Bewegungen vor einigen Jahren formulierte:

„Darum denke ich, dass Studentenbewegung, Sozialarbeiter-Bewegung, Jugend-zentrums-Bewegung, Bürgerinitiativ-Bewegung, Frauen-Bewegung, Selbsthilfe-Bewegung und Friedensbewegung für unsere Arbeit wichtige Lehren enthalten. Nicht in dem Sinne äffischer Nachahmung. Das würde uns sowieso nur lächerlich machen. Sondern in dem Sinne der Herstellung partieller Bündnisfähigkeit. Unter der Voraussetzung, dass wir sie ernst nehmen und akzeptieren, so wie wir gelernt haben, Menschen ernst zu nehmen und zu akzeptieren, die mit uns (oder mit de-

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nen wir) zusammen arbeiten wollen. Dann könnten wir durch das Studium der Studenten-Bewegung und der Sozialarbeiter-Bewegung lernen, die Funktionen unseres Berufes in der historischen Bewegung zunehmender sozialstaatlicher Interventionen neu (und realistisch) zu bestimmen. Dann könnten wir aus der Ju-gendzentrums-Bewegung lernen, den schöpferischen Kräften jüngerer Menschen mehr zuzutrauen als die freiwillige Teilnahme an einem gruppenpädagogischen Programm, dessen Inhalte beliebig sind. Dann könnten wir aus dem Studium fe-ministischer Gruppenarbeit lernen, wie Programme und Projekte heute aussehen, für die zu streiten, junge, anspruchsvolle Frauen gewonnen werden können. Dann könnten wir aus der Bürgerinitiativ-Bewegung lernen, dass Gemeinwesenarbeit zumindest von ihren aggressiven und provokativen Konzepten her keineswegs tot ist. [...] Dann könnten wir von der Friedensbewegung lernen, dass es unter an-gebbaren Umständen gelingen kann, eine neue Gruppenkultur zu entwickeln und Frauen wie Männer aller Altersgruppen ohne Mitgliedsbücher, ohne Vorstandsbe-schlüsse und ohne verordnete Uniformen, alles Trennende für einen gemeinsa-men Zweck [...] zu vereinen.“ (Müller 1997: 200-201, Hervorh.i.Orig.)

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Frauenbewegungen und Soziale Arbeit Leonie Wagner/Cornelia Wenzel

Einleitung ............................................................................................................................ 22 Gesellschaftspolitischer Hintergrund .............................................................................. 23 Die Entwicklung der Sozialen Arbeit im Kontext

der Alten Frauenbewegung ...................................................................................... 32 „Volkspflege“ – Soziale Arbeit im Nationalsozialismus ............................................... 51 Neue Frauenbewegung und Soziale Arbeit .................................................................... 53 Gesamteinschätzung .......................................................................................................... 65 Literatur ............................................................................................................................... 66

22 Leonie Wagner/Cornelia Wenzel

Einleitung Die Frauenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts haben in Deutschland ent-scheidend zur Entwicklung und Etablierung Sozialer Arbeit1 beigetragen. Dabei gilt es allerdings zwischen „Alter“ und „Neuer“ Frauenbewegung zu unterscheiden, da sowohl die Intentionen als auch die Umsetzungsstrategien grundverschieden waren. Unter Alter Frauenbewegung verstehen wir hier die Bürgerliche Frauenbewegung2 von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik; die Neue Frauenbewegung entstand in der Folge der Studentenbewegung nach 1968.

Das Ziel der Alten Frauenbewegung war, Frauen mit ihren spezifischen Fähig-keiten in gesellschaftliche Zusammenhänge einzubringen, Einflusssphären und Teilhabe zu vergrößern und damit zugleich harmonisierend auf soziale und politi-sche Konflikte einzuwirken. Die Neue Frauenbewegung hingegen verstand ihr Engagement dezidiert gegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse gerich-tet, keineswegs integrativ, sondern als Alternative zu den bestehenden Lebens- und Arbeitsformen. So wollten zwar beide Bewegungen „Gesellschaft verändern“, die einen jedoch eher „von innen“, die anderen hingegen Alternativen außerhalb der existierenden Gesellschaftsstrukturen umsetzen. Das hatte unterschiedliche Heran-gehensweisen zur Folge. Die Alte Frauenbewegung entwickelte und realisierte Kon-zepte zur Professionalisierung Sozialer Arbeit, besetzte neu geschaffene Positionen und versuchte dies zudem als Legitimation zur Durchsetzung staatsbürgerlicher Rechte zu nutzen. Die Neue Frauenbewegung wandte sich hingegen bestimmten Themen zu, die sie zunächst als politisch begriff, deren „sozialer Gehalt“ also nicht im Vordergrund stand. Sie wollte nicht Sozialarbeit machen, sondern Politik. Ob beim § 218, bei Gewalt gegen Frauen, der Hausarbeitsdebatte oder der Neudefiniti-on von Mädchenarbeit – am Anfang stand immer die Infragestellung patriarchaler gesellschaftlicher Normen und Regeln. Die bestehenden Verhältnisse wurden auf die politische Tagesordnung gesetzt, um ihre Veränderung zu erreichen. Wenn daraus im Laufe der Zeit zum Teil dann doch soziale Projekte wurden, so jedenfalls

1 Hinsichtlich der Bezeichnungen Sozialarbeit, soziale Arbeit, Soziale Arbeit, Sozialpä-

dagogik, Wohlfahrtspflege oder Fürsorge ergibt sich die Schwierigkeit, dass zu unter-schiedlichen historischen Zeitpunkten unterschiedliche Begriffe benutzt wurden, die zudem verschiedene Reichweiten haben. Sozialpädagogik spielte in der Frauenbewe-gung zudem eine untergeordnete Rolle und wurde maßgeblich vor allem im Zusam-menhang der Jugendbewegung entwickelt. Wir subsumieren insofern die wenigen sozi-alpädagogischen Ansätze der Alten Frauenbewegung ebenso wie andere historische Begrifflichkeiten unter den Begriff der Sozialen Arbeit.

2 Zur Sozialistischen Frauenbewegung vgl. Notz i.ds. Band.

Frauenbewegungen und Soziale Arbeit 23 solche, die zunächst zur Politisierung der Sozialarbeit in den 1970er und 1980er Jahren beitrugen.

Der „Bruch“ zwischen Alter und Neuer Frauenbewegung, die nicht vorhande-ne Traditionslinie, erklärt sich mit der Zäsur durch den Nationalsozialismus und dem gesellschaftlichen Wandel nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Jahre 1933 bis 1945 brachten für die Soziale Arbeit tiefgreifende Veränderungen, für die Frauen-bewegung das vorläufige Ende ihrer Existenz bzw. das Aufgehen in nationalsoziali-stischen Verbänden. Die Neuen Sozialen Bewegungen entstanden dann eher aus der Erfahrung des Bruchs und es sollte einige Zeit dauern, bis die Verbindungslinien und Kontinuitäten zu den alten Bewegungen entdeckt und erforscht wurden. Die „Frauenbewegungen“ haben insofern durchaus unterschiedliche, aber für den jewei-ligen historischen Kontext wichtige Impulse für die Entwicklung Sozialer Arbeit gegeben.

Wir betrachten diese Geschichte zunächst vor dem Hintergrund der gesell-schaftspolitischen Rahmenbedingungen (2) und gehen dann auf die Bedeutung der Alten Frauenbewegung für die Etablierung von Sozialarbeit als Frauenberuf ein (3). Die Entwicklung der Sozialarbeit im Nationalsozialismus wird anschließend kurz skizziert (4). Der 5. Teil ist den Impulsen der Neuen Frauenbewegung für die Sozia-le Arbeit gewidmet. Abschließend nehmen wir eine Gesamteinschätzung der Bedeu-tung der Frauenbewegungen für die Soziale Arbeit vor (6).

Gesellschaftspolitischer Hintergrund Das 19. Jahrhundert ist in Deutschland durch gesellschaftliche und soziale Umbrü-che gekennzeichnet: In diesen Zeitraum fiel die Industrialisierung, die u.a. Verstäd-terung und Proletarisierung nach sich zog. In diesem Prozess veränderte sich zwar zunächst nicht das Rollenbild, wohl aber die Lebensbedingungen für Frauen. Frau-en der entstehenden Arbeiterschicht arbeiteten in den industriellen Produktionsstät-ten, da aufgrund der schlechten Entlohnung das Einkommen des Mannes für die Versorgung der Familie nicht ausreichte; auch Kinderarbeit war keine Seltenheit. Bürgerliche Frauen wurden hingegen auf die Hausfrauen- und Mutterrolle be-schränkt, zugleich aber in der Organisation des Haushalts aufgrund der fortschrei-tenden Technisierung der Hausarbeit weit weniger gefordert als in vorindustriellen Zeiten. Alle Frauen waren von politischer Mitbestimmung und Beteiligung sowie von höherer Bildung und den meisten gehobenen Berufen ausgeschlossen (Müller 1999: 132).

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Die Vorläufer der organisierten Frauenbewegung (ab 1865) entstanden im Deutschen Reich in der Zeit der revolutionären Bestrebungen um 1848. Die Forde-rungen reichten von radikalen Ansprüchen, die eine vollständige Umwälzung des politischen Systems bzw. eine Neustrukturierung der Geschlechterverhältnisse verlangten bis hin zu moderaten Reformanliegen, die den Zugang zu Bildung und Ausbildung betrafen. Nach einem ersten Aufblühen verschiedener Aktivitäten wur-den diese Bestrebungen etwa 1850 im Zuge der allgemeinen staatlichen Restriktio-nen unterbunden. In Preußen, dem größten deutschen Staat, wurde Frauen 1850 die Mitgliedschaft in politischen Vereinen untersagt, bzw. gegen politische Vereine, in denen Frauen Mitglieder waren, eine Verbotsdrohung ausgesprochen. Dieses Verbot bezog sich neben der Vereinsmitgliedschaft auch auf die Veröffentlichung politi-scher Schriften und galt auch in einigen anderen deutschen Staaten bis 1908 (Ger-hard: 1990: 42ff).

In der politischen Landschaft fand eine Polarisierung zwischen (konservati-vem) Bürgertum und (sozialdemokratisch oder sozialistisch orientierter) Arbeiter-schaft statt. Parallel zum Zuwachs der Armutsprobleme veränderte sich aber auch die sozialpolitische Diskussion im Kontext des Entstehens bürgerlicher Gesell-schaftsstrukturen und den in der Aufklärung entwickelten Ideen menschlicher Selbsttätigkeit und Mündigkeit. Armut und Not erschienen nicht länger als gottge-wollt, sondern als gesellschaftliche Probleme, die sozial bedingt und insofern auch gestaltbar sein sollten. Mittel auf diesem Weg waren einerseits die Einführung ver-schiedener Sozialversicherungen, die an den Status der Erwerbstätigkeit gebunden waren (1884 Krankenversicherung und Unfallversicherung, 1889 Gesetz zur Invali-ditäts- und Altersversicherung). Andererseits wurden auch Bemühungen zu einer Reform der Armenfürsorge unternommen (Sachße/Tennstedt 1988: 18-19; Panko-ke 1970).

Armenfürsorge war in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg eine kommunale Aufgabe, die maßgeblich auf ehrenamtlicher Tätigkeit basierte. Vorbild für viele Städte war das 1853 in Elberfeld entwickelte System der Armenfürsorge. Für die offene Armenfürsorge (im Unterschied zur Anstaltsarmenpflege) sah dieses Modell eine Einteilung der Stadt in Quartiere vor, für die jeweils ein ehrenamtlicher Ar-menpfleger zuständig war, der selbst dort wohnte (Sachße 1994: 38). Da die Ausü-bung der Ehrenämter zunächst an den vollen Besitz der Bürgerrechte gebunden war, waren die Fürsorgeaufgaben bis etwa 1890 eine männliche Domäne (ebd.: 134). Mit dem gesellschaftlichen Wandel wurde das System der Armenpflege zu-nehmend untauglich. Die hohe Fluktuation und zunehmende Verelendung größerer Teile der Bevölkerung führten dazu, dass der Armenpfleger die sozialen Verhältnis-se der zu Unterstützenden nicht mehr genau kennen konnte. Durch die einsetzende

Frauenbewegungen und Soziale Arbeit 25 klassenspezifische Trennung der Wohnviertel konnte das auf Nachbarschaft beru-hende System der ehrenamtlichen Armenpflege nicht mehr greifen (ebd.: 41ff).

Eine systematische Neuordnung wurde im so genannten „Straßburger System“ vorgenommen. Hier wurde die Unverzichtbarkeit beruflicher, bezahlter Kräfte erkannt und Berufsarmenpfleger in das Fürsorgesystem integriert. Damit wurden auch fachliche Aspekte in der ehrenamtlichen sozialen Fürsorge stärker herausge-stellt (Müller 1999: 136f).

Gleichzeitig setzte eine Aufgabentrennung zwischen Bürokratie und Sozialar-beit ein, die auch fachlich-personell zum Ausdruck kam. Die administrativen Auf-gaben wurden von Verwaltungsbeamten ausgeführt. Daneben entstanden um 1900 im Bereich der fürsorgerischen Betreuung ehrenamtliche und bezahlte Stellen, die nun in immer stärkerem Umfang mit Frauen besetzt wurden. Durch diese Entwick-lung stieg die Frage nach fachlichen Qualifikationen der in der sozialen Fürsorge Tätigen (Sachße 1994: 135).

Parallel zu dieser Entwicklung begannen Diskussionen um die Ideologien und Intentionen in der sog. privaten Fürsorge, d.h. vor allem in der Wohlfahrtsarbeit der christlichen Kirchen und der jüdischen Gemeinden. Auch hier wurden die gesell-schaftlichen Ursachen sozialer Not wahrgenommen und die Notwendigkeit gese-hen, zur Vermeidung von Aufständen sachkundig und professionell zu reagieren. Sowohl in der öffentlichen wie in der privaten Fürsorge hatten Ende des 19. Jahr-hunderts zwei Überzeugungen Raum gewonnen: zum einen, dass es nicht ausreicht, mit gutem Willen und aus dem guten Herzen heraus zu helfen, sondern dass dafür Fachkenntnisse und also Ausbildungen nötig sind. Zum anderen war bis in die christlichen Kirchen hinein die Erkenntnis durchgedrungen, dass das Prinzip der Förderung zur Selbsthilfe nachhaltiger wirkt als die herkömmliche Almosenvertei-lung (ebd.: 75ff).

An dieser Entwicklung hatten Frauen entscheidenden Anteil, da sie es waren, die – wie z.B. Alice Salomon3 – die Diskrepanz zwischen der grenzenlosen Überlas-

3 Salomon, Alice, Dr. (1872-1948), ab 1893 Mitglied der soeben gegründeten „Mädchen-

und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“. Sechs Jahre später übernahm sie deren Leitung und wurde im Jahr 1900 als eines der jüngsten Mitglieder in den Vorstand des „Bundes Deutscher Frauenvereine“ gewählt. Salomon gilt als eine der bedeutendsten Protagonistinnen der Verbesserung der Ausbildung und der Praxis der Sozialen Arbeit sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene (u.a. Vorsitzende der von ihr initiierten „Internationalen Konferenz Sozialer Schulen“). 1933 wurde Alice Salomon ihrer nationalen Ämter enthoben und emigrierte 1938 in die USA. 1939 wurden ihr die Staatsbürgerschaft sowie ihre Doktortitel (1906 Dr. phil., 1932 Dr. med.h.c. der Berli-ner Friedrich-Wilhelms-Universität) aberkannt, die Aberkennung wurde erst 1998 wi-derrufen.

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tung der Arbeiterfrauen (und der damit einhergehenden Gefährdung des Familien-lebens) und dem erzwungenen Müßiggang bürgerlicher Frauen und Mädchen the-matisierten.

Einen zweiten Strang dieser Entwicklung stellten insofern die Forderungen nach weiblicher Emanzipation bzw. Beteiligung an gesellschaftlichen Aufgaben dar. Um 1865 hatten erneut Vereinsaktivitäten von Frauen eingesetzt, die auf eine Ver-änderung des Geschlechterverhältnisses zielten. Mit der Gründung des „Allgemei-nen Deutschen Frauenvereins“ (ADF) begann die „organisierte Phase“ der Bürger-lichen Frauenbewegung. In seinem Gründungsprogramm forderte der Verein das Recht auf Arbeit auch für Frauen und regte u.a. die Gründung von „Produktiv-Assoziationen“, Industrieschulen für Mädchen sowie den Zugang zur akademischen Bildung für Frauen an (Otto-Peters 1890: 10). Das Prinzip der Selbsthilfe sollte hier vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielen: Viel-fach wurden Schulen und Ausbildungsstätten in Eigenregie gegründet, um Mädchen oder Frauen überhaupt erst für weitergehende Bildungsabschlüsse oder für be-stimmte Berufe zu qualifizieren. So gab es beispielsweise erst ab 1893 (private) Mädchenschulen, die zum Abitur führten (Schüler 2004: 188).

In den Bildungsbestrebungen ging es den Vertreterinnen der Bürgerlichen Frauenbewegung vor allem um die Etablierung „weiblicher“ Bereiche und Berufe. Ein Feld, das sich hier als besonders günstig anbot, war die gerade entstehende professionell ausgeführte Soziale Arbeit. Die Forderung nach dem weiblichen Stimmrecht im politischen Bereich wurde hingegen zunächst nur vereinzelt gestellt und war Auslöser für heftige Debatten. Während der „gemäßigte Flügel“ der Bewe-gung das Stimmrecht durch die Übernahme von Pflichten quasi „erdienen“ wollte, sahen die „Radikalen“ die vollen politischen Beteiligungsrechte von Frauen als Voraussetzung für deren Engagement an.4

Neben den Vereinen der Bürgerlichen Frauenbewegung, zu denen auch die konfessionellen Frauenverbände zu rechnen sind5, bestand in Einzelfällen eine

4 Die Unterscheidung zwischen „Gemäßigten“ und „Radikalen“ ist nicht immer stim-

mig, da einzelne Frauen in bestimmten Fragen der einen, in anderen wiederum der an-deren Richtung zuzuordnen sind (Weller 2001; Bock 1999).

5 Das sind: der „Deutsche Evangelische Frauenbund“ (DEF – gegr. 1899), der „Katho-lische Deutsche Frauenbund“ (KDFB – gegr. 1903) und der „Jüdische Frauenbund“ (JFB – gegr. 1904). Wir zählen diese Verbände zur Frauenbewegung, obwohl sie sich in ihren Zuordnungen nicht immer eindeutig bzw. sogar ablehnend gegenüber den or-ganisatorischen Zusammenhängen der Bürgerlichen Frauenbewegung positionierten. Der DEF war zeitweise (1910-1918) Mitglied im Dachverband BDF, der KDFB nie, verstand sich aber als „Frauenbewegung in der Kirche“, der JFB hingegen war seit sei-ner Gründung 1904 bis zur Auflösung des Dachverbandes 1933 Mitglied im BDF.

Frauenbewegungen und Soziale Arbeit 27 lockere Verbindung zu Arbeiterinnenvereinen. Grundsätzlich aber grenzte sich z.B. der Dachverband der Bürgerlichen Frauenbewegung („Bund Deutscher Frauenver-eine“ – BDF) von den Vereinen der Arbeiterinnen ab. Befürchtet wurde bei einer Kooperation, dass die Bürgerliche Frauenbewegung mit den Zielen der „Sozialde-mokratischen Partei Deutschland“ (SPD) identifiziert und damit nach dem Preußi-schen Vereinsrecht als „politisch“ verboten werden könnte. Das änderte sich im Ersten Weltkrieg, als sich an der Organisation des „Nationalen Frauendienstes“ zur Aufrechterhaltung der „Heimatfront“ auch sozialdemokratische Frauen in großer Zahl beteiligten.

Mit der Etablierung der Weimarer Republik wurde ab 1918 der Wohlfahrts-staat neu organisiert. Die SPD reagierte darauf mit der Gründung der „Arbeiter-wohlfahrt“ (AWO) als „Selbsthilfe der Arbeiterbewegung“; die AWO entwickelte sich seither zum zentralen sozialpolitischen Betätigungsfeld sozialdemokratischer Frauen, allerdings immer sehr viel enger angelehnt an die Partei als an die Frauen-bewegung (vgl. Notz i.ds. Band).

1908 war ein entscheidendes Jahr für Frauen und die Frauenbewegung in Deutschland. In diesem Jahr wurden die Frauen betreffenden Verbote des Preußi-schen Vereinsgesetzes aufgehoben und mit der Preußischen Mädchenschulreform der Zugang von Mädchen zur höheren Schulbildung geregelt (Gerhard 1990: 280). Damit wurden einige der zunächst in Selbsthilfe gegründeten Schulen bzw. Ausbil-dungen in das staatliche Bildungssystem überführt und staatlich anerkannt. Ab 1908 wurde es zudem möglich, höhere Fachschulen für Mädchen und Frauen zu grün-den, was u.a. zur Einrichtung der „Sozialen Frauenschulen“ führte. Zudem gestatte-te Preußen als eines der letzten deutschen Länder Frauen den Zugang zu den Uni-versitäten6.

Der Erste Weltkrieg gilt als einschneidende Zäsur in die soziale Lage der deut-schen Bevölkerung und als Beschleuniger der Entwicklung der sozialen Berufe in Deutschland. Während des Krieges und in den nachfolgenden Wirtschaftskrisen erweiterte sich der Personenkreis, der auf öffentliche Unterstützung zum Lebensun-terhalt angewiesen war. Dabei handelte es sich zum einen um die Kriegsversehrten und -hinterbliebenen; zum anderen verarmten aufgrund der wirtschaftlichen Situa-tion (beispielsweise durch den Fortfall der Vermögen) Teile des Bürgertums, die zuvor nicht zum Kreis der Unterstützungsbedürftigen gehörten. Gleichzeitig ver-schlechterte sich die soziale Lage der Arbeiterschaft weiter. Mit der dadurch not-wendig gewordenen Ausweitung und Differenzierung der öffentlichen Fürsorge wuchs auch der Bedarf an ausgebildeten Kräften in der Sozialen Arbeit. 6 Die Zulassung zu den Universitäten erfolgte in den deutschen Ländern nach und nach;

sie begann 1901 mit Baden und war 1909 mit Mecklenburg formal abgeschlossen.

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Diese neuen Stellen konnten Frauen besetzen, da Männer aufgrund des Krie-ges andere Aufgaben wahrnahmen. Hinzu kam aber, dass sie durch die ab 1893 in Selbsthilfe eingerichteten Kurse und die ab 1908 gegründeten Sozialen Frauenschu-len auch eine Ausbildung vorweisen konnten (Schüler 2004: 265).

Am 8. August 1914 und damit nur eine Woche nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurde der „Nationale Frauendienst“ durch die Bürgerliche Frauenbewe-gung ins Leben gerufen. Er diente der Koordination der weiblichen Aktivitäten an der „Heimatfront“ und legte bereits am Tage der militärischen Mobilmachung ein Konzept für die Fürsorgearbeit während des Krieges vor (ebd.: 266). Durch die „Bewährung an der Heimatfront“ sollte nochmals die Forderung nach den vollen staatsbürgerlichen Rechten unterstrichen werden. Die gemäßigte Bürgerliche Frau-enbewegung begründete diese Forderung explizit mit dem Hinweis auf die Soziale Arbeit von Frauen während des Krieges (ebd.: 272).

In der Weimarer Republik veränderte sich das Geschlechterverhältnis in Deutschland in einigen Bereichen deutlich. Erwerbstätigkeit von Frauen war nicht mehr vorwiegend auf die Unterschicht beschränkt, die ökonomische Situation des Bürgertums und nicht zuletzt die Erfolge der Frauenbewegung in der Verbesserung der Mädchen- und Frauenbildung führten zu einer Ausweitung des Berufsspek-trums auch im Bürgertum. In der Verfassung der Weimarer Republik von 1919 wurde Frauen das aktive und passive Wahlrecht zuerkannt. Wesentliche Ziele der Frauenbewegung schienen erfüllt. Damit setzte die langsame Auflösung der Bürger-lichen Frauenbewegung ein, wobei „Bewegungsreste“ in Form von Organisationen auch weiterhin bestanden. Doch fehlte der Bewegung z.B. der Nachwuchs jüngerer Frauen, einige Protagonistinnen wechselten in Politik oder Verwaltung, in der So-zialen Arbeit setzte eine Professionalisierung ein, die eine langsame Ablösung aus den Zusammenhängen der Frauenbewegung zur Folge hatte.

Die kommunale Fürsorge wurde qualitativ und quantitativ ausgebaut und ge-setzlich geregelt, was zu einem weiteren Anstieg der Nachfrage nach geschulten ehrenamtlichen und bezahlten Fürsorgerinnen führte. Ausdruck des staatlichen Interesses an der Sozialen Arbeit war auch die Prüfungsordnung für Soziale Frauen-schulen, deren erste Fassung 1918 in Preußen entwickelt wurde und die 1920 in veränderter Form in Kraft trat.

Gleichzeitig etablierte sich in der Weimarer Republik eine Strömung, die mit den liberalen und demokratischen Zielen, der die Frauenbewegung bis dahin ver-schrieben war, nicht viel gemeinsam hatte: Zunehmend entstanden Zusammen-schlüsse auf der rechten Seite des politischen Spektrums, die spezifische Ideen von Frauenemanzipation verfolgten, die u.a. darauf hinausliefen, Frauen aus den gerade erst erkämpften Bereichen wieder zu entfernen.

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Die NS-Frauenorganisationen, die 1933 im außerparlamentarischen Bereich für die weiblichen Belange zuständig wurden, waren um die Mitte der 1920er Jahre mit dem Anspruch entstanden, eine „neue“ Frauenbewegung zu sein. Damit wurde zum einen das Selbstverständnis als „Bewegung“ artikuliert, zugleich aber eine deut-liche Abgrenzung gegenüber der „alten“ Frauenbewegung vorgenommen. Kritisiert wurde sowohl an der Bürgerlichen als auch an der Proletarischen Frauenbewegung vor allem deren angeblicher Anspruch auf „Gleichheit“: „Das typische Kennzei-chen der alten Frauenbewegung war die Gleichmacherei. Es wurde gleiche Arbeits- und Lebensweise mit dem Manne angestrebt.“ (Siber 1933: 8) Mit der Abgrenzung gegen die „alte“ Frauenbewegung versuchten die führenden Nationalsozialistinnen einen eigenen Raum zu entwerfen. Dieser basierte auf der Anerkennung der Ge-schlechterdifferenz, die den weiblichen Bereich dem männlichen zwar „gleichwer-tig“ zur Seite stellt, aber eine Ordnung akzeptierte, die Frauen keine Mitbestim-mungsrechte an Entscheidungen einräumte, die alle gemeinsam betreffen. Zustän-dig sollten Frauen ausschließlich für ihren geschlechtseigenen Bereich sein. In dem Ansinnen, eine homogene „Frauen-Gemeinschaft“ herzustellen, die als Teil der „Volksgemeinschaft“ deren Ordnungsprinzipien einschließt, benutzten die NS-Füh-rerinnen zudem rassistische Ausgrenzungen, um ihre eigene Gruppe zu bestimmen (Wagner 1996: 27ff).

Als der „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“ (NSDAP) 1933 die Regierungsgewalt im Deutschen Reich übertragen wurde, lösten sich die Organisa-tionen der Bürgerlichen Frauenbewegung zum Teil selbst auf oder gingen in NS-Organisationen über. Einen tatsächlichen Bruch bedeutete der Nationalsozialismus vor allem für die jüdischen Mitglieder, für die Sozialdemokratische und Sozialisti-sche Frauenbewegung und für die Hauptakteurinnen der Bürgerlichen Frauenbewe-gung. Andere konnten sich z.T. in die NS-Organisationen einpassen. Die Fürsorge oder Wohlfahrtspflege wurde unter rassistischen und biologisch orientierten Maß-gaben umgestaltet. Viele der Sozialen Frauenschulen wurden zu nationalsozialisti-schen „Frauenschulen für Volkspflege“, wenn sie es nicht vorzogen, ihren Betrieb einzustellen oder sich, wie ein Teil der evangelischen und katholischen Schulen, (wieder) auf rein innerkirchliche Ausbildungen zu beschränken (Amthor 2005).

1945, das Jahr des Endes der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutsch-land, bedeutete in dieser Hinsicht eine Neuformierung. Angeknüpft wurde von Seiten der Frauen zwar an die demokratischen Traditionen der Weimarer Republik, doch aufgrund der Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen ging die Entwick-lung schnell in unterschiedliche Richtungen. In den Westzonen versuchten die Frauen über die „Frauenausschüsse“ Einfluss auf den Aufbau eines demokratischen Staatswesens zu nehmen, in dem Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen

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gleichberechtigt sein sollten. 1947 fanden sich im „Deutschen Frauenring“ die wie-der- oder neu gegründeten Organisationen zusammen. Daneben etablierte sich eine Frauenfriedensbewegung, die aus der Erfahrung von Nationalsozialismus und Krieg die Schlussfolgerung ableitete, dass gerade Frauen und Mütter in besonderer Weise dem Einsatz für das friedliche Zusammenleben der Völker verpflichtet seien7. Diese Frauenfriedensbewegung wurde allerdings nach der vehement, aber erfolglos be-kämpften Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Westdeutschland 1957 relativ bedeutungslos. Ein über die bestehenden Organisationen, die die Alte Frauenbewe-gung gebildet hatten, hinaus gehender und damit im eigentlichen Sinne als Bewe-gung zu verstehender Feminismus setzte in der Bundesrepublik erst Ende der 1960er Jahre wieder ein, zu einer Zeit, in der insgesamt die „Neuen Sozialen Bewe-gungen“ entstanden.

War die Alte Frauenbewegung durch einen hohen Grad an Institutionalisie-rung gekennzeichnet, so wurde dies von der Neuen Frauenbewegung gerade abge-lehnt. Sie formierte sich in Gestalt loser Netzwerke. Auch die Orientierung auf den Staat als Adressaten frauenpolitischer Forderungen unterscheidet Alte und Neue Frauenbewegung: Die Neue Frauenbewegung verstand sich in weiten Teilen als autonome, d.h. auf ihre Unabhängigkeit bedachte Bewegung. Forderungen nach frauenpolitischen Veränderungen wurden zwar an den Staat gerichtet, eine direkte Mitwirkung z.B. in Ministerien aber weitgehend abgelehnt. Der Neuen Frauenbe-wegung ging es eher um den Aufbau einer „Gegenkultur“ in Form von Projekten, mit denen unterschiedliche Themen und Bedürfnisse „bearbeitet“ wurden und um eine Bewusstseinsveränderung, die sich dann auf die gesamte Gesellschaft übertra-gen sollte (Nave-Herz 1993: 88).

In der Bundesrepublik wurden die sozialen Sicherungssysteme, deren Ur-sprung in Kaiserreich und Weimarer Republik zu finden sind, weiter ausgebaut und verstärkt. In den Jahren des Wirtschaftswachstums und der ökonomischen Stabilität – und nicht zuletzt mit Blick auf die „Systemkonkurrenz“ des Kalten Krieges – entspannten sich insofern die „Klassengegensätze“ bzw. nivellierte sich die Gesell-schaftsstruktur hin zu einer Stärkung der Mittelschichten (Pankoke 2006: 260).

Soziale Arbeit war in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 zunächst da-durch gekennzeichnet, dass real vorhandene Notsituationen bewältigt werden muss-ten. Integration war das Schlüsselwort dieser Jahre. In der Sozialen Arbeit bedeutete dies, die KlientInnen an die gesellschaftlichen Vorstellungen von Normalität mög-

7 Wesentliche Organisationen der Frauenfriedensbewegung waren die Deutschen Sek-

tionen der „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“ (IFFF) der „World Organisation of Mothers of all Nations“ (WOMAN) und die „Westdeutsche Frauen-friedensbewegung“.

Frauenbewegungen und Soziale Arbeit 31 lichst weitgehend anzupassen. Mit dem Entstehen der Neuen Sozialen Bewegungen wurde in Teilen der Sozialen Arbeit das Konzept der Integration aufgegeben und stattdessen der Blick auf die aus dem System Ausgegrenzten gelenkt. Das bedeutete auch, dass die Idee der Lösung sozialer Probleme durch individuelle Hilfe und Ver-änderung um einen stärker politisch motivierten Standpunkt ergänzt wurde, bei dem die Veränderung der Gesellschaft und ihrer Strukturen ins Zentrum rückten. Gleichzeitig wurden durch den Einfluss vor allem aus den USA und Großbritan-nien neuere Methoden und Konzepte (Gruppen- und Gemeinwesenarbeit) einge-führt. Die Projekte der Neuen Frauenbewegung im Bereich der Sozialen Arbeit verfolgten insofern nicht nur einen individuellen Hilfeansatz, sondern verstanden sich als politische Initiativen, die durch Öffentlichkeitsarbeit und Forderungen an Staat und Gesellschaft zur Bewusstseins- und Strukturveränderung beitragen soll-ten.

Neu- oder Wiedergründungen von Ausbildungsstätten nach 1945 fanden in der Regel nicht mehr als Soziale Frauenschulen, sondern mit einem koedukativen Konzept als Fachschulen, später Höhere Fachschulen für soziale Arbeit statt. In den 1970er Jahren erfolgte die allmähliche Überführung in Fachhochschulen, Ge-samthochschulen und gelegentlich Universitäten (Kruse 2007).

In der „Deutschen Demokratischen Republik“ (DDR) verlief diese Entwick-lung anders. In der Sowjetischen Besatzungszone etablierte sich ab 1947 der „De-mokratische Frauenbund“, der mit der Gründung der DDR zur staatlichen Mas-senorganisation wurde. Erst etwa seit Mitte der 1980er Jahre kann vom Entstehen Sozialer Bewegungen und auch dem Beginn einer Frauenbewegung gesprochen werden. Im Unterschied zu Westdeutschland wurde im Zuge der Wende mit dem „Unabhängigen Frauenverband“ (gegründet 1990) sehr schnell eine Dachorganisa-tion geschaffen, die eine institutionelle Vertretung wahrnehmen sollte (Hampele 1991). Mit der Auflösung bzw. der Transformation der Bürgerbewegungen nach der Vereinigung ging diese Bewegung langsam in verschiedenen Projekten auf (vgl. Nöthling i.ds. Band).

Über den Stand und insbesondere die Perspektiven der Frauenbewegung in Deutschland gibt es derzeit äußerst divergierende Ansichten. Etwa seit den 1990er Jahren ist einerseits von einer „Atempause“ (Gerhard 1996), vom „Backlash“ (Jan-sen 1995) oder auch von der Diffundierung der frauenbewegten Themen in allge-meine Zusammenhänge (Kontos 1995) die Rede. Insbesondere durch die interna-tionalen Weltfrauenkonferenzen und vereinzelt aufgrund von Inszenierungen in den Medien wird vom Entstehen eines „Neuen Feminismus“ (Faller 2007; Feministi-sche Studien 2008) gesprochen, der jedoch bislang nicht den Charakter einer Sozia-len Bewegung angenommen hat.