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1 Lernen Sie William Shakespeare kennen In diesem Kapitel William Shakespeare, Wahrheit und Dichtung Ein Blick auf Shakespeares Stücke als Unterhaltung, nicht als Literatur V or etwa 400 Jahren machte ein Schauspieler aus der Kleinstadt in den Theatern von Lon- don Karriere. Seine Stücke waren populär, und er verdiente sich seinen Anteil an Ruhm und Geld. Aber dass er als einer der größten Meister der englischen Literatur Unsterblichkeit erlangen würde, das vermuteten weder er noch seine Kollegen. Schließlich schrieb er ja keine Literatur, sondern nur »Pop«-Unterhaltung. William Shakespeare tat nur seine Arbeit – als Schauspieler, Regisseur, Schriftsteller und als Teilhaber einer erfolgreichen Theatertruppe. Abbildung 1.1: William Shakespeare – ein Holzschnitt aus der First Folio, der ersten Sammlung seiner Werke, die im Druck erschien Es zeigte sich, dass Shakespeare seinen Job gut machte. Wirklich gut. So gut, dass er das Drama total veränderte und dass wir seine Stücke – 400 Jahre später – immer noch zu den besten zählen, die je geschrieben wurden. Shakespeare ist außerdem der überhaupt am meis- ten in Forschung und Lehre behandelte Stückeschreiber. Ein Buch nach dem anderen hat sein Leben und sein Geistesleben analysiert und darüber hinaus wahrscheinlich noch eine ganze Menge anderer Dinge, die Sie absolut nicht interessieren werden. 27

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1Lernen Sie William Shakespeare kennenIn diesem Kapitel▶ William Shakespeare, Wahrheit und Dichtung

▶ Ein Blick auf Shakespeares Stücke als Unterhaltung, nicht als Literatur

V or etwa 400 Jahren machte ein Schauspieler aus der Kleinstadt in den Theatern von Lon-don Karriere. Seine Stücke waren populär, und er verdiente sich seinen Anteil an Ruhm

und Geld. Aber dass er als einer der größten Meister der englischen Literatur Unsterblichkeiterlangen würde, das vermuteten weder er noch seine Kollegen. Schließlich schrieb er ja keineLiteratur, sondern nur »Pop«-Unterhaltung. William Shakespeare tat nur seine Arbeit – alsSchauspieler, Regisseur, Schriftsteller und als Teilhaber einer erfolgreichen Theatertruppe.

Abbildung 1.1: William Shakespeare – ein Holzschnitt aus der First Folio,der ersten Sammlung seiner Werke, die im Druck erschien

Es zeigte sich, dass Shakespeare seinen Job gut machte. Wirklich gut. So gut, dass er dasDrama total veränderte und dass wir seine Stücke – 400 Jahre später – immer noch zu denbesten zählen, die je geschrieben wurden. Shakespeare ist außerdem der überhaupt am meis-ten in Forschung und Lehre behandelte Stückeschreiber. Ein Buch nach dem anderen hatsein Leben und sein Geistesleben analysiert und darüber hinaus wahrscheinlich noch eineganze Menge anderer Dinge, die Sie absolut nicht interessieren werden.

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Es macht riesigen Spaß, Shakespeares Stücke zu sehen, zu lesen und auch sie aufzuführen.Manchmal geht der Spaß über der pedantischen Analyse Shakespeares und seiner Stücke ver-loren. Aber lassen Sie’s sich nicht durch die Akademiker vermiesen. Sehen Sie seine Stückemal aus einer anderen Perspektive: Vergessen Sie die Analyse, und konzentrieren Sie sichstattdessen darauf, Spaß zu haben.

Das Hollywood von dazumalEs ist dunkel. Der Mörder sitzt unvorsichtigerweise mit dem Rücken zur Tür. Der Heldkommt vorbei und sieht den Mörder – das ist seine Chance, den ruchlosen und widernatürli-chen Mord an seinem Vater zu rächen. Während der Held sich anschleicht, hält das Publikumden Atem an und wartet darauf, was als Nächstes geschehen wird. Wird sich der Mörder um-drehen? Wird dem Helden seine Rache gelingen?

Ist das eine Szene aus dem neuesten Hollywood-Thriller?

Junge und Mädchen stammen aus verschiedenen Familien, zwischen ihnen liegen Welten. Erist dazu bestimmt, zu führen, sie, zu folgen. Ihr Vater verbietet ihr, sich mit ihrem Geliebtenzu treffen, aber das ist schon in Ordnung, denn schließlich wird der sowieso verrückt. In sei-nem Wahnsinn tötet er ihren Vater, was nun sie in den Wahnsinn treibt und schließlich zumSelbstmord. Ihr Bruder kommt aus Frankreich zurück und verlangt Gerechtigkeit.

Ist das aus einer Seifenoper?

Die Antwort auf beide Fragen lautet »Ja«. Aber die Szenen stammen auch aus einem Stück,das vor 400 Jahren geschrieben wurde – Hamlet, Prince of Denmark. Die Geschichte einesjungen Mannes (natürlich heißt er Hamlet) und einiger wahrhaftig verrückter Vorkommnissein Dänemark. Über das Stück können Sie mehr in Kapitel 15 lesen.

Shakespeares Stücke sind voller Liebender und Recken, Helden und Bösewichte, es gibt sogareine böse Stiefmutter – alles Zutaten für den Kassenschlager. Seine Stücke wurden zu seinerZeit schnell zu Rennern, und sie sind seither immer populär geblieben.

Shakespeare: Der MenschWilliam Shakespeare wuchs in dem kleinen Ort Stratford auf, an den Ufern des Avon. Aber da-rüber hinaus wissen wir nicht viel über seine ersten Jahre. Wir wissen nicht einmal, wann ergeboren wurde – nur, dass er am 26. April 1564 getauft wurde. Wahrscheinlich war er ein paarTage vorher geboren worden. Heute nehmen wir der Einfachheit halber an, dass er am 23.April geboren wurde. Und zwar aus dem etwas makabren Grund, dass er im Jahr 1616 an die-sem Tag starb.

William war das dritte von acht Kindern seines Vaters John Shakespeare und seiner MutterMary Arden. Drei seiner Geschwister starben im Kindesalter – ein allzu normales Schicksal zujener Zeit. Über Williams Kindheit wissen wir nahezu gar nichts, aber wir wissen, dass er imNovember 1582 die um acht Jahre ältere Anne Hathaway heiratete. Ihr gemeinsames KindSusanna tauften sie am 26. Mai 1583. Rechnen können Sie selbst.

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Anne bekam später Zwillinge, ein Mädchen namens Judith und einen Jungen namens Ham-net. Beide wurden nach Freunden der Familie genannt. Danach verschwindet William wiederaus den Geschichtsbüchern. Lebte er weiter in Stratford? Zog er nach London? Wir wissen eseinfach nicht. Alles, was wir wissen, ist, dass er sieben Jahre später, im Jahr 1592, in Londonauftauchte, wo er als Schauspieler und Stückeschreiber lebte. E-Mail hatte man noch nichterfunden, und so war London der Ort, wo sich jeder aufstrebende Stückeschreiber aufhaltenmusste – denn dort waren die Theater. Er war erfolgreich genug, um die Aufmerksamkeit undden Zorn eines konkurrierenden Dramatikers, Robert Greene, auf sich zu lenken, der Shakes-peare eine »dahergelaufene Krähe (an upstart crow)« nannte.

Aber nicht alle waren so neidisch auf Shakespeares Erfolg. Die meisten seiner Zeitgenossenerkannten sein Genie. In einem Gedicht, das der First Folio, der ersten gedruckten Sammlungvon Shakespeares Werken (im Folioformat), vorangestellt wurde, schrieb Ben Jonson, selbstein anerkannter Dramatiker:

Thou art a Monument without a tomb,And art alive still while thy Book doth live,And we have wits to read, and praise to give....He was not of an age, but for all time!

(Du bist ein Denkmal ohne Gruft, und bist lebendig, solange dieses Buch noch lebt,und wir den Verstand haben, lesen und loben zu können. ... Er gehörte nicht einer Zeitan, sondern ist ewig!)

Schauspielen, schreiben und Regie führen reichte dazu aus, die Rechnungen zu bezahlen.Aber damals wie heute sammelte sich der Reichtum bei dem an, der etwas zu sagen hatte.Shakespeare verdiente nicht viel Geld damit, Stücke zu schreiben. Vielmehr verdiente er anseinem Anteil der Karteneinnahmen. Er war Teilhaber einer Schauspieltruppe und des Thea-ters, in dem diese Truppe aufführte: des Globe Theatre.

Shakespeares Stücke im Globe Theatre waren so populär, dass er ein reicher Mann wurde.Pflichtbewusst schickte Shakespeare Geld nach Stratford, aber über sein Verhältnis zu seinerFamilie wissen wir nur wenig.

Er kaufte eines der größten Häuser in Stratford, wo er und seine Familie schließlich lebten,bis seine Töchter heirateten und auszogen. Er investierte in Immobilien um Stratford herum.Er erwarb sich sogar hohe Ehren in Gestalt eines Wappens. Nicht schlecht für den Sohn einesHandschuhmachers.

Hamnet starb im Kindesalter, aber Shakespeares Töchter wurden groß und bekamen selberKinder (Judiths Kinder starben früh). Susannas einziges Kind, Elizabeth, war die letzte Nach-fahrin Shakespeares.

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Shakespeare: Der MythosDa wir so wenig über die wahre Geschichte William Shakespeares wissen, sind eine Menge Ge-schichten um sein Leben entstanden. Der hartnäckigste Mythos ist der, dass Shakespeare dieunter seinem Namen verfassten Stücke nicht selbst geschrieben habe. Ein anderes interessan-tes Märchen besagt, dass Shakespeare an der King James Bible mitarbeitete.

Wo ist der echte William Shakespeare?Es gibt einige Leute, die behaupten, dass Shakespeare seine Stücke nicht wirklich selbst ge-schrieben habe. Stattdessen, so sagen sie, habe irgendjemand anderes die Stücke verfasst, unddiese mysteriöse Person wollte oder musste anonym bleiben. Niemand kann diese Behauptun-gen beweisen, und verschiedene Leute schlagen verschiedene mysteriöse Kandidaten für den»wirklichen« William Shakespeare vor. Die meisten ihrer Argumente sind sich aber ähnlich:

✔ Shakespeares Bildung war nicht besonders umfassend. Somit hätte er keine so ausge-zeichnete Beherrschung des Englischen haben können. Deshalb muss jemand mit einerhöheren Bildung seine Stücke geschrieben haben.

✔ Shakespeare kam nicht herum und hatte nichts von der Welt gesehen. Somit hätte erkeine Stücke schreiben können, in denen so unterschiedliche Orte wie Ägypten, Syrakusund Italien vorkommen.

✔ Shakespeare konnte kaum Fremdsprachen. Somit hätte er keine Stücke schreiben kön-nen, die Passagen in Latein und Französisch enthalten.

✔ Die Stücke malen oft vertrauliche Details aus dem Leben von Königen und Königinnenaus – eine Welt, von der der »bürgerliche« Shakespeare nichts wissen konnte.

Die meistgenannten Anwärter auf Shakespeares Thron sind Francis Bacon, Edward de Vere,der 17. Earl of Oxford, und Christopher Marlowe – obwohl die vollständige Liste der Kandida-ten recht lang ist und unter anderem so abwegige Namen enthält wie den von Königin Eliza-beth I. und von Anne Hathaway, Shakespeares Frau. Sehen Sie sich doch mal eben einige derFakten an.

Der Earl of Oxford starb im Jahr 1604. Einige der besten Stücke Shakespeares wurden abererst danach geschrieben. The Tempest etwa schrieb Shakespeare erst 1611. Um dieses Pro-blem zu erklären, müssen Sie schon mit einigen verschlungenen Ausführungen aufwarten.

Christopher Marlowe war ebenfalls ein ausgezeichneter Stückeschreiber. Aber er wurde schon1593 getötet, noch bevor Shakespeare die meisten seiner Stücke geschrieben hatte. Wenn Sienicht glauben wollen, dass der Earl of Oxford die Stücke geschrieben hat, dann können Sieauch Marlowe nicht als Autor anerkennen.

Es bleibt Francis Bacon übrig, der ein Vielschreiber war. Sein Stil unterscheidet sich von demShakespeares, und es gibt keinerlei Anlass, zu glauben, dass er irgendwelche Stücke unterdem Pseudonym »Shakespeare« geschrieben hätte.

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Berücksichtigen Sie noch folgende Fakten. Wir kennen nicht alle Einzelheiten von Shakes-peares Leben, doch ist es in der Tat unwahrscheinlich, dass er jemals Italien besucht hat, dasden Hintergrund für viele seiner Stücke abgibt. Deshalb hat er auch niemals die mitten imLandesinneren gelegene Stadt Mailand gesehen, und er hat nie erfahren, welchen Fehler erbeging, als er Prosperos Zeilen schrieb, in denen er beschreibt, wie dieser und seine TochterMiranda eines Nachts entführt wurden:

... they hurried us aboard a bark,Bore us some leagues to sea; where they preparedA rotten carcass of a butt, not rigg’d,Nor tackle, sail, nor mast; the very ratsInstinctively have quit it: there they hoist us,To cry to th’ sea that roar’d to us; to sighTo th’ winds, whose pity, sighing back again,Did us but loving wrong. (The Tempest 1.2.144-51)

... sie verschleppten uns auf eine BarkeUnd dann einige Meilen auf die See.Dort nahmen sie ein faulendes Aas von Waschtrog,Kein Takelwerk, kein Mast, kein Segel mehr,Die Ratten selbst hatten es schon verlassen;Drin setzten sie uns aus, dass wir der SeeDie uns umbrüllte, unsre Leiden klagten,Den Winden, deren Mitleid uns umseufzte,Und die uns liebend wehtaten. (Fried, III, 577-78)

Mailand ist weit entfernt von der See, von einem großen Fluss oder von irgendeinem Ort, andem eine Barke anlegen könnte. Aber das hat Shakespeare nicht gestört. Er wusste, dass diePoesie des Augenblicks wichtiger war als eine genaue Wiedergabe der geografischen Details.

In ähnlicher Weise wäre es einem gebildeten Gentleman durchaus bekannt, dass Kirchenglo-cken eine Erfindung des Mittelalters waren. Trotzdem lässt Shakespeare im alten Rom Glo-cken erklingen.

No funeral rite, nor man in mourning weed,No mournful bell shall ring her burial. (Titus Andronicus, 5.3.195-96)

[Tamora] soll weder Grab noch Totenklage haben,Und keine Trauerglocke soll ihr läuten. (Fried, I, 149)

Shakespeares Stücke sind gespickt mit solchen Ungenauigkeiten. Diese kleinen Patzer beein-trächtigen die Stücke aber nicht, und wahrscheinlich fallen Ihnen die meisten gar nicht erstauf. Aber sie enthüllen einen Autor, dem die Universitätsbildung abgeht. Um es anders auszu-drücken, sie teilen uns mit, dass William Shakespeare und nicht etwa Francis Bacon oder derEarl of Oxford diese Stücke schrieb. Einige wenige Leute wird man niemals davon überzeugenkönnen, dass William Shakespeare aus Stratford-upon-Avon die ihm zugeschriebenen Stückeverfasste. Aber schließlich gibt es auch Leute, die glauben, dass die Erde eine Scheibe ist.

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Wenn es bewiesene Sache wäre, dass tausend Affen, die willkürlich mit Federn herumkratz-ten, zufällig die Werke Shakespeares hervorgebracht hätten, dann wäre das ein Wunder. Aberauch ein solches Wunder könnte die Qualität der Stücke in keiner Weise beeinträchtigen.Nach wie vor wären es Meisterwerke der Literatur und der Unterhaltung. Wenn Sie sich inIhrem Theatersessel zurechtsetzen und in King Henry V die Armeen Frankreichs und Eng-lands über die Bühne marschieren sehen, dann können Sie sich an den Figuren und der Span-nung erfeuen, aber auch an dem sicheren Wissen darum, dass William Shakespeare, der Bardeaus Stratford-upon-Avon, das literarische Genie war, das seine eigenen Stücke verfasste.

Shakespeare als Bibelexperte?Shakespeare war ein Meister der englischen Sprache – keine Frage. König James I. ordnete an,dass eine neue Version der Bibel in der englischen Alltagssprache geschrieben werde, auf dassein jeder sie lesen und verstehen könne. Irgendwie hat jemand diese beiden Tatsachen durch-einandergebracht und kam zu der bemerkenswerten Schlussfolgerung, dass Shakespeare ander King James Bible beteiligt gewesen sein müsse.

Dieses abwegige Gerücht lohnt fast nicht, sich die Zeit zu nehmen, es zu widerlegen. Dennochhält es sich hier und da ganz hartnäckig. Heute halten wir Shakespeare für einen Meister derenglischen Sprache, aber zu seiner Zeit war er nichts weiter als ein Schauspieler und ein Stü-ckeschreiber. Seien Sie versichert, dass König Jakob bei keinem Entertainer anfragte, ob erihm bei seinem heiligen Werke helfen werde – ganz egal wie berühmt der auch sein mochte.

Unterhaltung für die MasseShakespeare hatte sowieso keine Zeit, dabei zu helfen, die Bibel zu übersetzen. Er war vollaufdamit beschäftigt, einige seiner besten Stücke zu schreiben: Othello, King Lear, Macbeth, TheTempest und andere mehr. Shakespeare und andere Entertainer hatten im England der frü-hen Neuzeit eine ganz bestimmte Aufgabe: die Massen zu unterhalten. Es gab kein Kino, keinFernsehen, keinen Fußball. Wenn man reich genug war, dann konnte man sich Home Enter-tainment leisten und Musiker, Schauspieler, Tänzer und Fechter (Vorläufer des modernenFechtsports) in sein Haus holen. Für jeden anderen aber galt es, sich sein Entertainment wo-anders zu suchen: In London war das Theater eine der favorisierten Optionen.

Wenn Sie heute mit Ihren Freunden was losmachen wollen, dann könnten Sie erst mal insKino gehen und dann in eine Bar oder eine Disco. Vor 400 Jahren hätten Sie vielleicht erst einStück gesehen und wären dann zu einer nahegelegenen Kneipe gegangen. Selbst das Theaterwar zu dieser Zeit eine noch relativ moderne Erfindung. Fahrende Entertainer besuchten dieStädte und die Kneipen, um zu musizieren und Tänze oder Theaterstücke aufzuführen. Aberdie besten Stücke sah man nur in London. London war nach heutigen Gesichtspunkten eineKleinstadt (Londons Bevölkerung ist heute etwa sechzigmal so groß wie zu ShakespearesZeit), aber es war immerhin groß genug, um einen jungen Stückeschreiber zum Star zu ma-chen und ihn in die Unsterblichkeit zu katapultieren.

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Shakespeare fügte in verschiedene seiner Stücke fahrende Schauspieler undLaien ein. Die Handwerker in A Midsummer Night’s Dream und die Schauspielerin Hamlet sind die bekanntesten, aber der Anfang von The Taming of the Shrewzeigt am deutlichsten die fahrenden Schauspieler. Sie kommen in ein Gasthausund führen dort das Stück The Taming of the Shrew auf. (Eine vollständige Zu-sammenfassung dieses spritzigen Stücks können Sie in Kapitel 13 nachlesen.)Obwohl sich die Äußerlichkeiten geändert haben, heute haben wir zum BeispielGlühbirnen und Glühwein, ändern sich die Menschen nicht so schnell. Uns ge-fällt es immer noch, eine gute Show zu sehen, ein Glas Bier zu trinken und mitFreunden zusammen zu sein. Das war es, was Shakespeares Stücke damals boten,und das bieten sie auch heute noch.

Manchmal fällt es schwer, zu glauben, dass ein Stück, das vor vier Jahrhundertengeschrieben wurde, immer noch unterhaltsam sein kann. Wenn Sie es nicht glau-ben, dann sehen Sie sich einmal Baz Luhrmanns Version von Romeo and Julietan, mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes in den Hauptrollen. Der moderneHintergrund, der ohrenzerreißende Soundtrack, der Schnellfeuer-Dialog undShakespeares Worte verschmelzen in diesem Hochgeschwindigkeits- und Action-film. Wenn Sie aus dem Kino kommen (oder den DVD-Player ausschalten), kannes sein, dass Sie gar nicht gemerkt haben, dass Sie Shakespeares Stück gesehenund Shakespeares Worte gehört haben. Wer behauptet, dass Shakespeare lang-weilig sein müsse?

Op de schäl Sick (Auf der falschen Seite des Flusses)Im Westen haben wir seit Langem eine etwas seltsame Haltung gegenüber Entertainern. Ei-nerseits waren und sind einige unserer größten Berühmtheiten Entertainer – von RichardBurbage zu Shakespeares Zeiten bis hin zu den populären Stars von Film, Bühne und Fernse-hen des heutigen Tages. Andererseits hatte das Entertainment Business schon immer aucheine Schattenseite.

Gehen Sie mal an einer Supermarktkasse vorbei, und Sie werden sehen, dass die Öffentlich-keit scheinbar nie genug Klatsch über unsere Stars bekommen kann. Ihr Leben und Liebenmacht Schlagzeilen, und ihre Fans wollen immer mehr – aber auch nicht zu viel. Es machtSpaß, den Lifestyle der Reichen und der Berühmten zu beobachten und darüber zu lesen.Vielleicht stellen Sie sich ja sogar vor, selbst so zu leben. Aber dann bricht die Realität ein –die Scheidungen, die Affären und die Skandale. Ganz bestimmt würden Sie nicht wollen, dassIhr Kind einen Star heiratet und an die berüchtigte Hollywood-Szene gerät. Die Glitterweltdes Entertainments ist doch eher etwas, das man aus der Ferne bewundert.

Zu Shakespeares Zeit war das nicht viel anders. Die Theater waren verrufen und aus Londonverbannt. Das konnte allerdings die Schauspieler nicht aufhalten – sie bauten ihre Theatereinfach außerhalb der Stadt. Shakespeares Theater, das Globe Theatre, befand sich im Südender Stadt, auf der anderen Seite des Flusses in Southwark (ausgesprochen »Satherk«). Daswar der Rotlichtbezirk Londons, von Prostituierten und Scharlatanen bevölkert – und vonSchauspielern. In dem törichten Versuch, die »Sittenlosigkeit« der Schauspieler und desSchauspielens einzugrenzen, verboten die Stadtväter Frauen sogar die Bühne. Diese Ein-

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schränkung führte dazu, dass Knaben die Frauenrollen spielten, eine Tatsache, die sichShakespeare oft zunutze machte, indem er die weiblichen Charaktere sich als Knaben verklei-den ließ. Lesen Sie mehr über Knaben, die Mädchen spielten, die Knaben spielten, in Kapitel 8.

Das Globe TheatreLange war uns nicht viel über Shakespeares Theater bekannt. Historiker hatten es geschafft,hier und da einige Bruchstücke der Erkenntnis zusammenzufügen, um daraufhin fundierteVermutungen über Aussehen und Gebrauch der elisabethanischen Bühne anzustellen. Die be-rühmteste Beschreibung des Globe Theatre hat Shakespeare selbst gegeben. Im Prolog zuKing Henry V erzählt er uns von dem runden Theater, das das Globe war, wenn er fragt:

... may we cramWithin this wooden O the very casques [helmets]That did affright the air at Agincourt? (Prologue. 12-14)

... hielteDies runde O aus Holz auch nur die Helme,Die dort bei Agincourt die Luft erschreckten? (Fried, II, 131)

Als 1989 Bauarbeiter zufällig den Standort des ersten Globe Theatre entdeckten, war plötzlichalles anders. (Es waren insgesamt zwei Globe Theatre gebaut worden. Shakespeare benutztedas Erste der beiden, das 1613 abgebrannt war. Am gleichen Ort errichtete man bald daraufein neues Theater, das man mehrere Jahrzehnte benutzte, bis es 1644 in einem Anfall purita-nischer Eiferei niedergerissen wurde.)

Special Effects

Es ist doch zu schade, dass Shakespeare keine Videokamera hatte. Einige Inszenierungenarbeiteten mit spektakulären Special Effects, aber alles, was wir dazu haben, sind Worteauf Papier. Wir haben keine Ahnung, was das Publikum sah, aber es muss großartig gewe-sen sein. In Cymbeline beispielsweise kam Jupiter nicht zu Fuß auf die Bühne wie ein ge-wöhnlicher Sterblicher, sondern er schwebte von einem Boden über der Bühne herab.Selbstverständlich nannte man diesen Boden oft den »Himmel (heavens)«. Eine Falltürauf der Bühne öffnete sich zur »Hölle (hell)«. Nach Shakespeares Bühnenanweisungennahm Jupiter seinen Auftritt mithilfe einer ausgefeilten Maschinerie und Special Effects:

Jupiter descends in thunder and lightning, sitting upon an eagle: he throws athunderbolt. The Ghosts fall on their knees. (Cymbeline 5.4.93)

Jupiter fährt mit Blitz und Donner nieder. Er sitzt auf einem Adler und schleuderteinen Donnerkeil. Die Gespenster fallen auf die Knie. (Fried, III, 482)

Bühnenanweisungen dieser Art sind in Shakespeares Stücken ungewöhnlich. Die meistenteilen uns einfach nur mit, wann ein Charakter auftritt oder von der Bühne abgeht. Eini-ge wenige Stücke haben ausführlichere Bühnenanweisungen, die uns eine ganze Mengeüber die zu Shakespeares Zeiten verwendeten Special Effects verraten.

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Wir wissen, dass gelegentlich Hunde auf der Bühne auftraten. In The Two Gentlemen ofVerona beispielsweise stiehlt Launce mit seinem Hund Crab die Show. Größere Tierewaren etwas schwieriger in der Handhabung. Wenn Diomedes in Troilus and Cressida sei-nem Diener sagt, »Go, go, my servant, take thou Troilus’ horse« (5.5.1) – »Geh, Diener,nimm des Troilus schönes Tier« (Fried, II, 532), dann hatte er wohl kein echtes Pferd aufder Bühne. In King Henry V sagt der Prolog, »Think, when we talk of horses, that you seethem« (26) – »Wenn wir von Pferden reden, denkt, ihr seht sie« (Fried, II, 131).

Das interessanteste Tier ist dagegen das in The Winter’s Tale erwähnte. Antigonus findetsein vorzeitiges Ende bei der Bühnenanweisung »Exit, pursued by a bear« – »Er flieht,verfolgt von einem Bären«. Shakespeares Publikum wusste, wie echte Bären aussahen,denn unweit des Globe Theatre konnte man der Bärenhatz zusehen. Einen Schauspielerim Bärenkostüm hätte man darum wohl kaum akzeptiert. Der Schauspieler, der Antigo-nus spielte, ist deshalb möglicherweise von einem echten Bären verfolgt worden. Das istdoch was für jeden Lebenslauf.

Archäologen stürzten sich wie Geier auf den Schauplatz, doch das moderne London ist nichtgerade der günstigste Ort für archäologische Ausgrabungen. Vor allem deshalb, weil über denGrundmauern des Globe ein Gebäude steht, was die Forschung ziemlich erschwert. ModerneTechnologie erlaubt es uns, die Grundmauern aus der Entfernung zu untersuchen, und einneues Globe Theatre erhob sich nicht weit von dem Original. Das neue Theater wurde 1997eröffnet und wurde sehr schnell zu einer bedeutenden Touristenattraktion. Wenn Sie mehrüber dieses Top-Ten-Theater für Shakespeares Stücke herausfinden möchten, dann sehen Siesich Kapitel 19 an.

Das runde Freilichttheater – das »runde O aus Holz (wooden O)« – hatte einen Durchmesservon etwa 30 Metern (100 ft). Die Abmessungen der Bühne betrugen etwa 15 mal 7 Meter (50mal 25 ft), und sie sprang bis ins Publikum vor, sodass die Schauspieler auf drei Seiten Zu-schauer hatten. Direkt um die Bühne herum standen Zuschauer, um das Stück zu sehen, unddie Zuschauer, die auf der Erde (im Parkett) standen, die sogenannten Gründlinge (ground-lings), zahlten am wenigsten. Gegen einen Aufpreis konnte man einen der Sitzplätze in denGalerien bekommen, die die Wände des Theaters bildeten. Besondere Logenplätze kostetennoch mehr. In das erste Globe Theatre passten ungefähr 3.000 Zuschauer – das ist viel mehr,als heute in den meisten Theatern üblich ist.

Ohne künstliches Licht war es nötig, dass die Stücke draußen und bei Tageslicht aufgeführtwurden. Wir wissen nicht, wie Bühnenbild und Kostüme aussahen, aber die Bühnendekora-tion war wohl recht einfach. Ein Schauspieler trug vielleicht einen verzierten Stuhl auf dieBühne, der dann als Thron herzuhalten hatte, aber das war dann auch schon alles, womit manetwa den Hof König Henrys VI. andeutete. Es gab keine Pausen oder andere Unterbrechungen,während derer die Bühnenarbeiter das Bühnenbild hätten umbauen können. Stattdessen gingdie eine Szene nahtlos in die nächste über. Für die Kostüme gab man allerdings eine MengeGeld aus. Das lässt sich anhand der Rechnungsbücher belegen, die wir heute noch besitzen.Schließlich war es wichtig, dass der König aussah wie ein König.

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Wer Romeo and Juliet gelesen hat, weiß, dass es über der Hauptbühne einen Balkon gab.Unter dem Balkon befand sich ein kleiner, durch einen Vorhang abgeschirmter Raum, denman für solche Entdeckungen benutzte wie etwa die »Statue« Hermiones in The Winter’sTale. (Zu einer Beschreibung der Statuen-Szene siehe Kapitel 13.)

Das Blackfriars TheatreDas Globe war nicht das einzige Theater, das Shakespeare benutzte. Das Blackfriars war eingeschlossenes Theater, kleiner als das Globe, und der Eintritt war sehr viel teurer. Möglicher-weise war diese Exklusivität der Grund dafür, dass die Stadtväter so nahe der Stadtmitte einTheater zuließen. Shakespeare begann, das Blackfriars um 1608 herum zu benutzen. Das warrecht spät in seiner Karriere, aber das neue Theater war offenbar wichtig. Er kaufte in derNähe ein Haus, und hier lebte er wahrscheinlich, wenn er sich in London aufhielt.

Die Schauspieler benutzten das Globe im Sommer und zogen für den Rest des Jahres insBlackfriars – wenn sich das Wetter für Freilichtaufführungen nicht günstig zeigte. Über dasBlackfriars wissen wir noch weniger als über das Globe. Aber die Bühne war wohl noch etwaskleiner als die des Globe, möglicherweise nur etwa neun mal sechs Meter (30 mal 20 ft) groß.

Um sich die Abmessungen der shakespearschen Bühne ganz zu vergegenwärti-gen, probieren Sie dieses Experiment: Wenn Sie das nächste Mal in einem Thea-ter oder Kino sind, dann versuchen Sie doch mal, etwa 9 Meter (30 ft oder etwa10 große Schritte) entlang der Bühnenkante abzuschreiten. (In den meisten Thea-tern wird man Sie nicht auf die Bühne lassen, aber Sie können immerhin vor derBühne auf- und abgehen – wenn Ihnen der ein oder andere befremdete Blicknichts ausmacht.) Die Tiefe von 6 Metern (20 ft) können Sie sich visuell vorstel-len. In einem professionellen Theater wird die Bühne vor Ihnen wahrscheinlichgrößer sein, in manchen Fällen sogar sehr viel größer. In Schulen und kleinenTheatern wird oft eine Fläche benutzt, die der, die Shakespeare in seinen Thea-tern zur Verfügung hatte, ähnlich sein dürfte. Shakespeare und seinen Mitschau-spielern ist es gelungen, eine ganze Menge Theater auf einer so kleinen Flächeunterzubringen.

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